Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 48: Erkenntnisse, Fragen und mittendrin...der rote Fluff ---------------------------------------------------------------- Das Gewitter zog langsam vorbei und damit auch Jeremys Angst. Schon während des stetigen Wechsels aus Blitz und Donner war sie soweit abgeflacht, dass er Jeans französischen Worten lauschen und versuchen konnte, ihren Sinn zu entziffern. Das gelang ihm nicht, auch wenn Worte wie Josten oder Minyard ihm verdächtig bekannt vorkamen und sich Jeremy unweigerlich fragen ließen, um was es ging. Vermutlich um Exy, insbesondere, weil Jeremy auch Namen seines Teams ausmachen konnte. Was es auch war, das Jean ihm erzählte…Jeremy hoffte, dass er niemals damit aufhören würde. Wirklich nicht. Und das war Teil eines riesengroßen Problems. Eines überlebensgroßen Problems. Sie hatten körperlichen Kontakt…soweit, so gut. Das hatten sie schon öfter gehabt. Aber Jean hatte ihm über den Rücken gestrichen, immer und immer wieder und Jeremys Rückseite hatte auch jetzt noch eine Gänsehaut von der Berührung des anderen Jungen. Ganz zu schweigen von Jeans Geruch, der sich so wunderbar in die Gerüche des regnerischen Waldes einfügte und mit ihnen verschmolz und bei Jeremy mit dem absoluten Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit verknüpft war. Oder seinen Armen, die ihn – sich ihrer Stärke nicht ganz bewusst – etwas zu hart umschlangen. So wie Jeans emotionale Umarmungen bisher immer gewesen waren. Doch das war alles nichts…aber auch wirklich gar nichts… dazu, dass Jean ihn geküsst hatte. Geküsst. Er hatte Jeremy geküsst. Nur auf die Haare, aber es war ein Kuss gewesen. Oh Gott. Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Jeremy würde sich nie wieder die Haare waschen. Nie wieder. Und Jean hatte an ihm gerochen, das hatte Jeremy in einer Donnerpause sehr wohl gehört. Er hatte tief Luft eingesogen und an seinen Haaren geschnuppert. Jeremy war hin und weg, er war vollkommen verschossen in den Jungen neben sich. Wenn er den Kopf hob, dann würde Jean damit aufhören, aber wenn er die Nähe des Anderen weiter suchte, machte er sich verdächtig. „Danke“, murmelte er der muskulösen Brust entgegen, an der er seinen Kopf versteckt hatte. Er löste sich von Jean und sah ihm in die sorgsam neutral gehaltenen Augen. Verlegen wischte Jeremy sich über sein Gesicht und setzte sich soweit zurück, dass er Jean richtig ansehen konnte, ohne den Drang zu verspüren, diese strengen Lippen küssen zu wollen. Doch mit der Entfernung kam auch das schlechte Gewissen. Jeans Erfahrung mit körperlicher Nähe war in weiten Teilen nicht gut gewesen. Und nur wegen seiner Bitte hatte Jean ihn an sich gezogen. „Ich wollte dir meine körperliche Nähe nicht aufzwingen, das tut mir leid, Jean“, entschuldigte er sich und kritisch runzelte dieser die Stirn. „Du hast dich mir nicht aufgezwungen“, erwiderte er und Jeremy zuckte ungewollt zusammen. Nein, das hatten andere getan, mehrfach. Es schien, als wurde sich nun auch Jean seiner Wortwahl bewusst und seine Augen weiteten sich. Unwohl sah er auf seine Hände hinab. „Ich meinte…“ Jeremy legte seine Hand auf die unsauber geheilten Fingergelenke und lächelte. „Ich weiß. Ich möchte nur nicht, dass du dich in meiner Gegenwart unwohl fühlst.“ Jean hob den Blick. „Das trifft nicht zu. Ich mag deine Gegenwart“, formulierte er in seiner bestimmten Art der filterlosen Ehrlichkeit und Wärme explodierte in Jeremys Magengegend und breitete sich in Windeseile in seinem ganzen Körper aus. „Dito“ strahlte er und Jean schürzte nachdenklich die Lippen. Es hatte etwas Liebevolles und Komisches an sich und Jeremy konnte nicht anders, als die Hand, die noch unter seiner lag, an seine Lippen zu führen und einen leichten, hauchzarten Kuss darauf zu platzieren. „Danke, Jean“, murmelte er und ließ die Hand los, die für einen Moment unschlüssig zwischen ihnen schwebte. Jean starrte auf die Finger, die vereinzelt zuckten und für den ersten Moment hatte Jeremy Angst, dass er eine Grenze überschritten hatte. Doch dann huschte ein minimales Lächeln über Jeans Gesicht, beinahe unmerklich und er nickte. Dass der Backliner auf ihrer restlichen Wanderung über den regennassen Trail hin und wieder verstohlen auf seine Hand starrte und mit seinen Fingern über die Stelle des Kusses rieb, sah Jeremy und es ließ ihn auf Wolken schweben. Klitschnass, wie er war. ~~**~~ Irritiert saß Jean auf dem bequemen, weichen Sofa, in das sogar er einsinken konnte, und blinzelte. Seine linke Hand wurde gewärmt durch den Kakao, den er in seiner rechten hielt, während Mrs. Knox eine Decke um seine Schultern geschlungen hatte, bevor er auch nur in der Lage gewesen war, höflich abzulehnen. Anscheinend war es in der Familie Knox gute, alte Tradition, nach einer Wanderung durch den Regen – die Jean außerordentlich genossen hatte – zu duschen, sich etwas Bequemes anzuziehen und sich bloß schnellstmöglich auf die Couch vor dem bereits angefachten Kamin zu setzen. Jean verstand diese Tradition nicht und er wusste auch nicht, womit er sich diese Gemütlichkeit und den Kakao verdient hatte, aber er wagte auch nicht, den strengen Worten von Knox‘ Mutter zu widersprechen. So saß er nun hier und wartete darauf, dass sein Kapitän aus der Küche zurückkam, während er sein Handy genommen und Minyard über einen der Messenger das Foto des roten Fluffs geschickt hatte. Er hatte ihn tatsächlich gefragt, ob der gelangweilt dreinblickende Kater sein Drillingsbruder sei, bisher ließ eine Antwort darauf aber noch auf sich warten. Vermutlich war der blonde Torhüter mit seinem eigenen Rothaarigen beschäftigt. Knox huschte von der Küche ins Wohnzimmer und stellte vorsichtig seinen eigenen Kakao ab, hüllte sich in die zweite Decke, die auf dem hellgrauen Sofa lag und griff sich die Tasse, die Wangen gerötet und sichtlich glücklich. Noch immer spürte Jean das Gefühl der Lippen des Jungen auf seiner Haut und ein Phantomkribbeln breitete sich auf der betroffenen Stelle aus. So fühlte es sich also an. Das war noch besser, als wenn es die Finger des anderen Jungen gewesen wären und Jean verstand, warum Menschen den Drang verspürten, sich zu küssen. Es war wirklich schön. Das Auftauchen der Zwillinge im Durchgang zum Flur riss ihn aus seinen Gedanken und die Art, wie sie ihn musterten, kam Jean verdächtig raubtierhaft vor. Sie taxierten ihn und ihm wurde klar, was sie von ihm wollten. Antworten gegen Gefallen. Er erinnerte sich. Wortlos hob er die Augenbrauen und die beiden Mädchen kamen zu ihm. Wieder wusste er nicht, wer wer war und konnte sie nur anhand ihrer unterschiedlichen Frisuren auseinanderhalten. Einzopf und Zweizopf taufte Jean die beiden still und heimlich für sich, insbesondere, da die beiden Raubvögel nun auf ihn zukamen und ihm Übles schwante. Einzopf setzte sich links von ihm, Zweizopf rechts von ihm auf der Sofa und beide nahmen ihn ins Visier. Jean lehnte sich zurück und verschränkte eingedenk seines Kakaos vorsichtig die Arme. Kurz huschten seine Augen zu Knox, der dem Ganzen aufmerksam und kritisch beiwohnte, dazu bereit einzugreifen. Er war dankbar um das Wissen, dass sein Kapitän ihm helfen würde. Dankbar und erstaunt über die mittlerweile selbstverständliche Ruhe, mit der er das für sich annahm. Jean trank einen Schluck Kakao. „Ja bitte?“ „Wir haben Fragen“, war es Einzopf und Jean nickte. „Für euer Geschäft.“ „Korrekt.“ Zweizopf, dieses Mal. „Was ist eure Gegenleistung?“ „Wir haben noch Süßigkeiten. Und wir lassen dich mit Dads Traktor fahren.“ Die Süßigkeiten würde Jean an seinen Kapitän weitergeben, aber der Traktor ließ Jean aufmerksam aufhorchen. „Für wie lange?“ „Das kommt auf deine Antworten an.“ Zweizopf war für ihr Alter eine harte Verhandlungspartnerin, das musste Jean schon sagen, auch wenn sie eher einem blonden Engel glich mit ihrem runden, sonnengebräunten Gesicht und den kleinen Sommersprossen. Ihre Augen hätten niedlich sein können, wenn das Lauern sie nicht verraten hätte. Welches sie, wie Jean mittlerweile wusste, von ihrem Vater geerbt hatte. Das Lauern auf ein gutes Geschäft. „Stellt die richtigen Fragen und ihr bekommt gute Antworten. Ich möchte eine halbe Stunde auf dem Traktor.“ Dafür, dass er gerade erst seinen Führerschein hatte, sollte das wohl ausreichend sein, befand Jean und sah zu Knox, der das Grinsen hinter seiner eigenen Kakaotasse versteckte und mit deutlichem Vergnügen dem Schlagabtausch zwischen seinen Schwestern und Jean beiwohnte. „Okay…“ Einzopf nahm ihr Notizbuch und zückte türkisenen Stift, der bis gerade eben in dessen Seite geklemmt hatte. „Was machst du nach deinem Studium?“, fragte sie und Jean hob die Augenbraue. „In die professionelle Exyliga wechseln und dort spielen.“ Als wenn er jemals etwas machen könnte. Die Bitterkeit, die damit einherging, hielt sich in Grenzen, denn es hätte schlimmer kommen können. Wobei ihm die Zukunft immer noch Angst machte, denn sicherlich würde Knox woanders hingehen, ebenso wie Fahima, Laila, Alvarez, Ajeet, Valentine… dann wäre er wieder alleine. Der Gedanke schmerzte Jean mehr als es ihm angenehm war. „Und danach? Wenn du damit fertig bist?“ Das war eine gute Frage. Schließlich waren Exyspieler, wie so viele andere Sportler auch, mit Anfang oder Mitte vierzig verbraucht. Aufgrund seiner körperlichen Verfassung trat das bei ihm vermutlich früher ein und Jean schätzte sein Spielerdasein auf zehn Jahre. Was danach kam? Er zuckte mit den Schultern. „Soweit habe ich noch nicht gedacht. Irgendetwas mit Wirtschaft.“ Wenn die Moriyamas ihn leben ließen. Vielleicht holten sie ihn sogar zu sich zurück, damit er einem der Konzerne dienen konnte. Jean hoffte es nicht. Einzopf schrieb fleißig mit, während sie ihre Unterlippe zwischen den beiden Zahnreihen malträtierte. Jean beobachtete sie dabei und beneidete sie um ihre Sorglosigkeit und Freiheit. „Hast du gute Noten am College?“, fragte ihre Zwillingsschwester und Jean drehte den Kopf zu ihr. „Bessere als dein Bruder“, erwiderte er und beide Mädchen kicherten. Knox selbst schnaubte. „Zufall, Moreau.“ „Das würdest du dir wohl wünschen!“ Knox‘ Noten waren nicht schlecht, ganz im Gegenteil. Aber im Gegensatz zu ihm wusste sein Kapitän, dass er auch versagen konnte. Evermores Erziehung, nur Höchstleistungen zu erbringen, ließ ihn auch hier nicht los und so arbeitete er vor Klausuren wie ein Besessener, um bloß Bestnoten zu bekommen. „Jer, wie sind deine Noten gerade?“ „Besser als eure, ihr kleinen Hyänen!“, grimmte sein Kapitän und sie alle lachten. Selbst Jean schmunzelte. „Hast du eine Lieblingsblume?“ Jean schüttelte den Kopf. „Ich mag es, im Wald zu sein.“ Das stieß auf breite Zustimmung und er nahm einen Schluck Kakao, der ein bisschen nach Zimt schmeckte. „Hast du eine Lieblingsmannschaft beim Exy?“, fragte Einzopf und bevor Jean antworten konnte, schnaubte Knox. „Die Trojans natürlich!“, erwiderte er mit einer humorvollen Empörung, die Jean mittlerweile problemlos als solche erkannte. Knox echauffierte sich manchmal über viele dieser kleinen, unwichtigen Dinge und meinte es nicht ernst. Insgeheim fand Jean das amüsant. „Stimmt das?“ Jean musterte Zweizopf und seufzte. „An manchen Tagen schon“, stimmte er zu, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er hatte keine Lieblingsmannschaft. Exy war sein Leben, weil er es leben musste. Er war gut darin, weil er gut darin sein musste. Mit den Trojans gab es Momente, in denen er den Sport liebte. Aber hatte er eine Lieblingsmannschaft? Nicht wirklich. „Spielst du Computerspiele?“ „Das ist Zeitverschwendung, also nein.“ Ajeet und Logan spielten, soweit er es mitbekommen hatte. Jean fand aber keinen Reiz daran, sich noch länger vor seinen Computer zu setzen und bunte Männchen von A nach B hüpfen zu lassen. Einzopf machte sich konzentriert Notizen. „Und deine Lieblingssportart?“ „Habe ich nicht, obwohl ich Autorennen ganz spannend finde.“ „Exy ist nicht dein Lieblingssport?“ Jean schnaubte abfällig. „Nein.“ „Warum Autorennen?“ „Weil die Geschwindigkeit dort so hoch ist.“ Seitdem er seinen Führerschein hatte und auf einem der Bildschirme im College, die in der Mensa hingen, gesehen hatte, dass es Autorennen auch als Sport gab, stellte Jean sich vor, wie es wäre, in einem dieser Autos zu sitzen und ein solches Rennen mitzufahren. Er sollte Knox mal fragen, ob so etwas möglich war. „Wie ist denn dein ideales Thanksgiving?“ Jean runzelte die Stirn. „Keine Ahnung. Es ist mein Erstes“, sagte er und die beiden Mädchen keuchten unisono schockiert auf. „Wieso?“, fragten sie wie aus einem Mund und Jean blinzelte. Über Einzopf hinweg sah er zu Knox, in dessen Augen Verständnis stand. Verständnis für seine Vergangenheit. Sanft lächelte er. „Ich habe es bisher nie gefeiert. In Evermore waren Feiertage nicht wichtig.“ Beide Mädchen waren deutlich schockiert über seine Worte. „Wie fürchterlich!“, sagte Zweizopf und fragwürdige Entschlossenheit stahl sich auf ihr junges Gesicht. „Dann machen wir dieses Thanksgiving zum besten Thanksgiving, dass du jemals hattest!“, strahlte sie und ihre Schwester pflichtete ihr bei. Jean ließ das wohlweißlich unkommentiert. Es würde gut sein, weil es bei den Knoxes war. Es würde gut sein, weil es sein Erstes war. Und es würde nicht zuletzt gut sein, weil er nicht mehr in Evermore war. „Warst du schon einmal verliebt.“ Jean war froh, dass er nicht, wie geplant, die Tasse zu seinem Mund geführt hatte. Verliebt? Er? In wen denn? Er hatte vertraut, ja, aber deswegen war er nicht verliebt gewesen. Jean runzelte die Stirn, als ihm ein bisher fremder Gedanke kam. Was war denn vor Evermore gewesen? Hatte es in Frankreich jemanden gegeben? Er konnte sich nicht erinnern, zumindest nicht so schnell. „Nein, das war ich nicht“, erwiderte er deswegen und erntete damit die Missbilligung beider Mädchen. „Du bist so hübsch, du musst dich auf jeden Fall verlieben!“, sagte Zweizopf. „Mia!“, grollte Knox und Jean schnaubte. Endlich hatte er einen Namen zu dem Gesicht und konnte sich einprägen, wer wer war. Was allerdings die Verbindung zwischen seinem Aussehen und dem Verlieben war, erschloss sich ihm nicht. „Was denn, Jer?“, beschwerte Mia sich und Jean schmunzelte in die Kakaotasse hinein, nahm einen guten Schluck. „Magst du denn eher Jungs oder Mädchen?“ „Ist es denn! Was seid ihr für neugierige Aasgeier?“, empörte sich sein Kapitän und Jean musste ihm da beipflichten. Die Frage brachte ihn durchaus aus dem Konzept und er setzte vorsichtig die Tasse ab, stellte sie auf seinen Oberschenkel. „Die Frage ist sehr indiskret, Charlie, lass das!“, schimpfte Knox mit seiner Schwester und Jean musterte seinen Kapitän. Mochte er Jungs oder Mädchen lieber? Er hatte keine Ahnung. Knox‘ nackter Hintern tauchte urplötzlich vor Jeans innerem Auge auf und er spürte verdächtige Röte auf seinen Wangen. Wieso dachte er ausgerechnet jetzt daran? Wieso war seinem Unterbewusstsein diese Erinnerung so wichtig, dass es ihm jetzt dieses Bild präsentierte? „Ich weiß nicht?“, beantwortete er die Frage mit einer Gegenfrage und zuckte mit den Schultern, den Blick auf Knox partout meidend. Nein, er konnte seinem Kapitän nicht in die Augen sehen, während er sein nacktes Hinterteil vor Augen hatte! Gespannt hatte er, verbotenerweise! Außerdem war es unschicklich, in Gegenwart von Knox‘ minderjährigen Schwestern darüber nachzudenken! Sein Handy pingte und Jean ignorierte es. Charlie brummte nachdenklich. „Von wem und wann hast du denn deinen ersten Kuss bekommen?“, fragte sie kritisch und hinter ihr entwich Knox ein Laut, den Jean nicht ganz deuten konnte. Missfallen? Panik? Angst? Er sah nun doch hoch und begegnete der Entschuldigung auf dem Gesicht des blonden Jungen. „Du musst die Frage nicht beantworten, Jean. Mach dir darum keinen Kopf!“, nickte Knox bekräftigend und Jean runzelte die Stirn. Warum sollte er nicht? Schließlich war die Antwort doch einfach. „Das ist okay, Knox“, wiegelte Jean ab und zweifelnd wurde er gemessen. Er wandte sich an Charlie, die ihn mit großen, erwartungsvollen Augen anstarrte. „Das war heute, von eurem Bruder.“ Schließlich hatte Knox ihn auf die Hand geküsst, die alleine bei dem Gedanken daran immer noch kribbelte. „WAS?!“ Das zweifache Kreischen ließ seine Ohren klingeln und überrascht versuchte Jean seine Tasse zu retten, als Mia halb über ihn drüberkrabbelte um ihren Bruder in Augenschein nehmen zu können. Charlie hatte es da weitaus einfacher, da sie näher an Knox saß, der sie alle mit großen, weiten Augen anstarrte. Vor allen Dingen ihn direkt. Irritiert sah Jean sich um. Er hatte doch nichts Besonderes gesagt… wieso gab es so eine Aufregung? „Jean, ich glaube nicht…“, versuchte sein Kapitän sich schwach an einem Satz, der in tosendem Geschrei seiner Schwestern unterging. „Jer, wieso hast du nichts gesagt?“ „Wieso hast du das vor uns geheim gehalten?“ „Seit wann seid ihr zusammen?“ „Wie seid ihr zusammengekommen?“ Fragen über Fragen, die gleichzeitig auf ihn einstürmten und mit denen Jean nichts anfangen konnte. „Ich…“, begann er und sah sich in der Aufmerksamkeit der beiden Schwestern, die ihn sich wünschen ließ, den Mund gehalten zu haben. „Ähm…“ „Jean, ich glaube, du meinst nicht das Gleiche wie Charlie“, sagte sein Kapitän vorsichtig und Jean runzelte die Stirn. „Jer, du hast uns nicht erzählt, dass du einen Freund hast!“, grimmte Mia und Knox schnaubte. „Weil ich keinen habe“, entgegnete er und Jean runzelte die Stirn. Unsicher musterte er Knox. Bisher hatte er gedacht, dass sie Freunde seien. Aber diese entschiedene Ablehnung deutete auf etwas Anderes hin. „Sind wir keine Freunde?“, fragte er, bevor er sich davon abhalten konnte und verfluchte sein schnelles Mundwerk, das um Klarstellung gierte. Das Geräusch seines dazwischenpiependen Nachrichtentons ignorierte er geflissentlich. Erschrocken weiteten sich Knox‘ Augen. „Natürlich sind wir das, Jean! Wieso fragst du…?“ Irgendetwas schien seinem Kapitän wie Schuppen von den Augen zu fallen und er barg sein Gesicht in den Händen. „Oh Gott, natürlich sind wir Freunde, Jean. Was Mia und Charlie aber meinen, sind Partner.“ Jean verstand immer noch nicht. „Partner im Sinne von Liebhabern. Deswegen rasten sie gerade auch so aus!“ Mia jaulte auf. „Zurecht! Ihr habt euch geküsst!“ Anklagend schwiegen die Zwillinge und verwirrt bat Jean Knox nonverbal um Hilfe. Er verstand nun wirklich gar nichts mehr. „Bedeutet ein Kuss, dass man sich liebt?“, fragte er und wünschte zwei Sekunden später, dass er es nicht getan hatte. Diese drei blauen Augenpaare machten ihn rastlos, so entsetzt, wie sie ihn anstarrten. „Naja…“ Charlie grübelte. „Man kann sich auch küssen, ohne, dass man sich liebt…“ „Worüber du noch gar nichts wissen dürftest, Charlie!“ „Also ist es rein Sex?“ „Mia! Ich schwöre…“ „Es war nichts Sexuelles“, stellte Jean richtig, bevor jemand etwas noch Falscheres denken konnte. „Ich habe eurem Bruder einen Kuss auf die Haare gegeben, damit er keine Angst vor dem Gewitter hat. So wie eure Mutter das gestern bei Barnie getan hat. Und dann hat er mir einen Kuss auf die Hand gegeben“, sagte er und für Sekunden hatte er Ruhe. Heilsame, wohltuende Sekunden voller Stille, bevor Charlie und Mia in schallendes Gelächter ausbrachen und Knox‘ Gesicht eine Leinwand fassungsloser Betrogenheit war. „Du vergleichst mich mit einem Hund…?“, fragte sein Kapitän und Jean ahnte, dass er etwas gesagt hatte, was nicht gut war. Er schluckte und schwieg für einen Moment. „Es schien Barnie zu beruhigen und da dachte ich, vielleicht beruhigt es auch dich.“ „Das ist logisch… aber…“, erwiderte Knox zögernd mit einem Quantum an Enttäuschung und Jean konnte sich Letzteres nicht erklären. Wirklich nicht. Unsicher verstummte er und sah auf seine Tasse. Also war es falsch gewesen? Hätte er es nicht machen sollen? „Mia, Charlie, Fragestunde ist vorbei. Seid so gut und lasst uns grad mal alleine, ja?“, sagte Knox ernst und seine Schwestern protestierten empört. „Echt jetzt? Warum denn? Das war doch grad so spannend!“ „Ja, echt jetzt, Charlie. Wenn Jean möchte, geht es später weiter. Jetzt haben wir aber etwas zu klären…also sucht euch eine andere Ablenkung, okay?“ Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Beiden murrend aufstanden und sich aus dem Wohnzimmer verzogen. Jean sah ihnen verwirrt hinterher und spürte mehr, als dass er sah, dass sein Kapitän näher rückte. Schweigend verharrte er und brauchte einen Moment, bevor er Knox in die Augen sehen konnte. „Alles okay, Jean?“, fragte Knox ruhig und Jean schnaubte. „Das sollte ich dich fragen. Du siehst aus, als hätte ich dir dein Kevin Day-Puzzle gestohlen“, erwiderte er und überrascht lachte der blonde Junge. „Darüber wäre ich sehr traurig, aber ich könnte es verstehen. Nein, es ist alles in Ordnung… aber du hast mich doch nicht wirklich mit einem Hund verglichen, oder?“, fragte er vorsichtig nach und Jean blinzelte. „Ich wollte dich beruhigen und es schien zu funktionieren. War das nicht in Ordnung?“ „Es war schön und ich bin dir sehr dankbar, dass du mich von dem Gewitter abgelenkt hast. Deine Umarmung hat mir sehr geholfen, deine Worte auch und der Kuss auch.“ Knox lächelte und die Zuneigung in der Geste schmerzte tief in Jeans Brust. „Dein Kuss war auch schön“, erwiderte er verlegen und sah auf seine Hand. Knox lachte sanft. „Das freut mich sehr. Das war eine Geste der Dankbarkeit.“ Jean war froh, dass der blonde Junge ihm den Sinn des Kusses erklärte. Vieles lernte er noch und die Feinheiten des menschlichen Miteinander verwirrten ihn immer wieder. Jeans Handy pingte erneut und er ignorierte es, viel zu gefangen in einer Frage, die sich ihm ungefragt aufzwängte. Was wäre, wenn Knox und er wirklich Partner wären? Wenn sie eine Beziehung hätten, also so wie Alvarez und Laila? Könnte Jean überhaupt eine Beziehung haben? Könnte er sich überhaupt vorstellen, Sex zu haben? Er runzelte die Stirn. Der Gedanke, dass Knox gehen würde, wenn sie beide ihren Abschluss hatten, war für Jean ein Ärgernis. Er wollte nicht, dass der Junge ihn verließ, er konnte sich nicht vorstellen, ohne Knox‘ nächtliche Geräusche zu schlafen oder nicht den Tag mit ihm zu verbringen. Der Gedanke als solcher war erschreckend in seiner Erkenntnis. Aber war er nicht rein egoistisch? Er wollte nicht alleine sein, deswegen wollte er nicht, dass Knox ging. Jean dachte an Fahima. Wie war es, wenn sie gehen würde? Es machte ihm keine so intensive Angst wie bei Knox. Bedeutete das, dass er Männer bevorzugte? Bedeutete das, dass er Knox bevorzugte? Es lief ihm heißkalt den Rücken hinunter bei diesem Gedanken. Jean schürzte die Lippen und wünschte sich in diesem Moment nichts mehr, als mit Renee zu sprechen und ihren Rat einzuholen. Sie würde sicherlich wissen, was es war, das er fühlte. Als hätte sein Handy ihn gehört, pingte es erneut und Jean grollte. Er sah hoch und wurde sich bewusst, dass der blonde Junge noch eine Antwort von ihm erwartete. „Ich mochte diese Geste sehr“, sagte Jean ehrlich und nun piepte auch noch Knox‘ Handy, bevor der andere Junge ihm antworten konnte. Kurz huschte seine Aufmerksamkeit zu dem aufleuchtenden Display und irritiert runzelte sein Kapitän die Stirn. „Alvarez schreibt, du hättest das Internet kaputt gemacht“, las er die Nachricht vor und sah verwirrt hoch zu Jean, der genauso unwissend den Kopf schief legte. „Steht da auch wieso?“ „Das konnte ich nicht lesen.“ Jean langte nach seinem Telefon und hielt inne. „Darf ich?“, fragte er Knox, der ihn, wie immer, wenn er das aus Reflex tat, so lange schweigend ansah, bis Jean die Antwort für sich selbst fand. Entsprechend schnaufend entsperrte Jean das Smartphone und hob die Augenbrauen, als ihm ein paar Dutzend Nachrichten und Benachrichtigungen entgegensprangen. Die Gruppenchats der Trojans und der Foxes liefen dabei am Meisten heiß, ganz zu schweigen von seinen persönlichen Nachrichten. Minyards simples Fragezeichen ging da beinahe unter und Jean schnaubte ob der recht lahmen Reaktion des Torhüters auf das Bild, das er ihm geschickt hatte. Die Benachrichtigungen der Social Media-Kanäle waren da aufschlussreicher. „Du hast Gargamel fotografiert“, sagte Knox staunend, während er anscheinend durch seine Timeline scrollte und Jean es ihm gleichtat. „Woher weißt du das?“, fragte er und Knox hielt ihm sein Handy hin. Da war das Bild, das er von dem gelangweilten, rothaarigen Fluff gemacht hatte. Seine Nachricht an Minyard direkt darunter. „Dein lang verschollener Drillingsbruder? Eine gewisse lethargische Ähnlichkeit lässt sich zwischen dir und dem roten Fluff nicht verneinen.“ Doch das war nicht die private Nachricht, die Jean beabsichtigt hatte. Es war ein Post auf Minyards Timeline. Minyard, der seinen Account selten bis gar nicht nutzte. Sein Post selbst hatte mehr als 14.000 Likes und an die tausend Kommentare, durch die Jean nun mit wachsendem Horror scrollte. Die Meisten waren amüsiert darüber, dass so etwas auf Minyards Timeline auftauchte. Viele waren begeistert. Und dann gab es da die Spekulationen, die Verbindungen zwischen dem Post und Minyards und seiner Verbindung zogen. Diese Kommentare ließen Jean schlucken und unwohl sah er hoch zu Knox. „Ich wollte ihm das Bild als Privatnachricht schicken…“, erklärte er sich und hilfesuchend klammerte er sich an das Amüsement seines blonden Kapitäns. „Das ist wohl ein bisschen in die Hose gegangen.“ Das war die Untertreibung des Jahres, befand Jean. „Sie vermuten, dass Minyard und ich freundschaftliche Verbindungen haben!“, erwiderte er entrüstet und Knox räusperte sich. „Wie schrecklich. Wie können sie sich erdreisten?“, sagte er und Jean hörte die Ironie, die mit dem Holzhammer daher kam, nur zu deutlich. „Knox!“, grollte er und sein Kapitän lachte. „Du hast doch Recht. Gargamel sieht Andrew ähnlich.“ Jean scrollte und scrollte und es schien kein Ende zu nehmen. „Ja, aber… die Kommentare…“ Knox scrollte mit und lachte. „Ich finde sie großartig!“ „Sie vermuten eine Art von Rivalität zwischen uns. Und was bedeutet der Begriff „Dystopische Bromance“?“ Knox‘ Schultern bebten und Jean stellte nach ein paar Sekunden fest, dass er ausgelacht wurde. Geradezu ausgelacht, was der blonde Junge nun auch mit einem schallenden Lachen bestätigte. „Unser Kater wird berühmt, was soll ich sagen? Gargamel Minyard“, grinste er und Jean starrte verzweifelt auf sein Smartphone. „Ich bin schlimmer als Josten“, murmelte Jean verzweifelt und starrte mit Horror auf die größer werdende Anzahl an Kommentaren, Likes und dem dazugehörigen Hashtag. #DerRoteFluffMinyard ~Ich wollte dir das per Nachricht schicken~, sandte er dieses Mal wirklich nur an Andrew, der keine Sekunde brauchte um zu antworten. ~Glückwunsch, das ist dir ja hervorragend gelungen.~ Die Ironie dessen konnte selbst Jean herauslesen. Er postete Andrew einen Mittelfinger. ~Moderne Kommunikationstechnik ist nicht deins, oder?~ ~So ist es eben, wenn man von einem verrückten Kult gefangen gehalten wird~, schrieb Jean in einem Anflug von Selbstironie zurück und Minyard schickte ihm einen augenrollenden Smiley. ~Frag beim nächsten Mal den Kapitän der Gummibärenbande, bevor du die Finger ans Internet legst, wie wäre es?~ ~Du bist doch nur neidisch, weil jetzt mal Leben auf deinen Account kommt.~ ~Darauf kann ich gut verzichten.~ ~Der Kater wäre im Übrigen ebenfalls das, was rauskommen würde, wenn man dich und Josten kreuzt~, konnte Jean sich einen weiteren Seitenhieb auf Minyard nicht verkneifen und bekam auch prompt die passende Antwort. ~Ich hätte dich in Abbys Gästezimmer sterben lassen sollen, undankbares Stück.~ ~Hast du aber nicht. Jetzt leb mit deinen Versäumnissen und hör auf zu heulen.~ Nun war er derjenige, der einen Mittelfinger bekam und Jean lachte kurz. Knox sah verwirrt auf und Jean schnaubte. „Andrew meint, du sollst mir Nachhilfeunterricht für das Internet geben“, erläuterte er sein Amüsement und das Strahlen auf dem Gesicht des blonden Jungen verursachte ihm ein warmes Gefühl in seiner Bauchgegend. ~~**~~ Auch wenn morgen erst Thanksgiving war, so gab es heute schon soviel Essen, dass Jeremy das Gefühl hatte, kugelrund zu werden. Wenn er nicht schon viermal an sich hinuntergesehen hätte um sich zu versichern, dass sein Bauch nicht rund wäre, so hätte Jeremy das nicht geglaubt. Jean ging es da nicht besser und er hatte förmlich die Erleichterung des Backliners sehen können, als das Essen ein Ende hatte und er mithelfen durfte abzuräumen. Zusammen mit seinem Vater trug er das Geschirr ab, dabei immer Abstand haltend. Jeremy hatte schon bemerkt, dass Jean Angst vor seinem Vater zu haben schien und das war kein Wunder, so schützend, wie sein Dad sich vor ihn gestellt und Jean praktisch bedroht hatte. Jeremy konnte seinen Vater dafür immer noch zum Mond schießen. Jean war nicht mehr der Raven von früher, im Gegenteil. Er gab sich Mühe und arbeitete an seiner Wut. Die Gewalt, zu der er erzogen war, bekämpfte er mit jedem Tag. Jeremy seufzte und ließ seine Gedanken zu all den schönen Dingen schweifen, die Jean heute Nachmittag gesagt hatte. Und all die erschreckenden Dinge. Er war Jeans erster Kuss gewesen? Oh Gott. Das war… Jeremy konnte es nicht in Worte fassen, wie kribbelig ihn das machte. Jean hatte den Kuss gemocht, den er ihm auf die Hand gepresst hatte. Jean wollte mit ihm befreundet sein. Jeremy seufzte und dachte mit einem breiten Grinsen daran, wie Jean sich mit seinem Post vertan hatte und ein Sinnbild von verwirrter Hilflosigkeit gewesen war mit großen grauen Augen und geöffneten Lippen. „Dir geht es gut“, bemerkte sein Vater, während sie zusammen den Truthahn für den morgigen Tag vorbereiteten. Jean hatte sich schon vorher aus der Küche in den Kuhstall scheuchen lassen und war mit seiner Mutter, Barns und Gargamel, dorthin gegangen. „Ja, das tut es“, nickte Jeremy und seufzte. „Und du magst ihn.“ Er zuckte mit den Schultern. Was sollte er seinem Dad denn schon vormachen? Wenn irgendjemand aus der Familie einen sechsten Sinn für seine Bedürfnisse und Geheimnisse hatte, dann war sein Vater derjenige welche. Deswegen hatte sein Dad ihn auch durch sein Coming Out geleitet… oder vielmehr, es eingeleitet, als er eines Abends zu ihm gekommen war um mit ihm über Dinge zu sprechen. Dass er auf Jungs stand zum Beispiel. Dass das vollkommen normal war. Dass er für jetzt und in alle Ewigkeit die Unterstützung seiner Familie haben würde. Sein Vater hatte immer schon auf ihn aufgepasst. „Die Ravens haben Jean in der Vergangenheit nicht gut behandelt. Sie haben ihm sehr wehgetan und ich möchte, dass er eine gute Zeit bei uns in L.A. und in meiner Gegenwart hat. Alleine die Tatsache, dass er mir vertraut, ist wie ein Ritterschlag und ich möchte, dass es ihm gut geht und dass er wieder Freude am Leben hat.“ „Und du möchtest ihn“, sagte sein Vater leise genug, damit nur Jeremy es hörte, dennoch zuckte er wie unter einem der Donnerschläge am Morgen zusammen. „Schon“, gab er nach ein paar unnötigen Sekunden zu. „Möchte er auch dich?“ Jeremy zuckte mit den Schultern und lächelte schief. „Ich glaube nicht. Es sind Dinge passiert, die ihn vermutlich keine Beziehung zu einem Mann eingehen lassen.“ „Das tut mir leid für ihn. Das muss schlimm für ihn gewesen sein.“ „Du ahnst nicht, wie sehr, Dad.“ Nun war es an seinem Vater zu seufzen. Er bestrich den Vogel mit seiner selbstgemachten Marinade, ließ sich Zeit damit, bevor er den Truthahn eintütete und zusammen mit Jeremy in den großen Kühlschrank wuchtete. Schließlich widmete er sich der Füllung, einer unappetitlich aussehenden Pampe aus Maisbrot, Zwiebeln, Eiern, Sellerie, Petersilie und Gewürzen, von der Jeremy aus jahrelanger Erfahrung wusste, dass sie die Beste auf der ganzen Welt sein würde. „Er hat dich in der Vergangenheit hart und unfair auf dem Spielfeld gecheckt…“ „…weil sie ihn dazu gezwungen haben. Sie haben ihn bestraft, wenn er nicht aggressiv genug gespielt hat.“ Sein Dad seufzte. „Ich bin noch nicht soweit, ihm das zu verzeihen, zumindest nicht gänzlich, aber ich wünsche mir für dich einen Partner, den du liebst und den du schätzt. Ich wünsche mir, dass du glücklich wirst. Und wenn es mit ihm ist, dann soll es so sein. Wenn er aber deine Gefühle nicht erwidert, dann löse dich bitte schnell genug.“ Jeremy nickte und scheuchte seinen Vater von dem großen Topf mit Füllung weg, um selbst seine Hände in die Pampe graben und sie durchkneten zu können. „Ich versuch’s, Dad. Aber so einfach ist das nicht.“ „Das glaube ich dir. Ich bin jederzeit für dich da, wenn du mich brauchst, okay?“ Jeremy nickte und rempelte seinen Vater liebevoll mit seiner Schulter an. „Immer! Und sehr okay!“ Plötzlicher Lärm aus dem Wohnzimmer schreckte sie beide hoch und sie entspannten sich, als es nur die Zwillinge waren, die ihren allabendlichen Kampf um die Fernbedienung ausfochten. So wie es schien, gewann Charlie und dem dumpfen Auftreffen nach zur Folge fläzten sich beide Mädchen vor den Fernseher, der mit dem allabendlichen Programm aufwartete. Irgendeine Serie aus dem Jugendkanal schallte in die Küche und Jeremy verzog das Gesicht vor Phantomzahnschmerzen. „Pubertät“, murmelte er und rollte mit den Augen. Sein Vater lachte schallend. „Sagt der, der eben jener erst seit zwei Jahre entkommen ist.“ „Ey!“ ~~**~~ Beeindruckt sah Jean zu, wie ein einziger Ruf von Mrs. Knox genügte, damit die Kühe sich nach und nach von der Weide aus in Richtung Stall begaben. Einige gingen gemächlich in ihre Richtung, andere trabten und ein paar galoppierten übermütig nach Hause, auch wenn Jean sich nicht sicher war, ob man es bei Kühen auch galoppieren nannte. Es sah zumindest so aus, als würden sie hoppeln. Es sah hochgradig amüsant aus und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Jede von ihnen hat ihren eigenen Charakter“, sagte Mrs. Knox und vergrub ihre Hände in den Taschen ihrer legeren Hose. „Auch wenn sie als Pulk recht eigenwillig sind und manchmal dazu neigen, viel zu neugierig zu sein. Das erschwert uns die Arbeit manchmal.“ Sie schnalzte amüsiert mit der Zunge und Barnie bellte leise. Seine Rute schlug begeistert gegen Jeans Knie, auch wenn er sich nicht wirklich näher an den Zaun herantraute. „Er liebt dich sehr“, sagte sie und Jean sah im ersten Moment verwirrt zu ihr. In ihren Augen lag etwas Unbestimmbares, das ihn unsicher machte, doch dann nickte sie zu dem großen, schwarzen Hund. „Seitdem du da bist, weicht er dir nicht von der Seite und sieht dich an, als wärest du ihm der liebste Mensch auf der ganzen Welt.“ Jean schluckte. Er wusste nicht, was er aus diesen Worten machen sollte. Dass ihm Liebe in dieser Form entgegengebracht wurde, machte ihn überaus unsicher. Liebe war für ihn etwas Flüchtiges, das ihm jederzeit genommen werden konnte. Liebe war etwas Trügerisches, das ihm mehr Schmerzen bereitete, als es jede körperliche Folter jemals getan hatte. Aber traf das auch für die Liebe eines Tieres zu? Jean glaubte nicht. Tiere waren nicht dazu fähig so verschlagen und sadistisch wie Menschen zu handeln. Sie waren ehrlich in ihren Emotionen und Reaktionen und ihre Sprache war eindeutig – wenn man sie verstand. „Er ist ein Riesenbaby“, erwiderte Jean und klopfte sacht auf den massiven Rücken. „Er spürt, dass du ihn auch magst und fühlt sich deswegen zu dir hingezogen.“ „Ich hatte ja auch keine andere Wahl, nachdem er erst einmal seine Scheu überwunden hat und mich seitdem nicht aus den Augen lässt.“ „Ist das ein Problem für dich?“ Jean schüttelte den Kopf. „Nein. Ich mag ihn. Auch wenn er sich nicht bewusst ist, wie schwer er ist.“ Mrs. Knox brummte nachdenklich und kraulte eine der Kühe, die zu ihr kam, hinter den Ohren. Die massive Nase des Tieres drückte sich liebevoll in ihr Gesicht und sie lachte. „Weiter geht’s, Anna, der Stall wartet auf dich“, meckerte sie liebevoll und drückte der Kuh einen Schmatzer auf die Nüstern. Spielerisch schob sie sie von sich und klopfte ihr aufs Hinterteil. Gemeinsam warteten sie, bis auch die letzte Kuh im Stall war und Mrs. Knox schloss dann die massiven Tore hinter ihnen. Jean sah dem Ganzen fasziniert zu und seine Gedanken schweiften zu der Frage der Zwillinge. Was würde er machen, wenn er nicht mehr Exy spielen konnte? In einer Firma arbeiten, mit Menschen, die ihm suspekt waren und die er nicht einschätzen konnte? Oder arbeitete er lieber mit Tieren, die in ihren Handlungen so ehrlich waren, dass er keine Angst haben musste, dass sie ihn betrogen. „Ihr tut euch gut“, sagte Knox‘ Mutter und Jean nickte. „Es sei denn, wenn er mir Platz im Bett raubt“, erwiderte er trocken und sah auf Barnie herab, der immer noch vollkommen aufgeregt mit der Rute wedelte. Mrs. Knox schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Nana, das ist doch kein Thema, das man mit einer Mutter bespricht, Jean.“ Ob der plötzlichen Kritik, so sanft sie auch sein mochte, sah er überrascht hoch und ballte seine Hände unsicher zu Fäusten. Sie sprachen doch über Barnie…oder? „Entschuldigung, das war nicht meine Absicht. Ich…“ Sacht legte sie eine Hand auf seine Schulter. „Alles gut, Jean. Das war nur ein Scherz.“ Sie zwinkerte und nickte zum Haus. „Wollen wir wieder zurück?“ Jean folgte ihr und gemeinsam schritten sie über die Wiese. Kurz vor der Veranda blieb sie stehen und sah ernst zu ihm hoch. „Ich bin mir sicher, dass du ihm nicht wehtun wirst“, sagte sie und Jean war sich unsicher, was sie meinte. Warum sollte er Barnie wehtun? Er war doch kein Monster, das Tiere quälte. „Natürlich nicht“, beeilte er sich mit der Antwort. „Ich mag ihn sehr.“ „Das ist gut zu wissen.“ Mrs. Knox ging ins Haus und Jean folgte ihn in die gemütliche Wärme hinein, die nur durchbrochen wurde von einem fürchterlichen Gequietsche, das Jean beinahe in den Ohren wehtat. Als er ins Wohnzimmer trat, wusste er auch warum, was die Sache nicht besser machte. Der Fernseher lief und ließ Jean dort, wo er gerade war, erstarren. Mühevoll schluckte er, als von jetzt auf gleich alle seine Instinkte danach schrien, dass er diesen Raum verlassen musste. Das Fernsehen lief und das, was dort geschah, würde auch ihm geschehen. Sie würden das mit ihm machen, was sie dort sahen und er war hier nicht mehr sicher. Neben ihm schnaufte Mrs. Knox und Jeans Aufmerksamkeit ruckte zu ihr. „Sie schauen schon wieder ihr Hexending, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das in ihrem Alter überhaupt etwas für sie ist.“ Sie schüttelte den Kopf. „Hexen, sprechende Katzen, der Teufel…wenn du dich dazu gesellen möchtest, nur zu, aber pass auf deine Trommelfelle auf, so laut, wie sie quietschen, wenn dieser angeblich gutaussehende Junge da auftaucht.“ Augenrollend ging sie an der Couch vorbei in die Küche und begrüßte dort ihren Mann und Knox selbst. Jean blieb derweil am Aufgang zur Treppe stehen, jederzeit fluchtbereit. Wirklich zu gehen, nach oben zu fliehen, das brachte Jean nicht übers Herz, insbesondere deswegen nicht, weil Barnie sich erneut an ihn gepresst hatte und nun mit nach Aufmerksamkeit heischenden Augen zu ihm hochsah. Jean seufzte und blieb vorsichtig hier stehen, mit einem wachsamen Auge zu dem Fernseher und der absurden Serie, die dort lief, und mit einem Auge zu Barnie, der die Streicheleinheiten sichtlich genoss und zufrieden brummte. Es brauchte seine Minuten, bis Jean sich auf den Treppenabsatz setzte, ganz zur Freude des Hundes, er seinen massiven Kopf und Körper auf seinen Schoß schob. Jean lehnte seine Schläfe an die Wand des Aufgangs und beobachtete das Wohnzimmer wie auch die Serie mit wachsamen Augen. Es passierte nichts und so gelang es ihm auch, schließlich sein panisch schlagendes Herz zu beruhigen und seine Angst in den Hintergrund zu drängen. Ein schönes Erlebnis war es dadurch jedoch nicht, auch wenn Barnies und nun auch Gargamels Anwesenheit half, die ihn beide ablenkten. Jean wurde sich bewusst, dass es das erste Fernsehen war, das lief, während er im Raum war, seit…seit Riko das mit ihm gemacht hatte. Er wurde sich ebenso des blonden Schopfes bewusst, der sich quasi hinter dem Türrahmen zur Küche hin versteckte und verschwand, sobald er auch nur in die Richtung sah. Jean runzelte die Stirn und griff zu seinem Handy. ~Ich sehe dich, Knox.~, schrieb er und wartete mit hoch erhobener Augenbraue, dass der Kopf seines Kapitäns sich reuevoll nun vollständig zeigte. Knox lächelte schief und Jean starrte ihm über den Raum hinweg entgegen. Sein Kapitän tippte etwas und Jean sah auf sein Handy, als es pingte. ~Ist es okay, wenn ich zu dir komme?~ ~Ja.~, schrieb er zurück und meinte es auch so. Er ließ zu, dass seine Angst kurz aufflammte und ihn anschrie, dass er seinen Kapitän nicht zu nahe an sich heran lassen durfte, doch ebenso vehement, wie sie aufkam, unterdrückte Jean sie auch wieder. Knox war nicht Riko, nie gewesen und Jean war bereit, seine Furcht vor Vergangenem zu überwinden. Dass er auf absehbare Zeit mit seinem Team keinen Film schauen können würde, war ihm klar. Aber es würde nicht schaden, wenn er den blonden Jungen in direkter Nähe hatte und lernte, dass sein Kapitän ihm nicht wehtun würde. Knox schlich sich aus der Küche an der Couch vorbei, um bloß nicht die beiden vollkommen faszinierten Zwillinge auf sich aufmerksam zu machen. Ebenso lautlos kam er zu ihm und deutete auf die zweite, hölzerne Treppenstufe. Jean saß auf der vierten und wurde den Verdacht nicht los, dass Knox sich absichtlich kleiner machte. Innerlich seufzend nickte er und der blonde Junge ließ sich neben ihm nieder und lehnte sich an das Holz auf der gegenüberliegenden Seite. „Geht’s dir gut?“, fragte er leise und Jean nickte nach einem Moment des Überlegens. Ja, das tat es wirklich. Er war nicht entspannt, aber es war okay. Er war okay. Er hatte zumindest für den Moment seine unbändige Angst besiegt, die ihn vor jedem Fernseher hatte fliehen lassen. Er hatte einen Fortschritt gemacht und Jean empfand Stolz diesbezüglich. Beruhigenden, stärkenden Stolz. ~~~~~~ Fortsetzung folgt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)