Ein Chef zum Verlieben von Mitternachtsblick (Mann mit Kind sucht Mann mit Saldenlisten) ================================================================================ Kapitel 7: Der Tag des toten Sandwichs -------------------------------------- Es war halb sechs Uhr abends und Kai hatte schon wieder einen kleinen Nervenzusammenbruch. Das schien mittlerweile zu einer gewissen Gewohnheit zu werden. Es war einfach zu lange her, seit er sein letztes Date gehabt hatte. Nach der Trennung von Ayaka hatte er zwar hie und da jemanden getroffen, aber es war nie etwas Ernstes daraus geworden und alle Ansätze waren recht schnell im Boden versickert, nachdem er realisieren musste, dass Kind und Job den Großteil seiner Energie verschlangen. Mit einem Wort: Er war erbärmlich, sein Liebesleben war erbärmlich und noch erbärmlicher war, wie heiß ihm bei der Vorstellung wurde, dass er sehr bald Mr. Zahlengott gegenübersitzen würde - ohne Kind im Schlepptau, ohne Listen zwischen ihnen, nur sie beide und Essen und die unerträgliche Spannung in seiner Hose. „Oh Gott“, murmelte Kai und vergrub das Gesicht in seinen Händen, dann atmete er tief durch und erhob sich aus seinem Bürostuhl, um zu der Bar zu gehen, die er normalerweise nur bei wichtigen geschäftlichen Meetings verwendete. Jetzt allerdings goss er nur für sich selbst einen Zentimeter Whiskey in das passende Glas und stellte sich vor die Glasfront, um daran zu nippen und seiner eigenen, geisterhaften Reflexion im Glas fest in die Augen zu sehen. „Reiß dich zusammen“, befahl er sich selbst laut, „wie alt bist du eigentlich, vierzehn? Du bist ein erwachsener Mann, dein Sohn wird den ganzen Abend lang vorzüglich betreut und du wirst jetzt verdammt nochmal cool sein.“ „Ähm“, sagte Wyatt behutsam hinter ihm, aber es war unvermittelt genug, das Kai sich vor Schreck beinahe am Whiskey verschluckte und zu ihm herumwirbelte, um ihn mit wilden Augen anzusehen. Sein einziger Trost war, dass sein Assistent mindestens genauso peinlich berührt dreinblickte, wie Kai sich fühlte. „Ich … kann später wiederkommen, wenn Sie eine Minute brauchen …?“ „Wie kommen Sie darauf?“, sagte Kai so würdevoll wie möglich und war stolz darauf, dass sowohl seiner Stimme als auch seinem Gesicht keine Regung anzumerken war. Er hatte immer noch den Whiskey in der Hand, aber welcher CEO trank nicht gern einmal ein Gläschen, wenn der Feierabend nahte? „Was tun Sie eigentlich noch hier? Es ist Freitag, gehen Sie heim.“ Wyatt starrte ihn an, als ob ihm ein zweiter Kopf gewachsen war. Dann warf er einen Blick über seine Schulter, als ob er befürchtete, von einer Kamera gefilmt zu werden, ehe er schließlich wieder Kai geradezu besorgt fixierte. „Es ist erst kurz vor sechs.“ „Gehen sie“, wiederholte Kai, woraufhin Wyatt instinktiv salutierte und dann hochrot peinliche Worte des Abschieds stammelnd hinausstürzte. Kai trank noch einen kräftigen Schluck und fragte sich, was es über ihn aussagte, dass sein Assistent eine Sinnkrise bekam, wenn sein Chef es freitags vor sieben Uhr abends gut sein ließ. Dann wiederum war es wohl kein Zufall, dass er ein Date mit seinem Buchhalter hatte. Den er in seiner eigenen Firma kennengelernt hatte. Der ihn von seinem Büro abholen würde. War es überhaupt eine gute Idee, Mr. Gletscheraugen zu daten? Ein guter Buchhalter war schwieriger zu finden als ein guter Liebhaber, egal wie hart er davon fantasierte, die Oberschenkel um diesen Kopf zu pressen und die Finger in rotes Haar zu vergraben, bis - Es klopfte. „Herein!“, sagte Kai etwas lauter als nötig mit warmen Wangen und setzte das mittlerweile ohnehin leere Glas ab. Er hatte gerade noch Zeit, sich rasch durch die Haare zu fahren, dann trat der rothaarige Teufel seiner Träume ein, die Aktentasche in der einen und etwas, das aussah wie ein Picknickkorb in der anderen Hand. Ehe Kai ein Wort sagen konnte, war sein Blick auf dem Glas gelandet und die Mundwinkel schürzten sich zu einem amüsierten Lächeln, das Dinge mit Kais Eingeweiden anstellte. „Müssen Sie sich die Sache erst schön trinken?“, fragte er, „Dann gehe ich jetzt nämlich und esse all das hier mit Ms. Fernandez aus der Grafikabteilung auf.“ „Ms. Fernandez ist freitags nie im Haus“, sagte Kai automatisch, „schon gar nicht um diese Uhrzeit. Wenn Sie aber nett zu mir sind, nehme ich die Flasche mit.“ Das Lächeln vertiefte sich. „Ich mag die Art, wie Sie denken.“ Er senkte ein wenig die Augenlider und sah Kai mit einem Blick an, der sein Herz kurzzeitig auf seine Hauptaufgabe vergessen ließ. „Reicht ein kleines ‚Bitte‘ oder möchten Sie einen Kniefall von mir?“ Es war unmöglich, die Flut von Bildern aufzuhalten, die sich umgehend vor Kais innerem Auge abspielte. Irgendwie schaffte er es dennoch, mit ungerührter Stimme zu erwidern: „Vielleicht ein bisschen später.“ „Ich komme darauf zurück“, schnurrte Buchhalterbabe. Es kostete Kai bei diesem Tonfall die letzte Hirnzelle, würdevoll zu nicken und erst seinen eigenen Aktenkoffer, dann die Whiskeyflasche zu ergreifen, ehe er an ihm vorbeiging. Wie erwartet folgte Buchhalterbabe ihm und schloss recht bald mit seinen langen Beinen zu ihm auf. Die Firma war um diese Uhrzeit praktisch ausgestorben, die Lichter abgedreht, sodass das verbleibende Sonnenlicht von draußen die einzige Lichtquelle war. Sie schwiegen, während sie zu den Aufzügen gingen und Kai ermahnte sich, dass es keinen Anlass zur Nervosität gab, auch wenn die ganze Aktion irgendwie surreal war. Als die Türen des Aufzugs sich hinter ihnen geschlossen hatten und sie hinunterfuhren, drehte Kai sich zu seinem Saldengott. „Sobald wir durch die Türen dieser Firma gehen und auf der Straße stehen“, sagte er, „bin ich Kai. Okay?“ „Oh, Gott sei Dank“, sagte Buchhalterbabe prompt, „ich bin ja immer für ein bisschen Roleplay zu haben, aber das wäre dennoch ein sehr seltsames Picknick geworden. Dann bin ich aber Yuriy.“ „Yuriy“, wiederholte Kai und hatte den Eindruck, dass der andere wohlig schauderte, was ihn wiederum dazu bewog, ihn anzublinzeln. Einen Moment lang sahen sie einander versonnen lächelnd an, dann fixierten sie beide wie auf ein stummes Signal hin etwas peinlich berührt die Aufzugwände. Kai stellte fest, dass er dringend etwas gegen dieses nervtötende Gedudel unternehmen musste, mit dem sie fortwährend beschallt wurden, während sie Stockwerk um Stockwerk überwanden, bis sie endlich im Erdgeschoss ausstiegen. Auch der Portier war nicht mehr an seinem Posten und die Eingangshalle war leer, als sie sie durchquerten und tatsächlich auf der Straße standen. Yuriy schien einen genauen Platz vor Augen zu haben, denn er gab Kai ein Zeichen, ihm zu folgen und marschierte los. Das Wetter war fast perfekt für ein Picknick: Wie eigentlich immer war der Himmel über London zwar bewölkt, aber es sah nicht nach Regen aus und es würde noch eine Weile hell bleiben. Ihre Strecke führte sie in Richtung Themse, dann über die Westminster Bridge, die wie üblich vor Touristinnen und Touristen wimmelte. Kais leichter Missmut über diese Tatsache verflog, als Yuriys Schulter wiederholt sie seine streifte und er von der Seite her angelächelt wurde. Außerdem fragte er sich unwillkürlich, wie er wirken musste - Aktentasche in der einen Hand und halbvolle, sündteure Whiskeyflasche in der anderen, neben sich ein Kerl, der tatsächlich zum Niederknien war. Kai beschloss, dass man ihn nur beneiden konnte. Der Rest der Menschheit konnte sich unbefriedigend ficken gehen. Ohne darüber nachzudenken fragte er: „Wieso ausgerechnet ein Picknick?“ „Es ist nicht umsonst ein Klassiker“, sagte Yuriy und blinzelte ihm zu. „Nur du, ich, tausend andere Pärchen mit der gleichen Idee und die Natur um uns herum, während ich dir Häppchen reiche und verzückt seufze, wann immer sich unsere Finger berühren oder ich einen deiner Knöchel sehe.“ Kai verkniff sich ein Lachen. „Da hat wohl jemand zu viele Jane-Austen-Verfilmungen gesehen.“ „Da hat wohl jemand nicht genügend Verfilmungen von russischen Klassikern gesehen“, konterte Yuriy augenblicklich, „weißt du, wieviele Szenen es in der russischen Literatur gibt, in dem sich ein adeliges Paar über den Verlauf einer Picknickdecke hinweg anschmachtet?“ „Ich würde ja gerne sagen, dass du der Graf Wronskij zu meiner Anna Karenina sein kannst, aber ganz ehrlich, Wronskij ist ein Arsch und ich verdiene jemanden, der kein Arsch ist.“ Das war vielleicht ein bisschen zu ehrlich für das erste Date und Kai bereute seine Aussage augenblicklich, aber Yuriy entschärfte die Situation, indem er ihn zuzwinkerte und sagte: „Ich werde dich also nur mit meinem schneidigen Äußeren und dem leidenschaftlichen Verlangen für mich gewinnen. Und den Gurkensandwiches.“ Ich bin gern das Sandwich zu deiner Gurke, dachte Kai und wollte sich am liebsten selbst eine dafür reinhauen. Stattdessen sagte er kokett: „Ich wette, das sagst du all den Leuten, die du zu einem Date einlädst.“ Yuriy blinzelte ihm zu. „Funktioniert es denn bisher?“ „Das entscheide ich, wenn ich diese Sandwiches gesehen habe“, sagte Kai und konnte eine gewisse Zufriedenheit nicht unterdrücken, als Yuriy daraufhin lachte, was Kai die Gelegenheit zu der Feststellung gab, ein Grübchen in seiner Wange zu bewundern. Süß. Sie ließen den Westminster Palace links liegen und wanderten die Great George Street entlang, sodass Kai sich recht sicher wurde, dass Yuriy ihn in den St. James Park führen wollte. Es veranlasste ihn dazu, Yuriy eine Anekdote zu schildern, wie er nach dem Lesen von Good Omens vor vielen Jahren extra durch den Hyde Park spaziert war, um nach Geheimagenten Ausschau zu halten, die gemeinsam Enten fütterten. Yuriy lachte erneut, als Kai ihm seine Enttäuschung darüber vermittelte, nicht mit absoluter Sicherheit irgendwelche Spione ausgemacht zu haben, dafür aber eine Reihe von Pensionisten, die ihm sehr misstrauische Blicke entgegen geworfen hatten. „Ich meine, das war schon sehr enttäuschend, aber wahrscheinlich nicht die größte Enttäuschung in meinen Zwanzigern“, beendete er seine Geschichte, während sie durch die Eingangstore des Parks spazierten und Yuriy begann, Ausschau nach einem geeigneten Platz zu halten. „Jetzt will ich aber wissen, was die größte Enttäuschung war“, sagte dieser dann sogleich prompt und deutete auf einen etwas weiter entfernten Platz unter einem Baum, der in malerischer Nähe zum See lag, ohne dass sie nahe genug daran waren, um von Stechmücken aufgefressen zu werden. „Sollen wir darauf mal zusteuern, übrigens?“ „Klingt gut“, stimmte Kai zu und dachte währenddessen eine Weile nach. „Es gab eine Reihe von Enttäuschungen“, gab er dann zu, „mit den ganzen Gerichtsprozessen um die Firma und interne Familienkrisen war das gar keine so einfache Zeit. Aber es gab auch genügend gute Dinge, also will ich mich eigentlich gar nicht beschweren.“ Yuriy warf ihm ein kleines Lächeln von der Seite zu. Er musste sich über die Prozesse informiert haben - diese ewig langen Schlammschlachten, die er und seine Mutter sich mit Großvater geliefert hatten, als er die Firma durch aufgedeckte linke Deals mehr oder weniger in den Ruin getrieben hatte. Es war anstrengend gewesen, ihre kläglichen Überreste zu nehmen und Hiwatari Enterprises wie den Phönix aus der Asche auf einem komplett neuen Gebiet aufsteigen zu lassen, aber in den letzten zwei Jahren hatte es endlich begonnen, sich zu lohnen. Kai war ein wenig erleichtert, dass Yuriy nicht in diese Richtung nachhakte, sondern nur meinte: „CEO eines internationalen Unternehmens werden, zum Beispiel? Kind und, ähm, bezaubernde junge Frau?“ Kai schmunzelte ein wenig. „Subtil.“ „Ich bin bekannt für meine Subtilität. Also?“ „Ach, das mit Ayaka - das ist Gous Mutter - war so eine Sache. Sehr leidenschaftlich, aber eigentlich waren wir uns immer viel zu ähnlich, als dass es langfristig funktionieren konnte. Gou war ein Hoppla, auch wenn das irgendwie so abwertend klingt - eine Schwangerschaft war jedenfalls eigentlich nicht geplant. Wir haben es dann noch eine Weile ihm zuliebe versucht, aber es ist nicht gut gelaufen. Außerdem hat sie einen Job, bei dem sie viel international zu tun hat - sie ist Übersetzerin für die UN -, also haben wir eine Regelung gefunden, die uns gut passt und uns freundschaftlich getrennt. Seitdem verstehen wir uns auch wieder deutlich besser.“ „Dein Sohn ist also überwiegend bei dir?“ Yuriy hob eine Augenbraue. „Wie machst du das mit dem Job daneben?“ „Es gibt immer noch Gous Großeltern, außerdem habe ich ein Au-Pair.“ Yuriy blinzelte. „Was hat die Oper damit zu tun?“ Kai verkniff sich ein Lachen. „Au-Pair. Praktisch ein Kindermädchen, eine Studentin aus Deutschland, die in meinem Haushalt wohnt und mir mit diesem Haushalt und Gou hilft. Ohne sie würde ich das sowieso nicht hinbekommen.“ Sie waren unter dem Baum angekommen. Yuriy stellte Aktentasche und Korb auf den Boden, dann entnahm er letzterem eine orange-weiß karierte Decke und breitete sie schwungvoll auf dem Gras aus, ehe er mit einer gespielt übertriebenen Verbeugung und einer weitschweifigen Armgeste darauf deutete. „Bitte, nehmen Sie Platz.“ Kai schenkte ihm eine seiner schönsten Verbeugungen nach japanischer Art, dann schlüpfte er aus den Schuhen und ließ sich auf die Decke fallen. Er stellte Whiskeyflasche und Aktentasche neben sich ab und lockerte sich die Krawatte, während er zusah, wie Yuriy ebenfalls die Schuhe neben der Decke abstellte, das Sakko über die Aktentasche warf und dann begann, mit geschäftiger Miene Dinge aus dem Korb zu räumen, die in militärischer Präzision auf den Karos aufgereiht wurden: Wasser in Glasflaschen, mehrere Tupperdosen gefüllt mit Gott wusste welchen Köstlichkeiten, eine Flasche Wein - Gott, Kai hoffte, dass Yuriy nicht erwartete, dass er sich mit Wein auskannte -, zwei Gläser, Servietten, Teller mit einem zierlichen, bereits ziemlich verblassten Blütenmuster an den Rändern und Besteck. Kai beäugte die Ausstattung mit ehrlicher Faszination. „Ich bin beeindruckt, dass sich das alles in diesem Korb ausgegangen ist.“ „Das ist alles nur eine Frage der richtigen Volumenberechnung“, erwiderte Yuriy prompt, dann starrte Kai ihn fasziniert und mit trockenem Mund an, als ein Strom von Formeln über seine Lippen glitt wie das sündige Lockungslied einer Sirene, während seine Hände geschickt Behälter öffneten und Teller, Besteck und Gläser verteilten, bis er seine Ausführungen schließlich schloss mit: „Dennoch müssen wir jetzt alles aus einem Glas trinken, aber nachdem du jetzt auch noch Whiskey mitgenommen hast, glaube ich, dass wir über den Stilbruch bald hinwegkommen.“ „Ich glaube auch, dass wir bald kommen. Hinweg, meine ich! Über den Stilbruch!“ Kai räusperte sich. „Ich glaube, ich bleibe erstmal beim Whiskey.“ Yuriy lachte ihn schamlos aus und nahm ihm die Flasche weg, um ihnen beiden einzuschenken. „Dann schließe ich mich an, damit du nicht alleine trinken musst.“ „Das ist sehr gütig von dir.“ Kai nutzte die Gelegenheit, um den Bestand an Essen zu inspizieren. Da waren die versprochenen Gurkensandwiches, aber auch selbstgemachter Coleslaw, Obstsalat, Nudelsalat mit Fetakäse und Tomaten, gefüllte Teigschnecken und Cookies. Er hob den Kopf. „Bist du in deiner Freizeit irgendwie verhinderter Koch oder so?“ „Das ist alles nicht so schwierig und geht relativ schnell, noch dazu, wenn man Hilfe hatte“, sagte Yuriy, wirkte aber höchst zufrieden über Kais Aussage. „Außerdem habe ich vielleicht nur eine Chance, dich zu beeindrucken und die wollte ich nutzen. Cheers.“ Sie stießen miteinander an. Kai trank einen kräftigen Schluck, dann sagte er: „Du hast mich schon mit diesem Zahllistenordner beeindruckt. Und dem Klemmbrett. Glaub nicht, dass mir nicht aufgefallen ist, dass es farblich zum Ordner gepasst hat.“ Yuriy schenkte ihm ein Raubtierlächeln und senkte ein wenig die Augenlider, während er ihn hinter dem Rand seines Glases hervor betrachtete. „Das hat dir gefallen, hm? Was war mit dem Inhaltsverzeichnis?“ „Scharf“, sagte Kai umgehend und biss sich bewusst auf die Lippen dabei. Es befriedigte ihn zu sehen, wie Yuriys Blick seiner Bewegung folgte. „Und die Schriftart, die du verwendet hast …“ „Garamond“, gurrte Yuriy und das Wort glitt von seinen Lippen wie Champagnerperlen, „Arial ist so …“ „Standard?“, half Kai aus. „Mmmmh.“ Sie starrten einander stumm und erhitzt an, die Gläser vergessen in ihren Händen, bis Yuriy sich schließlich räusperte. „Nun, greif zu. Ich gebe zu, mein Favorit ist der Nudelsalat, aber ich bin voreingenommen.“ „Ich beginne mit einem dieser Gurkensandwiches, für die du so kräftig Werbung gemacht hast“, erwiderte Kai umgehend und ließ den Worten Taten folgen. „Gibt‘s eigentlich einen Grund, warum alles hier vegetarisch ist?“ Er war ein wenig erstaunt von dem überraschten Blick, der ihm daraufhin zugeworfen wurde. „Was denn, habe ich etwas Falsches gesagt?“ „Ich mag es, wie aufmerksam du bist“, stellte Yuriy fest. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, sanfter als die Male, bei denen er zuvor gelächelt hatte. „Ja, ich bin Vegetarier. Ich meine, ich esse Eier und Milchprodukte, aber weder Fleisch noch Fisch.“ „Gibt es einen bestimmten Grund dafür?“, erkundigte Kai sich. Yuriy zuckte mit den Achseln. „Ich habe für mich die Entscheidung gefällt, dass ich nicht will, dass ein lebendes Wesen für mich sterben muss. Es ist mir schon klar, dass die Probleme der Tierhaltung auch die Produktion von Milch und Eiern mit einschließen, aber das versuche ich zu umgehen, indem ich da halbwegs auf faire Produkte achte, wenn es die Finanzen zulassen. Außerdem schmeckt mir Fleisch mittlerweile gar nicht mehr. Es ist alles auch ein bisschen Gewohnheit.“ „Fair“, befand Kai, nahm dann einen Bissen vom Sandwich und unterdrückte ein Stöhnen. „Scheiße, das ist ja wirklich gut.“ „Danke für dein Vertrauen“, lachte Yuriy. „Kann ich dich für das Picknick anheuern, zu dem ich von Gous Schule gezwungen werde?“, fragte Kai und nahm noch einen Bissen. Ein Eichhörnchen flitzte über den Stamm des Baums hinter ihnen und betrachtete sie neugierig aus glänzenden, schwarzen Knopfaugen. „Ich kann nicht kochen, will für dieses Picknick auch nicht kochen und kann trotzdem nicht mit leeren Händen aufkreuzen, weil es sonst wirkt, als wäre ich ein inkompetentes, seelenloses Arschloch von Vater.“ „Da hat jemand Probleme“, stellte Yuriy zwischen zwei Bissen Nudelsalat fest, „das klingt mehr nach Müttermafia als nach Picknick. Unter diesen Umständen sehe ich es als meine Pflicht, dein Haus und deine Küche zu stürmen und dir beizubringen, wie du die perfekten Sandwiches machst. Es ist wirklich alles nur eine Frage der optimalen Kalkulation.“ „Oh, du darfst gerne jederzeit quer durch meine Küche kalkulieren“, sagte Kai und griff nach einer der Teigschnecken, um mit einem überraschten Stöhnen festzustellen, dass auf seiner Zunge durch die Tomaten-Spinat-Füllung eine Geschmacksexplosion verursacht wurde. „Geil?!“ Yuriy verkniff sich sichtlich nur schwer ein Lachen. „Die sind nicht von mir, sondern von Boris“, erklärte er, „er kann sowas echt gut.“ Kai horchte auf. „Boris?“ „Mein Lebensmensch“, erklärte Yuriy und nahm einen Schluck Whiskey. Aus den Augenwinkeln stellte Kai fest, dass das Eichhörnchen näher kam, aber er vergaß sogleich wieder darauf, als Yuriy weitersprach. „Wir kennen uns, seit wir Kinder waren. Waren oft bei den gleichen Pflegeeltern, als wir beide im System gesteckt sind, weil die schnell realisiert haben, dass wir zu zweit erträglicher und damit leichter zu vermitteln sind.“ Kai runzelte die Stirn und überlegte, ob er eine Frage zu dem Pflegeheimsystem stellen wollte oder ob diese Themen für ein erstes Date zu schwierig waren, aber Yuriy ließ ihm dazu ohnehin keine Zeit, denn er fuhr gleich fort: „Seitdem waren wir eigentlich immer zusammen. Boris hat mir mehr als einmal den Arsch gerettet - wenn er nicht wäre, würde ich vielleicht gar nicht mehr hier sitzen.“ Kai hob die Augenbrauen und versuchte sich seine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. „Bist du sicher, dass du mit mir auf diesem Picknick sein solltest?“ Yuriy lächelte beschwichtigend. „Auf die Art ist das nicht mit uns beiden, keine Sorge.“ „Auf die Art? Welche denn?“, fragte Kai unwillkürlich. Er wurde einen Moment lang so intensiv von blauen Augen gemustert, dass nicht nur der Whiskey ein Brennen in seiner Magengrube hinterließ. Dann stellte Yuriy auf eine bewusste Art und Weise den Teller beiseite, die ihn das Glas senken ließ. Er sah mit einer Mischung aus Nervosität und augenblicklicher Erregung dabei zu, wie Yuriy mit leuchtenden Augen geradezu raubtierhaft auf allen Vieren am Essen vorbei die Deckendistanz überwand, bis er so nahe an Kai war, dass sich ihre Schultern und Knie berührten und er seinen Atem auf der Wange spürte. Sie sahen sich an. Dann nahm Yuriy ihm behutsam das Glas ab und stellte es beiseite, ohne den Blickkontakt mit ihm zu unterbrechen oder auch nur in irgendeiner Weise von Kai daran gehindert zu werden. Er blähte die Nasenflügel, als Kai nicht mehr widerstehen konnte und ihm mit einer federleichten Berührung eine weiche, rote Strähne hinter das Ohr strich, ehe er erneut zu ihm aufsah. „Wenn du mich lässt, dann zeige ich dir, welche Art ich meine“, wisperte Yuriy, die glühenden Augen unverwandt auf Kai gerichtet. Kai, der seit Tagen über nichts anderes fantasierte als diesen Mann, dachte überhaupt nicht daran, irgendetwas anderes zu tun als zu nicken - und dann hatte er plötzlich die Finger in rotem Haar vergraben, während er von Yuriy um den Verstand geküsst wurde. Ah, Nudelsalat, stellte die eine nicht-dauergeile Hirnzelle in seinem Verstand fachmännisch fest, dann wurde sie schlichtweg überrollt von einer Woge aus Verlangen, die ihn dazu brachte, Yuriy näher an sich zu ziehen und die Lippen für ihn zu öffnen. Der Geruch von Yuriys herbem Aftershave kitzelte ihn in der Nase; er fühlte sich wie benommen von der Art und Weise, wie Yuriy ihn küsste, fest und entschlossen und zärtlich, mit einer Hand an Kais Wange, deren Daumen über seinen Wangenknochen streichelte. Oh Gott, stellte die eine nicht-dauergeile Hirnzelle mit unpassender, eiskalter Klarheit fest, du könntest dich in ihn verlieben. Natürlich war das der Augenblick, in dem das Eichhörnchen beschloss, zusammen mit mehreren Artgenossen in einem Blitzkrieg die Gurkensandwiches zu attackieren. Die Momente, die dieser Attacke folgten, nachdem Yuriy den Kuss löste und „Nicht die Gurkensandwiches, ihr Heiden!“ brüllend mit einem absolut ins Auge gehenden Hechtsprung zum Gegenschlag ausholte, waren immerhin turbulent genug, dass Kai den Gedanken ganz rasch dort vergraben konnte, wo er nicht so beängstigend und gleichzeitig so aufregend war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)