Ein Austausch mit Folgen von SuperCraig ================================================================================ Kapitel 58: Das Seitenfach -------------------------- Das Entsetzen des Grauhaarigen war beinahe greifbar. „Aber, aber…“ stotterte Pegasus. „Was soll ich mit einem Weißen Drachen anfangen? Er ist das Markenzeichen von Kaiba, nicht meines.“ Hatte ich zu viel verlangt? Nein, definitiv nicht. Pegasus selbst war bereit gewesen, einen hohen Preis zu zahlen. „Die Toon World ist aber mein Markenzeichen!“, rief er bestürzt, was mir nur ein müdes Lächeln abrang. „Karten kann man nachdrucken. Das haben Sie selbst gesagt“, antwortete ich matt. „Bringen Sie mir bitte die Karte auf unser Zimmer. Zwecks der Behandlung meines Großvaters: Sie haben ja meine Daten, nehme ich an? Ansonsten wird Kaiba so nett sein, sie weiterzuleiten.“ Damit drehte ich mich auf dem Absatz um und ging, mein Deck in meine Hosentasche schiebend, davon. Wohin, das war mir selbst noch nicht klar, aber ich wollte weg. Selbst wenn Pegasus nicht zu seinem Wort stand, so war es ein äußerst kräftezehrendes Duell gewesen, sowohl für Mahad, als auch für mich. „Danke“, sagte ich leise und konnte die wohlige Wärme des Geistes spüren, der mir nun wieder die Kontrolle über meinen Körper überließ. „Wir haben uns gut geschlagen“, meinte er, was ich mit einem Nicken quittierte. In der Tat, unser Sieg war wirklich etwas Besonderes. Natürlich war eine gehörige Portion Glück dabei gewesen, oder hatte doch das Schicksal am Ende gesiegt? Ich wusste es nicht, und es war mir auch einerlei. Auf Kaiba hatte ich gerade auch keinen Bock: Pegasus´ Worte mochten zwar darauf abgezielt haben, mich zu verunsichern, aber an ihnen haftete auch etwas Wahres. Ich war sein Konkurrent, warum auch immer er mich als solchen sah. Mokuba als eine Art Objekt zu sehen, um dessen Gunst wir buhlten, widerstrebte mir sehr. Irgendwie hatte ich es geschafft, mein Zimmer zu finden. Müde ließ ich mich aufs Bett sinken und starrte an die Decke. „Großer Bruder“, geisterten mir Mokubas Worte durch den Kopf. War es richtig, dass sich der Kleine so an mich band? Ich verlagerte meine Position ein wenig, und mein Blick fiel auf das Seitenfach meines Koffers. Joeys Geschenk! Da war etwas! Hastig rutschte ich nach vorne und öffnete den Reißverschluss. Mehrere, ordentlich gefaltete Zettel, waren in die Schleife eines rechteckigen Päckchens gesteckt worden, dessen rotes Papier das darunterliegende Geschenk vor meinen neugierigen Blicken gut schützte. Vorsichtig entfernte ich die vermeintliche Nachricht und legte das Päckchen beiseite. Sorgsam entfaltete ich die Papierbögen und strich sie glatt. Joeys krakelige Schrift zierte die einzelnen Blätter, und ich begann, voller Neugierde, zu lesen: Lieber Schatz, wenn du das hier liest, wirst du das Duell mit Pegasus wahrscheinlich bereits hinter dir haben. Ich bin mir sicher, dass du dich gut geschlagen hast. Ich erinnere mich noch zurück, als ich damals im Königreich der Duellanten gegen Yugi kämpfen musste. Es war schwer, aber nicht unmöglich gewesen. So wird es auch dir ergehen, wobei das eher an Pegasus´ Fähigkeiten, und nicht an einer Freundschaft mit dem Schleimbeutel liegen mag. Ich habe lange überlegt, was ich dir schenken soll. Du hast mir ja nicht einmal gesagt, was du mir schenken wirst. (Dabei musste ich schmunzeln – ich konnte mir Joey gut vorstellen, wie er vorwurfsvoll aufs Blatt starrte) Bevor du dein Päckchen öffnest, möchte ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe. Du bist, neben meiner kleinen Schwester, der wichtigste Mensch in meinem Leben. Auch wenn Yugi und Tristan meine besten Freunde sind, so werde ich mit ihnen nie so reden können wie mit dir. Du warst für mich da, als ich dich gebraucht habe. Du hast mich nicht ausgelacht, oder auch nur eine Sekunde daran gedacht, unsere Beziehung an die große Glocke zu hängen, obwohl es dir schwergefallen sein muss. Zwischendrin habe ich mich wie ein total egoistisches Arschloch gefühlt. Ich habe auch an dir gezweifelt, ob du es aushältst, oder dir irgendwann die Sicherungen durchbrennen. Daran bestand wohl auch nicht eine Sekunde lang ein Zweifel, und ich schäme mich, überhaupt daran gedacht zu haben. Ich erinnere mich noch gut, als wir uns in der VR duellierten. Wie ekelhaft es war, kontrolliert zu werden. Ich habe mich selbst gehasst. Jede Faser meines Körpers verfluchte ich in dem Moment, als du vor mir gestanden bist. Dein Blick, dein Auftreten – das warst nicht mehr du. Ich wusste, du würdest mich retten. Mei hatte Angst. Du hast ihre Fallen bewältigt und bist zu mir gekommen. In dem Moment, als ich in dein Gesicht sah, war meine Angst verflogen. Ich wusste, dass unsere Liebe stärker sein würde, als irgendein komischer Zwang in einer VR, oder Meis Eifersucht. Du bist für mich eingestanden, gleich am ersten Tag unseres Kennenlernens. Als du voller Selbstsicherheit dein Rotauge beschworen hast, und es mit Kaibas Weißem Drachen gleichgezogen ist. Langsam aber sicher fandest du die Selbstsicherheit, die ich so an dir liebe. Deine Entscheidungen wirken so einfach, und dabei sind sie manchmal so schwer. Ich hätte nicht eine Sekunde Meis Spiel mitspielen können, nicht mehr. Am Anfang war ich enttäuscht und traurig, aber im Nachhinein habe ich kapiert, warum du es getan hast: Für mich. Du hast das alles auf dich genommen, um mich zu beschützen. Was ich mir so gewünscht habe, als kleiner Junge, es ist wahr geworden. Endlich ist da jemand, der mich liebt, so wie ich bin. Ich muss mich nicht mehr verstellen, nicht mehr an mir arbeiten – du scheinst mich wirklich so zu mögen, wie ich bin. Das Gefühl, dich in den Armen zu halten, dir beim Schlafen zuzusehen – manchmal glaube ich, alles schon einmal erlebt zu haben. Es sind nur ganz flüchtige Fetzen, an die ich mich erinnere. Ein Bild aber, das kann ich immer wieder sehen, nämlich dich, in dieser einen Rüstung. Wir haben sie nach meinen Angaben angefertigt, für den Ball. Du hast genau so ausgesehen, wie in meinen Träumen. Der Ring an deiner Brust, das Schwert am Gürtel. Wenn es stimmt, was Yugi sagt, dann ist das wahr, oder? In einem früheren Leben, da waren wir bereits zusammen? War es darum so schön, als wir uns das erste Mal geküsst haben? Wenn es wirklich stimmt, dann wirst du dich über dein Päckchen freuen. Yugi hat mir geholfen. Ich hoffe, es gefällt dir. Ich warte schon darauf, dass du wieder zurückkommst. Lass dich von Kaiba nicht unterkriegen, und auch nicht von Pegasus. Glaube an dich, so wie wir es tun. Vertraue auf dich, und vergiss nicht: Ich werde an dich denken, und mein Herz wird immer bei dir sein. In Liebe Joey Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Augen. Er hatte es auf Englisch geschrieben. Ich konnte einige Fehler erkennen, und er hatte vieles durchgestrichen und dann wieder angefügt, aber es war wunderschön. Die Mühe, die er investiert haben musste. Englisch war trotz allem noch immer einfacher für mich zu verstehen, als Japanisch. Er hatte das sicher bemerkt, aber es war für ihn eine größere Qual, sich auf Englisch auszudrücken, als für mich auf Japanisch. Alleine das war schon eine Geste, die mir zeigte, wie sehr er mich liebte, und wie sehr ich ihn vermisste. Langsam griff ich nach dem Geschenk und packte es vorsichtig aus. Es war ein Bild, oder besser gesagt eine Zeichnung. Ich weiß bis heute nicht, wie Joey es geschafft hatte, das zu malen. Da stand ich, in genau der Montur, die ich beim Ball trug. Links von mir stand mein Schwarzer Magier, rechts der Schwarze Rotaugendrache. Über mir hatte die Exodia ihre Hände ausgebreitet. Das Bild war nicht groß, aber es hatte eine solche Detailverliebtheit, dass ich gefühlt Stunden darauf starren hätte können. Ich drehte den Rahmen um, und konnte eine Widmung erkennen. „Weihnachten 2018 – von Joey, für David; damit du mich nie vergisst“. Mit Tränen in den Augen legte ich das Bild zur Seite. „Er hat sich nicht geändert“, konnte ich Mahad hören, der zu lächeln schien. „Auch scheint er sich zu erinnern. Ich kenne dieses Bild nämlich.“ Der Geist kannte das Bild? „Das Original hing in seiner Schlafkammer. Er hat Jahre dafür gebraucht.“ Nachdenklich strich ich mit dem Daumen über das Glas des Bilderrahmens. „Denkst du, dass ihn manchmal Schuldgefühle geplagt haben?“, fragte ich Mahad. Dieser schwieg einige Zeit, bevor er antwortete: „Er hat uns einst versprochen, dass wir nie ganz getrennt sein werden. Es dauerte zwar viele Jahre, aber anscheinend erfüllt er sein Versprechen.“ Sollte das alles wirklich wahr sein? Sollten Joey und ich wirklich schon einst ein Paar gewesen sein? „Erinnert sich Kaiba auch an früher?“, fragte ich weiter. Mahads Stimme barg eine gewisse Form von Unsicherheit, als er antwortete: „Vielleicht? Eines steht aber fest: Er handelt genauso wie früher. Wir waren einst gute Freunde.“ Freunde. Konnte man mit Seto Kaiba überhaupt befreundet sein? Hatte Pegasus nicht sein wahres Gesicht aufgezeigt? Doch wer war schon Maximilien Pegasus? Aus dem, in meinen Augen kühnen, stolzen Künstler war ein Häufchen Elend geworden. Er musste betrügen, um eine Chance auf den Sieg zu erlangen. „Darf ich dich etwas fragen?“ Ich schrägte den Kopf. Mahad fragte normalerweise nie nach. Ich nahm an, er war in der Lage, in meine Seele zu blicken, da wir ja eigentlich eins waren. „Natürlich“, entgegnete ich. „Warum hast du den Weißen Drachen nicht angenommen?“ Warum hatte ich das eigentlich nicht getan? „Aus einem Gefühl heraus. Der Weiße Drache mit Eiskaltem Blick ist Kaibas Karte, sein Monster. Es wäre falsch, ihn mir anzueignen.“ Ich hätte schwören können, dass der Geist gerade lächelte. „Und Pegasus die Toon World zu abzunehmen ist nicht dasselbe?“ War es in meinen Augen nicht. „Nein, denn Pegasus kann den Wert einer solchen Karte nicht verstehen. Er mag seine Cartoons zwar lieben, aber es sind für ihn immer noch leblose Objekte, über die er verfügen kann, wie er will. Außerdem benutzt er sie, um andere zu demütigen und zu quälen.“ Vor meinem Auge erschien die Szene mit der Exodia, die die Toon World einfach in Fetzen riss. War ich besser als Pegasus? Mein Monster hätte einst fast ganz Britannien ausgelöscht, meine Freunde getötet, und mich am Ende zum Sterben verdammt. „Das bist du“, echote Mahads Stimme sanft in meinem Hinterkopf. „Du hast den Wert deiner Monster erkannt. Auch wenn du dein Deck komplett umgestellt hast, so ist sein Kern, sein Herz noch immer gleich. Du hattest Angst, oder?“ Ich nickte. Lügen hatte keinen Sinn. „Der Weiße Drache, die Karte, sie hat sich wie ein Fremdkörper angefühlt.“ Meine Worte mussten irgendetwas in meinem zweiten Ich ausgelöst haben, denn ich konnte seine Erleichterung spüren. „Deine Sensitivität wächst mit jedem Tag. Duel Monsters ist eine moderne Adaption eines alten, ägyptischen Spiels. Die Monster waren damals real, so wie du es bist.“ Dann war auch die Geschichte in England nicht mehr als eine Weiterentwicklung des ägyptischen Originals. „Manchmal zögerst du, eine bestimmte Karte zu spielen. Du wiegst ab, das ist gut. Damit hast du etwas mit Kaiba gemeinsam.“ Ich zog die Brauen hoch. Kaiba wirkte nicht, als ob ihm etwas an seinen Monstern lag. „An seinen Weißen Drachen schon, ähnlich wie dir an deinem Schwarzen Rotaugendrachen.“ Ich erinnerte mich an unser Gespräch im Krankenhaus zurück. Langsam begann die Kausalkette einen Sinn zu ergeben. Kaiba hatte mich besucht, um etwas zu erfahren, zu verstehen: Ob ich gleich fühlte wie er. Suchte jemand wie Seto Kaiba vielleicht einen Gleichgesinnten, mehr noch; einen Freund? Waren wir nicht früher bereits Freunde gewesen? „Diese Frage kann ich dir leider auch nicht beantworten, aber eines ist gewiss: Selbst wenn Kaiba nicht mit uns befreundet sein möchte, so hat zumindest Mokuba dich in sein Herz geschlossen. Vielleicht ist auch ein Teil von Kaibas damaligem Ich, sein guter Kern, auf seinen Bruder übergegangen?“ Mahads Worte stimmten mich nachdenklich. Konnte es wirklich wahr sein? Mokuba war nur die Auslagerung von Kaibas Teilpersönlichkeit? Ich verwarf diesen Gedanken sofort wieder, Für mich war der kleine Kaiba kein Ding, kein Gefäß, er war mehr: Mein kleiner Bruder, den ich über alles liebte, und für den ich, genauso wie für Joey, durch die Hölle gehen würde. Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinem Zwiegespräch mit Mahad. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)