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Force of Nature

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, da ist es! Mit zwei Tagen Verspätung. Sorry, dass ich euch habe warten lassen nach dem letzten Cliffhanger. Ich versuche, wieder in den pünktlichen Postrhythmus zu kommen... Daumen drücken!

Viel Spaß beim Lesen! :) Komplett anzeigen

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Eva

„Du bist ein Scheißidiot, Moreau!“
 

Überrascht zuckte Jean zusammen und sah hoch, direkt in Alvarez‘ wütende Augen. Er blinzelte verständnislos.
 

„Weißt du eigentlich, was du den Menschen, die dich mögen, damit antust?“, fragte sie und kam bedrohlich auf ihn zu. Unsicher wich er zurück und sie wurde von Knox zurückgehalten. Das hinderte sie aber nicht daran, anklagend mit dem Finger auf ihn zu zeigen.

„Anscheinend nicht, wenn du dich hier von Minyard in der Wüste umlegen lässt und denkst, dass es OKAY für uns alle anderen ist, du Arschloch!“

Jean schluckte. Noch nie hatte er den Vizekapitän so wütend gesehen und noch nie hatte sie ihm solch eine Angst gemacht.
 

„Spoiler, ist es nicht! Für niemanden von uns ist es okay, wenn du nicht mehr da bist! Wir wollen alle nicht, dass du gehst. Du bedeutest uns etwas. Was glaubst du denn, was mit Jeremy passiert, wenn er plötzlich alleine in eurem Apartment aufwacht, in dem Wissen, dass er deinen Selbstmord nicht verhindern konnte und dass du in seinem Beisein gestorben bist, hm? Was glaubst du, was mit mir ist, wenn du mich nicht bei einer unserer Spielerunden abzockst oder neben mir auf dem Spielfeld stehst? Was glaubst du, was es mit Fahima macht, wenn du beim Mittagessen nicht mehr neben ihr sitzt und ihr eine qualitativ hochwertige Unterhaltung bietest, während der Rest des Teams blödsinnigen Mist erzählt? Oder mit Ajeet, der dich als einen Freund bezeichnet?“
 

Jean erstarrte unter dem schieren Gewicht ihrer Worte und traute sich für einen Moment noch nicht einmal zu atmen, aus Angst, dass es ihr missfiel.
 

„Hör auf, ihn unter Druck zu setzen“, merkte Knox in der darauffolgenden, schweren Stille, leise an. „Es ist seine Entscheidung, nicht unsere.“

„Für ihn ist es vorbei, wir leiden weiter!“, fuhr sie ihren Kapitän an, doch der schüttelte nur sacht den Kopf.

„Jean hat genug gelitten. Wenn er…“ Knox schluckte. „Wenn er seinem Leben ein Ende bereiten möchte, dann ist das seine Entscheidung, die wir letzten Endes akzeptieren müssen.“
 

Bullshit, Captain!“ Jean hatte Alvarez noch nie schreien hören und er wusste auch, dass er auf diese Erfahrung gerne verzichtet hätte. Wütend riss sie sich von Knox los und kam auf ihn zu. Dieses Mal wich Jean nicht vor ihr zurück und machte sich auf alles gefasst, was da kommen mochte, in dem Wissen, dass es ihm Schmerz bereiten würde. Schweigend starrte Jean auf sie hinunter und wagte es nicht, auch nur einen Moment lang den Blick von ihren zornigen, braunen Augen abzuwenden.
 

Doch sie schlug ihn nicht. Zweimal atmete sie tief durch, bevor sie anscheinend die Kraft fand, mit ihm zu sprechen. „Du hast keine Ahnung, was dir entgeht, Moreau. Ich weiß nicht, was die Arschlöcher in Evermore mit dir gemacht haben, aber so, wie du dich verhältst, muss es eine richtig große Scheiße gewesen sein. Denk ja nicht, ich hätte nicht mitbekommen, dass vieles, was normal sein sollte, für dich neu und unbekannt ist. Das ist zum Kotzen und all das, was sich dir hier nun eröffnet, ist erschlagend, manchmal auch zuviel. Aber du bist nicht alleine, weder mit deinen Erinnerungen, deiner Unsicherheit noch mit deiner Verzweiflung, die dich dazu getrieben hat, dich von dem blonden Mörderzwerg umbringen lassen zu wollen. Wir sind da, wenn es sein muss, jede Sekunde des Tages, um dir die Schönheit, die das Leben zu bieten hat, unter die Nase zu reiben, bis sie dir zu den Ohren herauskommt.“
 

„Alvarez“, versuchte Knox ein weiteres Mal zu beschwichtigen, doch sie wehrte ihn wütend ab.
 

„Du glaubst, du bist alleine? Es mag dich überraschen, Moreau, aber du bist es nicht. Du bist geschätzter Teil eines Gefüges, der merkt, wenn du fehlst. Der leidet, wenn du fehlst.“
 

All das, was Alvarez gesagt hatte, war unverständlich für Jean, schwer zu begreifen. In Evermore war er niemals Teil von etwas gewesen. Ein Ding, eine Sache, die kein eigenständiger Mensch war. Hier war er derart eingebunden, dass sie um ihn trauern würden, wenn er nicht mehr wäre? Hier würden sie leiden, wenn er sich umbrachte?

Das war neu für ihn und er brauchte etwas, um sich dessen bewusst zu werden, was es bedeutete. Eben, dass sie ihn nicht alleine lassen würden. Oder? Ajeet bezeichnete ihn als Freund? Für Fahima war er mehr als eine knappe Mittagsunterhaltung? Für Knox mehr als eine spielerische Bereicherung?
 

Unwillkürlich huschten Jeans Augen zu Eva und er sah in ihr missbilligendes Gesicht, das ihm zu sagen schien, wie falsch er lag. Wenn er an den Film zurückdachte, so hatte Wall-E seine Aufgabe auch immer weiter erfüllt und schlussendlich sein Glück gefunden, egal, vor wie vielen Sandstürmen er sich hatte verstecken müssen.
 

Unsicher sah er Minyard an, der seinen Blick ruhig erwiderte. Von ihm aus zu Knox, dessen Mimik weitaus offener war. Stumme Verzweiflung stand auf seinem Gesicht und in seinen Augen schimmerten Tränen. Wegen ihm, begriff Jean. Er war nicht alleine. Er tat Menschen weh mit seinem Plan.
 

In Evermore wäre es alles gewesen, was er sich gewünscht hatte, hier war es alles andere als erstrebenswert. Die Frage war jedoch, ob er den Mut hatte, seine Hand nach ihnen auszustrecken und sich auf das einzulassen, was sie ihm anboten.
 

„Woher weiß ich, dass ihr mich nicht wegsperrt, jetzt, nachdem ich…“ Er verstummte und machte eine vielsagende, allumfassende Handbewegung, die Knox ein wildes Kopfschütteln entlockte.

„Das würden wir niemals tun, Jean! Wir sind nicht Evermore!“

„Kevin hat mich alleine gelassen“, begann er mit seiner zweiten Sorge, wurde sich aber schon nach den ersten Worten bewusst, dass sie ihm nicht folgen können würden. „Er hat mich zurückgelassen. Wie kann ich sicher sein, dass ihr nicht…“

„Kevin ist ein Arschloch“, fiel ihm Alvarez ins Wort. „Und wir sind nicht Kevin. Ganz einfach.“
 

War es das? Ganz einfach?
 

Jean ballte seine Hände zu Fäusten und sah zu Minyard, der sich eine zweite Zigarette ansteckte. Er schluckte und sein Herz schlug brachial schnell. Seine Hände waren klamm und zitterten. Er hatte Angst, große Angst, dass seine Entscheidung die Falsche war, doch ein Blick auf Knox, wie er Eva umklammerte, reichte, damit er die Kraft für seine Worte fand.
 

„Ich möchte unseren Handel auflösen“, sagte er zu Minyard, der ihn mit erhobener Augenbraue musterte.

„Ganz sicher?“

„Ja.“

„Du weißt, dass es kein zweites Mal geben wird. Bist du dir ganz sicher?“

Nein, ganz sicher war sich Jean definitiv nicht. Er hatte Angst vor der Zukunft, Angst vor aller Unsicherheit, die noch kommen würde. Doch er hoffte und dieser Funke gab ihm Kraft zu nicken.

„Ganz sicher nicht, aber es reicht, um dich von deinem Teil des Handels zu entbinden.“

Minyard machte ein abfälliges Geräusch. „Das ist der Text des Junkies.“

„Das macht es nicht unwahrer.“
 

Der blonde Junge rollte mit den Augen und zuckte dann mit den Schultern. „Okay.“

So einfach beendete er ihren Handel. Ein Wort und schon nahm er den Rucksack auf, schulterte ihn und wollte gehen, doch es war Laila, die sich ihm in den Weg stellte.

„Nein.“
 

Minyard hob die Augenbrauen, seine Haltung noch entspannt, doch Jean sah bereits jetzt schon die aufkommende Gewaltbereitschaft. „Nein?“, echote Andrew gelangweilt und Laila seufzte.

„Bitte komm mit uns zurück zur Uni.“

„Kein Bedarf an sonnigem Getue.“

„Ich glaube, es würde uns allen gut tun.“

Minyard schnaubte. „Immer noch nicht an eurem sentimentalen Scheiß interessiert.“

„Wir könnten zu dem Eisladen, der dir am Wochenende so gut gefallen hat“, zog sie ihren Trumpf aus dem Ärmel und Jean sah, wie es tatsächlich hinter der glatten Stirn arbeitete. Andrew kämpfte mit seiner Sucht nach Süßem, das war offensichtlich und auch wenn er es nicht zugeben würde, so verlor er den Kampf gerade.

Unwirsch brummte er und Jean war sich nicht wirklich sicher, ob das Zustimmung zu dieser surrealen Frage war.
 

Unschlüssig stand er neben Andrew und knetete seine Finger, den Blick nun zu Boden gerichtet. Knox trat auf ihn zu, langsam genug, dass sich Jean auf die Reaktion des anderen Jungen einstellen konnte. Einen wahnwitzigen Moment lang hatte Jean das Gefühl, dass Knox ihn schlagen, anschreien, wegzerren würde. Doch das war nicht sein Kapitän.

Das machte aber das Gefühl der Scham nicht besser, das ihn seit Alvarez‘ Ausbruch fest im Griff hielt.
 

Doch es war nicht Knox, der mit ihm kommunizierte, sondern Eva, die sich von unten in sein Blickfeld schob und ihn missbilligend anschaute. War es das, was Knox empfand? Missbilligung ob seines Versuches, sich allem zu entziehen?

Unsicher, wie er diese Geste interpretieren sollte, sah Jean hoch und ließ sich von den blauen Augen seines Kapitäns gefangen nehmen, in denen immer noch Tränen schwammen. Jean wagte es nicht, wegzusehen, auch dann nicht, als die Tränen fielen.
 

Er war versucht, sie von den Wangen zu streichen um seine Spuren zu verwischen. Um eben das nicht zu tun, griff er nach Eva und für einen Moment hielten sie beide das Kuscheltier fest. Dann ließ Knox es los und Jean nahm den Plüschroboter an sich. Nachdenklich strich er über den weichen Stoff.
 

„Kommst du mit zurück?“, fragte der blonde Junge beinahe unhörbar und Jean nickte. „Bleibst du auch?“

Er hasste die Angst, die er aus den Worten heraushörte. Er hasste sie zutiefst.

„Ja, ich bleibe.“

„Versprochen?“

Jean sah hoch. Hoffnung konkurrierte mit der Angst und ließ Jean schwer schlucken.
 

„Versprochen.“
 

~~**~~
 

So sehr, wie die Zeit auf der Hinfahrt verflogen war, so langsam krochen die Sekunden auf der Rückfahrt, die sie alle zusammen in einem Auto verbrachten. Alle bis auf Laila und Andrew, die in Andrews Mietwagen zum Eisladen fuhren, wie sie es dem Torhüter der Foxes versprochen hatte. Das ließ Alvarez, Jean und ihn übrig, die ruhiger und vor allen Dingen langsamer zurückfuhren.
 

Jean saß vorne, was sich alleine aufgrund seiner Körpergröße anbot und so konnte Jeremy immer wieder einen Blick auf den Jungen richten, der schweigend und in sich verschlossen, mit in Eva verkrampften Fingern neben Alvarez saß. Er hatte keinen Ton gesagt, seitdem er eingestiegen war und damit traf er auch auf gute Gesellschaft. Alvarez sagte nichts, ebenso wie er selbst auch und zum ersten Mal in seinem Leben war Jeremy wirklich hilflos.
 

Jetzt, wo sie Jean in Sicherheit hatten, wusste er nicht, wie er an ihre vorherigen Gespräche anknüpfen sollte. Er konnte nicht einfach so über das hinweggehen, was geschehen war und zur Normalität zurückkehren. Er brauchte Zeit, um sich bewusst zu werden, was das auch für die Zukunft bedeutete. Ja, Jean hatte ihm das Versprechen gegeben, aber er war doch auch vorher bereit gewesen zu sterben. Was, wenn es aus einem Impuls heraus wieder passierte? Was, wenn sie nicht soviel Glück hätten wie jetzt?
 

Die Unsicherheit darüber hielt Jeremy in eisigen Klauen gefangen und verhinderte jedes unbeschwerte Wort, das ihm sonst über die Lippen kommen würde. Zumal er nicht wusste, wie sehr Jean das schätzen würde und wieviel Freiraum er brauchte. Wie sehr auch er einfach das verarbeiten musste, was gerade passiert war.
 

Alvarez räusperte sich und Jeremy zuckte unisono mit Jean zusammen.
 

„Männer, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe einen Mordskohldampf“, erläuterte sie, ihre Stimme ernst und ruhig, nicht im Ansatz der wütende Ton, den sie im Canyon gegenüber Jean angeschlagen hatte.

Jeremy wusste nicht wirklich, ob er etwas essen konnte und wenn er Jeans Profil musterte, dann hatte der andere Junge eine ebenfalls keine klare Meinung.

„Kein Widerspruch? Gut, dann halten wir an unserem Stammdiner.“
 

Zu eben jenen fuhren sie immer dann, wenn sie von ihren Wanderausflügen wiederkamen. Sie alle liebten das familiengeführte Restaurant und vielleicht wäre es genau die Wohlfühlatmosphäre, die sie nun bräuchten.
 

„Jean?“, fragte Jeremy ruhig. „Was meinst du?“

Nachdenklich drehten die vernarbten Finger Eva in ihren Händen und Jean schien nach einer richtigen Formulierung zu suchen. Er räusperte sich und nickte dann.

„Ja, das ist okay“, sagte er vorsichtig und senkte seinen Blick wieder. Jeremy brummte und schob langsam seinen Zeigefinger nach vorne. Behutsam stupste er Eva auf die Stirn und begegnete den ihn seitlich musternden Augen mit einem Lächeln.

Evaaaa“, machte er in einer jahrelangen perfektionierten Imitation Wall-E nach und Alvarez schnaubte amüsiert. Jean selbst hob die Augenbraue.
 

„Dir ist klar, dass unser Kapitän diesen Film mindestens schon zwanzigmal gesehen hat, oder?“, stellte sein Vizekapitän eine rein rhetorische Frage. Natürlich war es Jean nicht klar und überrascht hob er die Augenbrauen.

„Warum sollte man das tun?“, fragte er schließlich zweifelnd.

Jeremy lächelte und dieses Mal ging es ihm leichter von der Hand. „Weil es ein toller Film ist!“

„Und die anderen, sehenswerten Filme?“

„Bestandteil unserer Filmabende. Spoiler: unser Kapitän ist lebenslang von der Auswahl der Filme verbannt.“
 

Vor beinahe zwei Monaten hatte Jean bei der bloßen Ankündigung, einen Film zu schauen, ablehnend und beinahe panisch reagiert, aus Gründen, die Jeremy nur zu gut nachvollziehen konnte. Nun aber brummte er nur und Jeremy wusste nicht, ob es tatsächlich eine Besserung war, oder ob Jean Angst hatte, Alvarez zu enttäuschen.

„Du musst nicht an den Filmabenden teilnehmen, wenn du nicht magst“, stellte Jeremy deswegen klar und ihre Fahrerin schnaubte.

„Und ob, Cap. Ich möchte sehen, ob die Auswahl des französischen Wunderkindes hier besser ist als deine. Wenn ich mir allerdings dessen nonverbale Liebe für das Kuscheltier so anschaue, wage ich es zu bezweifeln.“
 

Jeremy grollte und Jean schnaubte. Wieder strichen seine Finger über Eva. „Ich habe kein Bedarf an einem Filmabend“, erwiderte er dann und Alvarez tat das mit einer unwirschen Handbewegung ab.

„Jetzt sag mir nicht, dass du keine Filme schaust“, deutete sie auf Eva und Jean rollte mit den Augen. Jeremy öffnete den Mund, um Alvarez zum Schweigen zu bringen, bevor sie tatsächlich schlechte Erinnerungen in Jean triggern konnte, doch der andere Junge kam ihm zuvor.
 

„Das letzte Mal, als ich einen Film mit meinem Team gesehen habe, hat es mein damaliger Kapitän für amüsant erachtet, die im Film gezeigte Folter an mir auszuprobieren. Ich habe kein Interesse an einer Wiederholung dessen und damit auch kein Interesse an einem Filmabend“, sagte Jean schlicht, ohne einen wirklichen Vorwurf in seiner Stimme. Jeremy konnte auch keine Angst in den Worten hören und begriff, dass diese Offenheit in all ihrer brachialen und brutalen Ehrlichkeit Jeans Art war, sein Vertrauen zu zeigen.
 

Jeremy schloss den Mund wieder. Er hatte ihren Backliner verteidigen wollen, doch Jean konnte für sich selbst einstehen. Wenn er genauer hinsah, kam es Jeremy wie eine Emanzipation vor. Notwendiger Widerstand, den Jean leisten musste, damit Alvarez ihn nicht immer wieder überfuhr mit ihrem Wesen. So wie bei seinem Handy.
 

Er hatte ihr eine Grenze gesetzt und das, was Jeremy an seinem Vizekapitän so schätzte war, dass sie diese schlussendlich auch respektierte.
 

„Das ist eine ganz große Scheiße“, gestand sie die Einhaltung dieser Grenze ein und Jean zuckte mit den Schultern. Schweigend wandte er seinen Blick nach draußen und zog schließlich nachdenklich sein Telefon hervor.

„Minyard sagte, dass da ein Tracker drauf ist“, stellte er zur Diskussion und Jeremy warf einen bedeutungsschwangeren Blick zu seinem Vizekapitän, die mit ihren Augen rollte.

„Jaa, den habe ich dir draufgespielt, damit die Arschlöcher aus Evermore dich nicht einfach entführen können ohne dass wir eine Ahnung haben, wo du bist“, erwiderte sie und Jean blinzelte. Jeremy schnaubte und lehnte sich zurück, verschränkte die Arme.
 

„Ich möchte das nicht“, sagte Jean ruhig, doch Jeremy hörte, wie vorsichtig er diese einfachen und selbstverständlichen Worte aussprach. Er erwartete, dass seinem Wunsch nicht entsprochen wurde, doch da kannte er sie beide schlecht.

Alvarez deutete mit ihrem Kinn auf das Handy. „Wenn du mit dem Finger auf das Symbol der App tippst, dann kannst du sie deinstallieren. Damit ist sie dann verschwunden.“

Jean starrte auf sein Telefon und runzelte ratlos die Stirn. „Welches Symbol hat sie denn?“

Jeremy lehnte sich nach vorne und schob den Kopf zwischen den beiden Sitzen hervor. Halb hing er über Jeans Finger, noch viel näher war er dadurch aber dessen Kopf. Beruhigend lächelte Jeremy und hob fragend die Augenbrauen.

„Darf ich?“

Jean nickte und Jeremy wischte durch den App-Dschungel, den Alvarez Jean auf das Telefon geladen hatte.
 

„Hier ist der Übeltäter!“, schmunzelte er und Jean tippte mit dem Finger darauf. Er deinstallierte die App und sah dann fragend zu Jeremy.

„Genauso.“

Durch die Enge des Wagens waren sie sich so nahe, dass Jeremy auch die kleinen Narben auf Jeans Gesicht sehen konnte, ebenso wie er sein Shampoo roch, mit dem er Jean aus Versehen die Haare gewaschen hatte, weil er instinktiv nach der anderen Packung gegriffen hatte.

Der Gedanke brachte Jeremy zum Lächeln und graue Augen verfolgten seine Mimik aufmerksam. Zum ersten Mal fiel ihm wirklich auf, dass Jean dunklere Ränder um das ebenmäßig-hellere Grau hatte und seine Augen so eine größere Tiefe bekamen. Hübsch sah das aus.
 

„Ist etwas?“, fragte Jean und aus seiner Stimme hörte Jeremy genau das Quantum an Unsicherheit heraus, das er brauchte, um zu einem eigenen Platz zurück zu kehren.

„Nein, nichts. Ich habe nur festgestellt, dass du unterschiedliche Grautöne in deinen Augen hast“, erwiderte er wahrheitsgemäß und auch das stieß auf Verwirrung.

„Und?“

„Nichts und. Es ist mir nur aufgefallen.“
 

Alvarez grollte, während sie langsamer wurde und auf den Parkplatz des Diners abbog. „Sucht euch ein Zimmer, Jungs, okay? Das ist hier ein anständiges Auto!“

„Als wenn, Alvarez, als wenn!“, lachte Jeremy, während er ausstieg und Jean mit gerunzelter Stirn die Beifahrerseite verließ.

„Wieso sollten wir nach einem Zimmer suchen?“, fragte er und Alvarez begriff um Längen langsamer als Jeremy, dass Jean die Frage tatsächlich ernst meinte, weil er nicht wusste, was damit gemeint war.
 

„Frag mal Ajeet, der kann dir eine Antwort darauf geben“, grinste Alvarez hinterhältig und Jeremy rollte mit den Augen. Je mehr sie herumalberten, desto mehr ließ das innere Zittern nach, das Besitz von ihm ergriffen hatte und desto mehr konnte er sich vorstellen, dass doch alles gut werden würde.
 

~~**~~
 

Jean stand wie zum ersten Mal in diesem Raum, der immer noch so sehr nach Knox aussah. Wie vor zwei Monaten war er fremd – dieses Mal jedoch nur für wenige Augenblicke. Meins, geisterte durch seine Gedanken, als er das in die Jahre gekommene Bett mit der Bettwäsche sah. Meins, als er das Buch sah, was er auf seinem Schreibtisch deponiert hatte. Meins, als er nicht zuletzt Renees Geschenk aufnahm und mit seinen Fingern über den dunkelblauen Stoff strich.
 

Knox hantierte in der Küche und gab Jean somit Freiraum, sich wieder in dem Apartment zu akklimatisieren, von dem er gedacht hatte, dass er es nie wiedersehen würde.

„Wir haben das Training verpasst“, sagte er, alleine um ein Stück Normalität zurück zu gewinnen und Knox erschien im Türrahmen. Entspannt winkte er ab.

„Der Coach weiß Bescheid und hat das Training ohne uns durchgeführt.“

Jean blinzelte. „Du hast es ihm gesagt?“, fragte er nach und Knox‘ Augen weiteten sich.

„Nein. Nein, Jean, das habe ich nicht. Er weiß nur von Laila, dass wir heute nicht am Training teilnehmen können. Es wissen nur Alvarez, Laila und ich.“
 

„Wirst du es den Anderen erzählen? Oder dem Coach?“ Wenn Jean es sich ehrlich eingestand, dann hatte er Angst vor der Antwort. Was, wenn sie alle wussten, wie schwach er war? Wie undankbar, dass er all ihre Mühen mit Füßen treten wollte?

Doch Knox schüttelte den Kopf. „Nein, werde ich nicht. Es ist deine Sache, wem du es erzählst und wem nicht. Ich möchte dich nur um eins bitten.“ Zögerlich brach er ab und Jean runzelte die Stirn. Ihm schwante Schlimmes und Knox unsicherer Ausdruck auf dem sommersprossigen Gesicht machte es nicht besser. Ganz im Gegenteil.
 

„Um was?“, hakte Jean nach und der blonde Junge verschränkte seine Finger ineinander.

„Ich möchte dich bitten, dass du dir Hilfe suchst. Wir haben da einen Therapeuten…“

„Brian“, spezifizierte Jean mit einem Augenrollen. Überrascht hielt Knox inne.

„Du kennst ihn?“

„Die Ärztin hat mir nach der Untersuchung seine Karte gegeben“, erwiderte Jean ehrlich und Knox blinzelte. „Ich habe ihn aber noch nicht angerufen“, ergänzte er, als er die aufkommende Frage auf den Lippen seines Kapitäns sah. Jean schwieg und seufzte schließlich, als Knox ihn weiterhin erwartungsvoll anstarrte.

„Wieso soll ich zu ihm?“

„Weil er dir vielleicht anders helfen kann als wir es tun.“
 

Helfen. Jean war versucht zu schnauben. Als wenn ihm jemand bei seinen Erinnerungen und schlechten Träumen helfen konnte. Oder dabei, dass sein Körper bei falschen Bewegungen schmerzte. Oder dass er die Narben der Folter immer auf seinem Körper tragen würde.

Er war versucht, nein zu sagen und abzulehnen, doch die Sorge, die Knox umgab wie eine dieser Pustefix-Blasen aus seiner Kindheit, hielt ihn davon ab. Ergeben nickte er.

„Ich werde ihn kontaktieren“, erlöste er seinen Kapitän aus dessen Anspannung und für einen Moment sah Knox so aus, als würde er ihn umarmen wollen. Mit Sorge betrachtete Jean das Zusammenspiel der entsprechenden Muskeln und trat vorsorglich einen Schritt zurück.
 

Das minderte das Strahlen auf Knox‘ Gesicht nicht, zumindest nicht, bevor ihm anscheinend etwas anderes einfiel und er verlegen zur Seite sah. Jean hob die Augenbraue.

„Was noch, Knox?“, fragte er mit einer unguten Vorahnung in seiner Magengegend und hätte beinahe hinterhergeschoben, dass er es auf den Tod nicht ausstehen konnte, wenn schlechte Nachrichten mit einem Lächeln überbracht wurden. Doch das war zuviel Kritik, selbst jetzt.

Sein Kapitän brauchte geschlagene zwei Anläufe, bevor er überhaupt Worte über seine Lippen brachte.
 

„Kevin hat mir geschrieben, er ist um vier am Flughafen und kommt dann hierher.“
 

Worte, die offen gestanden keinen Sinn ergaben. Ja, erinnerte sich, dass Day Knox Bescheid gegeben hatte und er dafür verantwortlich war, dass er noch hier stand. Warum Day allerdings die sechs Stunden Flug auf sich nehmen sollte, um nach Los Angeles zu kommen, das war ihm schleierhaft. Außer um sich noch einen Faustschlag abzuholen, den Jean gerne bereit war, auszuteilen.
 

„Und?“, fragte er entsprechend ungnädig und Knox vergrub seine unruhigen Hände in seinen Hosentaschen.

„Und ich hatte gehofft, dass ihr miteinander sprechen könntet… und dass du ihm keine reinhaust.“

Jean knirschte unwirsch mit seinen Zähnen und Jeremy versuchte, dieses eine, bestimmte, bittende Gesicht aufzusetzen, das ihn um zehn Jahre jünger machte und es ihm schwer machte, ihm etwas abzuschlagen.

„Jean, bitte keine Schläge hier in unserem Wohnheim.“

Er schnaubte. „Gut, dann gehe ich nach draußen.“

Knox gab einen Laut der Verzweiflung von sich. „Auch da nicht. Bitte…hör an, was er dir zu sagen hat.“
 

Jean wandte sich ab, weg von den ehrlichen, nichtsahnenden, blauen Augen voller Unschuld, die so vieles von ihm erbeten konnten, was er nicht würde abschlagen können.

Eben das wurde Jean mit aller Wucht gerade bewusst und es fühlte sich zunächst bitter an. Machte er denn den gleichen Fehler wieder? Kevin hatte er auch nichts abschlagen können, aber Knox war nicht Kevin. Knox war nicht verdorben, er war rein.
 

„Ich kann nichts versprechen“, erwiderte er indifferent.

Knox gab einen Laut der Zustimmung von sich, zumindest interpretierte Jean das Brummen seines Kapitäns so. Immer noch verloren stand er in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer und gab es schließlich auf, seine Überlegungen in eine weitere Runde zu schicken.

Ruckartig drehte er sich zu Knox, der ihn überrascht maß. „Wie geht es nun weiter?“, fragte Jean das, was ihm auf der Zunge lag. Irritiert runzelte der blonde Junge die Stirn.

„So wie bisher?“, gab er fragend zur Antwort und Jean legte unwirsch den Kopf schief.

„Mit dem Training, dem Studium, der…Freizeit? Genauso wie vorher?“, hakte Jean ungläubig nach und Knox nickte.

„Oder möchtest du etwas anders gestalten?“
 

Jean überlegte. Akut nicht, nein. Er war froh, dass das, was heute passiert war, keine Auswirkungen hatte. Zumindest nicht auf seine Freiheiten, die er hier hatte. Doch je länger er darauf herumdachte, desto mehr Dinge fielen ihm ein, die er tatsächlich anders machen wollte.

„Ich möchte kochen“, zählte er das Erste auf, was ihm in den Sinn gekommen war und Freude erhellte das Gesicht seines Kapitäns.

„Immer gerne!“

„Ich möchte dünnere Kleidung. So wie Fahima sie trägt.“

„Frag sie, sie geht sicherlich gerne mit dir shoppen.“

„Ich möchte Auto fahren lernen.“

„Mit meiner Rostlaube? Oder mit jemand anderem?“

„Dir.“

„Gott steh‘ mir bei“, grinste Knox und Jean hob die Augenbraue.

„Der hört dich über die lauten Geräusche deines Motors nicht.“

„Oho…war das ein Scherz, Moreau? Höre ich da Humor?“
 

Jean seufzte schwer und angelte nach Eva. Kommentarlos ließ er sie seine Missbilligung zeigen und Knox bedachte das mit seiner beängstigend akkuraten Imitation des kleinen Roboters.
 

„Hast du den Film wirklich zwanzig Mal gesehen?“, fragte er und sein Kapitän zuckte mit den Schultern.

„Und ich werde ihn noch zwanzig Mal sehen!“

„Und ich möchte einen neuen Zimmerpartner“, führte Jean seine Aufzählung trocken und latent ironisch fort. Knox fasste sich theatralisch an sein Herz.

„So gemein!“

Jean schnaubte und sein Handy pingte. Es war der Klingelton für Andrew und fragend zog er sein Mobiltelefon hervor. Jean blinzelte, als er die Nachricht las und rollte dann mit den Augen.

~L.A. ist scheiße.~
 

Jean sah zu Knox. „Darf ich ihm kurz antworten?“, fragte er und der blonde Junge hob bedeutungsschwanger die Augenbrauen. Er musste nicht fragen. Nicht mehr. Jean nickte in Anerkennung der Geste und widmete sich wieder dem Torhüter der Foxes.

~Warum? Gibt es nicht genug Eis um dich ins Koma zu essen?~

~Das würdest du dir wünschen.~

~Nein. Josten Geheule über deine Abwesenheit wäre nicht zu ertragen.~

~Wie kommst du darauf, dass er sich bei dir ausweinen würde?~

~Wie kommst du darauf, dass er es nicht täte? Falls es dir entgangen ist, er redet viel. Mit jedem.~

~Das ist Teil seiner problematischen Persönlichkeit.~

~Q.E.D.~

~Nerd.~
 

Jean sah irritiert auf und drehte sein Handy so, dass Knox es sehen konnte, der geduldig gewartet hatte, bis er mit seinem Schlagabtausch fertig war.

„Was bedeutet dieses Wort?“

Knox las die kurze Diskussion, da war er sich sicher und zum Teil war es Jean auch recht. Er wollte nicht, dass Knox ihm misstraute, weil er dachte, dass er es wieder versuchen würde. Oder weil er dachte, dass Minyard und er sich über das normale Maß heraus hassten.
 

Nichts davon war der Fall. Im Gegenteil. Knox wurde rot und Jean sah dieser unerwarteten Veränderung mit gerunzelter Stirn zu. Hatte Minyard etwas Unanständiges geschrieben? Plötzlich unsicher zog Jean sein Handy wieder zu sich und wollte schon abwinken, als Knox sich besann und nun seinerseits sein Handy hervorzog. Er tippte etwas und reichte Jean dann sein Telefon.
 

Nerd ist eine Bezeichnung für an Spezialinteressen hängende Menschen mit sozialen Defiziten. Das Wort weist vom Kontext abhängig anerkennende oder abwertende Anklänge auf. In Computerkreisen gilt es als echtes Kompliment (*)“, las er laut vor und sah irritiert auf. „Aber ich habe keine speziellen Interessen und einen Computer besitze ich auch nicht.“ Die sozialen Defizite konnte er dahingehend nicht verneinen. Er sah Knox hilflos lächeln und der Ausdruck in den Augen seines Kapitäns irritierte ihn dabei fast noch mehr als Minyards Worte.
 

„Nenn es liebevolle Beleidigung“, erläuterte sein Kapitän und Jean besah sich sein Handy. Das glaubte er nicht wirklich. Andrew war nicht so.

„Er droht selbst Josten mit dem Tod“, winkte er ab und blinzelte irritiert ob der Stille, die ihn begrüßte.

„Ihr hasst euch nicht“, stellte Knox fest und Jean schüttelte den Kopf.

„Am Anfang schon. Mittlerweile nicht mehr.“

Knox zögerte. „Ich dachte, weil er bereit dazu ist…war, dich umzubringen.“

„Das war ein Handel. Ich habe ihn darum gebeten.“

„Und er hat dem aus Freundschaft zugestimmt?“
 

Überrascht hob Jean seine Augenbrauen. Freundschaft mit Minyard? Der Gedanke als solches war absurd. „Wir sind nicht befreundet.“ Glaubte Jean zumindest. Er wusste nicht wirklich, was Freundschaft ausmachte. Wenn er es an Treue und Worthalten festmachte, dann war Andrew mehr sein Freund als es Day jemals gewesen war.
 

Er griff wieder zu seinem Handy. ~Wenn du dich noch nicht ins Koma gefressen hast, dann kannst du nachher die Reste von Day aufsammeln. Er kommt um vier.~

~Idiot.~

~Ich oder er?~

~Beide.~
 

Jean rollte mit den Augen und warf das Handy auf sein Bett. „Ich werde das Training verpassen, wenn Day da ist.“ Das zweite in seinem Leben, wurde ihm bewusst. Es verursachte ihm kein gutes Gefühl, im Gegenteil. Die latente Angst, dass er dafür bestraft werden würde, war wie ein stetiges Hintergrundmurmeln, egal, wie oft er sich vor Augen hielt, dass die USC anders war.

„Das ist in Ordnung. Ich spreche mit unserem Coach und er wird Verständnis dafür haben“, sagte Knox wie selbstverständlich und Jean seufzte innerlich.

„Ich würde lieber trainieren, als mit Day zu sprechen“, gestattete er sich ein einziges Mal eine nahezu weinerliche Beschwerde, für die er sich Alvarez Tonfärbung ausborgte und Knox lachte.

„Ich bin mir sicher, dass das eine genauso anstrengend wird wie das Andere. Aber beides lohnt sich.“
 

Jean kam es so vor, als wäre das nicht nur eine Prognose, sondern auch ein Versprechen an die Zukunft. Seine Zukunft im Team.
 

~~**~~
 

So emotionslos wie Jean zur Kenntnis genommen hatte, dass Day hierherkommen wollte, so zerrissener wurde er, je mehr Zeit verging. Er war wütend, wie immer, wenn er an den anderen Jungen dachte. Er hasste die Erinnerungen, die sich mit Day verknüpft hatten. Zu dieser Wut kamen jetzt jedoch auch noch Verwirrung und Unsicherheit, warum Day hier war und nicht zuletzt auch darüber, wie er sich selbst verhalten sollte. Er hatte eine eindeutige Drohung ausgesprochen und immer, wenn er den Gedanken auch nur touchierte, dann hatte er nicht übel Lust, sie auch wahr zu machen.
 

Doch nicht alles in ihm wollte das und das machte ihn rastlos.
 

Als es an der Tür klopfte, zuckte er zusammen, als hätte man ihn verbrannt und sah mit großen Augen zu Knox, der bisher auf der Couch gesessen und ohne wirkliches Ziel auf dem Laptop herumgeklickt hatte. Jean legte das Buch, was er bis gerade eben gelesen, aber nicht wirklich verinnerlicht hatte, zur Seite und verschränkte die Arme vor seinem Körper.

Er wollte nicht. Er wollte diese grünen Augen nicht sehen, die um seine Vergebung heischten, als hätten sie ein Recht darauf.
 

„Soll ich ihn hineinlassen?“

Nein!, begehrte Jean stumm. Lass ihn dort stehen, bis er von alleine geht. Für immer! Doch die vernünftige Seite in ihm sagte ihm bereits, dass das nicht eintreffen würde, also nickte Jean und Knox erhob sich mit einem weiteren, fragenden Blick auf ihn und öffnete dann ihre Eingangstür.

Jean hörte, wie die beiden Jungen sich stumm umarmten. „Komm herein, er ist im Schlafzimmer“, murmelte sein Kapitän und er grollte. Stumm sah er hoch, als tatsächlich Day im Türrahmen stand.

Die Überreste seines Schlages sah Jean immer noch. Passend dazu sah Day so schlecht aus wie schon lange nicht mehr mit tiefen Augenringen und todesbleicher Gesichtsfarbe. Er roch bis hierhin nach Alkohol und Jean rümpfte die Nase.
 

„Ernsthaft? Du kommst besoffen hierher?“, zischte Jean angewidert und Day schüttelte leicht den Kopf.

„Ich habe die Nacht zuvor getrunken… mittlerweile habe ich alles ausgekotzt. Im Flugzeug und auf dem Flughafenklo.“

Wie er auch. Auch Jean hatte sich auf dem Flughafen übergeben, vor lauter Angst, was ihm hier in Los Angeles zustoßen würde.

„Ähm… soll…kann ich euch beiden alleine lassen?“, fragte Knox in seine Erinnerungen hinein und Jean nickte knapp.

„Wirklich?“

Mit Mühe hielt er sich davon ab, mit den Augen zu rollen.

„Ich werde ihn nicht umbringen, falls es das ist, was du befürchtest.“

„Und auch nicht schlagen.“
 

Jean nickte knapp, auch wenn er gerne Day die Sicherheit dieses Versprechens erspart hätte.
 

Knox zögerte und sah von ihm zu Day und wieder zu ihm. „Bitte… redet. Miteinander. Bitte. Ich weiß nicht, was zwischen euch gelaufen ist, aber bitte sprecht darüber.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich mit einem Streichen über Days Schulter, das Jean innerlich grollen ließ, um und verließ ihr Apartment.
 

Angespannt lehnte Jean sich an die Wand zurück und zog die Beine zu sich auf das Bett. Day ließ sich nach einem Moment der bewegungslosen Stille auf dem Boden nieder und lehnte an Knox‘ Bett. Sicherlich war das sein geheimer Traum. Sich einmal in den Laken des Trojanskapitäns zu wälzen.
 

Jean schwieg und Day wurde mit jeder Sekunde, die er nichts sagte, unruhiger.
 

„Es…“

„Wenn du sagst, dass es dir leid tut, dann schlage ich deinen Kopf solange gegen die Bettkante, bis du ein sabbernder Idiot bist“, fuhr Jean ihm ins Wort. Er hatte keine Lust mehr auf Entschuldigungen, die sinnentleerter nicht sein konnten. Day tat ihm und sich den Gefallen und verstummte. Aufstöhnend schloss er die Augen und presste die Handballen auf die Lider.
 

„Ich habe es Jeremy gesagt, weil ich nicht ertragen konnte, dass du stirbst. Ich will nicht, dass du das Leben, so wie es wirklich ist, nicht richtig kennenlernst. Ich will nicht, dass du in dem Wissen stirbst, nicht alles Gute der Welt erlebt zu haben, was das Schlechte, das dir wiederfahren ist, wieder gutmacht.“

„Was du willst, interessiert mich nicht.“

„Das weiß ich, Jean, und du hast jedes Recht dazu.“

„Warum bist du dann hier?“

„Um zu sehen, dass du lebst. Um dir zu sagen, was ich fühle und denke. Um dir zu sagen, dass ich mir bewusst bin, wie niederträchtig und abartig ich dich behandelt habe und dass ich Abbitte leisten werde.“
 

Jean lachte abfällig. „Wie?“

Langsam nahm Day seine Hände hinunter und starrte ihm in die Augen.

„Wie du es mir erlaubst, Jean. Ich bin fertig damit, dich hinten anzustellen. Ich werde Rikos Worte und Taten, die mein Denken vergiftet und es mir einfach gemacht haben, dich nicht als Mensch anzusehen, den ich liebe, nicht mehr zulassen. Ich werde gegen mich kämpfen, gegen jede einzelne Faser, die mich anschreit, dass nichts außer Exy wichtig ist.“
 

Jean glaubte, nicht richtig zu hören. „Als wenn du zu Liebe fähig wärst“, grollte er unwirsch und beugte sich vor. Noch verließ er die rettende Sicherheit seines Bettes nicht, doch es war knapp. „Du kennst nur dich und Exy, alles Andere ist dir egal!“

Day blieb ruhig und das machte Jean noch wütender, als wenn er ihn angeschrien hätte.

„Ich lerne, dass andere Menschen nicht egal sind und dass es ein Leben außerhalb von Exy gibt“, widersprach er und Jean warf impulsiv sein Kissen nach Day, der noch nicht einmal Anstalten machte, es abzuwehren. Kommentarlos legte er es sich auf seinen Schoß.
 

„Das ist Jahre zu spät“, schrie Jean unbeherrscht. „Du hast mich Jahre in seiner Gewalt gelassen, in dem Wissen, was er mir antut! Du hast selbst in Evermore nie eingegriffen, mich nie verteidigt oder gerettet! Und jetzt kannst du wunderbar sagen, dass du dich ändern willst, jetzt gibt es Riko nicht mehr und ich bin hier, umgeben von Menschen, die mit den Begriffen Gewalt und Vergewaltigung nichts anfangen können!“
 

Day schossen Tränen in die Augen und er krallte seine Hände in das Kissen. „Ich weiß, dass es viel zu spät ist, Jean, ich weiß das! Das ist eine Schuld, die ich immer mit mir herumtragen werde, weil ich nichts von dem wieder gutmachen kann, was dir in meiner Gegenwart angetan wurde und was ich dir angetan habe! Ich versuche aber, dass es dir jetzt gut geht und dass du jetzt ein sehr gutes Leben führen kannst!“
 

Nun stand Jean doch auf und war mit zwei Schritten bei Day. Wütend packte er ihn am Kragen seines Shirts und zog ihn halb zu sich hoch. „Du versuchst gar nichts. Du sitzt sechs Stunden in deinem Fuchsbau entfernt, betrachtest all das aus sicherer Entfernung und lässt andere für dich arbeiten! Mich aus Evermore holen? Das muss Renee machen. Sich um mich im Haus der Krankenschwester kümmern. Das überlässt du lieber Minyard und Josten. Mich umbringen? Minyard. Dafür sorgen, dass ich mich von Evermore erhole und lerne, ein richtiges Leben zu leben? Knox. Und nur, wenn es um deinen Ruf und deine Karriere geht, kommst du, zeigst dich.“
 

So bewegungslos und passiv Day seinen Angriff über sich hatte ergehen lassen, so wendig war er plötzlich, als es darum ging, sich hochzustemmen. Jean richtete sich darauf ein, dass Day versuchen würde, ihn zu schlagen, doch von eisernen, muskulösen Armen umarmt zu werden, damit hatte er nicht gerechnet.
 

„Lass mich los!“, grollte Jean und wehrte sich gegen Day, doch anscheinend gab ihm dessen Verzweiflung einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Keinen Zentimeter gab er nach.

„Nein.“

„Ich meine es ernst, Day, lass mich los!“ Entsetzt weiteten sich Jeans Augen, als er eine von Days Händen an seinem Nacken spürte, eine Geste, die ihn früher immer beruhigt hatte und deren Erinnerung daran ihm auch jetzt einen Strich durch die Rechnung machte. Dennoch wehrte Jean sich, versuchte mit aller Macht von Day loszukommen.

„Du sollst mich loslassen!“

Sein Kopf wurde unnachgiebig und verzweifelt an Days Schulter gepresst und durch ihre direkte Nähe konnte Jean spüren, wie der andere Junge schluchzte.
 

„Nein, denn wenn ich dich loslasse, dann verliere ich dich, Jean, und ich möchte dich nicht verlieren. Nie wieder.“
 

Jean zischte. „Immer noch der Egoist, nicht wahr? Was ich will, interessiert dich nicht! Möchte ich von dir angefasst werden? Nein. Möchte ich von dir umarmt werden? Nein. Doch das interessiert dich nicht, du zwingst mich dazu. Du zwingst mich, weil du glaubst, es besser zu wissen und weil du nur von deinen Bedürfnissen ausgehst! So warst du schon immer und deine Worte sind nichts als eine leere Hülle!“
 

Ein beinahe schon schmerzhafter Ruck ging durch den anderen Jungen und schneller, als Jean es wirklich verstehen konnte, hatte Day ihn losgelassen und war einen Schritt zurückgetreten.
 

Die grünen Augen quollen über vor Schmerz, den sich Jean so lange gewünscht hatte. „Es tut mir leid, Jean. Es tut mir so leid. Ich… ich bin noch am Anfang, ich lerne noch, wie es ist…“ Er machte eine nichtssagende Handbewegung, die Jean schnauben ließ. Unwohl verschränkte er seine Arme und trat einen Schritt zurück.
 

„Wie was ist? Die Regeln und Grenzen anderer Menschen zu respektieren? Oh, darin bist du sehr langsam und ob du jemals akzeptabel darin wirst, wage ich zu bezweifeln.“ Jean wünschte sich, dass er wütender wäre. Er wünschte sich, dass er Day genauso wie beim Bankett auch ohne zu zögern verletzen konnte, doch nichts davon brachte er gerade auf. Im Gegenteil. Er sah, was der wohl berühmteste, für die Medien charmanteste College-Exy-Spieler in Wirklichkeit war. Ein verlorenes, zerstörtes, erbärmliches Wesen voller Lebensunfähigkeit.
 

„Ich konnte dich nicht sterben lassen, Jean, diese Grenze konnte und kann ich nicht respektieren. Ich werde sie auch immer wieder nicht respektieren, egal, wie sehr du mich dafür an den öffentlichen Pranger stellen wirst und mich für die Vergewaltigungen verantwortlich machen willst. Ich kann mir eine Welt ohne dich nicht vorstellen.“
 

Ungläubig versuchte Jean, den Worten zu folgen. „Machst du mir gerade zum Vorwurf, dass ich wegen deiner dummen Schwärmerei für Knox wochenlang nicht ohne Schmerzen sitzen konnte? Dass Martinsen mich solange gefickt hat, bis ich geblutet habe, nur weil dir gezeigt werden sollte, wie es sich mit homosexuellen Sportlern verhält?“, fragte er lauernd und pochender Kopfschmerz ließ ihn für einen Moment seine Augen schließen.

„Nein, Jean, darum geht es nicht. Ich werde zu dem stehen, was ich getan habe. Ich werde für das geradestehen, was ich getan habe und werde Verantwortung übernehmen.“
 

Lauernd taxierte Jean den anderen Jungen. „Du willst Verantwortung übernehmen? Dann nimm dein Handy und mach es öffentlich. Na los.“
 

Schweigend starrten sie sich an, Day mit schreckensbleichem Gesicht, Jean mit langsam peinigenden Kopfschmerzen. Beide gefangen in ihrer gemeinsamen Vergangenheit und dem Gift, das sie für immer auseinander getrieben hatte.
 

Langsam zog Day sein Handy aus der Tasche und neue Tränen fielen aus den sonst so emotionslosen Augen. Jean sah zu, wie er schrieb und sah überrascht auf seine Hände, die, wie er nun feststellte, so gewaltig zitterten, dass er sie mitnichten ruhig halten konnte. Day tippte und tippte und als er fertig war, hielt er Jean kommentarlos sein Handy hin.
 

„So?“, fragte er erstickt und Jean sezierte Wort für Wort des langen Textes, in dem Day alles offenbarte, Taten, Gefühle, die ganze Schande, die er über sich und auch Jean gebracht hatte.
 

Seine schmerzliche Vergangenheit in so wenige Worte gepresst zu lesen, war zuviel für Jean und er zischte.
 

„Nein!“, war das Einzige, was er herauspressen konnte, bevor er Day zur Seite schob und aus dem Apartment stürmte, in den Flur hinein, von dort aus nach draußen, nur weg von diesem Haus. Das erste Mal, dass er sich alleine, ohne Begleitung aus dem Haus entfernte und er konnte nicht aufhören zu laufen und Abstand zwischen sich und der Essenz seines Leides zu gewinnen.
 


 

~~~~~~~
 

Wird fortgesetzt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
(*) Das, was Jeremy zitiert, ist ganz banal die Wikipediadefinition, zu finden hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Nerd Komplett anzeigen

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