Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 22: Erste und letzte Male --------------------------------- Jean saß in der Umkleide, seinen Helm und seinen Schläger neben sich auf der Bank und starrte für einen Augenblick ohne wirkliches Ziel auf die Wand ihm gegenüber. Im Gegensatz zum Rest des Teams war er vollkommen ruhig und still, seitdem sie das Stadion der Wilkes-Meyer Hornets betreten hatten. Nach all den Monaten und den neuen Eindrücken war es ihm immer noch ein Rätsel und schleierhaft, wie er hier sitzen konnte, ohne Angst, dass Riko ihn noch vor dem Spiel bestrafen würde. Ohne Schmerzen und im Bewusstsein, dass er durch seinen Kapitän keine Schmerzen erleiden würde, selbst wenn er auf dem Spielfeld versagte. Er war aufgeregt, aber ihm war nicht übel. Er war konzentriert, hatte sich aber nicht aus seinem Körper gelöst wie sie oft vorher. Jean atmete tief durch und kehrte wieder zurück zu seinem Team. Valentine grinste ihn an und er hob die rechte Augenbraue. Seitdem Knox ihm erzählt hatte, dass es ausgerechnet sie und Logan gewesen waren, die ihn im Keller gefunden hatten, hatte sie anscheinend ein besonderes Augenmerk auf ihn gerichtet und nutzte die bisherigen Mittagspausen für einen kurzen Smalltalk. Am Anfang war es Jean befremdlich vorgekommen, mittlerweile wusste er sogar, was er auf ihre Fragen antworten sollte. Dass sie den Keller niemals zum Thema zwischen ihnen gemacht hatte, darum war Jean wirklich froh. „Alles gut, Moreau?“, fragte sie und Jean nickte. Es war tatsächlich alles gut und das war erstaunlich. „Dann hoch mit deinem Hintern, wir gehen gleich ins Stadion.“ Er schnaubte, erhob sich aber dennoch und griff zu seinem Helm und seinem Schläger. Er war Teil der Startaufstellung und würde mit Knox, Alvarez, Ajeet, Fahima und Valentine das erste Viertel spielen. Es war die geringste Spielzeit, die er jemals auf dem Feld gestanden hatte, aber ihr Coach hatte keinem seiner vorsichtigen Versuche, ihm mitzuteilen, dass er eine größere Ausdauer hatte, mehr als ein Nicken und ein Lächeln geschenkt. Es ist dein erstes Mal mit den Trojans, Moreau. Ich möchte dich nicht überfordern. Das und nichts Anderes hatte Rhemann gesagt und Jean hatte zähneknirschend akzeptiert, was er anscheinend nicht ändern konnte. Er lief mit seiner Mannschaft ins Stadion der Hornets und war überrascht, wie sehr ihn seine Aufregung im Griff hatte, jetzt, wo er nichts hatte, was ihn dazu zwang, mit Gewalt bei Bewusstsein zu bleiben. Williams‘ Schläge waren zwar noch nicht abgeheilt, aber sie schränkten ihn nicht wesentlich ein. Im Vergleich Rikos Gewalt überhaupt nicht. Der Geruch des Stadions war anders, als er ihn in Erinnerung hatte, die Größe sowieso. War es beim letzten Mal genauso weitläufig gewesen? Er sah auf die Zuschauerränge und die Menschen, die dort applaudierten und Namen riefen. Die auch seinen Namen riefen. Hatten sie das immer schon getan? Das Aufwärmen, die Ansprachen von ihrem Coach und seinem Kapitän zogen an Jean vorbei wie nichts. Wo er früher Angst vor dem Anpfiff und Schlechtleistungen gehabt hatte, konnte er es nun nicht erwarten, seine Bestleistung zu zeigen. Einmal noch. Dabei hatte er nur zwanzig Minuten dafür um sein Erbe zu zeigen und zu zeigen, dass er gut war. Als es schlussendlich soweit war, konzentrierte sich Jean vollständig auf die gegnerische Mannschaft und auf die Spielzüge, die sie im Training wieder und wieder durchgegangen waren. Er war eins mit seinem Schläger und ebenso eins mit der Mannschaft, die ihn umgab, mit dem Stadion und seinen Wänden und dem Ball. Er war nicht mehr Jean Moreau, er war Exy. Seine Bewegungen und Reaktionen waren instinktiv. Er blockte, passte, bewegte sich, als wäre er fremdgesteuert durch die Dynamik ihres Sports. Er spielte ohne dass es ihm schlecht ging, ohne Angst und Behinderung durch Verletzungen, er spielte in dem Wissen, dass Riko tot war und er lebte. Riko hatte versucht, ihn umzubringen und ihn zu verstümmeln und trotzdem stand er hier, inmitten einer Mannschaft, die das Gegenteil war von allem, was er kannte. Er spielte und er war erfolgreich in dem, was er tat. Wie viele Tore Knox und Fahima machten, konnte er nicht sagen, nur, dass Alvarez, Ajeet und er in perfekter Harmonie keinen einzigen Striker erfolgreich sein ließen. Sie ließen keinen Hornet durch, passten die Bälle zurück, an die Wände, nach vorne, weiter nach vorne, immer und immer weiter. Jean spürte das Lächeln auf seinen Lippen. Das war es, wofür es sich lohnte. Das war es, was er sich immer gewünscht hatte, was durch seine Adern floss wie Blut. Das Spiel kam für einen Moment zum Erliegen und er merkte erst dann, als Alvarez ihn anstieß, dass seine und ihre Nummern aufgerufen wurden zum Wechseln. Wild starrte er sie an und grinste zurück. „Komm, Großer. Pause für uns!“, lockte sie ihn von dem Spielfeld auf die Mannschaftsbank hinter der Plexiglasscheibe und Jean folgte ihr widerwillig, nickte Logan und Richard zu, die sie ersetzten. Das war zu wenig gewesen. Er wollte noch mehr. Er wollte weiterhin diesem Rausch erlegen sein, für immer, wenn es sein musste. Er wollte nicht, dass es endete. Nicht hier, nicht schon so bald, nicht auf diese Art und Weise. Coach Rhemann erwartete sie und schlug Alvarez auf den Rücken. Ihm selbst legte er die Hand weitaus vorsichtiger auf die Schulter. Wohlwollend nickte er ihnen zu, während sie ihre Helme abnahmen und auf die Bank legten. „Sehr gute Leistung, Alvarez und Moreau. Ich bin stolz auf euch.“ Blinzelnd blieb Jean stehen, als das Lob seines Trainers seine bewussten Gedanken erreichte und er ein paar Sekunden brauchte um wirklich zu verstehen, dass Rhemann ihn gelobt hatte. Für ein Spiel. Nach einer Spielleistung von gerade mal zwanzig Minuten. Jean schluckte und Rhemann starrte ihn mit gerunzelter Stirn an. „Alles klar, Moreau, oder bekommst du gerade einen Herzinfarkt?“, fragte er und Jean schüttelte den Kopf. „Gut, dann ab mit dir auf die Bank, da warten Jacke, Handtuch und was zu trinken auf dich.“ Immer noch ungläubig starrte Jean an ihm vorbei in Richtung Bank und sah, wie Alvarez neben sich auf den schwarzen Plastiksitz schlug. „Los, hinsetzen, du französisches Wunderkind und Mauer von einem Mann. Deine Muskeln sind nicht durchsichtig und ich will was sehen“, grollte sie und verwundert kam er zu ihr, ließ sich vorsichtig nieder. Sie legte ihm seine Jacke über die Schultern und reichte ihm sein Wasser wie auch sein Handtuch. Einen Moment lang wollte Jean ablehnen. In Evermore hätte er zum jetzigen Zeitpunkt niemals genug für Wasser geleistet. Doch hier… hier zählte auch diese Leistung. Langsam nahm er sie an und ebenso langsam trank er die Flasche leer, wertschätzte jeden einzelnen Schluck, den er nehmen konnte, weil es nicht verboten war. „Wir waren der Burner!“, grinste Alvarez und hielt ihm ihre Faust hin. Nur weil Jean im Training gesehen hatte, wie man darauf reagierte, wusste er auch, was er zu tun hatte und er stieß ihre vorsichtig mit seiner an. Es war besser, als nicht zu reagieren, das wusste er von Ajeets gemurmelten Erzählungen zwischen ihren Vorlesungen. „Es gibt Verbesserungspotenzial“, erwiderte Jean und Alvarez schnaubte laut. „Verbesserungspotenzial bei fünf zu null? Moreau, hier geht es nicht darum, die Herzen der Gegenspieler zu brechen und sie emotional zu vernichten!“ „Aber sicher.“ „Spielphilosophie, Mr. Gewitterwolke, Spielphilosophie.“ Das war ihr Stichwort, immer, wenn sie ihn darüber belehrte, dass seine Art zu denken mehr den Ravens als den Trojans entsprach und Jean grollte. „Es geht um die Meisterschaft.“ „Es geht um Sportsgeist, nicht Sportspoltergeist.“ Er verdrehte die Augen anhand ihres Wortspiels und lehnte sich zurück, beobachtete gebannt das Zusammenspiel der Mannschaft, umschlossen von der tosenden Begeisterung der Zuschauer. Jean staunte. Früher hatte er das nie so wahrgenommen. Es dauerte nicht lange, da lehnte sich Alvarez erneut vor. „Minyard ist also das Monster“, sagte sie und überrascht sah Jean zu ihr. Woher kam das? „Ja“, erwiderte er vorsichtig und Alvarez runzelte die Stirn. „Also schreibt er dir diese Zahlen, auf die du nie antwortest.“ Jean schluckte, seine Kehle plötzlich trocken. „Was?“ „Als ich dir die Apps auf dein Handy geladen habe, war ein Chatfenster offen. Mit Monster I, also anscheinend Minyard. Ein Countdown, pro Tag eine Zahl, die Zahlen absteigend.“ Es war Wut, die Jeans euphorische Freude über das Spiel so schnell ablöste, dass er alleine schon aus dem Grund wütend auf Alvarez war. Er wollte nicht wütend sein, er wollte keine negativen Emotionen. Nicht hier, nicht jetzt. „Hat Day mit dir gesprochen?“, zischte er trotzdem oder gerade deswegen so abfällig, dass Alvarez im ersten Moment zusammenzuckte, bevor sie sich fing. „Nein, wieso…“ „Dann lass es, Alvarez. Das ist meine Sache“, grollte Jean mit panisch schlagendem Herzen. Sie wusste von dem Countdown. Sie wusste es. Oh Gott. Wenn sie es wusste und wenn sie Day fragte… doch sie hatte zu Day keinen Kontakt und der andere Junge hatte sicherlich noch deutlich seine Drohung vor Augen. Seine Karriere war ihm wichtiger. Ein Teil von Jean hatte panische Angst, dass sie den Hintergrund erfahren würde. Ein anderer Teil aber, derjenige, der frisch vom Spielfeld gekommen war und zum ersten Mal erlebt hatte, was es bedeutete, mit einer Mannschaft zu spielen, die kein Interesse an seinem Leid hatte, gierte danach, ihr zu sagen, was dahintersteckte, in dem Wissen, dass sie ihn aufhalten würde. Andrew und ihn. „Jean…“, setzte sie noch einmal an und er sah ihr durchdringend in die hellbraunen Augen. „Lass es Sara, es ist nicht deine Angelegenheit“, sagte er mit einer Ruhe, die er nicht fühlte. Ganz und gar nicht. Sie lenkte schließlich ein. „Wie du willst, Mr. Tall, Dark und Creepy.“ ~~**~~ Es regnete. Nach knapp zwei Monaten regnete es Hunde und Katzen und Jean verbrachte den Morgen nach dem Sieg der Trojans gegen die Hornets am Fenster des Apartments. Mit dem Finger zeichnete er die dicken Regentropfen nach, die an der Scheibe hinunterliefen und genoss die leichte Kühle, die ihm entgegenstrahlte. Knox hatte sich nach dem Aufwachen mit einem verächtlichen Blick auf das schlechte Wetter die Decke über den Kopf gezogen und war anscheinend wieder eingeschlafen. Zumindest bewegte sich der Deckenberg nicht und Jean vermeinte, regelmäßige Atemgeräusche zu hören. So trank er in Ruhe seinen Kaffee und sah hinaus auf den beinahe menschenleeren Campus. Wie es schien, war Regen das zuverlässigste Mittel, um die Studenten zu vertreiben und eine surreale Stille zu hinterlassen. Jean, der seit seiner Ankunft hier in Amerika niemals alleine gewesen war, verursachte das eine Gänsehaut. Früher, ganz früher, hätte er nichts dagegen gehabt. Früher hätte er sich mit einem Buch in sein Zimmer zurückgezogen und gelesen. Nun aber brauchte er die Präsenz eines Menschen, und war es auch nur ein schlafender Deckenberg, um sich sicher zu fühlen. Nun konnte er noch nicht einmal in den Regen hinaustreten, weil er Wasser auf seinem Kopf nur dann ertrug, wenn Knox ihm die Haare wusch. Seine durch die Brüche krummen Finger krallten sich in das unnachgiebige Glas der Scheibe. So vieles war zerstört, was ihn ausgemacht hatte und hatte etwas zurückgelassen, dessen Jean sich nicht sicher war. In Evermore hatte er funktioniert und reagiert, doch bei den Foxes und hier musste er agieren und das überforderte ihn. Mit Gewalt sahen sie das in ihm, was er schon lange aufgegeben hatte. Oder vielmehr glaubte, aufgegeben zu haben. Sie alle, Renee, Josten, Minyard, Knox, die Trojans im Gesamten, zogen und zerrten an seiner menschlichen Persönlichkeit um sie ans Licht zu bringen. Sie provozierten am laufenden Band Emotionen und Reaktionen, die Jean nicht für möglich gehalten hatte. In einem Bruchteil der Zeit, die Riko gebraucht hatte, um ihm seine Menschlichkeit abzuerkennen, hatte Knox sie ihm wiedergegeben. Und Jean hatte ein nicht unerhebliches Problem. Der Deal mit Andrew war eine Sicherheit gewesen, als er hierhergekommen war. Nicht noch einmal hätte er sich jahrelang von einem minderwertigkeitskomplexgeplagten Sadisten foltern lassen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ihn Minyard schon im Haus der Krankenschwester umbringen können. Das blonde Monster hatte das anders gesehen und seine Gegenleistung für den Handel in den Raum gestellt. Zwei Monate. Was auch immer Minyard daraus bekam. Jean hatte eingewilligt und nun saß er hier. Nach zwei Monaten. Nicht im Ansatz so unglücklich, wie er gedacht hatte. Auf seinem Schoß lag sein Buch mit ersten Malen, das schon gut voll war. Auf seinem Bett lag das Kuscheltier, das Knox ihm geschenkt hatte und starrte dessen schlafende Form missbilligend an. Erste Male. Das erste Spiel ohne Schmerzen. Das erste Kuscheltier, seit er nach Amerika gekommen war. Das erste Eis seit zehn Jahren. Der erste Strand in Amerika. Der erste Kapitän, der ihn fragte, was er wollte und dem die Antwort wichtig schien. Der erste Trainer, der ihn nicht strafte. Das erste Handy, das er nicht verstecken musste. Die erste Nacht ohne Alpträume. Das erste Mal essen, was er wollte. Das erste Mal leben wollen. Genau das war sein Problem. Gestern, als er im Stadion gesessen hatte, hatte er einen solchen Drang danach verspürt, die nächsten Tage nicht die letzten seines Lebens sein zu lassen, dass es regelrecht wehgetan hatte. Er hatte seine ewige Angst, verraten und hintergangen zu werden, für einen Moment lang in den Hintergrund geschoben und sich erlaubt, nur das, nur diesem unbändigen Willen zu leben zu spüren. Das bereute er jetzt. Jean seufzte leise und sah auf sein Buch herab, in dem er alles notiert hatte. Er nahm den Stift zur Hand und hielt inne, als sein Handy zuverlässig pingte. Renees Ton war es nicht, Minyards auch nicht. Die Gruppen hatte er schon lange auf stumm gestellt um nicht verrückt zu werden. Stirnrunzelnd beugte sich Jean nach vorne und haschte nach dem Telefon. Keine drei Sekunden später hob er die Augenbrauen und starrte den Deckenberg düster an. ~Kaffeeee~, lautete Knox‘ Nachricht, die dieser anscheinend getippt hatte, während er keine drei Meter von ihm lag und perfekt selbst in die Küche gehen konnte. Oder es ihm schlicht sagen. Schließlich befanden sie sich im gleichen Raum. Schließlich sprach Knox auch sonst bei jeder Gelegenheit mit ihm. Irritiert legte Jean den Kopf schief, insbesondere, als Knox einen weinerlichen Smiley hinterherschickte. Er grollte leise. „Du bist wach.“ ~Nein~, bekam er die Antwort als Nachricht und starrte ungläubig auf sein Handy. „Knox…“ ~Kaffeeee.~ Jean fühlte sich in einer Zeitschleife gefangen. „Du hast einen Mund zum Sprechen.“ ~Es regnet.~ „Das hindert dich am Sprechen?“ ~Ich bin eine Wehrsonne!~ Jean hatte keine Ahnung, was eine Wehrsonne war. Und selbst wenn er eine Ahnung hätte, dann würde das sicherlich nicht die Faulheit seines Kapitäns erklären. ~Kaffeeee…~ Umrahmt von traurigen Smileys kam ihm der Begriff entgegengeflogen und Jean musste sich wirklich beherrschen, Knox nicht die Decke vom Körper zu ziehen. Lieber suchte er da auf seinem Handy nach einem entsprechenden Symbol und schickte es seinem Kapitän. Mit einem bösartigen Zug um die Mundwinkel starrte er auf den Deckenberg, der hin- und herschaukelte. ~Nein, nicht so einen!~ Jean rollte mit den Augen und dieses Mal suchte er nach einem Bild, das er Knox schicken konnte. ~Neeein.~ Ajeet hatte ihm erklärt, was ein Gif war. Also suchte Jean sich ein entsprechendes heraus und schickte es dem unzufrieden schunkelnden Berg vor sich. ~Du nimmst mich nicht ernst!~ „Ach.“ Eigentlich hatte Jean es nur denken wollen, aber uneigentlich hatte er sich nicht wirklich viel Mühe gemacht, den ironisch-spöttischen Laut über seine Lippen zu verbergen. Siehe da, es kam eine Hand aus der Festung und streckte sich, das begriff Jean nun, in einer fordernden Geste nach oben. Auf der Suche nach Kaffee, natürlich. Als wenn er dem blonden Jungen diesen Wunsch erfüllen würde. Schweigend sah Jean sich in ihrem Zimmer um und blieb an Knox‘ Schreibtisch hängen, auf dem der Ball der Konzentration – so hatte sein Kapitän es ihm erklärt – lag, den er immer knetete, wenn er sich konzentrieren musste. Perfekt, befand Jean und legte diesen Knox in die Hand. Und fing ihn ein paar Augenblicke später wieder auf, als die Hand begriffen hatte, dass das kein Kaffee war und ihn liederlich ungeschickt in seine Richtung warf. Jean fing ihn kopfschüttelnd auf, während Knox die Decke mit einem nicht ganz menschlichen Laut zurückschlug und sich wie eine dieser Mumien in den alten Filmen aufsetzte. Jean blinzelte. Der blonde Junge sah eher aus wie Frankenstein mit seinen wild abstehenden Haaren und seinem von den Stofffalten zerknautschen Gesicht. Anklagend starrte er Jean ins Gesicht und verschränkte seine Arme. Er konnte einfach nicht anders. Der Reiz war da und er hatte wahrlich nichts mehr zu verlieren. Jean hob die Augenbraue, während es um seine Mundwinkel herum zuckte. „Oh, du bist wach, Knox“, sagte er mit einem Hauch unverhohlener, belustigter Ironie. „Möchtest du einen Kaffee?“, schob er neutral hinterher und die empörte Verzweiflung in Knox erreichte astronomische Höhen. „Jean…du…du…DU“, jaulte Knox auf und Jean verschränkte die Arme. Ein Lächeln drohte, seine Mundwinkel nach oben zu ziehen und er wandte sich ab, bevor es sichtbar werden konnte. Kommentarlos ging er in die Küche und füllte für den anderen Jungen eine große Tasse Kaffee ab, brachte sie ihm ans Bett. Vorsichtig übergab Jean den Becher den gierigen Händen und versuchte sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal mit einer solchen Dankbarkeit angesehen worden war. Jean wusste es nicht und so brauchte er einen Moment um zu verarbeiten, was Knox so freigiebig schenkte. Verlegen stand er vor seinem Kapitän, dessen Grinsen wohl wirklich der Sonne Konkurrenz machen wollte. „Kaffee ans Bett“, schwelgte Knox zwischen zwei Schlucken in dieser einfachen Handlung und platzierte sich so, dass er mit dem Rücken an der Wand lehnen konnte. Er zog seine Beine zu sich und stellte die Tasse auf seine Knie. „Du hast die Nacht durchgeschlafen“, merkte er schließlich an und Jean runzelte fragend die Stirn. Knox deutete auf seine Decke und er begriff. Nein, er hatte seinen Zimmernachbarn nicht aufgeweckt, weil er gar nicht geschlafen hatte. Nicht aus Angst oder schlechten Erinnerungen, sondern weil er den Nachhall des gestrigen Tages noch hatte genießen wollen. Er hatte wach bleiben und über das Spiel nachdenken wollen. Er hatte Knox beim Schlafen zusehen und zuhören wollen, weil es ihn beruhigte. Jean brummte, weil er eine Lüge nicht über die Lippen brachte und überließ es Knox, sich daraus einen Reim zu machen. Einvernehmliches Schweigen trat ein und Jean kehrte zurück zu seinem Platz am Fenster. Sein Buch mit dem angefangenen Eintrag platzierte er auf seinem Schreibtisch und sah hinaus in den Regen. „Jean?“ „Hmm.“ „Ich freue mich, dass du deine anfängliche Angst vor mir abgelegt hast.“ Überrascht fuhr sein Blick zu Knox, dessen Worte mit einem Mal zu ernst waren, als dass Jean sie wirklich hören wollte. Insbesondere wollte er nicht das sanfte Lächeln sehen, weil es ihn schmerzte. „Meine anfängliche Angst“, echote er und der blonde Junge interpretierte es fälschlicherweise als Frage. „Am Anfang hast du gedacht, dass ich dir genauso wehtun würde wie Riko, oder?“, fragte Knox so vorsichtig, dass Jean ihn am Liebsten geschüttelt hätte, weil es seiner Schwäche eine Stimme gab, die ihm das ganze Elend, was ihn umgab, nur umso bewusster machte. Es machte ihn gläsern und wund. Jean brachte es nicht über sich, darauf zu antworten, also nickte er knapp, wünschte sich, dass es Knox dabei belassen würde. Natürlich hatte er nicht soviel Glück. „Und seit geraumer Zeit stelle ich fest, dass mein neuer Zimmernachbar durchaus in der Lage ist, Späße auf meine Kosten zu treiben und ich finde das großartig.“ Knox grinste und Jean Augen weiteten sich überrascht, auch wenn es ihn nicht mehr überraschen sollte. Wirklich nicht. „Wer sagt, dass das ein Spaß war?“, gab er entsprechend ernst zurück und legte den Kopf schief, musterte Knox so eindringlich wie er es ohne das Gesicht zu verziehen konnte. Sein Kapitän lachte wieder und widmete sich seinem Kaffee. „Du bist ein sehr witziger Mensch.“ Jean bezeichnete sich wirklich als viel, aber nicht als witzig. „Hast du gestern etwas auf den Kopf bekommen? Da war ein Check, der nicht ganz sauber war“, erwiderte er und verzog den Mund. Er hatte nicht richtig sehen können, wie Knox auf den Boden aufgekommen war. Vielsagend hob eben jener eine Augenbrauen und Jean begriff verspätet. Er schnaubte und suchte sich etwas Anderes zum Anschauen. Sein Blick blieb auf Eva hängen, deren Missbilligung ihm vertrauter war. „Machst du dir etwa Sorgen um mich?“, kam die verspätete Frage, die ihm sich zuerst gar nicht erschließen wollte. Dass er sich um seinen Kapitän Sorgen machte, war so abstrakt, dass Jean die Worte innerlich wiederholte, bevor er sich klar wurde, was das bedeutete. Sich um jemanden Sorgen zu machen war etwas grundlegend Anderes als sich wegen jemandem Sorgen zu machen. Letzteres kannte er schon, Ersteres… auch. Um Renee und Abby. Um Knox? „Sorgen um deine Menschenkenntnis, wenn du mich als witzig bezeichnest, ja“, gab Jean zurück, um sich vor einer Antwort zu drücken. Er erhob sich und ging in die Küche, um sich seine eigene Tasse wieder aufzufüllen und ins Schlafzimmer zurück zu kehren, wo sich Knox die Decke bis unter das Kinn hochgezogen hatte. Jean hob die Augenbraue. „Ich nehme an, das Frühstück soll noch warten?“ Knox brummte. „Was gibt es denn?“ „Rührei mit Toast oder Omelette mit Paprika.“ „Nehme ich.“ „Beides?“ „Ja.“ „Jetzt?“ Knox bemühte sich um das, was, wie Jean gelernt hatte, puppy dog eyes genannt wurde. „Ja.“ Jean hatte erst vor kurzem damit begonnen, sich für die Male, die Knox ihm Frühstück gemacht hatte zu revangieren. Zunächst vorsichtig, dann mutiger, hatte er die Dinge nachgekocht und gebraten, die Knox gemacht hatte und war nun durchaus in der Lage, Rühreier und Omeletts selbst zuzubereiten. Somit hatte auch er seinen Beitrag zu ihrer Wohngemeinschaft dazu tun können. Er nickte und ging in die Küche zurück, suchte sich die Zutaten für beides heraus. Er machte den Herd an und es rumorte im Schlafzimmer. Wenig später kam Knox in Shirt, kurzer Hose und dicken Socken in die Küche und ließ Spülwasser für das Geschirr des gestrigen Tages ein. „Was machst du eigentlich an Thanksgiving?“, fragte er aus heiterem Himmel und Jean hielt mit der Schüssel der geschlagenen Eier inne. In Vorbereitung auf seine Zeit bei den Trojans hatte Renee mit ihm die amerikanischen Feiertage geübt, da sie in Evermore niemals eine Rolle gespielt hatten. Thanksgiving war im November. Vorsichtig sah er zu dem blonden Jungen, der seinen Blick erwartungsvoll erwiderte. Jean zuckte mit den Schultern und hoffte, dass das Thema damit durch wäre. Natürlich war es das nicht. „Wir haben da mehrere Tage frei und ich werde zu meinen Eltern fahren.“ So weit, so uninteressant für ihn. Er würde dann schon nicht mehr sein, auch wenn alleine der Gedanke an die kommende Woche Jean mittlerweile Übelkeit vermittelte. Er wusste, welche Frage gleich kommen würde. Ob er die Tage mit den Foxes, im Speziellen mit Renee, verbringen würde. Jean müsste nur nicken, eine kleine, stumme Lüge und schon würde Knox Ruhe geben. „Möchtest du mitkommen?“ Jean entglitt die Schüssel mit den Eiern und fiel in die Pfanne. Schade eigentlich, denn es begrenzte den Schaden und nahm ihm die Ablenkung, sich um das Saubermachen kümmern zu müssen. So war er gezwungen, eine Antwort auf eine Frage zu geben, die er unter anderen Umständen sicherlich irgendwann mit ja beantwortet hätte. Vielleicht, wenn er den Mut dazu gefunden hätte, seinem Kapitän zu seiner Familie zu folgen. Eine richtige Familie. Jean schluckte und fischte mit eisernem Blick auf die Pfanne die Schale heraus und lauschte seinem hochschnellenden Puls. Natürlich interpretierte Knox das anders. „Sorry, ich wollte dich damit nicht überfallen. Du musst natürlich nicht, wenn du nicht möchtest, das ist ganz klar. Ich dachte nur, weil dir die Bilder der Farm so gut gefallen haben, als ich sie dir gezeigt habe und du so viel Interesse an den Tieren gehabt hast, könnte ich euch einander vorstellen. Also dich den Tieren und meinen Eltern und Geschwistern. Die Zwillinge sind Fans von dir und würden sich freuen, dich kennen zu lernen.“ Jean starrte auf die Schüssel in seinen Händen und wünschte sich, dass Knox aufhören würde zu reden. Wirklich. Er räusperte sich. „Danke, aber ich…ich habe schon etwas vor…“, presste er rau hervor und mied Knox‘ Blick. Wenn er seinem Kapitän jetzt in die Augen sah, dann wüsste er nicht, ob er nicht selbst Minyards und seinen Plan ausplaudern würde, damit Knox ihn verhinderte. „Oh. Okay. Alles gut, ich dachte mir nur, vielleicht hast du ja noch nichts.“ Jean schüttelte den Kopf. „Nein. Ich…ich habe schon.“ Er atmete tief durch, versuchte, Luft in seine Lungen zu ziehen. Er musste seinen Kapitän ablenken. Mit irgendetwas. Fieberhaft überlegte Jean. „Geh doch schonmal duschen. Ich mache in der Zeit das Frühstück fertig“, wich er aus, lenkte ab, tat alles, um unbeschwert zu wirken. Knox verharrte unendlich lange Sekunden in seiner Gegenwart, bevor er ihn in der Küche alleine ließ. Jean hatte wartete angespannt, bis sich die Badtür hinter Knox schloss, bis er leise fluchend seine Finger in die Kante der Anrichte krallte. Natürlich hatte er gespürt, wie schwer die blauen Augen auf ihm gelegen hatten. So als ob der andere Junge seine Lügen sofort durchschaut hatte. Und wieder wünschte Jean sich, dass es so wäre. ~~**~~ Sara starrte auf ihr Handy, die Lippen unwirsch verzogen. Laila war im Fitnessstudio und die Stille ihres Apartments brachte sie auf dumme Gedanken. Nicht, dass es die Schuld ihrer Freundin gewesen wäre, ganz und gar nicht. Moreau war schuld, ganz klar. Der ach so zurückhaltende und ewig auf Eierschalen laufende, französische Musterknabe wurde bei der Erwähnung des Countdowns, den er mit Minyard am Laufen hatte, schlagartig wütend und ablehnend und brachte Kevin Day ins Spiel, seinen Ex-Ravenpartner, der anscheinend auch etwas mit der Sache zu tun hatte, obwohl die Beiden sich offensichtlich hassten. Es ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, schon seit gestern nicht. Dumm für Moreau, dass sie sich genau an die Zahl erinnerte, die sie auf dem Dach gesehen hatte und ausgerechnet hatte, wann dieser ominöse Countdown endete, nämlich in der nächsten Woche. Dienstag, um genau zu sein. Es konnte nichts Gutes bedeuten, denn Dienstage waren Scheißtage, an denen nie etwas Gutes passierte. Laila und Jer nannten sie deswegen abergläubisch, aber bisher hatte es sich immer bestätigt. Immer. Also musste sie herausfinden, was es mit diesem Moreau erzürnenden Countdown auf sich hatte und wer war da besser als Kevin Day, der begabteste Exyspieler ihrer Liga selbst? Sie hatte nur ein Problem: sie hatte seine Nummer nicht. Nichts, was ihr Lieblingskontakt der Foxes nicht richten konnte. ~Hey, Lieblingskapitän, wie geht’s dir? Seid ihr gut nach Hause gekommen?~, schrieb sie Dan, die keine Minute brauchte, um ihr zu antworten. ~Hey Lieblingsvize, hat alles bestens funktioniert, wir haben glaube ich alle wieder mitgenommen. Zumindest fehlt mir keiner in dem Flohzirkus hier. Und bei euch? Gratulation zu eurem Spiel gestern. Krasse Leistung, ihr habt die Hornets zerrissen!~ Sara grinste. ~Danke danke, das war aber auch ein wunderschönes Spiel. Eures gegen die Tornados war ebenso grandios. Tolle Leistung, Kapitän!~ Dan schenkte ihr zwei Reihen an stolz grinsender Smileys. ~Danke danke!~ ~Ich freue mich schon, auf unser Spiel, dieses Mal in allem Ernst.~ ~Das kann ich auch kaum erwarten!~ ~Sag mal, darf ich dich um einen Gefallen bitten?~ ~Klar, worum geht es denn?~ ~Du hast doch sicherlich die Nummer von Kevin, oder?~ ~Klar. Willst du sie haben?~ ~Wenn das ginge?~ ~Ich frag ihn und leite dir dann den Kontakt weiter.~ ~Du bist die Beste, Dan!~ Es dauerte nicht lang, bis Kevins Kontakt aufpingte und Sara entschlossen ihr Handy anstarrte. Sie vertraute auf ihr Bauchgefühl. Immer. Und bei der Sache zwischen Moreau und Minyard war etwas komisch, das sagte ihr Instinkt, auch wenn sie nur eine Sache genau benennen konnte: Jeans abrupte und seltsame Wut, als sie ihn gestern auf den Countdown aufmerksam gemacht hatte. Um das Ganze ruhen zu lassen, war sie zu stur, dafür war das Bauchgefühl zu schlecht. Sie wählte Kevins Nummer. „Ja bitte?“ Beinahe hatte Sara vergessen, was für ein arrogantes Arsch Kevin Day sein konnte, wenn er sich nicht gerade mit Jer unterhielt und vor Bewunderung zerfloss. Niemand von ihnen war anscheinend in seinen Augen würdig und gut genug, Exy zu spielen. Niemand außer seiner perfekten Nationalmannschaft, Neil Josten und Jer. Sara schnaubte innerlich. Kevin Day, der eigentliche König ihrer Klasse. Die Diva unter den Exyspielern. „Alvarez hier, hallo Kevin.“ „Was willst du?“ Sara rollte mit den Augen. Sie war in seinen Augen definitiv unwürdig. „Dir auch einen schönen Tag“, erwiderte sie mit einem Hauch an Ironie. Andererseits machte er ihr das Gespräch so auch einfacher, musste sie sich ihm gegenüber nicht mit unnötigem Smalltalk und langweiligen Nettigkeiten aufhalten. „Was ist nächste Woche Dienstag?“, fragte sie ohne Umschweife und er brummte verwirrt. „Was soll dann sein?“, stellte er die unfreundliche Gegenfrage und Sara schnaubte. „Das Ende des Countdowns zwischen Moreau und Minyard.“ Wieder herrschte einen Moment Schweigen. „Ich weiß nichts von einem Countdown.“ Sara grollte. Bullshit. Er log, das hörte sie selbst über das Telefon hinweg. Seine Stimme war für eine glaubwürdige Wahrheit viel zu gepresst. „Du bist dir ganz sicher?“ „Was willst du, Alvarez?“, wechselte sein Ton von arrogant auf abweisend und sie schnaubte. „Ich möchte wissen, was Dienstag passiert.“ „Dann frag Jean.“ „Habe ich.“ „Und?“ „Hat mich gefragt, ob du gequatscht hättest.“ Das Schweigen wurde unangenehm zwischen ihnen und für Sekunden hatte Sara das Gefühl, dass Kevin einfach auflegen würde. Das tat er nicht. „Du kannst ihm sagen, dass ich nicht darüber sprechen werde und ich will nicht, dass du mich noch einmal anrufst, ist das klar?“ Sara blinzelte und kam noch nicht einmal dazu, etwas zu erwidern, als Kevin bereits aufgelegt hatte. Was zum Teufel?, war ihr erster Gedanke. Arschloch!, der zweite. ~~**~~ Kevin starrte sekundenlang auf sein Handy, bevor er es wütend auf sein Bett warf. „Scheiße!“, fluchte er laut und vergrub seine Hände in den Haaren, zog an den Strähnen, bis ihm seine Kopfhaut wehtat. Wie verbrannt ließ er sie los, als er sich daran erinnerte, wie Jean ausgesehen hatte, als Renee ihn mehr tot als lebendig in Abbys Haus gebracht hatte. Die kahlen, blutigen Stellen an seinem Kopf, wo Riko ihm Haare ausgerissen hatte, waren jetzt noch immer wiederkehrender Bestandteil in seinen Alpträumen. Wie schon so oft zuvor verspottete der Schmerz, den er erfahren oder den er sich selbst zugefügt hatte, eben jenen, der Jean immer und immer wieder aufgezwungen worden war. Jean, der so unglaublich stark war, im Gegensatz zu ihm. Kevin war schon immer feige gewesen, tief im Grunde seines Herzens. Er hatte Angst zu versagen, zu enttäuschen, zu verlieren. Er hatte Angst, das Erbe seiner Mutter zu beschmutzen und seine Aufgabe nicht zu erfüllen, die ihm mit in die Wiege gelegt worden war. So hatte er alles daran gesetzt, dass das nicht passierte. Doch das, was damit einhergegangen war, hatte er nicht gewollt und er glaubte auch nicht, dass seine Mutter nur den Hauch einer Ahnung davon gehabt hatte, was für ein Sadist derjenige war, mit dem sie diesen Sport erfunden hatte. Er hatte auch jetzt noch, nachdem der Mann zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden war, Angst, seinen Namen auszusprechen, weil es ihm in Evermore so beigebracht worden war. Schon bei seiner ersten Ankunft war ihm das klargemacht worden. Ebenso wie ihm gesagt worden war, wie wertvoll er für den Sport und die Familie Moriyama war. Eine Investition, dazu aufgezogen, Teil der Nationalmannschaft zu sein. Die Nummer zwei hinter Riko zu sein. Dass das nicht gut gehen würde, war ihm spätestens dann klargeworden, als Riko ihm aus lauter Eifersucht seine Schlaghand zertrümmert hatte. Das zufriedene Lächeln, mit dem sein damaliger Kapitän ihm mitgeteilt habe, dass er einen ausgezeichneten Assistenzcoach abgeben würde, hatte sich in Kevins Erinnerungen gebrannt. Wie so viele Grausamkeiten. Kevin hatte Alpträume von ihnen und in fast jedem dieser Träume war Jean ein fester Bestandteil, der wegen ihm unter Rikos Sadismus litt. Auch wegen seiner Unbedarftheit. Kevin hatte aus seiner Bewunderung für Jeremy keinen Hehl gemacht und Riko hatte Jean dafür vergewaltigen lassen. Kevin hatte sich in dem Moment geschworen, nie wieder Interesse an Männern zu zeigen. Nie wieder. Dieser Schwur galt einzig und alleine Jean und war so nutzlos, wie er fälschlicherweise beruhigend gewesen war. Immer wieder hatte sich Kevin eingeredet, dass er damit eine Gegenleistung für all das Leid erbrachte, das Jean zu erdulden hatte. Insbesondere, nachdem er ohne Jean aus Evermore geflohen war, hatte er sich das wieder und wieder gesagt. Nachdem er in der Lage gewesen war, an etwas Anderes zu denken als an seine Hand und dass er schlussendlich wieder spielen können würde. Er war krank vor Sorge gewesen – um sich selbst. Als er sich aus dem Loch wieder hochgezogen hatte, war er krank vor Angst gewesen – vor den Ravens. Und mit der Zeit und Abstand hatte das, was Riko ihm vorgelebt hatte, nämlich, dass Jean nicht seinen Status und seinen Wert besaß, wie Gift Einzug in seine Gedanken gehalten, wie ein Schutzschild, der ihn vor seinem schlechten Gewissen bewahren sollte, das ihn mit Sicherheit auffressen würde. Selbst, als Renee Jean zu ihnen geholt hatte, hatte Kevin sich dem Ergebnis seines Nichthandelns nicht stellen können und alle Anderen vorgeschoben. Allen voran Renee und Neil, aber auch Andrew. Wieder war jemand da gewesen, der ihm seine Verantwortung abgenommen hatte. Wieder hatte er Jean nicht den Wert zuerkannt, den der andere Junge ohne jede Frage besaß. Wieder hatte er versucht, seine Schuld möglichst weit von sich zu schieben. Zu Jeremy, von dem er wusste, dass er die Antithese zu Riko war. Zu Jeremy, der weit weg war, weit genug, dass Kevin Jean umgehen könnte. Sonnig genug, um damit sein schlechtes Gewissen zu beruhigen und sich einzureden, dass es Jean schlussendlich gut gehen würde. Es war Andrew gewesen, der ihm die schmutzige und widerwärtige Wahrheit seines eigenen Seins um die Ohren geschlagen hatte. Neil war bei ihm gewesen, als er zum ersten Mal sein schlechtes Gewissen wirklich und offen zugelassen hatte und von der Schuld und der Schwere seiner Taten schier zerdrückt worden war. Dan war diejenige, die ihn mit ihrer ruhigen Stärke immer wieder von seinen schlechten Gedanken zurückgeholt hatte, in denen er sich daraufhin verstecken wollte. Auch jetzt, immer noch. Mit ihrer Hilfe hatte Kevin den Mut gefunden, Jean zu kontaktieren und ihn anzusprechen. Natürlich hatte er gewusst und erwartet, dass Jean ihn zurückweisen würde, aber er wollte, dass Jean sah, dass er bereute. Nicht um seiner, sondern um Jeans Willen. Er wollte, dass Jean wusste, dass er ihm nicht egal war und nie sein würde, dass er jeden Tag gegen das Gift in seinen Gedanken kämpfte und einen Weg fand, seine absolute Hingabe und Leidenschaft für Exy mit seinen Gefühlen für andere Menschen zu vereinbaren. Es war nicht leicht, aber er versuchte es. Immer und immer wieder. Und jetzt, da er in Jean einen wirklichen Menschen sah, jetzt, da er begriffen hatte, wie toxisch sein Verhalten war, jetzt, wo es ihm gelang, auch das Leben außerhalb von Exy zu würdigen, würde er Mitwisser und Zuschauer sein bei Jeans Selbstmord. Kevin schossen Tränen in die Augen, als er an sein letztes Gespräch mit Jean dachte. Die wütenden und hasserfüllten Worte, die ihm entgegengeschleudert worden waren. Zurecht. Er war zurecht geschlagen worden und doch war es nicht genug gewesen um seine Schuld zu tilgen. Wie konnte er zulassen, dass Jean, kaum, dass er die Möglichkeit hatte, das Leben zu leben, was er eigentlich hätte leben sollen, eben jenes beendete? Aus dem falschen Glauben heraus, dass Jeremy und die Trojans genauso widerwärtig handeln würden wie er auch. Dabei würden sie Jean niemals verraten, sie waren nicht so schwach wie Kevin. Ein großer Teil in Kevin drängte ihn dazu, das zu verhindern, was kommen würde. Noch war Andrew da und er wusste jetzt auch warum. In zwei Tagen würde er Jean umbringen. Zwei Tage. Zwei wenige Tage. Kevin presste die Hand vor den Mund, als die Tränen über seine Wangen liefen. Aber wenn er es verhinderte, würde Jean alles zerstören, was ihn jemals ausgemacht hatte. Er würde ihm Exy nehmen und damit den Sinn seines Lebens. Kevin hätte nichts mehr außer seinem kümmerlichen Selbst, was so verachtenswert war, dass es keinen eigenen Wert besaß. Der Gedanke alleine daran war so furchterregend und schrecklich, dass er tief in seinem Herzen bereit dafür war, Opfer zu bringen. Und wieder würde das Opfer Jean Moreau heißen. Die Stimme, die ihm einflüsterte, dass Jean es doch so wollte, schrie er nieder, bis sie verstummte. Wenn sein Leben anders verlaufen wäre, dann würde Jean es niemals wollen. Wenn er wüsste, was das Leben noch für ihn bereithalten würde, ebenso nicht. Doch er war nicht alleine. Alvarez ahnte etwas. Sie wusste es nicht, aber sie ahnte etwas und sie kannte den Zeitpunkt. Vielleicht würde sie es Jeremy mitteilen oder selbst tätig werden und sie würden Jean dann retten. Kevin hielt inne. Nein. Nein. Wieder wälzte er seine Verantwortung und seine Entscheidung auf jemand anderen ab. Diese Entscheidung war ganz alleine seine, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er sie treffen sollte. ~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)