Der eine zählt des anderen Tassen von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 2: Es empfiehlt sich ... -------------------------------- Am nächsten Tag war sie von diesem Konzert noch immer so gepackt, dass sie entgegen ihrer eigenen Vorgabe, hier im Urlaub alles sein zu lassen, noch einmal an der Kirche vorbeiging, um zu sehen, wie der Geiger hieß. Doch der Aushang, der das Konzert angekündigt hatte, war bereits verschwunden. An seiner Stelle befand sich nun der Hinweis auf eine Meditationsgruppe, die sich allmontäglich, also heute, treffe und auch für Urlauber offenstehe. Sie blieb einen Moment stehen, fixierte diese Einladung und überlegte, ob es irgendetwas brächte, zu versuchen, den Namen des Geigers auf andere Weise herauszubekommen. Vielleicht sollte sie beim Gemeindevorstand nachfragen? Schließlich entschied sie sich dagegen. Was sollte das bringen? Letztlich nur die Konzentration auf Gedanken und Dinge, denen sie doch hier, auf der Hallig, gerade entkommen wollte. Und überhaupt hatte sie in ihrem nun 45jährigen Leben schon so einige Musiker erlebt, deren Namen sie sich notiert hatte – gerade in der Annahme, sie würde sie wieder einmal hören können. Und ja, bei dem einen oder anderen war ihr das sogar gelungen. Doch der Zauber des sogenannten ersten Mals war immer geschwunden und hatte einem: Ja, er oder sie kann es eben!, Platz gemacht. Kunst blieb Kunst – sie äußerte sich in vielerlei, aber vor allem im Hier und Jetzt. Mit diesen Gedanken wandte sie sich ab und nahm den Umstand, des Namens nicht mächtig zu sein, als Zeichen, die Kunst auf sich zukommen zu lassen, wann immer sie sich dazu gemüßigt fühlte, und nicht nach ihr zu suchen, ihr gar hinterher zu laufen. Und so machte sie sich auf den Weg, hinunter von der Kirchwarft, blieb erneut kurz stehen und ließ ihren Blick hinüber zu den benachbarten Warften gleiten, die sich, die eine näher, die andere ferner, deutlich als kleine Hügel abzeichneten – gerade so, wie es Siedlungshügel im Alten Orient taten. Und zwischen ihnen nichts als flaches Land. Das wohl berühmteste Tor von Babylon, das der Ischtar geweihte, konnten herannahende Truppen bereits aus 30km Entfernung sehen – ein einnehmender, gar einschüchtern wollender Anblick. Doch hier nun auf der Hallig wollte nichts einschüchtern. Die Warften, 10 – ursprünglich 11 – an der Zahl und das weite, weite Land, das sich bis zum Horizont ausspannte und dem Betrachter, der es wagte, den Blick in den Himmel zu heben, von der unfassbaren Größe dieses so kleinen Eilands flüsterte. Das Gefühl der Grenzenlosigkeit hatte sie an den ersten beiden Tagen geradezu unruhig werden lassen. Ja, wann immer sie auf den Deich der heimischen Warft hinausgetreten war, starrte ihr eine schier unendliche Weite entgegen. Und sie, nirgends Halt finden könnend, taumelte und ließ ihren Blick unter Herzrasen den nächsten Baum hochjagen, um sich an ihn zu klammern. Mittlerweile hatte sich das fade Gefühl in ihrem Magen gelegt und sie konnte sich der Hallig Schritt um Schritt nähern. Da die Sonne – wie an den vorangegangenen Tagen auch – vom fast wolkenlosen Himmel schien, das jedoch nicht so warm, verspürte sie kaum Verlangen, sich direkt an die Nordsee zu begeben. Viel lieber wollte sie heute die übrigen Warften erkunden, denn so vermutete sie, besaß jede von ihnen ihr ganz eigenes Flair. Es gab größere, kleinere – und eben auch eine, die, das erfuhr sie erst von ihrem Gastvater, nach einer Sturmflut in den 60ziger Jahren so stark beschädigt worden war, dass man sie einfach ihrem Schicksal überlassen hatte. Zu dieser wollte sie heute, sie erkunden. Sie war gespannt und lenkte ihre Schritte auf die asphaltierte Straße, auf der ihr einige Fußgänger, jedoch noch mehr Radfahrer entgegenkamen. Kaum Autos. Und das lag daran, dass es einzig den Bewohnern der Hallig vorbehalten war, mit Autos zu fahren – und wenn, dann besaßen diese Wagen einen Elektromotor, sodass sie im Grunde immer wieder tief Atem holen konnte. Und es auch tat. Sie liebte diese würzige, nach Meer schmeckende Luft, die so frisch war, da von Westen her immer ein Wind wehte. Die Warft, die einst bewohnt, nun menschenleer war, begrüßte sie als ein weites, aus Wiesen und Prielen bestehendes Feld. Kuhfladen verrieten ihr überdies, dass hier vor nicht allzu langer Zeit noch Rinder gegrast hatten, Rinder, die von ihren Besitzern nun weitergetrieben worden waren. Ein Glück auch, denn sie hätte sich bei aller Liebe wohl nicht auf dieses Eiland getraut, wenn sie Rinder um sich gewusst hätte. Wie schnell konnte es geschehen, dass diese Tiere, durch irgendetwas erschreckt, in Panik gerieten und dann einfach losrannten und alles, was sich ihnen in den Weg stellte, niedertrampelten. Schon allein der Gedanke hinterließ in ihr ein ungutes Gefühl, dessen sie sich jedoch erwehren konnte, denn sie wollte diese Warft ja erkunden – irgendwie in sie eintauchen. Hinein in dieses Grün, das dem Auge wiederum eine Weite suggerierte, der jedoch, so wusste sie, nach höchstens 500 Metern das Meer eine Grenze setzte. Aber was sollte es, was bracht es, das zu wissen? Sie ging drauflos, ließ ihren Blick schweifen, gewährte ihm diese Weite, die sich ihm ja tatsächlich auch bot – und zum ersten Mal wurde ihr vollkommen bewusst, dass sie in jede Himmelsrichtung ungehindert sehen konnte. Sie hatte das gesamte Firmament über sich, ohne dass ein Haus oder etwas anderes ihren Blick gestört hätte. Und das war einfach wunderbar. Am Morgen konnte sie dem Sonnenaufgang beiwohnen, am Abend ihrem Untergang. Sie ging noch weiter heran an diese Warft, erspähte den kleinen Hügel, der einst von einem Haus bekrönt war, nun jedoch verlassen dalag. Dicht neben ihm der Fething, das ehemalige Wasserreservoir der Warft. Er war fast auftrocknet. Und dort, wo es noch winzige Wasserstellen gab, hatten sich die Tapsen von Enten, Gänsen und, wie sie vermutete, Möwen tief in den lehmhaltigen Boden gegraben. Sie stand wohl eine Weile, sah hinab auf das alte Wasserloch, dann wandte sie sich ab, sah sich um. Es war noch recht früh am Tag, der Mittag kaum erreicht, aber sie spürte, wie an den vorangegangenen Tagen auch, Müdigkeit in sich und so lag es nah, dass sie sich ein Fleckchen suchte, um sich zuerst zu setzen, dann zu legen. Das Buch, ihren Schmöker, zog sie hervor, begann zu lesen, ließ ihn jedoch alsbald liegen. Vielmehr Freude bereitete es ihr, in Gedanken immer und immer wieder die von Maisfeldern gesäumte Straße in Gedanken mit der Protagonistin zu laufen, als dem Abenteuer, das sich zweifelsohne ankündigte, zu folgen. Sie hatte ja Zeit, niemand trieb sie. Und so schloss sie die Augen, sah sich in der Weite des amerikanischen Südwestens stehen, auf dieser Straße und schmunzelte unwillkürlich. Die Weite, die hatte sie ja auch hier, hier auf der Hallig. Hier in diesem Moment. Und der wollte, der konnte sie sich einfach ergeben, indem sie ihre Arme ausstreckte und das Gras neben sich ertastete. Ganz egal, dass sie dabei auch an eine Stacheldistel geriet. Sie meinte nur einige Minuten lang geruht zu haben, doch als sie die Augen wieder aufschlug, stand die Sonne bereits weit im Westen. Hinzukam, dass sich ihre Arme, Beine und vor allem das Gesicht ziemlich heiß anfühlten, sodass sie sich doch, von einem leichten Schreck getrieben, rasch erhob und sich an die Wangen griff. Es bestand kein Zweifel: sie brannten etwas – und das konnte nur eines bedeuteten: das nächste Mal würde sie an Sonnenschutzmittel denken müssen. Jetzt galt es indes, erst einmal nach Haus zu kommen, um sich zu duschen und einzucremen. Doch wie das immer so war, kam es auch diesmal anders: anstatt den schnellsten Weg zu wählen, lockten dann noch weitere Eindrücke. Plötzlich fand sie sich an der Kirchwarft wieder – und von ihr aus waren es doch nur noch ein paar Schritte hinüber zur Warft, die dem Hafen am nächsten lag. Dort sollte es ein ganz wundervolles Café geben. Es hieß, dass die Eigentümerin den allerbesten Kuchen der gesamten Hallig backte. Wollte sie sich das nun entgehen lassen? Selbst wenn sie mit einem roten Gesicht durch die Gegend zog. Und wenn schon. Sie fühlte sich plötzlich aufgeregt wie ein kleines Mädchen. Außerdem stellte sich bei ihr der nachmittägliche Kuchenhunger ein, dem sie unschwer widerstehen wollte. Schneller als sie es für möglich hielt, trugen sie ihre Füße hinüber auf diese noch zu erforschende Warft. Sie umrundete sie einmal, ehe sie den Abzweig zu dem in allen Reiseführern hochgerühmten Pesel fand. Und sie hatte Glück, es war noch immer geöffnet. Den Deich hinauf und in den Warftkessel hinein waren eins und schon fiel sie förmlich in dieses kleine Café hinein, das jedoch vollbesetzt war. Der Garten zumindest, so schien es ihr. Kein freier Platz mehr. Was nun? Sie ließ ihren Blick nochmals über die Menschen gleiten, die dasaßen – einige unter großen Sonnenschirmen fast vollkommen versteckt, andere an der Hauswand lehnend, das Gesicht gen Himmel gestreckt. Das waren die Sonnenhungrigen. Sie verstand sie nur allzu gut. Doch sie in ihrem Aufzug, der ganz arg an einen Indianer erinnerte, zog es lieber vor, unter einem Sonnenschirm Platz zu nehmen, wenn denn die Möglichkeit überhaupt noch bestand. Denn so, wie sie die Sache einschätzte, konnte ihr auch der zweite Blick keine Möglichkeit anbieten, sodass sie nun vor der Wahl stand, diesem erquicklichen Örtchen den Rücken zu kehren – und so auf ihren Kuchen zu verzichten – oder einfach durch die Menschen hindurch zu gehen, um sich vielleicht zu anderen Menschen zu setzen. Das war zwar keineswegs ihr erklärtes Ziel, lieber hätte sie … ja lieber, doch alles Zaudern nützte nichts und so gab sie sich einen Ruck und wollte sich gerade einen Weg durch die dichtgestellten Tische hindurch bahnen, als sie ihn sah, ihn, den Geiger von letztem Abend. Er saß ganz hinten in einem Strandkorb an einem Tisch für sich allein, vollkommen im Schatten. In der Tat war der Stuhl vor ihm frei. Oder? Einen Moment lang überlegte sie, ob sie es wagen durfte. Ja? Nein? Ganz sicher würde seine Begleitung sogleich auftauchen. Aber was brachte es ihr, hier stehen zu bleiben und umher zu starren. Also gab sie sich einen Ruck. Fragen schadete nichts. Und außerdem hatte sie wirklich Lust auf ein großes Stückchen Kuchen. „Entschuldigen Sie bitte, ist dieser Platz noch frei?“ Ihr Gegenüber hob kurz den Blick, presste die Lippen fest aufeinander und nickte kaum merklich, ehe er sich wieder einem Buch, das er aufgeschlagenen in Händen hielt, zuwandte. Offensichtlich las er. Und sie nahm sich ein Herz, ließ sich nieder, wollte nach der Karte greifen, stellte jedoch fest, dass sie neben ihm im Strandkorb lag. „Entschuldigen Sie bitte, könnte ich wohl die Karte haben?“, hörte sie sich fragen. Er, wiederum kaum den Blick hebend, griff neben sich und reichte sie ihr wortlos. „Danke“, erwiderte sie knapp und versuchte sich auf die Speisen und Getränke zu konzentrieren, weniger auf den vor ihr sitzenden Mann, der in sein Buch vertieft schien – so sehr, dass sein Bier, der halbe Liter Flensburger, noch ganz unangerührt vor ihm stand – und das schon seit einiger Zeit, war doch der gesamte Schaum bereits verschwunden. Das stellte sie mit einem Blick fest, ebenfalls, dass er trotz der Wärme eine schwarze Cordjacke trug und darunter ein blaues Hemd. Und wenn sie unter den Tisch schauen würde, kämen da langbehoste Beine zum Vorschein. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte er beides auch gestern schon angehabt, als er seiner Violine so wunderbare Töne zu entlocken vermochte, allerdings den Eindruck machte, als wolle er sein Instrument malträtieren. Und unwillkürlich musste sie, nun den Blick in die Karte senkend, lächeln, wenn nicht gar grinsen. „Es empfiehlt sich rasch zu wählen, denn das Café schließt in 30 Minuten“, vernahm sie da plötzlich die Stimme ihres Gegenübers. „Ach“, machte sie, ließ die Karte sinken und sah ihm für einen Moment in die Augen, ehe er seinen Blick erneut niederschlug. Diesmal allerdings nicht ins Buch, wie sie unschwer erkannte, sondern auf einen Punkt links neben ihr. „Ja, dann …“, setzte sie wieder an und wandte sich erneut der Auswahl an Speisen und Getränken zu. „Es empfiehlt sich ein Stückchen Kuchen …“ Wieder trafen sich beider Blicke, ehe er den seinen sogleich niederschlug, ein „Zwetschgenkuchen“ murmelnd. „Gut, danke – und dazu nehme ich eine Tasse …“, überlegte sie laut. „Es empfiehlt sich dazu ein Milchkaffee mit etwas Schokoladenpulver oben auf“, unterbrach er sie leise. Wieder flackerte sein Blick hoch und sie mühte sich um ein kleines Lächeln, doch ehe er es ausmachen konnte, hatte er sich schon wieder ab- und seinem Buch zugewandt. „Es empfiehlt sich, Sahne zum Kuchen zu nehmen“, schob er hinterher, diesmal, ohne den Blick von seinem Buch zu erheben. „Danke“, wiederholte sie. „Der Zwetschgenkuchen ist frisch“, ließ er sich hierauf wieder vernehmen. „Saftig?“, fragte sie. Er hob den Blick, schien nachzudenken, ehe er kurz nickte. Und sie mühte sich wieder um ein Lächeln, das er mit zusammengepressten Lippen erwiderte. Und ehe er irgendetwas tun konnte, sagte sie leicht heraus: „Wissen Sie, das nehme ich. Ich habe nämlich einen Bärenhunger …“ Bei diesen Worten senkte er wieder den Blick ohne etwas zu erwidern. Sie aber wagte sich nun hervor, was im Grunde gar nicht ihre Art war, aber da sie ihn nun einmal hier vor sich zu sitzen hatte, kam sie nicht umhin, das Wort erneut an ihn zu richten und so begann sie: „Sie, entschuldigen Sie bitte, dass ich so dreist frage, aber Sie sind doch Geiger, der Geiger von …“ „Falsch“, kam’s so prompt von ihm, dass sie, als sich ihre Blicke wieder trafen, zurückzuckte. „Ich bin kein Geiger. Ich habe das nur getan, weil man an mich herangetreten ist von Seiten des Kirchengemeinderates.“ „Oh“, machte sie nur, „aber … ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich es gestern sehr schön fand.“ „Na ja“, erwiderte er reglos dasitzend. „Ich kann es eben.“ Und mit diesen Worten senkte er wieder den Blick und Stille trat ein, in der sie sich dabei ertappte, wie sie sich hinter der Karte zu verstecken begann und sich fragte, was sie von diesem Auftreten halten sollte. Doch just in dem Moment sagte er wieder: „Es empfiehlt sich, recht rasch zu bestellten, da das Café in 25 Minuten schließt.“ Sie ließ die Karte sinken und zwang sich, dem falschen Geiger einfach in die Augen zu sehen, solange jedenfalls, bis dieser seinen Blick wieder senken würde. Doch diesmal hielt er dem ihrem stand. Und so sahen sie sich beide für einige Momente nur an, ohne etwas zu sagen. Ihrem geschulten Blick entging nicht, dass er ziemlich müde wirkte – Augenringe bezeugten das – und dass er sein Haar, das auf dem Kopf bereits sehr schütter wurde, in einem strengen Linksscheitel trug, so wie es einige ältere Herren taten, die ihre Tonsur zu verdecken suchten. So ließen sie das Haar auf einer Seite etwas länger wachsen, um es sich dann über die bereits entstandene Glatze zu legen. Doch ihn, der da vor ihr saß, schätzte sie auf höchstens Mitte 50, also keine 10 Jahre älter als sie. „Das Café schließt bald“, ließ er sich unverhofft vernehmen und fuhr sich, so als ahnte er, dass sie soeben über sein schütteres Haupthaar nachgedacht hatte, durch eben dieses und zerschruwwelte es etwas. Nun hing ihm eine Strähne in die Stirn, die er wieder einzufangen suchte. „Ich weiß“, erwiderte sie. „Es empfiehlt sich also …“ „Ich weiß.“ „Also?“ Wieder sahen sie sich beide in die Augen, ehe er den Blick senkte, doch nicht, um sich wieder in sein Buch zu vertiefen, sondern, um es nach einem nochmaligen Also zuzuklappen und sich mit ihm unterm Arm zu erheben und an ihr vorbeizugehen. All das geschah so schnell, dass sie ihm nur nachsehen konnte. Er verschwand im Haus, wohl um das WC aufzusuchen, vermutete sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)