Der eine zählt des anderen Tassen von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 7: Mit der Stulle in der Hand ------------------------------------- Natürlich wollte sie nicht mit ihm reden, aber was blieb ihr denn anderes übrig, als ein Dankeschön zu murmeln, nur, um sich dann doch in die äußerste Ecke des Strandkorbs zu pressen, die Arme vor der Brust zu verschränken und zu hoffen, dass das Unwetter bald vorbeiginge. Doch mit dieser Taktik kam sie nicht weit, jedenfalls fühlte sie sich nach einer Weile des Schweigens dazu genötigt, erneut das Wort an ihn zu richten. „Sie sind auch vom Regen überrascht worden?“ „Wie kommen Sie darauf?“, kam’s flugs von ihm. „Ich bin eigens hergekommen.“ „Was? Wirklich?“ Sie wusste nicht, ob er es ernst meinte, oder sich bloß einen schiefen Scherz erlaubte. Als Antwort schickte er ihr indes einen Blick, den sie unmöglich missdeuten konnte: so von oben herab, mit leicht hängen Lidern. Sie hasste das, nahm sich aber zusammen und machte gute Miene zum bösen Spiel. „Tja, dann wollten Sie das Gewitter erleben?“, fuhr sie fort. „So wird es sich wohl verhalten“, kam’s ungerührt von ihm. Und damit war das Gespräch vorerst beendet und sie hatte Gelegenheit, dem an die Rückseite des Strandkorbs klatschenden Regen zu lauschen, ebenso wie dem Pfeifen des Windes und dem immer wiederkehrenden Grummeln am Himmel, das sich noch im tiefen Wolkenmeer versteckte. Nach einer Weile spürte sie auch die Kälte wieder und sie musste sich schon sehr zusammennehmen, nicht mit den Zähnen zu klappern. Auch zwang sie sich, auf die vom Sturm gepeitschte Nordsee zu blicken. Doch nach einer Weile wandte sie wieder den Kopf und sah ihn von der Seite an. Er trug neben Gummistiefeln eine wasserabweisende Jacke nebst Regenhose und auf dem Kopf wieder dieses blaue Basecap unter dem sich eine hohe Stirn, tiefsitzende Augen und seine gebogene Nase bargen. Seinen Rucksack hielt er auf den Knien. Er selbst saß leicht vornübergebeugt, so als wolle er unmittelbar am Sturmregen teilhaben. Auch das immer wieder auftretende Grummeln schien ihn nicht zu schrecken. Vielmehr war es ihr so, als genieße er die Stimmung. Und so, als wollte er sie in ihrer Annahme bestätigen, holte er sich aus seinem Rucksack eine Thermokanne hervor, schraubte sie auf und goss sich eine dampfende Flüssigkeit ein. Und ohne auch nur von der stürmischen Nordsee abzulassen, führte er sich den Becher an die Lippen, nahm einen Schluck und ließ sogar ein leises – fast selbstvergessenes – Ah, hören, ehe er noch einen Schluck nahm und sie, durch ein neuerliches Grummeln aufgeschreckt, fragte: „Meinen Sie nicht, dass wir vom Blitz getroffen werden könnten?“ Er wandte den Kopf und wieder traf sie dieser leicht verhangene, von oben herkommende Blick, doch er sagte nichts. Vorerst zumindest. Und sie kämpfte dagegen an, sich bei all der nervlichen Anspannung auch noch klein wie ein Tier zu fühlen und setzte sich stattdessen aufrecht hin. „Meinen Sie nicht?“ „Wäre ich hier, wenn es sich so verhielte?“, war die Antwort. Sie erwiderte nichts und auch er schwieg. Ganz offensichtlich weidete er sich an ihrem Anblick, denn seine Lippen kräuselten sich, was seinem Gesicht einen fast diabolischen Ausdruck gab. Im Moment war ihr das jedoch egal. Sie wollte Klarheit und beschloss, ihren Blick keineswegs niederzuschlagen. Und so kam es, dass sie sich einfach anstarrten und keiner nachgeben wollte – wie die beiden Ziegen auf der Brücke aus der berühmten Fabel von de La Fontaine. Schließlich wandte er sich doch ab und nahm noch einen Schluck, ehe er die Flasche wieder verschloss, sie jedoch nicht in seinen Rucksack zurücktat, sondern in den Händen behielt. „Ich bin nicht zum ersten Mal hier auf der Hallig“, begann er plötzlich. „Ach“, machte sie. „Insofern weiß ich um die hiesigen Wettererscheinungen. Das Gewitter wird sich, gemessen an der Windrichtung weit draußen auf der Nordsee ergehen. Ob wir Blitze sehen werden ist fraglich. Und der Starkregen wird in Hinblick auf das Wolkenbild, noch gut eine Stunde anhalten. „Na, großartig“, murmelte sie und presste ihre Arme ganz fest an ihren Körper. Wie hatte sie nur so dumm sein können, nicht an warme Kleidung zu denken? Sie fror ganz ordentlich. Und um sich abzulenken, wandte sie sich wieder an ihn, der nun ein Brotbehältnis aus seinem Sack holte und es öffnete. „Gemessen an der Tatsache, dass ich eigens der Blitze wegen hergekommen bin, ist das nicht großartig“, sagte er, entnahm dem Behältnis eine Schnitte und biss in sie hinein. Sie spürte, dass er großen Hunger hatte, so schnell wie er aß. Er stopfte beinahe. Nur, um zwischendurch immer wieder einen Schluck aus der Thermokanne zu nehmen. Wohl, damit es besser rutschte? „Aber vielleicht haben wir Glück und es ereignet sich doch ein Schauspiel über der Nordsee?“, hörte sie sich selber sagen. Er schwieg, sah sie nur wieder an, sodass sie sich schließlich zu einem „Was?“ veranlasst sah und er ihr, sich selbst das letzte Stückchen Brot in den Mund steckend, das Behältnis hinhielt, kaute und dann leise fragte: „Mögen Sie eine Schnitte?“ Im ersten Moment war sie sprachlos. Da sie jedoch der Hunger bemerkbar machte und er sie geradezu aufmunterte, griff sie dankend zu. Und er lächelte – ganz ohne die Zähne zu fletschen. Auch wirkte sein Blick vollkommen normal. Einen Moment lang meinte sie, auch ihn anzulächeln und sagte nochmals: „Ich danke Ihnen“, ehe sie sich über das Brot in ihrer Hand hermachen wollte. Und er, noch immer lächelnd, bot ihr auch seine Thermokanne an. „Es ist nur Kamillentee“, sagte er fast entschuldigend. Wieder nickte sie und mühte sich um ein Lächeln. „Das ist wirklich nett, danke.“ Er nickte ebenfalls, lächelte, beobachtete sie beim Essen und fügte dann ganz leise, fast zärtlich hinzu: „Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Man kann es nicht mit letzter Gewissheit sagen, ob Blitze erscheinen, allerdings empfiehlt es sich, den Feldstecher heute in der Tasche zu lassen …“ „Was?“, hörte sie sich fragen. „Nun, bisweilen beobachten Sie doch, wenn ich es recht in Erinnerung habe, sogar recht gern und intensiv.“ Augenblicklich überkam es sie siedend heiß. Hatte er … konnte es tatsächlich wahr sein … Sein Blick verriet ihr nichts. Und gerade das drehte ihr den Magen um, sodass sie vom nächsten Bissen absah. Ja, sie hatte ein schlechtes Gewissen, ein äußerst schlechtes. „Ich …“, brachte sie nur hervor. „Ja?“ Sie fühlte sich getroffen und das doppelt, denn sie war ihm, das konnte sie nicht leugnen, in die Falle gegangen. Doch zu Kreuze kriechen, das wollte sie nicht und so raffte sie sich zusammen, nahm schließlich einen Bissen vom Brot und auch einen Schluck aus der Kanne und fragte ihn dann: „Warum haben Sie den Fisch sterben lassen?“ „Sie sehen mich nicht überrascht“, setzte er an, „denn es war mir klar, dass Sie, sollten wir noch einmal aufeinandertreffen, eben jene Frage stellen würden.“ Wieder unterbrach er sich, griff sich an die Brust und fuhr dann fort: „Und es ist Ihr gutes Recht, danach zu fragen, schließlich wohnten Sie diesem Ereignis ja geradezu persönlich bei …“ Sie schluckte und meinte, an ihrem Bissen ersticken zu müssen, doch trinken wollte sie nichts. Also würgte sie leicht und verfluchte sich innerlich, nicht die Ruhe bewahren zu können. „Nun denn“, fuhr er fort, „es verhält sich so, dass ich Sie Gleiches fragen könnte: Warum haben Sie mich beobachtet? Meinten Sie allen Ernstes, dass ich dies nicht bemerken würde?“ Sie räusperte sich und wusste, dass es nun an ihr war, etwas zu sagen. Irgendetwas. Doch eine Entschuldigung, das spürte sie, wollte er nicht hören. Sie wäre ihr selbst auch zu lapidar vorgekommen. „Na ja, ich kann nicht umhin, zuzugeben, dass ich Sie bei unserem ersten Treffen für recht … nun ja …“ Sie unterbrach sich, weil sie spürte, dass sie sich in ihrer Rede verrannt hatte. Nun war es ihr peinlich. Doch er kam ihr zuvor. „Sie meinen, ich hätte auf Sie einen seltsamen, um nicht zu sagen, gestörten Eindruck gemacht?“ Sie schwieg. Er aber fuhr fort: „Nun, wenn es sich so verhielte, dauerte mich das sehr. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen, so darf ich versichern, dass ich den Fisch nicht aus Absicht habe sterben lassen, vielmehr war es ein Versehen.“ „Ach so?“, fragte sie. Er nickte und zupfte sich mehrere Male hintereinander ganz schnell an der Nasenspitze. „Ein Versehen. Doch was Sie betrifft, so ist mir noch immer nicht klar, warum Sie Ihren Feldstecher bemühten, um jede meiner Regungen zu beobachten.“ „Tja“, erwiderte sie matt, „das ... das …“ „Was hofften Sie in Erfahrung zu bringen?“, fragte er in ihr Gestammel hinein und ehe sie es sich versah, starrte ihr wieder dieses Zähnefletschen entgegen, sodass sie leicht zurückschreckte und ein: „Könnten Sie das bitte lassen? Es ist einfach schrecklich“, hauchte. Sofort verschwand dieses Grinsen und machte wieder einem recht annehmbaren Lächeln Platz. „Was?“, fragte er leise. Wieder räusperte sie sich und er hielt ihr die Kanne hin. Dass sie sich dadurch nur noch beschämter fühlte, machte es ihr nicht besser. Schließlich aber nickte sie, er verstand, öffnete sie, goss ein und reichte ihr den Napf. Sie nahm ihn, ein neuerliches „Danke“ murmelnd und da er nichts erwiderte, was denn auch?, fuhr sie fort: „Hören Sie, es war nicht meine Absicht, Sie zu observieren. Ich sah Sie nur und … ach … im Grunde möchte ich nur eines: Meine Ruhe haben. Aber als ich Sie da in diesem Café sitzen sah … Ach, bitte … belassen wir es dabei. Mir tut es sehr leid, das getan zu haben. Bitte vergessen Sie es.“ Er schwieg, sah sie aber weiterhin an und ihr war recht seltsam zumute. Neuerlich stieg ihr die Frage auf, was sie sich eigentlich dabei gedacht hatte, ihn zu observieren. Was war es gewesen? Sie wusste es nicht. „Ich bin sonst nicht so. Und ich wäre Ihnen verbunden, wenn … wenn Sie es wirklich einfach vergessen würden.“ „Nun, vergessen werde ich es nicht können, aber ich kann es in der Tat dabei belassen. Sie versuchten mir, Ihren Standpunkt zu erläutern und ich kann Ihnen versichern, dass Sie nicht die Erste sind, die sich an meinem Verhalten stößt. Ebenso wollte ich keineswegs das erreichen, was ich ganz offensichtlich erreicht habe.“ „Wie?“, entfuhr es ihr, denn sie fühlte sich ob seiner bandwurm-artigen Schachtelsatz-Redeweise plötzlich recht schummrig. Oder war es der Tatsache geschuldet, dass ihr kalt war und sie sich wünschte, daheim zu sein und eine warme, gar heiße Dusche nehmen zu können? Stattdessen erging sie sich hier in einer seltsamen Unterhaltung mit dem Typen, den sie eigentlich nicht hatte wiedersehen wollen. „Ich bin übrigens Lene … Lene Laux“, hörte sie sich zu allem Überfluss sagen und reichte ihm noch dazu die Hand. Er stutzte einen Moment lang, ehe er sie ergriff. „Gottfried Jakob Praetorius und, da Sie es zu ahnen scheinen, muss ich Sie leider enttäuschen, ich habe nichts mit dem ehemaligen Thomaner und jetzigem Dirigenten Friedrich Praetorius zu tun.“ Sie starrte ihn nur wieder an, das Wie bitte? einfach hinunterschluckend, so wie den Bissen, den sie neuerlich genommen hatte, und sagte dann: „Ach ja, das wäre tatsächlich meine nächste Frage gewesen, da Sie ja Geiger sind.“ „Falsch“, erwiderte er so prompt wie bei ihrem ersten Zusammentreffen. „Ich bin kein Geiger. Ich bin Mathematiker und Physiker, doppelt diplomiert und habilitiert in Physik.“ „Ähm …“, machte sie nur und würgte an ihrem Brot. Er sah es und deutete auf den noch halbgefüllten Napf in ihrer Hand. „Ach so“, murmelte sie. „Ja dann …“ „Nun möchten Sie sicher wissen, was mein Schwerpunkt ist.“ „Ähm, ich fürchte, dass ich davon nicht viel verstehe“, erwiderte sie. „So?“, fragte er und blinzelte einige Male. Sie nickte und spürte, dass ihr Herz zu rasen begann. „Na dann. Was könnte ich Ihnen noch erzählen, um Sie von meiner Integrität zu überzeugen?“ Sie verkniff sich jegliche Regung und nahm stattdessen wieder einen Bissen. „Nun vielleicht, dass ich Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin bin, und zwar, wie Sie sich denken können, im Fachbereich Physik. Ich fahre also jeden Tag von Zehlendorf, wo ich wohne, nach Adlershof ins Schrödinger-Zentrum.“ „Ach … ach so … ja …“, machte sie und gab vor, kauen zu müssen, um sich einer direkten Antwort zu entziehen. „Und Sie?“ Er musterte sie und wie sie fand, recht erwartungsvoll. Ganz klar, er wollte etwas von ihr hören. Doch ehe Sie darauf kam, was, vergingen einige Momente. Dann schließlich durchzuckte es sie: „Oh, bitte verzeihen Sie, ich arbeite an einer Grundschule – ich bin Lehrerin. Ebenfalls in Berlin.“ Nun war es an ihm, die Brauen hochzuziehen und ein „Ach“ hervorzubringen. „Prenzlauer Berg“, fügte sie hinzu. „Aber dann sollte Ihnen die Mathematik nicht ganz fremd sein, wenn die Prämisse stimmt, dass Grundschullehrer von Deutsch bis Mathematik alles unterrichten müssen“, fügte er hinzu. „Nun, das stimmt zwar, aber ich bin Geschichts- und Biologielehrerin und unterrichte also die fünften und sechsten Klassen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich auch in den unteren Klassen ab und zu Vertretungsstunden gebe und somit auch Mathematik oder Deutsch unterrichte.“ Er nickte nur, erwiderte allerdings nichts und so fügte sie hinzu: „Manchmal tue ich aber nichts von alldem, sondern gebe nur den Clown für die Kinder.“ „Wie?“, fragte er, neigte sich leicht zu ihr, hatte seinen Blick aber schon wieder der Nordsee zugewandt. „Ja“, erwiderte sie leise. „Das tue ich, den Clown geben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)