Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 52: Einlaminiertes Glück -------------------------------- Jean fuhr mit seinem Finger über den weichen, plüschigen Stoff Evas, die neben ihm auf der Matratze saß und den Blick wachsam in Richtung Ausgang gerichtet hatte. Er hatte sie so arrangiert, in der kindlichen Annahme, dass sie ihn vor allem, was durch diese Tür treten würde und ihm böse gesonnen wäre, beschützen würde. Das stimmte soweit auch, denn außer Knox würde vermutlich niemand durch diese Tür treten. Und selbst wenn, dann wäre es jemand seines Teams und auch hier würde niemand ihm Böses wollen. Jean wusste das, aber seiner Angst, geboren aus dem Trauma, das er in Evermore erlitten hatte, war das egal. Brian hatte ihm das mit ruhiger Stimme erklärt, wie irrational Angst sein konnte, auch wenn er gleichzeitig begriff, dass die traumatische Situation als solche vorbei war. Jetzt, wo alles eigentlich besser wurde, holte sein gepeinigter Geist all das nach, was er sich in den vergangenen Jahren nicht hatte erlauben können zu verarbeiten. Die Alpträume waren da alltäglich und Jean war über jede Nacht froh, in denen er nicht panisch und innerlich wie äußerlich schreiend aufwachte. Knox hatte da eine Engelsgeduld mit ihm, immer darauf bedacht, ihm seine Decke zu geben, ihm beruhigend zuzureden und, wenn es nötig sein sollte, das warme Nachttischlicht anzumachen. Während des Tages hatte er oftmals Aussetzer, kleine, harmlose Dinge, die ihn zurückwarfen in die Zeit nach Evermore. Mittlerweile führte Jean eine Liste der Sachen und Situationen, die er besser meiden sollte. Er konnte zum Beispiel nicht in den fensterlosen Raum seiner Makroökonomievorlesung gehen, auf den sie manchmal hatten ausweichen müssen, wenn die Juristen wieder Vorrang an dem großen Saal anmeldeten. Er hatte mit Brian über das schreckliche Gefühl des Begraben Seins gesprochen und dieser hatte ihm angeboten, mit seinem Dozenten Kontakt aufzunehmen. Zögernd hatte Jean Brians Angebot angenommen und war erstaunt gewesen, dass sie seitdem kein weiteres Mal in dem Raum gewesen waren, wohl aber die Juristen. So hatte Jean Regeln für sich aufgestellt…Regeln, die ihm halfen, auch gedanklich von Evermore wegzukommen. Nachdem Knox mitbekommen hatte, dass er Angst vor dem Anblick seines Kapitäns mit einem Messer in der Hand hatte, hatte er ihm bei dem nächsten Einkaufstrip in den Stammsupermarkt bunte Keramikmesser gezeigt. Die farbenfrohen Klingen hatten wenig mit Rikos Messern gemein und so hatte er ganz zur Freude des blonden Jungen ein Set gekauft. Dass sie um Längen schärfer waren als Knox‘ alte Messer, hatten sie beide schon leidvoll in Erfahrung gebracht. Sein eigenes Blut zu sehen, gehörte dabei auch zu den Dingen, die Jean nach Möglichkeit verhindern sollte. Die Tatsache, dass sie in der Kantine aßen und dass sie sich ihr Essen selbst nahmen, half Jean mehr als er es erst vermutet hatte. Er konnte sein Essen selektieren und hatte mit Doktor Chandler zusammen einen Speiseplan aufgestellt, der wenig von dem beinhaltete, was es in Evermore gegeben hatte. Gerüche waren da schwieriger zu umgehen und Jean hatte mittlerweile herausgefunden, dass es besser war, Stephen nicht zu nahe zu kommen. Der Offensive Dealer seiner Mannschaft nutzte anscheinend das gleiche Duschgel wie einer der Männer, die sich ihm aufgezwungen hatten. Mit Mühe hatte Jean das Training, in dem es ihm zum ersten Mal aufgefallen war, durchgestanden und von da an mied er den Jungen, wo es nur ging. Ebenso wie er die japanische Sprache mied, die ihm über die Jahre so verhasst geworden war. Ein paar Worte reichten aus, dass Jean in seiner Bewegung einfror und wartete, dass der Herr auftauchen und ihn bestrafen würde. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass sein rasendes Herz ihn mit Sicherheit umbringen würde. Es gab nicht viele Japaner in seinem direkten Umfeld und Jean war dankbar darum, auch wenn er wusste, wie unfair das denjenigen gegenüber war, die nichts mit den Moriyamas zu tun hatten. Die Angst vor seinem Team war dem Wissen gewichen, dass sie ihm nichts tun würden und dennoch achtete er darauf, wenige von ihnen in seinem Rücken zu haben, wenn er stand. Er zuckte zusammen, wenn sie zu laut wurden, doch auch daran gewöhnte er sich. Aber all das machte die seelischen Verletzungen nicht wett, die Jean die letzten zehn Jahre erlitten hatte und Brian hatte ihn schon vorgewarnt, dass ihn die Spätfolgen dessen noch lange begleiten würden. Er würde Geduld brauchen und das war es, an dem sich Jean in schlechten Momenten festhielt. Es würde auch wieder besser werden und zwischenzeitlich war es das auch. Besser. Und sogar gut. Gerade eben war es okay und er lauschte in die Dunkelheit hinein. Es regnete und die dicken, nassen Tropfen klatschten laut an das gekippte Fenster. Er war fasziniert von dem seltenen Geräusch und ließ sich von der gleichmäßigen Schönheit einlullen. Vielleicht war es auch deswegen, dass er die Eingangstür zu ihrem Apartment beinahe nicht gehört hätte und angespannt lauschte Jean auf etwaige Geräusche, die darauf hindeuteten, dass es jemand anderes als Knox war. Doch dem war nicht der Fall. Er hörte Knox Schlüssel, der auf seine ganz eigene Art und Weise in der Schale klimperte. Die Art, wie sein Kapitän sich die Schuhe abstreifte und in die Ecke des Flures warf, war ebenfalls einzigartig genug, dass Jean den anderen Jungen in der Dunkelheit identifizieren konnte. So war es nun auch nicht schlimm, dass Knox sich im Dunkeln in das Schlafzimmer schlich und sich größte Mühe gab, Jean nicht aufzuwecken. Das tat er jedes Mal, wenn er später als Jean ins Bett kam, auch wenn sie beide wussten, dass Jean nicht schlief und wenn doch, bei dem leisesten Geräusch wach wurde. Aber Knox hoffte und Jean würde ihm die Hoffnung nicht nehmen. So verfolgte er auch nun hellwach den Weg seines Kapitäns ins Badezimmer und hörte zu, wie Knox duschte. Und duschte…und duschte…und duschte. Das wiederum entsprach nicht der Norm. Knox duschte abends nicht so lange und Jean fragte sich, ob es damit zusammenhing, dass er mit dem Reporter Sex gehabt hatte. Vermutlich. Jean hatte…danach…auch immer lange geduscht, aber das war nicht vergleichbar, oder? Als die Dusche abgestellt wurde und Knox immer noch nicht aus dem Bad kam, wurde Jean immer unruhiger und war kurz davor aufzustehen, als Knox aus dem Bad kam. Leise legte er sich in das Bett und drehte sich von ihm weg, hin zu seiner eigenen Wand. Jean schloss beruhigt die Augen, bis er merkte, dass Knox‘ Atmung seltsam ging. Normalerweise brauchte der andere Junge vier Minuten, bis seine Atmung ruhiger und tiefer wurde. Dann schnorchelte er und glitt schlussendlich in einen tiefen Schlaf, der für Jean das Zeichen war, dass auch er einschlafen konnte. Doch jetzt ging die Atmung des Jungen unregelmäßig und stockend. Knox weinte stumm. Wäre Jean nicht vorher schon wach gewesen, wäre er es jetzt auf jeden Fall und für einen Moment lag er ratlos auf seinem Bett. Warum weinte Knox? War etwas passiert? Hatte der Reporter ihm wehgetan? War auf dem Weg etwas passiert? Nervös blinzelte Jean. Was sollte er machen? Das Licht anmachen und sich zu Knox begeben? Ihn in die Arme nehmen wie bei dem Gewitter? Kritisch schürzte Jean seine Lippen und nahm all seinen Mut zusammen. „Knox?“, fragte er leise und dessen unregelmäßige Atmung stockte. Vollkommen still verharrte der andere Junge und machte es Jean damit nicht unbedingt einfacher. Sonst hatte Knox auf alles eine Antwort und nun, in der Dunkelheit ihres Schlafraumes, schwieg er. Das war für Jean nicht leicht, wirklich nicht. Jean atmete tief ein und richtete sich auf. Anscheinend reichten die Geräusche, die er machte, um Knox‘ Atmung wieder in Gang zu bringen. „Alles okay, Jean“, presste er hervor, die Stimme leise und rau. Noch nie hatte Jean eine deutlichere Lüge aus dem Mund seines Kapitäns gehört und ein entsprechend unerfreuter Laut verließ seine Lippen. „Du klingst nicht so“, erwiderte er ehrlich und einen Augenblick lang herrschte erneut Stille. Dann schluchzte Knox unterdrückt und Jean beschloss, dass es ihm zu bunt wurde. Er wollte den Jungen nicht alleine lassen, wenn etwas nicht stimmte. „Doch…“ Das war doch Unsinn. Jean schlug seine Decke zurück und schaltete sein Nachtlicht an, um Knox besser sehen zu können. Vielmehr dessen Rücken, der sich im Rhythmus der Schluchzer bewegte. Es war Sorge, die Jean Bauchschmerzen bereitete. Es war etwas passiert. Ganz sicher. Schweigend erhob er sich und überwand die Distanz zwischen ihrer beider Betten mit zwei Schritten. Unschlüssig stand er vor Knox und brauchte einen Moment, um sich dafür zu stählen, sich auf die Matratze seines Kapitäns zu setzen. Das war nicht so einfach, auch wenn es irrational war, denn Knox würde nicht auf den Gedanken kommen, seine Anwesenheit auszunutzen. Und dennoch. Vorsichtig ließ er sich auf der Bettkante nieder und Knox zuckte zusammen. „Wirklich, alles gut“, bekräftigte der blonde Junge seine Lüge und Jean schnaufte. „Jeremy“, betonte er den Vornamen des anderen Jungen, in der Hoffnung, ihn zur Vernunft zu bringen. Er hörte und sah doch, dass gar nichts in Ordnung war. Es zeigte Wirkung, denn der ihm abgewandte Körper wurde nun laut von Schluchzern geschüttelt. „Wirklich…“, murmelte Kox verzweifelt und Jean atmete tief ein. Seine Hand schwebte über der Schulter des anderen Jungen, unschlüssig und zögernd. Er hatte Knox nur einmal angefasst, als dieser sich unter seiner Bettdecke vergraben hatte und da war es auch nur die Bettdecke gewesen, nicht mal richtig der andere Junge selbst. Deswegen hatte Jean nun auch so ein erhebliches Problem damit, einen anderen Jungen in dessen Bett zu berühren. Nicht einen anderen Jungen, Knox, hielt er sich vor Augen und straffte sich. Resolut fasste er seinen Kapitän an der bebenden Schulter und drehte ihn zu sich. Dass Knox dabei halb auf seinen Oberschenkeln lag und sie definitiv Hautkontakt hatten, war unumgänglich. Selbst im warmen Schein des Nachtlichtes sah sein Kapitän fürchterlich aus, die Wangen tränennass und verzweifelt, seine Lippen zitternd, die Augen gerötet. Jean dachte an die lange Dusche und runzelte die Stirn, als ein ungutes Gefühl in ihm aufkam. „Er hat dir wehgetan“, stellte er fest, weniger eine Frage als eine Aussage und Knox schluckte schwer. Das war Jean Antwort genug und Wut schäumte in ihm hoch. Was genau hatte der Reporter Jeremy angetan? „Jean, ich…“ „Bist du verletzt? Hat er sich an dir vergriffen? Hat er dich geschlagen?“, verließen Fragen seinen Mund, die ihm einen Schauer über den Rücken jagten. Alleine die Vorstellung, dass seinem Kapitän etwas geschehen sein konnte, war… sie war fürchterlich. Knox schüttelte den Kopf, doch das war nicht sonderlich beruhigend. „Sondern?“, hakte Jean nach, als nur trockene Schluchzer kamen. „Schluss…“, murmelte der blonde Junge schließlich. „Er hat…Schluss…gemacht…“ Jeans in manchen Punkten lückenhafte Englischkenntnisse konnten mit der Bedeutung des Satzes zunächst nichts anfangen, doch dann erschloss er sich die Bedeutung dessen anhand des Kontextes. Zumindest glaubte er, dass er die richtige Bedeutung hatte. „Er hat eure Beziehung beendet?“, fragte er um sicher zu gehen und löste damit weiteres Weinen aus, das ihn geradezu hilflos machte. War es falsch gewesen, das zu fragen? Hatte er es falsch formuliert? Unsicher legte Jean den Kopf schief und Knox holte abgehackt Luft. „Es war ja…gar keine…“, wisperte er dann. „Er hat gesagt, dass…dass….dass… er meinte, dass…“ Knox verstummte und ließ Jean unwissend und irritiert zurück. Er sah, dass diese Trennung für den blonden Jungen schlimm war, dass er verzweifelt war, doch was dazu geführt hatte, erschloss sich ihm nicht. „Nie etwas Wirkliches“, wisperte sein Kapitän schließlich so leise, dass Jean es beinahe überhört hätte und neue Tränen liefen über seine Wangen. „Das…hat er gesagt. Nie etwas Wirkliches…“ Abwesend starrten die blauen Augen an die Decke, weg von ihm und seiner Aufmerksamkeit. Jean verstand die Begründung aber nicht. Sie hatten doch das Bett geteilt und er hatte gesehen, wie die Beiden zusammen tanzten. So eng und intim es gewesen war, fiel es ihm schwer zu glauben, dass der Reporter es nun aus dem Grund beendet hatte, dass sie niemals etwas gehabt hatten. „Warum hat er das getan?“, hakte er nach und sah auf seine Hand, die immer noch auf der Schulter des blonden Jungen ruhte. So wie Knox ihm über den Rücken gestrichen hatte, strich er nun auch über das T-Shirt dort, in der fahlen Hoffnung, den anderen Jungen beruhigen zu können. „Weil…er…er…nicht mehr…er will nicht mehr… mit mir…nichts davon hatte eine Bedeutung für ihn“, sagte Knox stockend und seine Augen huschten über Jeans Gesicht. Da war noch etwas Anderes, begriff er, etwas, das Knox ihm nicht sagte. Oder nicht sagen konnte. Sein Kapitän war durcheinander und unwillkürlich erinnerte ihn die Situation an das Gewitter. Da war Knox ebenso durcheinander gewesen. Er hatte den Jungen mit seiner Umarmung beruhigen können und das probierte er nun auch jetzt. „Soll ich dich umarmen?“, fragte er ruhig und die blauen, verzweifelten Augen ruhten in einer verzweifelten Intensität auf ihm, die Jean schlucken ließ. „Ja gerne…aber du….“ „Ich mache es gerne für dich“, unterbrach Jean ernst alle Versuche seines Kapitäns, Zweifel anzumelden und langsam kam Bewegung in Knox. Umständlich und unter dem protestierenden Knarzen seines Bettes drehte er sich auf der schmalen Matratze und zog die Decke mit sich. Der blonde, nasse Schopf legte sich auf Jeans Oberschenkel und für einen Augenblick starrte er verwirrt auf Knox hinunter. Das Gesicht und die Lippen des Jungen streiften den dünnen Stoff seiner Schlafanzughose und Jean war im ersten Moment vollkommen hilflos und ahnungslos. Was musste er tun? Vorsichtig bettete er seinen Arm auf Knox‘ Rücken und strich sanft über die zitternden Muskeln. Die Tränen des anderen Jungen durchfeuchteten seine Hose und er spürte den warmen Atem auf seiner Haut. Jean schluckte. Seine oberste Priorität war, Knox zu helfen und ihn zu trösten. Alles in ihm, auch seine eigenen Emotionen, sehnten sich danach, den anderen Jungen zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass seine Trauer verschwand. Alles andere musste warten. Alles andere war nicht wichtig. Knox weinte lautlos. „Wieso hat er das gesagt?“, fragte er um mehr Informationen aus Knox herauszubekommen und einen unendlich langen Moment lang herrschte Stille. „Weil alles, was wir hatten, bedeutungslos war für ihn. Ich meine…ja, wir hatten keine Beziehung…es war nur ein lockeres Zusammensein…aber es hatte Bedeutung für mich. Und nun komme ich mir vor…“ Trockene Schluchzer unterbrachen Knox‘ Worte und Jean wartete geduldig, bis der andere Junge sich soweit gefangen hatte, dass er weitersprechen konnte. „…ich komme mir so entblößt vor. Jedes Mal, das wir geteilt haben, wird in meinen Gedanken fürchterlich. Es wird zu einem Abklatsch, einem seelenlosen Zusammentreffen und ich fühle mich so beschämt, dass ich mich ihm hingeben habe. So schamlos…“ Jean verstand nicht im Geringsten, was Knox damit meinte, doch er glaubte nicht, dass das wichtig war in diesem Moment. Knox musste das loswerden, was ihn bedrückte, ganz gleich, ob Jean ihm folgen konnte oder nicht. Es tat gut, das loszuwerden. Es erinnerte ihn an die Momente, in denen Day noch kein Verräter gewesen war. Die Momente, in denen er ihn in den Arm genommen und Jeans eigenem Gebrabbel gelauscht hatte, unfähig dem zu folgen. Jean hatte keine Antwort gewollt, denn die Fragen, die er stellte, waren so ungeheuerlich, dass sie unbeantwortbar waren. Rhetorisch in einer pervertierten Endstufe. So blieb er auch jetzt ohne Worte und brummte nur tief aus seinem Bauch heraus, während er beruhigende Kreise über den Rücken des anderen Jungen strich. Eine Sache verstand er jedoch. „Du bist nicht schamlos und auch nicht entblößt. Du hast ihm dein Herz geöffnet und ihn hineingelassen. Er hat es mit Füßen getreten.“ Knox erwiderte nichts, sondern schniefte nur und weinte weiterhin leise, bis auch diese Tränen versiegten und seine Atmung zu etwas abglitt, dass Jean nur zu bekannt vorkam. Knox war eingeschlafen, auf Jeans Oberschenkeln und mit einem tiefen Seufzen starrte er auf seinen Kapitän hinunter. Er brachte es nicht übers Herz, ihn aufzuwecken. Also blieb ihm nur, hier sitzen zu bleiben, auf dem Bett des blonden Jungen, mit diesem auf seinem Oberschenkel. Jean lehnte seinen Kopf an die bunte Wand und schloss die Augen. Das wäre wieder etwas, was er zum ersten Mal tat. Die Nacht im Bett seines Kapitäns verbringen. Mit ihm zusammen. Nicht, dass es Jean etwas ausmachte. Er hatte Knox soviel zu verdanken, was war da schon eine schlaflose Nacht? ~~**~~ Jeremy wachte mit dem Gefühl auf, niemals eingeschlafen zu sein. Es gab nicht viele solcher Nächte und er hasste sie umso mehr, weil sie ihm Magenschmerzen und Schwindel bescherten. So auch jetzt, als er ruckartig zu sich kam, weil sein Nacken ihn umbrachte. Müde fuhr er sich über sein Gesicht und vergrub seine Hand protestierend unter seinem Kissen. Nur dass da keines war, sondern Widerstand. Muskulöser Widerstand und für einen Augenblick glaubte Jeremy, dass der gestrige Abend nur ein böser Traum gewesen war und er mit Allan zusammen im Bett lag. Doch ein schläfriger Blick auf die Umgebung sagte ihm Anderes und zerstörte die aufkommende Hoffnung in Form von Jeans leerem Bett mit der zurückgeschlagenen Decke. Eine schlechte Vorahnung überkam ihn und langsam drehte er sich auf den Rücken. Zögernd sah Jeremy in aufmerksame, graue Augen, die ihn schweigend und hellwach musterten. Jeremy blinzelte. „J…Jean?“, krächzte er, noch nicht wirklich in der Lage, zusammenhängende Gedanken zu bilden. Viel lieber wunderte er sich darüber, dass Jean aufrecht in seinem eigenen Bett saß, hellwach und wie ein schweigsamer Wächter. „Knox“, entgegnete dieser langsam und so vorsichtig, als wäre Jeremy ein Minenfeld. „Jean“, wiederholte er deswegen wenig intelligent und eine der dunklen Augenbrauen hob sich. „So lautet mein Name.“ Jeremy war nicht danach, zu lächeln, so nahm er die Worte seines Mitbewohners bewegungslos hin. „Was ist passiert?“, fragte er, alleine schon um Zeit zu schinden, weil Jeans intensive Musterung ihn von den fürchterlichen Ereignissen des letzten Abends ablenkte. Jeremy fiel es schwer, sich überhaupt auf etwas Anderes zu konzentrieren. „Du bist eingeschlafen“, half Jean der Rekapitulation überhaupt gar nicht und Jeremy begriff, dass das Kissen, auf dem er lag, überhaupt keins war. Er lag auf Jeans Oberschenkel und abrupt fuhr er hoch, die Augen weit und panisch. „Oh Gott, Jean, es tut mir leid! Ich wollte nicht…es tut mir leid, ich…sorry…“, stotterte er und sah mit Bestürzung den riesigen, feuchten Fleck auf Jeans Schlafanzughose, exakt dort, wo aller Wahrscheinlichkeit nach sein Mund gewesen war. Instinktiv fuhr Jeremy mit seiner Hand dorthin und rubbelte die nasse Stelle, als könne er sie so trocknen und seine Sabberspuren ungeschehen machen. Dass das keine gute Idee war, kam ihn eine Sekunde später und er fror noch in der Bewegung ein. Er war nicht nur unbegehrt, er war auch zu dumm, um sich einfache Dinge zu merken…dass Jean nicht berührt werden wollte zum Beispiel. Zu dumm war er. „Sorry“, murmelte Jeremy und Tränen trat in seine Augen. Er senkte den Blick und zog seine Hand zu sich. „Für’s Anfassen und Einschlafen…und Wachhalten und dumm sein…ich…sorry“, wisperte er, während er auf seine Finger starrte und Jean schwieg länger, als es Jeremy lieb war. „Du musst dich dafür nicht entschuldigen“, erwiderte er dann neutral und Jeremy schluckte. Er fand nicht die Kraft dazu, Jean in die Augen zu sehen. Lieber verschränkte er da seine Finger ineinander und wartete darauf, dass der andere Junge etwas sagte. Die Hand, die sich auf seine Finger legte, kam überraschend. „Du bist nicht dumm, Knox“, sagte Jean eindringlich und leicht drückten die Finger zu. Tränen tropften auf ihrer beider Hände und Jeremy schniefte leise. Und ob er dumm war. Dumm genug um Gefühle zu entwickeln. Jean bewegte sich und einen Augenblick später wurde Jeremy mit unbeholfener Kraft an den Oberkörper des anderen Jungen gezogen. Blind schloss er seine Arme um Jeans Körpermitte und barg seinen Kopf an dessen Brust. Er schluchzte erstickt und Jean hielt ihn, stumm und unbeweglich, aber auch gleichzeitig verlässlich da. Er und seine Hand, die Kreise über Jeremys Rücken strichen. ~~**~~ Jeremys ganzer Tag war verflucht. Er rutschte beinahe unter der Dusche aus und stieß sich seinen großen Zeh so heftig, dass er blutete. Auf der Suche nach einem Pflaster stieß er sich den Kopf an ihrem Badezimmerschrank und presste sich für ein paar Augenblicke lautlos fluchend die Hand auf den Schädel. Er verbrannte Jeans Frühstück und konnte den anderen Jungen nicht davon abhalten, die missglückten Eier zu essen, egal, wie oft er auch anbot, dass er ihm neue machte. Als wenn Jeremy auf Jeans Gesicht nicht die vorsichtige Neutralität eines Lügners gesehen hätte, mit der der andere Junge ihm gesagt hatte, dass es nicht so schlimm sei. In seinen Vorlesungen war Jeremy unkonzentriert, fahrig und übermüdet gewesen, nicht in der Lage dazu, seinen Dozenten zu folgen. Er vergaß, dass er Jean hatte abholen wollen und sagte in letzter Minute Ajeet Bescheid, damit der einspringen konnte, weil er die Zeit vorher frei gehabt hatte und gerade in der Nähe war. Beide kamen daraufhin zu spät zu ihren eigenen Vorlesungen, was Jeremy ein noch viel schlechteres Gewissen bescherte. Den ganzen Tag über kontrollierte er sein Smartphone, in der Hoffnung, dass Allan es sich doch anders überlegt hatte oder sich bei ihm meldete. Doch da war nichts. Keine Nachricht von ihm. Rein gar nichts. Jeremy hoffte, dass das Training ihm half, wenigstens die paar Stunden nicht Allans Worte in seinen Gedanken hin und her zu schieben. Doch auch hier irrte er. Er war nicht in der Lage dazu, Coach Rhemanns Anweisungen umzusetzen, geschweige denn das Team zu motivieren, was ihm mehrfach die laute Kritik ihres Trainers einbrachte. Jeremy nahm es schweigend und nickend hin und bemühte sich, es besser zu machen, doch das wollte ihm ebenso wenig gelingen wie alles andere auch heute. Wenigstens waren die Tränen versiegt und hatten ihn wund und leer zurückgelassen. So stand er nun auch vor seinem Spind, bewegungslos und antriebslos, die Stirn gegen das kühle Metall gelehnt. Die Anderen waren bereits duschen und er hatte sich diesen Moment Einsamkeit gestohlen um wieder zu sich zu finden und nicht wieder Jeans Nähe suchen um sich von dessen Geruch beruhigen zu lassen. „Jer.“ Sein Vizekapitän. Hinter ihm. Jeremy seufzte. Er liebte Alvarez, aber sie war ein Bluthund, wenn es darum ging, dass es jemandem aus ihrem Freundeskreis nicht gut ging. Wenn sie einmal Verdacht geschöpft hatte, dann ließ sie nicht locker. Keinen Millimeter. „Was gibt es, Al?“, fragte er erschöpft, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Ich hab unseren Sportspoltergeist gefragt, was er mit dir gemacht hat…“, platzte sie mit der Tür ins Haus und Jeremy fuhr herum. Beinahe schon panisch suchte er ihren Blick. „Er hat nichts gemacht!“, begehrte er auf und sie schnaubte. „…und er hat mir gesagt, dass er rein gar nichts getan hätte und dass ich dich direkt fragen solle“, beendete sie ihren Satz und hob die Augenbraue. „Also, Cap, was hat dir dein Sonnenscheingemüt geraubt?“ Jeremy lehnte sich an den Spind und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Er hatte die Wahl…langsam und qualvoll oder schnell und schmerzhaft. Er entschied sich für Letzteres. „Allan will mich nicht mehr sehen. Er sagt, dass das, was wir miteinander hatten, nichts ist. Dass ich mir nichts darauf einbilden soll und dass es wertlos gewesen ist.“ Da war es raus und er verstummte. Das Wechselspiel auf ihrem Gesicht war ausdrucksstark und Jeremy konnte jede einzelne Emotion ablesen: Schock, Wut, Trauer, Mitgefühl, alles stand in ihrem sonst so fröhlichen Gesicht. „Scheiße“, sagte sie schließlich schlicht und er nickte. „Es tut weh“, erwiderte er und schluckte. „Definitiv. Allan ist aber auch ein Arsch…ich kapier nicht, warum er dich einfach so fallen lässt, ihr habt doch so gut miteinander harmoniert“, sagte sie und Jeremy sah zur Seite. Er konnte und durfte ihr nicht die Wahrheit sagen, denn das bedeutete, dass das, was Jean getan hatte, an noch mehr Ohren gelangte. „Er…seine Gefühle sind einfach weg“, sagte er und Alvarez schnaubte. „Du bist Scheiße im Lügen, Jeremy Knox.“ Das war er, schon immer gewesen. „Es gibt noch einen anderen Grund, aber über den will ich nicht sprechen“, entschied er sich für die Wahrheit und sie schnaufte. „Sowas, kaum geht’s um Jean, schon wirst du zum Geheimniskrämer“, sagte sie und Jeremy zuckte zusammen, als hätte er sich verbrannt. Wild sah er auf und starrte ihr in die Augen. Woher wusste sie davon? Hatte Jean es ihr erzählt? Oder Allan? Hatte sie es so mitbekommen? „Naja…ist doch klar, dass deine Flamme etwas damit zu tun hat. Allan ist doch nicht dumm, er sieht, wie wir anderen auch, wie du Jean ansiehst. Und wer weiß, wo du mit deinen Gedanken warst, als du dich mit ihm durch die Betten gewälzt hast.“ Jeremy schluckte schwer. Wenn er sich doch durch die Betten gewälzt hatte. In der letzten Zeit hatte Allan ihn gemieden – aus gutem Grund. „Ist es so auffällig?“, fragte er nach dem anderen Jungen in seinem Leben, der ihm eben jenes unwissentlich und unabsichtlich schwer machte. Alvarez stemmte die Hände in die Hüften. „Ist der Himmel blau? Wenn man dich kennt, dann bist du ein offenes Buch.“ „Weiß Jean davon?“ Sie schnaubte. „So offensichtlich du bist, so stumpf ist er. Nein, natürlich nicht. Auch wenn er dich oft genug beobachtet, dass man meinen könnte, dass ihm wenigstens ein Bisschen was aufgefallen sein sollte.“ Jeremy schwieg. Jean hatte ihn gefragt…er hatte ihn direkt gefragt und Jeremy hatte ihm eine ausweichende, aber wahre Antwort gegeben. Vielleicht wusste Jean schon, was er fühlte und sagte nichts, weil er Angst hatte. Schließlich war Jeremy sein Kapitän und er kam aus einem missbräuchlichen Umfeld, dessen zentrale Figur sein verstorbener Kapitän war. Derjenige, der andere Jungen damit beauftragte hatte, ihm sexuelle Gewalt anzutun. Selbst wenn Jean ja zu seinen Avancen sagen würde, wie könnte Jeremy sich dann jemals sicher sein, dass Jean es nicht nur tat, um ihm zu Gefallen zu sein… oder weil er sich gezwungen fühlte? Oder weil er es nicht wagte, Widerstand zu leisten? „Er soll sich hier wohlfühlen“, erwiderte er ausweichen und Alvarez schüttelte den Kopf. „Falls es dir entgangen ist, Cap, je wohler er sich fühlt, desto mehr motzt er. Und denk an unsere letzten Trainings. Man könnte meinen, wir wären die letzte Amateurmannschaft, wenn man nach den Worten geht, die seine Lippen verlassen.“ Jeremy konnte dem nur zustimmen. Jean hatte anfänglich soviel Angst vor ihnen gehabt, dass sein Missfallen lediglich wohlversteckt in seinen Augen gestanden hatte. Mittlerweile äußerte er das laut und deutlich. „Aber jetzt geht es darum, dass es dir wieder besser geht und es ist klar, was das bedeutet, oder?“ Jeremy verzog beinahe schon schmerzerfüllt das Gesicht. „Mir wird’s wieder gut gehen, das brauchst du nicht machen.“ Alvarez lachte laut. „Dem Protokoll muss gefolgt werden.“ „Kannst du da keine Ausnahme machen?“ „Nein.“ „Bitte?“ „Nein.“ Jeremy schloss seine Augen. Er liebte sein Team. Wirklich. Aber manchmal wollte er lieber zum Einsiedler werden. ~~**~~ Ungläubig hielt Jean die laminierte Din A4-Karte in den Händen und las die Worte darauf mittlerweile schon zum dritten Mal. Unwirsch runzelte er die Stirn und legte sie mit Bedacht auf dem Tisch vor sich. Sich wohlweislich seinen Kaffee greifend, lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme, bevor er vorsichtig seine Tasse auf den Unterarm abstellte. Unter dem Vorwand einer Taktikdiskussion war er von ihrem Apartment weggelockt worden. Jean grollte innerlich. Wie leichtgläubig er doch gewesen war, das Alvarez zu glauben. Taktikdiskussion, dass er nicht lachte. Hier ging es nicht um Exy, wie er zunächst angenommen hatte, sondern um diese laminierte Karte, auf der genauestens stand, wie im Fall von Liebeskummer vorzugehen war. Und als wäre das nicht genug, wie im Fall von Knox’s Liebeskummer vorzugehen war. Alvarez meinte das ernst. Jean hätte schon misstrauisch werden müssen, als sie ihm seinen am meist geschätzten Kaffee ausgegeben hatte und das auch noch in der großen Variante. „Das ist Unsinn“, grollte er und sie lehnte sich vor. Entschlossen parkte sie ihre Unterarme auf dem Tisch und musterte ihn durchdringend. „Du hast keine Ahnung.“ „Ich habe genug Ahnung um zu wissen, dass das Quatsch ist.“ „Bullshit.“ „Alvarez.“ „Sportspoltergeist.“ Jean strafte das mit verächtlichem Schweigen und nahm einen weiteren Schluck bitteren, schwarzen Kaffees, der ihn immer an den aus Abbys Haus erinnerte. Diese Liste war ein Scherz. Als wenn das helfen würde, was darauf stand. Als wenn es eine Blaupause für Trennungsschmerz gab. „Er ist nicht dumm.“ „Beim letzten Mal hat es auch geholfen.“ „Zufall.“ „Die richtige Wahl der Mittel in einem ausgewogenen Verhältnis.“ Jean rollte mit den Augen. „Händchen halten?“, hakte er kritisch nach. „Wortwörtlich, ja.“ „Und wer soll das machen?“ „Wer auch immer gerade in seiner Nähe ist. Jer liebt es, Händchen zu halten. Du hast große Hände, die erstaunlich sanft sind…das wäre doch was.“ Jean schnaufte. Er hatte was? Als wenn das ein valider Grund wäre, befand Jean, immer noch nicht wirklich überzeugt davon. „Tanzen gehen“, zitierte er Punkt fünf von der Liste. „Wie soll das denn helfen?“ „Na indem er sich locker macht und unter Menschen kommt, die ihn nicht behandeln, wie Allan ihn behandelt hat.“ Kritisch ließ er sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Das machte Sinn. Zumindest mehr als… „…Literweise Kakao trinken“, merkte er mit sturmgeweiht zusammengezogenen Augenbrauen an. „Das ist ungesund und schädlich.“ Alvarez winkte ab und wedelte mit ihrem Finger vor seiner Nase herum. Jean war versucht, es seinem Kapitän gleich zu tun und danach zu schlagen, aber er beherrschte sich. Noch. „Schwachsinn! Es umhüllt die Seele mit einem Film aus Zucker.“ Das hatte Jean noch nie gehört. Vollkommen aus der Luft gegriffen war es. „Sightseeingtour? Das Team muss trainieren, die Fitness der Trojans lässt zu wünschen übrig, die Trainingserfolge sind überschaubar, niemand aus der Mannschaft nutzt sein volles Potenzial und außerdem…“ Alvarez schnippte vor seiner Nase mit ihren Fingern und nun haschte Jean wirklich nach der vorwitzigen Hand. Sie war schneller als er und insgeheim war er froh warum. „Ruhe, Sportspoltergeist. Es kann nicht jeder so perfekt sein wie du.“ „Darum geht es gar nicht! Ihr müsst besser werden als sie! Sie dürfen nicht gewinnen“, fuhr Jean hoch und ihnen beiden war klar, wer sie waren. Wessen Namen er nicht aussprechen konnte. Alvarez schloss ihren Mund mit einem hörbaren Laut und wo vorher Kampfeslust gewesen war, waren nun Verständnis und Mitgefühl. Jean grollte innerlich. Mit beidem würden sie nicht gewinnen. „Sie werden nicht gewinnen“, erwiderte sie ruhig und mit einer Zuversicht, die Jean nicht wirklich teilen konnte. „Und sie werden dich auch nicht in ihre Finger bekommen.“ Er schnaubte. Natürlich würden sie ihn verletzen. Wenn etwas sicher war, dann das. Williams würde keine Gelegenheit für Fouls auslassen, die als legale Checks getarnt waren. „Sie werden unfair spielen. Und sie werden versuchen, die Trojans mit Bodychecks außer Gefecht zu setzen“, sagte er und Angst vor einem möglichen, katastrophalen Ausgang kam in ihm hoch. Was, wenn Williams Rikos Taktiken anwandte und versuchte, die Spieler ins Krankenhaus zu checken? Alvarez‘ Hand auf seiner erschreckte Jean mehr als dass es mittlerweile üblich war. Sie beide wussten, womit das zusammenhing und sein Vizekapitän lächelte haifischartig. „Das ist nicht das erste Mal, das wir gegen sie spielen und sie versuchen, uns mit halblegalen Mitteln aus dem Leben zu klatschen. Nun ist Riko aber Futter für die Würmer und du bist ein Trojan. Das ist ihr herber Verlust, was bedeutet, wir sind im Vorteil und machen sie hier bei uns fertig. Versprochen Jean, wirklich.“ Wenn es denn so einfach wäre. Jean seufzte innerlich. So ganz war er nicht davon überzeugt, doch das Spiel war noch weit genug weg, dass er es von sich schieben konnte. Und es fand hier stand, nicht in den dunklen, tiefen Kellern von Evermore. Auch das half. „Schnickschnack, wie dem auch sei!“, holte Alvarez ihn zurück und Jean war froh um die allzu offensichtliche Ablenkung. Er blinzelte und nahm einen Schluck Kaffee, während er mit seinem Zeigefinger auf den achten Punkt der Liste deutete, der direkt über „Händchen halten“ stand. „Was ist das?“, fragte er und sie folgte seinem Blick. Beinahe schon komisch weiteten sich ihre Augen. „Du weißt nicht, was Karaoke ist?“, hakte sie nach und Jean schüttelte den Kopf. Sie bohrte nicht weiter, was sie mittlerweile in vielen Punkten nicht mehr tat, sondern starrte ihm nachdenklich in die Augen. Der taxierende Ausdruck, dem die Nachdenklichkeit wich, gefiel Jean gar nicht. So im Nachhinein. Nicht, dass es dafür nun schon ein paar Sekunden zu spät war. ~~**~~ „Ich sollte dich irgendwo vergraben“, zischte Jean ungehalten zu Alvarez, sein französischer Akzent stärker als noch vor einer halben Stunde. Natürlich hatte sein Vizekapitän ihm nicht erklärt, was Karaoke bedeutete, natürlich hatte sie keinen Ton gesagt. Natürlich war es eine Überraschung für Knox gewesen, so dass auch er nichts hatte verraten können. Er oder der Rest der insgesamt vierzehn Trojans, die mit in dieser Bar waren, in der von der Bühne aus derart schief gesungen wurde, dass es Jean Zahnschmerzen bereitete. Alvarez hatte ihm verschwiegen, dass die Punkte auf der Liste nicht chronologisch waren, sondern völlig variabel. Das, was sie ihm nicht verschwiegen hatte, war, dass er als Jeans Mitbewohner selbstverständlich eine besondere Pflicht hatte, den Punkten beizuwohnen. Nicht allen, aber den Meisten. Dem hier hatte er sich nicht entziehen können und so standen sie nun, drei Tage, nachdem Alvarez ihn zu einem Kaffee eingeladen hatte, in dieser verfluchten Bar. „Kannst du tun, französischer Massenmörder, aber erst nachher und erst nachdem dieser traurige Ausdruck auf Jers Gesicht verschwunden ist“, wisperte sie zurück und grinste breit, als besagter Kapitän sich zu ihnen umdrehte. Sie winkte und Laila schüttelte resigniert mit dem Kopf. Manchmal fragte Jean sich schon, was Laila bei der vorlauten, lauten und durchaus aufdringlichen Frau hielt. „Hört auf zu tuscheln, ihr beiden“, wurde auch er gescholten und Jean schnaufte. Nicht, dass man es in dieser fürchterlich lauten und stickigen Bar hörte, von deren Decke überall kupferfarbene Rohre hingen und passende Lampen aus Drähten hielten. Die Rohre liefen auch über die Wände und Jean kam zu dem Schluss, dass es Dekoration sein musste. So viele Leitungen auf einem Haufen ergaben überhaupt keinen Sinn. „Da ist unser Tisch!“, rief Valentine und zog Logan hinter sich her, dessen leuchtende Augen Jean kein wirklich großes Rätsel waren, wenn er daran dachte, wie gerne der andere Junge gesungen hatte. Ebenso Fahima. Ajeet war nicht mit dabei, weil er arbeiten musste, dafür aber Ellie, Giorgia, Tim, Elena, Cilian, Mary-Lou und Ricardo, die ihren Kapitän mit herzlichen Umarmungen empfangen hatten. Jean und Alvarez gingen sich gegenseitig anrempelnd hinter den Anderen her und ließen sich auf die noch freien Stühle nieder. Er neben Knox und Alvarez neben Laila. Jean war froh um die Wand in seinem Rücken und darum, dass sie hier nicht ganz so nah an den nächsten Lautsprechern und der fürchterlichen Bühne waren und wenn er sich seinen Kapitän ansah, dann ging es ihm genauso. Seit drei Tagen war er gefordert, der sprechende Teil ihres Apartments zu sein, weil Knox wenig bis gar nichts sagte und immer wieder in traurige Gedanken abglitt. Jean ließ den blonden Jungen auch nur noch in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Frühstück und Abendessen übernahm nach dem ersten, katastrophalen Morgen Jean. Mit Freuden tat er das. Auch wenn er Knox zu den Mahlzeiten locken musste und ihm langsam die Gesprächsthemen ausgingen. Er wusste nicht, worüber er soviel erzählen sollte, schließlich erlebten sie viele Dinge gemeinsam. Er stand kurz davor, Laila und Alvarez einzuladen, öfter vorbei zu kommen. Oder den Rest des Teams. Sie bestellten ihre Getränke und um Knox‘ Willen nahm Jean ein Glas Limonade anstelle seines üblichen Wassers. Schließlich sollte er, zumindest wenn es nach Alvarez ging, so aussehen, als würde er weggehen und Spaß haben. Um Knox‘ Willen. Wenn dazu ein Glas Limonade reichte, dann machte er es gerne. „So, auf geht’s!“, sagte Fahima neben ihm begeistert und nahm Knox‘ Hand. Sanft zog sie daran und nahm den Jungen mit sich zur Bühne. Jean sah ihnen hinterher und blieb an ihrem changierenden Seidenhijab hängen, den sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte. Lächelnd hatte Fahima ihm die Erlaubnis gegeben, den Stoff anzufassen, als er einmal zu oft darauf gestarrt hatte und so war Jean nicht umhin gekommen, die blau-pink schimmernde Seide durch seine Finger fließen zu lassen. Wunderschön. Und es machte den Jungen, der versuchte, sich ihr zu nähern, auf eine sehr amüsante Weise sprachlos. Zumindest hatte Pete nicht wirklich viel Sinnvolles hervorgebracht, als er sich gestern zum Mittagessen zu ihnen gesetzt und versucht hatte, mit Fahima ein Gespräch zu führen. Jean amüsierte die Erinnerung daran. Pete war in seiner Makroökonomie- und in seiner Wirtschaftsrechtvorlesung. Er war kein Schwätzer und machte eigentlich nur den Mund auf, wenn er etwas Richtiges zu sagen hatte. Er war vollkommen fasziniert von Exy und noch viel faszinierter von Fahima. Das war nicht nur ihm aufgefallen und so wartete schon das gesamte Team darauf, ihn einer Prüfung unterziehen zu können. Einer Fragestunde, wie es Laila Jean erklärt hatte, in der er auf Herz und Nieren geprüft wurde. Jean wusste, dass sie Pete nichts Böses tun würden, aber ein bisschen Mitleid hatte er schon. Ihre Getränke kamen und Jean sah sich verstohlen um. Die Bar voll vollgequetscht mit Leuten, die in kleinen oder größeren Grüppchen zusammenstanden oder wie sie an einem Tisch saßen. Er sah niemanden, der nicht lachte oder sich nicht angeregt unterhielt und verstand, warum dieser Punkt auf der Liste stand. Für Knox war diese Fröhlichkeit hoffentlich ansteckend. Er selbst hielt sich an seiner Limonade fest und begegnete Valentines Blick, die nun drei Sitze weiterrückte, weil Logan, Elena und Cilian ebenfalls nach vorne gingen. „Also, Jean“, begann sie und maß ihn eindringlich. „Erklär mir jetzt bitte nochmal deinen Spielzug von heute. Mir ist die Schrittfolge nicht klar. Also echt nicht.“ Für gewöhnlich würde Jean mit den Augen rollen und sich über die Unfähigkeit seines Teams aufregen, neue Spielzüge zu integrieren, nun aber war er dankbar für die Ablenkung, die ihn von diesen schrägen, missgestimmten Tönen wegbringen würde. ~~**~~ Erschöpft und erschlagen kroch Jeremy aus dem Bett. Er schlief nicht gut in der letzten Zeit, träumte viel, davon aber wenig Schönes. Immer und immer wieder durchlebten seine Erinnerungen Allans Worte und in Verbindung mit diesen das, was Jean getan hatte. Immer und immer wieder hatte er diese Schleife heute Nacht geträumt und war viel zu früh aufgewacht. Ein Blick auf das Bett an der anderen Wand sagte ihm, dass Jean vermutlich durch ihn geweckt worden war und Jeremy blieb einen Moment lang an Louis‘ Zeichnung, den beiden Bildern und der Postkarte hängen, die Jean mittlerweile an seine Wand geheftet hatte. Eines der Bilder war an einem ihrer Strandbesuche entstanden und zeigte die Trojans von hinten, wie sie an einem strahlend schönen Tag ins glitzernde Meer sprinteten. Entweder Fahima oder Jean hatten das Bild gemacht und Jeremy musste jedes Mal wieder lächeln, wenn er es sah. Das andere war neu hinzugekommen und es war ein Bild von Barns und Gargamel, das seine Ma ihnen beiden geschickt hatte. Die Postkarte war von Neil, Renee, Nicky, Allison und Matt – zumindest hatten diese Personen sie unterschrieben. Bei Andrew war Jeremy sich mittlerweile sicher, dass dieser rein aus Nickeligkeit nicht unterschrieben hatte. Kevin vermutlich nicht, damit Jan sie nicht wegwarf. Es war eine etwas in die Jahre gekommene Postkarte der Stadt, die Verwaltungsgebäude und einen See zeigte, nur durchbrochen von gelb-schattierten Schrift, die die Stadt identifizierte. Jeans unwirsches Grollen, als er das gute Stück amerikanische Postkartengeschichte in den Händen gehalten hatte, war keinesfalls als Zustimmung zu werten gewesen, allerdings hatte er sie schließlich ohne Murren aufgehängt. Jeremy horchte auf, als er Geräusche aus der Küche hörte. Jean schien Frühstück zu machen, wenn er das Gurgeln der Kaffeemaschine richtig interpretierte, das gedämpft zu ihm drang. Es war ein guter Anlass die Schrecken der Nacht hinter sich zu lassen und sich von Jeans Anwesenheit ablenken zu lassen. Was bisher gut funktionierte, wenn er das mit seinen letzten Trennungen verglich. Nur dass es jetzt keine Trennung war. Er schälte sich aus dem Bett und streifte sich seinen Trojanhoodie und die gestrickten Socken über, zog die Kapuze über seine Haare. Es war kalt geworden in L.A., bitterkalt mit Temperaturen um zehn Grad. Aber was beschwerte er sich, der Winter und Weihnachten standen vor der Tür. Trotz aller Niedergeschlagenheit freute Jeremy sich auf seine Familie, auf Silvester und auf das neue Jahr. Worauf er sich nicht freute, war, Jean die bittere Wahrheit über ihr Spiel gegen die Ravens eröffnen zu müssen, was neben Allans Verschwinden aus seinem Leben die zweite, große Belastung für ihn war. Aber er schaffte es nicht. Beim besten Willen hatte er keine gute Gelegenheit dafür gehabt, es Jean in Ruhe zu sagen und selbst stark genug zu sein um den anderen Jungen danach auffangen zu können. Zumal Jean mit jedem Tag, den er hier war, mehr erblühte, öfter lächelte und ihm ironischere Kommentare um die Ohren schlug. Momentan zwar nicht, aber Jeremy glaubte, dass das mit Allan zusammenhing und damit, dass Jean sich mit den gesamten Trojans wie eine Herde an Glucken um ihn kümmerte, egal, wie oft er versicherte, dass es ihm bald besser gehen würde. Leise öffnete Jeremy die angelehnte Tür. „Hey“, murmelte er und Jean sah von der Anrichte hoch, auf der er gerade Obst und Gemüse schnitt. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen und wenn Jeremy sich nicht wirklich täuschte, dann hatte er nicht so gut geschlafen. Vermutlich noch schlechter als er selbst. „Guten Morgen“, erwiderte Jean, als gäbe es das alles nicht und Jeremy kam zu ihm. „Habe ich dich wachgehalten?“ Jean nickte ehrlich und Jeremy lächelte entschuldigend. „Es tut mir leid“, sagte er und holte Schüsseln für Jeans Geschnittenes heraus. „Ich kann auf die Couch umziehen, damit du besser schlafen kannst“, sagte er, doch der größere Junge schüttelte den Kopf. „Nein, das musst du nicht.“ Jeremy schwieg zusammen mit Jean und deckte in der frühen Morgenstille ihren Frühstückstisch, während der andere Junge den Pancakesteig anrührte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es fünf Uhr morgens war, viel zu früh für ihn normalerweise. Doch er hatte keine Muße, wieder ins Bett zu gehen und noch viel weniger Muße, wieder Alpträume zu haben. Lieber nahm er Jeans Lieblingstasse aus dem Schrank und stellte sie neben seiner auf die Anrichte, als die Kaffeemaschine die letzten Tropfen des schwarzen Gebräus ausspuckte. Jean backte die Pancakes in der Pfanne und machte sich nebenher sein Rührei mit solch schlafwandlerisch sicheren Bewegungen, dass Jeremy einfach da stand und ihm zusah. Es verschaffte ihm Ruhe und etwas Alltägliches, das ihm Kraft gab, so saugte er sich an den Bewegungen des anderen Jungen fest. Zumindest solange, bis dieser ihr Frühstück fertig hatte und alles auf den Tisch stellte. Erst dann folgte Jeremy mit dem Kaffee und setzte sich auf den Stuhl, ein Bein zu sich ziehend. Er wusste, dass er frühstücken sollte, weil ihr Tag anstrengend werden würde, aber er brachte es nicht über sich, mehr damit zu tun als darin herum zu stochern. „Habe ich sie falsch gemacht?“, fragte Jean schließlich und Jeremy sah auf. Einen Moment lang erschloss sich ihm nicht, was Jean meinte, doch dann schüttelte er wild den Kopf. „Nein, sie sind vollkommen richtig. Ich…ich brauche nur etwas, um sie zu essen. Es ist noch früh.“ Das war eine Lüge, denn er hatte schon die letzten Tage nicht richtig gegessen und Jeans erhobene Augenbraue sagte ihm genau das. Jeremy senkte den Blick. „Sorry“, murmelte er und widmete sich dem Pancake, dieses Mal mit etwas mehr Elan. Jean erlaubte ihm den schweigenden Kampf mit seinem Essen, bis er aufstand, um ihnen beiden eine zweite Tasse Kaffee einzuschenken. „Du hast im Traum gesprochen“, begann er so neutral, dass Jeremy jetzt schon ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte. Jean setzte sich wieder und musterte ihn aufmerksam. „Im Traum hast du den Reporter darum gebeten, nicht mir die Schuld zu geben. Du hast gesagt, dass es unfair ist, dass er sich dir wegen mir nicht mehr nähert.“ Jeremy schluckte und war viel zu überrascht über seine eigene, schlafwandlerische Geschwätzigkeit, als dass er zunächst darauf reagieren konnte. Dieses Zögern war ein Eingeständnis, das sah er, ebenso wie er das Erkennen der Wahrheit in Jeans Augen bemerkte. „Jean, ich…“, begann Jeremy, wusste aber nicht so recht, wie er den Satz wirklich beenden wollte. „Stimmt das, Jeremy?“, fragte Jean schlicht und alleine sein Vorname, der weich und streng zugleich von den Lippen des anderen Jungen kam, machte ihm ein Ausweichen unmöglich. Jeremy schluckte, sein Hals plötzlich trocken und die Kehle eng. Er räusperte sich, hustete einmal und nickte dann. „Allan hat… er kann nicht vergessen, was geschehen ist, als du uns gesehen hast. Er sieht nur noch, was geschehen ist, wenn er an mich denkt oder mich sieht. Er…möchte mich nicht mehr sehen, weil er Angst davor hat, was geschehen ist und weil er es verarbeiten muss.“ Es war ein Wunder, dass Jeremy die Worte so reibungslos aussprechen konnte und dass er nicht wieder anfing zu weinen. Vielleicht lag es daran, dass er erschöpft war oder dass er endlich begriffen hatte, dass er Allan nie wiedersehen würde. Was es auch war, seine Emotionslosigkeit wurde mit einer solch nonverbalen Wut in Jeans Gesicht pariert, dass Jeremy alleine beim ihrem Anblick zusammenzuckte. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)