Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 9: Die Sonne, der Übeltäter ----------------------------------- Wenn Jeans Herz noch viel schneller schlagen würde, würde es irgendwann in nächster Zeit, vermutlich schon in den nächsten Minuten, einfach aufhören und stillstehen. Vielleicht wäre das kein allzu schlimmes Ende angesichts der Männer, die unweit von ihnen standen und den Weg zurück in das Haus blockierten, das die Apartments der Trojans beherbergte und damit das Zimmer mit dem Fenster, von dem aus er die Sterne sehen konnte. Das Rot-Goldene und vollkommen Chaotische, die lebende und atmende Antithese zu Evermore. Wohin sie ihn ohne Zweifel zurückbringen würden. Wie angewurzelt blieb Jean stehen, der Umschlag seiner vermeintlichen Freiheit wie ein bleiernes Gewicht in seiner Hand. Zwei Monate war er frei gewesen von den dicken Mauern und codegeschützten Kellern, die Evermore ausmachten und nun würden sie ihn wieder zu sich rufen. Er würde die Sonne nie wieder sehen, ebenso wie er niemals wieder dem Weg der Sterne folgen würde oder einen Roboter bei seinem Weg über einen menschenleeren Planeten beobachten würde. Der Herr würde ihn strafen und strafen und strafen, bis nichts mehr von ihm übrig war. Der Gedanken, weg zu laufen und seinem Leben schneller und gnädiger ein Ende zu bereiten, gewann an Charme, doch letzten Endes konnte Jean es nicht, aus dem gleichen Grund, aus dem er sich eine Frist von zwei Monaten gesetzt hatte. Er war nicht mutig genug, war es noch nie gewesen. Die Verzweiflung darüber hätte er am Liebsten herausgeschrien, doch auch das traute er sich nicht. Wie eine Statue stand er hier und sah mit wachsender Angst, dass die beiden Männer auf ihn zukamen. Es war Knox, der ihn aus seiner Starre holte, indem er ihm eine Hand auf den Arm legte. Mehr als alles andere war die Kombination aus körperlichem Kontakt und allem, was die Familie Moriyama anbetraf, keine gute und ließ ihn zusammenfahren, als hätte sein Kapitän ihn mit einem glühenden Eisen berührt. Ein Gefühl, das er nur zu gut kannte. „Jean, sind das Männer aus Evermore?“, fragte Knox beinahe schon panisch und Jean fragte sich unwillkürlich, warum er derjenige war, dessen Stimme sich vor Angst beinahe überschlug. „Rede mit mir, Jean! Sind das Moriyamas Männer?“ Er hatte anscheinend genickt – auch wenn er sich daran nicht mehr erinnern konnte. „Lauf weg!“, war der Befehl seines Kapitäns beinahe zu scharf und zu harsch, als dass er ihm nicht folgen würde. Fast schon setzten sich seine Beine in Bewegung, bevor er sich daran erinnerte, dass die Moriyamas über allem standen, selbst über dem Befehl seines Kapitäns. Natürlich würde Jean die Strafe dafür tragen, wenn er jemals wieder hierhin zurückkehren würde. Unwahrscheinlich, doch in diesem Moment wurde Jean sich bewusst, dass er jede Strafe, die Knox ihm auferlegte, tausendmal lieber tragen würde als erneut in die Hände des Herren zu fallen. Stumm schüttelte Jean den Kopf und blieb selbst dann stehen, als die Männer ihn erreichten. Wieder war es Knox, der das Sprechen für ihn übernahm. „Verschwinden Sie oder ich rufe den Sicherheitsdienst“, stellte sich sein Kapitän unsinnig mutig den Männern entgegen, die ihn wie eine lästige Fliege maßen, bevor sie sich auf ihn fixierten. Erst jetzt fiel Jean auf, dass Knox zwischen ihm und den Beiden stand. Nicht, dass es die Sicherheitsleute interessierte. Der Linke von ihnen räusperte sich, den Kapitän der Trojans pointiert ignorierend. „Mr. Moreau, Mrs. Suarez wünscht Sie zu sprechen und wir möchten Sie bitten, mit uns zu kommen.“ Jean runzelte die Stirn. Mrs. Veronica Suarez war die leitende Firmenanwältin der Moriyamas. Sie würde sich nicht mit einer solchen Lappalie wie seiner Rückholung nach Evermore abgeben. Sie war diejenige für die rechtliche Schmutzarbeit, die graue Eminenz hinter den schrecklichen Geschäften des Hauptzweiges. „Jean, das wirst du nicht tun“, holte Knox ihn aus seinen Gedanken und wandte sich, naiv wie er war, an die Männer, die vor ihm standen. „Und Sie haben hier nichts zu suchen, also verschwinden Sie.“ Um ehrlich zu sein hätte er niemals gedacht, dass Knox‘ Stimme derart böse klingen konnte. Derart wütend. Jean wünschte, er könnte sich hinter dieser Stimme vor den Männern in schwarz verstecken und ihnen entfliehen, doch das war ihm nicht möglich. Vielleicht aber wäre Knox nicht in Gefahr, weil er eben keiner von ihnen war. Die Trojans waren rein und unbefleckt von den illegalen Machenschaften der Familie. „Bitte geh in das Apartment“, richtete er seine ersten Worte an Knox, den Blick respektvoll zu Boden gesenkt. „Nein, Jean, ich lasse dich nicht alleine. Denk dran, wir sind ein Team und wir lassen einander nicht im Stich.“ Wie sehr hatte sich Jean diese Worte immer von Kevin gewünscht und wie bitter war das Gefühl des Verrates gewesen, als der andere Junge auf einmal weg war und nicht mehr zurückgekommen war nach Evermore. Wie bitter waren seine Einsamkeit und das Gefühl des Verrates gewesen. Wie sehr hatte sich Jean mehr Worte wie diese gewünscht, die ihm zeigten, dass auch nur ein einziger Mensch auf Erden so etwas wie Zuneigung zu ihm empfand und ihn nicht behandelte wie ein lästiges, nutzloses Ding. So sehr er es sich auch gewünscht hatte, so sehr kamen sie nun zu spät und ließen nichts als schmerzhafte Splitter zerbrochener Hoffnung in ihm zurück. „Das ist keine Sache des Teams. Hier geht es um andere Dinge“, versuchte Jean Knox zu besänftigen, auch wenn das auf wenig Verständnis traf. „Nein, du musst keine Angst haben. Wir stehen das durch.“ Jean schnaubte und schüttelte den Kopf angesichts so großer Naivität. Er trat einen Schritt um Knox herum und war nun derjenige, der zwischen ihm und Evermore stand. Das gefiel seinem Kapitän überhaupt nicht und protestierend hob er die Hand, anscheinend um ihn festzuhalten. Jean wich vor ihm zurück. „Es ist in Ordnung, Knox“, presste er rau hervor. „Ich hatte mit nichts Anderem gerechnet.“ „Nein, hier ist nichts in Ordnung. Ich rufe die Polizei, das ist Entführung, damit kommen die nicht durch!“ Wenn er ehrlich war, verstand Jean Knox‘ Widerstand gegen seine Rückkehr nach Evermore nicht. Er kannte ihn doch kaum. Seit einer Woche erst. In seiner 28-köpfigen Mannschaft hatte er mehr als genug Backliner, was machte es da aus, ob er hier war oder nicht? „Deine Einschätzung diesbezüglich ist fehlerhaft. Bitte…“ Ja, um was genau bat er eigentlich? Dass Knox sein eigenes Leben nicht riskierte? Dass er diese anscheinend noch reine Mannschaft nicht mit irgendwelchen Verträgen an ein Verbrechersyndikat band, das sie ausnehmen und auspressen würde? Der Rechte der beiden Männer räusperte sich und erst jetzt fiel Jean auf, dass sein Ohr verdrahtet war. „Mrs. Suarez möchte darauf hinweisen, dass es sich hierbei lediglich um ein Gespräch handelt, das unter vier Augen geführt wird. Es hat keinerlei Auswirkungen auf den mit der hiesigen Universität geschlossenen Vertrag und dient zur Beseitigung von aufgekommenen Unklarheiten.“ Sowohl Knox als auch er hielten überrascht inne. Jean blinzelte verständnislos und fragte sich, ob das eine Falle war. Doch warum sollten sie sich die Mühe machen, wenn er doch auch so mitkommen würde? „Was bedeutet das?“, übernahm Knox erneut die Fragerolle und der Mann maß ihn mit erhobener Augenbraue. „Das bedeutet, dass dieses Gespräch in dem Wagen geführt wird und Sie hierbleiben, Mr. Knox. Rufen Sie den Sicherheitsdienst oder machen Sie anderweitig in negativer Weise auf sich aufmerksam, wird dieses Gespräch an einem Ort weitergeführt, den Sie nicht kennen und ich möchte Ihnen garantieren, dass es für Mr. Moreau keine angenehme Unterhaltung werden wird. Es liegt in Ihren Händen und an Ihrer Kooperation, wie das Gespräch zwischen Mrs. Suarez und Mr. Moreau verlaufen wird.“ Den Einen gegen den Anderen auszuspielen war das, was Evermore im Grunde des tiefschwarzen Herzens ausmachte. Dass der Mann also zu solchen Methoden griff, wunderte Jean also nicht, auch wenn es Knox ganz klar schockierte. Unweigerlich fragte sich Jean, wie gut und naiv jemand sein konnte, um hiervon noch schockiert zu sein. „Woher weiß ich, dass Sie mich nicht anlügen und ihn trotzdem entführen?“ „Unsere Auftraggeber haben kein Interesse an einer Fortsetzung seines Vertrages mit Evermore.“ Zu mehr ließ sich der ihm gegenüberstehende Mann nicht aus und mehr als alles andere erzeugte das Hoffnung in Jean, dass er hierbleiben durfte. Sie wollten ihn nicht wieder zurück? Das war die beste und gleichzeitig schrecklichste Nachricht, die er in den letzten Monaten gehört hatte. Er musste nicht mehr zurück in die Dunkelheit… doch nach allem, was er ihnen geopfert hatte die letzten Jahre über, verstießen sie ihn. „Ich komme mit.“ „Jean!“ Er reagierte nicht, sondern trat noch einen Schritt nach vorne, dann noch einen. Beim dritten stolperte er über seine eigenen Füße, fing sich jedoch wieder und ging weiter in Richtung seines Schicksals. Er ertrug den Blick auf die Wagen nicht, so richtete er ihn auf das Gras abseits der Weges, das so wunderbar grün war und spürte der Sonne nach, die auf seiner Haut brannte. Er prägte sie sich ein, als wäre sie das Kostbarste auf der Welt. Der Geruch des Sommers begleitete ihn auf seinem Weg in den Wagen hinein, dessen Tür sich öffnete und dessen kalte Dunkelheit ihn verschluckte wie es die Tore Evermores jedes Mal getan hatten. Jean sah Mrs. Suarez und folgte ihrem Fingerzeig auf die noch freie Sitzbank. Schweigend ließ er sich nieder und senkte den Blick zu Boden, ehrfürchtig, wie es ihm beigebracht worden war. Schweigend, wie er sich zu verhalten hatte, bis die Frau das Wort an ihn richtete, deren Namen ihm bisher nur wie ein Schatten begegnet war. Ein einziges Mal war sie in Evermore gewesen, nach Kevins Flucht. Jean war zu dem Zeitpunkt nicht genug bei Bewusstsein gewesen um auch nähere Notiz von ihrer Präsenz zu nehmen. Diese Gnade wurde ihm nun nicht zuteil und er spürte ihren brennenden Blick auf sich, während er seine Augen starr auf ihre Beine gerichtet hatte. Der Umschlag, der ihn als Mensch auszeichnen würde, wurde unter der Anspannung seiner Fäuste schier zerdrückt. „Guten Tag, Mr. Moreau.“ Jean nickte knapp. „Wie ich sehe, ist Ihr Eintreffen hier in Kalifornien ebenso reibungslos verlaufen wie Ihre Immatrikulation an der Universität und Sie haben sich bereits mit Ihrem neuen Kapitän vertraut gemacht.“ Die Art, wie sie vertraut betonte, ließ ihn nun doch aufsehen und er wagte einen Blick auf die Frau, die das Leben so vieler mit einem Federstrich zerstören konnte. Ihre graugesträhnten, schwarzen Haare hatte sie kinnlang frisieren lassen. Trotz der Hitze trug sie einen Anzug mit Hemd und Blazer. Unbeeindruckt starrte sie ihm in die Augen. „Er weiß von nichts“, fühlte sich Jean genötigt, unter ihrem brennenden Blick zu klarifizieren und sie griff zu den Unterlagen, die neben ihr auf der Bank lagen. „Selbstverständlich nicht. Wer, wenn nicht Sie, weiß am Besten, dass die größten Tugenden Treue und Verschwiegenheit sind, Mr. Moreau.“ Ihre Worte waren wie Hohn für Jean. Besitz kannte keine Treue. Eine Sache konnte nicht treu sein. Und etwas Menschliches in ihm rebellierte gegen die Worte der Frau. Riko hatte ihn jahrelang gefoltert und foltern lassen, Treue hatte er sich dadurch weder verdient noch erkauft, er hatte sie durch Angst in ihn hineingezwungen. Dennoch wagte Jean es nicht, ihr zu widersprechen, auch wenn die Schrecken der Vergangenheit sehr deutlich in seinen Augen standen. Er senkte den Blick, als er, wie er wusste, zu lesbar wurde. Natürlich waren ihre Worte auch eine Warnung an ihn und eine Mahnung an den Vertrag, den Josten mit Lord Moriyama geschlossen hatte. Sie räusperte sich. „Genug des Geplänkels. Auf Veranlassung des Direktors der Edgar Allan Universität ist es zu einer Untersuchung gekommen, welche die anscheinend skandalösen Umstände in punkto Körperverletzung im hiesigen Exy-Team zum Gegenstand hatte. Die Ermittlungen vergangener Wochen und Monate haben den Eingangsverdacht missbräuchlicher Praktiken in mehreren hundert Fällen bestätigt. Dabei taucht Ihr Name in den meisten dieser Fälle auf.“ Jedes ihrer Worte war wie die Klinge von Rikos Messer, die sich ohne Gnade unter seine Haut bohrte. Eine Ermittlung, bei der sein Name aufgetaucht war? Zu welchem Zweck? Es war doch unzweifelhaft, dass er Besitz war und dass mit Besitz getan werden dürfte, was der Besitzer wollte, solange er nur in der Lage war, seine Aufgabe zu erfüllen. „Bei eben jenen Ermittlungen wurden ebenfalls Videos sichergestellt, die Zeugnis massiver Körperverletzung sowie mehrfacher Akte unfreiwilligen Geschlechtsverkehrs sind.“ Jean zuckte zusammen, als hätte man ihn verbrannt. Mit schreckensweiten Augen starrte er auf den Boden des Wagens, während seine Hände den Umschlag zusammenknüllten. Ihm wurde beinahe schwarz vor Augen, als er die Tragweite dessen begriff. Videos. Es gab Videos von ihm, wie sie… während sie… sie hatten Videos gemacht. Er beugte sich vor und ein Laut des Entsetzens, den er nicht aufhalten konnte, verließ seine Lippen. Riko hatte ihn gefoltert. Er hatte andere Spieler in sein Bett gelassen um ihm seinen Platz zu zeigen und eine Antwort auf die Frage zu finden, ob ein sexuelles Trauma anders oder schlimmer war als eines ohne sexuelle Demütigungen. Fünfmal hatte er das getan, umschlossen von unzähligen Malen, in denen Riko ihm Knochen gebrochen, ihn von Treppen gestoßen, seinen Körper aufgeschlitzt und verbrannt hatte, ihm…. Jean würgte sich gedanklich ab. Wenn er weiter alles aufzählte, was Riko und andere ihm angetan hatten, dann würde er sich hier übergeben. Ob er das überleben würde, wusste er nicht. Vielleicht wäre es besser so, wenn nicht. Videos… es gab Videos. „Wie oft ist es vorgekommen?“ Jean wusste nicht, ob er lachen oder würgen sollte ob der Frage. Sie waren allmächtig und weltumfassend vernetzt, aber um herauszufinden, wie oft er vergewaltigt worden war, brauchten sie seine Hilfe. Das war erbärmlich, wenn es ihn nicht so sehr verstörend und verängstigen würde, weil es Erinnerungen in ihm aufwirbelte, die er am Liebsten in den Untiefen seiner Erinnerungen gelassen hätte. „Ist…“ Jean musste sich räuspern, damit seine Stimme wenigstens im Ansatz hörbar war. „Ist die Zahl wichtig?“ „Ja.“ Sie erläuterte nicht, warum und sicherlich hatte er auch kein Anrecht auf die Antwort, egal, was diese Frage mit ihm machte. Kurz schloss er die Augen um Stärke zu finden, doch die Schwärze dahinter machte es ihm nur noch unmöglicher, so fasste er den Boden des Wagens erneut ins Auge. „Fünf Mal.“ Wie harmlos sich die Worte anhörten. Wie wenig sie über das verrieten, was ihm solange aufgezwungen worden war, bis er sich nicht mehr gewehrt hatte. Bis er langweilig geworden war. Jean sah auf seine Hände, die zitterten. Er war Riko dankbar gewesen, dass er aufgehört hatte, ihn auf diese Art zu foltern. Dankbar dem Menschen gegenüber, der für all das verantwortlich war. Das war krank, das wusste Jean. Sie griff zu ihrem Handy und tippte etwas. Das leise Ping einer Nachricht ließ ihn ebenso zusammen zucken wie ihre Augen, die sich mit aller Eindringlichkeit auf ihn richteten. „Lord Moriyama hegt tiefen Respekt für die ihm anvertrauten Familien seiner Geschäftspartner, denn nur mit gegenseitiger Loyalität und Vertrauen ist es möglich, das Unternehmen zu ungeahnter Größe zu führen und es auch dort zu halten.“ Jean konnte mitnichten etwas mit ihren Worten anfangen, so nickte er nur. „So wie er seinen Geschäftspartner vertraut, vertrauen sie auch ihm.“ Vertrauen. Was für ein schönes Wort für gegenseitige Abhängigkeiten, Erpressungen, organisierte Kriminalität und Folter. „Ist es nun so, dass ein Geschäftspartner im Vertrauen auf gegenseitigen Respekt seinen Tribut zollt und die Verbindung damit stärkt, würde es sich als untragbar herausstellen, wenn Lord Moriyama diesen Tribut mit weniger Respekt behandelt als er ihm gegeben wurde.“ Mrs. Suarez machte eine Pause, in der Jean die Möglichkeit hatte, über ihre Worte nachzudenken. Nicht, dass es ihn sonderlich weiterbrachte, denn er war weder ein Geschäftspartner noch war er Mensch genug um Teil zu haben an den illegalen Geschäften. Selbst wenn, hätte er es nicht gewollt. Die Verstrickung seiner Familie in diese Art von Geschäften hatte ihm nichts gebracht, nur Demütigung und Folter, den Raub seiner Pubertät und Unschuld. „Lord Moriyama ist nicht bereit hinzunehmen, dass durch die Vergewaltigungen Schande über den ältesten Sohn seines geschätzten Geschäftspartners gebracht wurde und dass damit durch eigenes Blut Schande über die ehrenwerte Familie Moriyama gebracht wurde.“ Jeans Kopf ruckte so abrupt hoch, dass er glaubte, sich einen Nackenwirbel verrenkt zu haben. Kühl musterte Mrs. Suarez ihn, so als würde sie über das Wetter sprechen. „Die Moreaus sind bereits seit Marseille geschätzte Verbündete. Sie, Mr. Moreau, wurden seinerzeit dem zweiten Zweig als ein vertrauensvolles Entgegenkommen für die Begleichung eines Ungleichgewichtes übergeben. Als ein Investment an eine gemeinsame Zukunft. Durch die Taten und Befehle des verstorbenen Kapitäns ist dieses Investment geschmälert worden und das ist ein inakzeptabler Zustand, den Lord Moriyama gedenkt zu revidieren.“ Sie griff hinter sich und im ersten Moment erwartete Jean, dass sie eine Waffe zog. Entsprechend unsinnig riss er die Arme hoch und versuchte sich vor dem kommenden Tod zu schützen, als er nach ein paar Augenblicken begriff, dass kein Schuss folgen würde. Mrs. Suarez hielt eine Schale in der Hand, aus schwarzem Porzellan, die durchsetzt war mit goldenen Lackschlieren, die scheinbar ohne jedwede Struktur angeordnet waren. In ihr befanden sich zwei Umschläge. Sie hielt sie zwischen sie beide und Jean begriff, dass er sie annehmen sollte. Dass er drei Anläufe dafür benötigte, weil seine Finger so sehr zitterten, brachte sie nicht im Geringsten aus der Ruhe. „Ihre Fähigkeiten, Mr. Moreau, sind kostbar und ertragreich, insbesondere auf die kommenden Jahre gesehen. Sie sind ein wertvolles Investment für Lord Moriyama und er möchte Ihnen hiermit sein tiefes Bedauern über die Handlungen seines Bruders ausdrücken. Diese Schale und ihr Inhalt ist ein Zeichen seiner Trauer um das Handeln des Jungen.“ Sie deutete auf den schwarzen Umschlag, der oben auf lag und mit zitternden Fingern nahm er ihn auf, hielt ihn vor sich, auf weitere Befehle wartend. „Öffnen Sie ihn.“ Jean nickte und tat wie ihm geheißen. Zittrig balancierte er die Schale auf seinen zusammengepressten Knien. Ungeschickt entnahm er das darin enthaltene Dokument und sah mit Schrecken, wie eine Karte auf den Boden des Wagens fiel. Er brauchte zwei Anläufe um sie aufzuheben und warf erst dann einen Blick auf den Inhalt des Schriftstückes, deren Sinn sich ihm nicht erschloss. Er hatte noch nie ein Problem mit Zahlen gehabt, so war es ihm auch leichtgefallen, seine Fähigkeiten in sein Hauptfach einzubringen. Diese hier und ihr Sinn erschloss sich ihm aber nicht, auch nach mehrmaligem Hinsehen nicht. Heiß und kalt lief es ihm den Rücken hinunter, als er sich außerstande dazu sah, ihrer Anweisung zu folgen. Jean schluckte. „Ich verstehe den Sinn nicht“, wisperte er. „Das sind die Daten für Ihr Konto“, brachte sie dem Dokument einen Sinn und Jean starrte auf die Worte. Seine Augen huschten über den Namen der Bank sowie die Kontodaten und er runzelte die Stirn, als er feststellte, dass sich sein Name auf der Karte befand und die Nummer dieses Kontos mit der Nummer auf der Karte anscheinend identisch waren. Verwirrt runzelte Jean die Stirn, wagte aber nicht, die Frage, die sich ihm stellten, laut zu äußern. So zum Beispiel, warum sein Name als Besitzer eingetragen war. „Dieses Konto würde für Sie eröffnet und Sie haben den alleinigen Zugriff auf die Summe, die sich dort befindet. Diese ist nicht von der prozentualen Beteiligung der Familie Moriyama an Ihren Einkünften unterworfen und steht somit gänzlich zu Ihrer Verfügung. Darüber hinaus lässt Lord Moriyama Ihnen mitteilen, dass der mit Mr. Josten abgeschlossene Vertrag über den prozentualen Anteil für Sie ab dem jetzigen Zeitpunkt keine Gültigkeit mehr besitzt. Sie werden für die kommenden Einnahmen aus Ihrer Tätigkeit als Exyspieler einen Prozentsatz in Höhe von sechzig Prozent abführen. Unberührt davon bleibt Ihr Sportstipendium.“ Jean verstand nicht wirklich, was sie sagte, doch er fand nicht den Mut, nachzufragen. Er fand auch nicht den Mut zu nicken, sondern akzeptierte das, was sie ihm sagte, ohne zu reagieren. Es war, als würden seine Gedanken nicht begreifen wollen, was ihm gerade geschenkt worden war. Als Zeichen von…Bedauern? Weil Schande über ihn gebracht worden war, ihn und seine Familie, die ihn verkauft hatte? Etwas, das sich fürchterlicherweise wie die Wut anfühlte, die er bereits in sich getragen hatte, als er nach Evermore gekommen war, wallte in ihm auf. Er wollte nichts von alledem hier. Er wollte, dass all das nie passiert wäre. Jean presste seine Lippen aufeinander. Sie schenkten ihm Geld um ihn zu heilen? Was sollte er denn heilen? Etwa den zerbrochenen Scherbenhaufen, den Riko über die Jahre hinweg aus ihm gemacht hatte? Zum ersten Mal seit langer Zeit wollte Jean wieder jemanden schlagen. Die Frau, die Männer der Familie, ja selbst den Lord. Er wollte sie alle zerreißen für das, was sie ihm angetan hatten und doch konnte er noch nicht einmal die Kraft aufbringen, zu nicken, so blieb die Wut in ihm, schwelte in den Überresten seines Seins und kratzte an dem Gefängnis seiner erzwungenen Selbstbeherrschung. Eben jene, die ihm unmissverständlich zu verstehen gab, dass er respektvoll zu reagieren hatte. „Ich danke der Familie Moriyama für ihre Güte“, presste er in jahrelanger Indoktrinierung hervor, was er niemals gefühlt hatte. Nicht, seitdem sie ihn hierher verschleppt hatten. Mrs. Suarez nahm das zur Kenntnis, mehr jedoch auch nicht. Als hätte das Gespräch zwischen ihnen beiden nicht stattgefunden, widmete sie sich ihrem Handy. Kurz sah sie hoch. „Sie dürfen gehen, Mr. Moreau.“ Die Autotür öffnete sich und ließ Sonnenlicht, stechend und blendend hinein. Jean blinzelte und kniff im ersten Moment die Augen zusammen, bevor er sich umständlich aus dem Auto schälte, sein Körper vor Anspannung zitternd. Natürlich… sobald er den Blick hob, sah er sich Knox gegenüber, der zwischen den beiden Männern mit sorgenvollem Gesicht anscheinend auf seine Rückkehr wartete. Die beiden Wachen kehrten, als sie seiner ansichtig wurden, schweigend in die Wagen zurück und Jean hörte mehr als dass er sah, dass sie abfuhren und ihn mit seinem Kapitän alleine ließen, der nun auf ihn zustürmte, als wolle er ihn schlagen. Jean zuckte zurück, die Schale und Dokumente an seine Brust gepresst und brachte so schnell es ihm möglich war, Abstand zwischen sie beide. „Nicht“, entfuhr es ihm, auch wenn er kein Recht auf dieses Wort hatte. Noch nie hatte es ihm etwas eingebracht. Jetzt aber schon, denn Knox blieb stehen. Auf der Stelle, als wäre dieses eine Wort wichtig. Zögerlich verharrte er. „Jean?“ Es war die Frage nach einer Erklärung, die Jean nicht erbringen konnte. Stumm ignorierte er seinen Kapitän und sah unbewegt zu, wie die beiden Wagen starteten und wegfuhren. Als sie außer Sichtweite waren, fragte sich Jean unwillkürlich, ob das Ganze wirklich passiert war. Er knirschte mit den Zähnen. Eigentlich sollte er froh sein. Sie hatten ihn nicht mitgenommen. Anstelle dessen hatte Mrs. Suarez ihm gesagt, wie wertvoll er doch für die Familie war. Gerade oder trotz dem, was ihm passiert war. Sie hatten ihren Anteil heruntergesetzt und ihm ein zweites Konto eingerichtet mit einem Betrag darauf, der ihm noch nicht bekannt war. Froh, dass sie ihn dafür bezahlten, dass er vergewaltigt worden war. Was in dem zweiten Umschlag war, wusste er immer noch nicht. Eigentlich sollte er erleichtert sein. „Sag mir, Knox…“, begann er und fürchtete sich vor Kälte in seiner eigenen Stimme. „…in deinem Kunstdistrict, findet man da auch eine Antwort, wieviel ein Leben kostet?“ Bewusst sah er auf seinen Kapitän herab, der ihn mit ungewöhnlich bleichem Gesicht und großen Augen ansah. ~~**~~ Was? Besorgt blinzelte Jeremy. Die unendlichen langen letzten Minuten hatte er in Sorge um Jean und um sich selbst verbracht und sich nervös an seinem Handy in der Hosentasche festgehalten. Wieder und wieder hatte er sich seine Chancen ausgerechnet, rechtzeitig die Campussecurity zu rufen um Jean aus den Klauen dieser offensichtlich kriminellen Machenschaften zu holen. Letzten Endes hatte er sich nichts von dem, was er sich vorgenommen hatte, getraut und war von einem Fuß auf den anderen getreten. Wie hätte er auch fliehen können, wenn ihn diese Männer mit Jeans Wohlergehen erpressten? Und jetzt stand der größere Junge neben ihm und starrte ihn mit einer derartigen Verachtung an, dass es Jeremy unwillkürlich schauderte. Er ahnte…nein wusste, dass sich diese nicht auf ihn bezog, aber das machte es nur minimal besser. Womit hatten sie Jean in ihrer Hand, dass er freiwillig in ihr Auto gefolgt war? Womit riefen sie so eine Verachtung hervor? Jeremy streckte seine Hand in Jeans Richtung aus. Die grauen Augen richteten sich abrupt auf die Bewegung und Jeremys Hand fror in ihrer Bewegung ein. Nur langsam ließ Jeremy sie schließlich sinken. „Was ist passiert?“, fragte er so ruhig es ihm möglich war. Die Aufregung machte ihm da einen Strich durch die Rechnung und Jean schnaubte verächtlich. Er schüttelte den Kopf, sagte aber nichts, sondern reckte sein Gesicht gen Himmel. „Heute ist der Tag der Konten, wie es scheint“, kamen bissige Worte aus seinem Mund, die Jeremy so noch nie gehört hatte. „Oder der Tag des unnützen Geldes.“ Mitnichten konnte sich Jeremy einen Reim auf diese Antwort machen. „Jean, was haben sie gemacht?“, fragte er deswegen schlicht, jedoch mit klopfendem Herzen. Für quälend lange Momente erhielt er keine Antwort, dann schnaubte Jean. Seine Aufmerksamkeit kehrte zu Jeremy zurück und er wurde schier durchbohrt mit der folgenden Intensität. Jeans Augen wären hübsch, wenn sie ihm nicht soviel Angst machten, stellte Jeremy fest. „Nichts haben sie gemacht. Sie wollten reden.“ Jeremy verzog die Lippen vor Unbill. „Man redet nicht nur, wenn man gleichzeitig Leute erpresst.“ Für einen kurzen Moment lang grübelte Jean über seine Worte nach, dann senkte er den Blick. „Es ist besser, wenn du dich nicht darum kümmerst“, murmelte er, anscheinend in der Erwartung, dass er dafür bestraft werden würde. Nichts lag Jeremy ferner, auch wenn er sich gerade jetzt gut vorstellen konnte, Jean zu schütteln, bis dieser begriff, dass die Trojans so nicht funktionierten. Sie kümmerten sich umeinander. Sie sorgten füreinander. Sie waren nicht Teil krummer Dinger und verbrecherischer Machenschaften. Das unterstellte er Jean zwar nicht, aber offensichtlich gehörten die Männer, die bis gerade hier gewesen waren, nicht in ihre sichere Welt. „Das kann ich nicht. Du gehörst zu meinem Team, Jean“, verbalisierte Jeremy seine Sorge ruhig. „Das ist keine Teamangelegenheit.“ „Wenn sie auf das Unigelände kommen, dich vor unserem Wohnhaus abfangen und mich mit deinem Wohlergehen erpressen, schon.“ Seine direkten Worte lösten den aufkommenden Widerspruch ins Nichts auf. Dass die Augen dafür nun wieder das Gras begutachteten, war nicht in Jeremys Sinn, so ganz und gar nicht. „Es ist nicht gut, sich um solche Angelegenheiten zu kümmern“, teilte Jean diesem mit. „Es ist eine Familiensache, die geregelt ist.“ „So geregelt, dass sie mich mit deiner Gesundheit erpressen, Jean?“, wiederholte Jeremy zweifelnd. Jean zuckte regelrecht zusammen bei seinen Worten und Jeremy befiel beinahe ein schlechtes Gewissen. Eingehend betrachtete dieser die Schale, welche er in den Händen hielt und runzelte die Stirn. „Sie werden nicht wiederkommen“, beharrte Jean schließlich auf seinen Eingangsworten, von denen Jeremy ihm keine einzige Silbe glaubte. Dafür war die Sorgenfalte auf dessen Stirn zu steil, der Mund zu angespannt verzogen. „Ist dies… ein unüberwindliches Problem?“, fragte er schließlich und Jeremy runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“ „Wird es für Annulierung des Vertrages mit den Trojans sorgen?“ Jeremy erschrak sich so sehr vor Jeans Worten, dass er ihn abrupt an seinem Arm fasste und zudrückte. Eine im Nachhinein falsche und zum Teil auch dumme Geste, die mit nichts anderem als Angst beantwortet wurde und Jeremy damit beschäftigte, die aus Jeans Händen fallende Schale aufzufangen. Er ächzte, als sein Rücken gegen die abrupte Positionsveränderung protestierte, aber seine Reflexe waren immer noch da und sie waren gut. Jeans auch, wie es schien, der eine Hand abwehrend, aber dennoch zögerlich erhoben hatte, so als würde er einen Schlag abwehren wollen. Wie am ersten Tag. Jeremy schluckte. Natürlich. Was musste Riko Jean nicht alles angetan haben um ihn so aussehen zu lassen? Und er? Erschreckte den Jungen durch seine Worte und Gesten. Wunderbar. Mit einem entschuldigenden Lächeln löste er sich von dem gefangenen Unterarm und bückte sich erneut, dieses Mal nach den gefallenen Umschlägen. Jean machte keine Anstalten, alles wieder an sich zu nehmen, also trug Jeremy die Last für ihn. Das war das Mindeste, was er tun konnte, befand er. „Nein, das wird es nicht.“ Zweifelnd runzelte Jean die Stirn. „Du urteilst vorschnell.“ Jeremy hob fragend die Augenbrauen. „Bitte?“ Jean schien sich anscheinend jetzt erst bewusst zu werden, was er so eben gesagt hatte und er schluckte sichtbar. „Entschuldigung. Ich wollte nicht unhöflich sein.“ Jeremy winkte einhändig ab. „Bist du nicht. Warum urteile ich vorschnell?“ „Mit ihnen ist nicht zu spaßen.“ Das ließ ihn schon schnauben. „No shit Sherlock. Mit Männern und Frauen, die bei sonnigen 35 Grad im Schatten in schwarzen Anzügen herumlaufen und schwarze, verspiegelte Autos fahren, ist nicht zu spaßen? Wir leben hier glücklich, aber nicht hinter dem Mond, Jean.“ Eben jener runzelte die Stirn. „Was ist ein Sherlock?“, fragte er doch tatsächlich nach und Jeremy blinzelte. „Was?“, echote Jeremy wenig intelligent, bevor er sich besann. Wenn Jean tatsächlich nicht gerne Filme sah, wie sollte er dann Sherlock kennen? „Das ist ein Privatdetektiv aus London, der krude Fälle löst. Eigentlich eine Romanfigur, die aber mehrfach verfilmt wurde.“ Jean ließ sich das durch den Kopf gehen und beschloss dann anscheinend, nicht weiter darauf einzugehen. „Was weißt du über die Moriyamas?“, fragte er anstelle dessen und Jeremy zuckte mit den Schultern. „Kengo Moriyama hat zusammen mit Kayleigh Day unseren wunderbaren Sport gegründet.“ Jeremy verstummte und nach ein paar Sekunden begriff Jean anscheinend, dass da nicht mehr kommen würde. Die Falte auf seiner Stirn wurde steiler, als er sie jemals gesehen hatte und Jeremy hatte das Gefühl, dass dem Anderen gerade viel durch den Kopf ging… viel weniger nettes über Jeremys Wissen über den Sport, den sie beide ausübten. „Kengo Moriyama gehört zu einem Familienclan, von dem man sich besser fernhält. Sie sind erbarmungslos, wenn es um die Durchsetzung ihrer Geschäftsinteressen geht.“ Rechtzeitig, bevor sein Hirn Dinge ausplappern konnte, die er bereuen würde, schloss Jeremy seinen Mund. Wenn die alle so sind wie Riko, möchte ich keinen kennenlernen, lag es ihm auf der Zunge. Dass Jean diese Art von Antwort überhaupt nicht schätzen würde, konnte er sich ausmalen. Er ahnte auch wieso. Jeremy hob die Schale an und nickte in ihre Richtung. „Das hier sieht nicht nach fernhalten aus.“ „Es ist ein symbolisches Geschenk.“ „Wofür?“ Jean zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ „Und die Umschläge.“ „Anscheinend Geld. Auch das weiß ich nicht.“ „Leihen sie dir Geld? Bist du deswegen von ihnen abhängig?“ Jeremy wusste nicht, was an seinen Worten so amüsant sein mochte, doch anscheinend war Jean gerade so belustigt, dass er seine Lippen tatsächlich zu einem Lächeln verzog. Kurz und kühl, aber es war da. „Nein, das tun sie nicht. Das haben sie noch nie getan und werden es auch nicht.“ Jeremy brannten Fragen auf der Zunge, die er nicht zu stellen wagte, so blieb er stumm und maß das bleiche Gesicht. Seine Aufmerksamkeit blieb an der Beanie hängen, die Jean trug und er spürte Wut in sich. Auf Riko. Auf Evermore und die Männer, die hier waren. Auf sein Land, dass es für solche Arschlöcher möglich machte, jemanden zu schlagen und zu bedrohen und damit davon zu kommen. „Coach Rhemann muss davon wissen“, merkte er vorsichtig an und der Junge neben ihm zuckte zusammen, als hätte er ihn verbrannt. Schon wieder, als wäre es ihm zuwider, als wäre es etwas Schreckliches, dass ihr Coach, dem sie allesamt blind vertrauten, davon in Kenntnis gesetzt wurde. „Man hält sich besser von ihnen fern“, wiederholte Jean, als würde das alles erklären und Jeremy seufzte. Das waren auch Kevins Worte gewesen und die Wiederholung dessen machte es Jeremy nur umso eindringlicher, dass hier etwas geschah, was niemand von ihnen bisher gewusst hatte. Langsam nickte Jeremy und seufzte tief. Schweigen trat zwischen sie, das er zum ersten Mal nicht wirklich mit Leben füllen konnte, weil ihm zuviel durch den Kopf ging, über das er sich bisher keinerlei Gedanken gemacht hatte und für das er noch keine Lösungen hatte. Das forderte ihn heraus und ärgerte ihn gleichermaßen. Schlussendlich zuckte er mit den Schultern und kehrte zu seinem Gegenüber zurück, dessen sorgenvolle Musterung ihm erst jetzt bewusst wurde. Jeremy versuchte sich an einem Lächeln und tatsächlich gelang ihm das auch. „Wie wäre es mit folgendem Vorschlag: ich bringe das Zeug aufs Zimmer, wir statten Coach Rhemann einen Besuch ab und du erzählst ihm das, was du ihm hierüber zu sagen hast. Danach fahren wir dann in die Stadt und schauen uns in dem Kunstdistrict ein bisschen um?“ Jean zweifelte an seinen Worten und es brauchte etwas, bis er den Mut fand, eben jene Zweifel auch in Worte zu fassen. „Wird er diesen Umschlag nicht haben wollen?“, fragte er zögernd und Jeremy hob die Augenbrauen. „Dein Umschlag, dein Geld, dein Konto, Jean Moreau“, erwiderte er eingedenk ihrer vorherigen Diskussion mit spielerischer Strenge. Jean nahm das stumm zur Kenntnis, aber Jeremy sah bereits jetzt die Unsicherheit, die dahinter lauerte. „Ich kann dir gerne dabei helfen, wenn du es möchtest“, bot er daher an und erhielt tatsächlich ein Nicken. ~~**~~ Jean stand vor dem Spiegel ihres Badezimmers und blinzelte ungläubig. In dem weichen Licht der untergehenden Sonne, unterstützt von der Lampe, die über ihm thronte, hatte er einen ungehinderten Einblick auf sein Gesicht, vielmehr auf die bleibende Röte auf seiner Stirn, seinen Wangen und vor allen Dingen auf seiner Nase. Röte, die bei näherem Anfassen wirklich schmerzte, während seine Haut über den Knochen seines Gesichtes spannte. Sacht befühlte er die roten Stellen mithilfe seines Zeigefingers und beobachtete verwundert, wie sie unter Druck weiß wurden, bevor sie zu ihrer Röte zurückkehrten. Der hinter ihm liegende Tag und das Essen, das Knox heute Abend für sie beide gekocht hatte forderten ihren Tribut und er hatte das dringende Bedürfnis, sich jetzt sofort in den Keller zu begeben und zu schlafen. Doch noch musste er warten, bis Knox selbst eingeschlafen war, bevor er sich wegstehlen und endlich die Augen schließen konnte. Jean ließ seine Gedanken zurückschweifen. Coach Rhemann hatte nicht so reagiert, wie er erwartet hatte. Ganz und gar nicht. Nachdenklich hatte er sich angehört, was Jean ihm beinahe zu leise um gehört zu werden, erzählt hatte. Er hatte genickt und sich dann dafür bedankt, dass Jean so offen zu ihm war und dieses Zusammentreffen mit ihm geteilt hatte. In der Rangliste der Sachen, die Jean überrascht hatten in der Woche, die er bereits hier war, war das ganz weit oben. Niemals hatte der Herr sich bei ihm bedankt, im Gegenteil. Er hatte sich dafür bedanken müssen, dass dieser ihn wieder und wieder gezüchtigt hatte. Für jeden einzelnen Schlag hatte er sich bedanken müssen. Wie er auf den Dank seines Trainers zu reagieren hatte, das war ihm bis jetzt nicht klar und war es schon gar nicht gewesen, als er Rhemann stumm wie ein Fisch und ebenso dumm angestarrt hatte. Bevor er sich verbeugen konnte aus lauter Hilflosigkeit, hatte Rhemann Knox und ihn aus seinem Büro herausgescheucht. Sein Kapitän hatte daraufhin keine Zeit verloren und seine Drohung wahrgemacht, ihn in den Stadtteil zu verschleppen, der vor Kunst an jeder Straßenecke nur so strotzte und Jean in all seiner visuellen Überflutung überreizt hatte. Was, wenn nicht das, symbolisierte das perfekt sein momentanes Leben. Der Schatten der Moriyamas lastete für immer auf ihn, sie würden ihm immer in den Nacken atmen und sein Leben kontrollieren. Er würde den Vertrag einhalten müssen, den Josten für sich selbst, Kevin und ihn geschlossen hatte um sie alle zu retten. Seinen geänderten Vertrag, der darauf beruhte, dass seiner Familie durch Rikos Verhalten Schande bereitet worden war. Schande. Dass er nicht lachte. Ja, Riko hatte ihn vergewaltigen lassen um zu sehen, welche Art von Trauma es in Jean auslösen würde. Das war aber nicht das Einzige gewesen, dass er ihm angetan hatte und das war den Moriyamas vollkommen egal. Es zählte nur die intime Gewalt des unfreiwilligen Geschlechtsverkehrs, nicht aber alles andere, das ihm die Jahre über angetan worden war. Angefangen von der Freiheitsberaubung, als sie ihn nach Evermore gebracht hatten, gegen seinen Willen. Als sie ihn dort eingesperrt hatten in dem Keller ohne Sonnenlicht. Nichts davon bedauerte die Familie, nur, dass Riko ihn fünfmal hatte ficken lassen. Und entgegen all dieser Erinnerung an Gewalt und Erniedrigung stand die heile, schöne Welt der Trojans, die nichts von dem kannte, was Jeans Leben gewesen war. Jean kam sich so vor wie eines der kakophonischen Kunstwerke, die er heute gesehen hatte. Ein dunkles Etwas, das Unwohlsein hervorrief, einer Welt voller Sonnenschein und Wärme ausgesetzt und präsentiert, auf dass jeder einen Blick auf diese Dunkelheit werfen und sich glücklich schätzen konnte, nicht Teil von ihr zu sein. Einen Monat und drei Wochen noch. Daran änderten auch die Umschläge und die Vase nicht, das Verhalten des Trainers nicht. Im Gegenteil. Jean würde sich nicht wundern, wenn sein Entschluss dadurch am Ende nicht noch gestärkt werden würde. Doch zunächst einmal hatte er ganz andere Dinge, die seine Aufmerksamkeit forderten. Er hatte einen Sonnenbrand. Einen Sonnenbrand. Jean erinnerte sich nicht, wann er zuletzt einen gehabt hatte und das Gefühl, so unangenehm es auch war, war im Vergleich zu seinem sonstigen Schmerz der letzten Jahre wundervoll, bedeutete es doch, dass er draußen in der Sonne gewesen war. Stundenlang. Gegen seinen Willen hatte er sich von diesem Stadtteil und seiner Kunst einfangen lassen und Knox‘ Gerede wie das Hintergrundrauschen der Straßen über sich hinwegwaschen lassen. Weg von den Erinnerungen an sein Gespräch mit der Anwältin. Er hatte sich sogar dazu breitschlagen lassen, das bunte Gemälde von Regenbogenflügeln an einer Häuserwand für Renee zu fotografieren und es ihr schicken. Ganz zu ihrer Freude. Jean blinzelte, als er merkte, dass die Ansätze eines Lächelns seine Lippen nach oben ziehen wollten beim Gedanken an sie. Schnell wandte er sich ab und verließ beinahe fluchtartig das Bad, sich Auge in Auge mit Knox wiederfindend, der mit einem seiner typischen Lächeln eine Tube an unidentifizierbarer Creme hochhielt. „Hier, das ist eine schmerzstillende Feuchtigkeitscreme, die deinen Sonnenbrand erträglicher machen wird“, erläuterte Knox die Existenz eben jener Tube und wieder kam Jean nicht umhin, sich zu fragen, wieviel anders es denn noch werden konnte in Evermore. Niemals, zu keinem Zeitpunkt, hatte Riko ihm Schmerzmittel gegeben. In all den Jahren hatte er kein einziges Mal versucht, etwas zu lindern. Dass es zu Knox passte, war unumstritten. Dass Knox auch bereit dazu war, ihm Gutes zu tun, begriff Jean nur langsam und noch viel widerwilliger. Wie unsinnig es ihm doch erschien, dass es Linderung für einen läppischen Sonnenbrand gab. „Danke“, murmelte Jean und warf einen Blick auf die Schale, die auf dem Nachttisch an seinem Bett stand. Er wollte sie da nicht haben und würde sie morgen – in einem Akt neu aufgekommener Rebellion - in das kleine Wohnzimmer verbannen. Am Besten direkt neben Days Puzzle, denn wo gehörte sie besser hin, als zur Nummer zwei, dem goldenen Jungen, der seine gebrochene Hand nicht ertragen hatte und geflohen war. Er tat sich etwas von der Creme auf die Finger und verrieb sie auf der warmen Haut, bevor er die Tube an Knox zurückgab und dieser ihn mit Stolz auf dem braungebrannten Gesicht betrachtete. „Ich lege sie dir zu deinen Sachen ins Badezimmer. Nach drei Tagen dürfte das Schlimmste überstanden sein. Am Besten wirkt sie, wenn du sie jeweils morgens und abends aufträgst.“ Schweigend starrte Jean Knox hinterher, wie dieser seinen Worten Taten folgen ließ. Mit Gewalt musste er sich ins Gedächtnis rufen, dass dieser Junge sein Kapitän war. Und dass er für dessen Überlegenheit wieder und wieder bestraft worden war. Das fiel ihm schwerer als gedacht. ~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)