Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 26: Jeremy ------------------ Jean setzte sich auf den Beifahrersitz zu Fahimas Wagen, schloss die Tür hinter sich und atmete zweimal tief durch. Weil es so schön kühl und ruhig war, wiederholte er das Ganze noch weitere zwei Male, bevor er sich an die Fahrerin wandte, die ihn amüsiert anlächelte. Heute trug sie einen violett-magentafarbenen Hijab, der von einer glitzernden Blumenbrosche verziert wurde. „Froh, ihm entkommen zu sein?“, fragte sie ruhig und Jean hätte gerne aus ganzem Herzen mit ja geantwortet. Doch Jahre der verbotenen Kritik an seinem Kapitän lagen hinter ihm, also zuckte er nur mit den Schultern und erlaubte sich, kurz die Augen zu schließen. Fahima schnaubte und startete den Wagen. „Ich verstehe.“ Während Jean sich anschnallte, fuhr sie los und fädelte sich in den Stadtverkehr von Los Angeles ein um mit ihm zu dem Laden zu fahren, in dem sie ihre Kleidung kaufte. Erschöpft lehnte Jean seinen Kopf an das Beifahrerfenster und brauchte einen Moment, um wirklich ansprechbar zu sein. Eine Woche war vergangen, seitdem er den Handel mit Andrew aufgelöst und dieser einen sich wehrenden Kevin Day mit sich ins Auto gezogen hatte um zurück nach Columbia zu fahren. Eine Woche, seitdem Jean den Beiden nachgesehen und beschlossen hatte, ein neues Kapitel in seinem Leben anzufangen. Eine Woche, seitdem er wieder und wieder über Days Handlungen nachdachte und zu keinem schlüssigen Ergebnis kam. Eine Woche und Knox, Laila und Alvarez gaben sich die größte Mühe, ihn nicht alleine zu lassen, weder vor seinen Vorlesungen noch dazwischen oder danach. Das, was Jean vorher wie die Luft zum Atmen gebraucht hatte, nahm ihm nun eben jene und er spürte, dass ihre mal mehr mal weniger auffällige Anwesenheit seine Ruhe ausfranste, die er mit Mühe zu finden versuchte. Immer wieder hielt sich Jean vor Augen, dass sie ihn nicht kontrollierten, sondern dass sie ihm in all ihren Gesprächen und Freizeitaktivitäten zeigen wollten, wie es war zu leben. Ein Besuch im Café hier, ein Besuch am Strand da, ein gemeinsames Kochen dort, sogar eine gemeinsame Urlaubsplanung… und Jean fiel jeden Abend müder ins Bett und wachte in der Nacht durch seine Alpträume geplagt nach wenigen Stunden Schlaf auf. Gestern wäre er beinahe in seiner Wirtschaftsrechtsvorlesung eingeschlafen und war nur durch das vielsagende Räuspern des Professors davon abgehalten worden, sich von dessen beruhigender Stimme einschläfern zu lassen. Er war ratlos, wie er den Dreien zu verstehen geben konnte, dass er gerne Ruhe hätte. Ruhe und Einsamkeit. Ja, einen Abend Einsamkeit. Da waren die Einkaufsstunden mit Fahima eine willkommene Abwechslung, die er jetzt schon zu schätzen wusste. Fahima und er konnten zusammen schweigen, ohne dass es sich komisch anfühlte und ohne, dass er mit Seitenblicken bedacht wurde, die sich auf seine Haut brannten. Jean fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart und genoss die immer wiederkehrenden, kurzen Gesprächsabschnitte und Diskussionen, die sie miteinander führten. Die Fahrt verbrachten sie in eben diesem gemeinsamen Schweigen und schließlich hielt Fahima auf dem Parkplatz eines kleinen Geschäftes außerhalb der vollkommen überfüllten Stadt. Heiß war es auch hier und Jean kniff die Augen zusammen, als er ausstieg. Er ächzte leise und folgte ihr in das Geschäft, das ihm zumindest Linderung von seinem Problem mit zu heißer Kleidung versprach und nebenher auch noch angenehm klimatisiert war. Er brauchte einen Moment, um sich am Eingang auf die angenehme Kühle einzustellen und warf währenddessen einen Blick auf seine Umgebung. Es war hell und liebevoll eingerichtet. Überall konnte Jean seltsame und gleichzeitig doch auch amüsante Gegenstände entdecken, die mehr den Eindruck eines Wohnzimmers denn eines Geschäftes erweckten. Es roch frisch und angenehm. Die Verkäuferin hinter der Ladentheke sah bei ihrem Eintreten auf und winkte. Fahima erwiderte diesen Gruß und schickte ein paar Handbewegungen hinterher, die Jeans Aufmerksamkeit einfingen, insbesondere, da die Frau diese zu erwidern schien, ansonsten aber schwieg. Fragend sah er auf Fahima hinunter. „Sind das geheime Zeichen?“ Sie lachte. „Fast. Das ist Gebärdensprache. Alima ist gehörlos.“ Überrascht weiteten sich Jeans Augen und mit größerer Faszination sah er zu, wie die Beiden miteinander mit ihren Händen kommunizierten. Wie flüssig das aussah, wie mühelos und fliegend. „Wollen wir?“, riss Fahima ihn aus seinen Gedanken und Jean nickte. Langsam ließ er sich von ihr durch den Laden führen und erklären, welche Kleidung er wo fand und aus welchen Materialien die einzelnen Stücke bestanden. Sie erläuterte ihm ebenso, welche Farben zu ihm passen würden und er untereinander kombinieren konnte. Nachdenklich folgte Jean ihr und berührte die Stoffe, die sie ihm entgegenhielt. Es fühlte sich weich und luftig an, obwohl vieles davon lang war. „Möchtest du ein paar Sachen anprobieren?“, fragte Fahima schließlich mit einem Lächeln, das nichts von ihm erwartete, und Jean gab dem Gedanken eine zweite Chance. Sicherlich half es auch dabei, dass die Umkleidekabinen durch richtige Türen getrennt waren und nicht nur durch Vorhänge. „Ich denke schon“, stimmte er dem schlussendlich zu und ging zu der Reihe mit den T-Shirts aus einem Baumwolle-Seide-Gemisch, die sich so wunderbar weich angefühlt hatten. Gleich daneben waren die langärmeligen Leinenhemden, die etwas weiter fielen und dadurch luftig waren. Und einen entsprechenden Hoodie. Als Jean einen Blick auf die Leinenhosen warf, deutete Fahima auf den Saum. „Die kann man auch hochkrempeln.“ Jean sah irritiert zu ihr. „Hochkrempeln?“ „Na die Hosenbeine, damit es ein wenig mehr nach einem Casuallook aussieht.“ Unwillkürlich sah er an ihr herunter. „So wie du?“, fragte er, denn sie hatte genau das getan und trug dazu Sneaker. „Exakt!“ Sie schenkte ihm einen hocherhobenen Daumen und Jean griff ebenfalls zu der Hose. Er machte bei den kurzen Hosen aus Leinen weiter, die bis zu seinen Knien reichen würde und nahm auch hier ein Exemplar von auf. Und von einer halblangen Hose in Blau, die anscheinend etwas weiter saß und unter dem Knie endete. Fragend drehte er sich schließlich zu ihr um und Fahima nickte mit einem Blick auf die Kleidung, die er sich ausgesucht hatte, anerkennend. „Ich bin gespannt!“, grinste sie. „Jetzt fehlen nur noch Schuhe.“ Irritiert musterte Jean sie. „Ich trage doch welche“, erwiderte er und deutete auf seine Sneaker. „Hast du denn Sandalen?“ „Nein.“ „Flipflops?“ „Nein.“ „Slipper?“ „Nein.“ „Leinensneaker?“ Jean grollte und Fahima schmunzelte. „Man kann nie genug Schuhe haben“, behauptete sie, doch Jean bezweifelte das deutlich. Er hatte ein Paar für den alltäglichen Gebrauch und ein Paar Sportschuhe für das Training sowie für ihre Spiele. Drei Paar Schuhe waren doch ausreichend, oder nicht? „Probiere sie einfach mal an und schau, ob sie dir gefallen. Wenn nicht, kannst du sie ja hier lassen“, schlug Fahima ihm vor und Jean beschloss, dass es ein guter Kompromiss sein würde. Er hatte noch nie Sandalen getragen und hatte keine Vorstellung davon, was passen würde und was nicht. „Soll ich mal ein paar holen, während du dich umziehst?“, fragte sie und Jean nickte. Als er zu den Umkleiden ging, war er insgeheim froh darum, dass die Verkäuferin in diesem Geschäft weniger aufdringlich war als derjenige in dem Sportgeschäft, in das ihn Knox gebracht hatte. Sicherlich, er war bemüht gewesen, ihm die richtigen Sachen herauszusuchen, aber Jean hatte sich damals überfahren gefühlt von der Aufmerksamkeit. Hier war alles ruhig und die entspannte Musik im Hintergrund vermittelte ihm ein gutes Gefühl. Dennoch wechselte er schnell in die neue Kleidung, die sich im ersten Moment komisch anfühlte. Noch etwas steif, aber mit jeder Sekunde schien sie sich seinem Körper mehr und mehr anzupassen. Die Farben waren ungewohnt hell – wieder hatte er alles, was schwarz war, gemieden wie die Pest. Das Dunkelste, was er sich ausgesucht hatte, war ein Shirt aus einem satten Grünblau – Petrol, wie Fahima ihm erläutert hatte. Ansonsten hingen hier noch Dunkelrot, Hellblau, Weiß, Creme – dunkles Weiß, wenn man ihn fragte -, Dunkelblau, Mittelblau und Türkis. Nachdenklich betrachtete sich Jean im Spiegel und war sich nicht sicher, was er von der Kombination halten sollte. Wenn Fahima wieder da war, würde er sie fragen müssen und so verharrte Jean hinter der geschlossenen Tür, bis er ihre Schritte hörte. „Bin zurück!“, rief sie und Jean öffnete vorsichtig die Tür. Er erstarrte, als er die Kartons auf ihren Armen sah. Hatte sie nicht von einem Paar gesprochen? Das waren neun Kartons. Jean blinzelte. Ächzend stellte Fahima ihre Last vor ihm ab, richtete ihren in Unordnung geratenen Hijab und sah dann an ihm hoch. Überrascht weiteten sich ihre Augen und sie schnaubte in einer Mischung aus Anerkennung und Verwunderung, die Jean gleich doppelt unsicher machte. Wortlos sah er auf seine nackten Füße, damit sie ihn mustern konnte, ohne dass er ihr dabei zusehen musste. „Jean Moreau, wir sind auf einem richtig guten Weg und dein Geschmack ist extrem gut!“, lobte sie ihn und er verfluchte die Röte, die sein Gesicht erwärmte. Als Ablenkung deutete er auf die Kartons. „Was hast du denn dort mitgebracht?“, fragte er in ihr strahlendes Gesicht hinein und Fahima öffnete nacheinander jeden Karton, den sie mitgebracht hatte. Jean probierte so viele Paar Schuhe an, wie er noch nie in seinem Leben überhaupt getragen hatte und ließ sich von Fahima sogar überreden, sie mit der übrigen Kleidung, die er sich ausgesucht hatte, zu kombinieren. Als sie schlussendlich zur Kasse gingen, trug Jean die Kleidung auf seinen Armen, während Fahima mit den Kartons neben ihm ging und von einer Art stolzer Zufriedenheit umgeben war, die ansteckend auf Jean wirkte. Wie denn auch nicht, besaß er nun neun Paar Schuhe und einen Haufen an Kleidung mehr als vorher. Mit einem stummen Lächeln scannte die Frau hinter der Theke - Alima, so hieß sie, erinnerte sich Jean - die Sachen ein und verstaute sie sorgsam in sieben riesigen Tüten, die Fahima ihm feierlich überreichte. Wieder tauschten die beiden Frauen ihre Handzeichen aus und wieder sah Jean dem fasziniert zu. Alima wandte sich ihm zu und legte die Fingerspitzen ihrer flachen Hand an ihr Kinn, dann wies sie mit ihrer Hand in seine Richtung. Fragend blinzelte Jean und sah hilfesuchend zu Fahima. „Das bedeutet „Danke““, erläuterte sie und Jean erwiderte die Geste unsicher, ob es richtig war. Alina lachte lautlos und nickte. Sie verabschiedete sie und sie verließen den Laden um die heiße, kalifornische Sonne zurück zu kehren, die Jean ächzen ließ. Er verstaute seine neuen Errungenschaften im Kofferraum von Fahimas Wagen und ließ sich auf den viel zu heißen Beifahrersitz fallen. „Danke, dass du mich begleitet hast“, sagte er, als Fahima um Längen vorsichtiger als er ebenfalls einstieg und leise über das Lederlenkgrad fluchte, das anscheinend zu diesem Auto gehörte, in der Sonne Kaliforniens aber nicht das Beste war, was sie sich hatte aussuchen können. Sie sah ihn an und lächelte. „Aber klar doch. Gerne! Sollen wir noch irgendwo hinfahren?“, fragte sie gut gelaunt und Jean überlegte. „Ich brauche einen Laptop“, gab er dann zu bedenken. „Ich habe keine Ahnung, wo man so etwas kauft.“ Nonchalant winkte sie ab. „Nichts leichter als das! Ajeets Bruder hat einen Technikladen und wir bekommen bei ihm einen speziellen Trojansrabatt, nur für uns, weil er so ein großer Fan ist.“ Jean nickte. Fahima schnallte sich an und er tat es ihr gleich. Sie fädelte sich wieder in den Verkehr ein. „Weißt du denn schon, was du möchtest?“ „Nicht wirklich. Ich habe noch nie einen eigenen besessen“, erwiderte er offen und sie bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, der ihm mitteilte, dass es wohl eines der Dinge war, das ihn von anderen Menschen unterschied. „Amir wird dir da sicherlich gut weiterhelfen können. Er ist ein Technikfreak und hat tonnenweise Ahnung von allem, was auch nur ein Kabel hat und Strom braucht.“ „Okay.“ „Okay? Gut, dann auf geht’s!“ Sie brauchten eine Weile, bis sie sich zu Ajeets Bruder durchgekämpft hatten und sie einen Berg von einem Mann begrüßte, dass – so unwahrscheinlich es auch war – noch größer als Ajeet war, jedoch genauso überschwänglich zu sein schien, als er Fahima und seiner ansichtig wurde. „Bei Brahma! Trojans!“ Mit einem lauten Aufschrei des Glückes kam der Hüne hinter seiner Ladentheke hervor und Jean trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als dieser Berg von einem Mann ihn umarmen wollte. Fahima war jedoch schneller als er und trat Amir in den Weg, warf sich mit voller Wucht in dessen Arme und grollte spielerisch. „Nur gucken, nicht anfassen!“, schalt sie den Mann spielerisch, jedoch mit einem eisernen Unterton und das nächste Mal, als er ins Auge gefasst wurde, winkte Ajeets Bruder ihm aus sicherer Entfernung entgegen. „Hi“, grüßte Amir ihn mit einem schiefen, entschuldigenden Lächeln und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. „Und sorry, ich bin es so gewohnt, meine Lieblingstrojans zu umarmen und zu herzen, da ist es einfach mit mir durchgegangen. Ich finde es aber auch SO COOL, dass du gewechselt hast und nicht mehr bei diesen arroganten Schwarz-Roten spielst. Hier in L.A. gibt’s die einzig wahre Mannschaft, die die Collegeliga zu bieten hat, das kannst du mir glauben. Niemand kommt an die Trojans heran. Meine Trojans, oh ja!“ Überrascht hob Jean die Augenbraue und lauschte dem Monolog der Begeisterung. Das hatte er nun wirklich nicht erwartet und war entsprechend sprachlos, insbesondere, als der Mann nun bei seiner eigenen Spielleistung weitermachte und die zwanzig Minuten, die er auf dem Spielfeld gestanden hatte, so skizzierte, als hätte er ein ganzes Spiel lang Höchstleistungen erbracht. „Fahima hat ebenso großartige Leistungen vollbracht“, versuchte Jean sich zu rechtfertigen und von sich abzulenken, als Amir einen Moment nach Luft schnappte und warf ihr einen hilflosen Blick zu. Sie zuckte amüsiert mit den Schultern. „Er ist halt ein großer Fan“, grinste sie. „Aber keine Sorge, da mussten wir alle durch, nicht wahr, Amir?“ Dieser nickte begeistert. „Absolut! Die Trojans sind nun einmal die beste Mannschaft in der Liga.“ Aus dem Blickwinkel der gewonnenen und verlorenen Meisterschaften gesehen hatte er damit Unrecht, aber Jean beschlich das Gefühl, dass seine Meinung zu diesem Thema kontrovers aufgenommen werden würde. „Ich bräuchte einen Laptop“, versuchte er deswegen reichlich ungeschickt vom Thema abzulenken und Amir stieg dankbarerweise darauf ein, musterte ihn aufmerksam. „Und ich habe keine Ahnung davon“, schob Jean hinterher, als er sah, dass Amir schon den Mund aufmachte um ihn vermutlich mit Fragen zu löchern, die er nicht beantworten konnte. Nachdenklich strich der Hüne sich über den Kinnbart. „Hmmm. Wofür soll er sein?“ „Für’s Studium.“ Jean stockte, als ihm eine Idee kam, die er eventuell weiterverfolgen würde. „Und…ich möchte Fotos darauf anschauen.“ „Preislich?“ Das war die weitaus schwierigere Frage. Jean wusste durch sein Wirtschaftsstudium, wie er hohe Summen einzuschätzen hatte. Was im Alltag teuer oder günstig war, das musste er noch lernen. „Ich weiß nicht?“, erwiderte er etwas hilflos und wandte sich an Fahima, die ihn verwundert ansah. Auch das war anscheinend etwas, das sein Kapitän nicht an den Rest seines Teams preisgegeben hatte. Jean sollte das wirklich nicht mehr wundern. „Etwas im Mittelklassesegment?“, zitierte er seinen Professor. Dieser hatte zwar über die Kosten-Nutzen-Rechnung von Firmenwagen gesprochen, aber das ließ sich doch auch auf Laptops umwandeln, oder? Amir nickte und führte ihn tatsächlich zu den Geräten, die erheblich günstiger waren als die teuersten, aber jedoch nicht so günstig wie die, die direkt am Anfang des kleinen Ganges standen. Er deutete auf ein hellsilbernes, sehr flaches Gerät, dessen Tastatur beim Schreiben leuchtete und das einen vergleichsweise großen Bildschirm hatte. Die technischen Details, die Amir benannte und auf die Bildbearbeitung bezog, sagten Jean allesamt nichts, aber Fahimas Gesichtsausdruck sprach Bände. Begeistert nestelte sie an ihrem Hijab, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas sehr gefiel. Jean nickte zur Freude von Ajeets Bruder. „Den nehme ich“, sagte er und Fahima stieß einen Laut der Freude aus, der Jean irritierte. Sich Dinge zu kaufen war für ihn immer noch ein Mittel zum Zweck, eine Notwendigkeit, die ihn unsicher machte, weil ein Teil von ihm erwartete, dafür bestraft zu werden, dass er sich einen solchen Luxus erlaubte. Wie er an Fahima sah, gab es aber Menschen, die glücklich waren, wenn etwas gekauft wurde. Auch wenn er, wie bei der Kleidung auch, einen gewissen eigenen Stolz nicht verneinen konnte. „Dann bekommst du noch mehr Follower!“, zwinkerte sie und Jean schnaubte. „Du meinst mehr als meine zwölf?“ Fahima lachte ihr warmes, tiefes Lachen, das er so gerne mochte und verstummte, als sie begriff, dass er es nicht als Scherz gemeint hatte. Dass überhaupt Menschen seinem Profil folgten, war Jean ein Rätsel und er hatte sich noch nicht getraut, auf die zwölf Namen zu klicken. Sie blinzelte und hob die Augenbrauen. Unsicher steckte Jean seine Hände in seine Hosentasche und zog das Handy hervor, auf dessen Startbildschirm die hundertvierundfünfzig neuen Nachrichten des Foxes-Chats angezeigt wurden. Hatte er gedacht, dass sie ihn aus ihrer Gruppe werfen würden, nachdem er seinen Handel mit Andrew beendet hatte, so hatte Jean sich getäuscht. Mehr denn je bezogen sie ihn ihre Abkürzungs- und Beleidigungsexzesse mit ein, die Jean immer besser entziffern konnte. Er öffnete die App und hielt sie ihr unter die Nase. „Hier, zwölf.“ Die dunkelbraunen Augen folgten seinem Fingerzeig und sie hob die Augenbraue. „Jean, hast du das K übersehen?“, fragte sie sanft und tatsächlich. Hinter der zwölf stand ein K. „Wofür steht es?“, fragte er stirnrunzelnd und sie tippte auf die Zahl. Ein neuer Bildschirm öffnete sich und er las lauter Namen, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Fahima sah hoch und in ihren Augen tanzte Belustigung. „Du hast keine zwölf Follower, Jean Moreau. Das K steht für tausend. Das sind zwölftausend.“ Jean starrte sie an. Dann starrte er sein Handy an und scrollte die Namen hinunter und hinunter…bis er es aufgab, weil er nicht zum Ende kam. Mit großen Augen sah er zu Fahima und sie legte ihm langsam und sanft ihre Hand auf den Arm. „Oh je, Großer. Da haben wir noch einiges vor.“ ~~**~~ Jeremy starrte nachdenklich auf Fahimas Antwort auf seine dritte Nachfrage, ob sie und Jean denn Spaß hätten und ob alles in Ordnung sei. Ja, sicherlich, sie hatte Grund, genervt zu sein. Sicherlich, sie hatte Grund, mit den Augen zu rollen und ihm zu schreiben, dass es langsam gut war mit den Sorgen, dass sowohl sie als auch Jean schon groß waren und dass sie sich hier zwar in einer latent kriminellen Großstadt, aber keinesfalls im Krieg befanden. Er seufzte und legte das Handy weg, bevor er erneut nachfragen konnte. Jean war in guten Händen und er würde sicherlich nicht wieder in die Wüste fahren. Er hatte es Jeremy versprochen und er würde sein Versprechen auch halten. Daran hielt sich Jeremy fest, wenn die Angst in ihm, dass Jean etwas passierte, zu groß und zu erdrückend wurde. Häufiger als er es vermutet hatte, war das in den vergangenen Tagen passiert und er beruhigte sich damit, dass Jean tatsächlich schon einen Termin bei Brian wahrgenommen hatte und dass er seinen Backliner immer in seiner oder Alvarez‘ oder Lailas Nähe wusste. Bis auf heute. Vorsichtig hatte Jean angemerkt, dass er mit Fahima in diesen Laden wollte und wer war Jeremy gewesen, etwas dagegen zu sagen? Ebenso wenig hatte er ein Recht darauf, mitzukommen, wenn Jean das nicht wollte. So blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich seine Zeit, die er eigentlich mit Lernen hatte verbringen wollen, mit Tätigkeiten zu verplempern, die ihn von Jeans Abwesenheit und den damit kommenden Sorgen ablenkten. Da kam ihm Mias Videoanruf sehr entgegen. Als sein Telefon klingelte, legte Jeremy sein strahlendstes Lächeln auf. „Schwesterchen“, grinste er in die Kamera und wurde mit einem Winken belohnt. „Großer Bruder, wie geht es dir?“, fragte die Ruhigere der Zwillinge in ihrer unvergleichlichen Phase des jugendlichen Erwachsenseins. Dass sie mit ihren dreizehn Jahren noch viel Zeit hatte, erwachsen zu werden, das wollte sie seit Monaten schon nicht hören und so hatte es Jeremy aufgegeben, ihr das ausreden zu wollen. „Gut geht‘s mir, Mia. Das Training ist anstrengend und die Vorlesungen werden anspruchsvoller.“ Sie brummte anerkennend. „Wie geht’s deinem Zimmernachbarn?“ Jeremy rollte schnaubend mit den Augen. Natürlich hatte er beiden Schwestern erzählt, wer zu ihnen kam, als es spruchreif gewesen war. Seitdem ließen die Beiden ich nicht mehr in Ruhe und drängten darauf, Jean Moreau einmal persönlich kennen zu lernen. Um Jean allerdings nicht zu verschrecken hatte er mit den kleinen Exyhyänen immer nur dann telefoniert, wenn er kurz vor die Tür gegangen war. Beide, sowohl Mia als auch Charlotte waren Fans schlimmster Sorte, die zwar selbst nicht spielten, aber jedem gutaussehenden Spieler hinterhergeiferten. Jeremy konnte sich nicht erinnern, in seiner Pubertät genauso schlimm gewesen zu sein, allerdings hatte er sich auch noch nicht getraut, seine Eltern zu fragen. „Jean geht es gut“, sagte er und anscheinend war das das Stichwort für den Backliner, als sich nun ihre Tür öffnete und dieser ihr Apartment betrat. Oh nein. „Aber wie geht es dir denn?“, versuchte er abzulenken und Jean kam mitsamt eines riesen Berges an Tüten in ihr Schlafzimmer, auf seinen Lippen ein Gruß, der erstarb, als er sah, dass Jeremy telefonierte. Aus seinem Handy quietschte es. „Ist er das? >Ist er das? Los, zeig ihn mir mal!“, gellte es um ein Vielfaches lauter und Jeremy verzog seine Lippen, als Jean wortlos die Augenbrauen hob. „Die gierige Hyäne am anderen Ende der Leitung ist meine Schwester, Mia“, stöhnte er mit einem Augenrollen auf. „Sie möchte dir hallo sagen. Möchtest du ihr auch hallo sagen? Du musst nicht, du kannst gerne auch nein sagen.“ Verwirrt sah Jean zu ihm und stellte währenddessen seine Tüten ab, die sein ganzes Bett ausfüllten. Mit einem Schulterzucken kam er zu Jeremy und der blonde Junge robbte sich ans Ende seiner Matratze. „Aber nur, wenn du dich benimmst, Mia!“, warnte Jeremy und sie schnaubte naserümpfend. „Als wenn ich mich daneben benehmen würde!“ Jeremy hatte dutzende Beispiele für das Gegenteil, seufzte nun aber schicksalsergeben und drehte sein Handy mit einem entschuldigenden Lächeln in Jeans Richtung. „Cooool!“ Das begeisterte Quietschen, das aus seinem Lautsprecher drang, ließ ihn auch körperlich zusammen, so konnte er Jean seinen instinktiven Schritt zurück nicht verdenken. „Oh mein Gott, oh Gott, Charlie, komm mal. CHARLIE!“ „Ihre Zwillingsschwester“, seufzte Jeremy entschuldigend und bald hörte er zwei aufgeregte Mädchenstimmen. „Hi!“, grüßten die Beiden Jean unisono und der Backliner nickte. „Hallo.“ „Du siehst brauner aus als auf den Bildern!“ Charlie, die Frechere von beiden, ging natürlich gleich zum Angriff über und Jeremy drehte das Handy zu sich zurück. Streng runzelte er die Stirn. „Das brav sein gilt nicht nur für deine Schwester, Fräulein“, sagte er und sie protestierte wild. Mia grinste währenddessen und winkte ihm zu. „Ich habe überhaupt nichts Gemeines gefragt! Oder Jean?“ Jean sah aus, als hätte er Angst vor der Antwort. Zögerlich erwiderte er ein „Nein, das war nicht gemein.“ und Jeremy drehte das Handy nun so, dass sie beide zu sehen waren. Ganz zur Freude seiner jüngeren Geschwister. „Wuppwupp! Und wie ist es sonst so? Schnarcht Jer auch nicht zu laut? Hat er dir schon Bilder von der Farm gezeigt? Er zeigt jedem, den er mag, Bilder von der Farm! Wer ist denn dein Lieblingstrojan? Kannst du uns ein Autogramm von Kevin und Neil besorgen? Hast du schon eine Freundin gefunden? Sind die Mädchen cool in Kalifornien? Und die Jungs?“, prasselten von beiden Seiten Fragen auf Jean ein, die Jeremy grollen ließen. „Ernsthaft, Mädels?“ „Jer, das ist wichtig! Wirklich!“ Dass es für Jean primär verstörend war, konnte er nur zu gut an dessen Händen ablesen, deren Finger sich unruhig hin und her bewegten und dessen graue Augen sich ihm hilfesuchend zuwandten. „Ja, er hat mir schon Bilder von der Farm gezeigt“, entschied sich Jean für die anscheinend einfachste und ungefährlichste Antwort. „Sie ist hübsch. Ihr habt viele Tiere dort.“ „Stehst du auf Tiere? Was ist dein Lieblingstier?“ „Charlie!“, stöhnte Jeremy auf. „Hör auf ihn mit unsinnigen Fragen zu löchern!“ „Das ist nicht unsinnig! Das sind wertvolle Informationen, die wir eintauschen können!“ Jeremy blinzelte unverständig. „Eintauschen?“ Mia grinste stolz und legte einen Arm um ihre Schwester. „Gegen Süßigkeiten und Gefallen in der Schule.“ „Was?!“, fragte Jeremy perplex, während Jean ein Laut verließ, der verdächtig nach einem amüsierten Schnauben klang. „Entschuldigung, ihr macht was?“, wiederholte Jeremy um noch einmal ganz sicher zu sein. Beide nickten stolz und mit Horror erinnerte sich Jeremy an alles, was er ihnen erzählt hatte. „Moment mal, verkauft ihr auch die Infos, die ich euch gegeben habe?“ „Aber klar! Dafür gibt es von Adam besonders viele Süßigkeiten. Der steht nämlich auf Jungs und findet dich süß!“ Geschockt grunzte Jeremy. „Er ist vierzehn!“ „Ja, er ist ein bisschen komisch…er mag halt alte Knacker wie dich.“ „Du bist ein verdammter Satansbraten, Mia!“, fluchte Jeremy und sah hilflos zu Jean, dem nun deutlich das Amüsement ins Gesicht geschrieben stand. Charlie räusperte sich erneut. „Also, Jean, hast du eine Freundin?“ „Du musst ihnen ihre Fragen nicht beantworten“, mischte Jeremy sich ein. „Insbesondere dann nicht, wenn sie mit den Antworten Geld verdienen.“ „Süßigkeiten und Gefallen“, wurde er von beiden Mädchen korrigiert und Jeremy rollte mit den Augen. „Wie hoch ist denn meine Beteiligung an euren Geschäften?“, fragte Jean und brachte damit sie alle Drei zum Schweigen. Die Mädchen starrten ihn fassungslos an, Jeremy glaubte, sich verhört zu haben und Jean hob vielsagend die Augenbraue. „Das müssen wir besprechen“, erwiderte Charlie und drehte das Handy so, dass die Kamera nun auf ihre Zimmereinrichtung gerichtet war. Im Hintergrund murmelte es enthusiastisch und Jeremy wandte sich an Jean. „Wirtschaftsstudium, hm?“, fragte er grinsend und sein Backliner zuckte mit den Schultern. Geduldig wartete er, bis die Mädchen sich beraten hatten. „Wir lassen dich auf Sally reiten und du bekommst eine halbe Schüssel Süßigkeiten, wenn Jeremy dich mit nach Hause bringt.“ „Falls“, korrigierte eben jener Mia und Jean nickte. „Abgemacht.“ Die beiden Mädchen kreischten vor Glück und Jeremy zuckte zusammen. Charlie fing sich als erste. „Hast du eine Freundin?“ „Nein.“ „Freund?“ „Nein.“ „Lieblingstier?“ „Graukopfalbatros.“ Charlie runzelte verwirrt die Stirn und sah zu Mia. „Los, schreib das auf, das müssen wir googlen.“ Sie drehte sich wieder zurück. „Okay. Lieblingsexyspieler?“ „Habe keinen.“ „Lieblingsexyspielerin?“ „Thea Muldani.“ Überrascht sah Jeremy zu Jean und dieser runzelte mit der Stirn, als gäbe es darüber gar keinen Diskussionspunkt. „Sie ist gut.“ Das an sich war reichlich untertrieben, aber nachvollziehbar. Theodora Muldani war furchterregend gut und talentiert. Darüber hinaus war sie auch noch angsteinflößend, Ex-Raven und eine von zwei Frauen in der Nationalmannschaft. „Findest du sie süß?“ Jean blinzelte. „Nein, bestimmt nicht.“ „Was ist dein Lieblingsessen.“ Die Antwort darauf kam mit etwas Zeitverzögerung und Jeremy erinnerte sich, wie sehr er am Anfang um eine Antwort hatte kämpfen müssen, weil Jean sich vor ihm gefürchtet hatte. „Lasagne“, erwiderte eben jener schließlich und Jeremy lächelte voller Stolz. „Was ist deine Lieblingssüßigkeit?“ „Ich habe keine.“ Empörung schallte laut und deutlich hörbar zu ihnen. „Das geht doch gar nicht! Jeder mag Süßigkeiten!“ „Ich habe nicht gesagt, dass ich sie nicht mag, ich habe nur keine Präferenz.“ „Okay.“ Mia nickte staatstragend. „Und warum bist du zur Mannschaft unseres Bruders gewechselt? Ich meine, die Ravens sind zwar doof, weil sie immer gewinnen, aber ich habe nachgeschaut, der Weg ist ja schon weit und da bist du sicherlich weit von deinen Freunden entfernt.“ Kaum hatte sie ihre Frage zu Ende formuliert, hatte Jeremy das Handy wieder zu sich gedreht und Jean damit vor den Blicken seiner Schwestern geschützt. „So, jetzt ist Schluss mit der Fragerunde“, sagte er streng, während er im Augenwinkel sah, dass Jean mehrfach mühevoll schluckte und seine Hände sich zu hilflosen Fäusten ballten. „Beim nächsten Mal gibt es mehr, ihr Hyänen, jetzt könnt ihr aber erstmal mit den vorhandenen Informationen euer Business am Laufen halten. Küsst Mom und Dad von mir und drückt sie ganz toll.“ Den zweifachen Protest ignorierte er mit einem breiten Grinsen und beendete den Anruf. Noch bevor sein Display erlosch, drehte er sich zu Jean und maß den angespannten Jungen ruhig. „Hey, alles gut? Es tut mir leid, dass sie dir die Frage gestellt haben, das hätte nicht sein dürfen.“ Vorsichtig erwiderte Jean seinen Blick. „Das ist okay. Sie wissen es ja nicht.“ „Ich rede mit ihnen und sage ihnen, dass sie nicht über die Ravens sprechen sollen.“ „Das musst du nicht.“ „Fühlst du dich denn wohl, wenn Evermore erwähnt wird?“ Jean überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. „Eben. Du sollst dich nicht unwohl fühlen. Insbesondere dann nicht, falls du tatsächlich meine immer noch stehende Einladung zu Thanksgiving annehmen möchtest und sie dann live und in Farbe kennenlernst.“ Jeremy verzog das Gesicht eher aus Spaß, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Er wurde jedoch ernst, als Jeans Stirn sich in sorgenvolle Falten legte. „Du hältst die Einladung aufrecht, obwohl ich dich angelogen habe?“ Jeremy musste nicht fragen, was Jean meinte. Er hatte gesagt, dass er etwas vorhätte und dort, wo Jeremy gedacht hatte, dass sich es dabei um ein Treffen mit Renee oder den Foxes handelte, hatte Jean geplant, längst tot zu sein. Einen Moment lang spürte Jeremy die latente, irrationale Angst in sich, dass es doch so sein würde. Etwas gezwungen lächelte er. „Aber sicher steht die Einladung noch, Jean. Ich nehme sie doch nicht zurück und ich würde dich gerne mit nach Hause nehmen, damit du den chaotischen Haufen kennenlernst.“ Jean malträtierte seine Unterlippe zwischen den Zähnen und sah an Jeremy vorbei zu seinem Schreibtisch. „Ich würde gerne mitkommen“, erwiderte er dann unsicherer als vorher, als hätte er die Befürchtung, dass es die falsche Antwort sein würde. „Das freut mich sehr, Jean!“, lächelte er offen und warm, in der Hoffnung, dass der andere Junge Kraft aus seiner Bestärkung und Ehrlichkeit ziehen würde. Die grauen Augen, die nun zu ihm sahen, teilten ihm mit, dass er tatsächlich Erfolg gehabt hatte und Jeremy strahlte. „Das freut mich sehr. Apropos rausgehen. Alvarez, Laila und ich hatten uns gedacht, dass wir heute Abend essen gehen könnten. Es gibt da einen neuen Diner am anderen Ende der Stadt, der…“ Jeans Gesichtsausdruck ließ Jeremy abrupt verstummen, zeigte er doch so offensichtliches Missfallen, dass sich Jeremy fragte, ob er etwas Falsches gesagt hatte. „Alles in Ordnung, Jean?“ Der größere Junge blinzelte und kehrte dann abrupt zu einem neutralen Ausdruck zurück. „Natürlich“, erwiderte er und wandte den Kopf zur Seite. „Wenn du möchtest, können wir auch zu etwas Anderem fahren.“ „Nein, das ist es nicht.“ „Oder hier etwas kochen?“ „Nein, ich…“ Jean verstummte und Jeremy wartete, ob er es weiter ausführen würde. Als nichts kam, erkannte Jeremy, dass Jean vielleicht schon gegessen hatte. Er und Fahima waren lange unterwegs gewesen. „Möchtest du vielleicht etwas Anderes machen, wir könnten in diese neue Kunstausstellung, von der wir gestern die Werbung gesehen haben?“ „Nein.“ „Oder das Feuerwerk am Strand?“ „Knox, ich…“ Wieder kam Jean nicht weiter und hilflos zuckte der blonde Junge mit den Schultern. „Wir können machen, was du möchtest, Jean! Egal, worauf du Lust hast, wir sind dabei, also ich…“ „Jeremy!“ Alles in ihm kam zum Erliegen, als Jean seinen Namen, seinen Vornamen, zum ersten Mal und vor allen Dingen mit einer solchen Wucht aussprach, dass es ihm jedwede Luft zum Atmen nahm. Jeremy war wie paralysiert und das nicht nur, weil es hier und jetzt eine Premiere war, seinen Vornamen aus dem Mund des größeren Jungen zu hören. Nein, jede Silbe seines Namens war unterlegt und getragen von Jeans französischem Akzent, der, wie immer dann, wenn ihn etwas belastete, dominant hervortrat. Dass es noch keine Sorge in ihm hervorrief, lag daran, dass Jeremy hingerissen vom Klang seines Namens in der Sprache und aus diesem Mund war. So brauchte er auch etwas, um ein leises „Ja?“ hervorzubringen und Jean starrte frustriert auf ihn hinunter. Dann öffnete er den Mund und es kam ein langer Monolog an Worten heraus, von dem Jeremy nur Bruchstücke verstand, was einzig und allein auch nur daran lag, dass Französisch und Englisch sich manche Wortstämme teilten. Dass Jean passend dazu gestikulierte und anscheinend damit einem Unmut Luft machte, von dem Jeremy bis gerade eben noch nicht gewusst hatte, dass es ihn gab, machte die ganze Sache nur unmerklich besser und er hob an, Jean zu sagen, dass er kein Wort verstand, weil er das letzte Mal in der Highschool ein bisschen Französisch gehabt hatte, das ihm nun so gar nicht weiterhalf. Jean ließ ihn jedoch nicht und zählte ihm gerade etwas auf, zumindest interpretierte Jeremy das an den Fingern, die dieser abzählte und zu einem finalen Ergebnis kam, nachdem er verstummte und mit einem Schnauben die Arme verschränkte. Jeremy blinzelte hilflos. „Jean?“ Sein Backliner grunzte bejahend und er starrte mit großen Augen zu ihm hoch. „Ich habe kein Wort von dem verstanden, was du gerade gesagt hast. Du hast… in deiner Muttersprache mit mir gesprochen“, sagte er und lachte nervös. Ebenso unstet rieb er sich mit seiner Hand über den Nacken und sah zu, wie Jean langsam aber sicher begriff, was er gesagt hatte und zuverlässig Röte auf seine Wangen kroch. „Was?“, fragte Jean bestürzt und Jeremy nickte. „Ich kann kein Französisch“, wiederholte er, als wäre das nicht vollkommen überflüssig. Jean wusste das bereits. „Aber es hat sich gut angehört.“ Dass das vielleicht das Falsche war, erkannte er an dem Frust, der sich in den grauen Augen und um die Mundwinkel herum sammelte. Jean atmete schwer aus und ließ sich auf sein Bett fallen. „Ich kann das nicht“, sagte er schließlich mit schwerem, französischen Akzent, aber dankbarerweise auf Englisch und Jeremy hob die Augenbrauen. „Was kannst du nicht?“ „Jeden Mittag und jeden Abend irgendetwas machen. Es ist zuviel. Bitte, es ist wirklich zuviel.“ Jean hatte in seiner Muttersprache deutlich mehr gesagt, als er jetzt kurz zusammenfasste, aber dennoch kam die Botschaft bei Jeremy an. Mühevoll schluckte er. „Ihr sorgt euch und das ist sicherlich logisch, nachdem, was in der Wüste passiert ist, aber ich werde es nicht tun. Versprochen. Ihr müsst mich nicht jeden Abend bewachen oder mir das Leben zeigen, wie es sein könnte. Ihr überfordert mich damit. Ich fühle mich gefangen.“ Mit jedem Wort war die Verzweiflung größer geworden und Jeremy fand zunächst keine Antwort dafür. Hatten sie es wirklich so übertrieben? Wenn Jean sich wie ein Gefangener fühlte, dann sicherlich. Wenn er sich überfordert fühlte, ebenso. Entsetzt ließ sich Jeremy auf seinem Bett nieder. „Das tut mir fürchterlich leid, Jean. Wirklich. Wir…ich…hatten nicht im Sinn, dich so sehr zu bedrängen oder zu behandeln, als wärest du ein Gefangener. Wir wollten dir nur etwas Freude bereiten und für dich da sein.“ Jean grollte hilflos. „Dafür ist es nicht notwendig, jeden Tag etwas Anderes zu erleben. Ihr… ihr seid auch so da und ihr… ich…“ Ebenso hilflos gestikulierte er mit seinen Händen. „Bitte macht langsamer“, schloss er schließlich und das Flehen, das bei den Worten mitschwang, zerriss Jeremy beinahe das Herz. „Es tut mir leid Jean, wirklich sehr leid, wenn wir dir wehgetan oder dich gestresst haben sollten. Das lag nicht in meiner Absicht, ganz und gar nicht. Sicherlich auch nicht in Alvarez‘ oder Lailas. Von nun an machen wir es so langsam, wie du es wünschst, okay? Versprochen. So langsam, wie du dich damit wohlfühlst.“ Jean starrte ihn an, als könne er immer noch nicht wirklich glauben, dass jemand seiner Kritik zuhörte und sie auch beherzigte. Bei genauerem Hinsehen war es auch das erste Mal, dass Jean derart direkte Worte über etwas verloren hatte, das ihn bedrückte. Offen hatte er ihn kritisiert und Jeremy hoffte und betete inständig, dass er die richtige Erwiderung darauf gefunden hatte um Jean zu ermutigen, ihm auch weiterhin offen zu sagen, was ihn störte. Dieser räusperte sich, plötzlich schüchtern und mit gesenktem Blick, der überall hinsah, nur nicht zu ihm. „Ich würde gerne das Leben kennenlernen, so wie es…normale Menschen kennen. Ich würde gerne diese Kunstausstellung sehen und in diesen Diner gehen. Oder auf das Dach um bunte Spiele zu spielen. Oder zum Strand.“ „Aber so, dass du die Eindrücke auch verarbeiten kannst“, schlussfolgerte Jeremy leise und Jean nickte abgehackt. Er bemühte sich um positive Zuversicht. „Okay. Das bekommen wir hin.“ Vorsichtig sah Jean auf und Jeremy hob fröhlicher, als er sich wirklich fühlte, die Augenbrauen. „Aber eine Bitte hätte ich.“ Jean runzelte die Stirn. „Welche?“ „Könntest du öfter mit mir auf Französisch schimpfen? Das klingt so wunderschön melodisch.“ Auf Jeans ungläubigem Gesichtsausdruck hin zuckte er verlegen mit den Schultern und legte seine beste, bittende Mimik auf. Er blinzelte, wie er hoffte, charmant genug, damit seinem Anliegen stattgegeben werden würde. „Das ist nicht dein Ernst“, stellte Jean schließlich fest und Jeremy lächelte. „Doch, leider.“ Verschämt zuckte er mit den Schultern. Der Backliner grollte ohne wirkliches Missfallen dahinter und seufzte ergeben. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)