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The Diary of Mrs Moriarty

von

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Prolog

Gerechtigkeit. Wer alles dafür opfern würde um Veränderung zu schaffen, wird letztendlich selbst zum Gejagten. Mag ein Herz auch noch so rein und unschuldig sein, trifft es auf die falsche Person, wird es hässlich und pechschwarz. Dies ist was du mich lehrtest, die Schönheit der Liebe und des Verbrechens…
 

Der strömende Regen nahm ihr die Sicht und dennoch rannte sie unaufhaltsam weiter, ohne auf ihren Verfolger zu achten. Ihre Gedanken rasten, da rutschte sie plötzlich aus und stürzte. Zitternd und mit schwerem Atem richtete sie sich wieder auf. Das aufgeschürfte Knie und ihr zerrissenes Kleid ließen sie völlig kalt. Schließlich holte ihr Verfolger sie in einer engen Seitenstraße ein. Mit einem erzwungenen Lächeln blickte sie ihn an.

„Ich bin der letzte Abschaum, nicht wahr? Hintergehe meinen besten Freund…“, sprach sie verbittert. Selbst der starke Regen konnte ihm nicht verbergen, dass sie weinen musste. Vor Zorn und ebenso aufgewühlt wie sie es war, umklammerte er seine Pistole, welche noch zu Boden gerichtet war.

„Dieser Kerl hat dir eine schreckliche Prüfung auferlegt. Du hättest eine Entscheidung treffen sollen, solange du die Möglichkeit dazu hattest. Ich habe es geahnt und gleichzeitig auch nicht geahnt. Er war…“, er brach ab, unwissend darüber auf wen oder was er eigentlich wütend sein sollte.

„Da irrst du dich, ich habe niemals eine Wahl gehabt. Merkst du es denn nicht? Wir sind alle bloß Marionetten für ihn. Wie verzweifelt ich versuchte etwas zu ändern… Wie sinnlos und dumm von mir… Töte mich… Nun ist die beste Chance dafür. Ich ertrage diese Verzweiflung nicht länger… Ich…ich bin kurz davor alles zu verlieren was mir lieb ist. Erlöse mich…bitte…“ Flehend ging sie vor ihm auf die Knie. Ihre beiden Blicke trafen sich und die Zeit schien still zu stehen. `Nicht nur du verlierst alles…` Gefolgt von seinem letzten Gedanken ertönte ein Schuss, den niemand in dieser schicksalhaften Nacht hören sollte…

Niemand

Liebes Tagebuch, 2.1.1880

da dies mein erster Eintrag ist, stelle ich mich erst einmal genau vor. Mein Name ist Miceyla Lucassen, mittlerweile bin ich zweiundzwanzig Jahre alt. Aufgewachsen in London, vernachlässigt von meinen eigenen Eltern, verbrachte ich die meiste Zeit in einem kleinen Landhaus außerhalb der Stadt. Auf mich alleine gestellt und ich hatte nur wenige flüchtige Freundschaften. Als der Kontakt zu meiner Familie eines Tages endgültig abbrach, wurde ich von einer liebevollen älteren Dame aufgenommen. Und somit zog ich zurück in die Stadt zu ihr und ihrem Mann. Meine neue Pflegefamilie besaß weder einen nennenswerten Reichtum, noch konnte ich sie als wirklich arm bezeichnen. Jedoch erlaubte es mir der guten Mittelschicht anzugehören und ich hatte großes Glück, dass ich eine ausgiebige Bildung erhalten habe. Vor etwa drei Jahren starben leider meine Pflegeltern, sie waren sehr alt und kränklich. Ich bin dankbar für die kurze Zeit der Geborgenheit, die ich erfahren durfte. Da ich viel Misshandlung, Betrug und Verachtung erlebt habe, wurde ich geprägt von der düsteren Schattenseite des Lebens. Ich weiß nicht genau ob ich es meiner steinigen Vergangenheit zu verdanken habe oder ob ich gar einen sechsten Sinn besitze… Aber, nun wie beschreibe ich es am besten? Ich verstehe Menschen und Situationen auf eine ganz besondere Weise. Gedanken und Vorhaben spüre ich, meistens entsprechen sie der Wahrheit. Und meine Vermutungen werden zur Realität… Na ja, vielleicht ist es auch lediglich eine subjektive Einschätzung von mir selbst, ha, ha. Jedenfalls besteht mein eintöniger Alltag daraus, Besorgungen jeglicher Art für die Leute, in dem Mehrfamilienhaus in welchem ich lebe, zu erledigen. So verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt. Keine besonders spannende Tätigkeit, dessen bin ich mir bewusst. Doch mein geheimer Traum ist seit jeher Schriftstellerin zu werden. Für eine junge Frau in der heutigen Gesellschaft, ein ziemlich aussichtsloser Wunsch. Aufgeben werde ich dennoch niemals… In einem London des Jahres 1880, das von Kriminalität und einem strikten Klassensystem geprägt wird.
 

Du wehst vorüber oh kühler Wind, die liebliche Seele welche verborgen ist im unschuldigen Kind…

„Miss Lucassen!“ Sogleich vor mir verschwand, jegliche bitterliche Erinnerung am endlosen Rand…

„Miss Lucassen, ich warte nicht länger!“ Seufzend ließ Miceyla ihren Stift auf das Blatt Papier fallen und lief gemächlich von dem kleinen Schreibtisch zu der Wohnungstür. Ganz ohne sich von der aufbrausenden Stimme unter Druck setzen zu lassen. Sobald sie die Tür geöffnet hatte, blickte sie eine knauserige alte Dame mit zusammengekniffenen Augen an. Ihre etlichen Falten ließen sie noch strenger wirken, als sie es ohnehin schon war.

„Guten Morgen, Mrs Green. Womit kann ich Ihnen heute behilflich sein?“, grüßte Miceyla höflich.

„Hier ist die Einkaufsliste! Das sollte dann für den Rest der Woche reichen. Und lass mich das nächste Mal gefälligst nicht so lange warten! Ich komme nicht umsonst die Treppe

hier rauf. Denke doch mal an meinen armen Rücken!“ Die alte Frau tastete sich über ihren krummen Rücken und stöhnte dabei leicht übertrieben auf.

„Verzeihen Sie mir, ich werde zukünftig Acht geben. Ich mache mich in etwa einer halben Stunde auf den Weg“, erwiderte Miceyla zuvorkommend und lächelte um ihre Langeweile zu verbergen.

„Gut, gut. Und lass die Fenster geschlossen. Der Gestank ist fürchterlich, was machen die nur wieder auf der Straße? Ach ja, komm mir nicht noch einmal mit dieser sauren Milch von letzter Woche an, die ist meinem empfindlichen Magen so gar nicht bekommen!“, zischte die alte Frau beim hinunterlaufen der Treppe. `Die Milch war einwandfrei…`, dachte Miceyla genervt und lief in ihre Wohnung zurück.

„Eine gute Tat und ein nett gemeinter Rat, bewahren dich, ehe dir ein böses Ende naht!“, murmelte sie ihre Spruchformel zum Mut machen und machte sich dabei fertig zum Ausgehen. Sie trug ihr Lieblingskleid, ein langes rosegoldenes, recht schlichtes Kleid. Doch war es für ihren Alltag am besten geeignet. Die langen, leicht gewellten braunen Haare trug Miceyla am liebsten offen. Für komplizierte Hochsteckfrisuren fehlte ihr die Zeit und wenn sie ehrlich war auch die Lust dafür. Sie setze sich ihren Hut, mit einer lila Schleife auf und nahm eine kleine Tasche zusammen mit der Einkaufsliste und ihrem blau-rosafarbenen Notizbuch, welches sie stets bei sich hatte. Es beinhaltete eine Vielzahl an Gedichten und Kurzgeschichten, die sie selbst verfasste. Zu guter Letzt zog Miceyla sich noch die Schuhe an, dabei setzte sie sich auf einen Hocker. Daraufhin verließ sie das Haus. Häufig zog Miceyla viele Blicke auf sich, für ein gewöhnliches Mädchen war ihr Gesicht zu hübsch. Dank ihren hohen Wangenknochen und den feinen Gesichtszügen, erntete sie Unmengen an Komplimenten. Und um es nicht zu vergessen, ebenfalls den Neid der Konkurrentinnen. Es kümmerte sie wenig, denn wer nicht aus gutem Hause stammte, dem wird keinerlei Beachtung geschenkt. Der Pony umrahmte ihr rundliches Gesicht perfekt. Sie war schlanker Statur und recht groß. Zielstrebig und mit einem wachen Blick, der eine leichte Melancholie verbarg, schritt sie durch die Welt. Miceyla verstand es, die Narben der Vergangenheit zu verschleiern. Um den kürzesten Weg zu den Lebensmittelläden einzuschlagen, welche sie für gewöhnlich besuchte, mied sie die engen Verkaufsstraßen, die häufig ziemlich überfüllt und lebhaft waren. Beim einbiegen in eine kleine Nebenstraße rümpfte sie die Nase. `Na zumindest mit dem Gestank hatte sie recht`, stellte sie missmutig fest. Dann kam plötzlich ein Mann etwas unbeholfen auf sie zu gerannt. Schweißgebadet und mit weit aufgerissenen Augen. Er hielt eine braune Ledertasche mit beiden Armen fest umklammert. Sie wurde von ihm angerempelt und er spurtete sofort weiter. `Meine Güte, da hat es aber jemand eilig…`, dachte sie nur und lief unbeirrt weiter. In London waren seltsame Personen und Kriminalität keine Seltenheit. Daher war Miceyla stets auf der Hut. Wenige Schritte später fand sie blutverschmierte Handschuhe, die am Boden lagen.

„Zur Seite! Die Herrschaften müssen den Tatort genaustens untersuchen!“ Ein aufgeregter Tumult herrschte, als sie den großen Marktplatz betrat. Eine teils ängstliche, teils neugierige Menschenmenge wurde von einigen Polizisten zurückgedrängt. Beim näheren herantreten sah Miceyla, wie ein Mann mittleren Alters leblos am Boden lag. Sein Mantel war an der Brust blutdurchtränkt. `Der Tag ist noch so jung und bereits ein Mord mitten auf dem Markt? Nein…`

„Und wenn ich es Ihnen doch sage, ich habe nichts getan! Das Blut stammt von diesem Mistkerl, der in mich hineingerannt ist“, keuchte ein blasser Mann verzweifelt, der von zwei Polizisten unsanft festgehalten wurde. `Aha, er wird also verdächtigt…`, erkannte sie und betrachtete nachdenklich sein blutbeflecktes Hemd. Um die Leiche herum standen drei junge Männer, der eine mit einem schwarzen kurzen Pferdeschwanz, war etwas über diese gebeugt und rauchte unbeeindruckt eine Zigarette. Die anderen beiden, der eine mit blonden und der etwas größere mit braunem Haar, waren vornehm gekleidet und gehörten scheinbar zum Adel.

„Verdammt noch mal! Wären Sie etwas früher hier eingetroffen, hätten Sie den Kerl selbst gesehen! Sie sind zu spät, Mr Holmes!“, schnaubte der verdächtige Mann verärgert. `Mr Holmes?! Der Mann mit den schwarzen Haaren ist Londons berühmtester Detektiv Sherlock Holmes!` Vor Erstaunen riss sie die Augen weit auf. Miceyla kannte ihn bislang ausschließlich von Erzählungen, ohne ihn vorher jemals begegnet zu sein.

„Es wäre doch langweilig immer rechtzeitig am Tatort zu erscheinen. Wo bleibt da der Spaß?“, meinte Sherlock und grinste breit. Dessen Bemerkung machte den Verdächtigen offenbar noch wütender.

„Ha, ha! Liam wir treffen uns aber auch stets bei ungemütlichen Ereignissen! Das nenn ich mal einen unübertrefflichen Wink des Schicksals!“, sprach Sherlock scherzhaft an den blondhaarigen gerichtet. `Die beiden kennen sich? Sind die zwei Adligen auch Ermittler?`, überlegte sie und betrachtete den gutaussehenden blonden jungen Mann gedankenversunken.

„Dem ist wohl so. Wahrlich amüsante Zufälle“, kommentierte dieser knapp und lächelte sanft. Plötzlich, vollkommen ohne jegliche Vorwarnung, trafen sich ihre beiden Blicke. Miceyla sah in seine rubinroten Augen und vergaß für einen Moment das Geschehen um sich herum. Seine Augen sahen sie nicht nur an, es schien als blickten sie geradewegs in ihre Seele. Als würde die Zeit stehen bleiben, vergaß sie zu atmen. Jedoch kehrte die Realität schnell zu ihr zurück, als der blondhaarige keine Reaktion auf seinem Gesicht zeigte und sich wieder dem Mordfall zuwidmete. Miceyla fasste sich mit einer Hand auf das Herz und senkte etwas verlegen den Blick. `Was soll ich nur tun? Ich habe den wahren Mörder gesehen. Doch wer wird mir schon Glauben schenken? Mir unbedeutenden, mittellosen Mädchen?` Das Sinnvollste wäre, sich einfach schweigend abzuwenden, dies riet ihr Unterbewusstsein. Und dennoch schritt sie geradewegs vom Rande der Menschenversammlung hervor, auf die drei jungen Männer und die Polizisten zu.

„Hey! Zurück mit Ihnen junge Dame!“, schimpfte ein Polizist in schwarzer Uniform streng. `Ich muss vollkommen verrückt sein! Was mache ich hier eigentlich?` Jetzt gibt es kein Zurück mehr, ich muss sprechen! Entschlossen ignorierte Miceyla ihren rasenden Herzschlag und holte einmal tief Luft.

„Dieser Mann hier sagt die Wahrheit, er ist unschuldig. Während Sie hier untätig rumstehen, ist der richtige Mörder längst auf der Flucht!“, sprach sie klar und deutlich. Insgeheim hoffte sie, dass ihr unerlaubtes Einschreiten keine schwerwiegenden Folgen hatte.

„Hört, hört! Hier haben wir aber eine sehr mutige Lady, die es wagt das Wort gegen Londons gut ausgebildete Polizisten zu erheben. Bitte mehr von dieser Sorte!“, meinte Sherlock sarkastisch und sie konnte nicht anders als ihn zaghaft anzulächeln. „Was fällt dieser Göre ein! Los, schafft den Bauerntrampel von hier fort!“ Die Polizisten machten ohne zu zögern Anstalten sie aus dem Weg zu räumen. Es tat weh, doch war Miceyla einfach nur ein kleines schwaches Wesen, in dieser von Männern dominierten Welt.

„Warten Sie!“ Alle Blicke richteten sich auf den blonden jungen Mann, der den Polizisten Einhalt gewährte.

„Lasst uns anhören, was die junge Dame zu sagen hat“, befahl er. Ein freudiger Schauer durchlief sie, dass er sie scheinbar ernst nahm.

„Aber mein Herr…“, kam der zaghafte Einwand eines Polizisten.

„Soll ich mich wiederholen?“

„Nein mein Lord…“ Mit einem Lächeln machte der junge Adelige ihr Mut weiter zu sprechen.

„Der Mörder ist dort in die Seitenstraße gerannt. In derselben wird er den Mann umgebracht haben. Anschließend hat er die Leiche hierhergeschafft, um den Mord einem anderen in die Schuhe zu schieben und…“, erläuterte sie und versuchte dabei die Unsicherheit in ihrer Stimme zu verbergen. Die Polizisten beäugten sie misstrauisch.

„Mag sein…ich habe wirklich einen Mann rennen sehen. Er könnte aber auch nur ein einfacher Tölpel sein, der es eilig hatte zur Arbeit zu kommen. Und er hatte keinen einzigen Tropfen Blut an den Händen und es gibt keine Blutspur aus der Gasse bis hier her, wie kann das sein?“, kam der Einwand von einem rechthaberischen Polizisten. Ein zustimmendes Gemurmel ging durch die noch immer anwesende, dümmlich gaffende Menschenmeute.

„Ganz einfach, er trug Handschuhe und drückte eine Ledertasche gegen die Wunde. Mit der blutigen Seite zu sich wird er davongelaufen sein. Ich nehme an, dass sich in dieser auch die Mordwaffe befindet. Sie sollten sich besser beeilen, wenn Sie den Mann noch erwischen wollen. Aber er war recht kräftig, so viel Ausdauer wird er nicht haben. Ach und auf dem Weg werden Sie die Handschuhe finden“, endete sie und zeigte noch mal in jene Seitenstraße. Zu ihrer großen Verwunderung blieben sowohl Sherlock, als auch die anderen beiden jungen Männer, die ganze Zeit über vollkommen still. `Wieso sagt keiner von denen etwas? Kann es sein…? Ja, die drei haben den Fall längst gelöst und geben mir die Chance mich zu erklären…`, schlussfolgerte Miceyla ein wenig glücklich und mit Bewunderung.

„Am besten Sie hören auf den Rat der jungen Dame und nehmen rasch die Verfolgung auf.“ Zum ersten Mal sprach der vornehme braunhaarige, seine warmen grünen Augen sahen sie freundlich an. Diesmal leistete die Polizei keinen Widerstand und hechtete in Richtung der Seitenstraße. Langsam löste sich der Trubel auf, die Leute verließen den Schauplatz und widmeten sich wieder ihren vorherigen Tätigkeiten. Erleichtert entspannte sie sich wieder etwas.

„Nicht schlecht, Sie haben sich souverän geschlagen. Beruhigend zu sehen, dass Ehrlichkeit noch nicht ausgestorben ist“, sprach Sherlock heiter und gesellte sich zu Miceyla.

„Ach, ich war bloß zur rechten Zeit an Ort und Stelle und hab die Gelegenheit dazu genutzt“, erwiderte sie freundlich, doch konnte sie ihren Stolz über ein Lob, von dem berühmten Detektiv kaum verbergen.

„Nur keine falsche Bescheidenheit. Sie haben mehr Mut bewiesen, als so manch feiger Polizist den ich kenne. Hach, schade das Watson nicht hier war…“ In Gedanken versunken kratzte er sich am Kopf und zündete sich eine neue Zigarette an.

„So…langsam muss ich los. Bei Gelegenheit sollten wir mal miteinander plaudern. Hat mich gefreut, Miss“, verabschiedete er sich mit einer lässigen Handbewegung.

„Oh ja! Liebend gern, ich würde mich sehr freuen!“ `Er hat wirklich eine einzigartige Persönlichkeit. Selten trifft man einen solch sympathischen Menschen`, dachte Miceyla begeistert und blickte ihm noch eine Weile nach.

„Verzeihen Sie meine Dame, dürfte ich vielleicht Ihren Namen erfahren?“ Langsam drehte sie sich zu der Person, zu welcher diese sanfte Stimme gehörte. Sofort blickte sie wieder in jene scharlachroten Augen, von denen sie vor kurzem noch gefesselt war. Erneut waren ihre Sinne verloren beim Anblick seiner Schönheit.

„Gewiss doch mein Herr. Ich heiße Miceyla Lucassen. Es war mir ein Vergnügen“, stellte sie sich höflich vor, wenn auch etwas verkrampft.

„Vielen Dank Miss Lucassen. Ich bin William Moriarty. Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite.“ Der braunhaarige Mann nickte ihr zum Abschied noch still zu, dann verließen die beiden jungen Adligen Seite an Seite den Marktplatz und überließen alles Weitere der Polizei.
 

Die zwei Männer stiegen in eine Kutsche und entfernten sich von der Innenstadt.

„Du hast es sicherlich auch bemerkt, nicht wahr Albert?“

„Das wir auf ein bemerkenswertes junges Fräulein gestoßen sind, aber gewiss“, antwortete Albert und wusste dabei genau, was seinem jüngeren Kameraden gerade durch den Kopf ging.

„Diese Augen…Sie kennen Leid und Einsamkeit. In ihnen ist ein Feuer verborgen, das darauf wartet entfacht zu werden“, sprach William seine Gedanken laut aus und blickte untypisch verträumt ins Freie. Dann sahen sich die jungen Männer an und lächelten.
 

Und so begann alles mit einer schicksalhaften Begegnung. Menschen trafen aufeinander, die den Verlauf der Geschichte vollkommen verändern sollten. Wie wäre es wohl gewesen, wenn das Treffen nie stattgefunden hätte? Nun, keiner wird dies jemals erfahren… Der Anfang einer langen Reise stand bevor. Ein Abenteuer das öfters beschwerlich sein wird und das ein oder andere Wunder hervorbringt. Es erzählt von der Verwirklichung idealistischer Vorstellungen, von dem starken Zusammenhalt einer Gemeinschaft, der wahren Freundschaft, verbotenen Gefühlen und von einer leidenschaftlichen Liebe, welche immer wieder vor eine schwere Bewährungsprobe gestellt wird. Mögen die Verbrecher und ihre Gegenspieler zu den Waffen greifen und das Zeitalter des Landes auf ewig verändern.
 

Liebes Tagebuch, 27.1.1880

der heutige Tag war einfach unglaublich! Ich bin Sherlock Holmes begegnet! Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll. Nie hätte ich gedacht, einmal Zeugin bei einem Mordfall zu sein. Und das mitten auf dem Marktplatz, alle Leute sahen zu… Um ein Haar wäre ich von der Polizei von dem Platz weggeschafft worden, ha, ha. Doch da war ein junger Mann, William Moriarty… Dank ihm durfte ich ausreden. Wie schön er war… Ein richtiges Vorbild für alle jungen Adeligen. Ach, ich sehe ihn wahrscheinloch eh nie wieder… Aber sein Kamerad war auch nicht von schlechten Eltern. Jedenfalls habe ich dazu beigetragen, einen Mörder zu fassen. Und eventuell ergibt sich ja wirklich die Möglichkeit, noch mal mit Sherlock zu reden. Wie dankbar ich für solch eine interessante Abwechslung wäre…Ich bin gespannt. Mein Gefühl sagt mir, der heutige Tag ist der Auftakt zu einer großen Veränderung… Denn bislang gab es nichts und niemand, um mir zu einem glücklicheren Leben zu verhelfen. Einfach niemand…
 

Niemand
 

Niemand wird kommen und dir die helfende Hand hinhalten.

Niemand wird dich hören, wenn du um Hilfe schreist.

Niemand wird dich trösten, wenn du traurig bist.

Niemand wird dir deinen Schmerz nehmen, wenn du leidest.

Niemand wird dich aufmuntern, wenn du die Hoffnung verloren hast.

Niemand wird dein Lächeln erwidern, wenn du gesiegt hast.

Niemand wird an deiner Seite sein, wenn du vor einer schweren Aufgabe stehst.

Niemand wird dir folgen, auf einem unsicheren Pfad.

Niemand wird auf dich warten, wenn du dein Ziel erreicht hast.

Niemand wird dich verstehen, wenn du von deinen Sorgen erzählst.

Niemand wird dir glauben, wenn du die Wahrheit sprichst.

Niemand wird dich aufhalten, wenn du eine Dummheit begehst.

Niemand wird dich verteidigen, wenn du verspottet wirst.

Niemand wird mit dir lachen, wenn du Unsinn machst.

Niemand wird dich retten, wenn du in einen Abgrund fällst.

Niemand wird mit dir fortlaufen, wenn du flüchtest.

Niemand wird mit dir weinen, wenn die Welt sich gegen dich verschworen hat.

Niemand wird nach dir suchen, wenn du entführt wurdest.
 

Dies ist die wahre Grausamkeit des Lebens…

Vom Nehmen und Geben

In London herrschte raues Wetter. Eine Woche war mittlerweile vergangen, seitdem Scotland Yard den Mörder gefasst hatte. `Junge Lady hilft der Polizei den Täter zu fassen` Mit einem Schmunzeln las Miceyla den Titel in der Zeitung. Kurz warf sie einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sie keine Zeit zum Träumen hatte. Es standen noch Besorgungen an. Nachdem sie mit der Wäsche von der alten Dame fertig geworden war, eilte sie los. Am frühen Morgen hatte sich Mrs Green über eine leichte Erkältung beschwert, daher schlug sie vor ein paar Medikamente zu besorgen.

„Guten Tag.“ Miceyla betrat das Geschäft für Arzneimittel. Da der Verkäufer in ein Gespräch mit einem Kunden vertieft war, stöberte sie um selbst etwas Passendes zu finden. `Mal sehen…` Sie ging eine Vielzahl von Angeboten durch.

„Entschuldigung, kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“, bot ihr höflich der junge Mann, welcher bis vor kurzem noch mit dem Verkäufer gesprochen hatte, dessen Hilfsbereitschaft an. Blonde kurze Haare zierten sein jugendlich wirkendes Gesicht und ordentlich gekleidet war er.

„Vielen Dank, das ist sehr freundlich. Nun, ich soll eine Erkältungsmedizin für eine ältere Dame besorgen. Es ist aber lediglich ein leichter Husten und Schnupfen“, erklärte sie ihm dankbar.

„Also wenn das so ist, kann ich diese Salbeitabletten hier empfehlen. Und selbstverständlich ausreichend Tee zu trinken“, meinte er und holte ohne langes Suchen, eine kleine Dose gefüllt mit Tabletten aus einem der Regale hervor.

„Ah, wunderbar! Die wirken ziemlich gut, haben mir selbst schon geholfen. Danke für Ihren Rat.“ Lächelnd nahm sie die Tablettendose entgegen.

„Oh, ich vergaß mich vorzustellen. Ich bin John Watson und Arzt“, stellte er sich vor und erwiderte ihr Lächeln.

„Freut mich, Doktor Watson. Ich heiße Miceyla Lucassen.“ Voller Überraschung weiteten sich seine Augen.

„Oh! Sie sind die junge Dame, welche den Mordfall neulich in der Stadt gelöst hat! Sherlock hat mir von Ihnen erzählt“, berichtete John voller Begeisterung. `Ha, ha, bin ich jetzt eine Berühmtheit in London? Aber woher weiß Sherlock meinen Namen? Wir haben uns einander doch gar nicht vorgestellt…seltsam…`, grübelte Miceyla verwundert.

„Ich habe es noch gar nicht erwähnt, Sherlock Holmes und ich teilen uns seit geraumer Zeit eine Wohnung und ich unterstütze ihn bei seinen Ermittlungen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie sehr gerne auf eine Tasse Tee bei uns Zuhause einladen. Heute Nachmittag liegt nichts mehr an, daher wäre es recht passend. Natürlich nur wenn es Ihnen keine Umstände macht“, lud er sie herzlich ein. `Was für ein liebenswürdiger Mensch. Abgesehen von der Medizin die ich noch kaufen muss, hätte ich den restlichen Tag ebenfalls frei… Aber Moment mal…Zu Sherlock nach Hause, bin ich überhaupt angemessen gekleidet?` Ein wenig unsicher blickte sie an sich hinab, jedoch kam sie zu dem Schluss, dass sie seine freundliche Einladung nicht ablehnen konnte.

„Einverstanden, es ist mir eine große Ehre, mich mit Ihnen beiden unterhalten zu dürfen. Liebend gern statte ich Ihnen heute einen Besuch ab“, willigte Miceyla rasch ein und Aufregung spiegelte sich in ihren Augen wider.

„Das ist großartig! Dann bringen Sie am besten noch vorher die Tabletten bei der Dame vorbei. Ich begleite Sie, wenn Sie möchten“, bot der junge Arzt ihr an und beide liefen nach dem Einkauf gemeinsam los. Nachdem sie die Medizin erfolgreich abgeliefert hatten, machten sie sich auf den Weg zu jenem Haus, in dem er zusammen mit Sherlock wohnte.

„Da wären wir, die Baker Street 221B.“ John ging voraus um Miceyla höflich die Tür zu öffnen.

„Ich bin wieder da und habe einen Gast mitgebracht“, kündigte er sie beide an. Langsam trat sie hinter ihm ins Haus und sah sich neugierig um. Von weiter oben hörte sie aufgebrachte Stimmen, anscheinend fand dort gerade ein Streit statt. Miceyla folgte ihm die Treppe hinauf.

„Langsam bin ich Ihre etlichen Ausreden leid! Verspätete Miete, das Zimmer ist ein Saustall! Denken Sie doch auch mal ein wenig daran, wie ich mich dabei fühle! Wo soll das nur enden?“, schimpfte eine jung aussehende Frau verärgert und fuchtelte dabei wild mit den Armen umher.

„Das erinnert mich an unser reizendes Gespräch von vorgestern, wo ich bereits erwähnte, welche Maßnahmen ich ergreifen werde“, versuchte Sherlock sich genervt rauszureden, es war ihm anzusehen, dass er der Situation unbedingt entfliehen wollte. `Auweia…`

„Ha, ha…ähm, vielleicht kommt mein Besuch doch etwas ungelegen…“, meinte Miceyla, ihr war unwohl zumute, mitten in ihren Streit reingeplatzt zu sein. John kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

„Nun ja…das ist bei uns der normale Alltag. Ich hoffe dies erschreckt Sie nicht all zu sehr“, sprach er entschuldigend. Da wurde Sherlock hellhörig und entdeckte Miceyla. Sofort entspannte sich sein Gesichtsausdruck und er war sichtlich froh, über eine ihm gelegen kommende Ablenkung.

„Oh, sieh an wen wir hier haben! Wenn das nicht unsere Marktplatzmordheldin ist!“, begrüßte dieser sie breit grinsend. Sie konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen.

„Also Sherlock! Wie redest du denn mit der jungen Lady!“, griff John empört ein.

„Bitte wer ist dieses Fräulein, was hier einfach mir nichts, dir nichts reinplatzt?“ Jetzt beäugte die junge Frau sie misstrauisch, die wahrscheinlich etwas älter war als sie selbst und baute sich bedrohlich vor ihr auf.

„Verzeihen Sie mein Eindringen. Ich bin Miceyla Lucassen. Mr Watson hat mich zum Tee eingeladen“, stellte sie sich rasch vor, ehe es noch zu weiteren Missverständnissen kam. Dies schien die Frau allerdings kaum zufrieden zu stellen.

„Sie hat mir die Arbeit bei einem Mordfall abgenommen. Die Polizisten haben ganz schön blöd dreingeschaut, ha, ha“, fügte Sherlock hinzu und lachte bei der Erinnerung an jenen Tag.

„Ist dem so? Dann entschuldige ich mich für mein unhöfliches Benehmen, Miss Lucassen. Ich bin hier die Vermieterin, Mrs. Hudson. Freut mich Sie kennen zu lernen.“ Nun nahm ihr hübsches Gesicht eine freundliche Miene an.

„Geht doch schon mal hinein, ich bringe gleich den Tee und Gebäck.“ Mit diesen Worten lief Mrs. Hudson die Treppe hinunter.

„Kommen Sie, nicht schüchtern sein. Machen Sie es sich bequem und fühlen Sie sich ganz wie zu Hause“, sprach Sherlock während er sein Wohnzimmer betrat und forderte sie mit einer Handbewegung auf reinzukommen. John schloss sich ihr lächelnd an. Sofort umhüllte sie ein penetranter Zigarettengestank und schluckte geschockt. Dazu kam das überall verstreut, suspekt aussehende Gerätschaften verstreut lagen, welche nach eigens entwickelten Experimenten aussahen. `Oh Mann und ich habe mir allen Ernstes Gedanken über mein äußeres Erscheinungsbild gemacht… Gegen die Bude hier, wirke ich wie eine vornehme Lady aus gutem Hause. Ha, ha, ist ein Witz. Und die Luft hier ist nicht gerade Gesundheitsfördernd…`, dachte Miceyla belustigt. Alle drei setzten sich an einen kleinen Tisch. Schmunzelnd betrachtete sie den überfüllten Aschenbecher.

„Ich hätte eventuell einmal vorher lüften sollen. Sie müssen wissen, wir bekommen nur selten weiblichen Besuch. Ganz abgesehen von…“, Sherlock brach ab und tauschte einen geheimnisvollen Blick mit John aus.

„Ha, ha, nun das ist richtig. Ich finde es übrigens ganz reizend, wie Sie sich um die ältere Dame kümmern. Sie sind noch ziemlich jung, bestimmt noch unter zwanzig“, änderte John rasch das Thema.

„Nein, sie ist schon was älter. Das merke ich an ihrer Ausdrucksweise“, berichtigte Sherlock ihn und zündete sich dabei eine Zigarette an.

„Es stimmt, ich bin bereits zweiundzwanzig. Ich helfe ja wirklich sehr gerne anderen Menschen, jedoch kann Mrs Green eine schreckliche Kratzbürste sein. Hach…nicht mal in Ruhe schreiben ist mir vergönnt“, machte sie ihren Frust Luft. Die Augen von John begannen erwartungsvoll zu funkeln.

„Oh! Sie schreiben auch? Ich bin der Autor von den Sherlock Holmes Erzählungen. Sicherlich wissen Sie darüber Bescheid. Ich würde mich freuen, wenn wir uns ein wenig austauschen könnten“, bat der junge Arzt, welcher sich nun auch noch als Schriftsteller entpuppte und war sogleich Feuer und Flamme.

„Aber gewiss kenne ich Ihre Werke, sie sind unglaublich spannend und unterhaltsam! Ich selbst habe bereits eine längere Abenteuergeschichte fertiggestellt und schreibe viele Gedichte. Mein Wunsch ist, dass die eigenen Gefühle andere erreichen und etwas bewegen. Beim Schreiben sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt, alles ist möglich“, begann sie und freute sich wie ein kleines Kind jemanden gefunden zu haben, der ihre Leidenschaft fürs Schreiben teilte.

„Na da haben sich aber zwei gefunden“, kommentierte Sherlock scherzhaft. Im selben Moment kam Mrs Hudson und brachte den Tee, gleich darauf verließ sie wieder den Raum. „Haben Sie vielen Dank, Mrs Hudson“, dankte Miceyla lächelnd und setzte anschließend ihre Unterhaltung mit John fort. Nach einer Weile räusperte Sherlock sich, um Aufmerksamkeit zu erregen.

„Ha, ha, tut mir leid Sherlock, Sie sind ja auch noch hier. Ich hätte meinen Enthusiasmus etwas zügeln sollen“, entschuldigte sie sich sofort nach dessen Unterbrechung.

„Ach, das ist schon in Ordnung. Eine kleine Abwechslung tut John mal gut. Er kann ja nicht ständig von mir gequält werden. Doch interessiert es Sie denn gar nicht, wie der Fall in der Innenstadt wirklich ausgegangen ist? Die meiste Aufmerksamkeit gilt den Morden von dem Meisterverbrecher, da wird so ein belangloser Fall schnell verdrängt“, meinte Sherlock und sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. `Der Meisterverbrecher…` Seit einiger Zeit wurde London von mysteriösen Morden an Adeligen heimgesucht.

„Wie wahr… Ich glaube nichts hat Sherlock jemals so sehr beschäftigt, wie der Meisterverbrecher. Es sind dem Anschein nach, mehrere Personen die verborgen im Hintergrund agieren“, fügte John bitterlich hinzu.

„Was er wohl mit seinen Taten bezwecken will? Die alleinige Aufmerksamkeit der Bevölkerung? Existiert das perfekte Verbrechen? Wie lange geht das noch so weiter? Jedenfalls ist er ziemlich raffiniert… Haben Sie eine Vermutung wer der Täter sein könnte, Sherlock?“, forschte Miceyla neugierig nach, aber ihr war es klar, dass selbst er darauf bislang keine Antwort wusste.

„Die Frage sollte eher sein, wie ich diese Information einsetzen würde, um ihn bloß zu stellen. Und meine Liebe, seien Sie vorsichtig mit Ihrer Bewunderung für seine Taten, auch wenn diese selbst mich nicht unbewegt lassen“, warnte Sherlock und zeigte grinsend mit dem Finger auf sie. `Er ließt meine Gefühle anscheinend von meinem Gesicht ab, huh?`, dachte sie belustigt.

„Dann lebe ich besser in Ehrfurcht vor diesem angsteinflößenden Bösewicht!“, sprach sie übertrieben dramatisch und brach zusammen mit Sherlock in einem schallenden Gelächter aus.

„Nun denn, wo waren wir stehen geblieben? Der Mörder wurde bei Scotland Yard verhört. Viel hat er nicht preisgegeben und hat es geschafft, in der Zelle Selbstmord zu begehen. In seiner Ledertasche fand man ein großes Küchenmesser, das speziell zum Zerlegen von Fleisch gedacht ist. Nur wie kommt ein einfacher Tagelöhner, an ein solch spezifisches Messer. Er wird wohl kaum die Fähigkeit besessen haben, um es stehlen zu können. Na?“, fragte Sherlock Miceyla und legte den Kopf etwas schräg.

„Er hatte einen Komplizen!“, kam sogleich ihre blitzschnelle Antwort.

„Korrekt! Der Kerl wurde als lausiger Auftragskiller angeheuert. Und es gibt nur einen Fleischer in ganz London, der Messer mit dieser ausgeprägten Gravur verwendet. Also, haben die Herrschaften Lust auf ein saftiges Steak zum Abendessen?“, erkundigte Sherlock sich mit einem schelmischen Lächeln.

„Ich bin dabei!“ Sofort reckte sie ihren rechten Arm in die Höhe und wusste genau worauf er hinauswollte.

„Sherlock, du willst doch nicht etwa…? Und Miceyla soll mitkommen? Das ist viel zu gefährlich für eine junge Frau…“, warf John empört ein, jedoch als er denselben entschlossenen Gesichtsausdruck bei Miceyla entdeckte, den auch Sherlock machte, konnte er sich bloß als Reaktion darauf, seufzend mit der Handfläche gegen die Stirn schlagen.

Noch am frühen Abend, fanden die drei sich vor besagter Fleischerei wieder, die gleichzeitig auch ein Wirtshaus war. `Da fällt mir ein, ich bekam noch überhaupt nicht die Gelegenheit zu fragen, in welcher Beziehung Sherlock zu William Moriarty steht…`, fiel Miceyla spontan ein und hob sich die Frage für einen späteren Zeitpunkt auf.

„Bitte ziehen Sie sich zurück sobald es brenzlig wird. Sherlock und ich tragen eine Waffe bei uns. Dennoch wäre es sinnvoller gewesen, mit etwas mehr Sorgfalt und Planung vorzugehen…“, bat John sie zur Vorsicht und warf einen strengen Seitenblick zu seinem Kamerad.

„Nur keine Bange, Wichtiges sollte stets sofort erledigt werden. Und die Gefahr zu vermeiden, kann nicht ständig die beste Lösung für Erfolg sein!“, beruhigte sie selbstbewusst den besorgten Arzt.

„Aller Achtung! Dies nenn ich eine löbliche Lebenseinstellung. Miceyla, Sie gefallen mir immer besser“, meinte der junge Detektiv mit Bewunderung für ihre Aufrichtigkeit.

„Das ist nur ein kleiner Teil meiner goldenen Überlebensregeln. Bei Gelegenheit erzähle ich Ihnen gerne mehr.“ Fröhlich plaudernd betrat das Trio die Fleischhandlung.

„Oh, Kundschaft! Einen guten Abend wünsche ich. Falls Sie hier essen mögen, suchen Sie sich einen Tisch aus. Doch denken Sie daran, dass wir bald schließen“, begrüßte der Eigentümer des Ladens sie mit tiefer Stimme. Sie nahmen Platz und tauschten schweigend untereinander Blicke aus, um sich gegenseitig zu bestätigen, dass dieser Mann derjenige war nachdem sie suchten.

„Ihre Bestellung bitte.“ Der kräftig gebaute Mann kam, um nach ihren Wünschen zu fragen. Sherlock meldete sich als erster zu Wort.

„Ich nehme ein Steak mit Ofenkartoffeln und ein Bier.“

„Für mich bitte ein Roastbeef und einen Weißwein“, setzte John die Bestellung fort.

„Ich hätte gerne ebenfalls ein Steak und ein Wasser“, orderte sie zum Abschluss. Der Wirtsherr notierte sich alles auf einen kleinen Block und verschwand daraufhin hinter der Theke in der Küche.

„Ist es ein Zufall, dass wir gerade hier die einzigen sind und gibt es keine anderen Mitarbeiter?“, sprach Miceyla leise ihre Gedanken laut aus und ließ ihren Blick durch den menschenleeren Laden schweifen.

„Nur Geduld, darauf gibt es bald Antworten,“ erwiderte Sherlock knapp und lehnte sich mit der Ruhe weg in seinem Stuhl zurück, während er in seiner Jackentasche nach Zigarette und Feuerzeug kramte. John hingegen nahm eine Kerzengerade Haltung ein und blieb angespannt.

„Und was genau gedenken wir zu tun? Dieser Mann wird wohl kaum seine Mitbeteiligung, an dem Mordfall zugeben und uns auf die Wache begleiten“, flüsterte John und hoffte eine vernünftige Vorgehensweise von Sherlock zu hören.

„John, schön locker bleiben. Wir machen es auf meine Art. Das sollte für uns beide doch mittlerweile Routine sein“, neckte er seinen Kameraden. `Die zwei sind wirklich ein ungleiches Duo. Der eine ordentlich gekleidet im Anzug und mit höflicher Wortwahl, der andere mit zerknittertem Hemd und schreckt nicht vor direkten Aussprachen zurück`, dachte Miceyla und kicherte. Kurz darauf wurden ihre Mahlzeiten und Getränke geliefert.

„Lassen Sie es sich schmecken“, grummelte der Fleischer und kümmerte sich anschließend um den Abwasch hinter der Theke.

„Essen Sie lieber nicht zu viel davon, üble Bauchschmerzen könnten die Folge sein“, warnte Sherlock sie für den Wirtsherr unhörbar.

„Vielen Dank! Und ich werde nicht gewarnt!“, beschwerte sich John und nahm in seinem Frust, einen kräftigen Schluck von dem Glas Wein. Prüfend roch sie an einem Stück von dem Steak. Selbst wenn es schlecht sein sollte, war es so gut durchgekocht worden, dass man es nicht bemerken würde.

„Darf ich erwähnen, dass Sie hier hübsche Messer führen? Verleihen Sie diese des Öfteren an Auftragsmörder? Ich muss zugeben, solch eine Klinge durchschneidet bestimmt nicht nur das Fleisch von Tieren, sondern auch menschliches Fleisch einwandfrei“, sprach Sherlock plötzlich lauthals ohne Vorwarnung. John verschluckte sich bei dessen offensiver Äußerung und nahm einen weiteren ausgiebigen Schluck. `Oha, es geht wohl los!` Mit diesem Gedanken lugte sie vorsichtig zu dem grimmigen Mann und wartete seine Reaktion ab.

„Ich weiß nicht worauf Sie hinauswollen! Ah…ich kenne Sie, dieser beratende Detektiv, der seine Nase immer in fremde Angelegenheiten stecken muss! Verschwinden Sie lieber, bevor ich Sie rausschmeißen muss! Ihre falschen Anschuldigungen höre ich mir nicht länger an, außerdem haben Sie keinerlei Beweise!“, zischte der Mann argwöhnisch und funkelte Sherlock mit zusammengekniffenen Augen an. Sein aggressiver Tonfall machte ihn mehr als verdächtig. Er hatte definitiv etwas zu verbergen, so viel stand fest!

„Keine Beweise…hmm…ich glaube das hier sollte genügen…“ Mit diesen ruhigen Worten, fuhr Sherlock mit dem rechten Daumen, über die Gravur von besagtem Messer, mit welchem er zuvor sein Steak in gleichgroße Stücke geschnitten hatte.

„Der Mann der vor einer Woche ermordet wurde, war ihr größter Konkurrent. Er besaß eine der beliebtesten Fleischereien in ganz London und genoss einen beträchtlichen Erfolg. Hinzu kommt, dass er Ihre meisten Kunden stahl und Sie langsam aber sicher pleitegingen. Dadurch fehlte es Ihnen an Geld, um sich teures Fleisch liefern zu lassen. Schlussendlich blieb Ihnen nichts anderes übrig, als sich mit verdorbenem Fleisch zufrieden zu geben. Was taten Sie? Sie waren so verzweifelt, dass Sie einen Auftragsmörder, mit Ihrem letzten zusammengekratzten Kleingeld anheuerten, um sich Ihres Konkurrenten zu entledigen. Durch diese Tat erhofften Sie, dass Ihre alten Kunden wieder den Weg zu Ihrem Geschäft fanden. Habe ich noch irgendetwas vergessen aufzulisten?“, fasste Sherlock geordnet die Fakten zusammen und tat als wäre er schwer am Grübeln. `Das alles hat er anhand der Tatwaffe analysiert? Unglaublich!` Ihre Augen leichteten begeistert über dessen Können. Der übergewichtige Mann bebte am gesamten Körper und sein Gesicht lief vor Zorn rot an. Ohne viele Worte wechseln zu müssen, erhoben sich die drei Gäste von ihren Stühlen. Sherlock positionierte sich vor der Eingangstür, um ihm den Fluchtweg abzuschneiden. John blieb an der Seite von Miceyla.

„Trotzdem sind es nicht meine Hände gewesen, die ihn ermordet haben! Der Mörder hat seine gerechte Strafe erhalten und sitzt hinter Gitter! Damit sollten Sie sich zufriedengeben!“, versuchte der tobsüchtige Mann sich vergeblich zu rechtfertigen.

„Reden Sie keinen Unsinn! Sie haben den Mord selbst geplant und im Hintergrund die Fäden gezogen! Das macht Sie zu dem wahren Täter. Sie sind das Böse, das mit unfairen Mitteln spielt und nichts weiter!“, wies Miceyla den Kerl mit den Worten der Gerechtigkeit zurecht. Der hasserfüllte Blick des beinahe explodierenden Mannes, fiel auf sie und er zückte das größte Küchenmesser, mit silbern glänzend scharfer Klinge, welches sich auf seiner Arbeitsfläche befand. Vorsichtig griff John nach seinem Revolver. Mit der anderen Hand nahm der Mann eine Schüssel, gefüllt mit einer nicht identifizierbaren Flüssigkeit und schüttete diese John direkt in sein Gesicht.

„Ah! Meine Augen!“, wimmerte er und fiel mit vor Schmerz geschlossenen Augen auf die Knie.

„John!“, schrie Miceyla panisch und funkelte ihren Widersacher angriffslustig an. Die Flüssigkeit roch nach Zwiebeln. `Wir dürfen den Typ nicht unterschätzen, er ist zu allem fähig…` Noch ehe sie ihren klaren Gedanken zu einer Handlung ausführen konnte, packte der Fleischer sie mit grobem Griff und drückte sie an dessen Körper. Zu allem Übel, spürte sie auch noch seine scharfe Messerklinge direkt an der Kehle. Ihr Puls raste, sie war nicht mehr dazu in der Lage, sich auch nur einen Millimeter wegzubewegen.

„Egal was Sie versuchen werden, Sherlock Holmes. Es wird damit enden, dass Blut von der Kleinen fließen wird!“, drohte er, ein gammliger Fleischgeruch umhüllte ihn. Verzweifelt suchte sie den Augenkontakt mit Sherlock und fragte sich, wie er es fertigbrachte so seelenruhig zu bleiben. `Ein Schlag seitlich in die Rippen. Ein Tritt zwischen die Beine. Mit einem Schuss das Seil durchtrennen…`, durchlief Sherlock seinen Plan in Gedanken und nach einem innigen Blickwechsel mit Miceyla, wanderte seine Aufmerksamkeit zu etwas, dass sich oberhalb von ihr befand. `Wenn ich nur wüsste was du denkst…` Trotz der brenzligen Umstände, probierte sie den Atem gleichmäßig zu halten und hob in Zeitlupe etwas den Kopf um sehen zu können, was Sherlock so gewissenhaft mit den Augen fixierte. Über Miceyla und dem Kerl, der sie mit dem Leben bedrohe, war ein langes Seil gespannt. An diesem hingen allerlei große Mengen an getrocknetem Fleisch. Es war von einem breiten hölzernen Regal, bis zu der gegenüberliegenden Wand gespannt. In dem Regal standen schwer aussehende Töpfe und Krüge. Wenn man das Seil an einer günstigen Stelle durchtrennte, würde das Regal durch die Last des Fleisches heruntergerissen werden und den Verbrecher unter sich begraben. `Ist das dein Plan?` Aber sobald er auch nur versuchen würde, seine Pistole hervor zunehmen, war es aus und vorbei mit ihr. Es bräuchte eine geeignete Ablenkung. Wie stand es eigentlich um John? Der Mann glaubte sicherlich, dass er noch immer außer Gefecht stand. `Das ist es!` Miceylas Blick traf sich erneut mit dem von Sherlock und beide gaben sich stumm zu verstehen, dass sie bereit waren. Sogleich sprang John auf und verpasste dem völlig verdutzten Fleischer mit dem Ellenbogen, einen kräftigen Schlag seitlich in die Rippen. Er taumelte etwas und lockerte ein wenig den Griff von Miceyla. Dies reichte ihr aus, um sich zu befreien und versetzte ihm daraufhin einen ordentlichen Tritt zwischen die Beine. Vor Schreck und mit schmerzerfüllter Miene, ließ er sein Messer fallen und torkelte nach hinten gegen die Wand und sackte zu Boden. Im selben Moment schoss Sherlock auf die richtige Stelle und das Seil löste sich von der Wand. Mit einem lauten Krachen, riss die ganze Fleischansammlung das Regal hinunter und begrub ihren Gegner, der sofort ohnmächtig wurde. Die drei hatten es geschafft. Mit einem Seufzen der Erleichterung, holte John ein Taschentuch aus seiner Westentasche hervor und trocknete sich damit das Gesicht.

„Geht es Ihnen gut? Ihre Augen sind ganz rot und geschwollen“, fragte sie besorgt und holte kühlendes Wasser von der Theke.

„Danke, aber keine Sorge. Ich habe meine Augen noch im rechten Moment schließen können. Doch geht es Ihnen auch wirklich gut? Er scheint Sie zum Glück nicht verletzt zu haben“, erkundigte der junge Arzt sich nach ihrem Zustand und legte ihr zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter.

„Haben Sie Dank. Ich glaube es ist lediglich noch der Schock, der von mir Besitz ergriffen hat…“, meinte sie und zitterte nach wie vor wegen der Aufregung. Ohne die beiden hätte sie höllische Angst gehabt.

„Sherlock, es hätte einiges schief gehen können!“, schimpfte John mit strengem Blick.

„Da irrst du dich. Das habe ich alles bereits beim Eintreten des Ladens geplant“, versuchte Sherlock sich zufrieden aus der Affäre zu ziehen und war bereits dabei eine neue Zigarette zu rauchen.

„Auch das ich eine Zwiebelwasserdusche bekomme?“, erwähnte John und wischte sich übertrieben hartnäckig mit dem Tuch über das Gesicht.

„Und das ich mit einem Messer bedroht werde und nun so grässlich stinke wie der Fettwanst?“, fügte Miceyla hinzu und verzog angewidert bei dem Gestank der sie umgab das Gesicht Sherlock konnte sich nicht länger zurückhalten und lachte unaufhaltsam.

„Ha, ha, ha! Neue Begebenheiten werden eben neu mit einkalkuliert. Gut Freunde, lassen wir Scotland Yard den Rest erledigen. Inspektor Lestrade freut sich!“, sagte er ironisch.

„Ja, ja, so wie immer… Daheim werde ich erst mal ein Bad nehmen…“, murmelte John und nahm seinen Hut und den Stock vom Sitzplatz und verließ mit den beiden das Wirtshaus.

„Danke für den erlebnisreichen Ausflug! Eine gute Tat und ein nett gemeinter Rat, bewahren dich, ehe dir ein böses Ende naht!“, bedankte sie sich ausgelassen und war glücklich über die Zeit, mit Londons unvergleichbaren Detektiv.

„Und mit einem guten Bier, nachts um vier, gelingt der nächste Fall auch wieder dir und mir!“, ergänzte Sherlock und beide schlugen ihre Fäuste gegeneinander, als würden sie sich einen Eid schwören. Dann lachte er zusammen mit Miceyla, während sie den Gehweg entlang schlenderten.

„Na da haben sich aber zwei gefunden…“, kommentierte John die beiden lächelnd, ein kleines Stück hinter ihnen. An einer Kreuzung, wo sich ihre Wege trennen würden, hielten sie an.

„Sollen wir Sie nicht noch nach Hause begleiten? Es ist bereits sehr dunkel“, bot John ihr freundlich an.

„Das ist nicht nötig, lieben Dank. Ich habe es nicht mehr weit und bin flott zu Fuß. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht“, verabschiedete Miceyla sich und war fast schon etwas wehmütig, dass der Tag so schnell vorüber ging.

„Na dann wünsche ich dir einen guten Heimweg. Und ich freue mich über einen nächsten Besuch. Die Adresse kennst du ja jetzt. Ganz nebenbei begrüße ich auch stets Hinweise und Gerüchte zu neuen Fällen“, gab Sherlock ihr noch zum Abschied mit auf den Weg.

„Gute Nacht Miceyla, bis bald.“ John schloss sich seinem guten Freund an und beide liefen die Straße hinunter. Sie lief in die entgegengesetzte Richtung, im Hintergrund vernahm sie noch ihre Stimmen.

„John, kann es sein, dass du heute eine dezente Zwiebelduftnote trägst?“

„Das muss ich mir von dir nicht sagen lassen!“

Schnellen Schrittes schlug sie den Weg zu ihrem Zuhause ein. Sie war müde und wollte sich von den heutigen Erlebnissen, erst mal ausgiebig erholen. Da wurde sie plötzlich von einer düsteren Gestalt gegen eine harte Hauswand geschubst. Erschrocken und erschöpft, sah sie im schwachen Licht einer etwas entfernten Straßenlaterne, wie ein breitschultriger Mann von vorne sich ihr näherte. Zwei weitere Männer schlossen sich ihm an.

„Na Kleine, haste heute Nacht schon etwas vor?“, fragte einer von ihnen lüstern. `Ja…ein ausgiebiges Bad nehmen und schlafen… Wäre ich doch besser mit Sherlock und John heimgegangen…`, dachte sie spöttisch und keuchte. Voller Panik musste sie einsehen, dass sie den drei Männern alleine schutzlos ausgeliefert war und es keine Möglichkeit zur Flucht gab… Sie war ungeübt im Nahkampf und ohnehin bereits ziemlich geschwächt. Miceyla schloss betend die Augen, als die Männer kurz und dran waren, sich an ihr zu vergreifen. Da legte ihr auf einmal jemand von der Seite einen Arm um sie und zog sie schützend an sich. Überrascht riss sie die Augen wieder auf.

„Guten Abend die Herrschaften. Ich bin die Begleitung von der jungen Dame.“
 

Liebes Tagebuch, 4.2.1880

Uff! Was für ein Tag! Mir ist noch immer ganz schwindelig… So ein Zufall, dass ich John Watson in der Arzneihandlung getroffen habe. Er wohnt zusammen mit Sherlock und ist Partner bei seinen Ermittlungen. Ich durfte direkt erfahren, wie ihr Zuhause aussieht. Und wie Sherlocks Bude aussieht, ha, ha! Sollte ich ihn als kreativ und experimentierfreudig bezeichnen? Die arme Mrs. Hudson… Ich habe wirklich schon viel erlebt, aber so ernsthaft in Lebensgefahr wie heute, war ich noch nie. Ich spüre noch immer die Klinge an meinem Hals… Und riechen tue ich sie ebenfalls… Pfui! Sherlocks und Johns Gesellschaft genoss ich wirklich sehr, ich hoffe sie mögen mich auch. Aber der eigentliche Höhepunkt des Tages, sollte erst im Anschluss folgen, als ich spät am Abend von drei Männern belästigt wurde. Und jemand zu meiner Rettung eilte, von dem ich nicht mal im Traum daran gedacht hätte, ihn zu jenem Zeitpunkt und an jenem Ort noch einmal wiederzusehen…
 

Vom Nehmen und Geben
 

Weine nicht, denn sie werden deine Tränen nicht sehen.

Versteck dich nicht, denn sie werden dir nicht nachgehen.

Senke nicht den Blick, sonst machst du dich selbst nur klein.

Wähle deine Worte weise, auch wenn sie dir sind zu fein.
 

Meide nicht ständig die Gefahr, sonst kommt sie von alleine zu dir.

Verlange nicht immer nach etwas, denn aus wünschen wird schnell Gier.

Schätze auch mal deine Gegner, selbst wenn sie dich zuvor bedroht haben.

Erledige Wichtiges besser sofort, sonst erstreckt sich vor dir bald ein tiefer Graben.
 

Willst du ein schweres Rätsel lösen, so habe mit dir selbst Geduld.

Sieh deine Fehler als eine Art Prüfung, sonst gibst du dir dafür die Schuld.

Du kannst keinen Mut erlernen, aber ihn durchaus beweisen.

Stürze dich nicht in jede heikle Situation, sonst wird deine Glückssträhne reißen.
 

Fürchte nicht die negativen Gefühle, denn sie verhelfen dir zu wahrer Stärke.

Helfe stets den Schwachen, du wirst daraus erlernen neue Werte.

Freue dich ehrlich über deinen Verdienst, es ist schließlich dein Sieg.

Plane nie im Geheimen eine Rache, es wird nur entfachen einen Krieg.

Ziel ist das Glück

Voller Verwunderung blickte Miceyla den großen Mann an, der dicht neben ihr stand und die aufdringlichen Lustmolche bedrohlich anfunkelte. `Aber das ist doch…` Sofort erkannte sie ihren Retter.

„So ein Mist! Wo kommt der Mistkerl vom Adel so plötzlich her? Verschwinden wir Jungs, sonst ist die Kacke am Dampfen!“, sprach der Anführer zum Rückzug und die drei Männer gaben hektisch Fersengeld. Ihr Beschützer löste seinen Arm von ihr und lächelte sie mit warmherzigen Augen an.

„Was für ein Glück… Ich sollte so spät nicht mehr alleine draußen herumlaufen. Wie kann ich Ihnen nur jemals für Ihre Rettung danken? Wir haben uns bereits auf dem Marktplatz getroffen, wenn auch nur kurz, stimmt es mein Herr?“, dankte sie dem jungen Adligen.

„Das ist richtig, Miss Miceyla Lucassen. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, ich bin Albert Moriarty, Williams älterer Bruder“, teilte er ihr würdevoll seinen Namen mit. `Die beiden sind Brüder? Sie sehen sich aber nicht sehr ähnlich, vielleicht…`, begann sie zu überlegen, doch er sprach direkt weiter.

„Ich weiß es ist nicht gerade ein passender Zeitpunkt und ich hätte es vorgezogen, für eine so schöne junge Lady ein treffenderes Ambiente auszuwählen, um Ihnen meine Nachricht zu überbringen. Denn ich mag doch nicht hoffen, dass Sie den heutigen Vorfall zukünftig mit mir in Verbindung bringen werden.“ Miceyla errötete, glücklicherweise war es dunkel. `Was für ein Gentleman…`

„Ich möchte Sie hiermit recht herzlich in unser Anwesen einladen. Übermorgen um drei Uhr am Nachmittag, wird Sie eine Kutsche von Zuhause abholen. Natürlich darf ich nicht unerwähnt lassen, dass dies der Wunsch meines Bruders William ist. Die Nachricht überbringe ich also in seinem Namen. Seien Sie bitte nicht allzu enttäuscht, dass er Sie heute Abend nicht persönlich mit seiner Anwesenheit beehrt hat. Selbstverständlich geleite ich Sie noch bis nach Hause. Mir liegt es am Herzen, mich selbst davon zu vergewissern, dass Sie unbeschadet ankommen, Miss Miceyla“, übermittelte Albert einfühlsam die Botschaft von William. In ihrem Kopf begann sich alles wie wild zu drehen. `Das muss ein Traum sein! Liege ich nicht schon in meinem Bett und schlafe? Der adelige Schönling lädt mich auf sein Anwesen ein, nach nur einem Treffen! Und ich soll in einer Kutsche abgeholt werden. Über was er wohl mit mir reden will?` Sie versuchte sich innerlich zu beruhigen, um dem freundlichen Albert eine einigermaßen vernünftige Antwort zu geben.

„Aber nicht doch, mehr als nur froh darüber bin ich Sie zu sehen! Es verschlägt mir fast die Sprache, wenn ich ehrlich bin. Aber ich werde dieser besonderen Ehre entgegenkommen und Ihre Einladung dankend annehmen. In zwei Tagen um drei Uhr werde ich fertig sein. Mit Freuden blicke ich diesem Tag entgegen.“

„Wir freuen uns ebenso, Sie bei uns Willkommen heißen zu dürfen“, erwiderte Albert und sie war wie gebannt von seinen ausdruckstarken, smaragdgrünen Augen.

„Sollen wir los, meine Lady?“ Er geleitete Miceyla bis an die Haustür. Nachdem sich die beiden gegenseitig eine gute Nacht gewünscht hatten, machte er kehrt und wurde von der Dunkelheit der Nacht verschluckt. Im Schutz des Hauses, lehnte sie sich erst mal gegen die geschlossene Tür. Plötzlich war Miceyla wieder hellwach. `Ich kann es nicht glauben! Ich werde tatsächlich William wiedersehen und das bereits übermorgen! ...Moment… Albert hat doch hoffentlich nicht bemerkt, wie furchtbar ich nach Fleisch rieche, oder?`, hoffte sie insgeheim und schrie sich den Frust von der Seele.

„Ahhhhhh!“

„Ruhe!“, kam sogleich eine lautstarke Beschwerde, aus der Erdgeschosswohnung.
 

Die Kirchenglocken läuteten, es war zwölf Uhr mittags. Den Himmel bedeckten graue dicke Wolken, ein typisches Wetter für einen tristen Februartag. Miceyla blieben noch drei Stunden, um sich fertig zu machen, ehe sie die Kutsche abholen würde. Ihr Frühstück stand noch beinahe unberührt auf dem Tisch. Viel zu aufgeregt war sie und bekam keinen Bissen hinunter. Sie saß an ihrem provisorisch errichteten Schminktisch und blickte ihr Spiegelbild, in dem darüber hängenden kleinen Wandspiegel an. Mit Augen die erwartungsvoll leuchteten, dachte sie angestrengt über eine geeignete Frisur nach. Sie hatte sich für ein himmelblaues enganliegendes, bodenlanges Kleid mit schönen Stickmustern darauf entschieden. Eine große Auswahl gab es ohnehin nicht in ihrem Kleiderschrank. Nach einigen Ungeschickten Versuchen, waren ihre Haare zu einem Zopf geflochten und mit Klammern hochgesteckt. Zufrieden erblickte Miceyla das Resultat. Es war ewig her, seitdem sie sich so viel Mühe für ein solch ordentliches Erscheinungsbild gegeben hatte. `In einer Viertelstunde ist drei… Bin ich soweit? Bin ich auch wirklich soweit?` Ein paar Runden drehte sie im Zimmer, um angestaute Energie loszuwerden. Dann nahm sie ihr Täschchen und stieg in Begleitung eines pochenden Herzens die Treppe hinab. Überrascht stellte sie nach öffnen der Haustür fest, dass ihre Eskorte bereits im Freien auf sie wartete.

„Bitte sehr, meine Dame.“ Der Kutscher öffnete ihr in einer leicht verbeugenden Körperhaltung die Tür.

„Vielen Dank.“ Nachdem Miceyla in die Kutsche gestiegen war, setzte diese sich in Bewegung und brachte sie zum vereinbarten Ort des Treffens, dem Moriarty-Anwesen.

Etwa eine dreiviertel Stunde fuhr die Kutsche durch die Straßen Londons und hielt in einer idyllisch ländlich begrünten Gegend, etwas außerhalb der Stadt an. Der ältere Kutscher half ihr mit einer Hand hinaus und sie fand sich vor einem eindrucksvollen und dennoch für eine Familie des Adels, recht schlicht gehaltenem Anwesen wieder. Ohne Hast schritt Miceyla durch das Eingangstor und betrat den Vorgarten. Auf dem Wege überlegte sie rasch noch, wie sie die Mitglieder der Familie Moriarty ansprechen sollte, um peinliche Fehler zu vermeiden. `Albert ist aktuell das Familienoberhaupt, wenn ich das korrekt verstanden habe, also ein Graf. Wenn William der Zweitgeborene ist, macht ihn das zu einem Lord. Hoffentlich liege ich mit dieser Annahme richtig…` Gerade wollte sie den Türklopfer betätigen, da wurde die Eingangstür bereits von innen geöffnet.

„Guten Tag, Miss Lucassen. Wir haben Sie bereits erwartet. Ich hoffe Ihre Anreise verlief unbeschwert. Ich bin Louis Moriarty. Folgen Sie mir bitte“, empfing sie ein blondhaariger junger Mann, er besaß beinahe dieselben Augen wie William und trug eine Brille. Auf seiner rechten Wange befand sich eine größere Narbe.

„Guten Tag, Sir Moriarty.“ `William hat noch einen Bruder? Dieser Mann hat eine sehr strenge Aura. Er bildet sich bestimmt rasch skeptische Vorurteile, über Personen die er trifft. Ich sollte darauf achten, was ich in seiner Gegenwart sage.` Miceyla folgte Louis in den Eingangsbereich des Anwesens und erforschte mit neugierigen Augen das Innere. Sie wollte alles genaustens in Erinnerung behalten. Denn wie oft befand man sich schon in dem Zuhause eines wohlhabenden Adeligen? Er führte sie die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Über ihr funkelte ein imponierender Kronleuchter. An den Wänden befanden sich einige Gemälde in goldenen Rahmen und ihre Schritte wurden durch einen bordeauxfärbenden Teppich gedämpft.

„Treten Sie ein.“ Louis blieb im Flur vor einem geräumigen Zimmer stehen, den sie eigentlich auch als Saal bezeichnen konnte. Der Raum verströmte eine gemütliche Atmosphäre. Es gab einen Sitzbereich, in dessen Mitte sich ein niedriger Holztisch, mit einer spiegelnd sauberen Marmorplatte darauf befand. In einem Kamin knisterte ein wärmendes Feuer. Die Schränke und Vitrinen an der Wand, waren mit alten Büchern und hochwertigen Gegenständen gefüllt. William saß auf einem der Sofas und las konzentriert in einem Buch. Lächelnd ließ er von seiner Beschäftigung ab und erhob sich. Erneut blickte Miceyla in seine anziehenden Augen und war wie verzaubert. Seine ordentlich gekämmten, glänzend blonden Haare umschmeichelten sein ästhetisches Gesicht. Bereits auf dem Marktplatz hatte sie dieses Gefühl verspürt, ewig einfach nur stehen zu bleiben, um seinen Anblick zu genießen.

„Wie schön Sie zu sehen, Miss Miceyla. Es freut mich das Sie für den heutigen Tag Zeit gefunden haben. Bitte setzen Sie sich doch“, begrüßte William sie sanftmütig und sie war krampfhaft darum bemüht eine aufrechte Haltung einzunehmen, um in dieser ihr fremden Welt nicht allzu verloren zu wirken.

„Ich danke Ihnen für die Einladung, Lord William Moriarty“, erwiderte sie in einem förmlichen Ton und unterstrich dies mit einem zarten Lächeln.

„Bitte, Sie brauchen mich einfach nur William zu nennen“, ermunterte er sie freundlich, die formellen Umgangsformen beiseite zu schieben. Sie nahm auf einem breiten gepolsterten Ledersofa, mit samtüberzogenen Kissen darauf, gegenüber von ihm Platz.

„Ich komme gleich hinzu“, gab Louis William Bescheid, während dieser sich ebenfalls wieder setzte.

„In Ordnung, Bruder.“ Nun waren die beiden für einen Augenblick alleine und Miceyla wusste nicht, ob sie dies auskosten oder sich unbehaglich fühlen sollte. Denn schließlich waren sie sich völlig fremd.

„Es tut mir leid, wenn diese Situation Ihnen befremdlich vorkommt. Wieso stellen Sie sich denn nicht vor, ich sei ein guter Bekannter von Ihnen, den Sie heute hier besuchen? Seien Sie ganz Sie selbst. Sie und ich sind nun vollkommen gleich“, schlug William vor und sie war erstaunt über seine, für einen Adeligen untypisch offene Art.

„Nun gut, dann werde ich mich nicht verstellen, wie es jetzt die meisten Menschen tun würden. Aber ich glaube, Sie haben bereits neulich in der Innenstadt einen deutlichen Eindruck erhalten, mit was für einer Persönlichkeit Sie es bei mir zu tun haben. Nur, würde ich meine verträumten und ehrlichen Gedanken überall frei aussprechen, so landete ich rasch in einem modrigen Verließ“, meinte sie scherzhaft und ihre Anspannung verflog allmählich.

„Vielleicht brauchen diese Äußerungen ja nur auf die richtigen Menschen zu treffen, um sich Gehör zu verschaffen“, hob er an und formte seine Lippen zu einem Grinsen. Derweil verlor sie sich voll und ganz in der Tiefe seiner Augen.

„Wer weiß? Könnten wir nicht jene Menschen sein?“ Miceyla zuckte zusammen bei dieser ihr vertrauten Stimme und sah wie jemand den Raum betrat.

„Oh, Albert! Ich freue mich Sie zu sehen“, grüßte sie ihn ganz unkonventionell.

„Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich erst freue, Sie hier in unserem trauten Heim willkommen heißen zu dürfen, Miss Miceyla“ Sie kicherte bei seiner charmanten Art. Da kam nun auch noch Louis herein und brachte dampfenden Tee mit. Das Porzellanservice sah so teuer aus, dass sie sich kaum traute es anzufassen, aus Angst sie könnte es zerbrechen. Louis setzte sich neben William auf einen Sessel und sie fühlte sich sofort unbehaglich, unter seinem prüfenden Blick. Daher war sie froh, dass Albert sich neben sie auf das Sofa gesellte. Sonst wäre sie sich vorgekommen wie bei einem Verhör.

„Gut, wir sind alle anwesend. An dieser Stelle fange ich damit an, dass wir einander noch einmal richtig bekannt machen. Damit wir Sie nicht länger im Dunkeln tappen lassen, Miceyla. Ich beginne. Ich bin William James Moriarty. An einer Universität hier in London, arbeite ich als Professor für Mathematik, vorher war ich in einem College in Durham angestellt. Wir wohnen noch nicht allzu lange hier und unter anderem bin ich als Privatmentor in kriminellen Angelegenheiten tätig. In diesem Gebiet bin ich Ihr erster Ansprechpartner. Meine beiden Brüder werden fortfahren“, gab William das Wort an sie weiter. `So jung und bereits ein Professor?! Ich wusste er ist ein Genie…`, dachte Miceyla mit Faszination.

„Dann setze ich mal die Vorstellungsrunde fort. Ich heiße Albert Moriarty, in jungen Jahren erbte ich den Grafentitel. Zurzeit leite ich das Handelshaus Universal und bin als Oberstleutnant im Kriegsministerium tätig“, fuhr Albert lächelnd neben ihr fort.

„Und ich bin Louis Moriarty, ich kümmere mich um jegliche Arbeiten und Anliegen, die dieses Grundstück betreffen“, äußerte er sich zum Abschluss knapp. Alle drei Brüder blickten sie an. Wie in einem Bann befand sie sich, in einem Zentrum von einzigartigen Persönlichkeiten.

„Wirklich sehr besondere und individuelle Menschen habe ich da vor mir. Ich selbst hingegen, Miceyla Lucassen, bin nur ein einfaches Stadtmädchen, das älteren Familienmitgliedern, bei ihren häuslichen Tätigkeiten und Besorgungen unterstützt. William, erlauben Sie mir eine Frage? Wenn Sie mit kriminellen Angelegenheiten in Verbindung stehen, heißt das Sie hatten des Öfteren schon mit Sherlock Holmes zu tun?“, fragte sie nun endlich und war gespannt auf seine Antwort.

„Ich sehe es ist Ihnen in der Stadt nicht entgangen, dass Sherlock und ich, bereits das ein oder andere Mal das Vergnügen miteinander hatten. Sagen wir, der Zufall hat uns zwei, drei Mal zusammengeführt und wir trieben einen kleinen Wettstreit, wer von uns beiden zuerst einen Fall löst. So, jetzt bin ich an der Reihe Ihnen eine Frage zu stellen, Miceyla. Wie schätzen Sie die heutige gesellschaftliche Lage ein, in dem Land in welchem Sie leben? Aus Ihrer eigenen Perspektive und wenn Sie an die Menschen mit unterschiedlichen Privilegien denken. Wie nehmen Sie diese wahr? Nehmen Sie bitte dazu einmal Stellung“, forderte William sie plötzlich, mit einer ernsthaften Frage zu einer Antwort auf. Seine glühend roten Augen, zogen die Ihren dabei an wie ein Magnet. `Das kommt unerwartet… Was will er mit dem heutigen Treffen bezwecken? Wie lauten seine wahren Absichten? Diese drei Moriarty-Brüder verbergen ein dunkles Geheimnis. Das spüre ich…`, grübelte Miceyla über die Beweggründe des klugen und jungen Adeligen, der in ihrem Alter sein musste.

„Nun… Unsere Gesellschaft ist durch klare Strukturen geprägt. Um es banal auszudrücken, die Oberschicht fühlt sich in ihrem Reich pudelwohl und genießt Ansehen und Macht. Dabei trampelt sie nach Belieben, auf den Bedürfnissen der Unterschicht herum und nutzt deren Verletzlichkeit gnadenlos aus. Begabungen und Talente werden von normalen Bürgern schlichtweg ignoriert. Und diese armen Menschen haben keine Chance auf eine Förderung. Das ist es, was mir besonders gegen den Strich geht… Gerade wir Frauen haben kaum die Möglichkeit eine Universität zu besuchen, geschweige denn überhaupt eine verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen… Ja… Dies ist die alleinige Schuld des Adels, immer müssen diese Wichtigtuer das letzte Wort haben. Wer keinen Titel vorzeigen kann, ist in unserem hartherzigen Land nichts wert. Dabei sind wir alle gleich… Ein jeder hat das Recht auf ein erfülltes Leben…“, endete Miceyla und war selbst darüber verblüfft, dass sie vor adeligen Personen, ganz offen die Meinung ausgesprochen hatte. Ein gewagter Schritt für ein junges Mädchen. Während ihrer Rede überkam sie eine fesselnde Wut, der Hass auf die Menschen, welche sie im Stich gelassen hatten und auf ihre eigene Machtlosigkeit. William senkte schweigend den Blick und lächelte mysteriös. Albert tat es ihm gleich, nur Louis sah sie überraschender Weise verdutzt an. Schließlich war William derjenige, der die bedrückende Stille brach.

„Wäre es nicht erfreulich, dem Ganzen ein jähes Ende zu bereiten? Den leidenden Menschen, endlich ihre verdiente Hoffnung zurückzugeben?“, wandte er sich mit seiner Frage direkt an Miceyla und dessen sanftmütiges Lächeln beschwichtigte ihr aufgewühltes Herz.

„…All die Qualen der nach Hilfe schreienden Seelen zu lindern…“, fügte sie zaghaft gedankenversunken hinzu.

„…Die Machenschaften der teuflischen Obrigkeit zu vereiteln…“, setzte William unmittelbar nach ihr fort.

„…Den gütigen Wesen ein neues Licht zu schenken…“

„…Den Auftakt für eine freie Zukunft einzuleiten…“

„…Träume zu leben, die auf jedermann warten…“

„…Gemeinsam an Problemen arbeiten und sich unterstützen…“

„…Zusammen für das Gute zu kämpfen…“

„Das Böse aus dieser verdorbenen Welt zu verbannen!“, sprachen William und Miceyla gleichzeitig zum Abschluss ihres lebhaften Wortgefechts. Albert kicherte leise neben ihr und Louis räusperte sich, während er unbeteiligt zu Boden sah.

„Wie gerne wäre ich dazu im Stande etwas zu verändern, etwas zu bewegen… Doch ich bin nichts anderes, als ein schwaches Mädchen, das in den Schatten der herrschenden Menschen steht und gezwungen ist in dem Strom mitzuschwimmen, den die Gesellschaft vorgibt…“, klagte sie bitterlich und ballte die Hände auf ihrem Schoß zu Fäusten zusammen.

„Auf uns alleingestellt sind wir alle nicht tauglich, ein größeres Vorhaben zu bewerkstelligen. Daher ist es eine Notwendigkeit, nach Gleichgesinnten zu suchen. Nur das trägt zur Verwirklichung von Ideen und Plänen bei“, teilte Albert seine Sichtweise mit und nahm anmutig einen Schluck von seinem Tee.

„Gewiss, Bruderherz. Und Miceyla, Sie dürfen Ihre eigenen Fähigkeiten nicht unterschätzen. Sie haben eine bemerkenswerte Beobachtungsgabe. Sherlocks und die meine Anerkennung, haben Sie sich bereits verdient. Aber was liegt Ihnen denn wirklich am Herzen? Welcher Tätigkeit gehen Sie mit Leidenschaft nach? Die Sie erfüllt und bei der Sie Zuflucht finden. Verraten Sie es mir?“, fragte William forschend, lehnte sich dabei entspannt am Sofa an und stützte seinen Kopf seitlich mit einer Hand ab. `Er liest unbestreitbar die Besonderheiten und Gefühle von den Gesichtern anderer ab…`, war sie abermals von seiner Scharfsinnigkeit fasziniert.

„In der Tat, Sie haben völlig Recht, William. Natürlich gibt es etwas, dass mich sehr interessiert und dem ich mich voll und ganz hingebe. Und zwar dem Schreiben. Seit meiner frühen Kindheit schreibe ich Geschichten, Gedichte, Liedtexte und bringe einfach all meine Gefühle und Vorstellungen zu Papier. Ich habe mir manches Wissen selbst angeeignet und bilde mir im Stillen mein eigenes Urteil, über zwischenmenschliche Beziehungen. Und da ich viel alleine war und es auch immer noch bin, hält mich nichts davon ab, meiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Jedoch wäre es mein heimlicher Wunsch, meinen größten Schatz mit anderen zu teilen…“, sprach Miceyla verträumt und holte ihr Buch, welches gefüllt war von ihren eigens erstellten Schriften, aus ihrer Tasche hervor. Ihre Hände bewegten sich wie ganz von selbst und mit süßem Lächeln betrachtete sie jenes Buch, dessen Einband im Laufe der Jahre schon etwas mitgenommen war.

„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mal einen Blick hineinwerfe?“, fragte William und zeigte ein aufrichtiges Interesse ihr gegenüber.

„Oh, aber gewiss doch! Nur, ich muss Sie warnen, noch nie zuvor hat jemand von dem gelesen was ich schreibe… Teilweise ist es ziemlich dramatisch und persönlich. Und es wäre für mich nicht verwunderlich, wenn meine Art zu schreiben, bei jemanden mit Ihrem Wissen keinen Anklang findet.“ Mit diesen Worten der Bescheidenheit, überreichte sie ihr Buch an ihn und er öffnete es so sachte, als hielte er wahrhaftig einen kostbaren Gegenstand in Händen.

„Nicht doch, ich wette Sie sind eine Zauberschreiberin, die Geheimnisse verschriftlicht und deren Wunder dazu bestimmt sind, die Welt zum Staunen zu bringen“, widersprach er ihr lächelnd. Miceyla konnte seinem feurigen Blick nicht länger standhalten und spürte wie die Hitze in ihr aufstieg. Ihre Wangen erröteten.

„Inspiriert die düstere Vergangenheit uns nicht alle dazu, Querdenker zu werden?“, meinte Albert mit einem rätselhaften Unterton und schenkte Miceyla einen innigen Seitenblick. Beide lächelten sich an.

„Allerdings bin auch ich der Meinung, dass William keinesfalls Gefallen an kitschigen und schnulzigen Geschichten findet. Und damit nicht seine wertvolle Zeit verschwendet, Miss Lucassen“, kam der scharfe Einwand von Louis und er sah sie mit herabwürdigenden Augen an. Seine Worte verletzten sie und beleidigten ihren Stolz. Sie wagte aber nicht auf seinen Kommentar zu antworten und blickte nur ausdruckslos zurück.

„Aber Louis, sei doch bitte nicht immer so voreingenommen“, besänftigte William das starsinnige Gemüt seines Bruders und las dabei aufmerksam. Es dämmerte bereits und Louis nutzte die Gelegenheit, um die Kerzen im Raum anzuzünden. Sie genoss ihr warmherziges Umfeld und dachte dabei nach, ob sie in ihrem Leben jemals einen derart geselligen Moment erlebt hatte und verneinte dies im Stillen.

„Falls es Sie interessiert… Ich habe bereits eine recht ausführliche Abenteuergeschichte fertiggestellt. Das Manuskript dazu befindet sich bei mir daheim“, setzte Miceyla ihre aufgeschlossene Unterhaltung fort und hatte beinahe völlig ausgeblendet, dass sie sich in der Gesellschaft von Adeligen befand.

„Haben Sie noch nicht in Erwägung gezogen, Ihr Werk zu veröffentlichen?“, fragte William, ohne dabei das Lesen zu unterbrechen. Ihr Herz schlug freudig schneller. Das er so sehr in ihren Geschichten vertieft war, schien eindeutig ein Zeichen dafür zu sein, dass es ihm gefallen musste.

„Bislang fand ich keinen Verlag, der meinen Roman ernst nahm. Vielleicht sind die meisten von denen auch Frauenfeindlich… Ich überlegte schon, ob ich ihn mit männlichen Namen veröffentlichen soll. Aber nein, es wäre falsch. Die Leute müssen wissen, dass es von mir stammt. Sonst sind meine ganzen Mühen vergebens…“, offenbarte sie ein wenig traurig.

„Das ist auch der richtige Weg. Auch wenn es unmöglich erscheint, sollte man an seinen Überzeugungen festhalten. Und ich denke, dass lässt sich mit Sicherheit noch ändern“, sprach William mutmachende Worte.

„Worüber handelt die Erzählung?“ Miceyla hatte nur auf diese Frage gewartet, welche ihr Albert stellte.

„Es geht…um Soldaten!“, teilte sie den Brüdern mit und nahm eine aufrechte Sitzposition ein, die nur so vor Euphorie trotzte.

„Über Soldaten?“, wiederholte Albert erstaunt. Auch William blickte kurz ihr gegenüber mit neugieriger Miene auf.

„Richtig! Die Geschichte handelt über den Mut und die Aufopferung von Soldaten. Krieger, die gemeinsam für Gerechtigkeit kämpfen. Auch ich bin dort eine Soldatin und an der Seite meiner treuen Kameraden, erleben wir aufregende, aber gleichzeitig auch schwere Abenteuer. Die Träume und Ehre eines Soldaten sind unantastbar!“, gab sie stolz weitere Details preis. Albert krümmte sich neben ihr plötzlich vor Lachen.

„Ha, ha, ha! Na die Geschichte will ich lesen! Meine liebe Miceyla, Sie stecken voller neuer Überraschungen. Das gefällt mir. Ich hoffe die heldenhafte Soldatin hat auch einen heimlichen Verehrer?“, neckte Albert sie und beugte sich spielerisch zu ihrem Gesicht hinab.

„A-also, ähm ja… Der kommt ebenfalls darin vor, ha, ha“, meinte sie und wich schüchtern seinem Blickkontakt aus. Sogar Louis zeigte ein zaghaftes Lächeln.

„Du meine Güte. Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet. Zumindest wenn man von Ihrer mädchenhaften Erscheinung ausgeht“, kicherte dieser. Wie erleichtert sie war, dass ihre Art die jungen Adeligen kein bisschen zu langweilen schien.

„Haben Sie einen Einwand dagegen, wenn ich mir Ihr Buch für eine kurze Weile ausliehe? Ich möchte gerne in Ruhe alles lesen. Wäre doch eine Schande, mir auch nur einen kleinen Teil Ihres Könnens entgehen zu lassen. Ach und Louis, es ist keineswegs kitschig. Es spiegelt die ehrliche Wahrheit, über unsere verdorbene reale Welt wider. Machen Sie sich keine Sorgen, bei mir ist Ihr Buch in guten Händen. Ich werde Ihnen eine Nachricht zukommen lassen, wenn Sie es wiederhaben können“, bat William sie um den Gefallen, ihre Erzählungen ausführlich lesen zu dürfen.

„Selbstverständlich, ich vertraue Ihnen da voll und ganz. Danke William, dass Sie meine Werke ernst nehmen“, dankte Miceyla dem wohlerzogenen und gebildeten jungen Adeligen. Sie fühlte sich so unfassbar glücklich wie nie zuvor.

„Ich schlage vor wir beenden unser Treffen an dieser Stelle und setzen es ein anderes Mal fort. Heben wir uns die weiteren spannenden Schilderungen, bis zu einer erneuten Zusammenkunft auf. Denn ich denke, es warten noch viele geheimnisumwobene Offenbarungen, sowohl von Ihnen Miceyla, als auch von unserer Seite darauf verkündet zu werden. Gerne begleite ich Sie in der Kutsche nach Hause“, beendete Albert feierlich ihre erste längere Versammlung.

„Falls es dir nichts ausmacht Bruder, würde ich sehr gerne an deiner Stelle Miceyla nach Hause geleiten“, sprach William seinen Wunsch aus und alle vier erhoben sich nach den gesprochenen Schlussworten.

„Wenn du magst, da halte ich mich natürlich zurück. Ich dachte nur, dass die junge Lady bereits an meinen Begleitschutz gewöhnt ist. Aber etwas sagt mir, dass wir uns schon sehr bald wiedersehen werden“, meinte er vorausschauend und erinnerte sie mit einem kurzen Augenzwinkern an jenen Abend.

„Ich danke Ihnen drei für Ihre Gastfreundschaft. Ich hatte heute viel Spaß“, bedankte Miceyla sich für den heutigen Aufenthalt bei den Moriarty-Brüdern.

„Auf Wiedersehen, Miss Lucassen und bis später William“, verabschiedete Louis sich und war dabei die Teetassen vom Tisch zu räumen. Unten half William Miceyla in ihren Mantel und beide stiegen in die Kutsche. Abermals saßen sie sich gegenüber, doch trennte sie nun eine wesentlich geringere Distanz voneinander. Sie freute sich heimlich darüber, dass er es war der sie begleitete. Obwohl sie bei seiner Anwesenheit noch intensivere Nervosität verspürte, als es bei Albert der Fall war.

„Es freut mich sehr, dass ich heute erfahren durfte, dass Sie und ich die gleiche Einstellung gegenüber unserem Umfeld hegen“, sprach er in einer ausgeglichenen Stimme, während sie durch die hereinbrechende Nacht fuhren.

„Dem stimme ich zu. Es war für mich heute eine neugewonnene Erfahrung zu erleben, dass es noch Adelige mit Herz gibt und die den Anstand besitzen, gewöhnlichen Bürgern ihren Respekt zu erweisen. William, Sie und Ihre Brüder sind wundervolle Menschen“, reflektierte sie glücklich noch einmal ihr heutiges Gespräch.

„Nicht wundervoller als Sie es sind, Miceyla.“ Erneut zeigte er ihr sein schönstes Lächeln und sie wünschte die Fahrt würde nie enden. Ein gutes Stück vor der Ankunft bei ihrem Zuhause, bat William den Kutscher anzuhalten.

„Gehen wir doch den restlichen Weg zu Fuß.“ Es war ihr nur recht, so konnte sie noch ein klein wenig länger mit ihm allein sein. Er stieg zuerst aus der Kutsche und bot Miceyla seine Hand an, um ihr heraus zu helfen. Behutsam legte sie ihre Hand auf die Seine. Scheu blickte sie voraus, er lief dicht neben ihr und passte sich ihrem gemächlichen Schritttempo an. Eisige Luft umhüllte sie und dennoch nahm sie die Kälte kaum wahr. Trotzdem sehnte Miceyla sich den Frühling herbei. Man könnte meinen, die Winter in England würden ewig andauern.

„Sobald es wärmer wird, werden auch die Launen der Menschen wieder freundlicher. Denken Sie nicht, William?“ Sie sah seitlich zu ihm auf, sachtes Licht einer Straßenlaterne beleuchtete die zwei, welche durch eine verlassene Gasse liefen. Er öffnete ein wenig den Mund, ganz so als wollte er antworten. Aber stattdessen sah er einfach nur stumm direkt in ihre graugrünen Augen.

„S-stimmt etwas nicht?“, stotterte sie und wusste nicht, wie sie sich weiterhin verhalten sollte.

„Nein, nein. Es ist bloß… Deine Augen… Sie versuchen mir etwas mitzuteilen. Tränen verbergen sie, die sich hinter einer hart errungenen Willensstärke verstecken. Ein Pfad voller Leid und Verlassenheit. Und dennoch so voller Unschuld. Ich habe nie schönere Augen gesehen…“ Es hatte fast den Anschein, als hätte er geradewegs ausgesprochen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Pures Erstaunen stand Miceyla ins Gesicht geschrieben.

„…Danke… Mir ergeht es mit deinen Augen nicht anders. Ich lese in ihnen eine Geschichte. Die Geschichte eines kleinen Jungen, der verbissen für seine Überzeugungen kämpft. Und selbstlos an der Verwirklichung seiner Ziele festhält.“ Ihr war völlig entgangen, dass sie sich bereits vor ihrer Haustür befanden und zum Stehen gekommen waren.

„Es sollte unser aller Bestreben sein, eine glückliche Zukunft zum Ziel zu haben…“, murmelte er, ohne ihren tief miteinander verbundenen Blickkontakt, auch nur eine Sekunde zu unterbrechen. `Ein Ziel…das zum Glück führt…` In Gedanken vertieft musste sie sich eingestehen, dass es an der Zeit war sich zu verabschieden.

„William…“

„Miceyla…“
 

Im Moriarty-Anwesen öffnete sich die Tür zu einer kleinen Kammer im Keller und William trat herein. Flackerndes Kerzenlicht tauchte den Raum in ein mystisches Licht.

„Na das wurde aber auch Zeit!“, meinte ein schwarzhaariger junger Mann, den Zigarettenrauch umhüllte und seine Füße bequem auf einem Tisch platziert hatte.

„Willkommen zurück, Bruder. Moran, deine Manieren könnten wirklich um einiges besser sein!“, schimpfte Louis an den Schwarzhaarigen gerichtet.

„Ich erledige brav meine Arbeit, also wo liegt das Problem?“, merkte Moran unbekümmert an und hauchte spaßeshalber Rauch von seiner Zigarette, extra in Louis Richtung, um ihn noch mehr zu reizen.

„Hast du dich entschieden, William?“, fragte Albert mit geruhsamer Stimme und sortierte dabei ordentlich einige Unterlagen.

„Das habe ich“, antwortet William entschlossen.

„Heißt übersetzt dieses Mädel wird sich uns anschließen? Wenn du denkst sie sei tauglich genug…“, entlockte Moran ihm dessen Entscheidung.

„Oh, du wirst sie mögen. Sie scheint ein Faible für Soldaten zu haben“, sprach Louis kichernd.

„Sorry, aber ich stehe nicht auf Mannsweiber“, kommentierte Moran desinteressiert. `Na deinen verwunderten Gesichtsausdruck will ich sehen, wenn Miceyla das erste Mal vor dir steht`, dachte Albert belustigt.

„Noch weiß sie nichts über unser Vorhaben. Vorher müssen wir uns erst ihrer Eignung vergewissern. Daher werden wir einen eigens entwickelten Test inszenieren. Somit erhalten wir ein genaues Bild, wie sie im Ernstfall handelt. Noch ehe sie zu sehr auf Sherlocks Seite steht“, erläuterte William und hatte scheinbar schon alles haargenau durchdacht.

„Sprich, du willst wissen ob sie bereit dazu ist, sich die Hände schmutzig zu machen und sich opfern würde, huh?“, wusste Moran scheinbar bestens Bescheid. Williams Lippen formten sich nur zu einem leicht dämonischen Grinsen.

„Fred, auf deine Hilfe werde ich mich auch dieses Mal wieder verlassen“, meinte William und richtete seinen Blick, auf einen zierlichen jungen Mann, der Abseits an der Wand stand und gehorsam nickte.

„Und Albert, ich hoffe du kannst mir verzeihen, wenn wir etwas korrupter vorgehen müssen“, fügte der junge Professor noch hinzu.

„Solange ich ein Auge darauf habe, dass Miceyla nichts zustößt, werde ich dem Ganzen nicht im Wege stehen, Bruder. Als erstes sollten wir aber noch jene Sache mit Lord Blanchard abhaken“, gab Albert ihm lächelnd seine Zustimmung.

„Gut, für Glanz und Gloria! Also, wie lautet der Plan, William?“, hakte Moran erwartungsfreudig nach.

`Es ist so weit, bestehe meine Prüfung. Zeige sie mir, meine tugendhafte Winterrose, die Schönheit deines Willens, um an meiner Seite die Welt zu verändern.` Mit diesem Gedanken blickten Williams scharlachrote Augen, vorausschauend in eine Zukunft, die frei von Diskriminierung und Unterdrückung war.
 

Liebes Tagebuch, 6.2.1880

es ist zwar schon sehr spät, aber ich kann es nicht länger aufschieben, über den heutigen Tag zu berichten. Allein Albert letztlich am Abend anzutreffen, war eine riesen Überraschung. Aber dann auch noch in das Anwesen der Moriarty-Brüder eingeladen zu werden, damit hätte ich nie im Leben gerechnet… Ich glaube mit unserer Begegnung in der Innenstadt, wurde etwas ausgelöst, dessen Ausmaß ich mir derweil noch nicht ausmalen kann. William scheint Begabungen in etlichen Bereichen des Lebens zu besitzen. Das macht ihn unbestreitbar zu einem verlässlichen Mentor. Die drei Brüder stechen erheblich aus der Masse des restlichen Adels hervor. Doch da ist noch etwas anderes verborgen…Alle drei hegen einen Groll gegen das Klassensystem, soviel ist sicher. Ich werde abwarten und weiter Vorsicht walten lassen. Ich glaube Sherlock spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle… Dennoch wünsche ich mir, dass William wirklich mein Schreibstil gefällt und er nicht nur mein Buch unter dem Vorwand ausgeliehen hat, mich abermals wiederzusehen. Oh William, warum sehe ich in dir bloß einen schönen gefallenen Engel… Du wirst mir noch in der ein oder anderen Nacht den Schlaf rauben…
 

Ziel ist das Glück
 

Die geflügelten Träume ziehen weiter durch den Himmel,

der tapfere Held reitet geschwind auf seinem Schimmel.

Der Frühling verspricht die ersten Blüten,

warme Sonne du erhellst sie und wirst sie behüten.
 

Der Abend beglückt die stillen Seelen mit seiner unendlichen Traurigkeit,

ansteckende Besorgnis macht sich in den Herzen breit.

Düstere Augen blicken in eine ferne Welt,

in der jede Last einem von den Schultern fällt.
 

Die Zeit nimmt Abschied und vergeht,

mit kühler Morgenluft die von weit her weht.

Zögert nicht und blickt voraus,

jene Bestimmung wartet fern von eurem Haus.
 

Viele Ziele werden erreicht auf Umwegen,

lasst euch nicht abschrecken vom starken Regen.

Denkt nicht ständig ans Gewinnen,

das wahre Glück wird euch sonst entrinnen.

Ein nächtlicher Tanz

Entführe mich auf dem exquisiten Ball,

es entfacht in mir ein Feuer wie bei einem freien Fall.

Nenn mich deine anmutige Fee heute Nacht,

das Publikum wird dabei bejubeln unsere Pracht.
 

„Die Post ist da!“ Gähnend lief Miceyla am frühen Morgen die Treppe hinunter. Schon von weitem hörte sie Mrs Green im Freien wild fluchen.

„Eine Unverschämtheit! Wieder mit diesen abscheulichen Rechnungen anzukommen! Welcher dreiste Geldeintreiber, denkt sich eigentlich die Mietkosten in London aus?“ `Der alltägliche Wahnsinn`, dachte Miceyla schläfrig und trat auf die Türschwelle zu ihr und dem Postboten.

„Guten Morgen Mrs Green und Sir Jenson.“

„Ah guten Morgen Miss Lucassen! Dieser Brief hier ist für Sie.“ Der Bote wollte ihr einen Umschlag überreichen, doch Mrs Green schnappte ihn ihr vorher weg.

„Was ist denn das für ein teures Briefpapier, mit einem Adelswappen darauf? Lass mal den Absender sehen… Die Grafenfamilie Moriarty! Miss Lucassen, was in Herrgottsnamen hast du bloß dieses Mal wieder angestellt?“, zischte die alte Frau und wurde im Gesicht krebsrot. Seufzend entriss Miceyla ihr den Brief.

„Das ist meine Post! Ich habe rein gar nichts angestellt. Regen Sie sich bitte nicht unnötig auf, dass wirkt sich negativ auf Ihre Gesundheit aus“, beruhigte sie die in Rage geratene Mrs Green.

„Ach, was geht mich das schon an! Solange es keinen Ärger gibt, will ich davon nichts wissen“, krächzte sie zur Antwort und humpelte in ihre Wohnung zurück. Vorsichtig öffnete Miceyla das Briefkuvert noch an Ort und Stelle. Sie war ungeduldig zu erfahren was darin stand.

Liebe Miceyla,

es hat mir reichlich Vergnügen bereitet, dein unersetzbares Buch zu lesen. Du kannst es noch am heutigen Tage abholen kommen. In der Kashton Street steht eine Kutsche bereit. Teile dem Postboten deine Wunschuhrzeit mit, wann du losfahren möchtest. Er weiß Bescheid und wird es dem Kutscher übermitteln. Ich hoffe wir sehen uns noch heute, Miceyla.

William J. M.

`Herrje… Das hat er wieder alles eigenständig arrangiert… Wie aufwendig und das einzig und allein für mich.` Ein wenig peinlich berührt, richtete sie ihre Aufmerksamkeit, auf den noch immer freundlich wartenden Postboten. „Bitte sagen Sie dem Kutscher, dass ich in einer Stunde da sein werde“, bat Miceyla und stürmte sogleich wieder hinauf, um noch zu frühstücken und sich fertig anzukleiden.

„Ich werde es ihm ausrichten. Einen schönen Tag noch Miss!“ `Hach, erst Vorgestern habe ich William mein Buch ausgeliehen und bereits heute bestellt er mich wieder zu sich… Bestimmt hat er alles an einem Abend durchgelesen`, dachte sie leicht unter Druck gesetzt und wusste gar nicht mehr, wo ihr im Moment der Kopf stand.

Pünktlich fuhr sie los und kam noch vor Mittag beim Moriarty-Anwesen an. Dieses Mal war es William selbst, welcher ihr die Türe öffnete. Er stand ausgehfertig vor ihr, trug Zylinder und Handschuhe und sah danach aus als wäre er im Aufbruch.

„Ah, wie schön Miceyla! Da bin ich aber erleichtert, dass du mich noch erwischt hast. Komm nur herein.“

„Guten Tag, William“, grüßte Miceyla ihn und war überglücklich, dass es so zügig zu einem erneuten Wiedersehen kam. Im Eingangsbereich holte er aus einer Schublade von einem Ablagetisch, ihr Buch hervor und gab es liebevoll in ihre Hände.

„Danke für diese inspirierende Lektüre. Ich bin sehr gespannt darauf die Fortsetzung zu erfahren, wenn du weiterschreibst“, motivierte er sie lächelnd ihre Werke fortzuführen.

„Ich bin diejenige, die zu danken hat. Und ich verspreche dir, dass du der erste sein wirst, der sie lesen wird“, gab sie ihm ihr Wort und drückte ihr Buch mit leuchtenden Augen gegen die Brust. Es kam Miceyla nun wirklich so vor, als wären der intelligente junge Adelige und sie bereits gute Bekannte.

„Oh…“ Sie entdeckte wie eine Karte aus ihrem Buch hervorlugte und zog diese neugierig heraus. Auf dieser stand geschrieben:

Hiermit lade ich Sie recht herzlich zum Ball auf meinem Anwesen ein. Feiern Sie mit mir den Erfolg meines neuen Warenhauses. Am Samstag den 12. Februar um 18.00 Uhr

Lord Darwin Blanchard

Verwundert legte sie den Kopf schräg und blickte ihn fragend, mit leicht geöffneten Lippen an.

„Damit hast du wohl nicht gerechnet, da ist mir die Überraschung ja gelungen! Ich hätte gerne, dass du auf besagten Ball meine Begleitung bist. Er ist bereits in vier Tagen. Leider bin ich untröstlich und kann dir keine weiteren Details dazu erzählen, da ich gleich eine Vorlesung habe. Doch mein Bruder Albert ist gerade im Anwesen und wird dir jegliche Fragen beantworten. Scheue dich nicht davor ganz offen zu sein“, erläuterte er und erhaschte einen prüfenden Blick auf seine Taschenuhr.

„A-aber da werden sicherlich nur Personen aus höheren Kreisen anwesend sein… Falle ich nicht auf, schließlich bin ich nicht vom Adel…“, wiedersprach sie zögerlich.

„Hatte ich es nicht neulich schon angedeutet? Und betrachte dich mal genau im Spiegel. In deiner Ausstrahlung und deinem Verhalten, unterscheidest du dich in keiner Weise von jemanden, der sich hinter einem guten Namen versteckt. Ganz im Gegenteil… So, die Pflicht ruft. Miceyla, wir sehen uns spätestens im Anwesen von Lord Blanchard wieder. Bis bald“, waren die letzten Worte von William und er schloss mit heiterem Lächeln die Tür und brach zur Universität auf.

„Auf Wiedersehen William…“, murmelte sie und fixierte noch weiterhin die Eingangstür mit traumverhangenen Augen.

„Da kann ich meinem Bruder nur zustimmen. Kleider machen Leute. Wenn wir ein wenig nachhelfen, wird aus dir eine bezaubernde Ballschönheit. Ich grüße dich, Miceyla.“ Schwungvoll drehte sie sich um.

„Albert, guten Tag!“, begrüßte sie Williams älteren Bruder, der von oben einige Stufen herunterkam und sie zu sich hinaufwinkte.

„Komm einmal mit in mein Arbeitszimmer.“ Sie tat wie ihr geheißen, zog schnell noch ihren Fuchsfarbenden Mantel und den rosa Wollschal aus und hing beides an die Kleiderstange. Etwas gehemmt trat sie hinter ihm in sein privates Arbeitszimmer. Mit Hochachtung stellte sie fest, dass die Innenausstattung die fürstlich geräumigen Zimmer, wohl im gesamten Anwesen perfekt untermalen musste. Sie fühlte sich in einer ordentlichen Umgebung immer besonders zuhause. Albert holte einen länglichen Umschlag von seinem Schreibtisch und blieb kurz darauf mit solchem dicht vor ihr stehen.

„In diesem Kuvert befindet sich Geld, damit du dir ein Kleid für den Abend kaufen kannst. Ich denke du hast einen exzellenten Geschmack und wirst ein Unikat aussuchen. Wähle das schönste Kleid in dem du strahlen und herausstechen wirst. Im positiven Sinne versteht sich“, meinte er und sah Miceyla dabei so voller Hingabe an, als träge sie bereits jenes Gewand. Perplex nahm sie den Umschlag entgegen. Ihre Hände begannen zu schwitzen, als sie einen Blick hinein erhaschte.

„Gütiger Himmel! Was für eine Summe, dass kann ich doch niemals ohne Gegenleistung annehmen!“, sprach sie erschüttert.

„Aber, aber. Das ist lediglich eine Kleinigkeit. Wenn wir dir eine Freude bereiten können, wird es auch uns ein Lächeln auf die Gesichter zaubern“, bestärkte Albert sie mit wohltätiger Miene. Miceyla nickte lächelnd.

„Tausend Dank!“ Es wäre unhöflich gewesen weiter dagegen zu sprechen.

„Was die Gespräche an dem Abend betrifft, so wirst du feststellen, dass es meistens immer die gleichen Themen sein werden. Viel Prahlerei. Wer hat den größten Landbesitz, wer pflegt die vorteilhaftesten Beziehungen, wer hat sich mit wem vermählt, wer kennt die neusten Gerüchte und Skandale. Kurz gesagt, jeder ist sich selbst am nächsten. Mehr wird nicht von Nöten sein. Keine Bange, wir werden stets an deiner Seite sein und es gar nicht erst dazu kommen lassen, dass du in unangenehme Unterredungen verwickelt wirst. Dir ist es erlaubt, ein paar fantastische Stunden in vollen Zügen genießen zu dürfen“, vermittelte er Miceyla mit harmonischer Stimme. Erneut glaubte sie sich in einer Märchenwelt verirrt zu haben. Zu schön klang es um wahr zu sein. `Wo ist der Haken…? Ja, die Moriarty-Brüder sind aufrichtige Menschen. Mag sein… Aber wen oder was sehen sie in mir…?` Zu diesem Zeitpunkt, lag die Antwort für sie noch in einem undurchsichtigen Nebel gehüllt… Und außerdem gab es da noch einen ganz anderen gravierenden Grund, weswegen sie einen sachten Anflug von Panik verspürte. Peinlich berührt trippelte sie auf der Stelle.

„Nie zu träumen hätte ich gewagt, dass William mich auf einen Ball einladen würde… Nur…es ist nicht sonderlich verwunderlich, bei einer Person von meinem Stand… Ich war noch nie auf einem Ball, geschweige denn…“ Miceyla stoppte und schluckte nervös. Plötzlich überkam sie Angst, sie könnte den vornehmen Brüdern eine große Schande bereiten.

„…Geschweige denn jemals getanzt? Ha, ha! Da kann ich dich beruhigen, meine liebe Miceyla. Wenn du diese molligen Gestalten nur sehen würdest, bei denen die Westenknöpfe danach aussehen, als wären sie keine Sekunde länger dazu im Stande, ihre Last zusammenzuhalten. Und kurz davor sind abzufallen, um sich ihres Druckes zu entledigen. Währenddessen so reizvolle Verrenkungen vorzuführen, wie ein dezent betrunkener Schimpanse. Na, wäre das ein anmutiger Anblick?“, beschrieb Albert mit geschauspielerter Begeisterung. In ihre Vorstellungen schlichen sich skurrile Bilder ein.

„Ha, ha, ha!“ Lauthals lachte sie los und musste sich die Hand vor den Mund halten, um nicht noch lauter zu werden. Sein guter Sinn für Humor gefiel ihr.

„Ah! Endlich konnte ich dein strahlendes Lächeln hervorlocken. So natürlich und rein… Miceyla, was sagst du zu einer spontanen Tanzstunde? Ich stehe dir zur freien Verfügung. Erst am Nachmittag wartet noch ein Meeting auf mich“, schlug er mit aufgeschlossener Zuvorkommenheit vor. Sie versuchte hastig, nach ihrem befreienden Lachanfall wieder zu Atem zu kommen.

„Tanzen? Hier und jetzt?“

„Nichts spricht dagegen, oder? Es bleibt auch ganz unter uns. Bewahren wir dieses kleine Geheimnis. Du magst doch sicher William beeindrucken? Ich zeige dir ein paar Grundlagen und du wirst sehen, der Rest kommt von ganz alleine. Stelle dir den hell erleuchteten Ballsaal vor, die spiegelnde Tanzfläche, dass Orchester spielt im Hintergrund. Und dann kommt er, dein Tanzpartner fordert dich zum Tanz auf. Meine Lady, darf ich bitten?“ Mit diesen Worten legte er den Umschlag vorerst zurück auf den Tisch und streckte ihr dann seine geöffnete

Handfläche entgegen. Miceyla spielte mit, machte einen höflichen Knicks vor Albert und reichte ihm ihre Hand.

„Es ist mir eine Freude, mein Herr.“

„Lege deine andere Hand auf meine rechte Schulter.“ Noch im selben Moment wie sie dies behutsam tat, legte er seine rechte Hand auf ihren Rücken und zog sie etwas an sich. Sie zuckte bei dieser plötzlichen Berührung.

„Gut so, den Abstand behalten wir nun bei. Du hast wahrlich eine graziöse Figur und gibst die perfekte Tanzpartnerin ab.“

„D-danke für das Kompliment.“ So nah war sie ihm, dass sie überhaupt nicht wusste wo sie hinschauen sollte.

„Die Haltung immer schön aufrecht. Die Ellenbogen anwinkeln. Achte auf meine Schrittfolge, gehe mit und lasse dich einfach von mir führen“, begleitete er seinen praktischen Unterricht mit erklärenden Anweisungen. Alle Mühe hatte Miceyla damit ihre Schritte so zu koordinieren, dass sie nicht auf seine Füße trat.

„Nicht zu Boden schauen, blicke mich an. Genau, viel besser!“, lobte Albert, als sie es schaffte Blickkontakt mit ihm zu wahren und sie sich nach seinen Tanzbewegungen richtete.

„Der Walzer folgt meistens demselben Rhythmus. Mit ein wenig Übung hast du es schnell raus. Entspanne dich und wenn du auf dem Ball bist, lausche der Melodie. Spüre den Klang der Musik. Tam-tam, tam-tam…“ Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und schien sich im Geiste vorzustellen, wie er sich gerade mit ihr auf dem Ball befand und tanzte. Langsam hatte Miceyla den Dreh raus und ihre Bewegungen wurden geschmeidiger. Am Anfang glichen sie eher denen eines steifen Brettes. Nun tanzten sie als Einheit durch sein Arbeitszimmer. Da erhöhte Albert plötzlich ohne Vorwarnung sein Tempo und seine Drehungen wurden schneller. Mit großer Anstrengung versuchte sie mitzuhalten.

„Uwah…!“ Nichts anderes geschah, als das sie über ihre eigenen Füße stolperte und drohte hinzufallen. Doch seine starken Arme fingen sie auf und verhinderten dies.

„Ha, ha! Verzeih, ich habe mich wohl etwas zu sehr mitreißen lassen“, entschuldigte er sich lachend. Nicht lange dauerte es, da stand sie auch schon wieder aufrecht vor ihm.

„Ha, ha, nicht weiter schlimm! Es macht Spaß so zu tanzen“, freute sie sich ehrlich nach ihrer allerersten Tanzstunde.

„Ich bin sicher, du und William werdet ein wundervolles Tanzpaar abgeben…“, sprach er in die Zukunft blickend. Bildete Miceyla es sich nur ein oder hatte sein Gesichtsausdruck auf einmal etwas Wehmütiges an sich? Jedoch kehrte beinahe Augenblicklich, seine selbstbewusst würdevolle Miene zu ihm zurück.

„Ich glaube ich habe dich genug mit wilden, akrobatischen Tanzübungen geplagt. Komm, ich bringe dich noch hinaus. Und natürlich nicht den wichtigen Umschlag vergessen.“ Erneut nahm sie den Geldumschlag entgegen und lief hinter Albert die Treppe hinunter. Unten hielten beide vor einem großen, bis zum Boden reichenden Wandspiegel neben der Garderobe an. Den Umschlag steckte sie zu ihrem Buch in die Tasche. Da zog jemand von draußen an der Türklingel. Er öffnete die Eingangstür und ein großer schwarzhaariger Mann, von muskulöser Statur trat pfeifend herein.

„Tag Albert! Wollte nur kurz was vorbeibringen, weißt ja wo ich es hinlege“, meinte dieser lässig. Die zwei mussten sich anscheinend gut kennen, dass er so locker mit dem Grafen sprach.

„Prima, dass trifft sich gut. Darf ich dir bei der Gelegenheit Miss Miceyla Lucassen vorstellen? Miceyla, das ist Sebastian Moran, er arbeitet für uns“, machte Albert sie mit Moran bekannt.

„Freut mich sehr Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Miceyla freundlich. Dem Äußeren nach zu urteilen, sah der Mann aber nicht gerade wie ein Bediensteter aus, der in einem

Adelshaus angestellt war.

„Ebenso, Miss Lucassen…“, erwiderte Moran und murmelte im Anschluss noch etwas für sie Unverständliches, da er zu leise sprach. Kurz darauf verschwand er im Innern des Anwesens.

„Darf ich etwas fragen? Was für einen Menschen siehst du in William?“, fragte Albert, während er Miceyla in ihren Mantel half. `Wieso diese plötzliche Frage…?` Verlegen dachte sie kurz nach.

„William… Er wirkt auf mich wie ein sehr rechtschaffender Mensch. Man könne annehmen, er sei der Mittelpunkt der Familie Moriarty. Anderen steht er mit Rat und Tat zur Seite. Starkes Selbstvertrauen hat er und weiß sein Wissen gezielt einzusetzen. Seine Ausstrahlung ist fast schon…majestätisch. Wie eine strahlende Sonne, die einem Kraft zum Leben schenkt. Stark und dennoch anmutig. Ich bewundere ihn…“, beschrieb sie verträumt den blondhaarigen jungen Mann, den sie erst seit kurzer Zeit kannte. `Oh weh…hab ich etwas übertrieben?` Verunsichert wartete sie seine Reaktion ab. Albert legte beide Hände sanft auf ihre Schultern. Dabei beugte er sich dicht hinter ihr stehend, auf die Höhe ihres Kopfes hinab, sodass sich ihre beiden Wangen beinahe berührten und blickte geradewegs in den Spiegel, in welchem sich ihre Blicke trafen.

„Bedenke aber stets, Bewunderung bedeutet nicht gleich Liebe… Meine hinreißende Eisblume, die unerschütterlich Kälte und Abgeschiedenheit trotzt. Die sich selbst durch den härtesten Sturm durchkämpft und dennoch dabei in voller Blüte erstrahlt“, flüsterte er neben ihrem Ohr. Sogleich erstarrte Miceyla und ihr Pulsschlag schoss in die Höhe. `W-was will er damit andeuten?`

„Wie Bruder und Schwester…“ Die beiden sahen wie Moran in das Spiegelbild trat. Albert ließ von ihr ab und bewahrte wieder einen artigen Abstand.

„Die gleiche Farbe des Haares, ähnliche Augen. So wie ihr da nah beieinandersteht, seht ihr nach Bruder und Schwester aus“, wiederholte Moran noch einmal mit keckem Grinsen. Sie musste Moran Recht geben, es bestand eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit zwischen ihr und dem ältesten der Moriarty-Brüder. Jedoch erschaudert erkannte Miceyla, wie sich die Miene von Albert plötzlich verdüsterte. Der Grund dafür war ihr in jenem Augenblick noch schleierhaft. Aber in Sekundenschnelle, kehrte sein gütiges Lächeln eines Edelmannes zurück.

„Da hast du nicht ganz Unrecht. Es käme mir wahrlich wie ein Geschenk vor, eine solch bildschöne und kluge kleine Schwester zu haben“, sprach er an sie gewandt. Träumerisch legte sie eine Hand aufs Herz.

„Es muss von unvorstellbarem Wert sein, einen starken großen Bruder zu haben, der einem in jeder Lebenslage beschützt…“, sagte sie leise mehr zu sich selbst und versuchte sich die unersetzbare Treue einer Geschwisterliebe vorzustellen.

„Ich bin dann mal weg. Man sieht sich!“ Moran verließ winkend das Anwesen.

„Verlasse immer schön dick eingepackt das Haus. Wir wollen doch nicht, dass du erkältet auf einen Ball gehst“, meinte Albert fürsorglich und legte ihr den Schal um. Ganz so als wolle er ohne Umschweife das Thema wechseln. Er begleitete sie zu der im Freien am Eingangstor wartenden Kutsche.

„Habe keine Angst vor den barbarischen Geschöpfen, die sich der Adel nennen. Meine schützenden Arme werden dich zu jeder Zeit auffangen“, versprach er ihr sorgsam auf dem Wege.

„Ich danke dir Albert, von ganzem Herzen. Für das Geld und die nette Tanzstunde. Wiedersehen“, verabschiedete Miceyla sich bereits in der Kutsche sitzend und sprach ihm noch mal ihren innigsten Dank mit strahlendem Lächeln aus.

„Keine Ursache. Dies tue ich sehr gerne für einen umsichtigen Menschen. Wir sehen uns dann in vier Tagen auf dem Ball. Louis wird ebenfalls zugegen sein.“ Somit schloss er die Kutschentür und der Kutscher gab mit seiner Peitsche den Pferden das Signal, sich in Bewegung zu setzen.

Albert beobachtete mit tiefgründig ernstem Gesichtsausdruck, wie das Gefährt die Landstraße hinunterfuhr. `Vergib mir… Nie habe ich vorgehabt, dir dein neugewonnenes, unschuldiges Lächeln zu nehmen`, dachte er bedrückt, gleichwohl funkelte in seinen Augen etwas unergründlich Energisches.

Während die Kutsche den unebenen Pfad entlangpolterte, überlegte Miceyla angestrengt, wo und wann sie ein passendes Kleid kaufen sollte. `Ach, hätte ich nur eine gute Freundin in meinem Alter, die mich bei dieser Angelegenheit beraten könnte…`, wünschte sie sich traurig. Da kam ihr eine Idee und da es noch nicht einmal Nachmittag war, bat sie den Kutscher sie in der Baker Street abzusetzen. In besagter Straße mit den wohnlichen Reihenhäusern, zog sie bei dem Haus von Sherlock und John an der Türklingel.

„Feuer! Es brennt!“ Temperamentvoll zerrte Mrs Hudson, mit vor Panik weit aufgerissenen Augen die Haustür auf.

„Großer Gott! Wo denn? Was ist denn hier passiert?!“ Miceyla eilte an der jungen Frau vorbei und sah wie schwere dicke Rauchwolken, von weiter oben herabstiegen.

„Bitte sagen Sie mir nicht, dass noch jemand hier im Haus ist“, hoffte sie und blickte verschreckt zu der zitternden Mrs Hudson.

„Doch, Sherlock und der Doktor befinden sich noch im oberen Stockwerk!“, bekundete die verängstigte Frau.

„Verdammt!“, fluchte Miceyla, hielt den Schal vor Mund und Nase und rannte die Treppe hinauf.

„Tuen Sie das nicht!“, versuchte Mrs Hudson sie verzweifelt davon abzuhalten. Doch sie war bereits oben angekommen und riss die Tür zu dem gemeinsamen Wohnzimmer der zwei auf. Stickiger Schwefel nahm ihr die Sicht und sie wurde von einer hartnäckigen Hustenattacke gepackt. Nirgends waren Flammen zu sehen, auch fand sie keine Spur von den beiden jungen Männern. Plötzlich gab es einen lauten Knall und der Rauch bekam ein immer schlimmeres Ausmaß. `Das kam von dort drüben!` Miceyla stellte sich auf das schrecklichste Szenario ein und drückte gefasst die Türklinke, zu einem der anliegenden Zimmer herunter.

„Mmm…hätte ich vielleicht besser das andere hinzugeben sollen? Naja, beim nächsten Versuch. Aber höchst erstaunlich diese Reaktion. Das bringt mich um einiges weiter“, murmelte ein vergnügter Sherlock und hielt dabei zwei Reagenzgläser in die Höhe, welche mit einer fraglichen Flüssigkeit gefüllt waren.

„Sherlock! Mir fehlen die Worte! Wie kannst du nur so unverantwortlich sein und dich selbst und deine Mitmenschen unnötig in Gefahr bringen? Ich bin umgekommen vor Angst, es wäre jemandem etwas zugestoßen! Dabei war es lediglich ein kindisches Experiment. Mrs Hudson verdient eine Entschuldigung!“, schimpfte sie mit einer Mischung aus Wut und Erleichterung.

„Ah, Miceyla! Genau zur rechten Zeit. Du darfst Zeugin meiner neusten Entdeckung sein. Eine vortreffliche chemische Reaktion, um Explosionen vorzutäuschen. Allerdings sollte man behutsam mit der ätzenden Lösung umgehen“, stellte er ihr seinen Versuch vor wie ein aufgeregter kleiner Junge, der auf das Lob von seiner Mutter wartete. Sherlocks Gestalt verschmolz beinahe mit dem Rauch der ihn umgab. Irgendwie konnte sie sich trotz der wagehalsigen Begebenheit kein Schmunzeln verkneifen.

„Meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Wo ist eigentlich John?... John! Grundgütiger!“ Da Miceyla nur ein spärliches Sichtfeld hatte, entdeckte sie erst jetzt seinen Mitbewohner, wie er geistesabwesend auf einem klapprigen Stuhl kauerte und den Kopf in den Händen vergrub.

„John, bitte sprich mit mir! Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich besorgt nach dessen Zustand an seiner Seite kniend.

„Ich gebe es auf! Immer wieder falle ich auf seine Tricks rein. Für ihn mag das nur Spiel zum Zeitvertreib sein… Aber für mich…“, wimmerte John, der wohl gerade an weitere zurückliegende Unannehmlichkeiten denken musste.

„G-geht es allen gut?“ Mrs Hudson lugte verstohlen zur Tür herein.

„Ja, wir sind alle mehr oder minder wohlauf und es gibt kein Feuer“, beschwichtigte Miceyla sie, welche sich daraufhin entlastend am Türrahmen anlehnte.

„Da es nicht brennt, bin ich so frei und öffne die Fenster“, meinte Miceyla mit einem langen Seufzer und ließ frische Luft den ganzen stinkenden Qualm vertreiben.

„Du bist doch sicher auch der Meinung, dass man seine Ideen sofort in die Tat umsetzen muss. Sonst kommt der Tat eine weitere Idee in die Quere und es entsteht ein verzwickter Kreislauf, der nicht ohne eine Problemlösung zu durchbrechen ist, um die Taten und Ideen zu differenzieren. John sieht das ja ein wenig anders und geht stets mit einer amateurhaften Planung vor, die nur wieder zu neuen Problemen führt. Umständlich wie ich immer sage“, plauderte Sherlock heiter und grinste Miceyla an.

„Wie wäre es damit, zur Abwechslung einfach mal das Labor zu benutzen?“, schlug John monoton vor.

„Ha, ha! Da muss ich deinem Gefährten recht geben, Sherlock. Besser zu hörst ab und zu auf John, um Schwierigkeiten bei deinen `Taten` zu vermeiden. Außerdem gehören chemische Experimente nicht in Räumlichkeiten, in denen man normalerweise isst und schläft“, tadelte Miceyla scherzhaft.

„Und wie wäre es, wenn mich mal einer vorher warnen würde?“, fügte Mrs Hudson sauer hinzu.

„Du hast vornehmen Leuten einen Besuch abgestattet, Miceyla. Denn du würdest dich nicht für uns so sehr herausputzen. Schade das du mir keine neue Arbeit mitgebracht hast“, sprach Sherlock, während er kleine Fläschchen sortierte. `Ach ja! Der Grund weshalb ich überhaupt herkam!` Vor lauter Aufregung hatte sie dies fast vergessen.

„Gut erkannt. Lord William Moriarty hat mich auf einen Ball eingeladen…“, teilte sie mit und in ihr begann es erwartungsfreudig zu kribbeln, als sie seinen Namen aussprach. Sherlock hielt kurz wie gelähmt inne. `Es ist ihm ebenfalls nicht entgangen, dass sie eine Beobachtungsgabe besitzt, die nur noch unausgereift ist. Wundert mich nicht, William James Moriarty…`, dachte er und verfiel in ein tiefsinniges Grübeln.

„Wie aufregend, ein richtiger Ball! Sie können sich wirklich glücklich schätzen!“, rief Mrs Hudson und kam sogleich freudestrahlend auf sie zugestürmt.

„Das ist wirklich schön, Miceyla. So eine Möglichkeit wird einem nicht alle Tage geboten“, schloss John sich der jungen Vermieterin an und hatte sein Lächeln zurückgewonnen. Er sah nicht mehr allzu kreidebleich aus und hatte wieder etwas Farbe im Gesicht gewonnen.

„Mein Beileid…“, zerstörte Sherlock die fröhliche Stimmung.

„Höre ich da vielleicht Neid? Ich fände es nicht schlecht, wenn du zur Abwechslung auch mal unter Leute kämst. Ewas Gesellschaft würde dir guttun“, hob John belustigt an.

„Alles nur das nicht… Ich bin nicht gerne von Hohlköpfen und schlechten Gesprächen umgeben. Nur, wenn Moriarty anwesend ist würde es mich reizen, mal eine ausgiebigere Unterhaltung mit dem Mathematiker zu führen“, murmelte Sherlock zur Antwort. `Etwas beschäftigt ihn… Er und William haben ähnliche Gedankengänge.` Kurz breitete sich Stille im Raum aus und Sherlock musterte Miceyla eindringlich.

„Der Ball auf dem Anwesen von Lord Blanchard…“, brach dieser dann schließlich das Schweigen und widmete sich wieder seinem unaufgeräumten Experimentiertisch.

„Ja, woher weißt du das?“, fragte sie erstaunt.

„Wenn ein Unternehmen eines Adeligen Erfolg hat, findet meist ein Ball statt. Zum angeben und um neue Anhänger zu gewinnen. Eine einfältige Tradition. Sowas macht schnell die Runde. Und es liegt nahe, dass die Grafenfamilie Moriarty eingeladen ist. Wäre anzunehmen, dass untereinander Geschäfte eingegangen wurden“, antwortete Sherlock, als wäre es das leichteste der Welt dahinter gekommen zu sein. `Oh Mann, du machst meine ganzen Vorstellungen eines romantischen Balls zunichte…`, dachte Miceyla amüsiert.

„Äh ja… Also der Grund weswegen ich herkam… Mrs Hudson, darf ich Sie um einen Gefallen bitten?“, fragte Miceyla gütig die junge Frau und hoffte, dass sie ihre Bitte nicht ablehnte.

„J-jaaa?“, kam es verwundert von ihr.

„Es freute mich sehr, wenn Sie mich beim Kauf eines Kleides begleiten und beratschlagen würden. Ich…habe niemanden sonst, den ich fragen könnte. Wenn mir jemand sagte was mir stehe, erleichterte mir dies die Wahl. Und ich finde, dass Sie selbst hübsch und farbenfroh gekleidet sind…“, sprach sie verblümt weiter.

„H-hübsch?! D-danke Miss Lucassen…! Ähm, ich darf doch Miceyla sagen? Liebend gern bin ich dir beim aussuchen eines Kleides behilflich. Du kannst mich einfach Emily nennen“, erwiderte sie voll aufgeweckter Fröhlichkeit und packte wie ein kleines Mädchen die Hände von Miceyla.

„Wie wunderbar! Du glaubst gar nicht wie glücklich mich das macht, Emily! Hättest du noch heute Nachmittag Zeit, mit mir in die Stadt zu gehen? Ich mag es nicht vor mir herschieben, schließlich ist der Ball in vier Tagen“, unterstrich sie die Dringlichkeit ihres Anliegens.

„Klar! Gib mir einen Moment und ich werde mich rasch umziehen“, mit diesen Worten stürmte Emily freudig davon.

„Ha, ha. Es war sehr nett von dir, Mrs Hudson bei diesem Thema zu fragen. Sieh wie sehr sie sich freut“, sagte John lächelnd.

„Stimmt, sie ist eine liebenswürdige Frau von umgänglichem Gemüt. Dann verabschiede ich mich mal und überlasse euch weiterhin dem Chaos. Bis auf ein andermal“, nahm sie freundlich Abschied und verließ den Raum, in welchem allmählich die Luft wieder klar wurde.

„Wenn dir jemand eine Sinnestäuschung vorgaukelt und deine Handlungen manipuliert, wie verhältst du dich?“, stellte Sherlock ihr noch eine rätselhafte Frage, von seinem Zimmer aus.

„Ich mache aus dem Trugbild eine Wahrheit und ziehe meinen eigenen Nutzen daraus. Bis bald, Sherly“, meinte sie, blickte über die Schulter zurück und grinste ihn an.

„Bis bald, Miceyla. Und dann haben wir hoffentlich wieder einen spannenden Fall zu lösen.“

„Ich bin soweit!“ Emily erwartete sie bereits unten vor der Haustür. Sie trug ein rosaweißes Kleid mit Spitze an den Ärmeln und ein Hut, auf dem sich eine große gelbe Chiffonschleife befand, bedeckte ihre hellbraunen, hochgesteckten Haare.

„Ein niedliches Kleid. Dann können wir ja los." Die beiden jungen Frauen verließen das Haus und nahmen eine Droschke, um zu den Geschäften in der Stadt zu fahren.

„Es ist nicht leicht Sherlock als Untermieter zu haben, nicht wahr?“, begann Miceyla eine Unterhaltung.

„He, he… Oh ja. Aber ich habe mich daran gewöhnt und es ist eine Erleichterung, dass er sich nun die Mietkosten mit Doktor Watson teilt. Sag mal, ein Ballkleid ist ziemlich teuer… Wie ist es um dein Budget bestellt?“, erkundigte Emily sich.

„Äh… Also ich denke das sollte reichen…“ Mit diesen Worten zeigte sie ihr verlegen den Inhalt ihres Umschlages.

„Du liebe Zeit! Wenn das so ist, brauchen wir nicht die vornehmeren Boutiquen zu scheuen“, staunte sie ohne weiter nachzuhaken, woher sie solch eine Menge an Geld hatte.

„Wie alt bist du eigentlich, wenn ich fragen darf?“ Neugierig sah sie Emily an, welche rötliche Wangen bekam und sich räusperte.

„Versprich mir, dass du es niemanden verraten wirst…“, flüsterte diese geheimnistuerisch, als ginge es um etwas Verbotenes.

„Ich werde schweigen wie ein Grab!“ Miceyla amüsierte ihre süße kindliche Verhaltensweise.

„Dieses…Jahr werde ich dreißig…“, offenbarte sie und machte ein schmerzverzehrtes Gesicht.

„Das ist doch noch recht jung. Ich selbst werde in zwei Monaten schon dreiundzwanzig. Die Jahre fliegen nur so an einem vorüber…“, seufzte sie und betrachtete die trostlosen Straßen von London.

„Da ist was dran.“

Sie betraten eine der beliebtesten Boutiquen der Stadt, die einen ausgezeichneten Ruf besaß.

„Hast du dieses elegante Kleid im Schaufenster gesehen? Hach… Da bekomme auch ich Lust welche anzuprobieren…“, schwärmte Emily mit leuchtenden Augen.

„Nun, keiner verbietet es dir. Also worauf wartest du noch?“, meinte sie und zwinkerte ihr zu. Miceyla stöberte und begutachtete diverse Kleider in den unterschiedlichsten Farben und Schnittmustern. `Ein außergewöhnliches Ballkleid, das hervorsticht und gut zu mir passt…` Doch fand sie auf die Schnelle kein solches Kleid, das ihren Vorstellungen entsprach. Vielleicht stellte sie einfach zu hohe Ansprüche. Aber schließlich würde sie sich an dem Abend unter Leute des Adels mischen. Plötzlich blieb Miceyla vor einem Kleid stehen, welches etwas abseits von den restlichen Kleidungsstücken aufgestellt war und wusste sofort, dieses war das Richtige. Oberhalb war es in einem kräftigen Lilaton, nach unten hin wurde es Fliederfarben. Der Stoff bestand aus einem qualitativen Satin und Seide, mit Spitze und Gaze. Goldene Paillettenelemente veredelten das Design.

„Ich probiere es einmal an!“ Miceyla bat eine Verkäuferin ihr beim ankleiden zu helfen und betrat die Umkleidekabine. Nur wenige Minuten später, öffnete die Angestellte der Boutique den Vorhang und Miceyla schritt langsam in Richtung eines länglich senkrechten Spiegels.

„Das…das ist… Oh Miceyla, wie wunderschön! Du siehst unbeschreiblich königlich aus, wie eine Prinzessin!“, sprach Emily vor Begeisterung und hatte Tränen in den Augen, so gerührt war sie. `Bin das wirklich ich…?` Ja, sie erkannte sich im Spiegelbild wieder, doch hatte dieses eine Kleid ausgereicht, um ihre Erscheinung völlig zu verwandeln.

„Ich nehme das Kleid!“, gab Miceyla ihren Entschluss beschwingt an die Verkäuferin weiter.

„Ho, ho! Netter Preis…“, flüsterte Emily neben ihr verschmitzt. Miceyla tat pfeifend so, als würde sie über diese Tatsache hinwegsehen.

„Schauen wir uns noch nach passenden Schuhen um.“ Sie hatte ihr perfektes Kleid gefunden, der Ball konnte kommen!
 

Die Fensterscheiben bedeckten an den Rändern eine dünne Eisschicht. Weiche dicke Schneeflocken, wirbelten draußen vom Himmel herab und bescherten der Stadt eine friedliche Stille. Es war der zwölfte Februar. Mit leisem Ticken, zeigte die Wanduhr Miceyla sechzehn Uhr dreißig an. Noch eine halbe Stunde und sie würde von der Kutsche zum Anwesen von Lord Blanchard eskortiert werden. Fast den ganzen Tag war sie damit beschäftigt gewesen, sich fertig zu machen und ihre tosenden Nerven zu beruhigen. Ihr Ballkleid war recht schwer, dennoch konnte sie sich gut darin bewegen und übte imaginäre Tanzschritte ein. Ihre Haare waren mit glänzenden Haarnadeln hochgesteckt, nur an den Seiten ihres Ponys, hingen ein paar kürzere, wellige Strähnen herunter. Sie trug eine schlichte Kette und Ohrringe mit blütenweißen Perlen. Diesen Schmuck hatte Miceylas verstorbene Pflegemutter ihr vermacht. Sie gab dem Ganzen noch den letzten Schliff und trug rosafarbigen Rouge und Lippenstift auf. `William…hoffentlich gefalle ich dir…`
 

„Du…du elender!...Urgh!“ Ein Mann torkelte einen düsteren, schier endlosen Flur entlang und stützte sich beklommen an der Wand ab. Dabei erbrach er eine verheerende Menge an Blut und sank keuchend zu Boden.

„Oje…welch unansehnliche Sauerei. Da haben wir heute wohl etwas Falsches gegessen…“, sprach William mit gespieltem Mitgefühl und näherte sich der um sein Leben ringenden Person, wie ein schwarzer Schatten.

„Ihr…ihr Bastarde wart das…! Soll euch doch der Teufel holen! Ahh…“, brüllte der Mann und krümmte sich vor Schmerz.

„Mitnichten mein Guter. Der Teufel ist bereits dabei `dich` abzuholen. Leider kann ich deinem Elend nicht länger beiwohnen, es wartet noch eine wichtige Verabredung auf mich. Und du solltest wissen, ich lasse andere nicht gerne warten. Genieße die Nacht und einen ewigen traumlosen Schlaf, in dem du keine Arbeiter mehr zu Tode quälen kannst…“ Im Anschluss an seine Rede, wandte William sich unauffällig ab. Seine feurigroten Augen blitzten dabei auf, wie die einer jagdlustigen Katze in der Dunkelheit. Der Mann in seiner eigenen Blutlache liegend, tat seinen letzten schwerfälligen Atemzug.
 

Die Kutsche hielt vor einem prächtigen Grundstück mit einem riesigen Anwesen, das Züge eines kleinen Schlosses besaß. Ein wenig eingeschüchtert trat Miceyla in ihrem breiten Kleid aus der Kutsche und stapfte durch die dünne Schneeschicht. Der Vorgarten war überfüllt von Kutschen und vornehmen Herrschaften, Damen und Herren aller Altersklassen in den teuersten Abendgarderoben und gaben damit Preis, was ihr Reichtum ihnen zu bieten hatte. Lautes Getratsche war von allen Seiten zu vernehmen. `Ich glaube ich bin hier fehl am Platz…`, dachte sie gekränkt. Und doch fiel ihr ein bedeutendes Detail auf, welches sie auf jede der anwesenden Personen übertragen konnte. Mochten auch alle Leute unterschiedliche Gewänder tragen, ihre Ausstrahlung war ein und dieselbe. Dieselbe starre Körperhaltung, dieselben gekünstelten Bewegungen, dasselbe unechte Lachen. Emotionen die nicht von Herzen kamen. All die Personen besaßen eine erschreckend kaltblütige Aura. Selbst der Schnee unter ihren Füßen enthielt mehr Wärme, als die Menschen um sie herum. Miceyla kam es vor, als wäre sie von Maschinen umringt, die keine Gefühle kannten und egoistisch ihr Lebensziel verfolgten. Sie wurde von so vielen fremden Gestalten bedrängt, dass sie hoffte, schnellstmöglich einen der Moriarty-Brüder zu finden. `Deutlich entspannter fühlte ich mich, wären wir gemeinsam hergekommen…`

„Ihre Einladung, mein Fräulein.“ Ein adretter Butler stand vor dem weitgeöffneten Eingangstor und kontrollierte die Einladungen der Gäste.

„Danke sehr, ich wünsche Ihnen einen vergnüglichen Aufenthalt bei Lord Blanchard.“ Nachdem sie ihre Einladungskarte vorgezeigt hatte, ließ er sie passieren. Miceyla glaubte den königlichen Palast betreten zu haben. Gülden tapezierte Wände, hohe Decken, Vasen und Statuen aus fernen Ländern. Einfach alles funkelte und strahlte. Nur wo befand sich der Ballsaal? Sie stand vor einem Labyrinth aus etlichen, Treppen, Türen und Korridoren. Einige der Gäste, standen an mehreren Stellen verteilt in Grüppchen zusammen und unterhielten sich. Es dauerte auch noch etwa zwanzig Minuten, bis es sechs Uhr war. Dies verriet ihr eine große dunkelbraun hölzerne Standuhr. Nun folgte sie einem Paar eine Wendeltreppe hinauf, in der Hoffnung zum Saal geführt zu werden. Doch es stellte sich rasch heraus, dass die zwei bloß auf einen Balkon hinausliefen. Frustriert beschloss sie, auf eigene Faust den richtigen Weg zu finden. Zwar besaß Miceyla einen ausgezeichneten Orientierungssinn, dennoch wurde sie aus der Innenarchitektur dieses Anwesens nicht schlau. In diesem Moment war sie froh darüber, ihre neuen Schuhe eingelaufen zu haben, sonst wäre es jetzt zu einem schmerzvollen Unterfangen gekommen. Kurze Zeit später lief sie in einen breiten Korridor, der seltsamer Weise nicht durch Kerzenleuchter erhellt wurde und in Dunkel gehüllt war. `Hier bin ich definitiv falsch…` Gerade wollte sie den Gang wieder zurücklaufen, da stieß sie mit jemandem zusammen.

„Verzeihung der Herr, ich habe Sie nicht gesehen… Sherlock! Was um alles in der Welt machst du denn hier?“ Perplex riss sie die Augen weit auf und prüfte seine Erscheinung noch mal ausgiebig. Ja, es stand außer Frage, tatsächlich handelte es sich um ihn.

„Aber meine Dame, da liegt wohl eine Verwechslung vor. Dieser Ort wäre seiner nicht würdig. Schließlich ist er der unvergleichliche, unnachahmliche, einzigartige, überragende, extraordinäre, bedeutsame Sherlock Holmes“, sprach er mit einer tiefen und ernsten Stimme. Miceyla hielt sich den Bauch vor Lachen.

„Jetzt aber genug der Scherze. Verrate mir, warum du dich hierher verirrt hast. Du bist ganz sicher nicht freiwillig hier oder wurdest eingeladen. Wie bist du überhaupt in dieses, mit Argusaugen bewachte Anwesen gekommen? Ist etwas vorgefallen?“, fragte sie den Detektiv aus und begann sich unzählige Theorien im Geiste auszudenken.

„Ein adeliger Freund von mir, bat mich darum seinen Leibwächter zu spielen“, erklärte sich Sherlock knapp.

„Das ist ganz offensichtlich eine Lüge… Ach, ich gebe es auf. Du willst mir anscheinend nicht die Wahrheit sagen. Misstraust du mir etwa? Oder glaubst du ich sei ein kleines Mädchen, das dies nicht verstehen könnte?“, bezweifelte sie enttäuscht. Aber sie musste auch eingestehen, dass sie zu schnell beleidigt wurde.

„Wenn jemand ein kompliziertes Rätsel lösen müsste, von dem mein Leben abhinge, so wählte ich dich dafür aus. Nicht weil du dazu im Stande wärst, es ohne Komplikationen zu lösen, sondern weil du dir Arme und Beine ausreißen würdest, ehe du aufgibst. Diese Eigentümlichkeit ist ein wertvolles Gut. Ich kann solche Menschen die ich kenne, an einer Hand abzählen“, sprach er plötzlich mit einer ehrlichen Aufrichtigkeit und seine dunklen Augen blickten sie authentisch an. `Schätzt er mich etwa so ein…?`

„Es tut mir leid, Sherlock… Ich wollte mich nicht in deine Arbeit einmischen…“, erwiderte Miceyla etwas kleinlaut.

„Ich mag dir einfach nicht den Abend verderben. Gleich mache ich mich auch wieder aus dem Staub. Du suchst den Ballsaal? Gehe den Flur zurück, biege dann bei der ersten Möglichkeit links ab, gehe die Treppe runter, anschließend betritt den Korridor, mit dem Bambus davor, der dringend Wasser nötig hätte und voila, du befindest dich vor der Eingangstür zum Tanzsaal. Und Grüße William von mir“, beschrieb er eifrig den Weg.

„Ha, ha, danke. Ich versuche mir das zu merken. Dann lasse ich dich mal wieder weiter Spuren suchen. Wiedersehen Sherlock.“ Zögerlich machte Miceyla kehrt, da gab es noch mehr das sie erfragen wollte, doch fand sie nicht die passenden Worte.

„Verlier dein Ziel nicht aus den Augen, unter all den müffelnden Adeligen. Hm…ich glaube an diesen Anblick kann ich mich nur schwer gewöhnen…“, meinte Sherlock, legte den Kopf schräg und nahm sein Kinn zwischen die Finger, während er skeptisch ihr Kleid begutachtete.

„Also mit Komplimenten scheinst du nur sehr geizig umzugehen, was?“, lachte sie und sah ein letztes Mal zu ihm zurück, bevor sie den Flur verließ.

Endlich, nach etlichen Umwegen befand sie sich am Eingang zum Ballsaal.

„Ihr Name bitte, meine Lady. Damit ich Sie ankündigen kann.“ Einer der Bediensteten wünschte ihren Namen zu wissen.

„Miceyla Lucassen“, antwortete sie klar und deutlich, dabei ahnte sie bereits was gleich geschehen sollte.

„Ladys und Gentleman, Miceyla Lucassen.“ Während sie mit krampfhafter Eleganz in den riesigen Saal schritt, galt die komplette Aufmerksamkeit für einen kurzen Augenblick, einzig und allein ihrem Antlitz. `Neeeein…! Dabei hatte ich nicht vorgehabt, an diesem Ort im Mittelpunkt zu stehen…` Sogleich gingen die eifrigen Plaudereien los, einiges davon schnappte Miceyla auf.

„Bitte `wer` ist dieses junge Fräulein?“

„Sie ist mir unbekannt, hat sie schon mal jemand gesehen?“

„Ein gewagtes Kleid… Aber recht pompös, ist sie vermögend?“

„Den Familiennamen hörte ich zuvor noch nie...“

„Doch seht ihr Gesicht. Könnte sie von edler Abstammung sein?“

`Seid still…! Gebt Ruhe…! Wenn ihr wüsstet, dass ich keiner Adelsfamilie angehöre, würdet ihr mich abservieren wie ein schandbares Ungetüm. Dabei bin ich aus demselben Fleisch und Blut, wie ein jeder von euch…` Beharrlich versuchte sie die ganzen Stimmen auszublenden und nahm den Saal einmal genauer unter die Lupe. Mehrere schillernde Kronleuchter hangen von der hohen, cremefarbenen Decke herab und spiegelten sich auf dem glatten Parkettboden. Kupfer und silberbeschichtete Säulen, stützten an den Seiten die höheren Ebenen ab. Es gab ein aufwendiges Buffet, mit den verschiedensten delikat aussehenden Speisen. Ein kleines Orchester spielte unterschiedliche Streichinstrumente. Unter anderem Violine und Cello. Begleitend spielte noch jemand Piano auf einem Flügel.

`William!` Nach all den auf sich genommenen Strapazen, fand sie nach langem Warten William, Albert und Louis, ein wenig im Abseits des Geschehens stehend. Alle drei trugen noble schwarze Anzüge mit Fliege und reinweiße Handschuhe. Edelmännisch, würdevoll und vornehm, anders war dessen Äußeres kaum besser zu beschreiben. Mit einem Lächeln der freudigen Erwartung, nahm William Miceyla in Empfang. Ihr Herz klopfte unaufhörlich. Als sie in seine Richtung schritt.

„Guten Abend. Es war nicht leicht, euch in diesem Getümmel aufzuspüren“, sprach sie zur Begrüßung und behielt die schalkhaften Einzelheiten für sich.

„Du siehst umwerfend aus. Dieses Kleid ist wie für dich gemacht. Wer dich ansieht, denkt sogleich an den jungen, blühenden Flieder auf einer grünen Frühlingswiese, zart und grazil“. drückte William seinen Gefallen an ihrem Ballkleid, mit einer unvergleichbar hingebungsvollen Sanftheit aus. Ihr Herz schmolz nur so dahin bei dessen Worten und sie verlor sich in der Tiefe seiner Augen.

„Du hast meine Erwartungen um Längen geschlagen. Jetzt hat sich die liebliche Eisblume, wohl in eine farbenprächtige Frühlingsknospe verwandelt. Ein Jammer, dass ich dich für diesen Ball nicht meine Begleitung nennen darf“, schmeichelte Albert ihr mit edlem Lächeln.

„Zum Glück bist du trotz des Schneefalls gut hergekommen, wir machten uns schon Sorgen“, meinte Louis freundlich. Es war eine Erleichterung, dass er ihr heute höflich gesinnt war.

„Danke…das ich heute Abend hier sein darf“, dankte Miceyla beflügelt.

„Guten Abend meine Herrschaften. Schön das Sie so zahlreich erschienen sind. Da der Veranstalter dieses Balls, Lord Darwin Blanchard, zurzeit abwegig ist, begrüße ich Sie an seiner Stelle. Genießen Sie Ihren Aufenthalt und lassen Sie sich die Köstlichkeiten schmecken.“ Auf die Rede eines älteren Herren, folgte ein brausender Applaus. Das Orchester stoppte plötzlich und begann ein neues Lied zu spielen. Es war weder zu schnell, noch zu gemächlich. Eine melodische Symphonie, die gleichzeitig dramatisch wie auch heiter war und zum Tanzen einlud.

„Darf ich um diesen Tanz bitten, liebste Miceyla? Heute Abend gehört mein erster und letzter Tanz ausschließlich dir allein. Zeigen wir der hier anwesenden Adelsmeute, wie die Vollkommenheit eines wahren, harmonischen Tanzes aussieht“, forderte William sie mit einer anmutigen Verbeugung zum Tanzen auf.

„Nichts wünsche ich mir in diesem Augenblick sehnlicher.“ Lächelnd gab sie ihm ihre Hand. Er führte sie in die Mitte der Tanzfläche und sie nahmen die erhabene Haltung ein, welche sich für ein vorbildliches Tanzpaar gehörte. Nun war nichts mehr von der fesselnden Nervosität zu spüren, die Miceyla bis vor kurzem noch empfunden hatte. Williams gefühlvolle Berührung und sein einfühlsamer Blick beruhigten ihr Gemüt. Auf einmal fühlte sie sich in seiner Gegenwart geborgen und beschützt. Eine angenehme Wärme legte sich über ihre Haut. Glückverheißend und mit einer zarten aufregenden Spannung. Keine Worte dieser Welt hätten ihre Gefühle beschreiben können, in dem Moment als ihr Tanz begann. War sie bei Albert noch unsicher und blamabel gewesen, so war sie nun ein vollkommen neuer Mensch. Im perfekten Gleichklang, schwebte William mit Miceyla über die Tanzfläche. Eine stimmige Harmonie, die seinesgleichen suchte. Sowie ihre beiden Blicke miteinander verschmolzen, so verschmolz sie mit dem Klang der Musik. Auf einmal beendeten die anderen Paare ihren Tanz, bildeten einen großen Kreis um die beiden und bestaunten das wie füreinander geschaffene Duo. Die gesamte Tanzfläche gehörte nun ihnen allein. In Miceylas Augen war William wie ein stolzer Prinz, der unendliche Güte und Erhabenheit besaß. Er verstärkte seinen Handgriff und umklammerte ihre Hand ein wenig fester. Seine andere Hand auf ihrem Rücken, zog sie noch näher zu sich. Ganz so als wolle er sie davon abhalten, ihn jemals wieder loszulassen. In dieser Hingabe tanzten sie weiter über das Parkett. Wie zwei beflügelte Seelen, denen nichts und niemand Einhalt gebieten konnte. Voller Leidenschaft, feurig und dynamisch. Miceyla vergaß alles um sich herum, die adeligen Leute, selbst den Ort an dem sie sich befand. Alles was für sie gerade zählte, war der von einem makellosen Einklang bestimmte Tanz mit William. Er führte sie mit einer solchen Leichtigkeit, als hätte er in seinem Leben nie etwas anderes gemacht. Würde die Welt am morgigen Tage untergehen, so legte sie all ihre Wünsche und Hoffnungen in seine Hände. Plötzlich fühlte sie sich bestärkt und glaubte alles erreichen zu können, was sie sich jemals erträumte. Dieser Tanz sollte für sie bis in alle Ewigkeit andauern, dies hoffte Miceyla still und leise. Jedoch selbst der schönste Moment, fand früher oder später sein Ende. Die letzten Klänge läuteten den Abschluss des stimulierenden Liedes ein. William kam langsam mit ihr zum Stillstand. Ein wenig beugte er sich zu ihr hinunter und berührte sanft ihren Kopf mit seiner Stirn, ohne dabei von ihrer unzertrennlichen Tanzhaltung abzulassen. Die beiden lächelten sich hingebungsvoll an.
 

Liebes Tagebuch, 12.2.1880
 

…Ich kann meine Empfindungen nur schwer in Worte fassen… Wenn ich an mein bisheriges Leben zurückdenke, gestehe ich das dieser Abend der schönste war, den ich je erleben durfte. Mein Tanz mit William fühlte sich an, wie der in einem Märchen. In einer mir unbekannten Welt, in die ich eigentlich nicht hineingehöre. Jedoch ist es mehr der Adel, mit dem ich mich nur spärlich assoziieren kann. Dennoch gibt es gewiss, leider auch genug gewöhnliche Bürger ohne Adelstitel, die sich betrügerisch und hinterhältig verhalten. Doch bei den Moriarty-Brüdern ist dies etwas völlig anderes. Durch die drei aufgeschlossenen Menschen, lernte ich die schöne Seite ihres Lebensstils kennen. Auch wenn es bislang nur wenige flüchtige Momente waren. Aber was verbirgt die Schattenseite? Wieso war Sherlock in dem Anwesen? Und ist es nicht seltsam, dass der Veranstalter auf seinem eigenen Ball nicht anwesend war? Zu viele unbeantwortete Fragen… Ich werde jedoch nicht lockerlassen und weiterhin versuchen dahinter zu kommen. Und niemals gebe ich auf an das zu glauben, was mir am Herzen liegt. Bleibe stets du selbst, lasse dich nicht unterkriegen und kämpfe für die Gerechtigkeit. Und ich bin froh, mit Sherlock und John eine Freundschaft begonnen zu haben. Auch in Emily, habe ich eine neue gute Freundin gefunden. William… Ich hoffe in meinen Träumen, tanzen wir noch weiter durch die langen Nächte…
 

Ein nächtlicher Tanz
 

Komm tanz mit mir durch die lange Nacht,

während der Mond über uns am Himmel wacht.

Ich hätte es ja wirklich nicht gedacht,

doch habe ich endlich wieder gelacht.
 

Der Wind weht um uns in sanften Schwingen

und die Lichter alle um ihr schönstes Strahlen ringen.

So wundervoll wie sie doch singen,

niemals ist etwas da gewesen was klarer wird klingen.
 

Unsere verwobenen Gefühle rauben uns den Verstand,

sie vereinen uns wie ein unzertrennbares Band.

So sicher fühle ich mich, wenn du mir reichst die Hand,

es war pure Sehnsucht wie ich doch fand.
 

Dies war erst der Anbeginn einer sinnlichen Reise,

da erblicken wir den Morgengrauen still und leise.

Unsere Träume erfüllen sich auf ganz besondere Weise,

der Hoffnungsfunke zieht weiter beharrlich seine Kreise.
 

Zwei Herzen synchron im Gleichgewicht,

keiner wird je fähig sein, uns zu nehmen die weite Sicht.

Gib mir den Mut zu öffnen neue Türen,

damit ich dich kann auf ewig sanft berühren.

Wandernde Schatten

`Lord Darwin Blanchard wurde tot in seinem Anwesen vorgefunden. Die Produktion in seinem Unternehmen wird vorübergehend eingestellt. Wir verlassen uns auf die hochgeschätzten Fähigkeiten von Inspektor Lestrade, der die Verantwortung bei diesem Fall übernommen hat, um den Mörder schnellstmöglich zu fassen. Ein vermeintlicher Verdächtiger, Lord Ridley, wird bereits bei Scotland Yard verhört. ` Nun waren bereits beinahe zwei Wochen, seit dem märchenhaften Ball vergangen und der rätselhafte Tod von Lord Blanchard, war zum Hauptthema in der Presse geworden. Die Titelseiten der Zeitungen waren überflutet mit etlichen Schlagzeilen darüber. Er musste ein bedeutender Geschäftsmann gewesen sein, der einen ertragreichen Umsatz mit seinem Unternehmen gemacht hatte. Wie gerne würde Miceyla Sherlock über Einzelheiten ausfragen, er war sicherlich nicht umsonst vor Ort gewesen. Denn auf die trügerischen Zeitungsartikel, konnte sie sich nicht verlassen. Diese beinhalteten mehr erfundene Lügen, als das Wahrheit darin steckte. So wie die Zeit auf dem Ball unendlich aufregend gewesen war, breitete sich nun eine klägliche Langeweile aus. Sie hatte seitdem weder von William, noch von seinen Brüdern etwas gehört. Diese Tatsache versetzte sie in eine grässlich pessimistische Stimmung und ihre Laune erreichte bald ihren Tiefpunkt. Stunden verbrachte Miceyla an ihrem Schreibtisch und kritzelte mit einem Stift auf ein leeres Blatt Papier. Selbst zum Schreiben fehlte ihr jegliche Inspiration. Etwas Spannendes erleben wollte sie oder eine sinnvolle Tätigkeit ausführen. Da klopfte es hartnäckig an der Tür.

„Miss Lucassen! Hopp, hopp!“ `Die Steigerung meines Elends erwartet mich…`, dachte Miceyla und versuchte sich selbst durch ein wenig Humor aufzuheitern.

„Komme schon, Mrs Green.“ Träge öffnete sie die Tür.

„Guten Abend, was gibt es denn so dringliches, dass Sie mich zu dieser späten Uhrzeit noch aufsuchen?“, fragte sie und bemühte sich um ein Lächeln.

„Bringe dieses Päckchen bitte zu meinem Enkelsohn. Es braucht dich nicht zu interessieren was drin ist! Er arbeitet den ganzen Tag und ist meist nicht vor acht Uhr abends zu Hause. Daher will ich das du es ihm persönlich überbringst. Nicht trödeln! Mach dich direkt auf den Weg!“, befahl die alte Frau mürrisch.

„Das ist nicht weit von hier. Na gut, ein kleiner abendlicher Spaziergang kann nicht schaden“, willigte Miceyla gelassen ein. Kurz darauf hatte sie ihren Mantel an und überbrachte das Paket dem Enkel von Mrs Green, welcher nur wenige Straßen entfernt wohnte. Sie war schon wieder auf dem Heimweg, da entdeckte sie eine Frau, die leise fluchend mehrere schwere Beutel trug. `Das ist doch…`! Überrascht lief Miceyla auf sie zu.

„Emily! Was machst du denn um diese Uhrzeit noch hier auf der Straße? Die Geschäfte haben längst geschlossen. Du bist also wohl kaum einkaufen gewesen“, stellte sie neugierig fest.

„Wah!“ Erschrocken wich Emily zurück, als wäre ein bösartiger Geist vor ihr erschienen.

„Oh…! Miceyla, du bist es zum Glück nur. Tut mir leid… Für mich ist die ganze Sache bereits unheimlich genug. Sagen wir…in den Beuteln befinden sich die `Spezialbesorgungen` für Sherlock. Ich bin mir sicher, du kannst dir darunter einiges vorstellen…“, weihte sie Miceyla mit verschwörerischer Miene ein und blickte heimlich um sich.

„Oje…du Ärmste. Komm, las mich dir helfen.“ Mitfühlend nahm sie ihr zwei der gewichtigen Taschen ab.

„Danke, das ist sehr lieb von dir.“ Erleichtert über ihre Unterstützung, lief Emily mit ihr zusammen zurück in die Baker Street.

„…Und dann soll er sich nicht aufregen, wenn ich meinen Frust an ihm auslasse!“, blaffte Emily, während sie die Haustür aufschloss.

„Mrs Hudson, Sie sind wieder… Ach herrje! Ist es doch so viel geworden. Hätte ich das geahnt, wäre ich mitgekommen. Oh, Miceyla! Guten Abend, was für eine Überraschung.“ John kam den beiden eilig entgegengelaufen und nahm ihnen die Beutel ab.

„Guten Abend John. Ist Sherlock da? Ich würde ihm sehr gerne auch kurz Hallo sagen“, erkundigte Miceyla sich wohlwollend und sah plötzlich sein bedrücktes Gesicht.

„Ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist… Seit ein paar Tagen ist er sehr schweigsam und antriebslos. Er besteht darauf alleine zu sein. Diesen Zustand konnte ich schon öfters bei ihm beobachten. Aber so träge und motivationslos habe ich ihn selten gesehen. Ich kann ihm da leider auch nur wenig weiterhelfen. Wenn er keinen Fall zu lösen hat, ist er ein völlig anderer Mensch…“, sorgte sich der junge Arzt um seinen Freund. `Motivationslos… Das kommt mir bekannt vor. Ob es mit dem Tod von Lord Blanchard zusammenhängt?` Nachdenklich lief Miceyla dennoch die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf.

„Keine Sorge, ich mag mich nur kurz vergewissern, dass es ihm gut geht.“ Oben blieb sie vor seiner geschlossenen Tür stehen und vernahm die gedämpften lieblichen Klänge eines Geigenspiels. Ohne auch nur das leiseste Geräusch zu machen, öffnete sie vorsichtig die Tür und lugte durch einen schmalen Spalt hinein. Dort stand Sherlock am Fenster und spielte gefühlvoll Violine. Es war eine schwermütige Melodie, die gleichzeitig voller träumerischer Sehnsüchte war. Seine Gesichtszüge waren tiefenentspannt, mit Augen die zu einem ihr fernen, verborgenen Ort blickten. Seine schwarzen welligen Haare trug er offen und sie fielen ihm auf die Schulter. So wie er da gerade dastand mit seiner Geige, hatte er etwas Sinnliches, fast schon poetisches an sich. Dies passte gar nicht, zu seiner sonst immer realitätsgetreuen Kombinationsgabe. `Ist ihm eigentlich bewusst, was für ein hübscher Kerl er ist? Irgendwie erinnert er mich an… Ich… Das darf ich nicht denken!` Kaum hörbar summte sie im Takt seines Geigenspiels mit und wollte die Tür wieder schließen.

„Du würdest eine fantastische Spionin abgeben. Informationen beschaffen, die eigene Identität verschleiern“, meinte Sherlock schroff, ohne dabei in ihre Richtung zu blicken.

„Verzeih… Ich bin schon wieder weg. Manchmal braucht jeder von uns seine Ruhe zum nachdenken“, sprach Miceyla entschuldigend mit beruhigender Stimme. Da ließ er abrupt von seinem Spiel ab.

„Denke mal scharf nach. Ich wette du kommst von selbst darauf. Ein scheinbar perfektes Verbrechen. Doch der Ball hat dir wohl andere Flausen in den Kopf gesetzt. Dann verschone mich bitte mit unnötiger Gefühlsduselei, die nur meinen klaren Verstand behindert“, fuhr er unablässig fort. Sie änderte ihr Vorhaben, blieb stehen und öffnete die Tür ganz. `Ein perfekt durchdachtes Verbrechen an einem Adeligen… Der Meisterverbrecher…` Jetzt sah er sie direkt an und obwohl sich ganz offensichtlich Ärgernis in seinen Worten befand, waren seine Emotionen nur schwerlich zu deuten. Verbarg sich da ein Anzeichen von Enttäuschung? Sie wusste nichts darauf zu erwidern, ohne das es unvernünftig rüberkäme. Sherlock seufzte mit zusammengekniffenen Augenbrauen, legte seine Geige und den Bogen ab, warf sich eine Jacke über und schritt zielstrebig auf sie zu.

„Sh-Sherlock! W-was tust du da?“, rief Miceyla völlig überrumpelt, als er sie energisch am Handgelenk packte und sie schweigend die Treppe hinunter, Richtung Haustür hinter sich herzog.

„Sherlock! Miceyla! Wo wollt ihr hin?“, kam es bestürzt von John aus dem Hintergrund.

„Das wüsste ich selber nur zu gern!“, teilte Miceyla ihm verwirrt mit.

„Wartet, ich komme mit!“ John eilte mit seinem Stock hinterher.

„Verrätst du jetzt mal, wo wir so spät noch hinwollen? Falls es meine Schuld ist, dass sich deine Laune noch mehr verschlechtert hat, beruhigt es dich vielleicht wenn du weißt, dass ich mich momentan auch sehr mies fühle. Da haben wir etwas gemeinsam, ha, ha“, bemühte sie sich um einen neutralen Tonfall. Jedoch blieb Sherlock weiterhin stumm und sie sah bloß seinen Rücken, während die beiden mit einem keuchenden John, etwas hinter ihnen im Schlepptau, die düsteren Straßen von London im eiligen Tempo entlangliefen. Schneller als gedacht, beendete Sherlock ihren spontanen Fußmarsch und hielt vor einem gut besuchten Pub, aus dem grölende Laute kamen. ``Zur hänselnden Gans`. Ha, ha, oha…`, las sie amüsiert das Schild über der Eingangstür.

„Ich frage besser nicht, was wir hier wollen“, meinte sie lachend.

„Wer hätte das gedacht, dies hier ist sozusagen unsere Stammkneipe…“, erläuterte John der sie eingeholt hatte und rang nach Luft. Erst in diesem Augenblick ließ Sherlock von ihr ab und betrat, noch immer sich keiner Worte bedienend, die Schenke. Miceyla und John tauschten kurz lächelnd Blicke aus und folgten ihm dann hinein. In dem Pub herrschten reges Treiben und eine deftige Lautstärke. Sie war schon immer ein Mensch gewesen, der sich mit derart Vergnügen nur schwerlich anfreunden konnte und sich eher in Zurückhaltung übte. Vielleicht fehlten ihr auch einfach die passenden Kontakte dafür. An allen Tischen wurde laut gelacht, gesungen, getrunken und Karten gespielt. Auf einer kleinen Bühne spielte eine Gruppe fröhlich Flöte, Gitarre und Trommel. Miceyla fand die Tatsache ziemlich belustigend, dass dieser Ort das komplette Gegenteil zu einem vornehmen Ball, auf dem Anwesen eines Adeligen darstellte. Hier war sie völlig ungebunden und musste sich keine Gedanken um irgendwelche Manieren machen. Die drei setzten sich an den letzten freien Tisch und eine Wirtin mit beachtlicher Oberweite, brachte alsbald Getränke. Diese schien Sherlock gut zu kennen.

„Zum Wohl Freunde! Keine falsche Bescheidenheit. Vergessen wir für die heutige Nacht unsere Sorgen. Auf das wir ab morgen, die Probleme wie von Zauberhand lösen können!“, sprach Sherlock lautstark einen Toast aus und hielt seinen randvollen Krug in die Höhe. Endlich war sein vergnügtes Grinsen zurückgekehrt und er schien wieder ganz der Alte zu sein.

„Zum Wohl!“; riefen Miceyla und John zur gleichen Zeit und das Trio schlug ihre Gläser gegeneinander. `Na bei diesem angenehmen Lüftchen hier, fühlt sich Sherlock bestimmt heimisch`, dachte sie mit Ironie und wedelte mit der Hand, Zigarettenrauch um ihr Gesicht herum weg.

„Weißt du, normalerweise ist er ja kein großer Trinker, da seine Arbeit stets Nüchternheit von ihm abverlangt…“, flüsterte John vertraulich neben ihr.

„Ha, ha. Das kann ich mir gut vorstellen. Aber wenn gerade nichts ansteht, kann man ja mal eine kleine Ausnahme machen und sich etwas gönnen“, erwiderte sie verständnisvoll.

„Aufgrund von Vernachlässigung, hat sie früh gelernt selbstständig zu sein. Kennt sich nur in einem kleinen Teil von London gut aus, da sie lange Zeit auf dem Land gelebt hat. Sie las in ihrer Kindheit und Jugend viele Bücher, daher ist sie anderen ihres Standes, weit überlegen durch ihr angehäuftes Wissen. Besitzt eine ungewöhnliche Erfassungsgabe, von den Gefühlen anderer Menschen. Steht sich aber meistens selbst im Weg und verschwendet ihre Fähigkeiten maßlos. In unangenehmen Situationen, neigt sie teilweise zu cholerischen Verhaltensweisen. Für sie wichtig erscheinende Tätigkeiten, führt sie stets akribisch aus…“, sprach Sherlock bereits leicht angetrunken, hatte seinen Kopf auf der Hand abgestützt und fixierte Miceyla eindringlich mit den Augen. `H-hat er mich gerade analysiert…?!`, dachte sie schockiert und fühlte sich völlig überrumpelt. Nie hätte sie gerade damit gerechnet und blickte ihn stumm mit offenem Mund an.

„Oh nein, Sherlock! Musste das jetzt wieder sein? Richte nicht wieder unnötig Schaden an…“, flehte John und hielt sich ängstlich eine Hand vor die Augen, ganz so als wollte er ihre Reaktion nicht mitansehen. Doch seine Angst war völlig unbegründet, als Miceyla in schallendes Gelächter ausbrach.

„Ha, ha, ha, ha! Sherlock, der Punkt geht an dich! Ich glaube die ganze Welt könnte ich bereisen und würde nicht mal eine einzige Person finden, die auch nur annähernd dieselben markanten Eigenschaften besitzt wie du“, sagte sie lachend.

„Komm tanze mit uns!“

„Ein so schönes Mädchen darf hier nicht einfach so rumsitzen! Wir sind die passenden Partner für dich!“ Plötzlich standen zwei junge Männer neben ihrem Sitzplatz und forderten sie aufdringlich zum Tanzen auf.

„Nein ich…“ Miceyla wollte widersprechen, doch einer der beiden zog sie bereits mit seiner Hand nach oben und war damit gezwungen aufzustehen. Da erhob sich auf einmal auch Sherlock und schlug dem Mann seinen Griff von ihr weg.

„Vergiss die eingerosteten Adeligen. Ich zeige dir wie richtig getanzt wird“, äußerte er sich grinsend, nahm sie bei der Hand und führte sie auf die freie Fläche vor der Bühne. Die jungen Männer blickten verdutzt hinterher.

„Widerstand ist zwecklos, huh?“, ergab sie sich lächelnd. Dennoch war ihr etwas bange zumute, dass ihr eine Blamage bevorstand. `Wah! Hilfe!` Passend zu der flotten Musik, wirbelte Sherlock sie in schnellem Tempo umher und sie vollführte schwindelerregende Pirouetten. Er war ein unglaublich guter Tänzer und steppte unermüdlich mit Miceyla über den festen Holzboden. Eine ganz neue Erfahrung war es für sie, so frei und unbekümmert zu tanzen. Mag ein Ball auch unsagbar schön sein, diese Art Tanz gefiel ihr ebenfalls. Sie hätte sich nur schwer zwischen beidem entscheiden können. Während sie ausgelassen umherhüpfte, wurde ihr Herz befreit von jeglichem Frust. Was auch immer der nächste Tag bringen mochte, in jenem Augenblick genoss sie das Leben in vollen Zügen. Die anwesenden Gäste jubelten laut, klatschten und pfiffen. Einige schlossen sich nun Sherlock und Miceyla an. Sie hakten sich ineinander ein und tanzten zusammen durch das Pub. Sogar John wurde von der guten Stimmung angesteckt und schwang das Tanzbein.

„Hey, was soll das! Pass doch auf!“, brüllte plötzlich ein torkelnder Mann, der auffällig betrunken war, mit dem Sherlock zusammenstieß. Der Mann versetzte ihm einen heftigen Schlag ins Gesicht.

„Sherlock!“ Miceyla musste bestürzt mit ansehen, wie dieser zurücktaumelte.

„Du hast es ja nicht anders gewollt…“, entgegnete er und funkelte den streitsuchenden Mann kampflustig an. Der heitere Tanz fand sein jähes Ende und in der Kneipe brach eine wilde, unaufhaltsame Schlägerei aus. Sie selbst war gezwungen aufzupassen, nicht mit hinein verwickelt zu werden und wich gekonnt zurück.

„Schnell! Raus hier!“ John schob sie schützend vor sich her und floh mit ihr aus dem Pub.

„Puh… Das ist gerade noch mal gut gegangen. Glaubst du Sherlock kommt da drinnen zurecht?“, fragte sie kummervoll. Das Geschrei der tobenden Meute, schallte zu ihnen bis nach draußen.

„Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er ist ein exzellenter Boxer. Soll er sich ruhig mal etwas austoben. Oh, wir haben schon nach Mitternacht. Schauen wir, dass wir eine Kutsche für dich finden, damit du heil nach Hause kommst“, schlug John freundlich vor und sie nickte zustimmend. Es war ein vergnüglicher Abend gewesen, doch mittlerweile taten ihr die Beine vom vielen laufen und tanzen weh.

„Ah, sieh nur! Dort steht eine bereit.“ John zeigte auf eine am Straßenrand wartende, kleine Kutsche. Er bezahlte den Kutscher für sie.

„Danke John und pass mir gut auf Sherlock auf. In die Kashton Street bitte“, bedankte Miceyla sich und hörte noch immer die muntere Musik im Geiste.

„Das werde ich, bis bald Miceyla.“ Die Pferde trabten los und sie streckte sich ausgiebig. `Dieser kleine Abstecher ins Pub, hat sowohl Sherlock als auch mir sehr gutgetan`, dachte sie zufrieden. Fast wäre sie eingenickt, da bemerkte sie, dass die Kutsche ungewöhnlich lange unterwegs war. Längst hätte sie zu Hause ankommen müssen. Da es draußen stockduster war, konnte sie ihren aktuellen Standpunkt nicht ausmachen.

„Entschuldigen Sie, hier sind wir falsch. Sie wissen doch bestimmt, wo die Kashton Street ist…“ Sie öffnete etwas die Tür und wandte sich an den Kutscher. Dieser reagierte jedoch nicht und spornte seine Pferde plötzlich an, noch schneller zu werden. Abrupt schlug sie wieder die Tür zu, als die Pferde im halsbrecherischen Tempo losgaloppierten. `Ruhe bewahren… Ganz ruhig…` Panik stieg in ihr auf. Der Kutscher schien keine guten Absichten zu verfolgen. Doch bei der Geschwindigkeit, konnte sie kaum aus der Kutsche springen. Nichts anderes blieb ihr übrig als abzuwarten. Sobald sie anhielten, würde Miceyla die Flucht ergreifen. Längst waren sie in einem abgelegenen Viertel von London angekommen. Eine äußerst zwielichtige Gegend, von der man sich besser fernhielt. `Wir haben angehalten…!` Totenstille breitete sich aus, als die Kutsche endlich ihr ungewisses Ziel erreicht hatte. Mit einer zitternden Hand, öffnete sie langsam die Tür. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, aber sie konnte im näheren Umkreis nichts und niemanden ausmachen. Keine Bewegung, kein Geräusch. Aber das Merkwürdigste war, keine Person saß mehr oberhalb der Kutsche… Der Kutscher war verschwunden… Leise setzte sie einen Fuß nach dem anderen auf den Erdboden. Und sobald sie im Freien gewesen war, rannte sie so schnell sie nur konnte, als wäre eine ganze Horde blutrünstiger Bestien hinter ihr her. `Das hat mir gerade noch gefehlt…` In Strömen fing es auf einmal an zu regnen und es begann zu stürmen. Ihre Kleidung war innerhalb kürzester Zeit vollkommen durchnässt. Miceyla wurde langsamer, die Energie ging ihr aus und ihre Lunge brannte. Plötzlich vernahm sie eine leise, wimmernde Stimme. `Weint da jemand?` Sie suchte die düstere Umgebung ab. In einer ärmeren Ortschaft befand sie sich, mit kleinen Hütten die danach aussahen, als stünden sie kurz vor dem Zerfall. `Ich muss schnellstmöglich von hier verschwinden…` Da fand sie die weinende Person am Boden kauernd und hoffte, dass sie diese vielleicht nach dem Weg fragen konnte.

„Verzeihung, ist etwas nicht in Ordnung? Bei den eisigen Temperaturen und dem Regen werden Sie noch todkrank. Sie müssen sofort ins warme Trockene“, sprach Miceyla die Person an und hockte sich neben sie.

„Ach mein Kind, es ist so schrecklich… Bitte, bitte! Niemand wird ihm helfen… Ich bin nicht wichtig…“, jammerte die flehende Person und blickte sie verzweifelt an. `Eine alte Frau?!`

„Vielleicht kann ich ja helfen, auch wenn ich gerade selbst etwas verloren bin… Und wer ist dieser Jemand?“, bot Miceyla ihre Hilfe an. Sie käme ohnehin im Moment, nicht so schnell von diesem finsteren Ort weg.

„Man hat mich überfallen, mich ausgeraubt… Dieser Mann schikaniert gerne andere, die ihm unterlegen sind… Doch ein tapferer Junge kam und wollte mich beschützen… Aber dann…oh bitte, seid seiner gnädig…hat der widerliche Kerl, den armen unschuldigen Jungen grob mit sich gerissen und verschleppt, zusammen mit einem Verbündeten… Möge das Schicksal es gut mit ihm meinen… Du…mein Mädchen…rette ihn…“, klagte die alte Frau und klammerte sich flehend an Miceyla. Etwas tölpelhaft versuchte sie einen klaren Gedanken zu fassen, in jener heiklen Situation. `Selbst wenn ich ausfindig machen könnte, wohin der Junge entführt wurde, wird eine Konfrontation mit diesen suspekten Verbrechern unumgänglich sein… Ich bin schwach, habe keine Waffe bei mir und keinerlei Unterstützung. Sherlock wüsste jetzt genau was zu tun wäre…`

„Hören Sie, es ist viel zu gefährlich. Am Ende fallen den Kerlen noch mehr zum Opfer. Ich kann fähige Hilfe besorgen, wenn Sie mir nur sagen, wo wir uns hier gerade befinden… Es stürmt und es ist tiefste Nacht… Ich bin noch nie zuvor an diesem Ort gewesen und…“, versuchte Miceyla die alte Frau davon zu überzeugen, eine vernünftige Vorgehensweise zu entwickeln.

„Dann wird es zu spät sein… Glaubst du der Fiesling wartet darauf, dass du mit deiner Hilfe ankommst? Ich habe gesehen wo sie lang sind, vor etwa zwanzig Minuten… Aber du willst eine aufrichtige junge Seele wohl lieber sterben lassen…“, unterbrach die Frau sie und senkte den Blick, als hätte sie die Hoffnung bereits aufgegeben. Miceyla holte tief Luft, schloss die Augen und leckte sich die Regentropfen von ihren Lippen. Die ganze Lage war ihr alles andere als geheuer. Außerdem kamen neben ihrer Erschöpfung, etliche weitere Faktoren hinzu, die sie gerade sehr verwundbar machten. `Ich bin dumm, einfach nur dämlich! Ich tue das jetzt nicht wirklich… Das ist reiner Selbstmord!`

„Also schön… Zeigen Sie mir den Weg, welchen die Männer nutzten. Ich kann Ihnen nichts versprechen, jedoch gebe ich mein Bestes, um den Jungen zu retten“, gab Miceyla sich geschlagen und wusste nicht mehr, ob sie noch bei klarem Verstand war. `Wenn er noch am Leben ist…` Komischer Weise glaubte sie aber nicht, dass die alte Frau sie in die Irre führen wollte und es eine Falle war. Sie sprach die Wahrheit, warum auch immer, aber Miceyla war davon fest überzeugt.

„Sie überquerten ein Stück die Themse, etwas südlich von hier. Folge mir…“ Die alte Frau erhob sich mühsam und lief los, ohne darauf zu achten ob sie ihr folgte. `Bei diesem Wetter auch noch Boot fahren? Das ist doch Wahnsinn!` Trotz jeglicher Unbehaglichkeit, trottete sie hinter der merkwürdigen Frau her, die stur einen ihr fremden Jungen retten wollte. Am Flussufer angelangt, deutete die Frau auf ein kleines Boot.

„Das wird seinen Zweck erfüllen. Komm, wir dürfen keine Zeit verlieren.“ `Lass uns nicht vorher untergehen und ertrinken…`, betete Miceyla, als sie nach ihr das stark schwankende Boot betrat. Zum Glück blieb es bei einer kurzen Überfahrt und sie befanden sich auf der anderen Seite der Themse. Die Gegend bekam ein immer schaurigeres Ambiente, während sie weiterliefen.

„Wie weit ist es denn noch?“, fragte eine fröstelnde und verängstigte Miceyla. Wie froh sie war, gerade nicht alleine zu sein.

„Dort drüben, dies ist das Versteck von diesem Tyrannen“, sprach die alte Frau zornig. `Sieht wie eine kleine, alte verlassene Kathedrale aus…`

„Und nun? Ich kann schlecht einfach unüberlegt in die Höhle des Löwen reinmarschieren…“, meinte Miceyla und wollte zu der Frau blicken, um irgendwelche Ratschläge zu erhalten, jedoch war diese plötzlich spurlos verschwunden. `Das kann jetzt nicht wahr sein!`

„Wo sind Sie?“ Aber sie bekam keine Antwort. `Ich bin den ganzen Weg nicht umsonst hergekommen…`, dachte sie und versuchte sich zusammenzureißen. Miceyla sammelte all ihren Mut, trotz der unbändigen Furcht die sie verspürte und wollte sich wenigstens mal ganz kurz davon vergewissern, ob tatsächlich im Moment jemand in der Kathedrale war. Langsam schritt sie von der Seite aus, über den matschigen Boden, auf die Eingangstür zu und lauschte. Nichts war zu hören. Sachte öffnete sie die schwere knarrende Tür und warf einen Blick ins Innere. Ihr Herz schlug wie wild in ihrer Brust. Mehrere Fackeln flackerten in der Ferne. Es schien sich wirklich hier gerade jemand aufzuhalten. Das Dach war undicht und der Regen sammelte sich in unzähligen Pfützen am Boden. Es roch modrig und der Wind pfiff unheimliche Geräusche. Miceyla hatte die Wahl, eine Treppe nach unten oder nach oben zu nehmen. Sie entschied sich für letzteres und suchte die Kathedrale dabei gründlich nach einem brauchbaren Gegenstand ab, der sich als Waffe eignete. Für den Ernstfall, damit ihr wenigstens eine geringe Chance auf Verteidigung blieb. Doch fand sie leider kein solches Hilfsmittel. Oberhalb führte sie ein kurzer Gang, wieder ein kleines Stück hinunter zu einem einzigen großen Raum, bei dem die Tür fehlte. Erleichtert stellte sie fest, dass niemand dort war.

„Ahhhhhh!“ Vor Schreck zuckte Miceyla zusammen, als sie von unterhalb einen quälerischen Schrei hörte. Mit vollster Konzentration, lief sie über die durchgeweichten Holzbalken. Glücklicherweise übertönte der Sturm ihre knirschenden Schritte. Sie entdeckte einen Spalt zwischen den Balken, durch den dämmriges Licht hervorschien. Behutsam legte sie sich auf den Boden, um hindurchlugen zu können. Unmittelbar unter ihr stand ein recht ordentlich gekleideter Mann und hielt ein längliches Messer, mit spitzen Zacken an der Klinge, an welcher sich glänzende blutrote Flecken befanden, in der Hand. `Das muss ein Alptraum sein…!` Ihr Blick wanderte weiter und sie sah einen an der Wand, mit rostigen Ketten gefesselten Jungen. Bei ihm musste es sich um besagten Jungen handeln, von dem die alte Frau sprach. Sie schätzte ihn auf ein Alter von etwa fünfzehn ein. Doch bei seinem kritischen Zustand wurde ihr speiübel. Man hatte ihm brutal seine Oberbekleidung vom Körper gerissen und an diversen Stellen, waren ihm gigantische Fleischwunden zugefügt worden. Sein linker Arm war unnatürlich verrenkt und ihm fehlten einige Fingernägel. Eine Schnittwunde zog sich quer über seine Stirn und das Blut floss ihm das Gesicht hinab. Der Junge sah ohnehin schon sehr mager aus und litt ganz offensichtlich unter Armut und Hungersnot. Er würde nicht mehr lange durchhalten. Plötzlich gaben die Holzbalken unter ihr etwas nach und es knackte unheilvoll. `Bitte alles nur das nicht! Wenn ich hier abstürze…!` Panisch versuchte sie ihr Gewicht gleichmäßig zu verlagern und wollte über die Balken zurückkriechen. Doch es war zu spät, das Holz brach vollends unter ihr auseinander. Folglich stürzte Miceyla kreischend mit einem Teil des Bodens hinab und landete geradewegs polternd, in der Folterkammer des schändlichen Mannes. Benommen stützte sie sich mit ihren pochenden Händen, auf dem harten Untergrund ab. Sie hatte sich einige Splitter zugezogen beim Sturz. Von Glück konnte sie sagen, dass es kein tiefer Fall gewesen war und sie keine ernsthaften Verletzungen davontrug. Jedoch sollten die eigentlichen Probleme, erst in diesem Augenblick beginnen.

„Wo zur Hölle kommst du Göre denn auf einmal her? Ach egal, soll mir nur recht sein. Bist du eben als nächstes dran!“, sprach der garstige Mann lüstern und pfiff zweimal ganz laut hintereinander. Am Eingang der schauderhaften Kammer, erschien ein weiterer stämmiger Mann und hielt einen langen Schlägerstock in seiner massiven Hand, an der viel Schmutz klebte.

„Klasse! Endlich darf ich auch mal etwas Spaß haben! Lass uns spielen Kleine, he, he!“, freute dieser sich mit gieriger Verdorbenheit. `Zwei Wahnsinnige auf einen Streich…`, dachte Miceyla voll hilfloser Bestürzung und die Angst verzehrte sie von Sekunde zu Sekunde mehr. War sie wirklich dazu verdammt, an diesem Ort zu sterben? Sollte sie ihrer Machtlosigkeit erliegen, aufgeben und die gewalttätigen Männer gewinnen lassen? Nein! Zumindest würde sie sich ihnen nicht komplett widerstandslos ausliefern und nichts durfte unversucht bleiben. `Kämpfe! Sei stark!`, spornte sie sich zitternd in Gedanken an und ließ hastig ihren Blick, durch den in ein schwaches Licht getauchten Raum schweifen. Der breit grinsende, blutrünstige Mann mit dem Schlägerstock, schritt zielstrebig auf die noch immer am Boden kauernde Miceyla zu, während der andere sich weiter mit dem hageren Jungen vergnügte.

„Huh? Kannst dich nicht mal mehr bewegen? So wird das aber sehr langweilig…“ Der Mann beugte sich verärgert ein wenig über sie. Da schoss sie plötzlich, ohne sich vorher verraten zu haben, in die Höhe und versetzte ihm mit der Faust einen heftigen Kinnhaken. Dann griff sie blitzschnell zu einem Tisch, auf welchem mehrere Folterinstrumente lagen und packte eine Art Eisenstange. Anschließend stürmte sie in hoher Geschwindigkeit aus dem Raum und die schmale Treppe hinauf.

„Uh…Oh…! Du elendes Miststück! Na warte, wenn ich dich erwische!“, zischte der Mann erzürnt und rieb sich sein wundes Kinn. Unterdessen raste sie auf den Ausgang der Kathedrale zu. Nichts anderes blieb ihr übrig als zu fliehen, sie war der Sache einfach nicht gewachsen. `Vergib mir, dass ich dich nicht retten konnte…`, dachte sie schmerzvoll und Schuldgefühle nagten an ihrem Gewissen, sobald sie an den leidenden Jungen dachte. Wie eine Verrückte zerrte Miceyla an der Tür, doch ging diese keinen Spalt weit auf. Zu ihrem Übel hatte man sie zugesperrt. `So ein Mist! Schlimmer kann es ja gar nicht mehr kommen! Aus der Flucht wird wohl vorerst nichts…`

„Wo bist du Schneckchen? Vor mir kannst du nicht fliehen…“ Angsterfüllt fuhr sie herum und hörte wie der Mann von unten die Treppe hochstapfte und ihre Verfolgung aufnahm. Die einzige Möglichkeit die ihr blieb, war wieder in den oberen Raum in dem sie runterfiel zurückzukehren, um sich etwas Zeit zu verschaffen. `Es muss doch irgendeine Lösung geben…!` Wenigstens hatte Miceyla nun eine einigermaßen brauchbare Waffe, um sich zur Wehr zu setzen. Somit spurtete sie hinauf, dabei wäre sie um ein Haar auf der rutschigen Treppe ausgerutscht. Jedoch schaffte sie es noch rechtzeitig das Gleichgewicht wiederzufinden. Oben angelangt mied sie das große Loch im Boden und lief an der Wand entlang, in den hintersten Winkel des schimmlig feuchten Raumes. Miceyla musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzuschreien, als sie sich ein paar der Splitter aus den schmerzenden Händen zog. In diesem Moment wünschte sie sich ihr langweiliges Alltagsleben zurück und die erdrückenden Erinnerungen der Vergangenheit holten sie ein. Doch es wurde eine zu kurze Verschnaufpause, um in Selbstmitleid zu versinken. Ihr auflauernder Verrückter, befand sich kurz vor der Türschwelle.

„Ich weiß das du hier bist Süße. Du kannst nicht von hier entkommen oder dich vor mir verstecken…“, rief er selbstüberzeugt und kicherte leise vor sich hin. Da leider zu viel Licht von unten nach oben leuchtete, entdeckte der Mann sie sofort. Aber er war nicht dumm genug und lief mit langsam prüfenden Schritten, über den glitschigen Holzboden. Die restlich verbliebenen Balken im mittleren Bereich, würden ihr Gewicht gerade noch so tragen können. Doch bei dem schweren Mann, sollte es ziemlich kritisch werden. Irgendwie musste es ihr gelingen, den Kerl weiter in die Mitte zu locken. Die letzten kläglichen Kräfte sammelnd, schoss Miceyla mit der Eisenstange festumklammernd auf ihn zu und sprang dabei geschickt von einer sicheren Stelle des Bodens zur nächsten, bis sie bei ihrem Widersacher angelangte.

„Ha, ha! Komm nur, komm nur!“, schrie er mordlustig und holte weit mit seinem Stab aus. Gekonnt duckte sie sich unter seinem kraftvollen Hieb hinweg und versetzte ihm einen intensiven Stoß, mit der Spitze der Eisenstange seitlich gegen die Hüfte.

„Ahhh!“ Überrascht stieß er einen qualvollen Schrei aus und schwankte etwas umher. Aber natürlich ließ dieser hartgesottene Mann, sich nicht so leicht von ihr außer Gefecht setzen. Sofort fing er sich wieder und griff sie erneut mit wutverzehrter Miene an. Geschickt parierte Miceyla, die von Zorn domminierten Schläge des Mannes mit der Eisenstange. Auch wenn dies ihr nur zu einer kurzweiligen Verteidigung verhalf. Zwar war er ihr kräftemäßig weit überlegen, doch war sie wesentlich flinker und reaktionsschneller. Über ihre eigene Geschicklichkeit verwundert, lief sie einige Schritte rückwärts in Richtung Mitte. Ihr Plan ging auf und der tobsüchtige Mann folgte ihr mit umherfuchtelndem Schlägerstab.

„Wah!“ Er krachte mit einem Fuß durch die Holzdielen und blieb mit dem Bein im Boden stecken.

„Diese verfluchte gammlige Hütte!“, fluchte er und versuchte vergeblich sein Bein wieder hinauszuziehen. Miceyla nutzte seine kurze Unaufmerksamkeit und rammte ihm die Eisenstange zwischen den Brustkorb. Er brüllte ohrenbetäubende Laute. Leider jedoch fehlte es ihrem Stoß an Durchschlagskraft. Ihre nassen und verletzten Hände rutschten an der Stange hinunter und milderten den Angriff. Wie ein randalierendes Monstrum packte er sie brutal am Hals und schleuderte sie von sich weg. Mit einem dumpfen Aufprall stieß sie gegen die Wand und fiel zu Boden. Benebelt hustete sie stark und fasste sich auf den pochenden Hals. Ein wenig Blut floss ihr aus dem Mund. In Begleitung eines schallenden Kriegsschreis, riss der Mann seinen Fuß aus dem Boden und war drauf und dran wieder über sie herzufallen. Aber das Glück war ihr hold und die Balken unter ihm brachen entzwei. Mit unkontrollierten Armbewegungen fiel er donnernd hinab. Schwankend richtete Miceyla sich auf und nahm die fallengelassene Eisenstange wieder an sich. Vor dem Loch stehend blickte sie hinab und sah, dass der abstoßende Mann wie ein Käfer auf dem Rücken lag und vor Schmerzen gekrümmt aufstöhnte. Da blitzte etwas Glänzendes aus seiner Hosentasche hervor. `Der Kerl hat den Schlüssel!` Ohne weiter nachzudenken, sprang sie von oberhalb durch die große Öffnung im Boden auf ihn drauf und versetzte ihm einen ordentlichen Schlag gegen den Schädel, der ausreichte, um ihn wenigstens für eine kurze Zeit ohnmächtig zu machen. Daraufhin ließ sie von ihm ab.

„Unsere kleine Puppe war wohl etwas unartig… Vielleicht sollte ich sie mal ein klein wenig züchtigen…“ Wie gelähmt erstarrte Miceyla. `S-stimmt… E-er ist ja auch noch da…` Während der ganzen wilden Hetzjagd, hatte sie den zweiten Widerling vollkommen ausgeblendet. So langsam war ihr Limit erreicht. Zu allem Überfluss sah es ganz danach aus, als wäre nun auch noch die Tür zu diesem Raum abgeschlossen. Es gab kein Entkommen mehr, sie saß in der Falle… Der einzige Schlüssel den der andere Mann bei sich trug, passte sehr wahrscheinlich nur zu dem Eingangstor der Kathedrale.

„Ha, ha! Sieh genau her, in was für ein prachtvolles Kunstwerk, ich unsere halbe Portion hier verwandle! Nicht drängeln, danach verschönere ich dich. Zeig mir vorher dein verzweifeltes Gesicht, ha, ha, ha!“, forderte der geisteskranke Mann sie dazu auf, seine Taten mitzuverfolgen. Eine in der Hand haltende Säge, führte er zu dem rechten Ohr des Jungen. Ob sie es wahrhaben wollte oder nicht, tatsächlich war es sein Vorhaben ihm das Ohr abzusägen. Die Brust des Jungen hob und senkte sich ganz langsam. Noch war er am Leben.

„Aufhören! Sie verabscheuungswürdiges Monstrum! Soll man Sie doch zu Tode quälen! Sie sind kein richtiger Mensch mehr! Nur ein bemitleidenswertes Tier! Jeder Bettler besitzt mehr Würde als Sie!“, beschimpfte Miceyla den Mann ohne jede Zurückhaltung. Dabei kroch sie auf ihren Knien über den blutbefleckten Boden und warf die Eisenstange in ihrer Hilflosigkeit nach ihm.

„Du dreckiges Weibsstück!“ Er wandte sich von dem halbtoten Jungen ab und funkelte sie angriffslustig an. Da hörte sie plötzlich ein Klacken hinter sich. Jemand hatte einen Revolver entsichert.

„So einfach lässt sich der alte Perry nicht umlegen! Nu ist Schluss mit lustig, du kleine räudige Furie!“, schnaubte der Mann hinter ihr, welcher nicht mehr bewusstlos war und richtete eine Pistole auf sie. Allerdings hielt er sich mit der anderen Hand den wunden Kopf und seine Augen blickten glasig durch schmale Schlitze geradeaus. Anscheinend konnte er nur verschwommen sehen.

„Wo waren wir stehen geblieben…?“ Der andere Folterknecht, setzte erneut seine Säge oberhalb am Ohr des Jungen an. Blut floss in mehreren Rinnsalen seitlich an dessen Kopf hinab.

„Neiiiiiin! Niiiiicht…!“, schrie sie und wollte wegschauen, doch zwang ihre Gelähmtheit sie dazu weiterhin zuzusehen. Entweder starb Miceyla einen schnellen Tod und wurde erschossen oder sie konnte sich langsam zerstückeln lassen… Egal wie es für sie ausging, sie befand sich in einer Zwickmühle… Längst waren all ihre Sinne wie benebelt und sie meinte schon das Tor zur Hölle betreten zu haben. Und dennoch gab es noch einen allerletzten Gedanken den sie hatte. Ob er vernünftig war oder nicht, schien in jenem Moment unbedeutend. `Der Mann hinter mir wird nicht so schnell reagieren können… Wenn der Junge und ich hier schon unser Leben lassen müssen, will ich wenigstens einen von diesen Teufeln mit ins Grab nehmen… Am Ende spielt es sowieso keine Rolle… Niemand würde mich retten kommen und niemand wird sich an mich erinnern… Ich zerfalle zu Asche und verschwinde einfach… Niemand!... Niemand!... Ich hasse diese Welt, in der solche Monster existieren! Das Leben ist bereits die Hölle!... Niemand!... Niemand!...` Miceyla stand auf, schnappte sich ein großes Messer vom Tisch und stürzte auf den Mann zu, der den Jungen massakrierte. Doch ehe sie diesen erreichte, landete direkt vor ihr aus dem Nichts heraus eine Gestalt mit schwarzem Umhang, die von oben herabgesprungen kam, wie ein riesiger dunkler Schatten. Schwungvoll trennte diese mysteriöse Person, mithilfe einer langen scharfen Klinge, zielgenau den Kopf des Folterers ab. Der Kopf plumpste mit einem ausdruckslosen Gesicht darauf zu Boden und rollte ein Stück weit. Augenblicklich fiel der kopflose Körper um, noch immer die Säge in der Hand haltend. Ein See aus dickem dunkelrotem Blut, bildete sich gemächlich auf dem Boden. Beinahe zur gleichen Zeit ertönte von oberhalb ein Schuss und traf den anderen Mann hinter ihr. Dieser kippte ebenfalls leblos um. Zwar war es eine schaurig unmenschliche Vorstellung gewesen, doch schien Miceyla gerettet worden zu sein. Jedoch was sie kurz darauf erfahren sollte, vernichtete fürs Erste ihren reinen Glauben an das Gute… Die nicht identifizierbare Gestalt drehte sich vor ihr um, nahm die Kapuze seines schwarzen Umhanges vom Kopf herunter und sein Gesicht kam zum Vorschein. Miceyla ließ das Messer in ihrer Hand fallen und sank verstört zu Boden. Scharlachrote Augen blickten ihr entgegen und ein passioniertes Lächeln umspielte die Lippen des jungen Mannes. Niemand anderes als William Moriarty stand da gerade vor ihr. Aber war das wirklich der William, den sie kennengelernt hatte? Wohin war der vornehme Prinz verschwunden, der gütige Engel, mit dem sie auf dem Ball tanzte? Vor ihr stand bloß ein Dämon, mit einer heißblütigen Mordlust. Sie zuckte verschreckt, als ein Mann von oben herabgesprungen kam.

„Sauberer Schuss, Moran. Nichts anderes habe ich von dir erwartet“, lobte ihn William.

„Ich fühle mich geschmeichelt“, erwiderte Moran grinsend. Da wurde auf einmal von außen die Tür aufgeschlossen und zwei weitere Männer marschierten herein. `Nein…nein…das kann alles unmöglich sein…` Es handelte sich bei ihnen um Albert und Louis.

„Fred, kümmere dich bitte um den Jungen“, bat William und noch eine Person betrat geräuschlos den Raum. `Das ist doch die alte Frau!`, erkannte Miceyla sie verdutzt wieder. Besagte Frau nahm sich eine Maske vom Kopf und das Gesicht eines jungen Mannes, mit kurzen dunklen Haaren wurde sichtbar.

„Mach ich“, sprach dieser knapp. Er löste ohne Probleme die Fesseln von dem schwerverletzten Jungen und trug ihn sogleich hinaus. Nun fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Bei dem Meisterverbrecher handelte es sich um keinen geringeren als William Moriarty. Besser gesagt, alle hier anwesenden waren mit von der Partie. Jegliches Zeitgefühl hatte Miceyla verloren. Sie fühlte sich leer und verloren. Wie erbärmlich sie gerade aussehen musste. In Schweiß und Regen gebadet. Die Haare klebten ihr nass an der Stirn und von Kopf bis Fuß war sie völlig verdreckt. Sie wollte nicht das William sie so sah. Nun zerplatzte die Erinnerung an den Ball, wie eine flüchtige Luftblase. Ein schöner Traum, der sich in einen düsteren Albtraum verwandelt hatte. Ihr Herz drohte zu zerbrechen. Da liefen Miceyla endlich Tränen die Wangen hinunter. All die Tränen, welche sie die ganze Zeit über tapfer zurückhalten konnte. Nun waren sie nicht mehr zu unterdrücken. Sie weinte unaufhörlich. Dieses Trauma und dieser Schmerz, all das war für sie kaum zu ertragen…
 

Liebes Tagebuch, 26.2.1880
 

es fällt mir wahrlich schwer, über jene albtraumhafte Nacht zu schreiben, ohne das meine Hand an zu zittern fängt... Dieses Erlebnis hat mir offenbart, zu was ein machtvoller Mensch fähig ist und mit welcher Leichtigkeit er andere kontrollieren kann. Der schöne anmutige Schmetterling, wird bei Nacht zu einer bedrohlich räuberischen Motte. Ich…ich will mich einfach nicht länger daran erinnern müssen. Doch kann ich den grauenvollen Bildern, die vor meinem geistigen Auge erscheinen, nicht entkommen. Ich wurde gefangen, nur um gerettet zu werden. Doch welche Seite ist böse und welche gut? Die wandernden Schatten haben mich verschlungen… William… Ich gestehe, in meinen Augen bist du selbst als ein erbarmungsloser Verbrecher noch wunderschön. Skrupellos, unbeirrt und charakterstark. Bewahre dein gutes Herz, das tief in dir verborgen schlummert. Dein aufrichtiges Lächeln ist sehr wertvoll für mich geworden. Lass es nicht zu einer Lüge werden. Du wirst dich sonst nur selbst in dein eigenes Verderben stürzen…
 

Wandernde Schatten
 

Wie tobende Wellen riss es mich voran,

ich wollte mich abwenden, eines Besseren ich mich jedoch besann.

Deine fernen Rufe haben mich geweckt,

all meinen Mut hab ich in die letzte Hoffnung gesteckt.
 

Vergebens versuchte ich in deinem dahinschwindenden Schatten zu bleiben,

während die lüsternen Bedrohungen sich unablässig an mir reiben.

Ohne Licht konntest du nicht bestehen

und ich war gezwungen in die Gegenwart zurück zu gehen.
 

Da froren all die Wellen zu Eis durch die Kälte,

doch der Himmel sich langsam wieder erhellte.

In meinen Augen sahst du das Glück auf Erden

und das ungleiche Paar das wir nie mehr sein werden.
 

Dennoch wird irgendwo im Verborgenen mit einem Schlag,

ein neues Licht erscheinen wie an jenem schicksalhaften Tag.

So lass mich erneut für dich scheinen

und du als Schatten für mich wirst weinen.

Gefangen in Lügen

„Es ist jetzt alles vorüber…“, beruhigte William Miceyla mit sanfter Stimme und wollte ihr eine Hand auf die Schulter legen. Aber sie wich nur wie in Trance zurück.

„Das war zu viel für Miceyla, Will…“, meinte Albert verdrießlich. Er beugte sich zu ihr hinunter und legte eine Decke um sie. Geschwächt und unterkühlt, drückte sie sich gegen seinen warmen Körper. Daraufhin nahm er sie feinfühlig in die Arme und sie weinte kontinuierlich weiter.

„Natürlich… Von ihrer erschütterten Reaktion war auszugehen…“, sprach William leise. Sein weicher Tonfall passte kein kleines bisschen, zu seinem grausamen Auftreten.

„Zeig mir mal deine Hände… Das sieht nicht gut aus. Wir müssen die Wunden säubern, damit sich nichts entzündet. In der Kutsche haben wir sauberes Wasser und einen Verband. Kannst du laufen?“, fragte Albert sie ruhig, woraufhin sie nur stumm nickte und sich erhob. `Wie schön für euch, dass ihr so gut vorbereitet seid…`, dachte sie gekränkt.

„Verlassen wir diesen unschönen Ort. Lange genug musstest du Angst und Leid erdulden, Miceyla. Dafür muss ich mich aufrichtig bei dir entschuldigen. Doch diente das alles einem guten Zweck. Du wirst uns mit auf unser Anwesen begleiten, es gibt einiges zu besprechen“, kündigte William an. Die kleine Truppe lief los und verließ die Geisterkathedrale. `Das war ja klar, dass sie mich nicht einfach nach Hause gehen lassen… Bin ich jetzt eine Gefangene?` Auf dem Weg überkamen sie besorgniserregende Befürchtungen. Ihre Tränen versiegten langsam. Die ewige Nacht würde sehr bald vorbei sein. Mittlerweile hatte der Regen nachgelassen, doch noch immer wehte ein eisiger Wind. William setzte sich in der Kutsche neben Moran, Miceyla auf die gegenüberliegende Sitzbank neben Albert. Louis fuhr die Kutsche. Sie ließ Albert gewähren und er versorgte behutsam ihre Verletzungen an den Händen. Sobald er damit fertig war, drehte sie sich ohne ein Wort des Dankes zur Seite und mit leerem Blick sah sie hinaus. Stur bemühte sie sich darum, William keines Blickes zu würdigen. Gerade konnte sie ihm einfach nicht in die Augen sehen. Die Kutschfahrt schien nicht enden zu wollen. Keiner der vier sprach auch nur ein einziges Wort. Alle drei jungen Männer bemühten sich dem Anschein nach darum, auf ihren ermüdeten Gefühlszustand Rücksicht zu nehmen. Als sie nach einer langen Fahrt ihr Ziel erreicht hatten, betrat Miceyla in Begleitung der Moriarty-Brüder und Moran, zum dritten Mal das große Anwesen. Doch jetzt kam es ihr auf einmal kalt und befremdlich vor.

„Bald wird es dämmern. Miceyla, wir stellen dir trockene Kleidung und ein Zimmer zur Verfügung. Du solltest etwas schlafen. Später werden wir…“, begann William ihr zu erklären.

„Nein! Ich werde garantiert kein Auge zumachen können, ehe ich Antworte erhalten habe!“, fiel sie ihm ins Wort und sah ihn nun selbstsicher direkt an. Allmählich kehrte ihr klarer Verstand zurück und sie verdrängte die Müdigkeit.

„Wie du magst. Ich akzeptiere deine Entscheidung. Aber bitte lass dir vorher von Louis zeigen, wo du dich umziehen kannst. Sonst wirst du mir krank. Wir versammeln uns dann gleich“, bat William einverstanden und sie ließ sich von Louis zu einem Badezimmer führen. Dort entledigte sie sich all ihrer klatschnassen, verdreckten Kleidung und zog ein trockenes Kleid an, welches man ihr bereitlegte. Rasch wusch Miceyla sich noch grob das Gesicht, bevor sie wieder raus zu dem geduldig wartenden Louis lief. Sie folgte Williams Bruder eine Treppe hinunter, die in den Keller führte und betrat nach ihm einen Raum, in welchem bereits die drei jungen Männer warteten. William stand mit verschränkten Armen vor einer Wand, an der etliche Pläne und Skizzen gehäfftet waren. Erwartungsvoll lächelte er sie an. Miceyla setzte sich wortlos auf einen freien Stuhl zwischen Moran und Albert.

„Hier, bitte sehr. Zum Aufwärmen. Wir können dir auch etwas zu essen anbieten.“ Ihre kalten Hände nahmen dankbar, die von Albert rübergereichte heiße Teetasse entgegen. Doch was das Essen betraf, so musste sie den Kopf schütteln. Noch immer plagten sie verstörende Bilder im Geiste, die ihr den Appetit verdarben.

„Gut, dann fangen wir mal an. Ich gebe dir mein Wort, dass ich all deine Fragen ehrlich beantworten werde“, begann William die Unterredung und richtete seinen Blick geruhsam auf Miceyla. Nun war er nicht mehr in seinen schwarzen Mantel gehüllt. In Hemd und Weste sah er wieder ganz wie der Alte aus. Die Männer zeigten nicht mal ein klein wenig Reue oder Erschöpfung, sondern verhielten sich so munter und aufgeweckt wie eh und je. Tatsächlich schienen sie einen professionellen Umgang, mit dem planen und ausführen von Verbrechen zu pflegen.

„Gehe ich richtig der Annahme, dass all die beispiellosen Morde an hauptsächlich Adeligen, auf euch zurückzuführen sind? Und du William, bist der kluge Kopf im Hintergrund, welcher sich alles meisterlich ausdenkt“, identifizierte sie seine wahre Person.

„Das hast du richtig erkannt. Dann beginne ich einmal ganz von vorne und weihe dich in unser Vorhaben ein. Zumindest gebe ich dir für den Anfang, eine kleine Kurzfassung davon. Wir engagieren uns schon seit Kindheitstagen und setzen uns für eine Gleichberechtigung in der Gesellschaft ein. Du erinnerst dich bestimmt noch an unser ausgiebiges Gespräch, bei dem du selbst deine eigene negative Meinung, zu den Standesunterschieden geäußert hast. Um es klarer auszudrücken, wir, die Moriarty-Brüder, werden gemeinsam mit unseren Verbündeten, das gesamte Land verändern, es neugestalten und es von der Befehlsgewalt des Adels reinwaschen. Dafür bedarf es aufwendiger Strategien, auch Opfer lassen sich nicht vermeiden. Jedoch stehe ich konsequent hinter meinen Plänen und werde das Leben, welches mir Albert zu jener Zeit geschenkt hat, weise nutzen“, brachte William langsam aber sicher Licht ins Dunkel.

„Wahrlich eine tollkühne Revolte… Mir ist es bereits von Anfang an aufgefallen… Ihr drei…“, murmelte Miceyla und warf einen Blick seitlich zu Albert.

„Sprich es ruhig aus“, meinte dieser lächelnd.

„…Louis ist dein jüngerer Bruder, William. Doch ihr seid beide nicht mit Albert blutsverwandt…“, enthüllte sie ihre Vermutung.

„So ist es“, bestätigte William ihre Aussage, ohne weitere Einzelheiten preiszugeben.

„Wie auch immer… Ich lasse eure mysteriöse Vergangenheit mal außen vor. Aber wie wollt ihr all diese bizarren Visionen bewerkstelligen? Den ganzen Adel einfach niedermetzeln? Und damit sei es getan? Glaubt ihr, die Regierung von England und Königin Victoria, machen sich keine Gedanken über die Entwicklung unseres Landes? Wollt ihr euch durch Gesetzwidrigkeit, eine ganze Nation zum Feind machen?“, warf Miceyla ungestüm etliche Fragen in den Raum.

„Du hinterfragst die Tatsachen kritisch. Das gefällt mir. Nur musst du eingestehen, dass sich von alleine gar nichts ändern wird. Der Adel hält die Macht in Händen. Du brauchst dir lediglich unser Polizeisystem zu vergegenwärtigen. Führt eine adelige Person eine Straftat aus, wird immer ein Auge zugedrückt. Natürlich planen wir unsere Vorhaben nicht erst seit gestern und haben auch nicht vor, morgen bereits alle Ziele erreicht zu haben. Wir erarbeiten uns alles taktvoll Schritt für Schritt und werden mit kleinen Handlungen, große Ergebnisse erzielen. Nehmen wir als Beispiel den Fall mit Lord Blanchard…“, erläuterte William und versuchte durch sachliche Ansätze, ihr Misstrauen einzudämmen.

„Richtig! Alles ergibt nun Sinn, dort hattet ihr auch eure Finger mit im Spiel. In den Zeitungen stand etwas von einem Lord Ridley… Selbst Sherlock konnte keine Beweise finden, daher war er so frustriert. Ja, Sherlock… Er verfolgt deine umfangreichen Verbrechen mit regem Interesse und ist euch stets auf den Fersen. Ich denke ihr wisst das…“, stellte Miceyla fest und unheilvolle Vorahnungen überkamen sie.

„Lord Ridley war für uns nur ein Mittel zum Zweck. Wir haben sozusagen zwei Adelige aufeinandergehetzt. Damit wollten wir den Menschen einen kleinen Denkanstoß geben. Bei Gelegenheit erzähle ich dir gerne, die gemeinen Machenschaften von Lord Blanchard. Du hast endlich Sherlock erwähnt… Der Detektiv Sherlock Holmes ist mit Abstand der einzige, der mit dem Niveau unserer Vorgehensweisen mithalten kann. Du kennst ihn sicherlich mittlerweile recht gut und auch seine Methoden. Wir nutzen sein unermüdliches Arrangement, um die Wahrheit der bösen Adeligen ans Licht zu bringen. Auf der Kehrseite wiederum ist er der einzige, der uns wirklich im Wege stehen könnte. Nur ist er zu gutherzig. Sollte er dennoch eine schwerwiegende Bedrohung für uns darstellen… Nun, dies darfst du dir selbst zusammenreimen…“, machte William heimtückische Anspielungen und zeigte ihr ein schamloses Grinsen. Miceyla erschauderte und schluckte heftig. Doch er wollte sie in diesem Moment, keinen angsteinflößenden Vorstellungen aussetzen und lächelte sie wieder liebevoll und gütig an.

„Dann diente diese schreckliche Nacht dazu…“, flüsterte sie kleinlaut.

„…Um herauszufinden ob du geeignet bist, dich unserer Gemeinschaft anzuschließen. Bereits bei unserer ersten Begegnung, sind mir deine herausragenden Charakterzüge aufgefallen und verdienten sich mein Interesse an deiner Person. Du wärst eine wertvolle Gefährtin für uns, die unsere selben Grundeinstellungen teilt“, offenbarte William den Grund ihres brenzligen Abenteuers.

„Dann schließe ich daraus, dass ich deine Erwartungen erfüllt habe… Was wäre allerdings gewesen, wenn ich nicht auf die flehende Bitte von der alten Frau…ähm…ich meine von dem jungen Mann eingegangen wäre und mich gar nicht erst auf diese wagehalsige Geschichte eingelassen hätte?“, fragte sie gespannt. Langsam siegte die Neugierde über ihren Argwohn.

„Nun, dann wärst du schlicht und ergreifend bei unserem kleinen Test durchgefallen. Denn was nützt dir oder uns deine schnelle Auffassungsgabe, wenn du sie nicht in der Praxis einsetzen kannst. Wir mussten dich in Bredouille bringen. Dadurch wollten wir einen Eindruck erhalten, ob du in einer ernsten Situation deine Grenzen überschreiten und dich trotz deines braven Wesens, rechtswidriger Mittel bedienen könntest. Somit stellten wir einen Ernstfall nach. Was nicht heißen soll, dass ich vorhabe dich zukünftig als mordende Attentäterin einzusetzen. Es ging darum, dass du eine genaue Vorstellung davon bekommst, wie eine solche Situation ausgehen kann und dementsprechend richtig handelst. Ich werde dich zu nichts zwingen, was du nicht tun willst. Dennoch musst du unsere Pläne beherzigen und pfleglich befolgen“, fuhr William detailgetreu fort. `Das klingt ja fast so, als hätte ich dir schon mein Einverständnis gegeben… Und ihr habt keinen Ernstfall nachgestellt, es `war` ein Ernstfall!`

„Verstehe… Ich mag gar nicht daran denken… Aber was, wenn etwas schiefgelaufen wäre und alles in einer einzigen Eskalation geendet hätte… Sprich, wenn ich von den beiden Männern vorher überwältigt worden wäre und sie mich…“ Miceyla blieben ihre Worte im Hals stecken und konnte nicht weitersprechen.

„Wir hätten zu jeder Zeit einschreiten können. Du hast zwar keinen von uns bemerkt und doch haben wir all deine Schritte genaustens mitverfolgt. Glaube mir, mein Herz hat mit dir gelitten. Ohnehin musstest du schreckliches erdulden, wir wären dich auch bereits eher retten gekommen. Doch sieh es positiv, deine Darbietung war freilich heldenhaft. Da durftest du dich mal ganz, wie die tapfere Kriegerin aus deinen Geschichten fühlen“, versuchte Albert sie durch ehrlich gemeinte Worte aufzuheitern. Auch wenn es nur zaghafte Anzeichen waren, so bemühte sie sich dennoch darum, ihn dankbar anzulächeln. Sogleich jedoch, überkam sie wieder der brennende Schmerz von Enttäuschung im Herzen. `Der Ball… Das Kleid… All die entgegenkommenden Handlungsweisen… Sind das alles nur Floskeln gewesen? Eine vorgegaukelte Finte, um meine Sympathie zu gewinnen?` Bei diesem Gedanken drohte die Trauer sie zu erdrücken.

„Ich weiß ganz genau was du gerade denkst, Miceyla. `Haben mir die Moriarty-Brüder ihr freundschaftliches Verhalten nur vorgespielt?` Also, zu einem kleinen Teil mag das stimmen…“, hob William neutral an. Ihr Herz verkrampfte sich immer mehr.

„Sagen wir, dieser kleine Teil hat fünf Prozent ausgemacht und war eine Unausweichlichkeit, die du in den gesamten Plan, also deine Bewährungsprobe, miteinrechnen kannst. Da bleiben noch die fünfundneunzig Prozent übrig. Das ist nicht gerade wenig, oder? Folglich war unser aufgeschlossenes Interesse an dir und deiner besonderen Persönlichkeit, die pure Wahrheit. Bedenke, dass ich mir nicht für jede dahergelaufene Person, solche Mühe machen oder sie gar auf einen Ball einladen würde. Miceyla…ich habe unseren Tanz als ein wunderschönes Erlebnis in Erinnerung. Und ist es dir nicht auch wichtig, zukünftig dafür zu kämpfen, dass diese prägenden Momente häufiger stattfinden? Das alle Menschen dieses glückselige Gefühl kennenlernen?“, fuhr William fort und verlor sich in seinen eigenen träumerischen Gedanken. Dies konnte Miceyla an seinen klaren roten Augen ablesen, in denen sich das friedlich flackernde Kerzenlicht spiegelte. Alles was er sagte war ehrlich gemeint. Ein paar flüchtige Tränen entglitten ihr. Doch jetzt waren es die Tränen der Beruhigung zu wissen, dass ihre Empfindungen nicht völlig dem Betrug zum Opfer fielen.

„Ja…ja das wünsche ich mir…“, antwortete sie und lächelte gedankenversunken.

„Dann schließe dich mir, uns allen an. Wir bieten dir einen neuen Platz im Leben, wo du etwas erreichen und deine Träume verwirklichen kannst. Niemand außer uns wäre dazu in der Lage. Nicht das du glaubst, wir würden dich zu einer Sklavin machen, die stur unseren Befehlen Folge leisten muss. Nein, ich erhoffe mir eine vertrauliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Sonst verletzte ich meine eigenen Prinzipien. Werde zu einem Vorbild für andere Frauen, in allen Schichten der Gesellschaft. Du hast die geeigneten Ambitionen dafür. Und außerdem können wir dir bei so manchen Dingen behilflich sein. Wie zum Beispiel deine Werke zu veröffentlichen… Das einzige was ich von dir verlange ist, dass du mir deine absolute Treue schwörst“, lockte William sie dazu ein Bündnis einzugehen.

„Dir muss klar sein, dass ich mich nicht durch Erpressungen beeinflussen oder manipulieren lasse. Und was ist mit Sherlock? Du wirst bestimmt darauf bestehen, dass ich mich nicht mehr mit ihm treffen darf. Habe ich recht? Da habe ich eindeutig etwas dagegen! Und garantiert agiere ich nicht als Doppelspionin und würde zulassen, dass du unsere Freundschaft ausnutzt. Das ist `mein` einziges Anliegen“, stellte sie lautstark klar und versuchte sich dabei nicht, von ihrem Respekt für die drei Brüder einschüchtern zu lassen. `Was passiert eigentlich mit mir, falls ich ablehne? Werde ich dann kaltblütig beseitigt?... Nein…das würde William niemals tun. Er vertraut mir…` Dies hoffte sie zumindest…

„Nicht doch, es wäre viel auffälliger, wenn du plötzlich den Kontakt mit ihm abbrechen würdest. Besuche ihn ruhig weiterhin, auf diese Weise kannst du wunderbar, deine eigenen Fähigkeiten trainieren. Aber selbstverständlich ist es dir nicht erlaubt etwas preiszugeben, dass uns schaden könnte. Und keine Anspielungen machen. Doch du bist klug und wirst dich schnell daran gewöhnen und einschätzen können, wie du dich in seiner Gegenwart zu verhalten hast. Im Übrigen ist es natürlich wünschenswert, dass du deinen eigenen freien Willen hast. Und ganz gleich wie du dich entscheidest, ich werde mit dir zu einem Verlag gehen und deine geschriebenen Werke in deinem Namen veröffentlichen. Sieh es als Wiedergutmachung für die obszöne Prüfung. Allerdings, falls du von einer Zusammenarbeit absiehst, werden wir uns von dem heutigen Tage an nicht mehr häufig sehen und du kehrst wieder in dein altes Leben zurück. Es liegt ganz an dir…“, sprach William ernst und eine Spur von Betrübnis verbarg sich in seinen letzten Worten. Miceyla drückte die Handfläche gegen ihren schmerzenden Kopf und schloss mit einem Seufzen kurz die Augen. `Es ist eine schwere Wahl, die ich treffen muss. Falls es überhaupt etwas Richtiges zu wählen gibt… Ich habe diese Menschen liebgewonnen. Unter keinen Umständen, will ich die einzigen wahren Gleichgesinnten in meinem Leben verlieren… Wo und wann würde ich erneut auf solche besonderen Menschen treffen? Garantiert nie wieder… Vor allem du William… Du übst eine unsagbar starke Anziehungskraft auf mich aus, der ich mich kaum widersetzen kann… Wenn ich dich niemals mehr sehen könnte…dann…dann… Mein Herz erträgt den Gedanken daran einfach nicht…` Nach einer längeren schweigsamen Pause, erhob sie sich mit müden Beinen und lief in Begleitung eines entschlossenen Blickes auf William zu und kam kurz vor ihm zum Stehen. Dann kniete Miceyla sich langsam vor ihm nieder.

„Hiermit lege ich einen Schwur ab, der meine absolute Treue zu dir besiegelt. Mein Leben und meine Hoffnungen, gebe ich in deine behütenden Hände. Möge ich dir beim erreichen deiner Ziele verhelfen. An deiner Seite werde ich gemeinsam mit dir, für eine freie Zukunft kämpfen“, beteuerte sie aufrichtig. Jedoch würde sie niemals etwas zulassen, dass Sherlock oder John in Gefahr bringen könnte. Jene Freundschaft bedeute ihr mehr als das eigene Leben. Diese Tatsache sollte von nun an, bis zum bitteren Ende zwischen ihr und William stehen…

„Ich danke dir, Miceyla. Bitte erhebe dich wieder“, bat William mit harmonischer Stimme und hielt ihr eine Hand entgegen. Seine Erwartungen schienen in vollster Weise zufriedengestellt. Nichtsahnend, was in ihrer neuen Zukunft auf sie zukommen würde, erhob sie sich, nahm seine Hand und drückte diese mit pochendem Herzen ganz fest, zur Besiegelung ihres Paktes.

„Du hast heute sehr viele freudlose Seelen glücklich gemacht, meine liebe Miceyla“, freute Albert sich lächelnd über den Zusammenschluss.

„Auf eine gute Zusammenarbeit“, bekundete Louis wohlgestimmt. Plötzlich fühlte sie sich umsorgt und gut aufgehoben, inmitten ihrer neuen Freunde. Sie war nun ein Teil dieser freimütigen Gemeinschaft.

„Ver…Vertreiben wir all das Böse und verhelfen der Welt zu rechter Größe!“, verkündete Miceyla mit Augen die leuchteten, wie die eines jungen Abenteurers, der kurz davorstand, eine aufregende Reise anzutreten. William sah sie zuerst ein wenig verwundert an, doch dann lachte er leise.

„Ist das jetzt unser neues Motto? Finde ich gar nicht mal so schlecht!“, kommentierte Moran amüsiert ihren Leitspruch.

„Oho Moran! Ich habe mich die ganze Zeit schon gefragt, was mit deinem vorlauten Mundwerk geschehen ist“, meinte Louis kichernd.

„Hach… William hat mich ausdrücklich darauf hingewiesen, nichts Unvernünftiges zu sagen…“, erwiderte dieser brummig.

„Aha, so ist das also. Bevor du etwas Falsches von dir gibst, traust du dich erst gar nicht zu sprechen“, kam eine belustigte Feststellung von Louis.

„Klappe!“, rief Moran mürrisch.

„Da fällt mir ein… Was ist eigentlich aus dem verletzten Jungen und diesem Fred geworden?“, stellte Miceyla noch eine letzte Frage.

„Fred hat ihn schnellstmöglich zu ärztlicher Versorgung gebracht. Du wirst Fred und seine Arbeitsweise noch näher kennenlernen. Wir haben das Nötigste besprochen. Jetzt ist es wirklich an der Zeit, dass du etwas Schlaf findest. Auch wenn der Morgen naht. Louis, zeige ihr bitte, wo sie sich ausruhen kann“, beendete William das aufschlussreiche Gespräch und sie verließ ausgezehrt mit seinem Bruder den Keller. Es war eine Erleichterung, dass Louis sie begleitete. Denn im Augenblick bekäme sie ein etwas seltsames Gefühl, wenn sie alleine mit William wäre. Auf einmal wurde ihr schummrig vor Augen und sie drohte umzukippen. Doch Louis hielt sie noch ehe es dazu kam am Arm fest.

„Vorsicht! Geht es?“, fragte er besorgt.

„Ja…ich denke schon. Meine Glieder tun mir fürchterlich weh…und ich spüre jeden einzelnen Muskel…“ Wie eine leblose Hülle, schlurfte sie an seiner Seite einen Flur entlang.

„Da wären wir. Ruh dich ordentlich aus. Gleich nebenan befindet sich ein Badezimmer. Sage Bescheid falls du etwas benötigst. Wir sehen uns dann später“, wies er sie zuvorkommend darauf hin und öffnete ihr die Tür zu einem ordentlich eingerichteten Zimmer, mit einer behaglichen Atmosphäre.

„Danke Louis und…ich glaube zu dieser Uhrzeit ist es etwas unpassend, eine gute Nacht zu wünschen…ha, ha“, scherzte sie trotz ihrer Übermüdung.
 

Louis lief zurück in den Kellerraum, in welchem sich noch immer die drei jungen Männer unterhielten.

„Ich kann nicht leugnen, dass wir eine fähige Verbündete gewonnen haben. Doch muss ich anmerken, dass Miceyla sich zu sehr von Emotionen leiten lässt und sehr wankelmütig ist…“, urteilte Louis, sobald er hinter sich die Tür geschlossen hatte.

„Das ist mir durchaus bewusst. So hart es auch klingen mag, wir werden ihr das wohl oder übel austreiben müssen und sie zu unserem Gunsten erziehen. Und ihr wisst sicher, was wir ihr vorerst verschweigen werden. Das wäre zu diesem Zeitpunkt ein wenig zu viel für sie, dies verkraftete sie nicht so einfach“, ging William mit einem sachten Anflug von Schwermütigkeit auf dessen Einwand ein.

„Und wie verfahren wir des Weiteren mit Sherlock? Es wird ihm sehr verdächtig vorkommen, wenn sie, eine gewöhnliche junge Frau, plötzlich mit uns verkehrt. Willst du, dass sie für uns arbeitet und es danach aussehen lassen, dass du ihr aufgrund ihres literarischen Talents, eine Anstellung angeboten hast?“, hakte Louis weiter forschend nach.

„Also…was das angeht… Da habe ich bereits über eine passende Lösung nachgedacht…“, begann er leise und seine funkelnden Augen blickten geheimnisvoll zu Boden. `Nein…Will…sag mir bitte nicht das du vorhast… Du weißt ganz genau, was das für sie bedeutete…`, dachte Albert beklommen und ahnte was er gleich verkünden würde.

„Ich werde Miceyla heiraten…“, offenbarte William entschlossen mit einem Funken von Verträumtheit.

„Aber Bruder, ist es denn notwendig gleich so weit zu gehen?“, kam es sofort von einem erschütterten Louis.

„Hab ja echt nichts dagegen, wenn du dir eine Geliebte zulegst… Solange es keinem von uns oder deinen Plänen in die Quere kommt“, meinte Moran recht unparteiisch und kratzte sich gleichgültig am Hinterkopf.

„Ich verspreche euch, dass sich nichts ändern wird. Wir gehen weiterhin vor wie gehabt. Und es gibt auf beiden Seiten keine Verwandtschaft, die Einspruch erheben würde, oder? Eine simple Heirat aus Liebe, welche sich gegen die Standesunterschiede auflehnt. Da wird selbst Sherlock nichts Verwerfliches dran finden“, unterstrich William sein Vorhaben noch einmal lächelnd.

„Wie du meinst, Will. Ich werde dich bei allem unterstützen, was dir am Herzen liegt“, gab Louis sich schließlich einverstanden, wenn auch noch etwas zweifelnd.

„Danke Louis und bis nachher.“ Mit diesen Worten verließ William den Raum. Albert folgte ihm sogleich hinaus.

„Albert… Ich hoffe aufgrund dessen, wird es zu keinem Zwist zwischen uns kommen. Mir ist nicht entgangen, dass du Gefallen an Miceyla gefunden hast…“, sprach William ruhig, sobald die beiden alleine waren.

„Aber nein Bruderherz. Gleich zu Beginn ist es mir aufgefallen, als wir sie das erste Mal trafen. Du hast in deinem ganzen Leben, bisher noch nie eine Frau auf die Weise angesehen, wie du es bei Miceyla tust… Ich gab dir alles von mir, was ich für deine Ziele bieten konnte. Bis zum Schluss wird das alles dir gehören. Und nun schenkst du mir eine bezaubernde kleine Schwester. Ich werde es aus diesem Blinkwinkel betrachten“, verneinte Albert seine Befürchtung, konnte aber die wahre Unruhe in sich kaum verbergen.

„Dann bin ich ja beruhigt, Bruder“, sprach William noch, ehe er sich lächelnd von ihm abwandte.
 

Miceyla lag noch immer wach im Bett und konnte nicht glauben, dass gerade ihr das alles widerfahren war. Es half jedoch nichts, sich im Moment darüber den Kopf zu zerbrechen. Irgendwann erlag sie dann doch der Erschöpfung und fiel in einen unruhigen Schlaf…
 

Liebes Tagebuch, 28.2.1880
 

meine Einträge verspäten sich in letzter Zeit. Ich komme nicht hinterher alles festzuhalten… Aber wie geht es von nun an weiter? Darf ich überhaupt noch Tagebuch führen? Ich mag gar nicht daran denken was geschehe, wenn eine falsche Person es lesen würde… Ich bin jetzt eine gefürchtete Verbrecherin. Muhahaha! Nein… Darüber sollte ich besser keine Scherze machen… Ich frage mich, ob ich nicht eher einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe. Und doch bin ich von Williams Lebenseinstellung fasziniert. Große Veränderungen stehen bevor… Ist dies meine Bestimmung, welche mich von meinem bedeutungslosen Dasein erlöst? Jedoch habe ich eine ungeheure Angst, sobald ich an Sherlock denke. Bis jetzt konnte ich ihm stets offen und ehrlich gegenübertreten. Nun verberge ich ein dunkles Geheimnis, von dem er nichts wissen darf. Doch wie lange wird das gut gehen? Ich befinde mich zwischen den Fronten zweier Gegenspieler. Was werde ich opfern müssen, um das Schlimmste zu verhindern? William übt einen erheblichen Einfluss auf andere Menschen aus. Dennoch mein lieber Will, ich werde dir zeigen, dass ein kluger Verstand nicht ausreicht, um die Gesellschaft zur Einsicht zu zwingen. Was ebenso dafür benötigt wird, ist ein reines und gefühlvolles Herz. Denn wer das Böse mit der eigenen Bosheit bezwingen will, ist keinen Deut besser und wird sich nur selbst in einen wahren Teufel verwandeln, der keine Gnade mehr kennt…
 

Gefangen in Lügen
 

Nun habe ich eine schwere Entscheidung getroffen,

sie lässt mich auf eine neue Zukunft hoffen.

Du hast mir mehr geschenkt als das ich etwas aufgeben musste,

doch lebe ich fortan eine Lüge von der keiner was wusste.
 

Über mein eigenes Schicksal hast du gerichtet

und mir von deinen raffinierten Plänen berichtet.

Meine wahren Gefühle haben mich aber nicht belogen,

Sehnsucht und Erwartung haben mich zu dir gezogen.
 

Jetzt haben sich unsere beiden Lebenswege vereint,

die einsame Seele jedoch noch immer in mir weint.

Du und ich ahnten das wir nicht konnten widerstehen,

den gefahrvollen Pfad gemeinsam zu gehen.

Labyrinth der Seelen

Heimlich schlich ein kleines Mädchen einen engen, dreckigen Hausflur entlang, in Begleitung eines zierlichen Kerzenleuchters in der Hand. Sie öffnete die Tür zu einem dunklen Raum, in dem lediglich ein klappriges Bett und eine große hölzerne Kommode stand. 'Die Luft ist rein!', dachte sie erfreut. Das Mädchen stellte sich auf Zehnspitzen und zog die oberste Schublade der Kommode heraus. Anschließend nahm sie sich ein Buch, mehrere Blätter und einen Stift. Dann packte sie alles unter einen Arm und verließ wieder schnell den Raum. Die Kerze erleuchtete ihr den Weg, während sie eine steile Treppe emporstieg und einen staubigen Dachboden betrat. Den Kerzenleuchter stellte sie auf einer niedrigen Holzkiste ab, klappte das Buch auf und legte die Papierblätter zusammen mit dem Stift daneben. Die vielen Spinnenweben um sich herum blendete sie aus. Da hörte sie plötzlich unheilverheißende Schritte auf der Treppe. 'Oh nein…man hat mich gehört…', dachte das Mädchen verängstigt und begann am ganzen Leib zu zittern.

„Hast du dich schon wieder hierher verkrochen? Du machst mir nichts als Ärger!“, schimpfte eine Frau, die wütend den Dachboden heraufkam. Sie hatte tiefe Augenringe und ihr gesamtes Erscheinungsbild sah sehr ungepflegt aus. In der linken Hand hielt sie eine Weinflasche und in der rechten einen dampfenden Teller.

„Von woher hast du das Buch hergeholt und wieso malst du? Was soll das werden, Miceyla?“, fragte die Frau erzürnt.

„Ich male nicht, ich bringe mir Lesen und Schreiben bei. Denn du willst es mir ja nicht beibringen, Mutter“, entgegnete Miceyla ohne ihr dabei in das Gesicht zu sehen. 'Du kannst es selbst nicht mal richtig…', fügte sie noch still in Gedanken hinzu.

„So ein Schwachsinn! Du wirst das eh nie lernen!“, blaffte ihre Mutter verächtlich, legte den Teller und die Flasche auf den Boden und zerriss Miceylas ganze Blätter.

„Nein!“, wimmerte sie und biss sich mit Tränen in den Augen auf die Lippe.

„Iss doch lieber etwas“, meinte ihre Mutter mit gespieltem Lächeln und zeigte auf den Teller.

„Lecker!“ Hungrig wollte Miceyla nach dem gekochten Reis greifen, doch ihre Mutter trat vorher mit dem Fuß auf ihre kleine Hand.

„Au! Bitte hör auf! Das tut weh!“, schrie Miceyla und sah die eigenen Tränen auf den Dachboden tropfen.

„Du bist der größte Fehler in meinem Leben gewesen! Und da soll ich dich auch noch durchfüttern? Pah! Wärst du nicht auf der Welt, hätte er mich niemals verlassen!“, brüllte ihre Mutter und warf die Flasche aggressiv in eine Ecke, woraufhin diese in unzählige Scherben zerbrach.

„Vielleicht sollte ich dich einfach hier zurücklassen. Mir ist es gleichgültig, was aus dir wird!“, sprach sie kaltherzig und entleerte den Teller direkt vor ihrer Tochter, ehe sie verschwand. Miceyla hielt weinend die schmerzende Hand an sich gedrückt. 'Gibt es denn niemand, der mir jemals helfen wird?', dachte sie verloren und verlassen.

„Komm mit mir! Ich teile mein Essen mit dir!“ Auf einmal erschien ein blondhaariger Junge vor ihr und blickte sie freudestrahlend mit rubinroten Augen an.

„W-wer bist du?“, fragte sie verwundert und ein wenig skeptisch.

„Ich heiße William, nenn mich einfach nur Will. Lass mich dein Freund sein, ich vertreibe all deinen Schmerz und deinen Kummer!“, versprach er beschützend. Die Hoffnung kehrte zu ihr zurück und nun schaffte sie es zu lächeln.

„Will! Dann bin ich von nun an deine Freundin!“ William rannte mit Miceyla Hand in Hand aus dem Haus und machte unter einem großen Baum auf einer Wiese halt. Sie setzten sich beide nebeneinander in das weiche Gras.

„Hier bitteschön!“ William holte ein belegtes Brötchen aus einem Korb hervor und hielt es Miceyla lächelnd hin.

„Aber du musst auch etwas essen!“, meinte sie besorgt über seinen zerbrechlich aussehenden Körper.

„Du sorgst dich um andere, obwohl es dir selber sehr schlecht geht? Dann hast du wirklich ein gutes Herz!“ Somit teilte er das Brötchen in zwei Hälften.

„Danke!“ Froh über etwas zu essen, biss sie mit weit geöffnetem Mund herzhaft hinein.

„Du Will… Warum leben auf dieser Welt so böse Menschen wie meine Mutter?“, fragte sie traurig und blickte hinauf in den klaren Sternenhimmel.

„Es gibt so viele Unterschiedliche Menschen, wie es auch Sterne gibt. Alle mögen sich äußerlich ähneln und doch sind sie in ihrem Kern grundverschieden. Würde jeder den anderen akzeptieren und anerkennen, bildete sich daraus eine starke Gemeinschaft“, erklärte er verträumt und folgte ihrem Blick.

„Ach Will, dass wäre wunderbar!“, stimmte sie begeistert zu und sah ihn freudig an.

„Du hast einzigartig schöne Augen… Dieses Smaragdgrün…es erinnert mich an ein kostbares Juwel, auf das Jagd gemacht wird und darauf wartet, von einem Retter beschützt zu werden“, sprach er fasziniert. Verlegen errötete Miceyla.

„Du bringst dir selbst das Schreiben bei? Das finde ich großartig!“, lobte William.

„Ja… Ich mag der Welt beweisen, dass auch ein einfaches kleines Mädchen, große Träume haben kann!“, antwortete sie euphorisch.

„Dann…lass uns doch einen gemeinsamen Traum haben. Vereinen wir unser Lebensziel. Denn was dieser Welt fehlt ist…“, begann er und hielt dabei ihre Hand gefühlvoll fest.

„…Liebe…“, sprachen beide gleichzeitig. Plötzlich erschien hinter William eine schwarze Gestalt und richtete eine Pistole auf ihn.

„Pass auf Will!“, schrie sie panisch. Es war jedoch zu spät, die finstere Gestalt drückte ab und es knallte fürchterlich. Kurz darauf wurde ihre Umgebung pechschwarz…
 

„Neiiiiiin!“ Miceyla erwachte schweißgebadet und richtete sich mit rasendem Herzen in dem Bett auf.

„Argh!“ Ein stechender Schmerz machte sich sogleich bei ihr, am ganzen Körper bemerkbar und sie ließ sich wieder jammernd zurückfallen. 'Was für ein Traum… Und… Autsch! Eine weite Wanderung, werde ich in den nächsten Tagen garantiert nicht planen. Ich befinde mich tatsächlich noch im Moriarty-Anwesen. Oh Gott! Wie spät ist es eigentlich?' Miceyla ließ unwissend wie lange sie geschlafen hatte, ihren Blick durch das Zimmer wandern. Helles Tageslicht fiel zwischen den samtblauen Vorhängen herein. Da entdeckte sie eine Wanduhr mit hübschen filigranen Mustern und einem römischen Ziffernblatt. 'Schon beinahe halb vier am Nachmittag! Mich scheint keiner geweckt zu haben…' Mühsam stand sie auf und zog die schweren Vorhänge an den Fenstern vor. 'Das ich mal in dem Haus eines Adeligen aufwachen würde…', dachte sie ohne dies richtig wahrhaben zu wollen und betrachtete die schöne Landschaft außerhalb des Anwesens. 'Wie es hier wohl im Sommer aussehen wird?' Sie lief in das geräumige Badezimmer und versuchte sich einigermaßen gewissenhaft zurechtzumachen. Jedoch gelang es Miceyla in ihrem abgekämpften Zustand nicht wirklich. 'Was solls, ich sehe immer noch besser aus als letzte Nacht… Daheim mache ich erst mal eine Wellnesskur', beschloss sie gleichgültig. Nun war es höchste Zeit, William und seine Brüder aufzusuchen. Und außerdem knurrte ihr vor Hunger unüberhörbar der Magen. Miceyla rief sich noch einmal ins Gewissen, dass ab heute ein neues Leben für sie begann. Jetzt gehörte sie einer Gruppe an, welche Verbrecher und den Adel für ihre schlimmen Untaten bestrafte. Oder besser gesagt diese auslöschte… Und der Anführer jener geheimen Organisation, war der König der Verbrechen höchstpersönlich. William Moriarty. 'Sherlocks Ziele sind doch ziemlich ähnlich. Wieso könnten die beiden sich nicht einfach verbünden?', überlegte sie verzagt. Aber sie wusste nur zu gut, dass bei deren unterschiedlichen Methoden, zwei gegensätzliche Parallelen aufeinanderprallten. Kurz machte sie noch das Bett ordentlich, dann ging sie auf die Suche nach einem der drei. Da sie nicht ungesittet in irgendwelche Räumlichkeiten reinplatzen wollte, sah sie zuerst in dem gemütlichen Wohnzimmer nach, in dem sie sich bei ihrem ersten Besuch unterhalten hatten. Doch niemand war dort. Also lief sie die Treppe hinunter, um unterhalb weiterzusuchen. Sobald sie unten ankam, trat Louis aus einem, sich auf der linken Seite befindenden Zimmer heraus.

„Ah, Miceyla. Schön das du wach bist. Ich hätte dir sagen müssen, wo sich der Speisesaal befindet. Hier entlang“, grüßte er sie freundlich und wies ihr an ihm zu folgen.

„Hallo Louis.“ An einem länglichen Esstisch saßen William und Albert nebeneinander und plauderten munter.

„Sieh an, da kommt unsere hinreißende Eisblume. Heute gibt es für dich drei Mahlzeiten in einem. Wir haben extra auf dich gewartet. Bediene dich“, machte Albert Miceyla auf den reichlich gedeckten Tisch aufmerksam und sie staunte nicht schlecht über das kleine Festmahl. Sogar hübsche Blumen standen darauf,

„Ich hoffe du konntest ausschlafen und dich etwas regenerieren“, sagte William aufrichtig, ihm schien ihr Wohlbefinden sehr am Herzen zu liegen. Louis und sie setzten sich den beiden gegenüber.

„Naja… Wenn man meinen intensiven Traum und die ganzen Prellungen und blauen Flecken weglässt, fühle ich mich wie neugeboren“, meinte sie daraufhin mit Ironie.

„All das geht vorbei. Du darfst nach dem Essen, jeder Zeit wieder nach Hause zurückkehren. Es sei dir einige Tage Ruhe vergönnt, um dich von den Strapazen zu erholen“, wies William sie rücksichtsvoll darauf hin.

„Dies ist sehr umsichtig“, erwiderte sie knapp und fiel begierig über das Essen her, als wäre sie kurz vor dem Verhungern. 'Mrs Green wird mir die Hölle heiß machen…', kam ihr plötzlich missmutig in den Sinn.

„Unter anderem wirst du einen kleinen Kurs erhalten, damit du die ganze Bannbreite unserer Arbeitsweisen und die verschiedenen Arten von Verbrechen in unserem Land kennenlernst. Louis wird sich deiner annehmen und dich darin unterrichten“, bekundete William geruhsam.

„Stelle dich darauf ein, dass einiges auf dich zukommt“, warnte Louis sie mit strenger Miene.

„Oje… Droht mir erneut ein Test?“, fragte sie belustigt.

„Ha, ha. Nicht doch. Nur ist es unabdingbar, dass du mit unserer präzisen Vorgehensweise mithalten kannst. Und um dich ein wenig an die Praxis heranzuführen, werde ich dich in die Arbeit des M16 miteinbeziehen“, erläuterte Albert ihr voller Tatendrang.

„M16?“, wiederholte Miceyla unwissend worum es sich dabei handelte.

„Das Handelshaus Universal, dient als Firma zur Tarnung des M16“, deckte Albert auf mit unschuldigem Grinsen.

„Gut, ha, ha. Dann weiß ich darüber jetzt auch Bescheid.“

„Stets halte ich dich auf dem aktuellen Stand, damit du unsere Pläne, von Sherlocks eigenen Fällen differenzieren kannst“, fügte William noch taktisch hinzu. 'Auweia… Worauf habe ich mich da nur eingelassen? Das verspricht hart zu werden. Eine menge Arbeit steht mir bevor. Na wenigstens kann ich der Langeweile Lebewohl sagen.'

„Also ich muss schon sagen, ihr seid noch so jung und stellt bereits alle bedeutenden Persönlichkeiten in den Schatten“, sprach sie ihre Bewunderung für die Brüder aus.

„Danke, bestärkende Worte. Du wirst im April dreiundzwanzig, nicht wahr? Dann bin ich ein Jahr älter als du. Louis und du seid gleichalt und Albert ist knappe zwei Jahre älter als ich“, verriet William ihr. 'Woher weiß er denn nun wieder mein Alter? Ah, richtig! Mein Geburtsdatum stand in meinem Notizbuch,' erinnerte sie sich rasch.

„Langsam bin ich satt. Ewigkeiten nicht mehr so viel gegessen. Dafür bedanke ich mich. Jetzt würde ich mich sehr gerne auf den Weg machen. Ausnahmsweise ziehe ich es mal vor, noch Zuhause anzukommen, ehe es dunkel wird. Und da wartet eine reizende Dame, auf eine entschuldigende Erklärung meinerseits…“, tat sie ihren Aufbruch kund und trank noch gemütlich ihre Tasse aus.

„Wenn dem so ist, werde ich dich nicht länger aufhalten. Ich begleite dich bis zur Kutsche“, meinte William und verließ mit ihr zusammen den Speisesaal.

„Auf ein baldiges Wiedersehen“, verabschiedete Albert sich winkend.

„Bis demnächst. Und schone lieber deine Ausdauer und Nerven. Du wirst dies brauchen“, neckte Louis sie lächelnd, doch war es nett gemeint.

„Bis bald ihr beiden. Und werde ich machen“, nahm sie Abschied von ihnen. Da fiel Miceyla vor der Eingangstür noch eine Kleinigkeit ein.

„Was ist mit diesem Kleid…?“, fragte sie und sah grübelnd an sich hinab.

„Behalte es. Als Ersatz für dein altes. Ich finde es steht dir ausgezeichnet“, schmeichelte William ihr.

„Vielen Dank. Das alte Kleid kann man sowieso entsorgen… Ist nicht weiter tragisch.“

Draußen stupste er sie plötzlich am Arm an.

„Komm, lass uns ein Stück laufen. Die Kutsche kann auch noch ein Weilchen länger warten“, sprach er heiter direkt neben ihr.

„In Ordnung… Wieso nicht, es scheint ja auch die Sonne“, willigte sie ein und war etwas überrascht. Aber insgeheim musste Miceyla eingestehen, dass sie sich unheimlich darüber freute. Die zwei bogen rechts am Anwesen ab und liefen einen breiten Weg entlang.

„Du hast mir immer noch nicht verziehen, gib es ruhig zu“, begann William mit einem zaghaften Lächeln.

„Wie soll ich es am besten ausdrücken… Nach dem Ball wurde ich einfach überrumpelt und erfuhr, dass du der sagenumwobene Meisterverbrecher bist, von dem mittlerweile beinahe ganz London spricht. Jedoch…in dir sehe ich keinen Menschen, dem ich ernsthaft länger böse sein könnte…“, murmelte sie verträumt. 'Dafür mag ich dich schon viel zu sehr… Unsere Begegnung war wie ein rettender Hoffnungsfunke für mich, auf den ich die ganze Zeit warten musste', dachte sie anmerkend.

„Das höre ich gern und macht mich wirklich glücklich. Ich weiß du trägst wie jeder von uns, deine eigenen seelischen Wunden mit dir durchs Leben. Zwar vermittelst du für manch einen noch, dass du ein sensibles und verletzbares Wesen bist. Doch schlummert in dir eine verborgene Stärke, eine ganz besondere Willenskraft. Du hast es bereits bewiesen. Und ich mag dir dazu verhelfen, diese Fähigkeit voll auszuschöpfen und zu lernen sie weise einzusetzen. Wir müssen unsere Vergangenheit hinter uns lassen, damit wir aufrichtig und erfolgreich unsere Zukunft gestalten können. Daher wünsche ich mir, dass du offen Veränderungen annimmst und dennoch deine individuelle Entschlossenheit beibehältst. Ich lege dir dies ganz persönlich ans Herz, unabhängig von den Meinungen anderer. Was mir des Weiteren wichtig erscheint… Ich bitte dich darum, an meiner Seite mich immer wieder daran zu erinnern, nicht vom Weg abzukommen und die Pläne bis zum Ende durchzuziehen. Niemand kann wissen, was der Morgen für einen bereithält. Es mag dich wundern, dass solche Worte von einem Menschen kommen, der alles stets mit Perfektion durchdenkt…“, sprach William ehrlich seine Gedanken aus. Nach einer Weile des Spazierens, hatten die beiden ein weitflächiges Feld erreicht. Miceyla sah ihn an, wie er neben ihr herlief. Mit Augen die zielstrebig geradeaus blickten und von der späten Nachmittagssonne geküssten, glänzend blonden Haaren. Eilig sah sie zu Boden, als sein Anblick ihr Herzklopfen einbrachte.

„Manche Aufgaben, warten vielleicht einfach nur noch auf die passende Lösung, stimmts? Du denkst sehr tiefgründig, genau wie ich. Das macht dich umso menschlicher“, sagte sie leise und lächelte. Auf einmal machte er Halt, sie tat es ihm gleich und blieb ebenfalls stehen. Kurz darauf lief er ein Stück um sie herum und lehnte sich etwas gegen ihren Rücken. Da standen sie nun, Rücken an Rücken. Miceyla riss überrascht von dieser plötzlichen Geste, die Augen weit auf.

„Ich werde dein schützendes Schwert sein, auch wenn du mich nicht immer sehen kannst. Ich werde den Pfad für dich ebnen, damit du ihn sicher und unbeirrt beschreiten kannst“, beteuerte William mit einfühlsamer Stimme.

„Ich werde dein begleitendes Licht sein, welches dir selbst in der finstersten Dunkelheit den Weg erhellt. Schreiben wir unsere eigene Geschichte. Ergreifen wir die Möglichkeiten, warten wir nicht auf sie…“, gab Miceyla ihm ihr Versprechen. Sie musste Acht geben, dass die Gefühle nicht vollends ihre Sinne vereinnahmten.

„Gut… Bald sehen wir uns ja wieder. Lass uns dann weiterreden. Dem Kutscher ist sicher bereits langweilig, ha, ha“, sagte er lachend und ließ so abrupt von ihr ab, dass sie beinahe nach hinten gefallen wäre.

„I-ich bin schon unterwegs!“
 

Einige Tage waren verstrichen. Endlich durfte man den Monat März begrüßen und sich darauf freuen, bald von den kalten Wintermonaten Abschied zu nehmen. Miceyla kam gerade von einem wöchentlichen Einkauf zurück und hatte wichtige Briefe, unter anderem von Mrs Green, zur Post gebracht. Gerade wollte sie ihre Wohnung betreten, da fiel ihr auf, dass die Tür geöffnet war. 'Seltsam… Ich habe noch nie vergessen abzuschließen. Sie war geschlossen, da bin ich mir ganz sicher.' Verwundert trat sie mit ein wenig Obacht hinein.

„Ich grüße dich, Miceyla. Verzeih mein Eindringen. Du hast einen sehr ausgefallenen Geschmack, was die Inneneinrichtung angeht. Das verrät mir so einiges über dich…“ 'Sherlock! Was macht er in meiner eigenen Wohnung? Darauf war ich jetzt wirklich nicht vorbereitet. Hat er schon etwas bemerkt? Nein, unwahrscheinlich… Ich muss irgendwie versuchen ich selbst zu bleiben. Es tut mir leid… Um Himmels willen! Er wird doch wohl nicht mein Tagebuch…?!', überkamen sie ungeheure Ängste.

„Sherlock, schämst du dich nicht, einfach in die Wohnung einer jungen Dame einzubrechen? Es war abgeschlossen. Und wer hat dich eigentlich ins Haus gelassen?“, tadelte sie ihn streng und stellte sich vor den Schreibtisch. 'Ein Glück, dass ich heute nicht das Kleid anhabe, welches mir William geschenkt hatte. Er ist unheimlich scharfsinnig…', dachte sie beruhigt.

„Ei, ei, ei. Da hat aber jemand einen schlechten Tag. Kein Grund gleich so aus der Haut zu fahren. Pass auf, sonst endest du wie Mrs Hudson, ha, ha! Keine Bange, ich habe nichts angerührt. Die freundliche Mrs Green hat mich hereingelassen, hat mir sogar einen Tee angeboten. Oh und deine Tür war nicht schwer zu öffnen. Du solltest über ein sichereres Türschloss nachdenken. Meine Neugierde ließ sich nicht bändigen, ich bin untröstlich“, meinte er breit grinsend und tat dabei so, als wäre er die Unschuld in Person.

„Hach… Du bist mir einer“, seufzte Miceyla schmunzelnd und verdrehte die Augen.

„Nanu? Plötzlich so nervös? Welches Geheimnis könnte ein Mädchen in deinem Alter, wohl in ihrer Schreibtischschublade verbergen? Sind es die hohen Rechnungen, welche noch nicht bezahlt wurden? Nein, dafür bist du zu gewissenhaft. Ein Liebesbrief? Das ist es auch nicht. Du trägst dein Herz eher auf der Zunge und drückst deine Gefühle viel lieber durch Gedichte aus. Was bleibt da noch übrig?... Ein Tagebuch!“, schlussfolgerte Sherlock mit felsenfester Überzeugung.

„Also ich muss doch sehr bitten! Man schnüffelt nicht in der Privatsphäre einer Lady herum. Du hast einmal davon gesprochen, dass ich meine Fähigkeiten verschwenden würde. Nun verschwendest `du` deine mit Unsinn“, meinte sie belustigt. 'Sherlock wäre ein beängstigend guter Verbrecher. Es ist beruhigend zu wissen, dass er sich dem Gesetz verpflichtet hat', dachte sie erleichtert.

„Wo wir schon einmal bei Talenten sind. Mir ist da glaube ich noch eines bei dir aufgefallen. Du hast eine sehr klare und hohe Stimme. Du kannst gut singen, liege ich da richtig?“, stellte er fest, woraufhin sie ihn nur verblüfft ansah.

„Wie dem auch sei… Ohne ein triftiges Anliegen, würdest du mir keinen Besuch abstatten. Denn du machst dir nicht viel aus dem weiblichen Geschlecht. Das habe `ich` an dir bereits analysiert“, sagte Miceyla scherzhaft, um das Thema zu wechseln.

„Ha, ha! Nun gut. Heute Morgen kam eine Klientin zu mir und bat um Unterstützung, in dem Mordfall ihrer jüngeren Schwester zu ermitteln. Sie war nervtötend hysterisch, da käme mir deine gesunde `weibliche` Intuition ganz gelegen. Der Fall verspricht recht interessant zu werden. Zumindest steht momentan sonst nichts auf meiner Liste. Die Details kann ich dir unterwegs erklären“, enthüllte er nun die Wahrheit über sein hereinplatzen etwas ernsthafter.

„Was ist mit John? Kommt er nicht mit? Ungewöhnlich…“, fiel ihr sogleich auf.

„Ich wusste du würdest nach dem guten Doktor fragen. Leider hat er momentan, einen etwas eingeschränkteren Alltag. Bei unserem letzten Auftrag…sagen wir es gab einen kleinen Unfall, wobei er sich den Knöchel leicht verstauchte. Jetzt nur kein bestürztes Gesicht machen! Er behandelte sich selbst und schont nun seinen Knöchel. Glaube mir, er erfreut sich bester Gesundheit und lässt sich von Mrs Hudson verwöhnen“, versuchte er feinfühlig zu vermeiden, dass Miceyla darüber aufgebracht wäre.

„Ach herrje, der arme John! Ich werde ihn mal besuchen kommen. Wollen wir dann los? Meine `weibliche Intuition` steht dir zur freien Verfügung. Und beim nächsten Mal, wartet der wehrte Herr bitte draußen vor der Tür!“, stellte sie amüsiert klar und streckte ihm spaßeshalber die Zunge raus.

„Der wehrte Herr wird schwer darum bemüht sein, dieser Bitte nachzugehen.“

Sherlock führte sie zu besagtem Treffpunkt, den er mit der Frau ausgemacht hatte.

„Es wird für uns beide ein etwas unschöner Aufenthaltsort sein. Aber da die Leiche ihrer Schwester noch unberührt dort liegt, wählte ich natürlich gerade diesen Ort aus, um mit der Recherche zu beginnen. In unserer kurzen Unterredung, gab die verzweifelte Dame mir nur wenige Hinweise. Sie wollte, dass wir uns unverzüglich an jenem Tatort treffen. Und da fängt es auch direkt an merkwürdig zu werden…“, erzählte er ihr nachdenklich.

„Ja das stimmt. Wer will schon zu der Stelle zurückkehren, wo ein geliebter Mensch gestorben ist. Und dann liegt die Leiche auch noch dort. Es wäre natürlicher, wenn man Abstand gewinnen wollte. Da es zu traumatisierten Verhaltensweisen kommt, kurz nach solch einem Vorfall“, grübelte Miceyla ob dies stimmen könnte.

„Bingo. Scheint mir, als wollte die gute Dame es rasch hinter sich bringen. Entweder einfach nur aus dem banalen Grund, den Täter schnellstmöglich hinter Gitter zu bringen. Oder es verbirgt sich dabei doch noch etwas Tiefgründigeres. Gleich werden wir uns ein genaueres Bild darüber machen können. Sieh nur, da wären wir!“ Die zwei machten vor einem extraordinären Gebäude, mit abgedunkelten Fenstern halt.

„Ein Bordell…aha. Hab gleich bei dieser Gegend bemerkt, dass es mir hier nicht gefällt.“ Da öffnete sich auch schon die Tür und eine Frau mit kritischem Blick lugte heraus. Sie war etwa Anfang dreißig, ihre dunkelblonden Haare waren streng nach hinten gekämmt und zusammengebunden. Ihr beiges Kleid sah ziemlich befleckt und mitgenommen aus.

„Mr Holmes, wie gut das Sie so schnell hier erscheinen konnten und…“, sprach die Frau heiser und ihre glasigen Augen fielen auf Miceyla.

„Das ist meine Kollegin, Miceyla Lucassen. Dürfen wir eintreten?“, stellte Sherlock sie der verbitterten Frau vor. 'Kollegin, ha, ha…', dachte Miceyla und freute sich ungemein, dass er ihre Hilfe anscheinend sehr zu schätzen wusste.

„Bitte kommen Sie herein. Miss Lucassen, ich bin Scarlett Stanford. Der Besitzer hat erlaubt früher zu öffnen, damit Sie ungestört ermitteln können, Mr Holmes“, sagte sie frei von jeglichen Emotionen.

„Es wurde nicht viel verändert schätze ich? Ihre Schwester…liegt dort wie ich sehe. Miss Stanford, dann fangen Sie einmal an zu erzählen, wie sich das ganze zugetragen hat. Bitte alles was Sie wissen, nichts dabei auslassen. Unterdessen werde ich die Leiche mal genauer unter die Lupe nehmen“, schilderte Sherlock und begann sogleich mit seiner routinierten Arbeitsweise.

„Wie lange liegt der Todeszeitpunkt in etwa zurück, na?“, fragte er an Miceyla gerichtet. Sie betrachtete die leblose, kreidebleiche junge Frau, welche auf dem Teppichboden lag. Beinahe so rein und lieblich ruhte diese da, als würde sie bloß tief und fest schlafen.

„Das kann ich nur schwer sagen, ich bin kein Arzt wie John. Aber ich vermute, der Äußerlichkeit nach zu urteilen, liegt der Zeitpunkt des Todes noch nicht all zu lange zurück. Meines Erachtens letzte Nacht. Was auch logisch ist, da man eine Leiche nicht in einem gut besuchten Bordell liegen lassen würde“, vermutete Miceyla und wahrte lieber einen größeren Sicherheitsabstand zu der toten Frau als Sherlock, der diese eifrig aus nächster Nähe untersuchte.

„Ja, gar nicht mal so schlecht. Tracy Stanford, achtundzwanzig Jahre, hat als Aushilfe in einer kleinen Bäckerei gearbeitet. Der Tod liegt wahrscheinlich zehn Stunden zurück. Ein makellos unverwundeter Körper. Sie wurde vergiftet. Die Wirkung des Giftes, mit hohem Nitritgehalt, hat schleichend eingesetzt. Nach einigen Minuten begann es mit leichter Atemnot. Die Blutzufuhr war nach kurzer Zeit blockiert und ihr Herz wurde nicht mehr mit ausreichend Sauerstoff versorgt. Folge, Herzstillstand“, erläuterte Sherlock ruhig und man meinte, er sei kurz in die Vergangenheit zurückgereist und hätte alles selbst miterlebt.

„Du bist ein wahrer Giftexperte“, lobte Miceyla ihn begeistert.

„Ich nenne das eher Allgemeinwissen. John reagiert stets ähnlich wie du“, meinte er und freute sich ganz offensichtlich über ihr Lob.

„Was für dich bloß Allgemeinwissen bedeutet, ist für andere ein komplettes Studium, ha, ha“, erwiderte Miceyla lachend, verstummte jedoch sofort, um auf die trauernde Miss Stanford Rücksicht zu nehmen.

„Meine kleine Schwester Tracy, stammte genau wie ich aus ärmlichen Verhältnissen. Sie hat das Klavierspiel sehr geliebt. Da ich unverheiratet bin, arbeitete ich bei meinem Vater auf einem Landhof um Geld zu verdienen, damit ich sie so gut es ging bei ihrem Traum unterstützen konnte, eine erfolgreiche Pianistin zu werden. Die Menschen lächelten, wann immer sie spielte. Vor vier Monaten lernte Tracy hier London einen Mann kennen, der meines Erachtens zu alt für sie war. Sein Name war Peter Robinson. Stets prahlte meine Schwester damit, wie wohlhabend und edelmütig er war. Ich sah ihn viel eher als einen verlogenen Betrüger, der nur seinen Spaß mit ihr haben wollte. Tracy machte ihm schöne Augen. Fast täglich spendierte er ihr gutes Essen und komfortable Lebensstandards. Ich habe sie ständig davor gewarnt, mich nicht auf sein durchtriebenes Spiel einzulassen. Doch sie war schrecklich naiv und meinte, ich sei ja nur eifersüchtig. Dann kam irgendwann der Tag, an dem Tracy völlig aufgelöst zu mir rannte. Unter Tränen erzählte sie mir, dass Robinson sagte, er hätte das Interesse an ihr verloren und das sie nun ihre Schulden bei ihm begleichen sollte. Er drohte damit, ihr ansonsten alles zu entreißen was sie besäße. Natürlich wollte ich ihr helfen, auch wenn ich von Anfang an ahnte, dass sie eine Dummheit begangen hatte. Mein ganzes Erspartes gab ich meiner Schwester und arbeitete unaufhörlich weiter. Unseren Eltern verschwiegen wir die missliche Lage. Jedoch wusste ich nur zu gut, dass wir das Geld niemals auf die Schnelle zusammenbekommen würden… Dann eines Tages, kehrte Tracy nach Hause zurück zu unserer Mutter und da erbot sich ihr ein schrecklicher Anblick. Alles lag in Trümmern und unser gesamtes Hab und Gut wurde beschlagnahmt. Unsere Mutter war schwer verletzt aber noch am Leben. Wir waren uns natürlich im Klaren darüber, wessen Werk das gewesen war und fanden eine Nachricht die besagte: Wenn du mir schon so wenig zu bieten hast, wirst du wohl als nächstes mit deinem Leben bezahlen müssen. Meine Schwester hielt es nicht länger aus und wollte sich Robinson endgültig stellen. Sie vereinbarte ein Treffen genau hier, wo sie sich immer zuvor getroffen hatten. Verzweifelt versuchte ich sie davon abzuhalten und wollte nach einer anderen Lösung suchen. Aber sie sagte, ich solle mich raushalten. Tracys Wunsch war es, für ihre eigene Einfältigkeit geradezustehen. Gestern Abend war es dann soweit. Ich folgte ihr heimlich hierher. Leider hat mich die überfüllte Gasse aufgehalten und ich bin zu spät hier eingetroffen. Das einzige was ich noch sah war, dass sie aus einem Glas getrunken hatte. Von Robinson fehlte jede Spur… Mehr ist dem ganzen nicht hinzuzufügen. Heute Morgen habe ich Sie gleich aufgesucht, Mr Holmes“, endete Miss Stanford die tragische Geschichte. Sherlock hatte die ganze Zeit über aufmerksam zugehört, währenddessen ließ er ab und an seinen Blick durch das Bordell schweifen.

„Hm… Danke Miss Stanford. Hatte ihre Schwester an dem gestrigen Abend, irgendwelche Privatgegenstände bei sich?“, fragte er bedächtig.

„Ja, eine Tasche mit den nötigsten Utensilien, welche eine Frau so bei sich trägt. Ich habe sie in meine Obhut genommen und in unsere Wohnung hier in London gebracht“, meinte sie daraufhin und wirkte auf einmal leicht nervös.

„Prima. Wären Sie so freundlich und bringen mir die Tasche? Soweit ich mich erinnere, wohnen Sie nicht weit von hier entfernt“, bat er sie um diesen Gefallen.

„A-aber ist das denn wirklich nötig? Wie soll das bei Ihren Ermittlungen helfen…?“, hob Miss Stanford zögerlich an.

„Vertrauen Sie mir, ich weiß was ich tue. Wollen Sie etwa Ihre Schwester nicht mit gutem Gewissen verabschieden?“, überredete Sherlock sie gelassen.

„Meinetwegen… Ich hole die Tasche kurz. In etwa einer halben Stunde bin ich zurück.“ Eilig verließ Miss Stanford das Bordell. Er spähte aus einem Fenster um sich davon zu vergewissern, ob sie auch wirklich fort war.

„Ihre ganze Anspannung verriet, dass sie sich unheimlich unter Druck gesetzt gefüllt hatte. Kein Zweifel, sie muss etwas zu verbergen haben“, sprach Miceyla als die beiden alleine waren.

„So sieht es aus. Die ausführliche Erzählung entsprach der Wahrheit, nur zum Ende hin wurde es etwas schwammig. Mit ihrer Anwesenheit wollte sie alles daransetzen, um mich davon abzuhalten, hier alles näher untersuchen zu können und das ich ja nichts entdecke, was ihr schaden würde“, bejahte er ihre Annahme.

„Also schicktest du sie unter dem Vorwand, dir die Tasche zu holen, für eine Weile weg“, folgerte sie.

„Genau. Die gute Dame hätte mir nicht widersprechen können, sonst wäre sie mit dem auffälligen Verhalten, nur noch verdächtiger geworden. Dann lass uns mal die Fakten durchgehen, ehe sie wieder herbeigerannt kommt. Und schau, all die benutzten Gläser, stehen noch ungespült von letzter Nacht auf der Theke. Was für ein Schlampenladen. Aber zu unserem Vorteil, he, he!“ Wie ein Spürhund schnüffelte er strebsam an jedem der Gläser, über seine genauen Absichten konnte Miceyla nur spekulieren.

„Das Miss Stanford mit jenem Robinson unter einer Decke steckt, ist ausgeschlossen. Sie liebte ihre Schwester sehr. Vielleicht hat er Scarlett ja auch erpresst?“, überlegte sie sich angestrengt eine passende Möglichkeit.

„Im Beobachten bist du schon mal gar nicht schlecht, doch im Schlussfolgern sollte ich dir noch etwas Nachhilfe geben“, sagte er und grinste sie an.

„Na da bin ich ja bei dem richtigen Fachmann, ha, ha.“

„Versuche es einfach einmal selbst. Wer ist nach aktuellen Gegebenheiten die hauptverdächtige Person und wer könnte in Mitleidenschaft gezogen worden sein? Unser Opfer wurde vergiftet, behalte dies im Hinterkopf“, regte er sie zum Nachdenken an und zündete sich genüsslich eine Zigarette an.

„Ganz offensichtlich Peter Robinson, welcher Tracy schamlos ausgenutzt hat. Nur vertuscht ihre große Schwester etwas… Mal angenommen sie wäre gestern Abend gar nicht zu spät gekommen und wäre dazwischen gefunkt… Könnte etwas schiefgelaufen sein? Oder… Jedoch, wenn er sie gesehen hätte… Moment mal! Du glaubst doch nicht etwa, Miss Stanford hat ihre eigene Schwester umgebracht?! Nie wäre sie dazu im Stande gewesen!“. sprach sie fassungslos. Die Sache verwirrte sie immer mehr.

„Sie hätte es nie gewollt und gekonnt. Und dennoch hat sie es getan“, murmelte Sherlock, während er das Bordell nach einem Hinterausgang absuchte.

„Das widerspricht sich“, kam es darauf von Miceyla und sie betrachtete nachdenklich seine Spurensuche.

„Noch ist es eine Hypothese. Gleich erhalten wir Beweise, die sie belegen. Und ich vermute, der triebsüchtige Robinson weilt schon gar nicht mehr unter uns.“ Miceyla öffnete den Mund um ihn mit Fragen zu bombardieren, doch da platzte Miss Stanford wieder herein und sie war gezwungen stumm zu bleiben.

„Mr Holmes, Tracys Handtasche…“ Sie überreichte ihm mit hektischen Atemzügen, eine kleine dunkelrote Handtasche.

„Herzlichen Dank für Ihre Mühen“, bedankte er sich lächelnd und schüttete kurz darauf den Inhalt etwas lieblos auf einem Tisch aus.

„Also Sherly! Ein wenig mehr Feingefühl, wenn ich bitten darf!“, flüsterte Miceyla scherzhaft und stieß ihm leicht mit dem Ellenbogen gegen die Seite. Er grinste nur wortlos vor sich hin. In der Tasche befanden sich keine besonderen Gegenstände. Bloß Schminkzubehör, ein Schlüssel und ein kupferfarbener Taschenspiegel. Doch dann fiel noch ein zerknitterter Zettel heraus.

„Steht etwas darauf? Lass mal sehen… Das kann ja kein Mensch lesen… Und was bedeuten diese Zahlen?“, fragte Miceyla sich neugierig und hielt Sherlock den Zettel hin.

„Interessant… Es handelt sich hierbei um ein Kryptogramm, eine verschlüsselte Nachricht. Normalerweise steht jeder Buchstabe für eine Ziffer. In diesem Fall ist es aber noch etwas komplexer und teilweise umgekehrt. Für was könnten die Zahlen, der Anzahl nach zu urteilen stehen, na?“ Er blickte Miceyla erwartungsvoll und mit einem herausfordernden Funkeln in den Augen an.

„Ähm… Mal überlegen… Fünfzehn verschiedene Zahlen. Wenn man noch den Abstand hier in der Mitte miteinbezieht, macht das auf einer Seite sieben und auf der anderen acht… Eventuell für einen Vor- und Nachnamen?“, spekulierte sie.

„Das ist anzunehmen. Großartiger Rückschluss. Miss Stanford, wissen Sie wo Ihre Schwester den Zettel herhatte?“, wandte er sich an die misstrauisch dreinschauende Frau, welche nervös mit den Fingern spielte.

„Oh, da fällt mir lediglich eine Möglichkeit ein. Er wurde ihr im Theater zugesteckt. Der dreiste Robinson spendierte Tracy einige Theaterbesuche. Ich konnte es zwar nie gutheißen, trotzdem hat es ihr unglaublich viel Freude bereitet. Ihr Lieblingsstück war `Das Labyrinth der tanzenden Seelen`. Der Hauptdarsteller soll sehr charismatisch sein. Aber von wem genau diese Nachricht ist, kann ich nicht sagen“, erzählte sie und schien sich verzagt an das glückliche Gesicht ihrer kleinen Schwester zu erinnern.

„So, so… Das hat mit diesem Fall nichts zu tun. Miceyla, behalte den Zettel ruhig in deiner Obhut. Bei dir kann ich mir sicher sein, dass er nicht verloren geht. Noch kann ich dazu nicht allzu viel sagen. Jedoch habe ich das verheißungsvolle Gefühl, dass dies der Hinweis zu etwas wesentlich Bedeutungsvollerem ist. Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir uns damit intensiver beschäftigen…“, sagte er und bemühte sich angestrengt darum der Versuchung zu widerstehen, jenem Geheimnis jetzt schon nachzueifern. 'Ich werde die Geheimschrift gut aufbewahren. Bestimmt kann William sie entschlüsseln…', dachte Miceyla und steckte den Zettel behutsam ein.

„Nun gut… Wollen wir uns nicht langsam aber sicher, in Richtung Auflösung dieses Dilemmas begeben?“, kehrte er zu dem aktuellen Fall zurück und rieb sich ausgelassen die Hände. Anschließend nahm er zwei leere benutzte Gläser von der Theke und stellte sie parallel zueinander auf den Tisch, neben welchem die Leiche am Boden lag.

„Wir können die Szene gerne eins zu eins von gestern nachspielen. Falls es Ihnen dadurch leichter fällt, mit der ganzen Wahrheit rauszurücken, Scarlett Stanford. Ich habe auch nichts dagegen die Rollen zu tauschen oder eventuell doch lieber gleich die Gläser…“, fuhr er fort und durchlöcherte Miss Stanford beinahe mit seinem intensiven Blick.

„W-was hat das zu bedeuten? Die Hintergrundgeschichte kennen Sie doch bereits! Es kann unmöglich sein das… Sie bluffen nur!“, stotterte sie, ihr war das Unbehagen förmlich anzusehen.

„Ach kommen Sie. Ich verstehe ja, wie unangenehm Ihnen die ganze Lage ist. Sie dachten, wenn Sie gerade mich anheuern und sogar ich nicht Ihre Lüge aufdecken könnte, würden Sie somit Ihre Last auf ewig mit sich herumschleppen. Tja, da muss ich Sie bitter enttäuschen. Sie haben sich dabei selbst ins eigene Fleisch geschnitten. Dennoch werde nicht ich derjenige sein, der Sie dafür verurteilt. Ergreifen Sie die letzte Chance, um Ihre Sünden zu beichten“, war Sherlock darum bemüht, ihr die ganze Wahrheit zu entlocken. Die arme Frau schien weder ein noch aus zu wissen. Miceyla näherte sich ihr etwas, um ihr in dieser schweren Situation Beistand zu leisten. Nach Sherlocks Anspielungen, konnte auch sie mittlerweile die fehlenden Puzzleteile zusammensetzen.

„Sie sind ein guter Mensch, Scarlett. Sollten Sie wirklich etwas Falsches getan haben, dann könnte es nur unbeabsichtigt gewesen sein oder die Person hätte es verdient gehabt“, sprach sie ruhig auf die verunsicherte Miss Stanford ein.

„Ich sehe es gibt keinen Ausweg mehr für mich… Dieses Elend muss ein Ende nehmen. Ja…ja ich bin ein gewaltiger Feigling! Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als vor Ihrem scharfsinnigen Verstand kapitulieren zu müssen, Mr Holmes… Gestern traf ich unmittelbar nach Tracy hier ein und beschattete die zwei aus sicherer Entfernung. Meine Schwester flehte angestrengt darum, sie und unsere Familie in Frieden zu lassen. Sie schlug sogar vor, ein ganzes Leben lang für ihn zu arbeiten. Der Mann sorgte mit Absicht dafür, dass sie nach und nach betrunken wurde. Als Tracy unaufmerksam war, sah ich dann schockiert, wie Robinson ihr etwas ins Glas geschüttet hat. Seltsamerweise erhob er sich kurz darauf von seinem Platz und verschwand im hinteren Teil des Bordells. Sofort nutzte ich die Gelegenheit und eilte zu dem Tisch, an welchem meine Schwester saß und tauschte ihr Glas mit dem des Mannes aus. So viel Alkohol hatte sie getrunken, dass sie nichts davon mitbekam. Selbst mich bemerkte sie nicht. Hier ist es aber auch ziemlich überfüllt gewesen gestern. Und…und schließlich trank sie… Das Übel nahm seinen Lauf, was für mich unbegreiflich war… Tracy hustete stark und ihr ganzer Körper zuckte beängstigend. Sie kippte seitlich zu Boden und wälzte sich wild umher, als wäre sie am Ertrinken. Wie erstarrt blieb ich an ihrer Seite und konnte nichts weiter tun, als ihrem schmerzvollen Tod beizuwohnen. Ich begreife es einfach nicht! Wie konnten beide Gläser vergiftet sein?“, klagte Miss Stanford und erhaschte den Tränen nahe, einen flüchtigen Blick auf ihre leblose Schwester.

„Es befand sich auch nur in einem der Gläser Gift. Lassen Sie mich Ihnen etwas auf die Sprünge helfen. Robinson hat Sie frühzeitig bemerkt. Leider haben Sie sich nicht unauffällig genug verhalten. Er war doch cleverer als ich anfangs annahm. In Tracys Glas gab er das Gift, dann stand er auf und verdeckte kurz mit seinem Rücken Ihre Sicht auf den Tisch. So war es doch, oder? In diesem Augenblick vertauschte er die beiden Gläser und gab vor wegzugehen. Die Chance kam Ihnen wie gerufen und Sie taten genau das, was Robinson sich erhofft hatte. Sie tauschten die Gläser wieder zurück. Sie selbst malten sich dabei aus, dass wenn er wiederkäme, aus dem Glas mit dem Gift trinken würde und Sie beide den Kerl ein für alle Mal los wären. Bitter ist es, eine desaströse Handlung Ihrerseits. Es war ein Schuss in den Ofen. Folglich haben Sie, Scarlett Stanford, Ihre eigene Schwester indirekt ermordet. Zum Abschluss höre ich mir gerne noch an, was aus unserem netten Robinson geworden ist“, enthüllte Sherlock die Aufklärung für dieses traurige Rätsel und faltete zufrieden über seine Erschließung die Hände ineinander.

„N-nein…nein… Niemals! D-dann ist es mein eigener Fehler gewesen? Jetzt kommt jede Reue zu spät… Wenigstens habe ich Robinson dafür bezahlen lassen! Von Beginn an verdiente er den Tod! Die einzige gerechte Strafe. Nach Belieben vergnügte er sich mit Tracy und hat ihren eigenen Untergang heraufbeschworen… Im hinteren Bereich des Bordells, befindet sich eine Tür, dahinter geht es nach draußen zu einem Schuppen. Ich betrat diesen und sah wie Robinson dort eine steile Treppe hinaufmarschierte. Was auch immer er dort zu schaffen hatte… Meine Trauer und Wut verliehen mir ungeheure Kräfte. Schreiend stürzte ich auf ihn zu und stieß dieses Scheusal geradewegs die Treppe hinunter. Damit hätte der Mistkerl nie im Leben gerechnet! Er überschlug sich und brach sich das Genick… Da haben Sie es, Sherlock Holmes! D-dieser Idiot hat aus mir eine Mörderin gemacht! Ich tat das Richtige! Er hätte meine ganze Familie abgeschlachtet. I-ich konnte Tracy nicht retten… N-nein…! Nicht ich habe sie getötet! Robinson war es! Und ich rächte mich dafür!“, schrie Miss Stanford und stand kurz davor wahnsinnig zu werden. Miceyla blieb schweigsam am Rande stehen und packte sich ergriffen mit der Hand ans Herz. 'Wie grausam… Die Wahrheit muss für sie der allerschlimmste Albtraum bedeuten. Der Zorn hat sie so sehr vereinnahmt, dass sie die Kontrolle verlor und Robinson tötete. William hätte ihre Tat als gerecht angesehen und gutgeheißen, da er das eigentliche Übel war… Doch Scarlett kommt mit den Folgen nicht zurecht…', dachte sie und warf einen Blick auf Sherlock, der unbeeindruckt von ihrem emotionalen Ausbruch gelassen blieb.

„Ich halte es nicht länger aus! Wenn meine Tracy schon nicht mehr zu mir zurückkehrt, gehe ich eben zu ihr!“ Mit diesen energischen Worten, schlug Miss Stanford eines der Gläser auf dem Tisch kaputt, packte eine große scharfe Scherbe und hielt sie sich mit einer zitternden Hand an die Unterseite ihres Handgelenks. Sie machte Anstalten sich die Pulsader aufzuschneiden.

„Miss Stanford, bleiben Sie vernünftig! Ihr Vorhaben ist reinster Humbug und…“, versuchte Sherlock sie ruhig davon abzuhalten. 'Sherlock ist nicht gerade der einfühlsamste. Ich muss eingreifen!' Hastig schubste Miceyla ihn zur Seite und stellte sich vor sie. Etwas verwundert wich er zurück, jedoch formten sich seine Lippen zu einem leichten, begeisterten Grinsen.

„Scarlett… Wollen Sie das wirklich tun? Ich bitte Sie inständig, den tobenden Sturm in Ihnen etwas einzudämmen. Keiner kann Ihren aktuellen Schmerz nachempfinden. Sie glauben gerade, dass weder Sie noch Tracy so viel Trauer und Leid verdienten. Sich selbst geben Sie die Schuld dafür, dabei versagt zu haben, Ihre geliebte kleine Schwester zu retten. Ja, Ihre Schwester ist unglaublich leichtsinnig gewesen, sich auf einen Mann wie Robinson einzulassen. Doch begehen wir alle Fehler. Keiner kann erahnen, was sich hinter einer gespielten Fassade verbirgt. Jeder gibt sein Bestes und das haben auch Sie getan. Bis zum Ende waren Sie tapfer an Tracys Seite und haben sie nicht im Stich gelassen. Eine wundervolle große Schwester sind Sie. Und nun müssen Sie das tun, was Ihre Schwester sich am sehnlichsten gewünscht hätte, leben. Sie dürfen all die schönen Erinnerungen mit ihr und die gemeinsame Zeit nicht verschwinden lassen. Leben Sie für Tracy weiter und bewahren Sie sich Ihre friedvolle, gleichwohl auch schwere Vergangenheit im Herzen. Schreiben Sie Briefe an Tracy. Selbst wenn sie diese niemals lesen wird, bin ich mir sicher, dass Ihre Gefühle sie erreichen werden. Nun stempelt man Sie zwar als Mörderin ab, dennoch sind und bleiben Sie eine starke Frau, die für die Gerechtigkeit ihrer kleinen Schwester gekämpft hat…“, redete Miceyla betonend und ehrlich auf Miss Stanford ein und hoffte damit etwas erreicht zu haben. Und tatsächlich, Scarlett ließ die Scherbe fallen und warf sich weinend in ihre Arme.

„T-Tracy…“, schluchzte sie.

„Alles wird wieder gut…“, flüsterte Miceyla und streichelte ihr tröstend den Rücken.

„Gut gesprochen, hätte ich nicht besser gekonnt“, meinte Sherlock grinsend im Anschluss an die rührende Szene.

„Natürlich nicht…“, sagte sie leise belustigt. Plötzlich öffnete sich die Tür und mehrere Männer betraten das Bordell.

„Na sieh mal einer an! Der tugendhafte Lestrade, hat es ausnahmsweise einmal auf die Reihe bekommen, pünktlich zu sein! Das muss ich mir sofort feierlich im Kalender notieren! Ach und hinten im Schuppen wartet noch ein kleines Präsent auf Sie “, kam es von einem munteren Sherlock und er lachte amüsiert.

„Sparen Sie sich den Schabernack, Holmes! Aber wie ich sehe sind Sie mit Ihren Aufgaben hier am Ende. Dann übernehme ich jetzt. Männer führt Miss Stanford ab und tragt die Leiche raus! Anschließend sehen wir uns im Schuppen um“, befahl Lestrade mit verantwortungsbewusster Miene. 'Das ist also der berüchtigte Inspector Lestrade… Dessen knifflige Fälle in Wahrheit von Sherlock gelöst werden. Er sieht nach einem recht autoritären Mann mittleren Alters aus…', begutachtete Miceyla zum ersten Mal den Inspector aus nächster Nähe. Ein Polizist legte Miss Stanford, welche keinen Widerstand leistete und nur ausdruckslos dreinblickte, Handschellen an und führte sie hinaus. Zwei weitere Polizisten bedeckten die Leiche von Tracy mit einer Plane, legten sie danach auf eine Trage und brachten auch diese aus dem Bordell. Betrübt und ein klein wenig erleichtert, sah Miceyla ihnen hinterher.

„Gute Arbeit!“, lobte Sherlock sie lächelnd und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. Ihre beiden Blicke trafen sich und sie erwiderte zaghaft sein Lächeln. Die zwei verließen die verworfene Gegend und schlenderten gemütlich durch London. An einer Bank nahe der Themse, machten sie Halt und setzten sich nebeneinander.

„Ich gestehe, es tut mir doch etwas weh zu wissen, dass Scarlett nun die Sünden von Robinson ausbaden muss…“, begann Miceyla und genoss dabei den erfrischend sanften Wind.

„Ein Mord bleibt ein Mord, egal mit welchen Hintergründen er begangen wurde“, erwiderte Sherlock sachlich und gönnte sich nach getaner Arbeit eine weitere Zigarette.

„Wird man Scarlett schwer bestrafen?“, fragte sie zögerlich.

„Willst du wirklich die Antwort darauf hören?“

„Nein, schon gut. Dein Blick sagt mehr als tausend Worte…“ Eine Weile schwiegen sie.

„Wo Licht ist, wird es auch immer Schatten geben. Solange Verbrecher in unserem Land existieren, wird es dir wohl nie an Arbeit mangeln. Aber ärgert es dich denn gar nicht, dass jemand wie Lestrade ständig deinen Ruhm erntet, der eigentlich dir zustehe?“, erkundigte sie sich neugierig und brach das Schweigen.

„Ha, ha! Du klingst beinahe wie John! Dank seinen abenteuerlichen Geschichten, bin ich schon genug Trubel ausgesetzt. Ich brauche keine Bestätigung von der Bevölkerung. Für mich ist es völlig ausreichend, wenn ich meine Fähigkeiten sinnvoll einsetzen und mich bei Problemen nützlich machen kann. Es geht mir schlicht und ergreifend um die Selbstverwirklichung und das Vergnügen, welches mir schwere Fälle bereiten“, offenbarte er ihr freundschaftlich.

„Du wirst noch sehr vielen Menschen in Not helfen und etliche Bösewichte ins Gefängnis befördern. Das macht dich zu einem unübertreffbaren Helden! Ein Held der für Gerechtigkeit sorgt und seinen eigenen vorherbestimmten Weg beschreitet!“ sprach sie euphorisch. Sherlock begann lauthals zu lachen.

„Hey! Mach dich nicht über meine Aussage lustig! Das war ernst gemeint!“, beschwerte Miceyla sich beleidigt.

„Ha, ha, ha, ha! Ich weiß, ich weiß! Und gerade deshalb freue ich mich ja darüber. Ich finde es nur irgendwie goldig, wie sehr du dich in etwas reinsteigern kannst. Du betrachtest die Gegebenheiten aus einem anderen Blickwinkel, wenn auch auf eine andere Art als ich. Doch gibt es nicht viel, dass uns voneinander unterscheidet. An ein Schicksal glaube ich zwar nicht wirklich, nichtsdestotrotz bin ich dem Zufall dankbar, dass er uns an jenem Tag zusammengeführt hat. Wie war das noch mal mit der Tat und dem Rat?“ Sherlock streckte ihr grinsend seine Faust entgegen, woraufhin Miceyla ihre eigene gegen sie drückte.

„He, he. Legen wir den Fieslingen auch zukünftig das Handwerk. Jeder von uns verfolgt ähnliche Ziele. Ich bin mir sicher, dass auch der Meisterverbrecher etwas Bestimmtes mit seinen Taten bezwecken will…“ 'Au Backe! Das hätte ich jetzt nicht sagen dürfen! Mist…', dachte sie verunsichert und sah wie sein Gesichtsausdruck sich verdüsterte.

„Kein Verbrecher kommt auf Dauer, mit seinen Missetaten ungeschoren davon. Auch unser ach so begnadetes helles Köpfchen, wird früher oder später einsehen müssen, dass die Natur des Gesetzes seine makellosen Pläne vereiteln wird. Es reizt mich ungemein, seinen Machenschaften auf die Schliche zu kommen. Und wenn ich mir dies zur Lebensaufgabe mache…“, brummte er mit zusammengekniffenen Augen vor sich hin. Ohne zu wissen was sie darauf erwidern sollte, schluckte sie nur angespannt. Doch auf einmal grinste er sie wieder heiter an.

„Aber sag mal, wie ist er denn so? Scheinst ihn ja gut zu kennen!“

„W-was?! Das ist kein bisschen komisch!“, blaffte Miceyla empört und sah ihn geschockt an.

„Ha, ha! Dein Gesicht müsstest du mal sehen! Einmalig! War doch nur ein Witz!“, beruhigte er sie lachend. 'Puh… Erschreck mich nicht so… Und du kennst ihn selbst nur zu gut…'

„Es ist mir durchaus klar, dass deine Arbeit stets mit der Gefahr einhergeht. Pass bitte dennoch immer auf dich auf…“, bat sie ihn leise.

„Miceyla… Das rührt mich sehr. Aber was soll mir schon passieren, wenn ich eine Heldin und Hüterin der Gerechtigkeit wie dich an meiner Seite habe? Ha, ha!“ Zwar scherzte Sherlock, jedoch spiegelte sich die Dankbarkeit in seinen Augen wider.

„Fang nicht wieder an rumzualbern! Und für einen Moment habe ich dich ernst genommen!“ 'Ich werde dafür sorgen, dass dir niemals etwas zustoßen wird… Das ist nun meine eigene Lebensaufgabe…', dachte sie und blickte entschlossen in die Ferne.
 

Ein Stück hinter den beiden, stand ein junger Mann an einem Baum angelehnt. Eindringlich beobachtete er Miceyla und Sherlock. 'Wie aufregend! Ich kann es kaum erwarten! Dir werde ich einen Ehrenplatz auf meiner Bühne reservieren, meine liebreizende Nachtigall. Singen wir ein Duett von süßen, sterbenden Herzen. Wer wird wem wohl als erstes ins Netz gehen? Meine verehrten Damen und Herren, ihr seid bloß meine tanzenden Puppen, die der Unterhaltung dienen! Der wahre Meister aller Verbrechen…bin ich!'
 

Liebes Tagebuch, 4.3.1880
 

der Fall mit Tracy und Scarlett Stanford war sehr erschütternd. Aus dieser gewonnenen Erfahrung, kann ich etwas Lehrreiches schließen: Das Böse entsteht nicht, wenn jemand eine grausame Tat begeht, es entsteht durch die Beweggründe, die denjenigen zu der Tat gebracht haben. Jedenfalls durfte ich ein weiteres Mal Sherlocks Kombinationsgabe bewundern. William hat recht, ich kann bei ihm einiges dazulernen. Und das angereicherte Wissen, werde ich letztendlich für ihn einsetzen… Man muss um Ungerechtigkeiten zu vertreiben, etwas härter durchgreifen, dass sehe ich ein. Auch ist mir mittlerweile bewusst, dass es nicht nur seine schier endlosen Talente sind, die mich faszinieren. Nein… Ich mag William einfach als Menschen unheimlich gern… Aber ob er in mir nichts weiter als eine würdige Assistentin sieht, kann ich noch nicht sagen. Dennoch… Ich erkenne die Gefühle meines Gegenübers und unterscheide mit Leichtigkeit, ob diese ehrlich sind oder gespielt. Diese Gabe hat sich dank der jüngsten Ereignisse, sogar noch mehr verschärft. Meine Einschätzungen haben mich beinahe noch nie belogen. Und William hat das selbst nur zu gut erkannt… Keiner von uns wäre dazu befähigt, den jeweils anderen anzulügen. Dadurch könnte eine unerschütterliche Vertrauensbasis entstehen. Ich gebe zu…dies bemerke ich erst jetzt… Wie auch immer, es wird turbulent, so viel ist sicher. Besser ich genieße die Idylle, ehe sich mir keine Gelegenheit mehr dafür bietet...
 

Labyrinth der Seelen
 

Verwirrungen gemacht aus etlichen Träumen,

unzählige Wege führen zu gefährlichen Räumen.

Ein Raum gefüllt von hinunterreißendem Schmerz,

einer mit Freude die wieder führt aufwärts.

Eine kleine Kerze die unendlich brennt

und Luft welche unaufhaltsam durch die Höhen rennt.

Der Verstand geformt aus den Erinnerungen,

die Wünsche und Ideen geben ihm Linderungen.

Höre wie das niemals vollendete Zentrum pulsiert,

mit der durchströmenden Wärme die nie gefriert.

Du wirst nicht entkommen aus diesem Irrgarten,

wo du dich befindest musst du wohl zuvor erraten.

Funkelnder Rubin und leuchtender Smaragd

Einige Monate zuvor. Oktober 1879, irgendwo in London…

„Du riefst nach mir im lieblichen Morgengrauen, mich einsamen Wanderer zog es von dannen. Verloren hab ich mein edles Gewand, verraten hat mich mein eigenes Land. Ma-Ma-Magnolia, komm breche mit mir auf, nimm meine Hand und lauf, in das Tal wo deine Blüten nie verblühen…“ Auf einer hohen Mauer saß ein junger Mann und sang vergnügt in die Nacht hinein. Der Vollmond am klaren Himmel, brachte seine hellbraunen Haare zum Leuchten. Eine schwarzgoldene Maske verbarg die obere Hälfte seines Gesichts. Seine durch und durch tiefblauen Augen, blickten mit einem Hauch von Magie entspannt auf eine tickende Taschenuhr, die er an der Kette vor sich hin und herschwang.

„Es ist alles vorbereitet, er wird gleich dort sein…“ Da näherte sich dem träumerischen Mann, eine junge Frau geräuschlos aus den Schatten heraus. Sie zog ihre Kapuze herunter und strich mit selbstbewusster Miene, eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr.

„Ah, wunderbar Irene! Dein erster Auftrag und schon konnte ich mich von deiner einzigartigen Standhaftigkeit überzeugen!“ Schwungvoll sprang er von der Mauer und landete elegant vor ihr auf dem Boden, wobei sein dunkelroter Umhang durch die Luft flatterte.

„Du weißt, wie du mich in der Öffentlichkeit zu nennen hast?“, fragte er mit einem kühlen Lächeln.

„Natürlich, `Matador Muscari`“, antwortete Irene mit einem verschworenen Grinsen.

„Hach… Ich liebe es wie du den Namen aussprichst. Wie schön es klingt… Doch was machen wir mit dir? Du solltest bei gewissen Angelegenheiten, auch deine Identität verschleiern. Ich mag dich vor Gefahren schützen. Lass mal überlegen… Das reine Blau deiner Augen ähnelt den Meinen. Ich hab‘s! Von dem heutigen Tage an, wird aus Irene Adler die `Aktrice Saphira`. Oh wie sehr dies unserem Publikum gefallen wird! Sind wir nicht zwei umwerfende Schauspieler?“, sprach Muscari sinnlich, während er ihre Hand nahm und diese sanft gegen seine Wange schmiegte.

„Aber gewiss. Unnachahmlich bewegen wir uns im Verborgenen und befreien die hilflosen Geschöpfe. Ich werde ihn jetzt treffen, er muss gebührend empfangen werden“, meinte Irene und lächelte ihn enthusiastisch an.

„Sicher Liebes, geh nur. Dann mach ich mich auch mal auf den Weg.“ Sogleich verschwand er wie ein heller, geräuschloser Blitz. Irene lief geschwind im Schutz der Dunkelheit durch schmale Straßen und Gassen. Nach kurzer Zeit erreichte sie ein heruntergekommenes Lagerhaus, dessen Fensterscheiben kaputt waren und vor dem etliche zerrissene Säcke lagen. Sie peilte einen Mann an, der beinahe unbemerkt im Abseits stand. Mit leisen Schritten, schlich sie sich von hinten an ihn heran und wollte einen Arm um ihn legen. Doch ehe es dazu kam wirbelte er herum und packte energisch ihr Handgelenk.

„So angespannt auf der Hut wie eh und je. Ist es nicht eine fantastische Vollmondnacht, mein lieber Sherly?“, sprach sie unbeeindruckt von seinem raschen Reaktionsvermögen.

„Ich wusste es Irene! Kein anderer ist so durchtrieben wie du. Mit dieser seltsamen Nachricht wolltest du mich hierherlocken und somit weg vom eigentlichen Ort des Geschehens… Ich frage dich nur einmal, wo befindet sich die gestohlene Erburkunde?“, fragte Sherlock verbissen und war angestrengt darum bemüht, sich nicht von ihr aus der Fassung bringen zu lassen. `Verdammt! Abermals wird mich diese hemmungslose Frau nicht in die Irre führen!`, dachte er verärgert. Irene ignorierte sein abgeneigtes Verhalten und zog ihn unnachgiebig an sich.

„Darum brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Die befindet sich geschützt und geborgen in guten Händen“, meinte sie mit betörender Stimme. Gereizt biss er die Zähne aufeinander und befreite sich hartnäckig aus ihrer Umarmung.

„Du spielst mit dem Feuer, Irene! Mir scheint, du arbeitest für einen absurden Unhold. Das bereitet mir allemal Sorgen.“

„Besser du redest nicht unhöflich über ihn. Er besitzt mehr Charme als hundert Edelmänner und mehr Hingabe für seine Taten, als jeder stolze Anführer bei der Armee. Sich selbst bezeichnet er als Retter der armen Seelen. Ein Gentleman, der aufopfernd an das Gute in den Menschen glaubt“, bekundete Irene mit ehrlicher Bewunderung. Einen Moment lang sah er sie überrascht an.

„Dann ist er nur irgendein dahergelaufener Gaukler, ein selbstsüchtiger Tunichtgut. Um einiges durchschaubarer als... Nun, ganz im Gegensatz zu einem gewissen Jemand…“, sagte Sherlock allerdings abwertend.

„Auch der Meisterdetektiv sollte sich besser in Acht nehmen. Ein Schauspiel wäre doch schlecht, wenn es seine Zuschauer am Ende nicht erstaunen könnte…“

Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort…

Muscari schloss die Tür zu einem stickigen Kellergewölbe auf.

„Wah!“ Ein kleines Mädchen, kauerte verängstigt in einer Ecke mit schlotternden Knien. Ihre Haare waren zerzaust, die Kleidung klebte ihr verdreckt am Körper und an ihren nackten Füßen hatte sich der Schmutz festgesetzt.

„Komm her meine Kleine. Du bist jetzt frei, ich bin nicht dein Feind“, sprach er liebevoll auf sie ein und ging vor ihr in die Hocke.

„Da unten sollte es sein.“

„Vorsicht… Ich glaube es ist jemand hier!“

„Bleibt etwas hinter mir…“ Auf einmal schallten Männerstimmen zu ihm herunter. `Nanu, ungebetene Gäste? Wo kommen plötzlich diese Leute her? Das kann unmöglich sein…`, dachte Muscari verwundert und ließ sich dennoch davon nicht aus der Ruhe bringen. Er nahm das zitternde Mädchen auf den Arm und blickte hinauf zu einem offenstehenden, kleinen Fenster.

„Pssst, meine Kleine. Wir müssen etwas klettern, dort oben geht es hinaus. Du schaffst das.“ Er legte lächelnd seinen Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete ihr leise zu sein. Das Mädchen nickte stumm, sein entspannter Tonfall hatte es etwas beruhigt. Muscari hob sie mit beiden Armen in die Höhe, es gelang ihr die Fensterbank zu erreichen und sie krabbelte ins Freie. Kurz darauf nahm er Anlauf, sprang nach oben und zog sich selbst hinauf. Gerade so passte er durch das enge Fenster. `Rechtzeitiger Rückzug. Das nenne ich mal eine knappe Aktion, ha, ha`, dachte er belustigt und spähte unauffällig von oben in den Kellerraum hinein.

„Eigenartig… Keiner außer uns, wurde von dieser Begebenheit in Kenntnis gesetzt. Mich haben schon die zwei Toten Männer vorhin stutzig gemacht…“, sagte Louis nachdenklich und blickte sich nach verdächtigen Hinweisen um.

„Das Schreiben mit der Erburkunde fehlt ebenfalls… Was sagst du dazu, Bruder?“, murmelte Albert enttäuscht.

„Allen Anschein nach ist uns jemand zuvorgekommen… Ein schlichter Zufall…“, kam es von einem argwöhnischen William, dessen Augen pedantisch die Stelle betrachteten, wo das Mädchen vor wenigen Augenblicken noch gesessen hatte.

„Wer auch immer es war, er hat praktisch unsere Arbeit erledigt. Doch handelt es sich dabei um einen Feind?“, fragte Louis bedenklich.

„Das werden wir schon noch herausfinden… Albert, sage bitte Moran, dass er seinen Posten verlassen kann“, bat William ihn und sein Blick wanderte hinauf zu dem Fenster. `Netter Versuch… Dann lass uns spielen. Meinen ersten Zug habe ich bereits lange vor dir gemacht. Wie enttäuschend. Ehe du an der Reihe sein wirst, werde ich dich in einen tiefen Graben stoßen, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt…`

„Schnell Kleine, verschwinden wir“, flüsterte Muscari und rannte mit dem Mädchen im Arm pfeilschnell davon. `Bemerkenswert, einfach vortrefflich! Wer hätte das gedacht! Drei Brüder, zwei Widersacher und ein Schicksal. Die Vorstellung kann beginnen…`

Wenige Tage später…

Miceyla saß in einem beschaulichen Park auf einer Bank und schrieb zitternd vor Kälte in ihrem Notizbuch. `Keine Menschenseele kommt wie ich auf die verrückte Idee, hier draußen bei den eisigen Temperaturen zu sitzen. Und dann ist auch noch nicht einmal richtiger Winter… Aber zu Hause finde ich keine Ruhe. Mrs Green musste ja unbedingt ihre halbe Verwandtschaft einladen. Hach, besser ich drücke mich nicht länger. Ich soll schließlich das Abendessen für Mr und Mrs Tyson zubereiten…`, dachte sie deprimiert und nieste. Fröstelnd klappte sie ihr Buch zu und machte sich auf den Weg. Dabei bemerkte sie nicht, wie eines der losen Blätter aus dem Notizbuch herausfiel… Während Miceyla dabei war den Park zu verlassen, lief Muscari entspannt an der Bank vorbei und entdeckte das am Boden liegende Blatt Papier. `Oh, was haben wir denn hier Feines? Ach, welch sinnliche Worte. Bei dieser Melancholie, wird mir ganz wehmütig ums Herz. Solche Zeilen können nur von einer vereinsamten Seele stammen, die in ihrem Käfig sitzt und darauf wartet, sich frei in die Lüfte erheben zu dürfen. Das weckt in mir den Wunsch, dem zerbrechlichen Vögelchen die Freiheit zu schenken und es fliegen zu lassen…`, dachte er animiert während er las und sein Blick folgte Miceyla, wie sie am Rande des Parks verschwand.

Lustlos erreichte sie die Haustür und wollte gerade aufschließen, als Muscari sich ihr von hinten näherte.

„Verzeihung junge Dame. Ich glaube dieses Blatt haben Sie im Park verloren. Ein derart schöner Text, darf nicht einfach abhandenkommen. Nun mag ich mich Ihnen aber nicht länger aufdrängen. Bleiben Sie wachsam und beschreiten Sie keinen zwielichtigen Pfad. Und wer weiß, vielleicht trifft man sich eines Tages wieder“, sprach er höflich mit einem Lächeln und machte sogleich wieder kehrt. Er drehte ihr den Rücken zu und lief davon.

„Vielen Dank…“, rief sie ihm verwundert nach. `Was für ein seltsamer Mann… Und diese sonderbare Aufmachung. Gehört er einer Theater- oder Zirkustruppe an? Huch…! Die letzten Zeilen stammen aber nicht von mir, hat er sie geschrieben? `Amethesya, mein Traum, meine Hoffnung, du weckst eine kostbare Erinnerung. Der Rubin wird den Smaragd kurzweilig beglücken, bis die blutdurstigen Zweifel am Horizont näher rücken. Dein wertvolles Leben gehört nur dir allein, der Saphir wird über dich wachen, als dein eigener Sonnenschein`…`
 

„Herrlich… Was für ein schöner Märztag!“ Miceyla öffnete am frühen Morgen ihr Fenster und begrüßte lächelnd die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Gut gelaunt richtete sie sich her und wollte gerade das Frühstück für Mrs Green fertigmachen, da klopfte es an der Tür. `Schon so früh?`

„Bin gleich soweit!“ Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, traute sie ihren Augen kaum. Mrs Green stand vor ihr und strahlte über das ganze Gesicht. Dabei wackelte sie aufgeregt mit der Hüfte hin und her.

„Miceyla…“, sprach sie mit einer merkwürdig bezirzenden Stimme und hielt eine Hand an ihre errötete Wange. `Ich glaub mich tritt ein Pferd! Sie nennt mich beim Vornamen?! Welche Art von Anfall ist das?`, dachte sie geplättet und wartete gespannt ab was nun geschah.

„Da ist ein umwerfender Adelsschönling… Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein so schniekes Sahneschnittchen gesehen zu haben… Zum Anbeißen“, meinte Mrs Green berauscht.

„Hä? Wie? Was?“ Perplex musste Miceyla sich das Lachen verkneifen. Kurz darauf erschien William oberhalb der Treppe.

„Guten Morgen, Miceyla. Ich hoffe, mein unangekündigter Besuch kommt nicht ungelegen. Meine Absicht war es nicht, hier jemanden beim Frühstück zu stören. Es ist schließlich eine wichtige Mahlzeit, um gestärkt in den Tag zu starten“, sagte er mit gütiger Miene.

„William! Ich wünsche dir ebenfalls einen guten Morgen. Du störst wirklich nicht und…“, begann Miceyla freundlich und versuchte angesträngt, dass plötzlich in ihr brausende Gefühlschaos zu beruhigen. Jedoch verstummte sie, als sie beschämend mit ansah, wie Mrs Green sich ohne Scham an ihn schmiegte.

„Sie können gerne mit mir zusammen frühstücken. Ich halte für Sie ein lauschiges Plätzchen neben mir frei…“, sprach diese betörend. Bei Williams Gesichtsausdruck, musste sie laut losprusten. Er schien leicht irritiert und bemühte sich dennoch darum höflich zu bleiben. Ihr wurde warm ums Herz, als sie diese neue Seite bei ihm kennenlernte.

„Also... Ähm… Das ist sehr aufmerksam von Ihnen…“, erwiderte er nur lächelnd.

„Mrs Green! Jetzt ist aber mal Schluss! Gehen Sie bitte wieder runter, dass Frühstück schmeckt auch alleine!“ Mit dieser deutlichen Ansage, scheuchte Miceyla die alte Frau kichernd die Treppe hinunter.

„Ich warte mein Hübscher, egal wie lange es dauert…“, rief sie noch von unterhalb.

„Ha, ha. Die Dame hat ein feuriges Gemüt“, kommentierte er ihr Verhalten belustigt.

„Ja…das komplette Gegenteil zu ihrer eigentlichen Art… Ich muss mich für sie entschuldigen. Mrs Green hat eine Schwäche für gutaussehende junge Männer. Was schäme ich mich…“, bat sie ihn seufzend um Verzeihung.

„Aber nicht doch. Dafür besteht kein Grund. Mir macht das wirklich nichts aus. Ich bin übrigens hier, um mein Versprechen welches ich dir gab einzulösen“, offenbarte William ihr positiv gestimmt.

„Versprechen?“ Neugierig blickte sie ihn an.

„Na, du erinnerst dich bestimmt, dass ich mit dir gemeinsam zu einem Verlag gehen wollte. Ich bin extra früh aufgebrochen. Wenn bei dir nichts anderes ansteht was Vorrang hätte, können wir direkt los.“ Miceylas Augen begangen vor Aufregung zu leuchten.

„Oh, natürlich! Da freue ich mich aber! Einen Moment, ich gehe eben schnell das Manuskript holen!“ Motiviert hechtete sie zu ihrem Schreibtisch.

„Nur keine Eile, wir stehen ja nicht unter Zeitdruck“, meinte er amüsiert und blieb brav am Eingang zu ihrer Wohnung stehen. `Im Gegensatz zu Sherlock, hat William wesentlich ordentlichere Manieren, ha, ha`, dachte sie belustigt und lief mit dem Manuskript in der Hand wieder zu ihm zurück.

„Ach ja… Ich habe hier etwas für dich. Eine verschlüsselte Botschaft, die Sherlock und ich vorgestern beim lösen eines Mordfalls gefunden haben. Äh… Tut mir leid! Ich bekam noch keine Gelegenheit, dir davon zu berichten. Es war ein ganz gewöhnlicher Fall und ich verhielt mich neutral. Ich…“ Miceyla wusste nicht recht, ob sie angemessen gehandelt hatte.

„Miceyla, immer mit der Ruhe. Du musst dich deswegen nicht vor mir rechtfertigen. Ich sagte doch, dass du weiterhin mit ihm zusammenarbeiten darfst, bei seinen eigenen Fällen.

Entspanne dich mehr. Du wirst sehen, bald wird alles zur Routine. Und danke für die Geheimschrift, dass sieht interessant aus, habe ich fix gelöst.“ Zusammen verließen die beiden das Haus und Miceyla merkte, während sie sich mehr oder weniger durch London führen ließ, dass er einen ganz bestimmten Verlag im Kopf haben musste.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Verlag genau der richtige ist, um als Schriftsteller Fuß zu fassen. Ich empfehle ihn dir.“ William öffnete die Eingangstür zu einem kleinen Buchgeschäft und bedeutete ihr einzutreten. `Das ist doch der Verlag, bei dem John seine Werke veröffentlicht. Ich bin hier schon mal vorbeigelaufen. War das seine Absicht?`, dachte sie erstaunt und schritt zögerlich in Richtung des Verkaufsbereich, auf den Ladeninhaber zu.

„Guten Tag, die Dame und der Herr. Wie kann ich Ihnen behilflich sein? Möchten Sie ein Buch kaufen?“, fragte der Mann höflich.

„Nein… jedoch eines veröffentlichen…“, begann Miceyla mit fester Stimme.

„Oh, das ist aber eine Seltenheit, dass eine Frau mit diesem Anliegen zu mir kommt. Haben Sie denn ein Manuskript dabei?“ Der Mann war wirklich ein herzlicher Mensch und lächelte sie freundlich an. Ob das bloß an der Anwesenheit von William lag, konnte sie nicht sagen. Dennoch war er ausschließlich ihr zugewandt.

„Ja gewiss. Hier, bitte sehr.“ Sie überreichte ihm das ordentlich zusammengeheftete Manuskript und er warf ein paar flüchtige Blicke hinein. Erwartungsvoll sah sie ihn an.

„Eine außergewöhnlich schöne Handschrift haben Sie. Und das haben wirklich alles Sie geschrieben?“, hakte der Buchhändler nach.

„Natürlich, dass stammt vom Anfang bis zum Ende von meiner Feder“, antwortet sie ehrlich. Irgendwie bekam sie Angst, dass es ihn nicht zufriedenstellte. William an ihrer Seite machte ihr Mut. Ganz bestimmt gab sie nicht einfach so schnell auf.

„Also… Falls noch etwas nachgebessert oder überarbeitet werden muss, dann lassen Sie es mich wissen. Ich bemühe mich und…“

„Bitte notieren Sie mir hier Ihren Namen und Ihre Adresse. Ich werde Ihr Manuskript lesen und Ihnen eine Nachricht zukommen lassen, wann ich Ihr Buch veröffentlichen kann. Und unter anderem, wie viele Exemplare gedruckt werden“, teilte er gemächlich mit. Miceyla glaubte ein Wunder sei geschehen, sie freute sich wie ein kleines Kind.

„Das ist wunderbar! Vielen lieben Dank!“

„Ich gebe Ihnen auch meine Adresse. Senden Sie mir ein Telegramm, wenn es so weit ist. Schließlich mag ich der Erste sein, der ein von dir geschriebenes Buch in Händen hält“, sagte William, der Miceyla liebevoll ansah und den Frohsinn darüber mit ihr teilte. Sie strahlte so überglücklich, wie schon lange nicht mehr.

„Auf Wiedersehen und bis bald.“ Der Buchhändler verabschiedete sich zufrieden, nachdem alles Wichtige besprochen war und sie lief beflügelt mit William wieder nach draußen.

„Danke William. Du hast mir heute einen Traum erfüllt, den ich schon seit meiner Kindheit verfolge“, bedankte sie sich und würde diese gute Tat von ihm sicher niemals vergessen.

„Das war nur eine Kleinigkeit, ich habe lediglich etwas nachgeholfen. Dies wird erst der Auftakt von deinem Traum sein… Sehr gut! Das verlief ziemlich zügig. Dann haben wir noch den ganzen restlichen Tag, für unseren Ausflug zur Verfügung.“, meinte er munter und prüfte die Uhrzeit auf seiner goldenen Taschenuhr.

„Ein Ausflug, wohin?“ Neugierig überlegte sie, welche weitere Überraschung sie erwarten sollte.

„Nach Durham, wir bekommen sogar noch den nächsten Zug. Du warst garantiert noch nie dort. Es wird dir gefallen, da bin ich mir absolut sicher“, enthüllte er den Ort, der ihm vorschwebte.

„Oh, Durham! Du hast dort doch für einige Zeit an einer Universität unterrichtet, ehe du nach London gewechselt bist. Es ist praktisch eure alte Heimat, wenn ich mich recht entsinne.“

„Sagen wir es ist unsere `zweite` Heimat. Ich bin noch öfters in Durham zugegen und unser Anwesen in der kleinen Stadt, befindet sich noch immer in unserem Besitz“, sprach er mit einem Augenzwinkern. Plötzlich ging die Fantasie mit ihr durch und sie bekam wilde Vorstellungen.

„Warte mal! Wenn du den ganzen Tag dafür eingeplant hast, wird das hoffentlich kein geheimer Auftrag?! Ich bin wieder völlig unvorbereitet, unbewaffnet und…“, flüsterte Miceyla und sah verstohlen umher, ob sie jemand belauschen könnte. William, der gleichzeitig verwundert als auch belustigt über ihre Unterstellung war, begann laut zu lachen.

„Ha, ha! Ich kann dir nicht übelnehmen, dass du als erstes an jene Unterfangen und dergleichen denkst. Aber ich versichere dir, dass ich wirklich nur einen gewöhnlich erholsamen Abstecher nach Durham vorhabe. Die richtige Arbeit kommt noch früh genug auf dich zu. Jedoch, falls du unbedingt mehr Nervenkitzel wünschst, fände ich das sehr schade. Wo ich jetzt extra alle Vorlesungen für den heutigen Tag abgesagt habe…“, erwähnte William mit enttäuschtem Gesicht. Sie wusste sofort, dass er sie nur gespielt aufziehen wollte.

„Was, nur für mich? Da bekomme ich ja ein schlechtes Gewissen!“

„Das ist nicht nötig. Meine Studenten müssen den Lernstoff selbstständig nacharbeiten. Ich freue mich schon darauf, sie morgen abzufragen“, verriet er ihr und grinste verschwörerisch.

„Oha… Nun habe ich eher Mitleid mit deinen armen Studenten… Natürlich bereitet es mir eine Freude, wenn wir Durham besuchen. Beschauliche Städte mit ländlicher Gegend, habe ich sehr gern. Das ist eine willkommene Abwechslung, zu dem lauten, unhygienischen London, wo sich die Menschen gegenseitig auf die Füße treten.“

„Du sagst es. Na dann, auf zum Zug.“ Miceyla betrat mit William am Bahnhof ein Zugabteil, welches ausschließlich für vornehmere Herrschaften vorgesehen war. Es war ihr etwas unangenehm, von allen Seiten mit vorwurfsvollen Blicken beäugt zu werden. `Wenn ich dies geahnt hätte, wäre ich heute Morgen feiner gekleidet aus dem Haus gegangen…`

„Macht es dir denn gar nichts aus… Ich meine… Wirft es kein schlechtes Licht auf dich, wenn wir uns hier zusammen aufhalten?“, fragte sie leise neben ihm, während sie nach einem freien Platz suchten.

„Darüber machst du dir Sorgen? Was kümmern mich die Meinungen anderer. Lass die Leute nur blöd schauen, anscheinend haben die nichts Besseres zu tun. Du hast außerdem keine teuren Kleider nötig, um schön auszusehen. Deine bezaubernde Ausstrahlung, besiegt die ganzen verdorbenen Charaktere um dich herum.“ Nach diesem Kompliment, legte er selbstsicher einen Arm um sie und die Gesichter der Zugpassagiere wurden immer empörter. Miceyla wusste nicht recht, wie sie bei Williams plötzlich so impulsiven Verhalten reagieren sollte. Sie amüsierte sich einfach nur, über die übertriebenen Reaktionen der Leute. Die Zugfahrt dauerte eine ganze Weile und die zwei nahmen den vielfältigen Essservice in Anspruch.

„Herrlich… Diese frische und saubere Luft!“ Miceyla verließ als erste in Durham den Zug und genoss für einen Augenblick, mit zur Seite ausgestreckten Armen, die angenehme Landluft.

„Na komm, hier geht’s lang.“ William war bereits ein Stück vorgelaufen und sie eilte ihm hinterher. Er führte sie durch die friedliche Ortschaft und die beiden wurden öfters warmherzig begrüßt.

„Hier herrscht aber eine familiäre Stimmung“, fiel ihr begeistert auf.

„Dafür mussten wir auch erst einmal sorgen…“, meinte er mit entspannter Miene.

„Äh… Ha, ha… Verstehe schon…“

„Professor Moriarty! Wie schön Sie hier zu sehen!“ Ein junger Mann kam freudestrahlend auf William und sie zu gerannt.

„Hallo Oliver. Wie geht es Ihnen? Machen Sie Fortschritte bei Ihrem Studium?“, begrüßte William ihn. `Das muss einer seiner ehemaligen Studenten sein…`, dachte sie sich.

„Mir geht es bestens, danke. Ich konnte mich doch noch am Riemen reißen und strenge mich jetzt mehr an. Ich lerne auch fleißiger. In diesem Jahr werde ich meinen Abschluss machen. Was freue ich mich darauf, endlich meine Familie wiederzusehen“, sprach der Student heiter.

„Das hört sich ja fabelhaft an. Dann wünsche ich Ihnen weiterhin viel Erfolg. Aber ruhen Sie sich nicht zu sehr darauf aus und bleiben Sie zielstrebig“, gab William seinem Schützling mit auf den Weg, welcher winkend weiterlief.

„Na klar! Tschüss Professor! Und Sie sind beide ein echt süßes Paar!“ `E-ein Paar?!` Schüchtern blickte Miceyla zu Boden.

„D-deine Studenten respektieren dich wirklich sehr. Du wirst unheimlich bewundert… Auch wenn ich mir gut vorstellen kann, dass du sicher oft recht streng bist, ha, ha“, sagte sie lächelnd.

„Nun, als ein vorbildlicher Dozent ist es meine Pflicht, für Zucht und Ordnung bei den jungen Adeligen zu sorgen. Jeder der anstrebt, später einmal ein hohes Amt zu bekleiden, muss vernünftig erzogen werden. Lass uns einen Ort suchen, an dem wir ungestört reden können“, schlug er mit einem gütigen Lächeln vor. Die zwei entschieden sich für einen idyllischen, begrünten Hügel, auf dem die ersten zarten Knospen blühten, die ein Vorbote für den Frühling waren. Am Fuße des Hügels, befand sich eine überschaubare Ansammlung von Landhäusern, an dessen Seite sich ein Fluss entlangschlängelte. Das gute Wetter war noch immer sehr beständig und die Sonne schien wärmend, von einem beinahe wolkenlosen Himmel herab. Sie setzte sich neben ihn auf eine weiche Wiese. `Das erinnert mich fast an meinen Traum von neulich…`, kam ihr gedankenversunken in den Sinn.

„Für dich müssen solche friedlichen Momente sehr kostbar sein…“, begann Miceyla ein wenig betrübt. Und betrachtete sein ausgeglichenes Gesicht.

„Ich schätze das Leben und bin dankbar für jeden einzelnen Tag, an dem ich die Welt ein kleines bisschen besser machen kann. Ein Moment wie dieser tut gut, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten und mit sich selbst ins Reine zu kommen. Jedoch wird das zukünftig eher zu einer Seltenheit…“, erzählte er standhaft.

„Du hast einen schweren Lebensweg gewählt. Es muss doch manchmal belastend sein, auch wenn du dir nichts anmerken lässt. Ich meine… So viele Menschenleben auf dem Gewissen zu haben. Zerbricht man nicht früher oder später daran?“, stellte sie ihm eine unangenehme Frage.

„Am Anfang ist dies nie leicht. Man gewöhnt sich daran, so seltsam das auch klingen mag. Aber wir töten nicht blindlinks. Du weißt, dass ich dem Volk die Verdorbenheit des Adels vor Augen führen will. Dafür bedarf es gezielter Opfer und nicht in Verbindung stehender Tötungsdelikte. Ein wichtiges Fundament dafür ist, alles bis ins kleinste Detail zu durchdenken. Fehler können wir uns nicht erlauben. Der Adel muss von seinen Privilegien wegkommen und Hand in Hand mit dem Volk zusammenarbeiten. London wird zu einem Schauplatz von Verbrechen. Und wir, der Name Moriarty, wird nach und nach für Brutalität stehen. Somit erzwingen wir eine Zusammenarbeit zwischen dem Volk und dem Adel. Es wird eine gleichmäßige Verteilung der Rechte hergestellt…“, verriet er die Absichten seines Plans etwas genauer. Miceyla hätte geschockt sein sollen, jedoch ahnte sie längst, welche überdimensionalen Ideen er in die Tat umsetzen wollte.

„Das konzipierte Böse, welches das wahre Böse vernichtet… Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis Sherlock und alle anderen erfahren, wer hinter den auffälligen Verbrechen steckt. Und wie soll das ganze enden? Ihr könnt…ich meine wir, können unmöglich ein ganz normales Leben weiterführen. Keiner wird das jemals akzeptieren…“ Williams rote Augen sahen sie wie gebannt an. Mit einer felsenfesten Entschlossenheit, so eisern, wie ein unerschütterlicher Fels in der Brandung. Und dennoch verbarg sich hinter dieser immensen Stärke, die pure Trauer. Verlassenheit, der eigene Zwang, die erdrückenden Sorgen zu verstecken. Auch wenn es beinahe unsichtbar schien, sie konnte es genau erkennen.

„Sherlock wird einer der Ersten sein, welcher dahinterkommt. Mache dich darauf gefasst, dass dies das Ende eurer kurzweiligen Freundschaft bedeuten könnte… Und am Schluss unseres Plans, wird der Name Moriarty nicht mehr existieren… Es fällt mir schwer, dass vor dir auszusprechen. Ich wollte damit warten. Aber du begreifst zu schnell. Vergib mir… Und ich ziehe dich damit hinein. Es ist schrecklich egoistisch von mir. Noch ist es für einen Rückzug nicht zu spät. Ich kann nachvollziehen, wenn dich diese Bürde letztendlich doch erdrückt…“, sprach er beklommen und vergrub sein Gesicht kurz in seiner rechten Hand. `Nein… Bitte lass das nur eine Lüge sein… Er und seine Brüder wollen sich selber opfern, für unser Land?! Warum bin ich davon so erschüttert…? Es gab eine lange Zeit, in der ich keinen Sinn zum weiterleben gesehen habe… Natürlich! Keiner ist da gewesen, der mich hätte vermissen können. Jetzt verstehe ich. William und seine Leute lassen nur gezielt Menschen an sich heran, die in Kauf nehmen, ihr Schicksal zu teilen. Deswegen grenzen sie sich so sehr vom Rest ab und bleiben auf Distanz. Auf diese Weise entsteht keine Reue und keine geliebten Angehörigen werden trauernd zurückgelassen… Brüder, die bis zum Tod alles gemeinsam durchstehen. Es schmerzt… Jetzt traf ich endlich auf gleichgesinnte Menschen und erfahre, dass es bloß von kurzer Dauer sein wird. Ja… Mir ist bewusst, dass sich die Folgen ihres grausamen Plans nicht vermeiden lassen werden. Trotzdem, mein größter Wunsch ist, an der Seite von William zu leben, mit ihm und seinen Brüdern weiterhin lachen zu können. Egal wie viel Zeit uns dafür bleibt.` Miceyla spürte einen stechenden Schmerz im Herzen. Ihre überwältigenden Emotionen, konnte sie kaum mehr zurückhalten und ergriffen packte sie seine linke Hand.

„Wir teilen uns nun diese Bürde. Ich versprach, dass ich an deiner Seite bleiben werde, Freud und Leid mit dir und unseren Freunden teile. Eher sterbe ich, als von euch, den einzigen Menschen die ernsthaft etwas verändern wollen, getrennt sein zu müssen. Jede Tragödie hat ihren gewissen Glanz“, wimmerte sie und war den Tränen nahe.

„Miceyla…“ William strich sanft mit seinen Fingern, eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und lächelte sie dankbar liebevoll an.

„Ach, ich bin einfach unmöglich. Ich wollte doch, dass es ein heiterer Ausflug für dich wird. Aber bitte sorge dich nicht unnötig. Das Ziel unseres Plans liegt noch in weiter Ferne. Mach dir darüber jetzt noch keine Gedanken. Du hast endlich ein glückliches Leben verdient“, bat er sie trübsinnig.

„Wann ist denn der Stichtag, damit ich mir den gleich notieren kann“, erkundigte sie sich mit Ironie, um die angespannte Stimmung etwas aufzulockern.

„Bitte mache das nicht, ich fände dies ein wenig makaber“, erwiderte er grinsend.

„Das klingt seltsam, wenn es aus deinem Mund kommt.“ Miceyla ließ sich lächelnd nach hinten auf die Wiese fallen und betrachtete den klaren blauen Himmel.

„Wer weiß, was bis dahin noch alles passiert. Vielleicht gibt es einen entscheidenden Faktor, der sogar dir entgangen ist.“

„Und der wäre? Jetzt bin ich aber mal gespannt“, fragte er interessiert und legte sich neben sie.

„Die Zeit, William. Was ich damit meine ist, du kannst nicht vorhersehen, was in der Zukunft geschehen wird. Das Leben verändert sich stetig und die Menschen werden

fortschrittlicher. Wir erfinden uns immer wieder neu und stecken jedoch auch Rückschläge ein. Daran wachsen wir. Die Menschen passen sich ihrem Umfeld an, vergessen ihre Fehler und wiederholen diese. Das liegt in ihrer Natur. Manchmal ist es klüger, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen und abzuwarten. Was du mit Gewalt erzwingen willst, regelt die Zeit mit aller Wahrscheinlichkeit von ganz alleine. Bestimmt hört sich das für dich, wie der naive Gedanke eines weltfremden Kindes an. Doch ich beobachte die Menschen ganz genau und verschließe die Augen nicht vor der Wahrheit. Ich schwimme stur gegen den Strom und bilde mir mein eigenes Urteil von Recht und Unrecht. Selbst wenn die Menschen als eine Einheit fungieren, wird es immer wieder zu Streitigkeiten und Spaltungen in der Gesellschaft kommen. Man sollte keinem Menschen den Tod wünschen. Dies macht aus uns Barbaren. Es ist unmöglich, alle Bösewichte auf dieser Welt zu bestrafen… Das menschliche Herz ist ein freies, unabhängiges Individuum und gehört nur sich selbst. Du kannst es mit keiner mathematischen Gleichung beugsam machen“, teilte Miceyla ihm ihre ganz persönliche Meinung zu dem Thema mit und war neugierig, was er ihr nun entgegensetzen würde. William, der aufmerksam zugehört hatte, lächelte vorerst schweigsam.

„Wer hätte gedacht, dass sich hinter der träumerischen Dichterin, eine waschechte Realistin verbirgt. Natürlich weiß ich ganz genau, dass du wie ich sehr idealistisch denken kannst. Mit deinen Aussagen hast du nicht ganz unrecht. Dennoch betrachte ich die aktuelle Situation in unserem Land, von einem anderen Standpunkt aus. Ich nehme gerne die Herausforderung an dir zu beweisen, welches Potenzial in mir und meinen Brüdern steckt, um eine radikale Veränderung zu schaffen. Ja, und überzeugen wir uns gegenseitig, von unseren unterschiedlichen Sichtweisen. Wir sind beide ziemliche Sturköpfe. Wenn wir uns noch besser kennenlernen, werden wir erkennen, wie ähnlich unsere Ansichten doch sind“, sprach er vorausschauend etwas fröhlicher und setzte sich wieder hin. Auch Miceyla richtete sich auf und beobachtet nachdenklich unterhalb des Hügels, einen kleinen Jungen, der munter zusammen mit seiner Mutter nach Hause lief.

„Eigentlich bringe ich mit dem Landleben nichts Gutes in Verbindung… Ich bin insgeheim schon immer neidisch auf glückliche Familien gewesen. In ein Zuhause zurückzukehren, wo Menschen auf einen warten, die einen lieben und wertschätzen. Doch eine wirklich glückliche Familie findet man nur selten. Hinter den positiven Gesichtern, verbirgt sich meistens ein tragisches Familiendrama. Meine Eltern haben mich nach etlichen Peinigungen, praktisch ausgestoßen und alleine gelassen… Geschwister habe ich keine, die mein Elend hätten teilen können. Doch mich nahm später ein sehr warmherziges altes Ehepaar auf, wenn auch nur aus Mitleid mit mir. Selbst hatten sie nie Kinder gehabt. Sie verstarben vor ein paar Jahren. Um Dankbarkeit für ihre unendliche Güte zu zeigen, lernte ich ein fleißiger und wissbegieriger Mensch zu werden, der jede noch so kleine gute Seite, an dieser schrecklichen Welt wertschätzt. Ich kämpfe mich trotz allem, auf mich allein gestellt durchs Leben und fand Trost beim Schreiben. Ich schenke den Menschen ein Lächeln, auch wenn die meisten mir nie zurücklächeln. Zugegeben… In meinen Vorstellungen, wehre ich mich gegen die ganzen verdorbenen Männer, die uns Frauen wie ihre Sklaven herumschubsen. Nichts verabscheue ich so sehr, wie diese ganzen unmoralischen Kerle! Ähm… Hoppla… Verzeih, ich drifte etwas ab… Allerdings traf ich auf dich, Albert und Louis. Ich schöpfte wieder neue Hoffnung…“, erzählte Miceyla William von ihrer harten Vergangenheit.

„Es ist ein schönes Gefühl, dass du dich mittlerweile mir gegenüber öffnen kannst. Hasse diese Männer ruhig, sie haben deinen Hass mehr als nur verdient. Ich habe dir gleich zu Beginn angesehen, dass du einen schweren Lebensweg hinter dir hast. Lasse die schmerzvollen Erinnerungen los und schaffe Platz für neue, glückliche. Vielleicht tröstet es dich, wenn ich dir sage, dass ich dich schon früher gerettet hätte, wäre ich dir zu jener Zeit begegnet. Da du mir von dir berichtet hast, mag ich mich dafür revanchieren. Doch lass mich dir zuvor noch eine kurze Frage stellen, auch wenn ich deine Antwort bereits kenne. Würdest du mich mögen und meine Person anerkennen, auch wenn ich nur ein gewöhnlicher Bürger und kein Adeliger wäre?“, fragte er und legte lächelnd den Kopf etwas schräg.

„Ach William… Es ist mir völlig gleichgültig, ob du aus einer Familie mit hochangesehenem Stammbaum oder aus einer einfachen Bauernfamilie abstammst. Aus Titel und Ansehen mache ich mir nicht viel. Der Mensch als solcher mit edlem und gütigem Herz, ist alles was für mich zählt. Und so jemand bist du auf alle Fälle. Gleichzeitig aber auch furchtlos und unerbittlich. Der Grund dafür, wird wohl in deiner eigenen Vergangenheit liegen“, erwiderte Miceyla bestärkend. Als würde sich William für einen Augenblick zurückerinnern, betrachtete er die Häuser in der Ferne mit wehmütigem Blick.

„Louis und ich sind als Waisen aufgewachsen. Wir haben uns alleine durchgeschlagen, bis wir in ein kleines Waisenhaus kamen. Ich half den Menschen bei jeglichen, alltäglichen Problemen mit Rat und Tat weiter. Auf diese Weise erhielten wir zum Dank etwas zu essen. Eines Tages begegneten wir dann Albert, der uns bei seiner Familie aufnahm. Er war der Erstgeborene. Und da der Adel verpflichtet, waren seine Eltern dazu gezwungen zuzustimmen. Albert hatte einen jüngeren Bruder, sein Name war William. Ich schlüpfte öfters in dessen Rolle. Alberts Eltern und sein Bruder, waren die typisch verdorbenen Adeligen, wie sie im Buche stehen. Ich mag dich nicht mit Einzelheiten plagen. Mir wäre lieber, wenn wir uns irgendwann mit meinen Brüdern darüber unterhalten. Jedenfalls haben Louis und ich, Albert unser neues Leben zu verdanken. Unter anderem wurde Louis, der als kleiner Junge schwer krank gewesen war, dank seiner Hilfe wieder gesund. Es war der Beginn unseres unzertrennlichen Bandes und die Geburtsstunde jenes Planes. Wir entledigten uns Alberts abscheulicher Familie und brannten das gesamte Anwesen nieder. Unser erstes perfektes Verbrechen… Wir drei galten als die einzigen Überlebenden. Ich wurde zu seinem Bruder William und Louis offiziell zu unserem jüngeren Adoptivbruder. Den Rest kennst du ja… Nun bist auch du, in unser kleines Geheimnis eingeweiht“, offenbarte er den Auftakt seiner Reise zum Verbrecher.

„Dann ist es ja wirklich Schicksal gewesen, dass ihr Albert begegnet seid. Er schenkte dir die nötigen Voraussetzungen für dein Vorhaben. Wie schön…eure unerschütterliche Verbundenheit. Ich bewundere euch drei sehr“, meinte Miceyla verträumt und blickte ihn harmonisch an.

„Du gehörst doch bereits dazu. Aber… Wärst du gerne ein richtiger Teil von uns?“, fragte er mit einem mysteriösen Lächeln und sie bemerkte dabei seine Anspielung nicht, die sich dahinter verbarg.

„Ja! Wenn ich ein Mann wäre, stünde mir nichts und niemand mehr im Weg! Ich würde ganz London unsicher machen, für die Einhaltung der Gesetze sorgen und Frauen und Kinder beschützen. Ich wäre ein heldenhafter Soldat, dessen treue Kammeraden mit mir durch dick und dünn gehen! Da hört ihr es! Gebt euch lieber in Acht, ihr Unholde! Ha, ha!“, rief sie euphorisch und schrie die letzten Worte regelrecht voller Inbrunst in die Welt hinaus. William machte vor Erstaunen große Augen neben ihr und kurz darauf brach er in schallendes Gelächter aus. Er konnte kaum mehr aufhören, so ausgelassen lachte er. Miceyla freute sich ungemein, dass sie ihn das erste Mal, richtig von Herzen lachen sah. Es war das schönste Gefühl, das sie je verspürt hatte.

„Ha, ha…ha, ha…! Das war nicht, was ich damit meinte. Du bist wirklich eine außergewöhnliche junge Frau. Du passt in keiner Weise, in das vorgegebene Schema, welches andere Frauen befolgen. Aber mal etwas ganz anderes. An dem Tag, wo wir dich in unsere Gemeinschaft aufgenommen haben, hast du dir sicherlich gedacht: `Sherlock werdet ihr kein Haar krümmen! Ich könnte ganze Berge versetzen, um euch daran zu hindern!`“, sprach er mit gespielter Ernsthaftigkeit und ahmte sie dabei nach.

„Hey! So habe ich mir das bestimmt nicht gedacht! Und was ist mit dir? Kann mir gut vorstellen, über was ihr getratscht habt und du sagtest: `Komm, machen wir sie gefügig, damit sie all unsere Befehle ohne Widerworte befolgt!`“, sagte sie mit einer tiefen Stimme und sah ihn dabei finster an. Die Blicke der beiden trafen sich und sie konnten nicht anders, als laut loszulachen.

„Etwas Derartiges würde ich nie sagen. Wir beide können uns wirklich nichts vormachen…“ Mit entspannter Miene sah er sie an.

„Nein, das können wir nicht…“

„Und habe keine Angst um Sherlock und John. Ich respektiere den Detektiv. Seine erfrischenden Denkweisen, kommen London zugute. Einer muss ja das geradebiegen, wobei die Polizei versagt… Was glaubst du geht in den Köpfen von Menschen vor, die sich gerade kennengelernt haben und vor einem neuen, unbekannten Lebensabschnitt stehen? Wie malt man sich die gemeinsame Zukunft aus?“, stellte William eine unvorhergesehene Frage, die vom bisherigen Thema abschweifte.

„Mal überlegen… Da kommt es natürlich ganz darauf an, von welcher Zielgruppe die Rede ist. Aber ich kann mir denken, auf welches Szenario du hinauswillst. Definitiv schwärmt man zusammen von einer glorreichen Zukunft. Menschen erzählen sich gegenseitig, von den schönen Facetten des Lebens, welche sie entdecken möchten. Was dabei alles schief gehen könnte, wird oft auf die leichte Schulter genommen. Die meisten Vorstellungen und Erwartungen, bleiben fast immer unerfüllt. Lug und Betrug bestimmen den Alltag. Und anstatt etwas Ertragreiches vollbracht zu haben, hinterlässt man bloß einen Scherbenhaufen von zerbrochenen Träumen und verletzt die geliebten Menschen um sich herum… Ha, ha, das klingt ganz schön deprimierend. Die Realität schmerzt leider…“, beantwortete Miceyla ehrlich seine Frage.

„Diese typischen Fehler begeht die große Mehrheit, welche sich von ihren Emotionen blenden lässt. Jeder noch so glückliche Moment ist vergänglich. Ob wir am Ende die guten oder die drastischen Erinnerungen beibehalten wollen, ist uns selbst überlassen. Dann drehen wir den Spieß doch einfach einmal um! Sagen wir uns gegenseitig all die schlechten Begebenheiten, die eintreffen könnten. Nennen wir die unangenehmen Dinge, die sonst keiner wagen würde auszusprechen. All das, was speziell uns beide betrifft. Halte dich nicht zurück, du fängst an!“, forderte William sie dazu, ganz spontan mit einem frechen Grinsen auf. Miceyla zögerte kurz etwas verwundert, doch ließ sie sich schließlich auf sein kleines Spielchen ein.

„Ähm… Nun gut… Deine Überlegenheit steigt dir irgendwann zu Kopf und du handelst übermütig. Dadurch schadest du einem, dir nahestehenden Menschen…“

„Du schlägst dich auf die Seite von Sherlock und brichst deine Treue mir gegenüber“, fuhr er seelenruhig fort.

„Eine Person stellt sich dir in die Quere. Genau! Ein ebenso überragendes Genie wie du, welches sogar Sherlock als Bedrohung ansehen muss. Und auf einmal, werden deine ganzen tadellosen Pläne, über einen Haufen geworfen.“ Miceyla bekam immer lebhaftere Spekulationen.

„Also dieses Genie würde ich nur zu gern kennenlernen… Doch lassen wir unsere Darlegungen einfach unkommentiert. Ich mache weiter. Du wirst unaufmerksam und verlierst den Fokus in einer brenzligen Situation, weil du an jemanden denkst…“ Abrupt brach er ab und blickte ohne weitere Worte in ihre grünen Augen. Dieses zaghafte Anzeichen von Verunsicherung, war untypisch für ihn. `An wen soll ich denken? Ist es jemand, für den ich Gefühle hege? Keiner außer dir wird jemals…` William unterbrach ihre Gedankengänge, als er erhaben aufstand und sie lächelnd ansah.

„Lassen wir das lieber. Wir werden schon eigenständig dafür sorgen, dass nichts davon eintreffen wird. Komm, wir haben lange genug hier gesessen. Die Luft ist immer noch recht kühl, wenn man zu lange unbewegt an einer Stelle bleibt. Außerdem habe ich dir noch nicht alles, von dem schönen Durham gezeigt.“ Sie stand nun ebenfalls auf und nickte heiter. Es kam ihr seltsam vor, dass er plötzlich schweigsamer wurde, während sie Seite an Seite durch die stille, menschenleere Natur von Durham spazierten.

„Ist etwas nicht in Ordnung? Habe ich vielleicht doch etwas Falsches gesagt?...“, flüsterte Miceyla und blieb beunruhigt stehen. Er lief noch ein Stück weiter, ehe auch er zum Stehen kam. Erstaunt bemerkte sie, dass er leise kicherte.

„Du sorgst dich zu sehr um andere. Nicht das ich daran etwas auszusetzen hätte. Deine Angst Fehler zu begehen, verunsichert dich. Lerne zu vertrauen, dir selbst und anderen. Nur so kannst du über deinen eigenen Schatten springen. Denn du weißt doch, meine tapfere Soldatin, keiner kann einen Krieg gewinnen, der nie gelernt hat ein Schwert zu führen. Und Träume gehen nicht für denjenigen in Erfüllung, der sich nicht aus seiner Komfortzone heraustraut und bereit ist, auch mal die Regeln zu brechen. Sonst verwelkt die anmutige Rose, ehe sie in voller Blüte erstrahlen kann… Du brauchst eine Stütze, die dich lenkt und auffängt, wenn es zu turbulent wird. Bitte erlaube mir, dass ich diese Stütze für dich sein darf…“, sprach er feinfühlig, mit dem Rücken zu ihr gewandt.

„William…“ Ihr Herz begann wie wild zu schlagen und sie vergaß beinahe das gleichmäßige Atmen. Langsam drehte er sich zu ihr um. Wie bei ihrer ersten Begegnung, verschmolzen ihre Blicke miteinander. Es gab kein gestern und morgen mehr, nur noch ein hier und jetzt. William besaß die Kraft, all ihre Sorgen verschwinden zu lassen. Sie hätte nie in Worte fassen können, wie unfassbar schön sich dieses Gefühl der Geborgenheit anfühlte, wenn sie in seiner Nähe war. Plötzlich meinte Miceyla, durch ihre eigenen Träume zu wandern, als er sich direkt vor ihr mit einem zuckersüßen Lächeln, auf einem Bein niederkniete. Er hielt ihr einen silbernen, diamantenbesetzten Ring, mit einem glänzenden Amethysten darauf entgegen.

„Miceyla… Bitte heirate mich. Werde die Frau an meiner Seite, welche mich auf dem Weg zu einer neuen, gerechten Welt begleitet. Sei eine Zeugin unserer Taten, mit denen wir Geschichte schreiben werden. Ich schenke dir meine Stärke, damit du die Ketten, von deinem im Inneren gefangenen Mut, lösen kannst. Schenke du mir im Gegenzug all deine Gutmütigkeit und deinen klaren Blick, mit dem du in die Herzen der Menschen schaust und ihre Gefühle und Absichten ablesen kannst. Es ist Zeit den Pfad der Einsamkeit zu verlassen. Zusammen werden wir alles erreichen und niemand wird je imstande sein uns aufzuhalten. Du wirst bald sehen, er existiert noch, der friedliche Ort, wo geliebte Menschen auf einen warten. Ich mag dir zwar kein langes, glückliches Leben bieten können… Doch würden wir beide jeden einzelnen Moment mehr genießen und wertschätzen, als jeder andere. Niemals…habe ich für jemanden so empfunden… Ich liebe dich, Miceyla… Du kannst dir nicht vorstellen wie sehr. Was musste ich mich die ganze Zeit über zurückhalten. Ich darf mich nicht in meinen Gefühlen verlieren. Und dennoch… Mir fehlte etwas, wenn ich diese Welt verließe, ohne jemals richtig geliebt zu haben… Bitte sage was. Fall mir hier nicht in Ohnmacht…“ Sein Heiratsantrag kam so unerwartet, dass Miceyla einfach nur regungslos dastand und mit Tränen in den Augen, seiner rührenden Rede zuhörte. Sie sah es, sein gutes und reines Herz, welches sich hinter einer kalten, selbstbewussten Fassade verbarg. Dieses Herz musste sie beschützen und davor bewahren, ehe das Böse es vergiftete.

„Ja…ja…ich will dich heiraten. Ich liebe dich auch. Schon seit unserer ersten Begegnung liebe ich dich. Es ist mir gleichgültig, ob wir ein gewöhnliches Leben führen können oder nicht. Zwei, zehn oder hundert Jahre, es spielt keine Rolle. Jeden einzelnen Tag werde ich dich lieben und für dich da sein. Lieber sterbe ich in den Armen meines Geliebten, als ein ganzes Leben in Einsamkeit zu fristen…“, gab sie William gefühlvoll ihr Jawort und streckte ihm überglücklich ihre Hand entgegen. Lächelnd erhob er sich und steckte den funkelnden Ring an ihren Finger. Zärtlich strich er mit seiner Hand über ihre Wange und zog sie sachte an sich heran. Ganz langsam näherte er sich ihrem Gesicht, während seine starken Arme sie gegen seinen Körper drückten. Miceyla spürte seinen rhythmischen Herzschlag und schloss instinktiv die Augen. William küsste sie liebevoll auf die Lippen. Beschwingt erwiderte Miceyla dessen Kuss. Seine Lippen fühlten sich unglaublich warm und weich an. Behutsam schlang sie ihre Arme um ihn. Sie wollte ihn nie mehr loslassen. Sein Kuss wurde von Moment zu Moment fordernder und leidenschaftlicher. Als wollte er ihr damit sagen: Du gehörst von nun an zu mir, für immer.
 

Liebes Tagebuch, 6.3.1880
 

die wahre Liebe existiert. Manchmal braucht es einfach nur Zeit und Vertrauen. Liebe kann einem ganz plötzlich begegnen, ohne dass man darauf gewartet oder danach gesucht hat. Nach und nach wächst die Liebe und wird stärker. Doch muss sie gut behütet werden, sonst verschwindet sie ganz schnell wieder. Verdiene ich ein solches Glück? Diese Frage kommt mir nun in den Sinn. Möglicherweise sollte ich es wertschätzen und lernen anzunehmen. Mein Wunsch ist es andere glücklich zu machen. Sogar William wird trotz der Umstände, unserer Liebe eine Chance geben. Ich freue mich wahnsinnig, dass er meine Empfindungen für ihn erwidert. Gleichzeitig verspüre ich aber auch, ein bedrückendes Gefühl in meiner Brust… Ein makelloser Plan, vom Anfang bis zum Ende gründlich durchdacht. Ohne Fehler und Zwischenfälle soll es vonstattengehen. Ist dies überhaupt möglich? Warum habe ich dabei nur so ein schlechtes Gewissen? Liegt es daran, dass ich auch Sherlocks Ansichten unterstütze? Williams Brüder und Verbündete folgen ihm wie einem König. Einer muss ja den ersten Schritt machen und unsere Gesellschaft wachrütteln. Trotzdem… William, unterschätzt du Sherlock nicht ein klein wenig? Ich sollte besser gelassen bleiben. Sonst wird das alles schlussendlich, wirklich zu einer schweren Bürde. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal heiraten würde… Und ich werde tagtäglich von liebevollen Menschen umgeben sein. Nun habe ich etwas sehr Wertvolles gefunden. Eine neue Familie.
 

Funkelnder Rubin und leuchtender Smaragd
 

Schillernde Augen, funkelnder Rubin,

die endlose Sehnsucht, tief in mir verborgen wie es schien.

Sachte, so zart wie deine Finger gleiten über meine Haut,

sanfte Worte, du wirst mich machen zu deiner Braut.
 

Meine Träne verabschiedet die letzte Nacht,

in der Einsamkeit von mir ergreift die Macht.

So nah, so klar dein Lächeln im Mondschein,

um uns herum wirkt alles bloß nichtig und klein.
 

Den Pfad zu meinem Herzen nur du allein wirst finden,

unerbittlich die Bestimmung, welche uns wird verbinden.

Bewahre es in dir, gib dich vor den bösen Träumen in Acht,

lasse nicht los, auch wenn die Erwartung in sich zusammenkracht.
 

Finde mich, halte mich, bevor die entschwindende Zeit es verhindert,

zerbreche das Schicksal, ehe dein strahlender Glanz meinen Schmerz nie mehr lindert.

Leuchtender Smaragd, kühnes Wesen,

in meinem Blick du wirst unsere Geschichte lesen.

Grausamer Verfechter der Gerechtigkeit

Nach ihrem gemeinsam verbrachten Tag in Durham, hatte William Miceyla direkt angekündigt, wann die Unterweisung in ihre neue Tätigkeit beginnen sollte. Und so fand sie sich bereits zwei Tage nach seinem Heiratsantrag, um sieben Uhr in der Früh, vor dem Moriarty Anwesen wieder. `Ich habe kaum geschlafen vor lauter Aufregung… Und dann musste ich auch noch um solch eine unmenschliche Uhrzeit aufstehen. Aber ich darf mich nicht beschweren! Ich entschied mich für dieses neue Leben, also werde ich es bis zum Ende durchziehen! Hach… Und ich darf nicht vergessen, dass ich gerade vor meinem neuen Zuhause stehe…` Miceyla geriet ins Schwärmen und malte sich in ihrer Fantasie, eine wundervolle Zukunft aus. Da öffnete sich die Eingangstür und ehe sie wusste wie ihr geschah, schloss Albert sie ohne Hemmungen herzlich in die Arme.

„Guten Morgen meine liebe Eisblume. Ich gratuliere dir zu eurer Verlobung. Jetzt darf ich dich endlich meine kleine Schwester nennen“, sprach er freudig.

„D-danke. Und guten Morgen“, stotterte sie verlegen. `Was für ein stürmischer Empfang, ha, ha. Ich glaube nicht, dass ich mich jetzt schon traue, zu ihm großer Bruder zu sagen…`

„Albert, lass Miceyla doch erst einmal richtig ankommen. Die Ärmste weiß ja gar nicht, wie sie darauf reagieren soll, ha, ha.“ William erschien im Eingangsbereich und lächelte sie liebevoll an.

„Morgen William…“, begrüßte sie ihn schüchtern, während sie mit Albert hineinlief.

„Schön dich wieder mit einem glücklichen Gesicht hier bei uns zu haben, Miceyla. Ich entschuldige mich noch mal, dass ich dich zu dieser frühen Uhrzeit herbestellt habe. Doch da Albert und ich gleich zur Arbeit müssen, wollte ich vorher noch ein paar Dinge besprechen. Komm, du darfst mit uns zusammen frühstücken“, meinte William mit einer unvergleichbaren Gelassenheit. Miceylas Leben wurde von heut auf morgen so radikal umgekrempelt, dass ihr die ganze Situation noch ein klein wenig peinlich vorkam. Schließlich wandelte sie nun in der Welt von Adeligen. Und William hatte seine Gefühle stets so gut unter Kontrolle, dass es ihr beinahe unnatürlich vorkam. Aber dies war nun mal seine eigene Art, welche sein besonnenes, kluges Wesen unterstrich. Die drei liefen durch den Eingangsbereich, in den hinteren Bereich des Hauses und betraten einen geräumig wohnlichen Saal, der in einen großen Garten hinausführte.

„Ah, wie schön! Auf der anderen Seite des Anwesens war ich noch nie. Und all die schönen Blumen!“ Begeistert wollte Miceyla hinaus, durch die geöffnete Glastür laufen und wäre um ein Haar mit Louis zusammengestoßen, der gerade von draußen hereinkam.

„Sachte! Warte nur ab, bis erst der Frühling richtig da ist. Dann werden noch viel mehr Blumen blühen. Jetzt wo es wärmer wird, gibt es wieder einiges zu tun. Zum Glück habe ich ja einen engagierten Helfer. Und Morgen, Miceyla“, meinte Louis freundlich.

„Oh! Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, Louis…“ Hinter ihm entdeckte sie Fred im Freien, der sie für einen Moment schweigend ansah, ehe er in ihre Richtung lief.

„Hallo Miceyla“, begrüßte dieser sie mit einer entspannten Stimme. Nun sah sie ihn zum ersten Mal ganz ohne eine Verkleidung. Er vermittelte ihr den Eindruck eines liebenswürdigen Jungen.

„Ich freue mich dich endlich richtig kennenzulernen, Fred. Denn an jenem Tag… Du weißt schon, ha, ha. Also arbeitest du ebenfalls für William. Aber kommst du denn mit solch einer gefahrvollen Arbeit zurecht? Du siehst so jung aus…“, sorgte Miceyla sich um den zierlichen, schwarzhaarigen Jungen. Plötzlich hörte sie hinter sich lautes Gelächter und fand einen Moran vor, der sich munter am Tisch mit dem Frühstück bediente.

„Ha, ha! Mein kleiner Bruder hat Verbindung zum Untergrundnetzwerk in ganz England. Und ich kenne keinen, der sich so gut verwandeln kann wie er. Glaube mir, Fred hat schon mehr Blut fließen sehen, als andere in ihrem gesamten Leben“, sprach Moran mit vollgestopftem Mund. `Ja… Von seinen Verwandlungskünsten, durfte ich mich selbst bereits überzeugen…`, dachte sie und hatte sogleich wieder allerlei lebhafte Bilder im Kopf.

„Ihr beiden seid Brüder! Das ist schön. Stimmt, man erkennt eure Ähnlichkeit und dasselbe schwarze Haar“, stellte sie erfreut fest.

„Ich habe viel Erfahrung. Mein Wunsch ist es, so viele Notleidende wie möglich zu retten und vom Bösen zu befreien. Und ich bin schon achtzehn. Danke das du dir Sorgen um mich machst, jedoch ist dies nicht notwendig. Ich freue mich über eine Zusammenarbeit mit dir“, sagte Fred mit einem gütigen Lächeln.

„Du hast einen sehr liebenswürdigen Bruder, Moran. Ihr beide unterscheidet euch in eurem Wesen, wie Tag und Nacht“, meinte sie belustigt und hätte Fred am liebsten in die Arme genommen.

„Allerdings! Moran du alter Schmarotzer! Du denkst wohl, hier herrscht Selbstbedienung! Schaff dir mal eine vernünftige Tätigkeit an!“, tadelte Louis streng das schlechte Benehmen von Moran.

„Hier schmeckt es einfach am besten. Irgendetwas muss ich ja davon haben, wenn ich hier schon so früh antanzen muss“, entgegnete Moran ihm nur schmatzend. `Na in dieser lebhaften Truppe, wird es garantiert nie langweilig werden`, dachte Miceyla amüsiert. William und Albert saßen ruhig am Tisch. Ihr Blick blieb bei Albert haften, der gelassen in einer Zeitung blätterte. Er sah zu ihr auf und ihre Blicke trafen sich.

„Richtig, du hast mich ja noch nie in meiner Militäruniform gesehen. Gefalle ich dir so noch mehr?“, fragte er mit einem schelmischen Grinsen.

„Verzeih! Ich wollte dich nicht anstarren! Du gefällst mir in jeder Kleidung! Ich meine… Du weißt, was ich damit sagen will!“ Überrumpelt fand sie nicht die geeigneten Worte. Sie musste aufpassen, Albert besaß einen gefährlichen Charme.

„Bestaune mich nur. Aber mal so am Rande… Unser tüchtiger Moran hier, ist auch ein stolzer Soldat und ein exzellenter Schütze obendrein…“, verriet Albert schmunzelnd.

„Ex-Soldat…“, berichtigte Moran ihn etwas genervt.

„Wirklich?!“ Enthusiastisch lief Miceyla auf Moran zu und salutierte vor ihm.

„Es ist mir eine Ehre, Sir! Auf eine gute Zusammenarbeit, Sir!“, sprach sie mit einer gespielt ernsten Miene. William, Albert und Louis lachten leise unauffällig. Verdutzt zog Moran die Augenbrauen hoch, kurz darauf grinste er sie frech an.

„Alles klar, Rekrut! Dann erteile ich dir hiermit deine erste Mission: Besorge mir ein ordentliches Bier! Und zwar dalli!“, befahl er belustigt.

„Mission abgelehnt, Sir!“, antwortete sie daraufhin und die beiden mussten nun auch lachen.

„Na du bist mir aber eine Drollige“, murmelte Moran, der missmutig bemerkte, wie Louis ihn finster ansah.

„Ja, ja! Da ich mir den Bauch vollgeschlagen habe, mache ich mich jetzt vom Acker. Gebt bescheid, wenn wir weiteres besprechen.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Moran und verließ lässig den Raum.

„Geh nicht schon wieder saufen!“, rief Louis ihm noch mahnend nach.

„Hi, hi…“, kam es von einem kichernden Moran. Fred verschwand wieder im Garten und Miceyla gesellte sich zu den drei Brüdern an den Tisch.

„Ich habe deine Geheimschrift entschlüsselt. Sie steht für den Namen Clayton Fairburn", begann William und bekam einen etwas düsteren Gesichtsausdruck.

„Clayton Fairburn… Weißt du etwas über diesen Mann?“, fragte sie neugierig.

„Bisher fand ich heraus, dass er dem niederen Adel angehört und Inhaber eines beliebten Theaters hier in London ist. Er arbeitet dort unter dem Pseudonym `Matador Muscari`…“, verriet William nachdenklich.

„Und nicht bloß irgendein Theater, er ist Gründer von dem berühmtberüchtigten `Regenbogenschwingen-Palast`“, fügte Albert noch lächelnd hinzu.

„Ich werde Fred damit beauftragen, näheres über ihn herauszufinden. Seine Botschaft sehe ich als indirekte Einladung in sein Theater. Als wollte er, dass Sherlock oder wir darauf reagieren… Wir werden ihm dort irgendwann einmal einen Besuch abstatten. Im Moment besteht dafür keine Dringlichkeit. Das können wir noch ein Weilchen aufschieben. Dich interessiert doch bestimmt, wann unsere Hochzeit stattfinden wird. Wenn alles planmäßig verläuft, in knapp zwei Wochen, noch diesen März. Das ist rasch organisiert“, bekundete er besonnen den Termin für ihre Hochzeit. `Schon in zwei Wochen… Natürlich, es ist zwar etwas unromantisch, aber William hat in seinem straffen Zeitplan, für solche Anliegen nur spärlich freie Zeit zur Verfügung…` Da kam ihr noch eine gewisse Sache in den Sinn, die sie ansprechen wollte.

„Also… Wenn ich hier einziehe, wer übernimmt dann meine Arbeit und kümmert sich um Mrs Green und alle weiteren Hausbewohner?“ `Ich glaube nicht, dass ich die alte Kratzbürste vermissen werde, ha, ha.`

„Wir finden einfach eine zuverlässige Nachmieterin für dich. Dies lässt sich zügig einrichten. So, es wird Zeit für mich zur Universität aufzubrechen. Morgen Abend werden wir den ersten Plan besprechen, bei dem du mitwirken wirst. Ich wünsche dir viel Vergnügen. Und Louis, bitte quäle Miceyla nicht gleich am ersten Tag zu sehr. Ich werde heute früher wieder hier sein“, meinte William mit einem Augenzwinkern und erhob sich von seinem Platz.

„Ich versuche mich zu zügeln. Bis später, Bruder“, sagte Louis lächelnd.

„Dann schließe ich mich William mal an und breche ebenfalls auf“, teilte nun auch Albert seinen Aufbruch mit.

„Lass dich nicht von Louis ärgern“, flüsterte er noch dicht neben ihr, ehe er mit William rausmarschierte.

„Habt einen schönen Tag ihr beiden“, wünschte Miceyla den zwei winkend.

„Gut, dann machen wir uns auch langsam mal an die Arbeit. Es liegt viel vor uns. Folge mir“, ordnete Louis an und stand auf. Sie nickte einverstanden.

„In Ordnung.“

„Vielleicht sollte ich dich bei Gelegenheit, mal durch das ganze Anwesen führen…“, überlegte er, während sie ihm die Treppe hinauffolgte. Auf einmal entdeckte sie eine junge Frau, welche ein silbernes Serviertablett unterm Arm trug.

„Ah, Miceyla, darf ich dir Miss Moneypenny vorstellen. Sie ist eine ehemalige Geheimagentin des M15 und arbeitet ebenfalls als treue Untergebene von William“, stellte Louis ihr die fremde Frau vor. `Untergebene… Sind wir alles seine Vasallen oder wie?`, dachte sie etwas gekränkt.

„Freut mich sehr, Bekanntschaft mit der Verlobten von Lord William zu machen“, sprach Moneypenny höflich. Sie hatte schulterlange dunkle Haare und trug wie Louis eine Brille. Miceyla blieb freudig mit strahlenden Augen dicht vor ihr stehen.

„Da bin ich aber erleichtert, dass es in diesem Männerhaushalt, noch eine weitere Frau gibt. Nennen Sie mich ruhig Miceyla“, sagte sie glücklich. Miss Moneypenny lächelte nur etwas zurückhaltend.

„Hopp, weiter geht’s. Die Arbeit ruft!“ Miceyla betrat mit Louis eine Art Archiv und staunte nicht schlecht über die Vielzahl an Büchern, welche sie dort vorfand.

„Ihr habt hier wirklich zu jedem Themenbereich die passende Lektüre.“ Forschend ließ sie ihren Blick über die hohen Bücherregale schweifen.

„Jedes Wissen ist irgendwann einmal nützlich. Bitte setze dich. Ich werde das für dich am relevantesten, in drei Themenschwerpunkte aufteilen. Erstens: Die bedeutendsten Verbrechen unseres Landes der letzten hundert Jahre. Dazu zählen auch die Ausführungsarten und wie sich die Ermittlungsmethoden entwickelt haben. Zweitens: Hier gehe ich näher auf unsere eigenen Pläne ein. Ich erläutere das Konzept von Williams Vorgehensweisen und wie bei uns die Auftragsaufteilung abläuft. Drittens: Dieser Part wird am geringfügigsten ausfallen. Es geht um die Etiketten und Lebensgewohnheiten des Adels. Da jene den Hauptteil unserer Feinde ausmachen und du nun mal bald dieser Standesschicht angehören wirst, sollte das nicht unerwähnt bleiben. Aber ich habe bereits auf dem Ball gemerkt, dass du dich gut anpassen und ein ordentliches Benehmen an den Tag legen kannst. William meinte außerdem, dass du für eine Frau überdurchschnittlich gebildet seist. Also strenge dich an und enttäusche hier niemanden!“, begann Louis diskret mit einer groben Einführung. Miceyla saß an einem Tisch und er stand kerzengerade vor ihr. Sie fühlte sich wie eine Schülerin, die von ihrem Privatlehrer unterrichtet wurde.

„Ich werde mein Bestes geben!“, versprach sie motiviert.

„In diesem Buch befindet sich ein gut detaillierter Almanach, von etlichen Tötungsdelikten. Die meisten Fälle wurden von Scotland Yard übernommen. Hier habe ich zur Anschaulichkeit einige Originalfotos.“ Louis legte ihr einen ganzen Stapel an Bildern vor.

„Wah!“ Nach genauerem betrachten der Fotos, drehte sie diese abrupt herum.

„Du hättest mich ruhig mal vorwarnen können! Darauf ist zu sehen, wie Leichen obduziert werden! Ich denke nicht, dass ich derartiges Fachwissen benötigen werde“, beschwerte Miceyla sich angeekelt. Louis kicherte höhnisch. `Damit wollte er mir doch bestimmt eins reinwürgen!`, dachte sie verärgert.

„Wieso, es schadet nicht, sich auch ab und zu die unschönen Aspekte vor Augen zu führen. Die Welt besteht nicht nur aus gezuckertem Tee und unsinnig geschriebenen Liebesgeplänkel“, meinte er kaltherzig und blickte mit einem düsteren Blick auf sie herab. `Du willst mich wohl verspotten… Aber so leicht gebe ich nicht klein bei!`, dachte sie verbissen und hielt gekonnt seinem Blick stand. Von Anfang an schien Louis etwas gegen sie zu haben. Jedoch durfte sie auf keinen Fall zulassen, dass es zu einem Konflikt zwischen ihnen käme. Schließlich sollten sie zukünftig als Team zusammenarbeiten. Und nicht nur das, bald würde Miceyla selbst eine Moriarty sein.

„Für was steht die Abkürzung FIB? Fettleibig ignorante Banalität?“, fragte sie mit einem kecken Grinsen. Louis schlug sich empört mit der Handfläche gegen die Stirn.

„Fundamentale Indizien-Belegung!“, korrigierte er sie schroff.

„Ach sieh an! Hier steht es ja auch darunter. Gar nicht gesehen, tut mir leid. Ätsch!“ entschuldigte sie sich gespielt dramatisch. Es schadete nicht, ihn mal ein kleines bisschen zu necken.

„Miceyla! Nimm die Sache gefälligst ernst! Ich erkläre dir das alles nicht zur Bespaßung!“, schimpfte er zornig.

„Gewiss mein Herr! Ich schätze die Bereicherung meines neu erlangten Wissens sehr. Denn es muss doch wahrlich anstrengend sein, mir ahnungslosem Geschöpf, die komplizierte Bedeutung der Sachverhalte zu erläutern. Oder wie William nun sagen würde: Es mag vielleicht für einige einfach erscheinen, die Lösung für ein Problem zu finden, jedoch diese anderen verständlich zu machen, stellt die eigentliche Herausforderung dar“, sprach sie anmutig und ahmte William dabei nach. Louis legte sich eine Hand vor den Mund und drehte unbeteiligt den Kopf zur Seite.

„Aha! Du lachst! Ich seh’s ganz genau!“, rief sie lautstark und zeigte triumphierend mit dem Finger auf ihn.

„Tu ich nicht! Los, wir machen weiter.“ Nun war Miceyla schon viel besser gelaunt Und nachdem sie ihn lachen gesehen hatte, konzentrierte sie sich jetzt aus Dankbarkeit für seine Mühen auf den Unterricht. Fast vier Stunden waren sie ohne eine Pause, in die trockene Themenwelt der Verbrechen vertieft. Als es langsam auf die fünfte Stunde zuging, wurde Miceyla trotz ihres Interesses langweilig. Doch zum Glück fand Louis ebenfalls, dass es für den ersten Tag ausreichte.

„…Wenn du gerne mehr Einzelheiten, über die unterschiedlichen Schusswaffen hättest, solltest du dich an Moran wenden. Er ist Experte auf diesem Gebiet. Gut, danke für deine geduldige Aufmerksamkeit. Je nachdem wie wir Zeit finden, werden wir täglich drei bis sechs Stunden hiermit weitermachen, eine Woche lang. Ich gebe dir einiges mit zum durcharbeiten, um schneller voranzukommen.“

„Vielen Dank für deinen Aufwand! Ich kann es kaum erwarten, in die Praxis überzugehen. Lass uns Seite an Seite für Gerechtigkeit kämpfen, Bruderherz!...“, sagte Miceyla freudestrahlend zum Abschluss. Jedoch hielt sie abrupt inne, als ihr bewusst wurde, dass sie mit dem gerade zu ihm Gesagten, etwas zu weit gegangen war. Louis rote Augen hätten sie am liebsten in die Hölle geschickt, so finster sah sein Blick aus. Es war zu spät, sie konnte das Gesprochene nicht wieder rückgängig machen. Ausgerechnet jetzt wo sie den Eindruck bekam, mit ihm etwas warm geworden zu sein. Dieser Fortschritt war nun geplatzt.

„…Nenn…mich nicht so! Wehe, du tust das noch einmal! Du glaubst wohl da William dich heiraten wird, kannst du hier einen auf heile Familie machen! Da täuschst du dich aber gewaltig! Du brauchst dich gar nicht erst bei mir einzuschleimen. William scheint in dir irgendwelche Begabungen zu sehen. Sogar Albert hält große Stücke auf dich, was mir unbegreiflich ist. Es sind immer nur wir drei gewesen und du meinst ganz unbekümmert, dich einfach dazwischen mogeln zu können. Als würdest du uns bereits richtig kennen. Im Grunde bist du doch bloß eine geeignete Figur auf Williams Schachbrett, die er für seine Zwecke ausnutzt. Und nur damit du es weißt, solltest du auch nur ansatzweise vorhaben, mit Sherlock gemeinsame Sache zu machen, gebührt dir die Ehre, mit ihm zusammen das Zeitliche zu segnen. Und wenn ich dafür persönlich sorgen muss!“, warnte Louis sie mit einer bitterernsten Stimme. Miceyla erstarrte verschreckt. `Nun habe ich ihn zu sehr provoziert… Von Anfang an schien er mich nicht leiden zu können. Meine Gefühle für William scheinen ihm ein Dorn im Auge zu sein. Sein Bruder bedeutet Louis mehr als alles andere. Hat er Angst, dass ich ihn ihm wegnehme?`, überlegte sie missmutig. Lieblos stellte er einen Stapel dicker Bücher vor sie auf den Tisch.

„Du hast bis zu dem Tag nach unserem nächsten Auftrag Zeit, alles durchzuarbeiten und tadellos zu beherrschen. Dann werde ich sehen, ob es sich überhaupt lohnt weiterzumachen oder ob ich nicht bloß meine Zeit mit dir vergeude. Es sind sehr schwere Texte, mit etlichen Begriffen, die nicht mal du jemals gehört haben wirst. Viel Erfolg“, beauftragte Louis sie damit verächtlich. Wortlos stand Miceyla auf, schnappte sich die Bücher und verließ, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, das Archiv. Verärgert und verletzt über dessen Kaltherzigkeit ihr gegenüber, stapfte sie den Flur entlang. Plötzlich packte sie jemand am Arm, zog sie in einen Raum hinein und schloss daraufhin die Tür.

„William, du bist wieder…“ Er schnitt ihr das Wort mit einem stürmischen Kuss ab und drückte sie dabei mit beiden Händen auf ihren Schultern gegen die Wand. Sie schmolz nur so dahin, als seine Zunge über ihre eigene glitt. Miceyla war machtlos gegen das lodernde Feuer, welches er in ihr entfachte. Voll und ganz gab sie sich dieser hitzigen Leidenschaft hin. Angestrengt bemühte sie sich darum, nicht einfach die Bücher fallen zu lassen. Ganz langsam ließ er von ihren Lippen ab, damit sie zu Atem kommen konnte.

„Ich muss doch ausnutzen, dass wir für einen kurzen Augenblick allein sind…“, flüsterte William und sie verlor sich dabei in seinem hingebungsvollen Blick. Seine feurig roten Augen zogen die Ihren magisch an. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass er sie weiter küssen solle, jedoch brachte sie kein einziges Wort heraus.

„Jammerschade, dass du noch nicht hier schläfst. Denn wie soll ich mich bei diesem Blick, noch länger zurückhalten können? Du forderst ja förmlich von mir, dass es mich mit Herz und Körper nach dir verlangt…“ Zärtlich strich er mit seinen Fingern an ihrem Hals hinab bis zu ihrer Brust. Als Antwort auf seine sanften Berührungen, lehnte sie lediglich mit einem Seufzen, ihren Kopf gegen seine Schulter.

„Wie ich sehe, hält Louis dich bereits jetzt schon ordentlich auf Trapp. Wenn du magst, gebe ich dir eine leicht verständliche Zusammenfassung. Er wird nichts davon erfahren…“, bot William ihr grinsend seine Hilfe an.

„Danke, dass ist lieb von dir, aber ich werde mir selbstständig seine Anerkennung verdienen“, sprach Miceyla fest entschlossen. `Ich sorge irgendwie dafür, dass Louis mich akzeptiert. Und wenn ich mich Tag und Nacht durch den Lesestoff kämpfen muss!`, fügte sie noch beharrlich in Gedanken hinzu.

„Das ist er, der unerschütterliche Wille, den ich so sehr an dir liebe“, meinte er lächelnd.

„William, wegen unserer Hochzeit… Darf ich meine Freunde einladen, John, Mrs Hudson und…“, begann sie zögerlich zu fragen.

„Sherlock? Es steht dir frei dies zu tun. Aber er wird so oder so nicht erscheinen“, sprach er vorausschauend mit einem kühlen Blick. `Wahrscheinlich hat er recht. Ich kann mir ihn nur schwer auf einer Hochzeit vorstellen. Vielleicht ist es auch für alle Beteiligten besser, wenn er nicht kommt…`, dachte sie ein wenig enttäuscht.

„Ich finde es belanglos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wer anwesend ist und wer nicht. Schließlich geht es doch hauptsächlich um uns beide. Die Feier wird traumhaft und unvergesslich, du wirst schon sehen“, versprach er ihr lächelnd und küsste sie sanft auf die Wange.

„Dann mache ich mich jetzt mal auf den Heimweg, hab ja einiges zu tun…“, sagte Miceyla und erwiderte sein Lächeln.

„Du darfst dich aber auch gerne so lange hier aufhalten, wie du nur magst. Keiner schickt dich fort.“

„Ich weiß… Jedoch macht sich die Arbeit daheim nicht von alleine. Solange ich noch dort wohne, muss ich dieser Pflicht nachgehen.“ `Und ich glaube kaum, dass ich mich in der Nähe von dir, während du mein Herz zum rasen bringst und einem Louis, der mir argwöhnisch gesinnt ist, auf den Inhalt der Bücher konzentrieren kann…`

„Verständlich. Dann bis morgen, meine Liebe“, verabschiedete er sich mit entspannter Miene.

„Bis morgen.“ Miceyla war froh wieder an der frischen Luft zu sein und etwas Abstand von ihren wirren Gedanken zu gewinnen. Es kam ihr ein wenig seltsam vor, sie wollte unbedingt bei dem Menschen sein, den sie liebte und dennoch fühlte sie sich in dem riesigen Anwesen, auf eine unergründliche Art und Weise eingeengt. Vielleicht war es auch lediglich ihre mangelnde Erfahrung, im Umgang mit gleichaltrigen Männern. Sie hoffte dies würde sich mit der Zeit legen. Und wenn sie daran dachte, wie viele unglückliche junge Frauen zwangsverheiratet wurden, konnte sie eigentlich ziemlich froh sein. Mit der Kutsche fuhr sie zurück in die Innenstadt und verfrachtete die Bücher in ihrer Wohnung. Nach getaner Hausarbeit kam sie zu dem Schluss, einen Abstecher in die Baker Street zu machen. Je eher sie die Neuigkeit ihrer Hochzeit kundtat, desto besser. Und bevor Miceyla sich an die von Louis aufgedrückten Aufgaben machte, wollte sie noch etwas den Kopf frei kriegen. Nicht lange brauchte sie vor der Tür zu stehen, da öffnete ihr auch schon Emily mit einem strahlenden Lächeln.

„Miceyla, hallo! Du kommst genau zur rechten Zeit! Der Kuchen ist gerade fertig geworden“, sprach sie dynamisch.

„Hallo Emily. Hier duftet es aber herrlich!“, meinte sie und wurde hungrig, bei diesem appetitanregenden Geruch.

„Ich dachte zur Abwechslung backe ich mal eine Kleinigkeit. Sherlock und John sind oben, geh nur hinauf. Hole noch eben Teller und Besteck.“ Beinahe hüpfend eilte Miceyla die Treppe hinauf und klopfte an der Wohnzimmertür.

„Herein“, kam es von innerhalb.

„Ach wie schön, hallo Miceyla! Da hast du dir ja die perfekte Uhrzeit für einen Besuch ausgesucht. Wir sind gerade eben heimgekommen“, begrüßte John sie frohgestimmt.

„Na ihr zwei, wart ihr wieder fleißig Hallunken am jagen? Ich freue mich, eine spannende Geschichte zu hören!“, meinte sie grinsend und gesellte sich zu ihnen an den Tisch. Dabei verbarg sie vorerst ihre Hand mit dem Verlobungsring.

„Halli, hallo. Heute verströmen wir aber heitere Schwingungen. Ich glaube, du hast noch weit mehr zu berichten als wir. Und wer hätte das gedacht, du warst mal wieder beim Mathematiker…“, nuschelte Sherlock mit einer Zigarette im Mund und wich ihrem Blick aus. Ganz so als wollte er nicht mitanhören, was sie zu sagen hatte.

„Schaut euch nur dieses Prachtexemplar von einem Kuchen an!“ Emily kam herein und stellte eine mit Erdbeeren und Sahne verzierte Torte auf den Tisch.

„Das sieht ja fast zu schade aus, um es zu essen. Du bist bei weitem begabter als ich in der Küche. Bei mir brennt eher alles an, ha, ha“, lobte Miceyla ihre Kochkünste. Die Augen von Emily leuchteten vor Freude, nach diesen rühmenden Worten.

„Jetzt wo wir vier hier versammelt sind, mag ich etwas Erfreuliches verkünden…“, hob Miceyla aufgeregt an.

„Auweia… Mir schwant nichts Gutes…“, murmelte Sherlock und seine dunkelblauen Augen sahen sie durch schmale Schlitze an. Sie holte einmal tief Luft und wollte es geradewegs aussprechen.

„Ich werde William Moriarty in zwei Wochen heiraten. Selbstverständlich seid ihr zu unserer Hochzeit herzlich eingeladen.“ Miceyla bekam beinahe einen Schreck, als John sofort in die Höhe schoss und kräftig ihre Hand schüttelte.

„Das ist die positivste Botschaft seit langem! Meine Glückwünsche! Der junge Lord William ist ein gescheiter Mann. Er gibt bestimmt einen rücksichtsvollen Ehemann ab“, gratulierte er ihr fast schon übertrieben lebhaft. Emily kamen Freudentränen und sie fiel ihr schluchzend um den Hals.

„I-ich freue mich riesig für dich! Das du so früh heiratest, hätte ich nicht gedacht. Du wirst eine wunderschöne Braut. Falls du Hilfe und Ratschläge bei einem Brautkleid benötigst…“

„…Bist du natürlich die Erste, an die ich mich wende!“, führte Miceyla strahlend ihren Satz fort.

„Na jetzt haben wir aber etwas zu feiern! Darauf müssen wir anstoßen!“, jubelte John und klatschte in die Hände. Zögerlich wagte Miceyla, einen Blick auf den schweigenden Sherlock zu werfen. Sein apathischer Gesichtsausdruck sah danach aus, als hätte er gerade erfahren, dass morgen die Welt unterginge.

„Verzeihung Mrs Hudson, doch mir ist gerade der Appetit vergangen…“, meinte dieser emotionslos und machte Anstalten, zurück in sein Zimmer zu gehen. John wollte seinen Freund davon abhalten. Aber Miceyla stellte sich vor ihn und schüttelte den Kopf. Sie musste alleine mit ihm reden. Sherlock wollte gerade seine Tür schließen, sie verhinderte dies und klemmte ihren Fuß dazwischen.

„Ich habe mir bereits gedacht, dass du so entsetzt reagieren würdest. Was passt dir daran nicht, dass ich den Mann, welchen ich liebe, heiraten werde? An unserer Freundschaft wird sich nichts ändern und ich bleibe mir stets treu…“ Verzweifelt suchte sie nach geeigneten Worten, um ihn beschwichtigen zu können. Er öffnete wieder die Tür und umklammerte energisch mit beiden Händen ihre Handgelenke.

„Nichts wird sich ändern? Belüg dich doch nicht selbst! Du legst dir Fesseln an, Miceyla. In William siehst du einen edlen Retter, der dich von deiner Einsamkeit befreit. Öffne die Augen, du bist die ganze Zeit über frei gewesen! Konntest uns besuchen und mit uns ausgehen, wann immer du wolltest. Denkst du wirklich, wenn du in den Adel einheiratest, ist es dir weiterhin erlaubt, alles frei entscheiden zu dürfen? Selten hat mich ein Mensch so sehr interessiert wie William Moriarty. Ich gebe zu er ist außergewöhnlich und sticht hervor. Aber auf mich macht er nicht den Eindruck wie jemand, der sich auf eine ernstere Beziehung oder gar Ehe einlässt. Ich habe nichts dagegen, dass du heiratest. Du lässt dich eben genau wie alle anderen Frauen, von deinen realitätsfernen Trieben leiten. Wir beide hätten gut zusammenarbeiten können. Ich schätze deine vertrauliche, offene Art und deine Gabe, aufmerksam dein Umfeld zu beobachten. Komme mir nicht kläglich angerannt, wenn dir die Pflichten einer Ehe am Ende doch zur Last fallen“, predigte Sherlock, ließ von ihr ab und wandte ihr den Rücken zu.

„Ganz schön dreist… Und sowas sagt jemand, der selbst keine Ahnung von der Liebe hat. Der Adel interessiert mich nicht. Reichtum und Ansehen sind mir ebenfalls vollkommen egal. William hat mich als Person anerkannt, er hört mir zu und nimmt meine Meinungen ernst. Wir gehören zusammen, ich weiß es einfach. Regeln, Pflichten hin oder her. Du, John und Emily seid meine neuen guten Freunde. Ich werde mir von niemandem vorschreiben lassen, wann und ob ich meine eigenen Freunde sehen darf! Möglicherweise…sind es auch einfach die Veränderungen, welche dir und mir Sorgen bereiten…“, entgegnete Miceyla beharrlich. Sherlock seufzte leise und drehte sich wieder zu ihr herum

„Dann ist hier zukünftig dein Zufluchtsort. Die Tür wird stets für dich geöffnet sein. Komme her, wann immer dir die adeligen Etiketten zu viel werden. Denn noch schrecklicher als das du heiratest, finde ich den Gedanken, dass unsere wertvolle Freundschaft daran zerbricht… Und ich hoffe, William erwidert deine Gefühle tatsächlich. Unglücksselige Ehen findet man an jeder Ecke. Er muss sich erkenntlich zeigen und deine Treue ehrlich verdienen“, gab Sherlock letztendlich nach und bemühte sich um ein Lächeln. `Wahrscheinlich ahnst du es schon selbst. Du wirst mein Schlüssel sein, um William näher kennenzulernen… Ich sehe bereits vor mir, wie wir alle gemeinsam an einem Tisch sitzen. Du bist einer der wenigen Menschen, in dessen Gesellschaft ich mich wohl fühle. Es hilft nichts, du musst wohl eigenständig die Erfahrung machen, dass oft das was man am meisten liebt, einen sehr verletzen kann. Aber zusammen mit seinen Brüdern unter einem Dach zu wohnen… Ist dir eigentlich klar, was du dir damit antust, Miceyla? Etwas ist faul daran, so plötzlich zu heiraten, ich weiß nur noch nicht was…`, fügte er besorgt in Gedanken hinzu und betrachtete ihr unschuldiges Antlitz.

„Ich danke dir. Komm, der Kuchen wartet!“ Miceyla packte Sherlock an der Hand und schleifte ihn zurück in das Wohnzimmer.

„Bin mal gespannt, wie lange du es mit diesem Egozentriker aushältst“, neckte er sie grinsend und schien ein wenig besser gelaunt.

„Wenn William ein Egozentriker ist, was bist du dann erst?“, konterte sie belustigt.

„Das war ja eine rasche Versöhnung. Miceyla ich muss schon sagen, du hast ein besseres Händchen, im Umgang mit meinem launischen Wohnungsmitbewohner, als ich, ha, ha“, meinte John lachend.

„Wer ist hier launisch?!“, beschwerte Sherlock sich grummelig. Emily hatte den Kuchen bereits in gleichgroße Stücke geschnitten.

„Ah, richtig! Ich habe auch direkt ein Verlobungsgeschenk für dich! Schau, ein Exemplar meines brandneuen Werkes. Bitte nimm es an!“ John lief kurz in sein Zimmer und kam mit einem nagelneuen Buch zurück, welches er Miceyla überreichte.

„Da freue ich mich aber, eine der Ersten zu sein, die es lesen darf. Vielen Dank John. Und übrigens, bald wird auch mein erster Roman veröffentlicht. Wir haben sogar denselben Verlag, ist das nicht toll?“, erzählte sie ihm aufgeregt.

„Wirklich? Das finde ich großartig! Dann sind wir beide ja ab jetzt richtige Arbeitskollegen!“, sagte John begeistert.

„Stimmt, da wollte ich auch noch reinlesen. Was hast du dir denn diesmal für einen skurrilen Titel ausgedacht?“, erkundigte Sherlock sich bei ihm.

„Oh, er ist genauso einzigartig wie das Abenteuer selbst: `Der gewitzte Verfechter der Gerechtigkeit`“, verriet John betonend.

„Ha, ha! Hast du dich dabei von Miceylas Einfallsreichtum inspirieren lassen?“, fragte Sherlock lachend.

„Na klar! Wir sind ein unzertrennliches Trio und vor uns ist kein Verbrecher sicher!“

„Ich komme auch darin vor? Da fühle ich mich aber geehrt!“, freute Miceyla sich. `Wenn du unsere Geschichte aus deiner und Sherlocks Sicht schreibst, werde ich das Gegenstück mit mir und William schreiben. Ich verschriftliche die pure Wahrheit und eines Tages, werden die Menschen diese lesen…`, entschied sie entschlossen und genoss den restlich vergnüglichen Nachmittag mit ihren Freunden.
 

Am nächsten Tag, machte Miceyla einen kurzen Trip in die große Stadtbibliothek, um ein paar geeignete Lexika auszuleihen, welche ihr beim Verständnis der schweren Texte weiterhalfen. Sie war jedoch nicht richtig zufrieden, über das dortige Repertoire. `Muss ich wohl anderswo an Hilfsmittel kommen. Die halbe Nacht habe ich mich mit Erzählungen, von irgendwelchen Verbrechersyndikaten und deren obszönen Taten rumgeschlagen. Sind bestimmt alles verbotene Schriften, die vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden…` Frustriert verließ sie die Bibliothek und entdeckte Fed, der sie in dem Schatten einer Seitenstraße, unauffällig herbeiwinkte.

„Hallo Fred. Da du mich hier aufsuchst, obwohl wir uns heute Abend im Anwesen sehen, nehme ich an, dass es etwas Dringliches gibt“, begrüßte sie den Jungen und war darauf gespannt, zukünftig mehr von seinen Talenten zu sehen.

„Albert schickt mich, er hat ein Anliegen an dich. Folge mir, ich zeige dir wo er arbeitet. Gewisse Leute dürfen uns nicht zusammen sehen“, sprach er mit ruhiger Stimme und lief sogleich los. `Ja, gewisse Leute wie Sherlock…` Im strammen Tempo ließ sie sich von ihm führen.

„Siehst du das Gebäude dort auf der anderen Straßenseite? Darin befindet sich sein Hauptsitz des M16. Ich gehe dann mal, bis später“, verabschiedete er sich rasch wieder.

„Danke Fred, bis heut Abend.“ Ihr kam in den Sinn, dass sie eigentlich nicht wusste, worum genau es sich bei Alberts Firma handelte. Möglicherweise hatte es etwas mit dem Militär zu tun, da er dort arbeitete. In Begleitung eines mulmigen Gefühls, betrat Miceyla das große Gebäude. `Ich hätte Fred noch fragen sollen, in welchen Raum ich überhaupt muss…` Sie lief eine breite Treppe hinauf, als ihr jemand von oben entgegenkam. Es war ein hochgewachsener, ordentlich gekleideter junger Mann, mit nach hinten gekämmten schwarzen Haaren. `Er hat beinahe die gleichen Augen wie…` Sie wusste nicht, ob ihre Vorstellungskraft ihr nicht bloß einen Streich spielen wollte, doch meinte sie, eine vornehmere Version von Sherlock vor sich zu haben.

„Guten Tag, mein Herr“, grüßte Miceyla ihn ganz neutral.

„Ich grüße Sie, Miss. Als Verlobte von Lord William Moriarty, werden Sie sicherlich ein abwechslungsreiches Leben führen. Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sprach er höflich. Verwundert blickte sie ihn an.

„Oh, hat Albert es Ihnen erzählt? Ich nehme an, Sie beide kennen sich“, konnte sie aus dessen Aussage schließen.

„Nicht doch, ich erkenne dies, obwohl er es mir nicht verraten hat“, verneinte er gelassen.

„Dann hätte ich aber auch die Verlobte von Graf Albert sein können“, meinte sie und lächelte freundlich.

„Da muss ich Ihnen widersprechen. Ihr Verlobungsring entspricht nicht dem Stil, welchen Albert auswählen würde. Ist Ihnen bewusst, dass Sie ein halbes Vermögen mit sich rumschleppen? Nehmen Sie sich vor Dieben in Acht“, warnte er sie mit einem selbstsicheren Lächeln. Dieser Mann hatte eine solch kühle und distanzierte Ausstrahlung, dass Miceyla sich ein wenig eingeschüchtert fühlte.

„W-was meinen Sie?“, fragte sie mit einem zaghaften Stimmchen.

„Na ihr hübscher Ring. Diamanten mit drei Karat, dass macht über dreißigtausend Pfund“, verriet er der nichtsahnenden Miceyla. Sie fiel aus allen Wolken. `Das hat er nach nur einem kurzen Blick auf meinen Ring erkannt? Wer zur Hölle ist dieser Kerl? Nun kann ich mir noch besser vorstellen, wie vermögend die Moriarty-Brüder eigentlich sind…` Nachdenklich betrachtete sie den violetten Edelstein und die schillernden Diamanten auf ihrem Ring.

„Als Belohnung, dass Sie sich so gut mit Sherlock verstehen, werde ich Ihnen meinen Namen verraten. Gestatten, Mycroft Holmes. War mir ein Vergnügen und bis demnächst.“ Nachdem er sich vorgestellt hatte, lief er weiter unbeirrt die Treppe hinab.

„Auf Wiedersehen…“ Mehr brachte sie zum Abschied nicht über die Lippen. `Sind die beiden etwa Brüder? Sherlock hat ihn noch nie mit einem Wort erwähnt. Und dann wusste er auch noch, dass wir beide uns kennen…` Aufgewühlt stieg sie weiter die Treppenstufen empor. Oberhalb fand sie Albert, der sie bereits erwartete und lächelnd in einen Raum hereinwinkte. Nach der merkwürdigen Begegnung war sie erleichtert, ein vertrautes Gesicht zu sehen.

„Danke, dass du direkt hergekommen bist, Miceyla. Mach es dir bequem. Was für ein Zufall, dass du auf Sherlocks älteren Bruder gestoßen bist. Na, überrascht?“, empfing er sie mit einem schiefen Grinsen.

„Allerdings! Damit hätte ich nie im Leben gerechnet. Dieser Mann erscheint mir wahnsinnig gefährlich. Seine scharfsinnige Auffassungsgabe ist beängstigender, als die von Sherlock. Was hatte er hier bei dir verloren?“, erkundigte sie sich beunruhigt.

„Mycroft arbeitet für die Regierung. Wir kooperieren miteinander. Du kannst dir sicher einiges darunter vorstellen, wie eine Zusammenarbeit, mit einer solch wichtigen Persönlichkeit aussieht.“

„Ja, ja… Gegenseitiges ausnutzen der Privilegien. Weiß er etwa über Williams Pläne Bescheid?“, fragte sie und ihr wurde bange zumute.

„Nein, sei unbesorgt. Und dies werden wir, so lange es uns möglich ist beibehalten. Ein Mann wie er, stellt sich nicht einfach auf unsere Seite. Wir bekämen allerlei Probleme… Aber kommen wir nun zu meinem Anliegen. Ich hätte gerne, dass du einen wichtigen Botengang erledigst. Er hängt mit Williams nächsten Plan zusammen, den wir in ein paar Tagen ausführen werden. Heute Abend besprechen wir die Einzelheiten. Überbringe bitte diesen Brief Lord Barton Wakefield. Heute befindet er sich in seinem Anwesen. Kürzlich ist er vom Brigadegeneral zum Generalmajor aufgestiegen. Doch hat er seinen Karrieresprung, eher durch unfaire Mittel ermogelt. Wir sind durch das Militär miteinander bekannt. So viel sei schon mal verraten. Barton ist nicht gut auf Adelige, in höheren Positionen als er zu sprechen. Er neigt zum fanatischen Begehren junger, hübscher Frauen, vor allem Adelstöchter. Jedoch hauptsächlich um sein Image aufzupolieren. Für ihn wird es ein Augenschmaus, wenn du bei ihm vorbeischaust. Der Inhalt des Briefes ist nicht von Belang. Es geht mehr darum, dass du dir ein Bild von ihm machst und… Nun, William meinte, wenn du in seinem Anwesen bist, wüsstest du schon wonach du dort Ausschau halten musst. Meistens agieren mein Bruder und ich unabhängig voneinander. Das erweckt weniger Aufsehen. Bei Ausnahmen wie dieser, wo es auf dasselbe Ziel hinausläuft, verbinden wir aber unsere Arbeit miteinander“, erklärte Albert ihr den Auftrag.

„Einen Brief überbringen, dass ist ja nur eine schlichte Aufgabe. Das bekomme ich hin“, sagte sie und war froh, nicht gleich zu viel Verantwortung übernehmen zu müssen.

„Es ist sogar ein `sehr` wichtiger Auftrag. Stell dir vor es geschieht ein kleiner Patzer. Wir versagen bei unseren ganzen Plänen. Williams Ziele stehen vor dem Ruin“, meinte er mit einem Hauch von Ironie.

„Ha, ha, schon gut. Von mir hängt alles Weitere ab“, erwiderte sie und lachte.

„Und störe dich nicht daran, falls Barton dir zu sehr auf die Pelle rückt. Du brauchst nur den Namen Moriarty zu erwähnen und er wird sich zu benehmen wissen. Die Heirat ist eine gute Sache… Unser Name wird dir zukünftig als Schutzschild dienen, zumindest teilweise“, sprach er ein wenig betrübt. `Albert scheint genau wie Louis, nicht ganz mit der Hochzeit von William und mir einverstanden zu sein… Doch verbirgt sich ein anderer Grund dahinter…` Gedankenversunken betrachtete Miceyla seine grünen Augen, die sie gleichzeitig warmherzig, als auch besorgt ansahen.

„Ich würde nur jemanden heiraten, bei dem ich mir ganz sicher bin, dass er mich genauso sehr liebt, wie ich ihn. Bei mir und William ist dies der Fall. Aber die Umstände, unter denen wir zukünftig zusammenleben müssen, werden unsere Gefühle immer wieder auf die Probe stellen. Doch nicht nur William, auch dich und Louis mag ich besser verstehen lernen. Du…trägst Kummer mit dir herum, ich kann es dir ansehen. Vielleicht passe ich nicht in eure Familie und…“, sprach sie leise verunsichert. Albert erhob sich von seinem Platz und setze sich neben Miceyla auf das Sofa.

„Sage so etwas nicht… Du könntest tatsächlich unsere Schwester sein. Ich kann mir gut vorstellen, mit dir aufgewachsen zu sein. Es kommt mir wahrlich unwirklich vor, dich erst in diesem Jahr kennengelernt zu haben… Für William würde ich bereitwillig alles opfern. Jemand wie er, der das Unmögliche möglich machen kann, braucht gewisse Opfergaben, dass ist es wert. Auf einiges müssen wir verzichten und unsere Zeit weise nutzen. Du hast es ja bereits selbst erfahren. Und grausame Situationen stehen dir bevor, wie gern bewahrte ich dich davor… Aber du bist stark und wirst nie allein sein. Ich will an dieser Stelle nicht zu sentimental werden. Schließlich muss ich dir doch als dein großer Bruder, Schutz und Sicherheit bieten können. Wenn du Sorgen hast, zögere nicht und komme zu mir. Ich werde stets ein offenes Ohr für dich haben. Manchmal…sollte man nur besser Worte, bei denen man

sich unsicher ist, wie sie beim Gegenüber ankommen, für sich behalten. Und vergiss nicht, William liebt dich von ganzem Herzen, daran brauchst du nicht zu zweifeln“, sprach er gefühlvoll auf sie ein.

„Danke Albert, ich weiß deine Führsorge sehr zu schätzen. Nur ich finde, wenn jene Worte unausgesprochen bleiben, wird man auch nie erfahren, was diese bei der Person bewirkt hätten. Ab und zu braucht es Mut, um solch einen Schritt zu wagen. Wir wachsen an jeder neuen Erfahrung“, meinte sie lächelnd. Ihm war eine leichte Verblüffung anzusehen und sie merkte, dass er Mühe hatte, ihrem Blick standzuhalten. Irgendwie war sie verwirrt, dass sich plötzlich hinter seinem selbstbewussten Verhalten, eine Spur von Verunsicherung verbarg. Verlegen sah Miceyla hinab.

„Hm… Das werde ich mir merken. Sage mal, bewunderst du mich eigentlich? Genauso wie William?“, fragte Albert sie auf einmal grinsend.

„Ähm… Ich kann erahnen, was du damit auszudrücken versuchst. Nein, ich mag dich einfach, ganz ohne dich bewundern zu müssen. Darüber bist du jetzt bestimmt sehr glücklich, hab ich recht? Ha, ha“, antwortet sie ihm ehrlich.

„Na und ob!... Es wird Zeit, draußen wartet eine Kutsche, die dich zu dem Anwesen von Lord Barton bringt. Du brauchst dich dort nur kurz aufzuhalten. Verabschiede dich, wenn du aufbrechen möchtest. Hier hast du das Kuvert. Komme doch um fünf Uhr am Nachmittag wieder hier her, dann können wir gemeinsam nach Hause fahren. Es erfüllt mich mit Freude, dich bald jeden Tag sehen zu können…“, sprach er und schenkte ihr ein sanftmütiges Lächeln.

„Ich freue mich auch unglaublich, auf unsere gemeinsame Zeit. Dann gehe ich mal meine Mission ausführen. Ich verspreche, nur mit einer positiven Berichterstattung wiederzukehren!“ Mit diesen Worten salutierte Miceyla vor ihm, marschierte motiviert aus dem Raum und ließ einen lachenden Albert zurück.

Nach einer knapp zwanzigminütigen Kutschfahrt, kam sie bereits beim Anwesen von Barton Wakefield an. Das Grundstück war riesig, es befand sich sogar ein ganzer Pferdestall darauf. Miceyla zupfte ihr Kleid zurecht und betätigte die Türklingel an dem protzigen Eingangstor. Nach kurzem Warten, öffnete ihr ein komplett schwarz gekleideter, älterer Butler.

„Einen schönen guten Tag. Ich bin die Verlobte von Lord William Moriarty, ich wünsche Lord Barton Wakefield zu sprechen“, stellte sie sich mit dezenter Höflichkeit vor und nahm eine solch aufrechte Haltung ein, dass es beinahe verkrampft aussehen musste.

„Bitte folgen Sie mir, mein Fräulein.“ Eine gefühlte Ewigkeit lief sie hinter dem Butler her und kam schließlich auf der anderen Seite des Anwesens an. In der Ferne sah sie einen Mann, der im Freien vergnüglich Golf spielte. `Du meine Güte, dass ist ja ein ganzer Golfplatz… Dieser Mann spart wohl an nichts`, dachte Miceyla und war zugegebenermaßen ein klein wenig beeindruckt. Geduldig wartete sie im Inneren, während der Butler dem Lord seinen Besuch ankündigte. Er drückte seinem Diener den Golfschläger in die Hand und lief würdevoll auf sie zu.

„Das ist aber eine Überraschung! Die Verlobte von Lord Moriarty. Eine richtige Schönheit sind Sie. Ein wahres Glanzlicht, welches mir den Tag versüßt. Darf ich mich vorstellen, meine bezaubernde Lady, ich bin Lord Barton Wakefield“, stellte er sich lächelnd vor und gab ihr einen zarten Handkuss. In ihrer Fantasie hatte sie sich den Lord, als einen garstigen und hässlichen Widerling ausgemalt. Jedoch entpuppte er sich als das komplette Gegenteil. Barton war groß und gut gebaut, hatte glatte dunkelblonde Haare und freundliche braune Augen. Ganz bestimmt war er noch unter dreißig. Er war alles andere als hässlich und schien auch einen gescheiten Verstand zu besitzen. Dennoch, bei so viel oberflächlicher Sympathie, musste sie auf der Hut sein.

„Es ist mir ein Vergnügen, mein Lord. Ich heiße Miceyla und trage einen Brief vom Grafen Moriarty bei mir.“ Sie überreichte ihm das Schreiben und wüsste nur zu gern was darin geschrieben stand.

„Ach schau an, der gute alte Albert! Setzen Sie sich. Mögen Sie etwas zu trinken? Ich lasse den besten Wein des Hauses herholen“, bot er ihr überschwänglich an.

„Machen Sie sich bitte keine Umstände. Mein Vorhaben ist es nicht, hier lange zu verweilen. Es warten noch allerlei andere Verpflichtungen auf mich“, versuchte sie höflich sein Angebot abzulehnen.

„Aber gegen ein Tässchen Tee, werden Sie doch hoffentlich nichts einzuwenden haben. Ich mag mich für Ihre Herreise erkenntlich zeigen“, schlug er ihr stattdessen vor.

„Danke, dass ist sehr aufmerksam von Ihnen.“ Forschend blickte Miceyla sich etwas um und fand ausgestopfte Tierköpfe und Geweihe, die überall an den Wänden hingen. `Dieser Mann muss ein leidenschaftlicher Jäger sein`, erkannte sie und ließ ihren Blick weiter umherwandern. Da fielen ihr etliche, unterschiedlich aussehende Orden und Medaillen auf, welche Soldaten beim Militär verliehen wurden. Sie hingen alle ordentlich in einer Reihe über einem Kamin. `Die ganzen Abzeichen können unmöglich nur ihm gehören, auch wenn er einen hohen Posten beim Militär innehält. Außerdem trägt ein Soldat diese an seiner Uniform.` Beim genaueren Betrachten sah Miceyla, dass in jedem der Orden, ein anderer Name eingraviert war. Ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie begriff, was es damit auf sich hatte. Nach den ersten Andeutungen von Albert, konnte dies nicht bloß eine schlichte Vermutung sein. Jene Orden gehörten ehemaligen, hochrangigen Soldaten. Lord Barton Wakefield hatte all diese Männer ermordet, um in seiner jetzigen Position stehen zu können. Und nun bewahrt er sich die ganzen Abzeichen, als Trophäen auf. Wie auch immer Barton dies geschafft hatte, ohne dabei aufzufliegen. Er war ein Mann von ganz anderem Kaliber als alle die, von denen Miceyla meinte, sie als bedrohlich einzustufen. Für seinen Erfolg ging Barton wortwörtlich über Leichen. `Und ich sagte vorhin noch seelenruhig, dass es ein einfacher Auftrag werden würde… Ich stehe gerade einem der gefährlichsten Männer, von ganz London gegenüber…`
 

Liebes Tagebuch, 8.3.1880
 

niemand kann sich vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich das Anwesen von diesem Barton verließ. Keine zehn Pferde bringen mich dazu, noch einmal einen Fuß auf sein Grundstück zu setzen! Wie wütend ich doch bin! Er hat all die Menschen, welche sich ihren Rang hart erkämpften, auf dem Gewissen. Dieser Kerl ist eine Schande für alle Soldaten und besitzt kein Ehrgefühl. Jetzt bin ich richtig froh, gemeinsam mit William und den anderen dafür sorgen zu können, dass Leute wie er ihre gerechte Strafe erhalten. Ich darf mich nicht fürchten Auch ich werde kämpfen, für Gleichberechtigung und Frieden in unserem Land. In jedem von uns tobt ein lautloser Krieg. Still und leise warnen die fernen Stimmen, vor den bevorstehenden Bedrohungen und fordern uns dazu auf, das Schlachtfeld zu betreten. Jeder nutzt seine ganz eigenen Waffen. Der eine fährt scharfe Geschütze auf, ein anderer glänzt mit seinem unangefochtenen Verstand und wieder ein anderer, hält sein Schwert treu in der Hand. Es wird nicht enden, ehe jemand diesen Kampf stoppt. Denn Gewinner und Verlierer sind alle gleichermaßen… Falls es mir möglich ist, werde ich versuchen, die Kluft zwischen Louis und mir zu überwinden. Auch Alberts Besorgnis mag ich etwas mildern. Wie wundervoll es wäre, wenn wir alle gut miteinander auskämen. Während ich in den Spiegel schaue und mir vorstelle, mich bald als Braut zu sehen, kann ich dies immer noch nicht richtig wahrhaben… Ich gebe alles dafür, eine liebevolle Ehefrau zu werden. Und gleichzeitig bin ich stets eine gute Freundin, die über Sherlock wachen wird…
 

Grausamer Verfechter der Gerechtigkeit
 

Es war einmal ein kleiner Junge, ganz lieb und milde,

die Fieslinge um ihn herum, führten Unartiges im Schilde.

Da kam ihm in den Sinn: Das gefällt mir nicht, das darf nicht sein,

Gleichberechtigung und Frieden, ach was wäre dies doch fein!
 

Drum folgten dem Jungen die Gleichgesinnten mit viel Bewunderung

und im Geheimen halfen sie ihm selbstlos, bei seiner brillanten Eroberung.

Stattliche Brüder wurden aus ihnen, wahrlich vornehm und erhaben,

gnadenlos schwärmten sie aus in stiller Nacht und lauerten dem Bösen auf, wie eine Schar schwarzer Raben.
 

Auf seiner Reise fand der selbsternannte König Freundschaft und die Liebe,

am Ende der Schandtaten wird Hass und Reue alles sein, was von ihnen übrigbliebe.

Jeder hätte ahnen müssen, dass die sturen Widersacher sich gegenübertreten in einem blutigen Streit

und die Welt den gefallenen Herrscher beschimpft, als einen grausamen Verfechter der Gerechtigkeit.

Mondscheindämmerung

Die Kutsche preschte den Weg entlang. Miceyla konnte gar nicht schnell genug von Bartons Anwesen wegkommen. Seine penetrante Stimme, wollte einfach nicht mehr aus ihrem Kopf.

„Kommen Sie doch öfters her.“

„Finden Sie mein prachtvolles Heim, nicht wesentlich ansehnlicher?“

„Denn ich hörte das Anwesen der Moriartys, ist nicht mal annähernd so prunkvoll wie das Meine.“

„Ein Mathematikprofessor, ja, ja, ganz nett.“

„In meiner Position, vollbringe ich wesentlich relevantere Arbeiten für unser Land.“

„Albert, ein vorbildlicher Oberstleutnant? Ist er nicht einfach nur ein Wichtigtuer…“ Um so länger sie sich mit Barton unterhalten hatte, um so mehr stellte er sich als ein prahlender, arroganter Egoist heraus. `Bin mal gespannt, welchen listigen Plan sich William hat einfallen lassen. Bartons Glückssträhne wird bald reißen, dass ist sicher… Noch zwei Stunden bis siebzehn Uhr. Da fällt mir etwas ein. Sherlock hat doch bestimmt in seiner Rumpelkammer, ein paar nette Aufzeichnungen von Kriminalfällen, die mir bei den Büchern von Louis weiterhelfen könnten. Leihe ich mir einfach etwas aus, denn was ist schon verdächtig daran, wenn ich mich für seine Arbeit interessiere. Er wird sich sogar darüber freuen`, entschied sie ihre restliche freie Zeit, noch sinnvoll zu nutzen. Auf geradem Wege, eskortierte der Kutscher Miceyla auf ihren Wunsch hin, in die Baker Street. Emily ließ sie mit einer gestressten Miene herein und beschwerte sich als allererstes, über Sherlocks unbändige Unordnung. Miceyla meinte nur zur Beschwichtigung, dass sich in dem schlimmsten Chaos, die kreativsten Ideen entwickelten und lief ins obere Stockwerk. Mittlerweile hatte sie sich an den hartnäckigen Zigarettengestank gewöhnt. Er gehörte zu dieser Wohnung einfach dazu.

„Hallo. Jemand zu Hause?“ Sie fand ein verlassenes Wohnzimmer vor. Johns Zimmer war abgeschlossen. Sherlocks Tür stand offen, aber auch in seinem Raum war keiner. `Niemand scheint hier zu sein. Aber Emily hätte mir doch sicherlich Bescheid gegeben, wenn die beiden auswärts wären. Komisch…` Trotzdem siegte ihre Neugierde und sie betrat langsam Sherlocks Zimmer. Wenn man es als ein solches bezeichnen konnte. Denn kein normaler Mensch, würde dort freiwillig wohnen wollen. Darauf achtend, wo sie ihre Füße hinsetzte, blickte sie sich in dem halbdunklen Raum um. Die Vorhänge waren beinahe ganz vorgezogen und es lag ein leicht süßlicher Geruch, von chemischen Flüssigkeiten in der Luft. An den Wänden waren etliche ausgeschnittene Zeitungsartikel geheftet, auf denen wild rumgekritzelt worden war. In einem schiefstehenden Holzregal, dass auch schon in die Jahre gekommen war, entdeckte sie einige verstreut rumliegende lose Blätter und Bücher. `Ah, sieht ganz danach aus, als würde ich hier fündig werden.` Miceyla fand allerlei alte handschriftliche Unterlagen, darunter befanden sich sogar Notizen über Lord Darwin Blanchard. In einem Buch waren verschiedene Methoden aufgelistet, wie man anhand einer Mordwaffe den Täter ermitteln konnte. Konzentriert blätterte sie darin, als plötzlich direkt aus dem Regal eine Hand herausgriff und ihr das Buch zuklappte.

„Ahhhhh! Hilfe!“ Verschreckt wich sie zurück und meinte ein Geist sei vor ihr erschienen. Da erschallte vom Regal lautstarkes Gelächter zu ihr herüber und eine Gestalt trat hervor.

„Ha, ha! Auf frischer Tat ertappt! Du hast tatsächlich nicht bemerkt, dass ich hinter dem Regal stand. Darf ich bitte ein Bild von deinem reizenden Gesichtsausdruck haben? Ganz schön staubig hier hinten, ha, ha!“ Ein über die Maße amüsierter Sherlock, schüttelte den Schmutz von sich.

„Du alter Kindskopf! Na warte, dass gibt Rache! Bei diesem schwachen Licht, sieht man ja auch kaum etwas. Du leihst mir jetzt doch bestimmt als Entschädigung, eins, zwei deiner Bücher aus“, sprach sie belustigt.

„Wie beispielsweise dieses hier, in das du bis vor kurzem noch so drin vertieft warst? Da will mir wohl jemand Konkurrenz machen! Dann fordere ich dich zum Duell heraus, besiege mich und du wirst deine Belohnung erhalten“, forderte er Miceyla breit grinsend heraus.

„Warts nur ab du Schuft! Gleich wirst du dir wünschen, mich niemals herausgefordert zu haben!“ Mit gespielter Kampflust, packte sie einen Besen, der an der Wand angelehnt stand und stürmte damit auf Sherlock zu. Er reagierte blitzschnell und lief davon. Sie jagte ihn bis in das Wohnzimmer. Dort schnappte er sich einen von Johns Gehstöcken und nahm eine Abwehrhaltung ein.

„Ha, ha, wenn John uns jetzt sehen würde, wäre er alles andere als begeistert", meinte sie und lachte, während sie sich sein entsetztes Gesicht vorstellte.

„Glücklicherweise ist der Ordnung liebhabende Doktor heute auswärts“, sagte er lächelnd. Ohne Vorwarnung stürzte Sherlock mit dem Stock in der Hand auf sie zu. Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es, seinen Schlag mit dem Besen zu parieren. Bei ihrem kleinen Gefecht, versuchte Miceyla eine gute Figur abzugeben. Auch wenn er sie natürlich nicht ernsthaft angriff.

„Souverän abgewehrt und du verlagerst dein Körpergewicht gleichmäßig auf beiden Beinen. Das sind schon mal die richtigen Ansätze. Doch achte mehr auf deine ungeschützte linke Flanke. In einem richtigen Kampf, hättest du bereits verloren“, analysierte Sherlock mit einer entspannten Haltung ihren Kampfstil. `Ist…ist er stark. Danach sieht er gar nicht aus`, dachte Miceyla, während sie beinahe ihre gesamte Kraft aufbringen musste, um dem Gegendruck seines Stockes standhalten zu können. Und dabei nutzte er nicht einmal einen Bruchteil seiner ganzen Stärke. Dies war wieder ein Beweis dafür, wie unterlegen die Frauen den Männern doch waren. Entmutigt betrachtete sie ihre verkrampften Hände. `Ich muss stärker werden, viel stärker. Sonst werde ich in der knallharten Welt der Verbrecher, nicht lange bestehen können…` Keiner der zwei bemerkte, wie jemand am Eingang zum Wohnzimmer stand und sie eine Weile vergnügt beobachtete. Ein tiefes Räuspern ließ Miceyla und Sherlock jäh zusammenfahren.

„Verzeihung Mr und Mrs Holmes, wenn ich bei der innigen Auseinandersetzung stören muss.“ Sie traute ihren Augen kaum, als sie sah wer dort stand. `D-das ist doch schon wieder dieser Mycroft!`

„Was für ein Zufall, dass wir uns heute ein weiteres Mal begegnen. Und Sherly, hast du mich vermisst?“, sprach Mycroft ausgelassen und breitete seine Arme aus.

„Ich würde es gutheißen, wenn du es über dich bringen könntest und deine spontanen Besuche vorher ankündigst!“, kam es genervt von Sherlock, sein alles andere als begeisterter Gesichtsausdruck sprach Bände.

„I wo, dann wäre es doch nicht mehr spontan, oder?“, entgegnete Mycroft grinsend und zückte mit nur einem Handgriff eine Pistole. Er schoss ohne mit der Wimper zu zucken, auf seinen jüngeren Bruder. Doch der schaffte es gerade noch rechtzeitig, unter dem Wohnzimmertisch Deckung zu suchen. Er kroch wieder hervor und nahm einen der Stühle als Schutzschild.

„Das kann jetzt nicht euer Ernst sein!“ Entrüstet beobachtete sie den albernen Kampf der zwei Brüder. `Wenn das so weiter geht, verwandelt sich das ordentliche Wohnzimmer bald auch in einen Saustall…` Mycroft schien zwei verschiedene Persönlichkeiten zu besitzen, denn er konnte sich genauso kindisch verhalten wie Sherlock. Diese Erkenntnis beruhigte sie aber irgendwie.

„Glaubst du etwa Fortschritte zu machen? Na dann erhöhen wir doch einfach mal den Schwierigkeitsgrad…“, sprach Mycroft kühl und mit einer skrupellosen Miene, bei der man nicht wusste ob sie gespielt war oder nicht, nahm er Miceyla ins Visier und zielte direkt mit seiner Pistole auf sie. Ihr Körper zuckte bei dem Gefühl der Angst, die ihren Herzschlag sofort zum Rasen brachte. Sie verabscheute Schusswaffen zutiefst. Die Bewegung eines einzigen Fingers reichte aus, um einem Menschen das Leben zu nehmen. `E-er würde doch niemals wirklich abdrücken…`, dachte sie zitternd. Sherlock hechtete, ohne auch nur einen kurzen Moment lang zu zögern, zu Miceyla und stellte sich schützend vor sie. Nun stand er unmittelbar vor ihr, keine Möglichkeit zur Verteidigung erbot sich ihm, er handelte selbstlos und aus dem Bauchgefühl heraus.

„Lass…Miceyla bloß in Ruhe!“, zischte Sherlock aufgebracht. Zwar sah sie nicht sein Gesicht, trotzdem konnte sie sich seine vor Zorn funkelnden Augen vorstellen. Seine Worte galten nicht mehr dem kleinen Scherzgefecht. Nein, sie waren todernst gemeint. Mycroft blieb unbeeindruckt und drückte schließlich ab. Miceyla entglitt ein Entsetzensschrei und sah, wie Sherlocks weißes Hemd sich an der Brust blutrot färbte. Jedoch ohne jegliche Schmerzen zu verspüren, seufzte er nur mürrisch.

„Keine Panik, junge Lady. Das war lediglich eine Farbpatrone. Ha, ha, Sherly! Damit macht das eine weitere Niederlage für dich. Und ich habe einen weiteren Sieg zu verzeichnen. Sie müssen wissen, er hat noch nie gegen mich gewonnen. Wollen Sie hören, wie oft Sherly verloren hat?“, zog Mycroft triumphierend seinen kleinen Bruder auf und blickte Miceyla lachend an.

„Sei einfach nur still! Wenn du nichts Wichtiges zu sagen hast, verschwinde wieder!“, zischte Sherlock trotzig wie ein kleines Kind. Erleichtert legte sie sich eine Hand auf ihr pochendes Herz. Und nach kurzer innerer Beruhigung, lachte sie über das verspielte Verhalten, der beiden von Grund auf verschiedenen Brüder. Erst in diesem Augenblick fiel ihr auf, dass sie gar nicht darauf geachtet hatte, wie viel Zeit eigentlich vergangen war.

„Wie spät ist es?“, fragte sie hektisch.

„Sechzehn Uhr fünfzig. Wieso der plötzliche Zeitdruck? Hat da jemand vielleicht noch, eine dringende Verabredung mit ihrem Verlobten?“, sprach Sherlock mit gemischten Gefühlen. `Oh nein! Schon so spät! Ich mag nicht, dass Albert auf mich warten muss…`

„Ich sollte besser los, bis bald…“ Miceyla war bereits beinahe aus der Tür hinaus, als Sherlock sie noch an etwas erinnerte.

„Wolltest du nicht jenes Buch lesen? Nimm es ruhig mit. Aber beim nächsten Mal gibt es eine Revanche“, meinte dieser neckend.

„Vielen Dank, Sherly. Ich bringe es dir die Tage wieder vorbei. Und Wiedersehen, Mr Mycroft.“ Schnellen Schrittes verließ sie die Baker Street und eilte zum vereinbarten Treffpunkt. Albert wartete bereits neben einer Kutsche auf sie.

„Verzeih mein verzögertes Eintreffen. Ich wurde aufgehalten und habe die Zeit vergessen“, entschuldigte sie sich mit rasendem Atem.

„Keine Hektik, meine Liebe. Ich selbst bin erst vor wenigen Minuten, mit der Arbeit fertig geworden. Na dann wollen wir mal los, nach dir“, beschwichtigte er sie mit sanfter Stimme und half ihr mit einer Hand in die Kutsche. Sie bat Albert darum kurz bei ihrer Wohnung zu halten, da sie Sherlocks Buch nicht bis zum Anwesen mitschleppen wollte und das Louis sie ja nicht damit erwischte. Ehe Miceyla wieder zur Kutsche hinauslief, konnte sie nicht widerstehen, noch schnell ihr Spiegelbild zu überprüfen. Es war fast achtzehn Uhr, als sie beim Anwesen eintrafen und Louis war der Erste, welcher die beiden empfing.

„Willkommen daheim, Bruder. Und hallo Miceyla. Ihr könnt direkt runtergehen, Will hat alles vorbereitet“, kündigte dieser sachlich an und verschwand in Richtung Keller. `Vor anderen verhält sich Louis ganz normal mir gegenüber. War ja klar…`, dachte sie misslaunig und blickte ihm schweigend nach.

„Komm, gehen wir uns mal der debattierenden Runde anschließen“, sprach Albert lächelnd und hing seinen Mantel und Zylinder an die Garderobenstange. Ein zweites Mal betrat sie den geheimnisumwobenen Kellerraum. Das flackernde Kerzenlicht, hüllte das Kämmerlein in ein angenehmes Licht. Gleichzeitig herrschte eine mystische Aura. Man könnte annehmen, dies sei der Stammsitz einer heimlichen Sekte.

„Guten Abend ihr drei“, begrüßte sie knapp William, Moran und Fred, die bereits zusammen mit Louis auf die zwei Nachzügler warteten und setzte sich wieder auf denselben Platz wie in jener Nacht.

„Schön euch beide zu sehen. Dann können wir ja anfangen“, verkündigte William ausgeglichen und seine rubinroten Augen funkelten motiviert.

„Was für eine lasche Begrüßung. Ich habe ein paar mehr Emotionen erwartet. Du brauchst dich nicht zu genieren, Miceyla. Falle deinem Liebsten ruhig in die Arme“, meinte Moran und leckte sich genüsslich mit der Zunge über die Lippen, als hätte er allerlei heißblütige Vorstellungen im Kopf.

„Also wirklich Moran! Das wäre ziemlich unanständig!“, entgegnete sie und wurde vor Verlegenheit rot im Gesicht. Da fiel ihr auf, dass dieser neben ihr einen randvollen Teller mit allerlei Gebäck in der Hand hielt und friedlich vor sich hin mampfte.

„Die Kekse hab ich in der Küche mitgehen lassen. Magste auch welche? Mit leerem Magen lässt es sich nur schwer denken und zuhören. Für reichlich Absacker ist auch schon gesorgt“, bot er ihr an, die Kekse mit ihr zu teilen und zeigte auf eine beachtliche Anzahl an Bier- und Whiskyflaschen, die versteckt neben seinem Stuhl auf dem Boden standen.

„Hast du etwa vor, dass alles während unserer Besprechung zu trinken?“ Miceyla wusste nicht, ob sie darüber empört oder belustigt sein sollte.

„Jede Viertelstunde ein Gläschen und schwuppdiwupp sind wir am Ende angelangt“, antwortete Moran grinsend. Er musste ein hartgesottener Trinker sein.

„Oha, ich fürchte das wird ein langer Abend, ha, ha“, stellte sie daraufhin nur lachend fest.

„Könnt ihr beiden Plagegeister mal endlich Ruhe geben! Schon schlimm genug, dass Moran ein unzüchtiger Unruhestifter ist. Da musst du nicht auch noch bei seinen Kinkerlitzchen mitmachen, Miceyla!“, tadelte Louis wieder einmal autoritär.

„Jawohl! Ich werde nun, wie es sich für eine anständige Dame gehört, dass Reden dem stärkeren Geschlecht überlassen!“ Nach ihrem sarkastischen Einwand, musste Albert zu ihrer Rechten amüsiert kichern.

„Wie war dein kleiner Besuch heute bei Lord Barton? Hat es dir bei ihm gefallen?“, erkundigte William sich schief grinsend bei Miceyla.

„Es war reizend, einfach nur reizend…“, meinte sie mit wenig Begeisterung.

„Nun denn, wir müssen uns sputen. Dieses Mal muss alles auf die Minute genau nach Plan verlaufen. Für Abweichungen bleibt nur wenig Spielraum. Ich beginne am Anfang. Lord Barton Wakefield wurde in der Vergangenheit, stets für seine aufopfernde Arbeit beim Militär hochgeschätzt und genießt viel Prestige in der oberen Schicht der Gesellschaft. Doch wie Albert immer wieder angemerkt hat, ist er sehr machtgierig und versucht ohne jemals zufrieden zu sein, an einen höheren Rang zu gelangen, um seine Befehlsgewalt im Regime weiter auszubreiten. Er entledigte sich seiner Konkurrenten, welche ihm bei seinen Beförderungen im Wege standen. Dabei hinterließ er beinahe keine stichfesten Beweise. Somit konnte Barton bequem die Karriereleiter emporsteigen. Fred ist es gelungen, einen Augenzeugen ausfindig zu machen. Zweifel an den von ihm begangenen Morden, stehen also außer Frage. Bislang kamen wir auf acht hochrangige Mitglieder, die im Kriegsministerium tätig waren, welche Barton ermordet hat. Miceyla, hier kommst du ins Spiel. Du hast nicht zufälliger Weise, eine nette Sammlung von Orden in seinem Anwesen vorgefunden?“, fragte William, der wieder vor ihnen an der Wand, mit seinen angehefteten Plänen stand und die Leitung bei dieser Besprechungsrunde übernahm.

„Ja, die verschiedensten Abzeichen von fremden Soldaten mit deren Namen. Sie hingen wie Dekoration über einem Kamin“, berichtete sie verblüfft, dass er dies vorhergesehen hatte.

„Wie ich es mir dachte. Kannst du dich noch an die Namen erinnern?“

„Hm… Ich denke schon, wenn ich mir die Orden noch mal ins Gedächtnis zurückrufe.“

„Perfekt. Schreibe sie mir bitte alle auf, ich werde sie anschließend mit meinen aufgezeichneten Namen abgleichen. Unser Glück ist es, das die Medaillen mit Namen versehen sind. Dies ist nicht bei allen der Fall“, bat William Miceyla und gab ihr ein Blatt Papier und einen Stift.

„Mache ich. Aber ist das denn notwendig? Du hast doch sicherlich ganz leicht durch Albert herausgefunden, wer beim Militär umgekommen war“, hinterfragte sie nachdenklich seine Überprüfung.

„Selbstverständlich. Jedoch hätten diese Männer auch durch einen Unfall oder auf eine andere Art verunglücken können. So wie es auch an die Öffentlichkeit getragen wurde. Ich brauche hundertprozentige Gewissheit. Fehlschlüsse kann ich mir nicht leisten“, erklärte er ihr ausführlicher.

„Das leuchtet ein. Dann war mein Auftrag ja tatsächlich von großer Bedeutung“, meinte sie stolz. `Nur, ist es nicht etwas riskant, all die Orden bei sich zu Hause zur Schau zu stellen? Na wahrscheinlich denken die meisten, er würde sie als Erinnerung an seine gefallenen Kameraden aufbewahren…`

„Natürlich, was denkst du denn. Wir machen keine halben Sachen“, kam es beifällig von Louis. Miceyla überreichte William wieder den Zettel. Sie war selbst verwundert darüber, dass sie sich alle Namen gemerkt hatte, obwohl sie heute nur für kurze Zeit einen Blick darauf werfen konnte.

„Sehr gut, dann weiter im Text. Barton besitzt ein kleines Schloss in Richmond, in welchem er meistens die Sommermonate verbringt und mit einer Gruppe von anderen Adeligen auf die Jagd geht. Am elften März findet dort eine Feier statt, zur Bekanntgabe seiner Beförderung zum Generalmajor. Es sind über hundertfünfzig Gäste geladen, unter anderem wir. Da das Schloss recht abgelegen, in der rauen Weidelandschaft von Richmond liegt, fahren kaum Kutschen in das unwegsame Gelände hinaus. Daher treffen die meisten Gäste auf einem Passagierschiff ein, das von Zentrallondon die Themse bis dort hinunterfährt. Vom Anlegeplatz am Fluss, kann man die Umrisse des Schlosses schon erkennen. Nach ein paar Stunden der Feier, kehrt Barton zusammen mit den Gästen auf das Schiff zurück. An Deck wird ihm dann von Londons aktuellem Generalleutnant, sein Orden verliehen. Eine alte Tradition, da Barton viele Jahre der königlichen Marine gedient hat,“ erläuterte William und demonstrierte die Route auf einer detaillierten Karte von London und dessen Umgebung.

„Das ist ja schon in drei Tagen…“, kommentierte Miceyla leise.

„Korrekt. Das waren die groben Rahmeninfos. Kommen wir nun zum eigentlichen Plan. Erst mal vorweg, Miceyla, ich habe dich, da es dein erster richtiger Auftrag ist, für die Aufgaben im Hintergrund eingeplant. Du wirst bei Fred bleiben und…“, begann William, hielt jedoch inne, als er sah wie sie die Hand hob um Einspruch zu erheben.

„Wenn du nichts dagegen hast, erbitte ich, dass du mich vollwertig miteinbindest. Du hast mich bereits einmal ins kalte Wasser geworfen. Nun weiß ich was auf mich zukommt und mit der passenden Vorbereitung, brauchst du auch keine Rücksicht auf mich zu nehmen. Ich wette du hältst einen Ersatzplan bereit, den du entwickelt hast, da du dies von mir erahntest“, sprach sie und blickte William mit felsenfester Entschlossenheit an. Die beiden lächelten und für einen Moment, schienen sie in ihrer eigenen Welt zu wandeln.

„Wusste ich doch, dass wir uns auch in diesem Punkt einig sein würden. Dann soll es so sein. Du wirst den bedeutendsten Akt mit Moran ausführen“, bekundete er zufrieden.

„Aber Will, dass wird viel zu gefährlich für sie“, sorgte Albert sich um ihr Wohlergehen.

„Bruder, es ist verständlich, dass du dir Sorgen machst. Doch habe mehr Vertrauen in Miceyla, sie handelt nicht unüberlegt. Das wird außerdem eine gute Übung werden. So, jetzt zu den Einzelheiten unseres Plans. Louis und ich treffen pünktlich zu Beginn der Feier, um siebzehn Uhr bei Bartons Schloss ein. Fred hat bereits das komplette Gebäude ausgekundschaftet und anhand seines Berichts, habe ich eine präzise Skizze des gesamten Schlosses angefertigt und jedem einzelnen Raum einer Nummer zugeordnet. Prägt euch die Zeichnung mit den Nummerierungen gut ein, noch besser, lernt alles auswendig, damit ihr euch dort blind fortbewegen könnt. Dies ist besonders von essenzieller Bedeutung für Miceyla und Moran. Ihr werdet etwas zeitverzögert auf der Feier erscheinen. Allerdings trefft ihr wie wir zur selben Uhrzeit in Richmond ein. Nur nehmt ihr mit einem separaten Boot, eine andere Route. Ich werde sagen, dass meine Verlobte verspätet nachkommt, da sie noch meinem Bruder Albert, bei einem wichtigen Projekt für das Kriegsministerium unterstützt hatte. Barton wird sich an der Tüchtigkeit einer jungen Frau sehr erfreuen. Moran gibt sich wie immer als ein Bediensteter aus. Dein Pseudonym für den Abend lautet `Eliot Hamilton`. Den Namen darfst du auch bei zukünftigen Einsätzen verwenden, wenn es die Begebenheiten zulassen“, begann William mit der grundlegenden Struktur seines Plans. Miceyla warf einen Blick auf den grimmig dreinschauenden Moran, der alles andere als begeistert über diesen Namen zu sein schien.

„Der Name klingt doch edel, Sir Eliot“, sprach sie leise mit gekünstelt hoher Stimme.

„Sir Eliot, schenken Sie bitte der Lady ihren Tee ein“, schloss Albert sich ihr amüsiert an.

„Ihr beiden Scherzkekse seid unmöglich…“, kommentierte Moran nur mit rollenden Augen.

„Zwischen siebzehn und siebzehn Uhr dreißig werden die Gäste eintreffen und sich im größten Saal des Schlosses versammeln. Im Anschluss wird Barton vor allen Anwesenden, eine kleine Rede halten. Um achtzehn Uhr beginnt das Bankett. Demnach werden alle mindestens bis achtzehn Uhr fünfundvierzig beschäftigt sein. In diesem Zeitraum wird sich euer Akt abspielen, Miceyla und Moran. Werft bitte mal einen Blick auf meine Karte. Auf der rechten Seite des Schlosses befindet sich ein kleiner Graben, dort werdet ihr eine schwere Eisentür vorfinden, die in einen großen Weinkeller führt. Dort schleicht ihr euch unbemerkt hinein. Fred wird dafür sorgen, dass die Tür geöffnet ist und euch warnen, falls Personen in der Nähe sind. Auf geradem Wege, geht ihr durch den Keller hinauf ins Erdgeschoss. Bitte stets rechts halten. Hier seht ihr nun eine schmale Treppe, die selten benutzt wird. Im ersten Stockwerk biegt ihr nach links in den zweiten Flur ein und macht Halt bei dem Zimmer mit der Nummer fünfzehn. Moran hält im Innern am Raumeingang Wache, falls jemand kommt. Miceyla, du gehst hinein und suchst die Medaille, welche seinen Brigadegeneralrang kennzeichnet. Fred wird wieder vor Ort sein und dir behilflich sein, solltest du nicht fündig werden. Hierzu eine kleine Erläuterung: Barton wird auf der Feier, vor seinen Gästen leger im Anzug zugegen sein. Erst für die Ordensverleihung auf dem Schiff, wird er sich umziehen und seine Militäruniform tragen. Wofür ich die Medaille brauche, dazu gleich mehr. Ach und es wird ihn bloß etwas stutzig machen, wenn sein Orden fehlt, dass wird den weiteren Verlauf nicht weiter beeinträchtigen. Soweit, so gut. Ich werde mich kurz entschuldigen, dass ich das Bad aufsuche. Louis wird die Lage rund um das Geschehen bei Barton im Auge behalten. In diesem versteckten Winkel im Erdgeschoss, wirst du mir die Medaille überreichen, Miceyla. Und zwar um Punkt achtzehn Uhr zehn. Du und Moran tragt bitte beide an dem Abend eine Uhr bei euch, ganz wichtig. Es muss alles reibungslos ablaufen. Fred und Moran halten während der Übergabe, an diesen zwei verschiedenen Posten Wache. Kurz darauf trifft Miceyla wieder hier mit Moran zusammen. Kommen wir nun zu dem unschöneren Teil des Plans. Natürlich hat Barton, wie jeder der viel Macht besitzt, seine ganz persönlichen Handlanger, welche ihm treu ergeben sind. Das Positive gleich vorweg. Diese Männer, um genauer zu sein Söldner, haben dort im Schloss ihren eigenen Stützpunkt, den Barton für sie errichtet hat, um sie untertauchen zu lassen. Und jener Stützpunkt befindet sich unterhalb, auf der gegenüberliegenden Seite des Weinkellers. Die Männer werden den ganzen Abend nicht viel zu tun haben und bloß ihrem Herrn Barton, bei Notfällen den Rücken freihalten. Keiner von ihnen wird ohne einen triftigen Grund hinaufkommen, denn niemand darf schließlich von ihrer Existenz erfahren. Es dürften nicht mehr als zwölf Männer sein. Diese Leute haben selbst in ihrer Vergangenheit schlimme Straftaten verübt und sind sich für kein Massaker zu schade. Wir müssen die Kerle zur Strecke bringen, damit sie uns nicht in die Quere kommen. Außerdem kommt uns ihr Ableben, noch für einen weiteren Teil meines Plans zugute, was an den abschließenden Akt von Miceyla und Moran anknüpfen wird. Ihr beide geht zurück in den Keller und sorgt dafür, dass jeder einzelne von ihnen ausgelöscht wird. Moran, ich überlasse dir für dieses Unterfangen die Führung. Du wirst selbst wissen, wie du die Sache am besten angehst. Eure Waffen enthalten dieselbe Munition mittleren Kalibers, welche auch Barton verwendet. Dreißig Minuten sollten euch für die Eliminierung seiner Mittäter ausreichen. Dann geht ihr wieder hinauf in den Raum Nummer neun, zieht euch eine saubere Abendgarderobe an und überreicht all eure Waffen Fred. Er tauscht sie durch neue aus, die ihr für den Fall der Fälle versteckt bei euch tragt. Eure getragene Kleidung wird Fred verbrennen, sicher ist sicher. Also, du hast es gehört Miceyla, wähle nicht dein Lieblingskleid aus. Wenn ihr beide makellos zurechtgemacht seid, trefft ihr auf der Feier ein und stoßt zu uns, etwa um neunzehn Uhr zehn. Es gibt noch eine Hand voll anderer Gäste, die aus unterschiedlichen Gründen, verspätet mit ihren privaten Booten auftauchen. Ihr macht euch also nicht verdächtig. Die Mühe überhaupt auf der Feier zu erscheinen, macht ihr euch nur damit ihr dem Finale, ohne euch im Hintergrund halten zu müssen beiwohnen könnt. An dieser Stelle endet euer Hauptakt und ihr dürft euch etwas zurücklehnen. An dem Abend wird noch ein ganz besonderer Gast anwesend sein, der von uns einen anonymen Brief erhält. Nämlich Inspector Lestrade. Er wird für uns den Fall aufdecken. Zwar arbeitet er mit kleinkarierten Methoden, doch ist er nicht gerade auf den Kopf gefallen. Sein Ruf und sein unparteiisches Denken sind von Vorteil. Für unseren Plan ist er der richtige Mann. Ich werde mir eine nette kleine Geschichte ausdenken, welche ihn dazu bringen wird, etwa eine Stunde bevor Barton und die Gäste zum Schiff aufbrechen, mit mir zusammen in den Keller zu gehen. Den Raum mit den Leichen werde ich vor Lestrade betreten und die von Miceyla überreichte Medaille dort fallen lassen. Ohne das der Inspector etwas merkt. Diese wird er natürlich finden. Und welche Schlussfolgerung er daraus ziehen wird, könnt ihr euch selbst zusammenreimen. Etwa vorher, während Miceyla und Moran im Keller zu schaffen sind, werden wir Barton kurz aus dem Festsaal rauslocken, um sein Abbleiben verdächtig aussehen zu lassen. Wie wir das anstellen, dazu komme ich gleich. Gibt es bis hierhin Fragen von eurer Seite? Jetzt habt ihr die Möglichkeit, mir diese zu stellen“, legte William eine kurze Zwischenpause bei seiner Planerklärung ein. Miceyla hob sofort die Hand.

„Ja bitte.“

„Also, die Sache mit der gestohlenen Medaille. Warum die Umständlichkeit mit der Übergabe? Wenn Moran und ich sowieso danach in den Keller gehen, könnte ich sie doch einfach selbst dort liegen lassen“, meinte sie grübelnd.

„Das ist eine berechtigte Frage, die ich dir auch direkt beantworten kann. Der schlichte Grund hierfür ist, dass in der Zwischenzeit trotz aller Planungen etwas schiefgehen könnte. Stell dir vor irgendjemand oder gar Barton betritt den Keller. Der Orden würde logischerweise sofort von der betreffenden Person entfernt werden. Und so sind wir auf der sicheren Seite. Kannst du es nun besser nachvollziehen?“ Miceyla nickte verständnisvoll.

„Gut, gibt es sonst noch weitere Fragen?“ Wieder war es Miceyla, die ihre Hand hob.

„Ja, meine Liebe?“

„Ähm… Verzeih das ich dies fragen muss, aber ich bin einfach zu neugierig… Warum lässt du anstatt Lestrade, nicht gleich Sherlock den Fall lösen? Für ihn wäre es eine Leichtigkeit, die Wahrheit ans Licht zu bringen.“ Nach ihrer Frage hatten alle außer Fred, ein heimtückisches Grinsen auf den Lippen.

„Ich glaube das beantwortet sich von ganz allein. Mit der Anwesenheit von dem Detektiv, würden wir uns nur selbst ein Bein stellen. Dachte mir schon, dass du ihn zur Sprache bringen wirst. Hätte ich den gesamten Plan noch etwas raffinierter gestaltet, wäre es mit ihm sogar machbar gewesen. Aber wir wollen mal bei unserem allgegenwärtigen Plan bleiben. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Sherlock Interesse an einem simplen Fall zeigt, der die Obrigkeit betrifft, ohne das ein tiefgründigeres Rätsel dahintersteckt. Kann ich fortfahren oder soll ich noch eine Frage beantworten?“ Alle Blicke waren auf Miceyla gerichtet.

„Nein, fahre bitte fort. Ich bin wunschlos glücklich“, gab sie William mit einem Schmunzeln ihre Zustimmung.

„Dann begeben wir uns langsam aber sicher in Richtung Schlussakt. Hier knüpfe ich an Alberts Aufgabe an, die er natürlich schon selbst fleißig einstudiert hat. Aber ich erzähle es noch einmal für alle. Das Passagierschiff, dass ausschließlich für Barton und seine Gäste vorgesehen ist, welche am späten Abend wieder dort an Bord zurückkehren, werden wir durch ein identisch aussehendes Schiff ersetzen. Allerdings halten sich dann dort ganz gewöhnliche Bürger auf, die auf ihrer Rückreise nach London sind. Davon wird Barton zunächst einmal nichts mitbekommen. Um den Schiffaustausch und alles diesbezüglich Betreffende, kümmert sich Albert. Fred wird immer von Zeit zu Zeit zwischen ihm und mir vermitteln, ob alles planmäßig verläuft. Um Punkt Mitternacht wird Barton sein Orden verliehen und sein Rangaufstieg offiziell gemacht. In jener Nacht haben wir übrigens Vollmond. Das passende Ambiente für unser Vorhaben. Das Schiff hält für eine Weile mitten auf der Themse, dafür sorgt ebenfalls Albert. Übrigens haben mein Bruder und ich, den Generalleutnant über unseren Plan in Kenntnis gesetzt. Er hat ihn befürwortet und unterstützt uns dabei. Ein gerechter Mann ist er und ist sich Bartons Schandtaten bewusst. Dann, genau um Mitternacht während der Verleihung, erwartet unseren nichtsahnenden Barton, eine nette Überraschung. Denn wir lassen all seine Opfer, die gefallenen Soldaten, wieder auferstehen!“, verkündete William mit betonender Stimme und breitete seine Arme dabei mit einem stolzen Grinsen aus. Dabei vermittelte er seinen Zuhörern den Eindruck er sei ein Magier, der kurz davor war seinen besten Trick vorzuführen.

„Wiederauferstehen? Hast du etwa deshalb die Namen gebraucht? Aber wie bitteschön willst du dies anstellen?“, fragte Miceyla sichtlich erstaunt, über die plötzlich so unrealistische Kehrwende seines Plans und blickte ihn erwartungsvoll an. Sie hatte ja bei seinem grenzenlosen Einfallsreichtum mit fast allem gerechnet, doch garantiert nicht damit.

„Es geht ganz einfach nur darum, Barton für einen kurzen Moment zu verunsichern und ihn dazu zu bringen, dass er vor den Augen aller Anwesenden, einschließlich dem Adel, den Bürgern aus der Mittelschicht und Inspector Lestrade, sein wahres Ich zu Tage bringt. Dafür schlüpfen von uns eingestellte Double mit gefälschten Militärorden, in die Rollen der von ihm ermordeten Soldaten. Es macht nichts das Barton sofort erkennen wird, dass es sich nicht um jene echten Männer handeln kann. Aber eine Person seines Charakters, lässt diese Beleidigung nicht lange auf sich beruhen und geht ohne Skrupel auf die Personen los, welche eigentlich tot sein müssten. Der erste unserer Schauspieler wird bereits im Schloss auftauchen und ihn, wie ich es vorhin bereits angesprochen habe, kurz von der Feier weglocken. Miceyla, ich sehe schon dein schockiertes Gesicht. Ich weiß was dir jetzt durch den Kopf geht. Lass mich dich gleich beruhigen. Die von uns ausgewählten Double sind selbst Kriminelle gewesen und haben ihre Schuld eingesehen. Sie sind bereit ihre Sünden zu begleichen. Sorge dich nicht, ich opfere nicht grundlos Unschuldige. Mein eigenes Ziel ist es, dies zukünftig immer zu berücksichtigen. Denn schließlich wollen wir ja gerade die Unschuldigen retten und ihnen ein sorgenfreies Leben ermöglichen. Und nicht sie für unsere Pläne ausnutzen. Nur macht diese Tatsache, unser Handeln um einiges umständlicher und wir müssen etliche Einschränkungen in Kauf nehmen. Aber wir packen das, nicht wahr Freunde? Ach, schaut mal auf die Uhr, in einer halben Stunde haben wir schon Mitternacht. Ich denke ihr seid nun alle mit den Details des Plans gut vertraut. Falls doch noch Unstimmigkeiten auftauchen sollten, habt ihr in den nächsten zwei Tagen die Möglichkeit mich aufzusuchen. Ich wünsche einem jeden von euch schon mal viel Erfolg und ich verlasse mich wie immer auf euer Geschick!“, beendete William die lange Planbesprechung.

„Ich muss zugeben dein Plan ist genial, wenn auch ein klein wenig utopisch, ha, ha“, lobte Miceyla bewundernd die Kreativität seiner Vorgehensweise.

„Warum gibst du unserem Plan, nicht einen passenden Namen? Denn Barton-Plan klingt doch furchtbar langweilig und einfallslos“, schlug Albert lächelnd vor.

„Einen Namen? Hm… Da Vollmond in jener Nacht ist… Wie wäre es mit `Mondscheindämmerung`?“ fragte sie begeistert die kleine Gruppe.

„Was soll das denn bitteschön für eine Planbezeichnung sein? Ist dir kein besserer Name eingefallen? Außerdem ist der mir viel zu lang. Gibt es überhaupt so etwas wie eine Mondscheindämmerung?“, nörgelte Moran, der gerade die letzte seiner Flaschen leerte. Der ganze Alkohol, schien bei ihm aber keinerlei Wirkung zu haben.

„Also mir gefällt der Name. Klingt doch romantisch“, verteidigte Albert ihren Vorschlag.

„Gutes Gelingen bei der Mondscheindämmerung, Eliot“, fügte Fred mit ernstgemeintem Nachdruck hinzu.

„Ach, macht was ihr wollt… Komm mal eben mit, bevor du mir davonläufst, Miceyla“, meinte Moran, der sich neben ihr erhob. Sie folgte ihm gehorsam hinauf in den zweiten Stock. Dort holte er etwas aus einem Zimmer und kehrte damit zu ihr zurück.

„Hier, nimm diesen Revolver an dich. Er ist leicht und liegt gut in der Hand. Genau die richtige Waffe für einen Anfänger. Ich gebe dir noch zwei Ersatzmagazine mit. Schau her, so wechselst du sie. Wie ist es um deine Kenntnisse im Umgang mit Pistolen bestellt? Hach… Dein Blick sagt schon alles… Ich arbeite also tatsächlich mit einer blutigen Anfängerin zusammen…“, gab Moran ihr eine knappe Einführung, zur Nutzung ihrer neuen Waffe und sah sie kritisch an.

„Ich…konnte Schusswaffen noch nie leiden… Und ich werde garantiert keinen einzigen Menschen umbringen!“, sagte Miceyla stur und ballte die Hand zu einer Faust zusammen.

„Dann wirst du dich wohl mit ihnen anfreunden müssen. Ich kann dich schlecht mit einem Messer auf eine Schießerei schicken. Rechne damit, dass Bartons Schergen bis an die Zähne bewaffnet sein werden. Dir fehl es schlicht und ergreifend an Erfahrung. Und wenn du es nicht über dich bringen kannst abzudrücken, dann tu dir keinen Zwang an, wenn du als Erste sterben willst. Für längere Trainingseinheiten ist leider keine Zeit. Also machen wir das Beste draus“, sprach er harte, aber ehrliche Worte. Miceyla wollte vor einem Soldaten, der den echten und brutalen Krieg kennen musste, keine Schwäche zeigen und riss sich am Riemen.

„Ich werde das beherzigen! Auf gute Zusammenarbeit! Wir schaffen das schon! Ich bemühe mich darum, dir kein Klotz am Bein zu sein. Achte nicht auf mich und zieh dein Ding durch, wenn es hart auf hart kommt.“

„So einfach ist das leider nicht… William wird mich dafür verantwortlich machen, sollte dir etwas zustoßen. Deshalb ist es das Sinnvollste, wenn du dich an meine Anweisungen hältst. Genug geplaudert. Über weitere Strategien, entscheiden wir spontan am elften März vor Ort. Ist ja schließlich nicht mein erster Auftrag, den ich für William ausführe. Gute Nacht, Kleine. Und hoffen wir mal, dass es in den nächsten drei Tagen nicht regnet“, sprach er zum Abschied und streckte sich mit einem lautstarken Gähnen.

„Ja, sonst brauchen wir auch noch saubere Schuhe, ehe wir Bartons Schloss betreten. Gute Nacht, Moran.“ Miceyla lief wieder die Treppe hinunter und begegnete im ersten Stockwerk William, der sie liebevoll in die Arme schloss.

„Sei bitte vorsichtig und überstürze nichts. Ich bin froh, dass Moran an deiner Seite sein wird. Bei ihm bist du in sicheren Händen. Denn ich wüsste nicht, ob ich mich an seiner Stelle konzentrieren könnte, aus Angst um dich. Sobald wir mit Barton abgeschlossen haben, widmen wir uns voll und ganz der Planung unserer Hochzeit, versprochen. Teile mir all deine Wünsche mit, ich möchte das nichts offenbleibt“, sprach er so sanft, dass es beinahe nur noch ein Flüstern war. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und fand bei ihm einen schläfrigen Blick vor. `Es muss für ihn sehr anstrengend sein, sich rund um die Uhr Taktiken und Pläne auszudenken. Selbst an ihm geht das nicht spurlos vorüber…`, dachte Miceyla und legte ihm besorgt eine Hand auf seine warme Wange.

„Geht es dir gut… Will?“

„Ich muss mich nur etwas ausruhen. Keine Sorge, Liebes… Da es schon so spät ist, warum übernachtest du nicht gleich hier?“ Plötzlich verschwand die Müdigkeit aus seinem Gesicht und er blickte sie mit einem verführerischen Schimmer in den Augen an, der ihre Sinne benebelte und ihren gesamten Körper umgarnte. Ihre Gesichter waren sich so nah, dass sie meinte, schon seinen Kuss auf den Lippen zu spüren.

„Ich…“, mehr brachte sie nicht heraus. Da zog sie jemand sanft, dennoch beharrlich aus Williams Armen. `Albert…!` Voller Erstaunen sah sie hinauf in seine leicht strenge Miene.

„Ich werde Miceyla zurück in ihr Zuhause bringen, in dem sie momentan nun mal noch wohnt. Oh, wie ich sehe hat dir Moran schon eine Waffe gegeben. Damit hätte er doch auch bis zu dem Tag unserer Mission warten können. Die Pistole steht dir nicht, dich damit zu sehen, versetzt mir einen Stich ins Herz. Das schadet nur deinem liebenswerten Äußeren, meine liebe Eisblume. Ich werde die Waffe an mich nehmen. Du bekommst sie in drei Tagen wieder zurück. Bald wirst du Miceyla jede Nacht für dich allein haben, Bruder. Gönne ihr bis dahin noch etwas Ruhe. Und bis zum elften März, solltet ihr euch beide ohnehin entspannen“, sprach Albert ruhig, dennoch hatte sein Tonfall einen leicht anordnenden Nachklang. Aus den Blicken, mit denen sich die beiden jungen Männer ansahen, konnte sie nur schwerlich entnehmen, was sie sich ohne Worte zu sagen versuchten. Welche Warnungen und Geheimnisse verbargen sich dahinter? Waren es Erwartungen und Hoffnungen, die von der schmerzenden Wahrheit zu Fall gebracht wurden? Jedoch, für diese Art von Blick, musste erst noch eine geeignete Bezeichnung erfunden werden…

„Du hast ja vollkommen recht, Bruderherz. Schlafe gut, meine süße Miceyla“, verabschiedete William sich mit einer sachten Spur von Wehmut. Die Brüder waren ununterbrochen darum bemüht, ihre Zielstrebigkeit und ihre warmherzig menschlichen Gefühle, auf ein Gleichgewicht zu bringen. Aber was geschah wohl, wenn die Waage kippen sollte und das eine plötzlich über dem anderen stand? Jede noch so gut beherrschte Ausgeglichenheit hatte Grenzen. Und die eigene Verzweiflung holte einen spätestens dann ein, wenn man gezwungen war, eine schwere Entscheidung zu treffen...
 

Liebes Tagebuch, 10.3.1880
 

heute ist der Abend vor unserer Planumsetzung und meiner ersten richtigen Mission zusammen mit der Gruppe. Ich habe mich doch glatt dabei erwischt, so viele Notizen zu machen, dass ich nun wirklich blind durch Bartons Schloss rennen könnte. Und mir schwirren die ganzen Uhrzeiten im Kopf herum. Irgendwie bin ich froh, dass Albert mir erst mal die Pistole abgenommen hatte. Er gab die Waffe an Moran zurück und dieser gibt sie mir dann morgen wieder, da ich Albert vor dem Auftrag nicht mehr sehen werde. Ha, ha, wie umständlich. Moran ist jetzt sicher immer noch deswegen genervt. Aber trotzdem auch schade, denn mit einer ordentlichen Waffe in meinem Besitz, hätte ich keine Angst mehr, nachts durch Londons verlassene Straßen zu laufen. Naja, zukünftig werde ich mich bestimmt öfters bewaffnet unter die Leute mischen. Doch ich denke dabei eher an eine Waffe, die besser zu mir passt… Die letzten zwei Tage habe ich eigentlich nur damit verbracht, dass Wichtigste von Louis‘ Lektüren zusammenzufassen. Das war wirklich alles andere als einfach. Doch Sherlocks Buch, hat mir bei dem Verständnis vieler Begriffe sehr weitergeholfen. Übermorgen muss ich mit meinem Ergebnis, schon wieder Louis gegenübertreten… Der Zeitdruck darf mich nicht nervös machen! Und noch etwas beschäftigt mich. Die Atmosphäre zwischen William und Albert, war an dem Abend nach unserer Besprechung irgendwie recht angespannt… Aber damit sollte ich mich besser nicht mehr, so kurz vor unserer Mission beschäftigen. Ich sollte zeitig ins Bett gehen und ich hoffe, dass morgen nichts schief gehen wird…
 

Mondscheindämmerung
 

Vor euren Fenstern tanzt ein Licht klar und hell,

seht her, wie der Mond emporsteigt ganz schnell.

Die Geheimnisse wird er in den Himmel hinauftragen,

die Mysterien der Nacht dürft ihr nun hinterfragen.
 

Was sehe ich da nur in einem gestohlenen Traum,

ein gieriger Schwindler, ich glaub es fast kaum!

Die Waffen sind bereits geladen,

doch wer nimmt am Ende den größten Schaden?
 

Die Höhle des Löwen wird zu unserem Revier,

bald ist es vorbei mit deiner endlosen Gier.

Auf mein inneres Gespür werde ich mich verlassen,

es geht nicht darum irgendjemand zu hassen.
 

Beenden wir es noch ehe die Dämmerung naht,

befolgt lieber meinen gut gemeinten Rat.

Kommt zur Besinnung, bevor ihr in den tiefen Gewässern ertrinkt,

nutzt euer neues Schicksal, welches euch bedingungslos herbeiwinkt

Schauernachtgeflüster

Wenn das Gute zum Bösen wird

und die im Herzen manifestierte Rache umherirrt,

können die Kontrahenten sich nicht länger tarnen

und das Schauernachtgeflüster wird sie warnen…
 

Ein kräftiger Wind ließ kleine Wellen über die Wasseroberfläche gleiten, welche durch die Strahlen der Spätnachmittagssonne zum glitzern gebracht wurden. Miceyla stand an der Relling eines Bootes und summte motiviert und gut gelaunt vor sich hin.

„Wir sind fast da, dort drüben legen wir an. Den Rest gehen wir zu Fuß“, meinte Moran, der sich neben sie gesellte und mit dem Finger auf ihren provisorischen Anlegeplatz in Richmond zeigte.

„Wie schön es hier ist! Wer hätte gedacht, dass in der Nähe von London, eine solch naturbelassene Landschaft existiert“, sprach sie begeistert und genoss die herrliche Aussicht, die sich vor ihren Augen erbot.

„Meine Güte. Man meint, du wärst das erste Mal außerhalb der Stadt. Um Richmond zu besichtigen haben wir keine Zeit. Das hier wird kein Ausflug. Hast du an alles gedacht? Meinen Revolver haste. Auch Handschuhe und eine Uhr?“, fragte er überprüfend und konnte ihr gleichmütiges Verhalten, so kurz vor ihrer Mission nur schwer nachvollziehen.

„Ja, trage alles bei mir. Schau mal, diese Taschenuhr hat mir Albert noch geschenkt. Ist das Blumenmuster auf der Außenseite nicht hübsch?“, freudig zeigte Miceyla ihm ihre neue Uhr, die Albert ihr an dem Abend, wo er sie nach Hause brachte, geschenkt hatte.

„War klar, dass dir so ein Schnickschnack gefällt. Aber sag mal, woher kommt deine Entspanntheit und dieses Leuchten der Vorfreude in deinen Augen? Du weißt doch was wir vorhaben. Ich könnte es verstehen, wenn du nervös und niedergeschlagen wärst. Wie an dem Tag wo…“ Moran verstummte, da er keine alten Wunden aufreißen wollte.

„Damals wo ihr mich der Bewährungsprobe unterzogen habt, hatte ich höllische Angst. Panik und Verzweiflung ergriffen von mir Besitz, weil ich auf mich allein gestellt war. Doch jetzt bin ich nicht mehr allein. Ich habe Verbündete an meiner Seite, denen ich vertrauen kann. Mir ist sehr wohl bewusst, welche Gefahren vor uns liegen. Nur nahm ich mir fest vor, meine sorgenden Grübeleien etwas abzulegen und mutig vorauszublicken. Ich will anderen beweisen, dass es sich lohnt stark zu bleiben, was auch immer geschehen mag und das man zusammen unglaubliche Dinge erreichen kann. Ich glaube unsere gesamte Reise in Richtung Ziel, ist die eigentlich Probe für einen jeden von uns. Dies gilt auch für William…“, sprach sie verträumt und betrachtete dabei die glimmernde Flussoberfläche.

„Hm… Deine vernünftige Einstellung gefällt mir. Es schadet nicht, dass Positive aus der ganzen Sache herauszufiltern. Ich kenne etliche Prediger, die den lieben langen Tag davon schwafeln, dass sie vorhaben sich und ihr Umfeld zu ändern. Nichts als leere Worte. Keiner von ihnen wird jemals im Leben etwas erreichen. Du handelst genau wie William und ihr seht dem Übel direkt ins Gesicht. Manche Menschen sind einfach dazu bestimmt sich zu treffen, huh…“, sagte er lächelnd und stützte sich mit den Armen, auf der Reling des kleinen Schiffes ab. Miceyla war froh, gemeinsam mit Moran den Auftrag auszuführen. Zwar war er von rauer Natur und nahm kein Blatt vor den Mund, jedoch war er kein bösartiger Mensch. Sie würde gut mit ihm zurechtkommen. Gemeinsam stapften sie an Land und der Bootsfahrer verabschiedete sich winkend.

„Wir machen einen kleinen Umweg und warten, bis der größte Ansturm an Gästen eingetroffen ist. Dann fangen wir ganz gemütlich damit an, den Orden zu suchen“, beschloss Moran entspannt und zündete sich eine Zigarette an. Wie er trug auch Miceyla einen schwarzen Umhang über der Kleidung. Er gefiel ihr ganz und gar nicht. William meinte, dass sie sich für das nächste Mal einen eigenen aussuchen durfte. Aber er sollte ja schließlich einfach nur seinen Zweck erfüllen, daher nörgelte sie nicht weiter darüber.

„Aha, da bleibt uns ja doch noch etwas Zeit, um die Landschaft auszukundschaften. Zum Glück ist es bis heute trocken geblieben. Du Moran, was ist eigentlich dein Soldatenrang, wenn ich fragen darf?“, erkundigte sie sich neugierig und lauschte dem besänftigenden Vogelgezwitscher.

„Oberst. Aber vergiss nicht, dass ich meinen Dienst beim Militär quittiert habe. Oder besser gesagt… Ach, nicht so wichtig“, antwortete er und blickte für einen Moment gedankenversunken geradeaus. `Morans eigene Geschichte aus der Vergangenheit, muss ihn zu William geführt haben…`, dachte Miceyla, doch sie wollte nicht unhöflich sein und hakte nicht weiter nach.

„Ui, dann stehst du sogar über Albert!“, sprach sie bewundernd.

„Wer weiß, wie lange das noch so sein wird…“, sagte er daraufhin mit einem zaghaften Grinsen. Soweit das Auge reichte, sah man verwilderte Wiesen, Waldstücke, die unterschiedlichsten Sträucher, moosbedeckte Felsen und die parallel dazu verlaufende, ruhige Themse. Die Sonne näherte sich langsam dem Horizont und färbte den Himmel und das Wasser in ein leuchtendes Rosarot. Man konnte die unberührte Natur beinahe in der reinen Luft schmecken. Das hohe Gras bog sich unter dem beständigen Wind. Ein paar Wolken warfen hin und wieder einen Schatten auf das Terrain. In der Ferne entdeckte Miceyla eine friedlich grasende Rotwildherde und sah eine längliche Turmspitze emporragen. Dabei musste es sich wohl um Lord Barton Wakefields Schloss handeln.

„Keine lärmenden Menschen, kein unerträglicher Gestank. Die angenehm kühle Brise belebt dein betrübtes Gemüt. Was für ein wundervolles Gefühl es doch wäre, hier auf einem Pferd über die Weiden zu galoppieren. Nichts hält dich auf, du lauschst der behaglichen Melodie der Natur und reitest geschwind dem Sonnenuntergang entgegen. Du lässt deine Sorgen hinter dir und keine Verpflichtungen warten auf dich. Wohin dein Weg dich führt, bestimmst nur du allein. Das nenne ich, die wahre Freiheit…“, sprach sie verträumt, durch die Inspiration ihrer Umgebung. Plötzlich verspürte sie das einsame Gefühl der Sehnsucht im Herzen. `Eine Freiheit zusammen mit William… Ein Traum, der niemals richtig in Erfüllung gehen wird. Nur eine flüchtige Illusion, die wieder entschwindet. Ich werde es wohl nie erleben können…`, dachte sie verbittert und versuchte die traurigen Gedanken abzuschütteln. Sie machte sich darauf gefasst, dass Moran sich über ihre Fantasien lustig machen würde. Doch zu ihrer großen Überraschung, fand sie bei ihm einen beinahe melancholischen Blick vor.

„Ich verstehe was du meinst. Frei durchs Land streifen, sein eigenes Elend hinter sich lassen und voller Tatendrang auf einen neuen Morgen warten. Freiheit ist ein sehr zerbrechlicher Begriff. Mit dem Klassensystem und den ganzen Vorschriften, schränken die Menschen gegenseitig ihre Freiheit stark ein und zerstören sie fast vollends. Jeder Mensch sollte selbst darüber bestimmen dürfen, wie er sein Leben gestalten möchte. Das wolltest du doch damit ausdrücken, habe ich recht? Na komm kleiner Wildfang, wir wollen mal weiter. Und hüpf nicht so lebhaft in der Gegend herum. Sonst wirst du noch von einem Jäger erschossen, weil er dich für ein Reh gehalten hat“, sprach er zur Aufheiterung und gab ihr einen leichten Klaps auf die Schulter.

„Auf geht’s, Eliot! Die Operation Mondscheindämmerung kann beginnen!“

„Hey! Wenn wir unter uns sind, brauchst du mich nicht so zu nennen!“
 

Zwei Diener öffneten eine breite Tür und William betrat gemeinsam mit Louis den großen Festsaal in Lord Bartons Schloss. Die hohe Decke zierte ein eindrucksvolles Gemälde. Die Tische und Stühle waren akkurat für die eintreffenden Gäste aufgestellt.

„Ah, wen haben wir denn da! Die Lordschaften Moriarty! Willkommen. Bitte bring den Gentleman einen kleinen Aperitif“, befahl Barton einem Butler, der sofort los eilte und mit zwei halbvollen Gläsern auf einem Tablet wiederkam.

„Danke für Ihre Einladung, Lord Barton Wakefield“, begrüßte Louis ihn formell und zeigte ein neutrales Lächeln.

„Ja, vielen Dank… Diese Weinsorte haben Sie aber nicht bei sich hier in Richmond vorrätig. Sie haben den Wein extra für den heutigen Anlass, aus Frankreich einliefern lassen, liege ich mit dieser Annahme richtig?“, schloss William nach einem kleinen Schluck aus seinem Weinglas.

„Aller Achtung, das haben Sie sehr scharfsinnig erkannt. Wo sind der Graf und Ihre Verlobte? Sind die beiden nicht zu meiner Feier mit Ihnen angereist?“, erkundigte Barton sich, der einen prüfenden Blick auf seine bereits anwesenden Gäste warf.

„Meine Verlobte Miceyla, hat aus eigenem Interesse, meinem Bruder Albert ihre Hilfe bei einem umfangreichen Projekt angeboten, welches heute einige Zeit in Anspruch genommen hat. Mir ist es wichtig, dass sie als meine zukünftige Frau, auch die Arbeit meines Bruders und mir kennenlernt. Aber sie wird trotzdem noch später, mit einem unserer Bediensteten nachkommen. Albert trifft derweil alle Vorbereitungen, mit dem Generalleutnant an Deck des Schiffes. Es muss doch schließlich alles perfekt für Ihre Ordensverleihung sein…“, sprach William höflich und verbarg dabei seine Abneigung ihm gegenüber, hinter einer vornehmen Fassade.

„Ach, ist ja entzückend. Eine wahrhaft vorbildliche junge Lady, haben Sie da als Ihre Verlobte auserkoren. Sie stammt doch sicher aus gutem Hause. Nur will ich schwer hoffen, dass Ihre zukünftige Frau, Sie nicht irgendwann langweilen wird. Meine Wenigkeit legt sich ja nur ungern auf eine Dame fest. Und als Mathematiker müssen Sie es ganz schön schwer haben, um mit der Konkurrenz mithalten zu können. Ich meine, schauen Sie sich mal um. Der Erfolg und Stellenwert in der Gesellschaft eines Mannes ist es, worauf die Frauen heutzutage ein Auge werfen. Passen Sie auf, sonst steigt die Differenz zwischen Ihnen und Ihrer Herzdame bald ins Unermessliche, ha, ha!... Und noch etwas. Ihr werter Bruder Albert wird sich hoffentlich nicht zu sehr in den Vordergrund drängen. Schließlich ist heute `meine` Ordensverleihung! So meine Herren, die anderen Gäste erwarten mich. Ihnen noch einen schönen Aufenthalt“, sprach Barton beharrlich und jeder konnte seinen Worten entnehmen, wie selbstverliebt er war. `Wie gerne würde ich dir schon jetzt, dein kleines dreckiges Herz entreißen. Ein widerwärtiger Abschaum wie du gehört in die Hölle. Du verdienst keinen Platz auf dieser Welt. Die Wahrheit ungerechter Taten kommt immer ans Licht und Erkenntnis wird den Menschen die Augen öffnen. Und ganz plötzlich wächst das Verständnis füreinander…` dachte William und hatte dabei seinen Hass Barton gegenüber perfekt unter Kontrolle.
 

„Das Schiff ist ein wahres Schmuckstück! Barton wird in der Dunkelheit nicht mal für einen Augenblick daran zweifeln, dass es sich um das richtige Schiff handelt. Auch die Beleuchtung wird nichts daran ändern. Die Passagiere wissen nichts und bleiben vorerst auf der Südseite. Danke nochmal für Ihre Unterstützung. Barton hätte seine neue Position sonst zukünftig schamlos ausgenutzt. Nicht auszudenken, was alles passieren würde…“, sprach ein Mann in Militäruniform freundlich, der zusammen mit Albert an Bord eines Schiffes spazierte, welches Richmond ansteuerte.

„Nichts zu danken. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass ich einem guten Kameraden wie Ihnen aushelfe. Das Militär dient schließlich dem Schutz der Bevölkerung. Und wenn jemand wie Barton seine Privilegien nach Lust und Laune ausnutzt, stürzt irgendwann das gesamte System zusammen und die Bürger vertrauen uns nicht mehr, was zu Randalen führt. Und ich danke ebenfalls, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Ich weiß Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, Generalleutnant Edward Royston“, meinte Albert mit einer freundschaftlichen Güte.

„Es ist meistens nicht einfach, alle Aufgaben unter einem Hut zu bekommen. Wie gerne würde ich Ihnen heute Nacht den Orden überreichen, ha, ha. Ich versuche stets meine Frau nicht so viel allein zu lassen, was mir kaum gelingt. Glücklicherweise ist sie sehr verständnisvoll. Wenn Sie später einmal auch Frau und Kinder daheim haben, werden Sie feststellen, wie man sich zwischen seiner Familienverantwortung und der Arbeitspflicht hin und hergerissen fühlt“, sagte Edward wie ein fürsorglicher Vater, der seinem Sohn von den schweren Herausforderungen des Lebens erzählte. `Die nächsten Generationen werden ein besseres Leben mit ihren Familien führen. Mit facettenreicheren Voraussetzungen und Chancen. Was bedeutet schon das eigene Glück, wenn man viele andere glücklich machen kann. Nie fiel es mir schwerer, auf etwas zu verzichten… Es ist unausweichlich und dennoch schmerzt es… Meine eigenen Träume, werden wohl zusammen mit mir ihren Untergang finden`, dachte Albert mit verborgener Traurigkeit und lächelte ihn nur schweigend an.
 

„Wah!“ Um ein Haar wäre Miceyla beim Abhang, auf der rechten Außenseite von Bartons Schloss abgerutscht und in den Graben hinabgestürzt.

„Ha! Schau her, so wird das gemacht!“ Ohne das seine Arme zum Einsatz kamen, schlitterte Moran den steilen Hang hinab und befand sich binnen weniger Sekunden, breit grinsend unterhalb. `Na großartig! Man muss wirklich für alles passend vorbereitet sein. Die nächsten Male trage ich auch Hosen!` Sie hielt ihr Kleid etwas nach oben und sprang von einer festen Trittstelle zur nächsten. Unten hielt er Miceyla am Arm fest und bremste sie somit ab, damit sie nicht der Länge nach hinfiel.

„Super, bis hierhin hätten wir es schon einmal heil geschafft. Ich glaube da vorne ist der Eingang zum Keller, von dem William sprach“, sagte Moran zufrieden und zückte einen seiner Revolver, während er dicht an der Schlossaußenwand entlanglief.

„Die Kellertür ist gut versteckt, sie verschmilzt beinahe mit der Außenmauer“, meinte sie beim betrachten der Tür und warf einen Blick hinauf. Das Schloss musste von Generation zu Generation vererbt und instandgehalten worden sein. Vor ihrem geistigen Auge, hatte sie Williams Skizzierungen von dem Innenbereich. Sie hoffte, dass sie diese auch anwenden konnte. Ganz langsam öffnete Moran die schwere, knarzende Tür.

„Klasse, es ist offen und Fred ist nirgendwo zu sehen. Ein gutes Zeichen, die Luft scheint rein zu sein. Den Weg kennst du, welchen wir zuerst nehmen. Du gehst voraus und ich bleibe dicht hinter dir. Laufe zügig, aber mach keinen Lärm“, wies er sie leise an und lugte ins Innere.

„I-ich soll vorausgehen?!“ Etwas furchtsam zögerte Miceyla. `Es macht schon Sinn. Moran will mir den Rücken freihalten und hat dabei gleichzeitig alles vor uns im Blick. Er trägt die meiste Verantwortung von uns beiden. Ich sollte mich schämen, dass ich nun doch wieder zurückschrecke…`, dachte sie etwas frustriert.

„Na los, Miceyla! Gib dir einen Ruck! Du brauchst ab jetzt ein wenig mehr Professionalität. Wir üben hier nicht. Denke immer an deinen Liebsten William, für ihn tust du dies hauptsächlich“, sprach er diskret mit ernster Miene, doch wollte er ihr damit nur Mut machen. Er gab ihr einen leichten Schubs gegen den Rücken, um sie von ihrer Furcht zu befreien. Miceyla nickte entschlossen, holte mit einer ruhigen Hand ihre eigene Pistole hervor und betrat mit einem hellwachen Blick den Keller. Es wurde beinahe stockduster, als Moran hinter ihr die Tür schloss, welche mit einem leisen Klacken ins Schloss fiel. Rasch hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt und sie bahnte sich einen Weg zwischen etlichen Weinfässern.

„Nette Weinstube!“, kam es flüsternd von einem sorglosen Moran.

„Für Begeisterung ist jetzt nicht der richtige Moment… Hier geht es hinauf und dort hinten…“, stellte sie leise fest und blickte in einen finsteren Gang hinein.

„Dort wartet im Verborgenen, unsere nette kleine Bande auf uns, denen wir nachher einen Besuch abstatten, der ihr letzter sein wird. Was glaubst du, warum sich William wohl die Mühe mit Inspector Lestrade macht?“, sagte Moran vorausschauend, er schien sich fast schon auf den Überfall zu freuen.

„Damit Bartons Bluttaten und sein teuflisches Wesen nicht vertuscht werden. Und damit das Ganze der Öffentlichkeit demonstriert wird.“

„Genau. Hopp und jetzt Abmarsch!“, scheuchte er sie weiter. Ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie an die baldige Konfrontation mit Bartons Kumpanen dachte. `Eins nach dem anderen. Erst mal suchen wir den Orden…` Miceyla schlich unbemerkt mit Moran dicht auf den Fersen, vom Erdgeschoss ein Stockwerk höher und bog wie vereinbart in den zweiten Flur ein.

„Raum Nummer fünfzehn… Das müsste hier sein“, vermutete sie vor besagtem Zimmer.

„Dann geh bitte rein und suche die Medaille. Hier, nimm mein Feuerzeug, falls du Licht brauchst. Die Sonne wird gleich vollends untergegangen sein.“ Prüfend öffnete Moran die Tür und positionierte sich im Schutz der Dunkelheit am Eingang.

„Magst du nicht lieber danach suchen? Du bist vom Fach und weißt bestimmt wie sie aussieht…“, schlug sie verunsichert vor.

„Gerne, wenn du dafür meinen Job erledigen willst. Was bedeutet, falls hier eine Person aufkreuzt, ob unschuldig oder nicht und uns sieht, darfst du sie abknallen“, sprach er nüchtern. Sie schluckte erschrocken und lief sogleich hinein.

„Ich beeile mich beim suchen…“ Der Raum war riesig und wie unschwer zu erkennen war, schien dies hier Bartons Ankleidezimmer, mit seinem am häufigsten verwendeten Hab und Gut zu sein. `Wo soll ich bloß mit der Suche anfangen? Muss es denn unbedingt dieser Orden sein, kann es nicht auch irgendein anderer Gegenstand sein?`, dachte sie frustriert, dennoch versuchte sie konzentriert und unbeirrt zu bleiben.

„Pssst, Miceyla!“ Plötzlich vernahm sie eine Bewegung unmittelbar vor ihr.

„Fred! Ein Glück das du da bist!“

„Es ist ein wenig blöd… Ich habe gesehen, wie Barton seine ganzen Militärbroschen, in einem Tresor dort an der Wand, hinter dem Bild verstaute. Ich kann dir leider nicht weiter behilflich sein, ich muss direkt zu meinem nächsten Posten. `Du schaffst das, ich glaube an dich`, dies soll ich dir von William sagen. Wir sehen uns dann, wenn ihr euch umzieht“, sagte Fred mit einer ruhigen Stimme, sprang aus einem offenen Fenster und war auf und davon. `Na wunderbar… Was solls, irgendwie werde ich schon…nein, ich `muss` es schaffen!` Miceyla kippte das Bild nach vorne und fand den besagten Tresor, mit einem hervorstehenden Drehknopf darauf, den sie drehen konnte, um eine siebenstellige Zahlenkombination einzugeben. `Ein ganzes Leben würde nicht ausreichen, um die richtigen Zahlen herauszufinden… Verdammt!` Im Stillen fluchend, drehte sie wie wild an dem Rad herum.

„Trödel nicht so rum, mach hinne!“, drängte Moran leise, der weiterhin regungslos mit seiner Waffe den Eingang bewachte. Ihr stockte der Atem, als sie Schritte auf dem Flur hörte, die stetig näherkamen. `Nein, bitte nicht! Moran wird die Person erschießen, sollte sie diesen Raum betreten und uns entdecken… Weil ich hier so lange brauche, muss am Ende noch jemand unschuldiges wegen mir sterben… Was soll ich nur tun?...`
 

„Hach… Bartons Geschwafel zieht sich ins Unermessliche. Ich gehe mir mal kurz die Beine vertreten. Bin gleich wieder da, Bruder“, sprach Louis gelangweilt und tauschte einen flüchtigen Blick mit Willam aus, der sofort verstand, weswegen er den Saal verlassen wollte.

„Natürlich, ich warte hier auf dich“, meinte dieser lächelnd. Louis schlug den Weg zum ersten Stockwerk ein und untersuchte dabei kritisch seine Umgebung. `Wollen wir doch mal schauen, ob alles bei den beiden glatt verläuft… Nanu, hat sich da etwa einer der Gäste nach oben verirrt?`, dachte Louis als er oberhalb ankam und einen Mann leise mit sich selber reden hörte.

„Oho, welch seltene Farbpracht… Ah! Guten Abend mein Herr, ich habe Sie gar nicht kommen sehen! Jetzt haben Sie mich doch tatsächlich erwischt. Eigentlich sollte ich mich wie alle anderen, unten auf der Feier befinden. Jedoch wollte ich meinen kurzweiligen Aufenthalt nutzen, um mir Lord Wakefields eigene Kunstgalerie anzusehen. Sie müssen wissen, ich interessiere mich sehr für Malerei und Kunsthandwerk. Sehen Sie sich nur dieses Porträt an! Ein unübertreffbar exzellentes Meisterwerk!“, sprach ein Mann mittleren Alters mit leuchtenden Augen.

„Da stimme ich Ihnen zu, ein überaus geschmackvolles Gemälde“, erwiderte Louis, der so tat als würde er das Interesse des Mannes teilen. In unmittelbarer Entfernung, in Bartons Zimmer, lauschte Miceyla dem Mann ohne einen Mucks von sich zu geben und befürchtete das Schlimmste, als sie eine weitere Person reden hörte. Aber sobald sie die Stimme erkannte, fiel ihr vor Erleichterung ein Stein vom Herzen. `Louis?! Was macht er hier oben? Wieso ist er nicht bei William?`, fragte sie sich verwundert in Gedanken.

„Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten und mich eventuell kurz begleiten? Ich hörte gerne Ihre Interpretation zu einem bestimmten Gemälde, in dem Empfangsbereich vor dem Festsaal“, bat Louis den fremden Mann freundlich.

„Mit dem größten Vergnügen! Lassen Sie uns hinunter gehen. Ich wette Sie meinen das Bild von König Artus. Das ist wirklich ein Hingucker! Wissen Sie, ich muss Ihnen etwas erzählen, neulich war ich in Paris unterwegs, da…“ Miceylas Anspannung löste sich langsam, als die Stimmen sich immer weiter entfernten. `Puh… Louis ist tatsächlich hier raufgekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Mit aller Wahrscheinlichkeit, hat er damit gerade das Leben des Mannes gerettet… Ich gebe es ja nur ungern zu, doch bin ich Louis unsagbar dankbar. Na großartig, jetzt stehe ich auch noch in seiner Schuld…`, dachte sie, aber ihr Problem mit dem Tresorschloss, war damit immer noch nicht gelöst.

„Lass mich dir einen Tipp geben in der bitteren Not. Wäre doch schrecklich, wenn wir alle plötzlich sehen rot. In dieser schauerlichen Schmierenkomödie um Leben und Tod. Neun, sieben, acht, eins, fünf, null, zwei. Dies ist das Datum rückwärts, an dem Barton zum Brigadegeneral ernannt wurde…“, flüsterte dicht hinter ihr eine fremde Männerstimme. `Huch…?!` Miceyla bekam unvorbereitet eine Gänsehaut, da niemand zuvor außer Fred im Raum gewesen sein konnte und Moran bewachte den Eingang. `Aber vielleicht hat William extra jemand vorbeigeschickt, um mir den Tresorschlosscode mitzuteilen und jene Person gehört zum Plan`, überlegte sie und drehte dankbar an dem Rad.

„Dankeschön. Ich hätte es sonst nie geschafft dieses Ding zu öffnen.“

„Gern geschehen. Mögest du nicht in den Flammen der Verdammnis verbrennen…“, hauchte die geheimnisvolle Stimme daraufhin. Miceyla drehte sich ruckartig um und schwenkte das leuchtende Feuerzeug hin und her. Sie versuchte die mysteriöse Person ausfindig zu machen, doch niemand war zu sehen und das Fenster hatte sie, als Fred hinaus war, wieder geschlossen… `Unheimlich…` Mit zitternden Händen nahm sie den besagten rotgoldenen Militärorden aus dem Tresor, welcher auf einem Dutzend Bargeld lag und verschloss alles wieder sorgfältig. Rasch eilte sie zu dem ungeduldig wartenden Moran zurück.

„Na endlich! In zehn Minuten ist eure Übergabe, jetzt dürfen wir keine weitere Zeit mehr verschwenden. Japp, du hast dir die richtige Brosche geangelt“, sagte er sichtlich froh darüber, mit einem prüfenden Blick auf das glänzende Objekt in ihrer Hand und verließ gemeinsam mit ihr den Raum.

„Den Tresor hättest auch du nicht einfach mal eben so knacken können, ohne dabei gleich das ganze Zimmer in die Luft zu jagen. Doch das Schicksal meinte es gut mit mir und sandte mir einen Gehilfen, der mir die passende Zahlenkombination verriet. Sag mal, hast du zufällig hier irgendjemand rauslaufen sehen?“, fragte Miceyla neugierig und gleichzeitig auch etwas furchtsam.

„Ja, dich“, antwortete Moran knapp und grinste sie mit einem Augenzwinkern an.

„Witzbold!“, rief sie nur lachend, dabei tat sie so als wäre sie eingeschnappt und verschränkte die Arme ineinander.

„Könnte ja sein, dass dir ein Geist erschienen ist. In dieser ollen Hütte, haben es sich bestimmt so einige Geister gemütlich gemacht und treiben hier ihr Unwesen. Die Biester warten nur darauf, um einen kleinen Hasenfuß wie dich zu ärgern“, neckte er sie scherzhaft.

„Ha, ha. Na immerhin schien der Geist auf unserer Seite zu sein und hat mir geholfen.“ Zusammen liefen sie wieder den Flur hinunter.

„Hier trennen wir uns erst einmal. Du kennst euren Treffpunkt und wo du mich anschließend findest. Bis gleich“, sagte Moran gelassen, während sie das Ende der Treppe erreichten. Miceyla nickte und beide liefen in entgegengesetzte Richtungen. Schnell warf sie noch mal einen Blick auf ihre Taschenuhr. `In zwei Minuten ist achtzehn Uhr zehn…` Für einen kurzen Augenblick auf sich alleingestellt, lief sie in einen der verstecktesten Winkel des Schlosses, welcher nicht beleuchtet war. Sie verließ sich lediglich auf ihren Instinkt und tappte mit rasendem Herzen durch die Dunkelheit. Vor sich hörte sie auf einmal leise Schritte auf sich zukommen. `Bitte lass es William sein…`, betete sie inständig. Ihr stockte der Atem, als plötzlich jemand ihre linke Hand berührte, in welcher sie den Orden festhielt. Langsam öffnete sie die Hand und warme, zärtliche Finger, nahmen ihr Bartons Medaille ab.

„Gut gemacht. Nun ist es bis zu unserem Ziel nicht mehr weit. Ihr schafft das dort unten problemlos, dessen bin ich mir ganz sicher. Wir sehen uns nachher, meine geliebte Winterrose“, hauchte William so dicht neben ihrem Ohr, dass sie nicht mehr wusste, ob er nun ihre Anspannung beschwichtigen oder vollends ihren Verstand rauben wollte. Sogleich kehrte er wieder in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Völlig geräuschlos, still und flüchtig wie ein dunkler Schatten. Während Miceyla noch mit Herz und Gedanken bei ihrem Liebsten blieb, eilte sie zügig, dennoch wachsam, zu der Kellertreppe wo Moran bereits auf sie wartete. Dieser hatte ein sonderbares Funkeln in den Augen.

„Dann kommen wir mal zu unserem eigentlichen Hauptakt und besetzen die Söldnerbasis. Mich juckt es schon lange in den Fingern, endlich wieder so richtig auf den Putz hauen zu können!“, verkündete er aufgeregt wie ein wildes Tier, dass aus seinem Käfig befreit worden war.
 

Im Festsaal war das Bankett in vollem Gange, die Gäste tranken und speisten nach Herzenslust. Barton bemerkte, wie ein Mann in auffälliger Militäruniform den Saal verließ. Mit stutziger Miene folgte er ihm hinaus. Er verfolgte ihn solange, bis die rätselhafte Person am Ende eines langen Ganges, weit entfernt von den feiernden Gästen, zum Stehen kam. Langsam drehte der Mann sich zu dem Schlossherrn um.

„Wollen Sie mich veralbern?! Woher haben Sie diesen Militärorden? Los, antworten Sie mir!“, zischte Barton wütend und musterte den Mann eindringlich.

„Mein alter Freund! Erkennst du mich denn nicht mehr? Ich bin es, Major Harry Morison. Noch immer spüre ich, wie deine kalte Klinge sich tief in mein Fleisch bohrt. Was wird der Generalleutnant wohl dazu sagen, wenn ich plötzlich wieder vor ihm auftauche?...“, sprach der Mann seelenruhig und wirkte dabei erschreckend authentisch.

„Das ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe! Von dir lasse ich mich ganz bestimmt nicht zum Narren halten! Es ist dein eigenes Verschulden, wenn du mir unbedingt in die Quere kommen willst… Solch einem törichten Deppen wie dir, bin ich noch nie begegnet. Sage lebe wohl, zu deiner grenzenlosen Dummheit… Du Schwindler bist längst tot!“, blaffte Barton und der pure Argwohn nahm von ihm Besitz. Zornig griff er unter sein Jackett und holte ein scharfes Messer hervor, mit dem er unnachgiebig, auf den gelassenen Mann in Soldatenuniform zustürzte…
 

„Hoffen wir mal, dass sich die Kerle alle brav in einem Raum rumlümmeln und wirklich bloß schlichte, ehemalige Soldaten mit niederem Rang sind. Dann lege ich jeden einzelnen der Meute nacheinander um, noch ehe sie überhaupt reagieren können“, murmelte Moran, der dazu bereit war, sich allem und jedem entgegenzustellen. Nun übernahm er die Führung und Miceyla bildete hinter ihm das Schlusslicht. Wie zwei kaum sichtbare Banditen, schlichen sie durch das labyrinthartige Kellergewölbe. Man konnte nur schwer glauben, dass sich dort gerade irgendwo Menschen versteckt halten sollten. Moran blieb abrupt stehen und zwang sie dazu ebenfalls Halt zu machen. Allen Anschein nach, war er gegen etwas auf dem Boden gestoßen und nun leuchtete er mit seinem Feuerzeug hinab. Hastig hielt sie sich eine Hand vor den Mund, um nicht vor Schreck loszuschreien. `Eine Leiche?!` Direkt vor ihnen lag der leblose Leichnam eines Mannes.

„I-ist das…?“, stotterte sie leise.

„Ja… Das ist einer von Bartons Handlangern gewesen. Er muss kurz nachdem wir in das Schloss eingedrungen waren, ermordet worden sein. Das wirft jetzt eine Menge Fragen auf…“, brummte Moran und runzelte dabei argwöhnisch die Stirn.

„Allerdings, dass ist höchst rätselhaft… Die Männer sind wohl kaum so frivol und bringen sich gegenseitig um. Und wieso ist dieser Mann hier alleine herumgelaufen? Wollte er einfach nur patrouillieren? Hätte Fred nicht einen weiteren Eindringling bemerken müssen? Oder handelt es sich dabei um einen der Gäste?... Da fällt mir ein… Dieses `Gespenst` von eben, könnte es etwas damit zu tun haben?“, grübelte Miceyla und erschauderte. Das alles nahm ein immer komplizierteres und gruseligeres Ausmaß.

„Möglich wär‘s… Da will uns wohl jemand an der Nase herumführen. Dies wird William ganz und gar nicht gefallen. Es darf nicht zu auffälligen Abweichungen bei seinen Plänen kommen. Aber wir haben im Moment nichts davon, hier an Ort und Stelle wilde Theorien aufzustellen. Wir machen weiter wie gehabt und schaffen nachher die Leiche zu den anderen.

Und alle müssen mit der gleichen Waffe niedergestreckt worden sein. Lestrade darf keinen falschen Verdacht schöpfen. So ein Mist aber auch!“, schimpfte Moran, versuchte jedoch weiterhin ruhig zu bleiben und ließ sich nicht von dieser kleinen Stolperfalle, bei seinem weiteren Vorgehen behindern. Miceyla betrachtete den Leichnam etwas genauer und konnte auf einmal Dinge erkennen, die für sie bis vor kurzem aufgrund ihrer Furcht, nicht sichtbar gewesen waren.

„Ein langer spitzer Stab, hat sich durch seinen Hals gebohrt… Um genauer zu sein ein Rapier. Die mysteriöse Person hat diesem Mann zuerst mit seiner langen Waffe, eine deftige Stichwunde in den linken Oberschenkel verpasst. Daraufhin ist er vor Schmerz auf die Knie gestürzt. Doch auch er hielt eine Waffe in seiner rechten Hand. Deshalb wurde ihm ein weiterer Hieb in den Arm versetzt, woraufhin er die Waffe fallenließ. Der Mann hielt seine linke Hand auf die pochende Wunde am Bein gedrückt und packte sich mit jener blutverschmierten Hand, auf seine bebende Brust. Daher stammen die Blutflecken auf der Kleidung. Er muss seinen Gegner in Grund und Boden beschimpft haben. Und innerhalb kürzester Zeit, hat unsere geheimnisvolle Person dem Mann den Gnadenstoß gegeben und seinen Degen in dessen Hals gebohrt, noch ehe dessen Verbündete Wind davon bekamen, was hier vor sich ging…“, analysierte sie detailgetreu, wie der Mord abgelaufen sein musste und vergaß dabei fast ihren Zeitdruck und die eigene Aufregung. Sie konnte sich das alles so bildgetreu vorstellen, als wäre sie dabei gewesen. Etwas verlegen blickte Miceyla zu dem schweigenden Moran. Sein Gesichtsausdruck war voller Erstaunen, aber gleichzeitig verbarg sich auch etwas Ehrfurcht dahinter.

„Woher willst du das alles wissen?“

„D-das war eine reine Vermutung… Doch wenn man genau hinsieht und die ganzen unscheinbaren Details zu einem Sinnbild zusammenfügt, erschließt sich alles einem von ganz allein“, erklärte Miceyla, allerdings wusste sie selbst nicht wirklich genau, wie sie ihm am besten verständlich machen sollte, woher ihre Annahmen stammten. `Holla die Waldfee… Langsam leuchtet mir ein, warum William Miceyla zu uns geholt hat. Sie ist alles andere, als das gewöhnliche Mädchen von nebenan. Wenn sie sich mit Sherlock zusammentun würde, wäre das dadurch entstehende Resultat, für uns ziemlich beängstigend. Ich gebe zu, dass ich diese Tatsache nicht bestreiten kann`…, dachte Moran und konnte dennoch nicht anders, als nach dieser neugewonnenen Erkenntnis, vergnügt vor sich hin zu grinsen, während seine dunklen Augen auf ihr ruhten.

„Los komm, diese heimtückische List von unserem kleinen Spitzbuben, hat uns genug Zeit gekostet. Jetzt müssen wir einen Zahn zulegen.“ Der lange unterirdische Gang neigte sich dem Ende zu und sie gelangten an eine Tür, die einen Spalt weit offenstand. Schwaches Kerzenlicht schien hindurch und munteres Geplauder war zu hören. Moran lugte einsatzbereit hinein. Auch Miceyla wollte die Lage dort drinnen abschätzen, dazu hockte sie sich unbemerkt auf den Boden und sah ebenfalls durch den Spalt.

„Tatsächlich, zwölf Männer wie William es vermutet hatte“, flüsterte Moran und hielt seinen Revolver festumklammert, bereit einen zweiten zu zücken, falls es die Situation von ihm verlangte.

„Ja, minus den Mann, über den wir gerade eben gestolpert sind…“, fügte sie kaum hörbar hinzu.

„Schau dir nur ihren monströsen Unterschlupf an, die reinste Waffenkammer! Ich habe so etwas in der Richtung ja schon geahnt, jedoch wird das ganze Unterfangen weitaus kniffliger, als anfänglich angenommen. Wir sind mit schallgedämpften Pistolen ausgestattet. Doch es braucht nur einer von denen so ein Sturmgewehr einzusetzen und die da oben denken, hier unten würde ein Krieg ausbrechen. Da nützt auch die dicke Innenfassade der Burg nichts mehr. Die Kerle sehen mir nicht wie simple Amateure aus, das sind ehemalige, kampferprobte Soldaten. William wusste das doch, also warum hat er uns dann in diese fahrlässige Situation gebracht?! Das ist wieder mal typisch. Was für ein Scheibenkleister! Alles wäre viel einfacher, wenn du auch schießen würdest…“, beschwerte sich Moran verdrießlich. Miceyla hörte ihm nur mit einem Ohr zu, denn sie überdachte ihre Möglichkeiten. Alle Männer saßen beisammen an einem großen Tisch. Da erhoben sich plötzlich zwei von ihnen und öffneten eine Tür, die sich auf der rechten Seite des Raumes befand.

„Ach du liebe Zeit! Wo wollen die Kerle hin?! Und sag mir nicht, es gibt einen zweiten Kellerausgang… Davon hat niemand etwas gesagt!“, platzte es aus Moran und er wurde beinahe zu laut.

„Wir müssen die Männer schnellstmöglich zurücklocken. Jetzt heißt es improvisieren! Kümmere du dich zuerst um die fünf Männer auf der linken Seite. Ich werde die anderen in der Zwischenzeit für dich ablenken“, sprach Miceyla ruhig und glaubte dabei fest daran, dass die Situation nicht außer Kontrolle geraten würde.

„Ha, ha! Nach und nach fange ich an dich besser zu verstehen. Na dann wollen wir mal, ich verlasse mich auf dich. Bereit?“, sagte er grinsend.

„Auf dich verlasse ich mich ebenfalls. Bereit!“, erwiderte sie entschlossen und hielt ihre entsicherte Pistole dabei fest in der Hand.

„Los!“, riefen beide gleichzeitig und Moran trat mit einem kräftigen Tritt die Tür auf. Völlig perplex sahen die verbliebenen neun Männer auf die zwei Eindringlinge. Moran nutzte den kurzen Schockmoment und in Windeseile hatte er vier von ihnen erschossen. Doch die restlichen Männer hatten sich rasch gefangen und wichen seinen Schüssen gekonnt aus. Der erste von ihnen hatte eine Pistole parat und zielte damit auf Moran. Miceyla schoss mit nur einem Schuss, die Waffe aus der Hand des Mannes. `Getroffen!`, dachte die triumphierend. Moran erschoss diesen überrumpelten Mann ebenfalls, welcher leblos zu Boden sank. Während sich ein besonders stämmiger aus der Gruppe auf Moran stürzte und ihn mit seiner Körperkraft zu überwältigen versuchte, war sie nun das Ziel der drei restlichen Männer. Zwei mit Messern bewaffnet und einer mit einem Gewehr. Die Kerle mit den Messern preschten auf sie zu und Miceyla sprang schnell den Tisch hinauf und auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinunter. Fluchend rannten die Kerle um den Tisch herum. Sie schoss auf eines der am Boden stehenden Weinfässer und die im Innern befindliche Flüssigkeit, ergoss sich über den Boden. Die Männer schafften es nicht mehr rechtzeitig, in ihrem rasenden Tempo anzuhalten und rutschten unbeholfen aus und landeten unsanft auf ihren Hintern. Mittlerweile hatte Moran seinen eigenen Gegner, mit einigen bearbeitenden Faustschlägen und Tritten ausgeschaltet und schoss sofort auf die zwei gestürzten Männer, bevor diese sich wieder aufrappeln konnten.

„Miceyla! Vorsicht!“, schrie Moran panisch. Nach seiner lautstarken Warnung, wirbelte sie ruckartig herum und sah wie ihr einzig noch lebender Widersacher im Raum, sein Gewehr anlegte und damit geradewegs auf sie zielte. In allerletzter Sekunde schaffte sie es sich zu ducken und konnte seinem Schuss ausweichen. Die Kugel streifte ihren Umhang, doch sie selbst wurde glücklicherweise nicht getroffen. Moran schoss nun mit zwei Revolvern gleichzeitig auf den Scharfschützen. Beide schafften es immer wieder ihren Schüssen auszuweichen und lieferten sich einen unerbittlichen Schusswechsel. Das ging solange gut, bis Moran seine Munition ausging und er gezwungen war, diese zu wechseln. Der Mann mit dem Gewehr grinste höhnisch und glaubte, der Sieg sei ihm sicher. Doch Miceyla war schließlich auch noch da, was er im Eifer des Gefechts komplett ausgeblendet hatte. Und längst wusste sie, wie sie ihren Kameraden unterstützen konnte. Sie schnappte sich einen großen Säbel, welcher an der Wand zur Zierde hang und rammte das Schwert mit der stumpfen Fläche kraftvoll in die Seite des Mannes, woraufhin dieser verärgert umhertaumelte. Anschließend holte sie weit aus und trennte mit ihrer scharfen Waffe, den kompletten Vorderschaft seines Gewehres ab. Völlig überrumpelt, klappte dem Mann einfach nur sprachlos die Kinnlade herunter. Inzwischen hatte Moran seine Revolver nachgeladen und beförderte den Söldner mit einem gezielten Kopfschuss ins Jenseits. Da platzten die zwei übriggebliebenen Männer wieder in den Raum, welche sehr wahrscheinlich aufgrund der Gewehrschüsse, zurückgetrieben worden waren. Die Kerle machten große Augen, als sie den blutigen Schauplatz vorfanden. Moran betätigte zum letzten Mal den Abzug und nun war jeder einzelne von Bartons Untergebenen ausgeschaltet worden.

„Wir…wir haben es geschafft!“, jubelte Miceyla erleichtert. Moran stürmte auf sie zu und tätschelte ihr freudestrahlend den Kopf.

„Ha, ha! Du hast eine vortreffliche Glanzleistung hingelegt! So viel kreatives Engagement, habe ich gar nicht von dir erwartet. Und zielen kannst du auch noch! Das verschlägt mir glatt die Sprache!“, lobte er sie lebhaft. Etwas schüchtern sah sie glücklich über ihren Erfolg zu ihm auf. Sie war ja wirklich nicht gerade klein, doch wenn sie so dicht bei Moran stand, kam es ihr so vor, als würde sie neben einem Riesen stehen.

„Deine Showeinlage war aber auch allererste Sahne“, meinte sie lächelnd und knuffte ihn freundschaftlich in den Arm.

„Sehr schön, wir liegen gut in der Zeit. Ich schaffe noch eben schnell die Leiche aus dem Gang hierher, dann gehen wir uns oben fein machen. Ach und das zerstückelte Gewehr sollten wir besser auch entsorgen. Ist eventuell etwas auffällig, he, he. Gut das die Schießerei doch nicht so laut gewesen ist, wie ich erst dachte“, ging er entspannt den weiteren Ablauf durch, während Miceyla den Säbel zurückbrachte.

„Ich muss zugeben, dass ich unsere Schusswaffen erstaunlich gut finde“, gestand sie und blickte auf ihren Revolver.

„Nicht wahr! Freut mich, wenn dies sogar dir auffällt. Ich werde dich demnächst mal mit dem Waffenentwickler bekanntmachen, der sie für uns herstellt.“ Miceyla ließ ihren Blick über die leblosen Männer schweifen, welche überall verteilt im Raum lagen und plötzlich wurde ihr ein wenig schwer ums Herz. `Diese Männer mussten doch auch bestimmt eine Familie gehabt haben… Menschen die ihnen etwas bedeuten…`, dachte sie betrübt und faltete mit geschlossenen Augen die Hände ineinander.

„Was tust du da? Diese Kerle haben unzählige Menschen kaltblütig ermordet. Die gehörten zu der Art von Kriminellen, welche nicht einmal davor zurückschrecken, einem unschuldigen Kind das Leben zu rauben. Bete nicht für diese Widerlinge, sie verdienen dein Gebet nicht“, meinte Moran mit einem verächtlichen Blick auf die toten Söldner. Miceyla verzog angeekelt das Gesicht, als sie zu ihren Füßen hinabsah.

„Igitt! Ich stehe hier die ganze Zeit schon in Blut! Na toll, jetzt muss ich wohl ohne Schuhe hochlaufen. Was solls… Wir ziehen uns jetzt ja sowieso um“, sprach sie und seufzte leise.

„Ha, ha! Na los Miss Etepetete, wir haben noch etwas zu erledigen. Und wie es aussieht, geht es hinter dieser Tür gar nicht aus dem Keller raus. Dort befindet sich bloß eine Vorratskammer. Die Kerle hätten also ohnehin nicht entkommen können, Glück gehabt“, sagte er daraufhin lachend. Nachdem die beiden alles für Williams und Lestrades inszenierte Ermittlung vorbereitet hatten, liefen sie den Gang zurück, der sie wieder in den Weinkeller führte.

„Warte mal kurz Moran… Dort drüben wurde etwas mit weißer Kreide an die Wand geschrieben… `Wenn das Gute zum Bösen wird und die im Herzen manifestierte Rache umherirrt, können die Kontrahenten sich nicht länger tarnen und das Schauernachtgeflüster wird sie warnen`… Langsam bekomme ich Angst…“, las sie mit einem mulmigen Gefühl die auffälligen Zeilen vor und bekam schlotternde Knie.

„Sagte ich vorhin noch etwas von einem Gespenst… Nein, hierbei handelt es sich um den Teufel in Person… Wir müssen das wegwischen. Das wird für William zu einem ernstzunehmenden Thema werden. Bin mal gespannt, was er dagegen unternimmt“, sprach er verärgert, ließ dich jedoch nicht von diesem Streich verunsichern. `Ja… Diese ganzen mysteriösen Vorkommnisse, kann man mittlerweile nicht mehr auf die leichte Schulter nehmen…` Endlich kamen sie dazu den Keller zu verlassen und betraten den Raum, den sie zur Umkleide nutzen sollten. Einige Kerzen beleuchteten den Raum und Fred empfing die zwei mit einem ausgeglichenen Lächeln.

„Euren bedachtsamen Gesichtern nach zu urteilen, kann ich davon ausgehen, dass die Eliminierung reibungslos vonstattenging. Da bin ich aber erleichtert. Ich habe mir ein wenig Sorgen um dich gemacht, Miceyla. Moran übertreibt es des Öfteren. Dort liegt eure neue Kleidung. Die Waffen könnt ihr mir schon mal geben“, teilte Fred den beiden Ankömmlingen ruhig mit und nahm ihre Revolver entgegen.

„Naja, bis auf unseren nervigen Störenfried…“ meinte Moran beifällig während er sich auszog.

„Als nervig würde ich diese Person nicht bezeichnen. Schließlich hätte ich ohne sie niemals den Tresor öffnen können“, warf Miceyla rasch ein.

„Ja, mir ist nicht entgangen, dass hier jemand herumschlich, der uns regelrecht ausspioniert hat. Leider bekam ich keine Gelegenheit, um der Sache auf die Schliche zu kommen. William wird später entscheiden, ob wir dies als Gefahr einstufen müssen“, sagte Fred und schien selbst ein wenig beunruhigt darüber, dass er im Augenblick nichts dagegen unternehmen konnte. Auf einmal musste sie leise kichern und befreite sich von ihrem Umhang.

„Was ist so komisch?“, fragte Moran mit einem flüchtigen Seitenblick auf sie.

„Es ist nur… Wir rennen in Bartons Schloss herum und nutzen seine Räumlichkeiten, als wären wir hier zu Hause. Und er hat von all dem nicht die leiseste Ahnung… Oh! Was für ein schönes Kleid! Dies ist das schönste Rosègold, welches ich jemals gesehen habe! Und an den Schleifen hängen glänzende Perlen! Himmlisch! Wo ihr diese außergewöhnliche Kleidung nur immer herhabt, ha, ha“, sprach sie verblümt wie ein kleines Mädchen, als sie ihr Kleid für die Feier in Händen hielt und bemerkte, wie Moran sie desinteressiert ansah, während er sich in seinen Anzug zwängte.

„U-umdrehen! Man schaut nicht dabei zu, wenn eine Lady sich umzieht!“, befahl Miceyla und weigerte sich, ihre Kleidung vor seinen Augen abzulegen.

„Herrgott nochmal! Ich schau ja schon weg! Aber beeil dich wenigstens!“, nörgelte Moran leicht genervt und wandte ihr den Rücken zu. `Auweia… Gar nicht so leicht, dieses Kleid zuzubinden…`, dachte sie und versuchte irgendwie vor einem Spiegel, hinten die Schleife festzubinden.

„Ich helfe dir“, sagte Fred zuvorkommend und schnürte ihr das Kleid zu.

„Hey! Fred ist ja wohl ein Mann ebenso wie ich! Und er muss nicht wegsehen?!“, beschwerte Moran sich, der nun seine fertige Abendgarderobe anhatte.

„Bei Fred ist das etwas ganz anderes. Er hat keine versauten Gedanken so wie du“, neckte sie ihn belustigt.

„Was soll das denn bitteschön heißen?“, entgegnete Moran und verdrehte dabei die Augen.

„Ach komm, mir kannst du nichts vormachen“, sagte sie lachend. Beide waren nun von Kopf bis Fuß ausgehfertig angekleidet und niemand würde erraten können, dass sie vor kurzem noch ein Blutbad angerichtet hatten.

„Oho! Guten Abend, adretter Sir Eliot! Wo haben Sie denn nur den Raufbolden Moran gelassen?“, sprach Miceyla amüsiert, bei seiner ungewohnt vornehmen Erscheinung.

„Oh Mann… Lässt du wieder die Komikerin raushängen? Dein eigenwilliger Sarkasmus, erinnert mich an jemanden… Das macht mich noch ganz bekloppt“, murmelte Moran seufzend und blickte abwesend zu Boden. Fred gab ihm eine neue Pistole und Miceyla ein Messer, welches sie sich unter ihr Kleid ans Bein schnürte.

„Gleich trifft noch ein Gästepaar ein, dem könnt ihr euch im Eingangsbereich anschließen. Bis nachher. Mitternacht rückt immer näher…“ Mit diesen Worten nahm Fred ihre Kleidung, pustete die Kerzen aus und sprang abermals aus dem Fenster. `Der arme Junge, hat ganz schön was zu tun an diesem Abend…`, dachte sie mitleidig und sah wie der Vollmond hinter einer Wolke hervorkam und sein helles Licht in den Raum schien.

„Auf geht’s! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich für einen Kohldampf habe!“, sprach Moran vergnüglich.

„Ja! Und endlich findet unser anstrengendes Versteckspiel sein Ende!“, sagte sie zustimmend und war sichtlich froh darüber, nicht noch einmal den düsteren Keller betreten zu müssen. Gemeinsam durften sie nun nach langem Warten den Festsaal betreten. Und bevor Moran über das Essen herfiel, gab er William auf seine Weise zu verstehen, dass unten alles nach Plan verlaufen war. Die Details musste er sich für nachher aufsparen, wenn keine anderen Leute in der Nähe waren. Miceyla gesellte sich lächelnd zu den beiden Brüdern.

„Du siehst mal wieder umwerfend aus, mein Liebling. Es freut mich, dass ihr es noch rechtzeitig hergeschafft habt“, sprach William so vornehm wie eh und je. Eine gewisse Zweideutigkeit lag in seinen letzten Worten. `Liebling… So nennt er mich das erste Mal… Es fühlt sich ein wenig seltsam an und dennoch macht es mich glücklich.`

„Natürlich, ich wollte zügig anreisen. Schließlich mag ich doch nicht, die wichtige Zeremonie gleich auf dem Schiff verpassen“, meinte sie mit gespielter Vorfreude und warf einen Blick auf Barton, der zu ihr mit einem lüsternen Augenzwinkern hinübersah. Sofort brach sie angewidert den Blickkontakt ab. Einige der Gäste kamen zu William und Miceyla, um ihnen zu ihrer Verlobung zu gratulieren. Es überraschte sie immer wieder, wie rasch sich doch Neuigkeiten, in den höheren Kreisen herumsprachen. Von Tag zu Tag wurde sie mehr und mehr in die Welt der Adeligen, mit ihren sowohl glanzvollen, als auch finsteren Facetten integriert. Tief im Herzen würde sie aber stets eine freie und unabhängige Seele bleiben, dies war der Schwur ihr selbst gegenüber. Die Liebe hatte sie in jene fremdartige Welt geführt. Und wenn sie es schaffte, all die glücksseligen Gefühle in William zu wecken, welche sie selbst verspürte, würde sie bis zum bitteren Ende bei ihm bleiben.

„Du solltest dich nun Eliot anschließen und dich ausreichend stärken, ehe wir zum Schiff aufbrechen. Ich entschuldige mich mal kurz…“, sprach William mit einem geheimnisvollen Funkeln in den Augen und wandte sich von Louis und Miceyla ab. Sie nickte und wusste nur zu gut, dass er zur nächsten Etappe seines Plans überging.

„Guten Abend, Inspector Lestrade. Sie sehen mir danach aus, als hätten Sie etwas auf dem Herzen. Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“, grüßte er höflich Lestrade, welcher abseits der plaudernden Gäste stand und eine nachdenkliche Miene aufgesetzt hatte.

„Oh! Lord William Moriarty, Sie haben mich erkannt! Das wundert mich bei Ihnen eigentlich nicht. Na gut, ich denke, dass ich mich Ihnen anvertrauen kann. Ich erhielt die Tage ein sonderbares Schreiben, es war vielmehr das Testament eines gefallenen Soldaten. Die Einzelheiten behalte ich lieber aus Sicherheitsgründen vorerst für mich. Jedoch… Lord Barton Wakefield wurde öfters darin erwähnt und Namen von Militärangehörigen, die bereits verstorben sind. All jene rätselhaften Morde, konnten nicht mit Beweisen hinterlegt werden, die Hand und Fuß haben. Ich wollte der Sache auf den Grund gehen und kam mit verschleierter Identität hierher“, erzählte Lestrade ernst und beobachtete sein Umfeld dabei aufmerksam.

„Das hört sich für mich, nach einer äußerst verdächtigen Geschichte an. Solche abgeschobenen Vergehen, kann ich nicht auf sich beruhen lassen. Es ist die Pflicht eines vorbildlichen Adeligen, seinem Namen keine Schande zu bereiten und seine Vorrechte mit Rücksicht bedachtsam einzusetzen. Ich helfe Ihnen, Inspector. Wieso erkunden wir nicht einmal die verborgenen Kammern, dieser bescheidenen Behausung? Bis zu unserem Aufbruch ist noch reichlich Zeit“, erwiderte William aufrichtig und erreichte ohne Umschweife, dass seine Hilfsbereitschaft bei Lestrade Anklang fand.

„Ich danke Ihnen. Wenn ich Sie an meiner Seite habe, kann ich mir sicher sein, dass ich mich nicht auf dem Holzweg befinde.“ Beide verließen daraufhin nach ihrer kurzen Unterhaltung, unauffällig den Saal.

„Lassen Sie mich vorausgehen. Ich finde mich in dem Anwesen eines Adeligen am besten zurecht“, sprach William freundlich und schlug sogleich den Weg in Richtung des Kellers ein.

„Das ist ein ganz gewöhnlicher Weinkeller… Ob es hier unten etwas Interessantes zu entdecken gibt? Aber ich vertraue Ihrem Scharfsinn einfach mal…“, murmelte Lestrade ein wenig unruhig. Sie durchquerten das ganze Kellergewölbe und kamen jenem Raum immer näher…

„Wo kommt plötzlich dieser penetrante Eisengeruch her? Blut…?!“, zischte Lestrade nervös. Langsam stieß William die Tür auf und ließ den schauderhaften Anblick zum Vorschein kommen, der dem eines Schlachtfeldes glich.

„Ach du meine Güte! Da dreht sich mir doch glatt der Magen um! So etwas Grausames, habe ich in meinem bisherigen Leben noch nicht gesehen!“, rief William mit perfekt gespielter Bestürztheit.

„Großer Gott! Was hat hier denn für ein Gemetzel stattgefunden?! Das hätte ich jetzt wirklich nicht erwartet! Was sind das für Männer gewesen?... Soldaten?“, kam es sogleich geschockt von Lestrade und er lief aufgebracht hinein, um seine Untersuchung zu starten.

„Ich nehme an, dass es sich bei den Leichen um namenlose Söldner handelt, die in Bartons Dienst standen. Wenn man bedenkt, dass der Lord das nötige Kleingeld besitzt, um ihre Arbeit zu bezahlen und deren Waffen zu finanzieren, erscheint mir dies recht plausibel“, bekundete William und schloss sich seinen Nachforschungen an.

„Ja, das hört sich vernünftig an… Die Männer sind noch nicht lange tot, jemand muss sie während des Banketts ermordet haben… Und was haben wir denn hier?! Eine Militärmedaille… Ist das nicht?“ Lestrade hob den Orden begutachtend auf, ohne zu wissen das William ihn genau dort, wo der Inspector ihn finden würde, platziert hatte.

„Wenn ich mich recht entsinne, handelt es sich hierbei um das Erkennungssymbol eines Brigadegenerals. Was könnte es damit wohl auf sich haben? Was meinen Sie, Inspector?“, fragte er ernst mit weiterhin geschauspielertem Verhalten.

„Das ist ganz eindeutig Bartons Orden. Meine Vermutung ist, dass es bei den Männern zu Unstimmigkeiten gekommen war und sie sich von ihrem Herrn zu Unrecht behandelt fühlten. Also stahl einer der Männer seinen Orden. Barton hat dies herausgefunden und ihr verachtendes Verhalten, welches Hochverrat gleichkam, schwer bestraft. Kurz gesagt, er hat seine eigenen Untergebenen getötet, damit keiner Verdacht schöpfen und herausfinden könnte… Das er jene Männer vom Militär ermordet hat?! Ich meine, ist es nicht auffällig, in seinem Alter schon einen solch hohen Rang zu besitzen? Ich weiß, dass klingt eventuell etwas weit hergeholt, aber mir fehlen momentan weitere, stichhaltige Beweise. Jedoch war Barton vorhin einige Zeit auf seiner Feier abwesend und alle Männer wurden auf gleiche Weise erschossen…“, stellte Lestrade eine mögliche Theorie auf, schien dennoch noch nicht ganz davon überzeugt zu sein.

„Ich finde Ihre Annahme recht überzeugend. Oft sind es die einfachen Deutungen, welche einen auf die richtige Fährte locken. Kommen Sie, Ihre Männer von Scotland Yard, können morgen in aller Ruhe den Tatort aufräumen. Noch würde Barton all diese Unterstellungen leugnen, doch gleich begeben wir uns an Bord des Schiffes, zu seiner Beförderungszeremonie. Lassen Sie uns den weiteren Verlauf dort beobachten“, schlug William vernünftig vor und verließ mit dem zustimmenden Lestrade den Keller…
 

Der prall gefüllte Vollmond erleuchtete Miceyla und den anderen Gästen den Weg, während sie in Begleitung von William, Louis und Moran, das kurze Stück vom Schloss zur Themse lief, wo das große Passagierschiff auf sie wartete. Unter den Leuten herrschte eine ausgelassene Stimmung, auch William neben ihr war guter Dinge. Nur sie selbst verspürte das hartnäckige Gefühl der Nervosität, da sie genau wusste, welches Spektakel alle gleich erwarten sollte… An Deck führte eine gepflegte Dienerschaft, die Gäste mit Barton an deren Spitze, in den geräumig überdachten Innenbereich, der festlich geschmückt war. Hier durften sich alle bis Mitternacht weiterhin vergnügen. Miceyla entdeckte Albert in der andächtigen Halle, der neben einem Mann stand, bei dem es sich um den Generalleutnant Edward Royston handeln musste. Beide trugen ihre ordentliche Militäruniform. Neben ihnen stand ein hoher Podest, auf dem eine glänzende Brosche, eingebettet auf einem samtüberzogenen Kissen lag, welche Barton nachher verliehen werden sollte. Albert lächelte zu ihr, seinen Brüdern und Moran herüber. Das Finale des Tages rückte in greifbare Nähe… Die Atmosphäre an Bord des Schiffes, mit Kurs auf London, war eine ganz besondere in jener geheimnisumwobenen Vollmondnacht. In vielerlei Hinsicht. Und schließlich näherte sich der große Zeiger der Zwölf.

„Lord Barton Wakefield, bitte treten Sie vor!“, bat Edward mit betonender Stimme und Barton lief mit stolzgeschwellter Brust, über einen langen Teppich auf seinen Vorgesetzten zu.Dabei warf er einen kurzen, abwertenden Blick auf Albert, der sich etwas im Hintergrund aufhielt.

„Sie sind ein Mann von Mut und Stärke. Als Brigadegeneral haben Sie vorbildliche Arbeit geleistet, wie kein Zweiter. Aber, da fällt mir auf… Wo ist denn Ihr Orden abgeblieben?“, begann Edward mit einem fragwürdigen Blick, in Richtung des leeren Platzes auf Bartons Uniform.

„Ach, den habe ich wohl versehentlich verlegt. Findet sich schon wieder…“, kam daraufhin seine beiläufige Ausrede.

„Nun gut… Wir wollen mal nicht so kleinlich sein. Mit dieser Stunde, beginnt für Sie ein neuer Lebensabschnitt bei Ihrem Militärdienst. Bereits in Ihrem jungen Alter, können Sie mehr Auszeichnungen vorweisen, als Ihre gleichaltrigen Soldatenkollegen“, setzte Edward seine Rede fort. Miceyla hielt den Atem an, als plötzlich sieben Männer in Militäruniform, aus der Gästemenge hervortraten und mit bitterernsten Gesichtern geradeausblickten. Instinktiv klammerte sie sich vorsichtig an Williams Arm und beobachtete angespannt das Schauspiel.

„Mörder! Du hast mich meiner Zukunft beraubt!“

„Feigling! An deinen hohen Rang, bist du bloß durch schmutzige Taten gekommen!“

„Betrüger! Die Soldaten von ganz England, hast du dir zum Feind gemacht!“

„Egoist! In deinen Augen, hältst du dich für das Zentrum der Welt!“ Warfen die Männer der Reihe nach, Barton wilde Anschuldigungen an den Kopf. Ein bestürztes Raunen ging durch die Menschenansammlung. Mit schockierter Miene, wandte Barton sich den Soldatenschauspielern zu.

„Lord Wakefield! Gibt es da eventuell etwas, dass Sie uns verschweigen?“, fragte Edward misstrauisch.

„Lassen Sie sich nicht von deren unsinnigen Geschwafel blenden! Das sind alles nur Hochstapler und nichts weiter! Die machen sich doch nur, über die richtigen verstorbenen Männer lustig! Genau!“, schrie Barton hektisch zu seiner Verteidigung und Schweißperlen auf seiner Stirn verrieten seine Nervosität.

„Das Spiel ist aus, Barton! Jeder hat deine dreckigen Lügen bereits durchschaut! Stelle dich deinem Schicksal, wenn du noch einen Funken Ehre besitzt!“, sprach einer der gespielten Soldaten. Die Gäste wurden immer skeptischer.

„Es reicht! Ihr seid hier die wahren Übeltäter! Hinfort mit euch!“, kam es von einem bestialisch dreinblickenden Barton, der unter seine Uniform griff und eine Pistole zückte. Entsetzte Schreckensschreie ertönten, als er kurzerhand einen der Soldaten mitten ins Herz schoss. Die restlichen sechs Männer machten kehrt und flohen aus der Halle. Barton stürmte sofort wutentbrannt hinterher. Miceyla folgte ihm zusammen mit ihren Kameraden im Eiltempo. Die Soldaten führten seinen Verfolger in Richtung des Hecks.

„Wer hat das Schiff angehalten? Weshalb setzen wir die Fahrt nicht fort?“, rief Barton auf dem Weg zornig. Ein weiterer Schuss ertönte, der einen der Männer traf. Und wieder folgten angsterfüllte Schreie, welche dieses Mal allerdings nicht von den Gästen stammten…

„W-woher kommen plötzlich all diese Leute her? Was macht das gemeine Volk an Bord meines Schiffes?!“, stammelte Barton verdutzt, dem allmählich die Orientierungslosigkeit heimsuchte. In seiner Verzweiflung wollte er einen weiteren, vermeidlichen Militärangehörigen erschießen. Doch ehe er abdrücken konnte, traf ihn selbst von hinten ein lauter Schuss. Wie versteinert ließ Barton seine Waffe aus der Hand fallen. Nach und nach wurde ihm schwarz vor Augen und schließlich sackte er schlaff zu Boden. Dickflüssiges Blut sammelte sich langsam um seinen leblosen Körper. `Inspector Lestrade hat ihn erschossen…!`, dachte Miceyla wie gebannt, die alles aus nächster Nähe miterlebt hatte.

„Schachmatt, Barton Wakefield“, sprach William neben ihr feierlich und grinste zufrieden. Das Funkeln in seinen Augen, hatte etwas verborgen Kaltblütiges an sich, dass sie leicht erschaudern ließ. Doch nun konnte sie wieder erleichtert aufatmen. Mittenacht war vorüber und der Spuk hatte endlich sein Ende gefunden. Jetzt wo um sie herum ein panischer Aufruhr herrschte, war die richtige Gelegenheit, um ihre ungeduldige Neugierde zu stillen.

„Will, übrigens… Danke das du jemanden vorbeigeschickt hast, um mir die Zahlenkombination für den Tresor mitzuteilen“, bedankte sie sich überprüfend, ob dies nun stimmte oder nicht.

„Aber ich habe doch gar keinen zu dir geschickt“, verneinte William und blickte sie verwundert an. `Also tatsächlich…`, dachte Miceyla und fragte sich nun, ob der `Geist` gerade auch an Bord des Schiffes herumspukte.

„William, kann ich kurz unter vier Augen mit dir sprechen?“, wandte Moran sich an ihn, ungerührt über den ganzen Trubel der ihn umgab. Die beiden entfernten sich etwas und suchten nach einem ungestörten Ort zum Reden.

„Ah, Louis, bei dir muss ich mich natürlich ebenfalls bedanken… Ohne dich hätte das alles ein böses Ende nehmen können. Du weißt schon, wovon ich spreche…“, nutzte sie den Augenblick, in dem sie alleine waren, um ihn dafür zu danken, dass er den Mann im Schloss gerettet hatte.

„Wofür dankst du mir? Glaubst du tatsächlich, ich hätte dies für dich oder diesen Mann getan? Ich wollte einzig und allein dafür sorgen, dass es zu keinem peinlichen Ärgernis bei dem Plan meines Bruders kommt. Solange du dich wie eine stümperhafte Dilettantin verhältst, muss ja einer ein Auge auf deine Arbeitsweisen haben“, sagte Louis nur schroff und entfernte sich daraufhin von ihr. Nach seinen kaltherzigen Worten, bereute sie es sofort ihm ehrlich gedankt zu haben. `Autsch… Obacht, werter Louis. Wer Wind säht, wird Sturm ernten…`, dachte Miceyla ein wenig beschämend.

„Der `Maulwurf` ist wieder aufgetaucht…“, verriet Moran mit leiser Stimme.

„Tss… Ich wusste es! Die ganze Zeit über, hatte ich dieses, sich einschleichende Gefühl im Unterbewusstsein. Aber soll mir nur recht sein. Das er sogar hier in Richmond aufgetaucht ist, verrät etwas Ausschlaggebendes über seine Person… Danke Moran, für deinen heutigen Aufwand. Erzähle mir die Einzelheiten später im Anwesen“, sprach William und hatte seine Augen erzürnt zusammengekniffen, jedoch entspannte er sich rasch wieder.

„Oh und mal so am Rande… Deine Verlobte ist im Schlosskeller, ein ganz schön heißer Feger gewesen! Hätte nicht gedacht, dass die Kleine so viel auf dem Kasten hat. Meine Sorgen waren völlig unberechtigt. Sie gefällt mir!“, meinte Moran und grinste breit. Allerdings hätte er am liebsten seine Worte wieder zurückgenommen, als er Williams teuflischen Blick sah und geriet ins Schwitzen.

„Wie darf ich das bitte verstehen: `Sie gefällt mir`?“, fragte dieser mit einem aufgesetzten Lächeln.

„Ähm… Ha, ha!... Nun ja, als Kameradin selbstverständlich! Was auch sonst. Ich glaube nicht, dass ich ihr Typ bin…“, entgegnete Moran hastig, um sich nicht in einem falschen Licht dastehen zu lassen.

„Gut. Das will ich schwer hoffen. Solltest du auch nur im entferntesten Sinne vorhaben, Miceyla anzurühren, hagelt es eine deftige Gehaltskürzung. Haben wir uns verstanden? Dann darfst du jetzt unseren Sieg feiern gehen“, verabschiedete William sich und lächelte weiterhin selbstsicher.

„Ja… Das ist mehr als deutlich gewesen… Zum Fürchten dieser Mann…“, murmelte Moran, streckte sich aber kurz darauf ausgelassen und lachte nur lauthals los.

Miceyla wollte Abstand vom Ort des größten Tumults gewinnen und irrte alleine an Bord des Schiffes umher. Mittlerweile wurde die Fahrt fortgesetzt. Da Barton nun nicht mehr unter den Lebenden weilte, bestand auch nicht länger die Gefahr, dass er an Land entkommen könnte. Da packte sie plötzlich jemand an der Hand.

„Will, ich habe bereits nach dir gesucht…“

„Folge mir…“, flüsterte William und legte verschwiegen den Zeigefinger auf seine Lippen.
 

Liebes Tagebuch, 12.3.1880
 

es kommt mir so vor, als hätte ich mehrere Tage in Richmond verbracht. Schrecklich viel ist passiert. Und ich bin der festen Überzeugung, dass ich die ganzen Ereignisse, welche sich dort zugetragen haben, niemals mehr vergessen werde. Unser Auftrag war aufregend und gefährlich zugleich. Aber mit Moran an meiner Seite fühlte ich mich sicher und hatte fast schon ein wenig Spaß. Ich denke wir beide werden gute Freunde. Nur, wie lange gehen unsere ganzen zukünftigen Einsätze gut, ohne das ich einen Menschen umbringen muss? Ich mag mir darüber noch keine Gedanken machen. Doch ich drücke mich eher vor dieser Realität… Am meisten beschäftigt mich immer noch die rätselhafte Person, die wir in Bartons Schloss nicht zu Gesicht bekommen haben… Die Art wie der Mann gesprochen hatte, erinnert mich komischerweise an etwas. Jedoch komme ich einfach nicht darauf. Ahhh! Das macht mich ganz wahnsinnig! Das liegt bestimm daran, dass ich momentan genug andere Dinge im Kopf habe. Wenn ich endlich mal wieder Ruhe finde, werde ich noch mal tiefgehender darüber nachdenken. Die letzte Nacht, hat mich im wahrsten Sinne des Wortes um den Verstand gebracht… Oh! Ich muss auch noch davon berichten, wie Louis auf das Resultat reagierte, als er mich wie angekündigt, heute Nachmittag über seine mir mitgegebenen Lektüren ausfragte. Das hole ich noch nach, he, he… Morgen bringe ich Sherlock sein Buch zurück. Heute war ich dazu zu erschöpft. Er hätte mich ansonsten hartnäckig, wegen meiner auffällig körperlichen Verfassung ausgefragt… Dies wäre mir dann doch etwas zu anstrengend geworden, ha, ha. Mein Herz schlägt wie verrückt, wenn ich an Williams und meine baldige Hochzeit denke… Meine jüngsten Erlebnisse waren ein kleiner Vorgeschmack davon, was für ein Leben mich in Zukunft erwarten wird…
 

Schauernachtgeflüster
 

Mein ungreifbarer Stern, du schimmerst hellkalt,

sei wachsam, der schützende Schein flieht schon sehr bald.

Das Schlagen eines Herzens vernehme ich in heikler Dunkelheit,

der Wind weht kühl, Angst und Schrecken macht sich breit.
 

Gedanken die zittern, mit verfolgender Gefahr im Rücken,

Erfolg kennt nur eine Chance und die muss glücken.

Ein Körper bewegt sich unbeirrt in Richtung Schicksal,

die Seele erstickt dabei, wird blass und kahl.
 

Vernichtet eure Rivalen, löscht sie aus,

sät die Samen für euren Untergang, das wird nun daraus.

Vor mir sehe ich eine Silhouette, ist es ein tapferer Soldat?

Der wahre Retter, mit seiner heldenhaften Tat?
 

Leise höre ich die Zweifel flüstern in mir,

die Vernunft liefert sich einen Kampf mit der Gier.

Meine Ängste schmelzen in deiner goldenen Glut,

in deinen Armen weiß ich, alles wird wieder gut.

Magie eines Liebeszaubers

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Rosenprinz

„Träume sind etwas Wundervolles. In Träumen können wir mit der Person zusammen sein, die wir am meisten lieben.“
 

„Du kannst mir den Trichter wiedergeben und halte das Glas genau hier. Nicht wackeln! Wehe du verschüttest mir auch nur einen Tropfen!“, wies Sherlock Miceyla konzentriert an und drückte ihr dabei vorsichtig ein Reagenzglas, mit einer blubbernden Flüssigkeit darin in die Hand. Sie hatte sich von ihm dazu überreden lassen, ihm bei einem seiner spontanen Experimente zu assistieren. Auch wenn ihr seine ganzen eigenen Kreationen nicht ganz geheuer waren, beobachtete sie interessiert sein Geschick, das dem eines geübten Chemiker-Experten gleichkam.

„Sag mal, was hast du vorhin eigentlich für ein feines Buch gelesen, als ich reinkam? Man sieht dich selten so aufmerksam in einem Roman lesen, ha, ha“, fragte sie neugierig und bemühte sich darum, dass schmale Glas gerade zu halten, während sie darauf wartete, es wieder zurück in die Halterung stellen zu dürfen.

„Oh, dieses hier? Den Inhalt des Buches müsstest du am allerbesten kennen. Schau mal wer der Autor ist. Kommt dir der Name bekannt vor?“, meinte Sherlock grinsend, zückte jenes nagelneue Buch mit einem blauen Einband und hielt es präsentierend in die Höhe.

„Ach wirklich?... A-aber das ist ja mein Name! Nein, sag bloß mein Manuskript wurde schon fertig gedruckt und gebunden?! So schnell? Dann ist die Antwort des Buchhändlers doch glatt in meiner ganzen Post untergegangen. Da verpasse ich tatsächlich die Veröffentlichung meines ersten, eigenen Buches. Oh Mann, ha, ha. Wie ist bisher dein Eindruck? Deine Meinung bedeutet mir sehr viel. Bitte, bitte sage es mir!“, sprach sie überrascht und war sofort überglücklich.

„Das solltest du ihn lieber nicht fragen. Er hat keine Ahnung von guter Literatur. Ach und danke übrigens, dass du heute meinen Platz als sein Sklave eingenommen hast“, bedankte sich John, der lächelnd an der geöffneten Tür stand.

„Das mache ich doch gern. Wie oft hat man denn schon die Gelegenheit, ein chemisches Experiment durchzuführen und…huch!“ Miceyla bemerkte plötzlich, dass sich ihre Füße am Boden, in einer Art Kordel verheddert hatten. `Herrje, wann ist das denn passiert?! Sherlocks Chaos lässt mal wieder grüßen…`, dachte sie verzagt und versuchte sich irgendwie ungeschickt zu befreien, ohne sich bücken zu müssen. Jedoch machte sie alles nur noch schlimmer und die Knoten zogen sich immer fester zusammen. Schließlich verlor sie das Gleichgewicht. Sie hätte sich problemlos an dem Tisch festhalten können, allerdings wäre sie so das Risiko eingegangen, dass die ätzende Flüssigkeit über ihre Hand lief.

„Miceyla, Achtung!“, schrie John schockiert und wagte kaum hinzusehen. Sherlock reagierte ohne Umschweife. Er schlug ihr das Reagenzglas aus der Hand, sofort zersprang das dünne Glas und die Flüssigkeit floss zischend über den Boden. Und ehe Miceyla sich versah, fand sie sich in Sherlocks Armen wieder.

„Oh Schreck. Wir wollen doch nicht dein hübsches Gesicht ruinieren. Sieh an, die Schnur suche ich schon seit Tagen!“, sprach er gelassen und blickte belustigt zu dem verknoteten Seil, welches sich um ihre Füße geschlungen hatte. Sie errötete, als sie so nah bei ihm stand und hüpfte etwas zur Seite, um sich von der Kordel zu befreien.

„A-also wirklich! Wer bitteschön sucht etwas, dass sich direkt vor seiner Nase befindet?! Dir ist echt alles zuzutrauen“, meinte sie verlegen und war dennoch amüsiert.

„Du benimmst dich seltsam. Alles in Ordnung?“, erkundigte Sherlock sich beiläufig mit einem eindringlichen Blick.

„Bin mir nicht sicher, was du von mir hören willst, aber du bist es doch selber schuld“, meinte sie nur grinsend.

„Ich glaube es ja nicht! Sherlock, das hätte mal wieder ins Auge gehen können! Du schaufelst dir irgendwann noch, in diesem Chaos dein eigenes Grab! Ach was rege ich mich eigentlich immer darüber auf… Zwecklos. Ich bin in meinem Zimmer, falls mich wer sucht“, sprach John aufmüpfig und entfernte sich leise fluchend.

„Was ist hier denn schon wieder für ein Radau? Ich sehe wohl nicht richtig! Wer ist für diese Sauerei verantwortlich?“, fragte eine wütende Emily, mit auf der Hüfte abgestützten Händen.

„Tut mir leid… Mir ist ein kleines Missgeschick passiert…“, entschuldigte Miceyla sich kleinlaut.

„Nein, es ist mein Verschulden. Der Auslöser war ganz eindeutig, die dezente Unordnung in diesem Raum. Ich bringe das selbst wieder in Ordnung, Mrs Hudson“, verteidigte Sherlock sie und begann mit einem Besen die Scherben zusammenzukehren. Emily rollte mit den Augen und lief wieder seufzend die Treppe hinab.

„Noch sechs Tage bis zu eurer Hochzeit…“, murmelte er monoton.

„Ja… Die Zeit verfliegt wahnsinnig schnell. Wahrscheinlich war dies heute mein letzter Besuch vor der Hochzeit. Es gibt noch einiges für mich zu erledigen. Zum Glück geht mir bei den ganzen Formalitäten, William zur Hand“, sagte sie aufgeregt über den Aufbruch in ihr neues Leben.

„Und unter anderem packst du deine Koffer… Es war für uns beide vorteilhaft, dass wir im selben Stadtteil wohnten. Zukünftig wirst nicht mal eben kurz, bei einem Spaziergang hier vorbeischauen. Ich weiß, du willst das jetzt nicht schon wieder von mir hören. Aber wie ergeht es dir dabei, einen Mann zu heiraten, den du noch nicht wirklich lange kennst und der einen völlig anderen Lebensstil hat, als du ihn gewohnt bist? Sei ehrlich, Miceyla. Gehe einmal in dich. Wer mit einem Menschen zusammenlebt, wird früher oder später Seiten an diesem kennenlernen, von denen man niemals gedacht hätte, dass sie überhaupt existieren. Ich will dich nicht belehren, jedoch sind Gefühle wie ein schleichendes Gift. Wenn du in den Adel einheiratest, kann sogar ich dir kaum behilflich sein bei…nennen wir es mal eheliche Problemchen. Da geht es schon damit los, dass mir rein rechtlich gesehen die Hände gebunden sind. Vergiss auch bitte seine Brüder nicht, mit denen du gezwungenermaßen zurechtkommen musst…“, sprach Sherlock ernsthaft. In seinen Worten steckte ein Ausdruck voller Besorgnis um ihr Wohlergehen. Es versetzte Miceyla einen leichten Stich ins Herz. Sie war dabei mit Sherlock eine Freundschaft aufzubauen, die ein ganzes Leben halten könnte. Und dann entschied sie sich auch noch für eine Liebe, die stets für William an zweiter Stelle kommen würde, da er all seinen Elan in die Verwirklichung seines Plans steckte. Aber sie hatte es nie wirklich einfach in ihrem Leben gehabt. Sie wollte jeden Moment dieser prickelnden Leidenschaft auskosten und etwas an dieser trostlosen Welt verändern, in der kein gerechtes Glück existierte. Dafür war es allemal wert zu kämpfen. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass den drei Brüdern tatsächlich jede Entscheidung so leicht von der Hand ging, wie es nach außen hin aussah und sie ihr Schicksal akzeptierten. Dies konnte einfach nicht sein. Inständig hoffte sie, dass die drei ihr das Herz öffneten, sonst würde sie niemals vollwertig zu ihnen gehören.

„Ganz gleich wie viele Bezirke wir voneinander entfernt wohnen. Ich habe zwei gesunde Beine und werde so oft hierherkommen wie ich mag. Hier ist immer viel Interessantes auf den Straßen los, dass uns beide magisch anzieht. Und wie du weißt habe ich hier nun meinen Verlag, bei dem ich öfters vorbeischauen werde. Was meine Heirat mit William betrifft… Wie lange würdest du denn mit einer Hochzeit warten? Wenn du deinen Partner ein halbes Leben lang analysiert hast? Ich weiß, du könntest es niemals über dich bringen zu heiraten. War ein blödes Beispiel. Jedoch… Wenn zwei Menschen einander gefunden haben, beginnt für sie eine aufregende Reise mit Höhen und Tiefen. Man lernt einander immer besser kennen und es entsteht ein unzertrennliches Band der Vertrautheit, welches sich Liebe nennt. Egal wie unterschiedlich die Gedanken des anderen auch sein mögen, solange man einander wertschätzt und füreinander in jeder Lebenslage da ist, kann man sich sicher sein, den richtigen Menschen gefunden zu haben, mit dem man auf ewig glücklich sein wird. Das ist zumindest, woran ich glaube. Also, wieso sollte ich mein neuerrungenes Glück, dieses Schicksal, einfach wieder fortwerfen? Und du weißt ja in welcher Kirche wir in Westminster heiraten. Nur für den Fall, falls du es dir anders überlegen solltest…“, sagte Miceyla in einer besonnen Tonlage. Sherlock blickte für einen Moment nachdenklich zu Boden, ehe er sie mit einem Lächeln auf den Lippen ansah. `Richtig, lass uns dieses Glück nicht fortwerfen…`, dachte er im Stillen.

„Geben wir uns ein freundschaftliches Versprechen. Wo auch immer uns die unterschiedlichen Wege hinführen und welche Herausforderungen auf uns warten mögen, wir finden wieder zusammen und vergessen niemals unsere Ideale, für die wir einstehen. Es darf dich nicht kümmern, wenn die Leute dich und mich verachtend belächeln, während wir uns von der breiten Masse hervorheben. Jemand der wie wir anders denkt ist einzigartig. Deine Meinung kreierst du dir selbst. Die Vergangenheit ist nur eine Probe, um deinen Lebenswillen zu testen. Vergiss dies bitte nicht. Na, ist es beschlossene Sache?“, fragte er grinsend und streckte seine Faust zu ihr aus.

„Das Versprechen ist hiermit besiegelt. Es warten so viele Geheimnisse im Verborgenen auf uns, ich wäre verzagt all die Abenteuer ohne dich erleben zu müssen“, sprach sie lächelnd und drückte ihre Faust gegen seine.

„Ist der Meisterverbrecher unser gemeinsamer Feind?“, stellte er ihr dann diese plötzliche Frage. Verwundert blickte sie ihn an. Sie wusste nur zu gut, dass dies einer seiner spielerischen Tests war, um sie herauszufordern.

„Hierbei sollte man zu allererst abwägen, ob die Definition `Feind` überhaupt zutreffend ist. Dir ist selbst klar, dass er es hauptsächlich auf die verdorbene Oberschicht abgesehen hat. Solange wir ihm nicht bewusst in die Quere kommen, werden wir auch nicht zu seinem Ziel. Und ich glaube, du bewunderst ebenfalls zu sehr die Genialität seiner Taten, als das du mit ihm eine Feindschaft anzetteln würdest“, gab sie ihm eine ehrliche Antwort. ´Bitte lass ihn das nicht skeptisch machen…´, hoffte Miceyla inständig.

„Das hast du gut gesagt. So… Meine Salpetersäure ist jetzt aufgebraucht. Ich gehe neue besorgen, du kommst mit. Schnell, das Fachgeschäft schließt bald. Dann kann ich dich demnächst dort hinschicken, hi, hi“, verkündete Sherlock nach einem Blick auf seinen ausgefallenen chemischen Bestand und lief sogleich hinaus. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden und watschelte ihm rasch hinterher. Nach einem etwa zehnminütigen Fußmarsch, betraten die zwei einen kleinen Laden, der diverse Fläschchen und Ampullen, mit den bekanntesten und seltensten chemischen Flüssigkeiten verkaufte. `Dies muss für Sherlock wie ein Schlaraffenland sein. Wusste gar nicht, dass es hier so ein spezielles Geschäft gibt, ha, ha`, dachte sie staunend. Es brauchte nicht lange, da hatte er auch schon alles beisammen was er wollte und führte eine lebhafte Unterhaltung mit dem Verkäufer. Sie konnte ganz deutlich heraushören, dass Sherlock mehr Ahnung und Fachwissen besaß als dieser. Der arme Mann, war sogar regelrecht von seiner dynamischen Art eingeschüchtert. Amüsiert beschloss Miceyla im Freien auf ihn zu warten. Auf dem Bürgersteig vor dem Geschäft erschrak sie plötzlich und traute ihren Augen kaum. William befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schlenderte gemütlich den Gehweg entlang. `Auweia! Will ist hier in der Innenstadt?! Da hätte er sich keinen unpassenderen Zeitpunkt aussuchen können… Ich bin schockiert darüber, meinen eigenen Verlobten zu sehen, ha, ha. Was ist das nur für eine verdrehte Welt. Ich muss Sherlock schnellstmöglich abfangen. Es ist ratsam eine Begegnung zu vermeiden, bei der auch noch ich dabei wäre. Verschwinden wir schnell sonst…`, versuchte sie vernünftig zu bleiben. Doch es war bereits zu spät. Es kam wie es kommen sollte. Noch ehe Sherlock einen Fuß aus dem Laden gesetzt hatte, entdeckte er William.

„Liam!“, rief er freudestrahlend. `Ahhh!` Miceyla vergrub verzweifelt ihr Gesicht in den Händen. Sherlock lief vergnügt mitten über die Straße und ignorierte schlichtweg die ganzen Kutschen, die wegen ihm abrupt anhalten mussten. Ihr blieb nichts anderes übrig, als peinlich berührt hinter ihm her zu hechten.

„Das ist aber eine Überraschung, euch zwei Hübschen hier anzutreffen. Wie ich sehe, gehen Sie wieder Ihrer Leidenschaft für chemische Versuche nach. Ich hoffe, Sie setzen meiner Miceyla dabei keiner Gefahr aus“, begrüßte William die beiden, als sie ihn auf dem Bürgersteig erreicht hatten.

„Hallo Will…“, sagte sie nur leise. `Urgh… Ich kann mich auf eine heftige Schelte gefasst machen. Und jetzt stehe ich direkt neben Sherlock. Sollte ich nicht auf die Seite zu Will wechseln? Warum gerate ich wegen solch einer Nichtigkeit in Panik?!`, dachte sie hektisch, doch die beiden jungen Männer lächelten sich einfach nur gelassen an.

„Hatten Sie einen unterhaltsamen Abend in Richmond? Es wird gemunkelt, dass die Vorstellung dort so skurril gewesen ist, dass keiner der dort anwesenden Personen sie jemals vergessen wird. Ein Jammer, dass ich nicht persönlich zugegen war. Was habe ich mir da nur entgehen lassen. Ich kann nicht ausschließen, dass Sie dort dem Meisterverbrecher über den Weg gelaufen sind. Möglicherweise wissen Sie sogar, um wen genau es sich dabei handelt. Wer weiß wie viele Anhänger er hat…“, forderte Sherlock ihn grinsend heraus.

„Wir jagen beide den richtigen Antworten nach und lassen nicht locker, bis wir die Wahrheit ans Licht gebracht haben. Aber bitte suchen Sie in der Rechtschaffenheit keine Mängel. Missgunst zieht nur Irrglauben nach sich. Wie sagt man so schön, die Lösung des Problems findet sich meist dort, wo man sie am wenigsten erwartet hätte. Jedenfalls war es für mich ebenfalls eine unvergessliche Vollmondnacht“, meinte William genügsam und warf einen innigen Blick auf Miceyla, die sofort von einer wohligen Wärme gepackt wurde, bei der Erinnerung an jene erschwingliche Nacht. `W-was tust du da gerade, Will?! Ich darf keine Anspielungen machen, aber du haust eine nach der anderen raus…`, dachte sie beunruhigt und fühlte sich bei deren Unterhaltung, wie das überflüssige dritte Rad am Wagen. Und sie war gleichzeitig erleichtert als auch enttäuscht darüber, dass Sherlock mit ihr nicht über die Ereignisse in Richmond gesprochen hatte.

„Hm… Ich habe mir da wohl eine günstige Gelegenheit entgehen lassen. Aber die nächste kommt früher oder später. Jedenfalls finde ich, dass es endlich mal an der Zeit ist, um Ihnen einen Besuch abzustatten. Da warten einige gemeinsame Interessen darauf, von uns auseinandergenommen zu werden. Meinen Sie nicht auch?“, kündigte Sherlock genüsslich an und für einen Augenblick herrschte bedachtes Schweigen.

„Gewiss, dies würde mir ein großes Vergnügen bereiten. Miceyla Liebes, komm es ist bereits spät. Wenn Sie uns nun entschuldigen würden. Auf ein andermal, Sherlock Holmes“, verabschiedete William sich mit einem neutralen Lächeln und nahm Miceyla bei der Hand, um sie ohne Umschweife mit sich zu ziehen. Während die beiden zügig den Gehweg entlangliefen, warf sie noch einmal kurz zu Sherlock einen Blick über die Schulter, der noch immer schweigsam an Ort und Stelle stand. Sofort trafen sich ihre Blicke und sie wusste nicht weshalb, doch sie bekam eine Gänsehaut bei seinen ausdruckslosen Augen, die ihr dennoch so unglaublich viel zu erzählen versuchten. Aber auch sie musste ihm den Eindruck vermitteln, dass ihr einige Geheimnisse auf der Seele lagen, die sie einfach nicht aussprechen konnte. Miceyla erschrak, als sie Williams zurechtweisenden Blick auf sich spürte und drehte den Kopf ruckartig wieder nach vorne. `Ich sollte achtsamer sein… Das war gefährlich. Wir begeben uns immer mehr auf dünnem Eis. Allerdings… Ist es wirklich möglich, dass ich mich mit Sherlock ohne Worte austauschen kann?` Der Gedanke brachte sie vollkommen durcheinander. Und plötzlich bekam sie Bammel, wenn sie an alle zukünftigen Konfrontationen zwischen William und Sherlock dachte. Obwohl die zwei Sonderlinge nach außen hin, wie gute Freunde auf derselben Wellenlänge wirkten. Dennoch verbarg sich dahinter eine schlummernde Rivalität. Sollte diese jemals geweckt werden, würde ein Sturm aufkommen, der ganz London, wenn nicht sogar ganz England erschüttern könnte. Das Klügste für sie war zum Wohle aller Beteiligten, vorerst die Beobachterrolle zu spielen und sich so diskret wie nur möglich zu verhalten. Bei der ersten Möglichkeit bog William mit ihr in eine Seitenstraße ab und gab einem Kutscher ein Handzeichen, woraufhin dieser die Kutschentür für sie beide öffnete. Sie saß direkt neben ihm, doch er blickte bloß stumm hinaus. Die ganze Situation war ihr äußerst unangenehm, daher entschied sie zaghaft ein Gespräch anzufangen.

„Du warst heute in der Innenstadt…“

„Ja, ich bin bei der Bank gewesen. Mir ist es wichtig, dringliche Geschäfte persönlich zu erledigen. Verzeih mir meine verärgerte Stimmung. Das hat nichts mit Sherlock zu tun. Ich habe vorhin einem Mann aus der Patsche geholfen. Es ist erschreckend, wie die Arbeiterklasse in jeder Ecke dieser Stadt schikaniert wird. Und die Passanten marschieren einfach desinteressiert vorüber. Du glaubst gar nicht wie wütend mich das macht. Wie konnte es nur so weit kommen… Aber ich mag dich nicht mit meiner schlechten Laune runterziehen, wo du nun ohnehin schon ständig mit diesem Thema konfrontiert wirst. Schließlich steht unsere Hochzeit vor der Tür. Das wird wahrscheinlich eines der schönsten Erlebnisse in unserem gemeinsamen Leben werden. Und du bist wirklich damit einverstanden, hier in London zu heiraten, statt in Durham wie ich es vorgeschlagen hatte? Alle werden erfahren, dass ich eine Bürgerliche eheliche“, sagte er vertraulich und wandte sich ihr zu.

„Genau das ist doch der Sinn und Zweck des Ganzen. Wir haben nichts zu verheimlichen. Teilen wir unser aufrichtiges Glück mit der ganzen Welt. Früher oder später werden die Menschen einsehen, dass Macht und Wohlstand nicht die kostbarsten Güter für ein erfülltes Leben sind. Erwecken wir die eingefrorene Herzenswärme in den Seelen der ganzen Ignoranten. Eine kleine gute Tat macht dabei immer den Anfang“, meinte sie liebevoll und lehnte sich dabei lächelnd an ihn. Zärtlich legte er seine Hand auf ihre.

„Danke das ich dir begegnen durfte und danke das du den Platz an meiner Seite gewählt hast. Deine Entscheidung ist für mich nicht selbstverständlich gewesen. Ich werde dafür sorgen, dass es dir bei uns gut gehen wird. Dir soll es an nichts fehlen. Zwar ist dies keine äquivalente Entschädigung, für den hohen Preis den du zahlst und der Gefahr, welcher du ausgesetzt bist. Dennoch hoffe ich, dass du dich dank unserer Privilegien frei entfalten kannst. Nutze deine neuen Möglichkeiten weise. Keiner wird dir dabei im Wege stehen, solange es im Rahmen des Machbaren ist. Zögere nicht. Ich weiß, dass es dir schwer fällt Entscheidungen zu treffen. Gemeinsam arbeiten wir daran, dass dir dies zukünftig leichter fällt. Denn bedenke stets, Zeit ist rar. Und ignoriere bitte, wenn andere unsere Liebe hinterfragen. Besonders Sherlocks durchleuchtendes Denken. Unseren eigenen Standpunkt, kennen nur du und ich. Was der Rest der Welt denkt, braucht uns nicht zu interessieren. Ach und ehe ich es vergesse. Ich habe mir dein frisch veröffentlichtes Buch besorgt. Wie versprochen wollte ich einer der Ersten sein, der es liest“, verriet William ihr freudig.

„Ich mag dich ja wirklich nicht enttäuschen, doch Sherlock ist dir zuvorgekommen“, erwiderte Miceyla belustigt.

„Hach… Er wohnt nun mal näher bei der Buchhandlung. Das ist der einzig unfaire Grund. Wie sieht es aus, kommst du mit deinem Auszug voran? Falls du weitere Hilfe benötigst, sage Bescheid. Deine Nachmieterin, die wir arrangiert haben, zieht unmittelbar nach dir ein. Sie arbeitet genauso zuverlässig und gewissenhaft wie du. Mrs Green wird also nichts an ihr zu bemängeln haben. Gut, dann kannst du heute noch mit uns zu Abend essen“, sagte er frohgestimmt, während sie in Richtung des Anwesens fuhren. Dort angekommen, fing Louis ihren William sofort ab.

„Hallo Bruder. Es gibt etwas, dass ich gerne mit dir besprechen möchte. Es ist ein äußerst dringliches Anliegen“, sprach dieser mit ernster Miene.

„Dann lass uns das direkt erledigen. Wir sehen uns gleich bei Tisch, meine Liebe“, sagte William pflichtbewusst und verschwand daraufhin mit Louis im Wohnzimmer des Erdgeschosses. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, um das erste Stockwerk ein wenig näher zu erforschen. Vor allem verspürte sie den Drang, endlich einen Blick in Williams Schlafzimmer zu erhaschen. Wo es sich befand wusste sie bereits. Das sie sich bald die Räumlichkeiten jede Nacht mit ihm teilen würde, kam ihr noch etwas surreal vor. Gemächlich lief sie den Flur auf einem blitzeblanken Teppich entlang. Da hörte sie auf einmal liebliche Klavierklänge und folgte ihnen neugierig. Die Musik führte sie zu Alberts Arbeitszimmer. Unauffällig lugte sie durch die offenstehende Tür. Dort spielte Albert auf einem glänzend schwarzen Flügel. Dabei sah er unbeschreiblich anmutig aus, noch mehr als er dies ohnehin schon immer tat. Er spielte nicht einfach nur auf diesem Instrument, er fühlte die Musik und schien durch sein Spiel, seinen Gefühlen Ausdruck verleihen zu wollen. Hinter jeder einzelnen Note, steckte eine tiefgründige Bedeutung. Es war eine Wohltat, den sanften Klängen zu lauschen, die selbst das aufgebrachteste Gemüt zu beschwichtigen vermochten. Sein Anblick zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Da entdeckte Albert sie und unterbrach sein Spiel.

„Miceyla, ich freue mich dich zu sehen. Komm nur herein“, grüßte er sie mit einem freundlichen Gesichtsausdruck.

„Guten Abend. Du spielst wundervoll auf dem Klavier, ich könnte dir stundenlang zuhören. Das war aber ein sehr tragisches Stück. Im Geiste sehe ich etliche Bilder. Ich glaube eine ganze Geschichte, versucht diese dramatische Melodie zu erzählen…“, sprach sie liebevoll mit einem traumverhangenen Blick.

„Das macht mich neugierig. Erzählst du mir die Geschichte? Setz dich zu mir“, bot er ihr lächelnd an, auf dem breiten, gepolsterten Hocker neben ihm Platz zu nehmen und spielte unbeirrt weiter. Ein wenig schüchtern nahm Miceyla sein Angebot an und setzte sich direkt neben Albert.

„Du hast bestimmt deine ganz eigenen Vorstellungen, während du spielst. Aber vielleicht gibt es ja sogar Überschneidungen, bei unseren Fantasien. Ich sehe einen bitterlichen Abschied vor mir. Zwei junge Herzen, die sich mehr als alles andere auf der Welt etwas bedeuten, werden voneinander getrennt…“, begann sie zu erzählen, wobei die Melodie sie voll und ganz in ihren Bann zog.

„Wer sind die beiden und was hat zu ihrer Trennung geführt?“, fragte er gespannt und suchte für einen kurzen Moment ihren Augenkontakt. Schweigend blickte sie in das tiefe Grün seiner Augen, das ihrem eigenen glich.

„Die beiden…sind Bruder und Schwester. Und die Eltern der Geschwister, haben sich nach einem heftigen Streit getrennt. Das Mädchen blieb bei der Mutter. Der Vater ging mit dem Jungen fort. Die armen Kinder waren der Hierarchie der Erwachsenen hilflos ausgeliefert und weinten verzweifelt über ihr grausames Schicksal. Sie kamen niemals über den Abschied hinweg und dachten Tag ein, Tag aus an den jeweils anderen…“, fuhr sie die traurige Erzählung fort.

„Das ist wahrlich bitter. Eventuell gab es ja eine Möglichkeit, wie die Geschwister in Kontakt bleiben konnten. Und ich hoffe doch auf ein Wiedersehen der beiden“, sagte er und lächelte zaghaft.

„Gewiss, denn ihre Sehnsucht war stärker als das Schicksal, welches sie fesselte. Sie schrieben sich heimlich gegenseitig Briefe. Dies taten sie viele, viele Jahre lang. Und dann eines Tages, als die zwei erwachsen waren, trafen sie durch den puren Zufall wieder aufeinander. Es brauchte nur einen kurzen innigen Blick und ihre ehemalige kindliche Geschwisterliebe, verwandelte sich in die leidenschaftliche Liebe zwischen Mann und Frau.“ Mittlerweile hatten ihre Vorstellungen sie komplett vereinnahmt.

„Oho… Eine verbotene Liebe“, kommentierte Albert lächelnd mit Blick auf die Tasten.

„Ja… Trotz ihrer erschütternden Vergangenheit, fanden sie wieder zueinander. Gemeinsam lehnten sie sich gegen die Proteste ihres Umfeldes auf und waren glücklich solange sie einander hatten“, erzählte sie weiter und lächelte ebenfalls bei dieser schönen Vorstellung.

„Dann nimmt die Geschichte ein gutes Ende?“

„Nein, leider nicht. Denn wie im wahren Leben, platzte die unumgängliche Realität ins Haus. Der junge Mann war ein Soldat und wurde aus dem Land an die Kriegsfront geschickt. Unfreiwillig war er dazu verdammt, seine Angebetete zu verlassen. In jeder schlaflosen Nacht betete sie darum, dass ihr Geliebter wohlbehalten zu ihr zurückkehrte. Und dann eines Tages, ereilte die junge Frau die tragische Nachricht, dass ihr geliebter Bruder im Krieg sein Leben gelassen hatte. Nun brach für sie eine Welt zusammen und sie war am Boden zerstört. Der einzige Grund zum Leben wurde ihr genommen und sie beendete schließlich ihr eigenes Leben… Doch das eigentliche Drama sollte erst noch folgen. Es ist eine Fehlmeldung gewesen, ihr Bruder war noch am Leben. Wenige Tage später kam er bei ihrem Haus an und fand die Leiche seiner geliebten Schwester…“, endete Miceyla leise die traurige Erzählung.

„Was ein Elend… Und ich hatte mir ein glückliches Ende, für die beiden erhofft. Hm… Du hast wohl wie ich, einen Draht zu herzzerreißenden Tragödien. Jedoch klingt das für mich nach einer hervorragenden Story, für dein nächstes Werk. Wirst du diese Geschichte schreiben? Aber bitte erfülle mir den Wunsch und lass die Schwester am Ende noch ein Weilchen länger auf ihren Bruder warten. Stell dir nur die Szene vor, wie sie sich mit Freudentränen in den Armen liegen. Wenigstens in unseren erfundenen Geschichten, muss das Schicksal zu einem guten Ende führen. Und auf diese Weise schenkst du deinen Lesern den Mut, dass irgendwo da draußen noch die Hoffnung auf sie wartet. Du wirst sehen, dies bewirkt wahre Wunder“, versuchte er sie von seiner Bitte zu überzeugen und spielte den Abschluss des Klavierstücks.

„Du hast recht, Albert. Ich glaube meinen eigenen dramatischen Texten, habe ich meine Hoffnungslosigkeit zuzuschreiben. Ich werde die Geschichte schreiben und erfülle dir deinen Wunsch. Auch ich habe eine bescheidene Bitte an dich… Wirst du für mich auf dem Klavier spielen, immer wenn es mir an Inspiration mangelt? Das wäre wundervoll und verliehe meinen Geschichten noch mehr Tiefe…“, bat sie ein wenig verlegen.

„Nichts tue ich lieber als das. Und da haben wir auch wieder den heimlichen Verehrer und deinen Soldaten, ganz nach meinem Geschmack, ha, ha“, sprach er lachend und freute sich ganz offensichtlich darüber. Seine charmante Art brachte sie selbst dazu, über das ganze Gesicht zu strahlen. Plötzlich wirkte er wieder etwas ernster und blickte Miceyla nachdenklich an.

„Weißt du, mein Bruder Will liebt dieses geheimnisvolle Leuchten in deinen Augen, dass unendlich viel Trauer und Einsamkeit widerspiegelt. Und er versucht dein Leid in Stärke umzuwandeln. Doch… Mir gefällt dein ehrliches und unverwechselbares Lächeln noch viel besser. Was auch immer dir Tränen bescheren mag, ich werde es aus der Welt verbannen und dein kostbares Lächeln um jeden Preis beschützen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer… Ah und ich hätte da noch eine kleine Frage. Es ist pure Neugier. Was gefällt dir an Soldaten so gut? Und was bewunderst du an ihnen?“, nutzte er die Gelegenheit für diese Frage. Es überraschte sie nicht, dass er sich nach dem Grund bei ihr erkundigte. Die meisten Frauen waren wohl eher allem, was mit dem Krieg in Verbindung stand abgeneigt.

„Nun, Soldaten sind diejenigen, welche unser Land und die schwachen Menschen beschützen. Für viele mögen sie bloß die einfachen Bauern sein, die auf das Schlachtfeld geschickt werden, um ihre Vorgesetzten und Herrscher zu verteidigen. Aber sie sind weitaus mehr, als Befehle befolgende Kampfmaschinen. Jeder einzelne von ihnen wird mit dem Tod und Leid konfrontiert. Ein Soldatenherz fühlt tiefgründiger und weiß was Opfer bedeuten. Kein Normalsterblicher kann dies nachempfinden. Für mich sind Soldaten Helden“, beschrieb sie die traurige Realität mit einem Funken des Trostes. Obwohl Albert bereits eine ähnliche Beschreibung von ihr erwartet hatte, wirkte er überrascht und lächelte mit verborgener Bitterkeit. Langsam hob er eine Hand, ganz so als ob er sie berühren wollte. Jedoch besann er sich eines Besseren und zog sie wieder zurück.

„Dann macht es mich ja wirklich stolz ein Soldat zu sein… Es ist mir schon öfters aufgefallen, du trägst häufig diese schönen Perlenohrringe. Sie müssen dir viel bedeuten.“

„Oh… Das sind nur ganz schlichte Ohrringe, nichts Besonderes. Sie gehören zu einem der wenigen Dingen, die mir meine verstorbene Pflegemutter vermacht hat“, meinte Miceyla lächelnd.

„Aber an dir wirken sie besonders. Deine Pflegemutter muss wie du ein sehr gütiger Mensch gewesen sein.“ An vergangene Zeiten zurückdenkend, fasste sie sich gedankenversunken an einen ihrer Ohrringe.

„Sie war für mich wie ein Segen. Ganz im Gegensatz zu meiner leiblichen Mutter…“, erwiderte sie knapp. `Bestimmt hat Will ihm davon berichtet, dass wir uns über unsere jeweilige Vergangenheit ausgetauscht haben…`, dachte sie und da wurde ihr etwas Schauerliches bewusst. `Albert hat in einem jungen Alter, seine eigene Mutter umgebracht. Sie soll zwar ebenfalls ein Scheusal gewesen sein… Jedoch… Hat er denn rein gar nichts dabei empfunden? Und hätte er dies auch getan, wenn er niemals auf William gestoßen wäre? Selbst falls ich meiner Mutter den Tod wünschen würde, da ich sie abgrundtief hasse, es eigenhändig zu vollbringen, dass wäre für mich undenkbar… Nun sind die drei Brüder zu Mördern geworden, ist das nicht noch viel grausamer? Bei William und Louis kann ich es noch nachvollziehen, da sie ohne Eltern aufgewachsen sind. Doch Albert… Hat sich keiner von ihnen jemals nach elterlicher Liebe und Führsorge gesehnt? Tapferkeit kann das eigene Herz sehr kalt werden lassen…`, dachte sie und blickte ihn traurig an. Sie bekam das beklommene Gefühl, eine unüberwindbare Mauer würde zwischen ihnen beiden stehen.

„Was hältst du davon, wenn du meinem Klavierstück einen Titel gibst? Es ist nämlich noch namenlos. Wäre doch schade drum, bliebe dies so, oder? Den Titel kannst du auch gleich mit deiner neuen Geschichte verbinden“, wechselte er rasch das Thema, da er merkte, wie die Stimmung immer trister wurde.

„Hm... Da kommt mir eine Idee. Du wirst jetzt überrascht sein, ha, ha. Wie findest du `Eisblume`? So wie du mich immer nennst. Das passt wunderbar zu einer Liebe, die sich trotz der kaltherzigen Welt durchsetzt und lieblich erblüht. Zauberhaft und einzigartig… Voller Schmerz und voller hingebungsvoller Aufopferung…“, entschied Miceyla und merkte an seinem sanften Lächeln, dass es genau der Titel zu sein schien, den er sich erhofft hatte.

„Kannst du auch Klavier spielen? Ich könnte dir gerne etwas beibringen, wenn du magst“, schlug er heiter vor.

„Tatsächlich wurde ich kurzzeitig mal darin unterrichtet. Aber ich bin noch lange nicht gut genug, um mich als herausragende Pianistin bezeichnen zu können“, antwortete sie bescheiden. Die beiden lächelten sich an, als plötzlich Louis an der Tür stand und mit einem Klopfen seine Anwesenheit kundtat.

„Kommt ihr? Das Essen ist fertig“, verkündete er und lief direkt wieder fort. Miceyla verließ gemeinsam mit Albert sein Arbeitszimmer und setzte sich an dem ästhetisch gedeckten Tisch, mit einem spiegelnden Silberbesteck, William und Louis gegenüber.

„Abend Will. Na, gab es wieder Ärger? Die Frustration steht dir ins Gesicht geschrieben“, meinte Albert und nahm neben ihr Platz.

„Nur das Allgegenwertige, keine neuen Auffälligkeiten. Doch ich denke, wir sollten von nun an öfters die Stadt auskundschaften. Auch Fred kann nicht an allen Orten gleichzeitig sein. Das Grundgerüst für alle kommenden Unterfangen, sollte langsam aber sicher ausgebaut werden. Hilft man heute einem Notleidenden aus der Unterschicht, wird er morgen wieder von einem anderen Betrüger übers Ohr gehauen. Und jene Schwindler mit der dicken Geldbörse, erkaufen sich die Schweigepflicht der Polizisten. Dem normalen Bürger sind die Hände gebunden. Sie schuften Tag und Nacht für einen mickrigen Lohn, der nicht einmal für eine vernünftige Mahlzeit reicht, geschweige denn um den Lebensunterhalt ihrer Familien zu finanzieren. Keiner vermag den klagenden Stimmen Gehör zu schenken“, berichtete William unzufrieden.

„Die Gesetze sollten verschärft werden, sodass jedermann gleichbehandelt wird und keiner Angst davor haben muss, seine Meinung frei auszusprechen“, machte Miceyla einen spontanen Vorschlag zur Lösung des Problems.

„Fabelhafte Idee, dann bringen wir dich zum Parlament und du versuchst dies durchzusetzen“, meinte Albert daraufhin sarkastisch. `Ich weiß, mein Einwand war für die Katz…`, dachte sie schmunzelnd.

„An jenem Tag hast du mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Regierung mit unserer Königin eingeschlossen, sich Gedanken über den Werdegang von London und ganz England machen. Nur musst du bedenken, dass die Monarchie schon lange keinen weitreichenden Einfluss mehr, auf das Treiben der Gesellschaft hat. Die meiste Macht fällt in die Hände der Menschen, die in der Wirtschaft und im Handel den größten Profit erzielen. Und gerade diese gierige Meute, hat es sich in den gehobenen Positionen bequem gemacht. Ich will nicht behaupten, dass es auf alle zutrifft. Ausnahmen gibt es, das steht außer Frage. Jedoch wagt keiner zu protestieren und Auffälligkeit dadurch zu erregen. Wie dem auch sei, die notwendige Revolution haben wir bereits in die Wege geleitet. Lasst es euch gut schmecken“, sprach William feierlich und die vier genossen friedlich ihr Abendmahl.
 

Es war der einundzwanzigste März, der langersehnte Tag ihrer Hochzeit. Die Geburtsstunde eines neuen Lebensabschnittes stand ihr bevor. Miceyla stand vor einem großen Spiegel und versuchte mit ruhigen Atemzügen, den tobenden Wirbelsturm ihres innerlichen Gefühlschaos zu besänftigen, während Emily einen langen weißen Schleier, mit einem funkelnden Diadem an ihren gelockten Haaren befestigte.

„Geht es? Sitzt das Korsett vielleicht doch etwas zu fest?“, erkundigte diese sich überprüfend.

„Nein, nachdem ich dich bat es zu lockern, spüre ich es kaum noch. Ich bin nur schrecklich aufgeregt. Ich danke dir aus tiefstem Herzen, dass du heute an meiner Seite bist. Was würde ich nur ohne dich machen“, antwortete sie lächelnd.

„Du hast mir selbst damit eine Freude gemacht, dass ich deiner Hochzeitfeier beiwohnen darf. Und mache dir nicht allzu viele Gedanken um eure Hochzeitsnacht, es ist weniger schlimm als du denkst. Lord William scheint mir ein umsichtiger Mann zu sein“, beruhigte Emily sie entspannt.

„Äh… Ha, ha… Verzeih. Es ist nur, unsere Hochzeitsnacht haben wir bereits hinter uns…“, verriet sie und blickte verlegen zu Boden.

„I-ist das so?! Das konnte ich nicht wissen!“, stotterte Emily mit errötetem Gesicht. Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen.

„Du… Wir bleiben doch Freundinnen, auch wenn ich ab heute eine Adelige sein werde, nicht wahr?“, brach Miceyla schließlich die Stille.

„Natürlich! Das spielt doch für mich gar keine Rolle! Du bist ein herzensguter Mensch. Ich werde immer deine Freundin bleiben. Und versprich mir, weiterhin unseren Chaosdetektiv zu besuchen. Denn ich glaube deine Anwesenheit tut ihm gut. Jedenfalls spricht er ständig froh gestimmt über dich. Das Sherlock mal eine Frau bewundern würde, macht mich fast schon neidisch, hi, hi“, versicherte Emily ihr mit glücklicher Miene. `Ich denke nicht, dass es Bewunderung ist… Anerkennung trifft es eher`, verbesserte Miceyla ihre Aussage und lächelte wortlos.

„Fertig! Sieh dich nur an! Ich habe noch nie eine so schöne Braut wie dich gesehen!“, schwärmte Emily mit funkelnden Augen. In der Tat raubte es ihr den Atem, sich in dem schimmernd weißgoldenen langen Kleid zu sehen. Es war das mit Abstand prachtvollste Kleid, dass sie jemals tragen durfte. Und es sollte das erste und letzte Mal sein. Dieses Kleid war ausschließlich für den heutigen Anlass bestimmt. Nun meinte sie, sich selbst in einen Engel verwandelt zu haben. Noch nie wie in diesem Augenblick, hatte sie sich gleichzeitig traurig und fröhlich gefühlt. Da klopfte es auf einmal an der Tür.

„Seid ihr soweit, darf ich hereinkommen?“

„Oh, Albert! Ja, komme herein. Wir sind gerade fertig geworden“, erlaubte Miceyla ihm ohne zu zögern einzutreten. Langsam trat er mit einem Lächeln auf den Lippen in den Raum, während sein Blick auf der fertig zurechtgemachten Braut ruhte.

„Mrs Hudson, wären Sie so freundlich und lassen uns für eine Weile allein?“, bat er höflich.

„Selbstverständlich, Graf Moriarty“. Emily verließ nach einem kurzen Knicks vor Albert, dass Ankleidezimmer des Anwesens und schloss leise die Tür.

„Es überrascht mich, ich dachte du wärst bereits bei Will“, hob sie an und erfreute sich an seinem spontanen Besuch.

„Ich wollte dich noch ein letztes Mal sehen“, sagte er ruhig und stellte ein kleines Kästchen auf einer Kommode ab.

„Das hört sich ja fast danach an, als würdest du von mir Abschied nehmen“, meinte sie belustigt.

„Auf eine gewisse Art und Weise tue ich das… Wenigstens habe ich das Privileg, dich als Allererster in einem Brautkleid sehen zu dürfen. Keine Worte dieser Welt, werden deinem traumhaften Anblick gerecht. Zum Glück wirst du mit Will auf einem Erinnerungsfoto verewigt. So ist es mir erlaubt, für immer an den heutigen Tag zurückzudenken. Nun sage ich schon mal lebe wohl zu Miss Lucassen und begrüße Mrs Moriarty, meine neue zauberhafte kleine Schwester, die uns allen hier nun den turbulenten Alltag versüßen wird“, sprach er so sanftmütig, dass es ihr das Herz erwärmte.

„Schau nur, ich habe ein kleines Hochzeitsgeschenk für dich. Ich hoffe es wird dir gefallen.“ Mit diesen Worten öffnete er das Kästchen und holte eine funkelnd goldene Kette, mit einem glänzenden hellblauen Schmuckstein daran heraus. Sogleich legte er ihr die Kette an.

„Was für ein wunderschönes Eisblau. Vielen Dank, Albert. Sie ist unbeschreiblich schön“, bedankte sie sich strahlend für sein hübsches Präsent.

„Da bin ich aber froh, dass sie dir gefällt. Das ist ein Aquamarin und die Kette ist aus purem Gold. Zwar wirst du dein Hochzeitskleid nur heute tragen, doch die Kette kann dich von nun an immer begleiten“, sagte er lächelnd.

„Oh je… Schon wieder solch ein kostbares Juwel… Das traue ich mich ja kaum zu tragen…“

„Hm… Dabei befindet sich doch in diesem Raum, ein weitaus kostbareres, unbezahlbares Juwel“, sprach er grinsend und sah ihr dabei tief in die Augen.

„Ist dem so? Habe ich etwas übersehen?“ Verwundert blickte sie umher, da wurde ihr plötzlich bewusst, was er meinte und errötete sofort.

„Ach so… Du sprichst von mir… Ha, ha, du alter Charmeur…“

„Mit diesem Schmuckstück, ist dein Hochzeitskleid nun vollkommen. Du fährst gleich mit Mrs Hudson zur Kirche. Louis wird dich zum Altar führen, wie besprochen. William hatte erst mich dafür vorgeschlagen, aber es ist schon gut so… Die Gäste, welche nachher auf dem Bankett anwesend sein werden, sind lediglich ausgewählte Vertraute von uns. Unangenehme Personen werden wir heute, an eurem besonderen Tag, erst gar nicht in unsere Nähe lassen. Wir haben noch etwas Zeit. Fühlst du dich wohl? Ist alles bequem? Nicht das du den einmaligen Anlass heute nicht genießen kannst“, erkundigte Albert sich sicherstellend, ob alles seine Ordnung hatte.

„Ähm… Na ja… Ich gestehe, dass meine Schuhe furchtbar unbequem sind, sie drücken an allen Stellen“, gestand Miceyla und lief ein paar langsame Schritte.

„Wirklich? Lass mal sehen… Das ist natürlich schlecht. Wer hat sich auch solch unvorteilhafte Schuhe ausgesucht, wo du den ganzen Tag darin gehen musst?“, sagte er und kniete sich vor ihr nieder, um dies selbst zu überprüfen. Es machte sie unsagbar verlegen, wie viel Mühe er sich für sie gab.

„Du hast bestimmt noch ein weiteres Paar Schuhe parat, da du doch stets perfekt organisiert bist.“

„Ja, ich habe sie dort in den Schrank gestellt. Nur sind sie wesentlich schlichter und harmonieren nicht besonders mit dem Kleid“, erwiderte sie und zeigte auf einen großen Holzschrank.

„Unter dem Kleid wird ohnehin niemand sehen, was du für Schuhe trägst. Warte, ich ziehe sie dir an. Du brauchst dich nicht in dem schweren Kleid zu bücken.“ Miceyla ließ ihn brav gewähren und im Nu hatte sie bequemere Schuhe an. Lächelnd blickte Albert zu ihr auf.

„I-ich danke dir, aber bitte erhebe dich wieder… Es ist mir ein wenig unangenehm, wenn du noch länger vor mir kniest…“, bat sie peinlich berührt.

„Mag nicht jeder Mann einmal in seinem Leben herausfinden, wie es ist um die Hand der Frau anzuhalten, die man liebt?“, sprach er sanft und erhob sich wieder würdevoll.

„A-Albert…“ `Seine koketten Sprüche bringen mein Herz jedes Mal zum rasen. Er meint dies doch stets nur scherzhaft…oder…?`, dachte sie nachdenklich und bekam mittlerweile sachte Zweifel.

„Weißt du… William ist mir bei allem einen beachtlichen Schritt voraus, den ich mit gewöhnlicher Anstrengung kaum ausgleichen kann. Das war schon immer so und daran wird sich auch nie etwas ändern. Ich glaube, dass ich mich davor fürchte dich zu berühren, aus Angst dich verletzen zu können. William jedoch ist da ganz anders. Er hat keinerlei Hemmungen und schreitet stets selbstsicher zur Tat. Ich wollte nicht, dass du unsere wahren, erbarmungslosen Persönlichkeiten siehst. Zwar magst du meinem Bruder deine Treue geschworen haben, doch wirst du immer frei bleiben. Du bist keine Gefangene und kannst jeder Zeit wieder in dein gewöhnliches Leben zurückkehren. Auch wenn dies wirklich ein Abschied bedeuten würde und ich etwas nachhelfen müsste… Dennoch bewundere ich deine Entschlossenheit. Und da du dich uns auf unserem dornigen Pfad angeschlossen hast, wünsche ich mir, dass du trotzdem glücklich wirst und das vor allem Will dich glücklich machen kann… Du weißt, dein großer Bruder eilt dir in der Not herbei. Für dich lasse ich alles stehen und liegen“, redete er einfühlsam auf sie ein.

„Mir hätte keiner ein größeres Geschenk machen können, als das ich nun täglich Zeit mit euch verbringen darf. Denn die meiste Zeit meines Lebens, habe ich ein unterwürfiges Dasein geführt. Bin mit knurrendem Magen eingeschlafen und noch hungriger wieder aufgewacht. Nie hörte ich auch nur ein freundliches Wort. Gewalt und Beschimpfungen standen an der Tagesordnung… Bereits jetzt habt ihr mir so viel Güte entgegengebracht, dass falls ich heute meinen letzten Tag leben sollte, ich friedlich von dannen ziehen könnte. Möge es mir auch nicht erlaubt sein eine Bilderbuchehe zu führen, in meinen Träumen wird mein Leben stets perfekt sein…“, sprach Miceyla voller Dankbarkeit und blickte melancholisch in ihr Spiegelbild. Albert in seinem vornehmen Anzug, stellte sich dicht neben sie. Außenstehende hätten nun angenommen, sie beide seien ein Brautpaar. Es erinnerte sie ein wenig daran, wie sie damals im Eingangsbereich des Anwesens, mit ihm vor dem Spiegel stand. Und jetzt ist aus ihr eine Braut geworden. Sie konnte es wahrlich selbst kaum glauben, wie eine kurze Begegnung auf einem Marktplatz, ein ganzes Leben verändern konnte.

„Träume sind etwas Wundervolles. In Träumen können wir mit der Person zusammen sein, die wir am meisten lieben. Dort gibt es keine Grenzen und niemand wird es einem verbieten. Wenige Augenblicke des Glücks auskosten, ehe man in der trostlosen Realität erwacht. Dann lass uns träumen, meine liebe Eisblume. Solange wir an diesen abscheulichen Teufelskreislauf gefesselt sind, der sich das Leben nennt…“, hauchte Albert mit einer solchen Beharrlichkeit, dass ihr das Blut in den Adern gefror. Plötzlich war seine Sanftmütigkeit verschollen. Sie sah einen verborgen schmerzvollen Ausdruck in seinen Augen, als würde an ihr ein Feuer lodern, an dem er sich verbrannte und seine eigenen Gefühle beklagen, die ihn innerlich ausmerzten. `Nein…nein… Albert, sage mir nicht das du… Die ganze Zeit über dachte ich, so wie du dich mir gegenüber verhältst, sei deine eigene Art, wie du mit allen Frauen umgehst… Wie konnte ich nur so blind sein… Hast etwa ernsthafte Gefühle für mich…? Aber ich…liebe William…` Es kam ihr vor, als würde die gesamte Welt sich um sie herum drehen und sie zu Boden werfen. Er konnte anhand ihrer erschütterten Reaktion erkennen, dass sie die versteckte Botschaft seiner Worte verstanden hatte und lächelte zufrieden.

„Wir sehen uns gleich. Dein Bräutigam erwartet mich…“, verabschiedete er sich nun wieder in einem liebevollen Tonfall und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf das Haar. Anschließend machte er schnurstracks kehrt und verließ den Raum. Sie hasste sich selbst dafür, dass sie es nicht fertigbrachte ihm etwas zu erwidern und einfach nur wie eine verlassene Seele schweigend dastand. Energisch biss die sich auf die Lippe, um ihre Tränen zurückzuhalten. Unter keinen Umständen, wollte sie mit einem verweinten Gesicht vor den Altar treten. `Warum hast du mir dies gerade unmittelbar vor der Trauung gesagt? Was wolltest du damit bezwecken…?` Sie würde auf die Schnelle, keine Antworten auf ihre Grübeleien erhalten. Also entschied sie vernünftiger Weise, mit Emily zusammen die Kutsche aufzusuchen. `Du heiratest heute den Mann den du liebst und hast nun zwei Brüder, daher lächle!`, zwang Miceyla sich in Gedanken und versuchte ihre Anspannung durch einen ruhigen Atem zu lockern.

„Ah, da bist du schon! Dann können wir ja los. Komm, ich helfe dir.“ Emily stand ihr nun wieder hilfsbereit zur Seite und stieg mit ihr in die Kutsche, die Louis persönlich fuhr. Jetzt befand sie sich auf geradem Wege in Richtung Kirche und ihre Nervosität stieg.

„Bitte sehr, dein Brautstrauß. Du hast dir wirklich hübsche Blumen ausgesucht.“ Lächelnd überreichte Emily ihr den Blumenstrauß. Träumerisch betrachtete Miceyla die rosafarbenen Rosen.

„Freundliche Farben beschwichtigen das Gemüt…“, murmelte sie und ehe sie sich versah, war die Kutsche auch schon an der Kirche angekommen. Die Kutschfahrt kam ihr unnatürlich kurz vor. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie ruhig noch ein Weilchen umherfahren können. Doch nun war der Augenblick der Wahrheit gekommen.

„Ich gehe dann schon mal hinein, bis gleich. Du siehst im Freien bei Tageslicht noch zauberhafter aus“, sprach Emily bestärkend und hüpfte davon. Sie blickte hinauf zu dem beinahe klaren Himmel und genoss einen letzten Moment der Stille an der frischen Luft. Da gesellte sich Louis zu ihr.

„Bist du soweit, können wir hineingehen?“, fragte er gelassen ohne es eilig zu haben. Er war heute verdächtig höflich zu ihr. Aber es hätte auch gegen die guten Sitten verstoßen, wäre er dies nicht.

„Ja, lass uns gehen, Louis“, sagte Miceyla mit fester Stimme und hakte sich bei ihm ein. Die Kirche besaß einen gepflegten Vorgarten, durch den sie in einem gemächlichen Tempo hindurchschritten. Auf einmal zögerte sie doch noch kurzfristig und stoppte.

„Warte…! In…Ordnung… Jetzt bin ich wirklich soweit!“

„Ganz sicher?“, wollte er sichergehen und grinste. Entschlossen nickte sie ihm als Antwort zu und betrat mit ihm die große Halle der Kirche. Es war ein magischer Moment. Die Blicke aller Anwesenden waren auf sie gerichtet und jeder schien bei ihrer Erscheinung den Atem anzuhalten. So viele Leute die sie nicht kannte, jedoch waren nur freundliche Gesichter zu entdecken. Und was sie noch viel fröhlicher stimmte war, dass der Adel Seite an Seite mit gewöhnlichen Bürgern zusammensaß. Noch einmal dachte Miceyla an den Ball zurück und an all die Erlebnisse, welche sie durchlebt hatte, seit sie die Brüder der Familie Moriarty kennenlernte. Durch all dies, fühlte sie sich für ihren Hochzeitstag vorbereitet und für die unbekannten Abenteuer, die in der nahen und fernen Zukunft verborgen lagen. Allmählich richtete Miceyla ihren Blick geradeaus und ihre komplette Aufmerksamkeit fiel auf ihren William, der vorne am Altar stand und sie sofort mit einem strahlenden Lächeln ansah. Da wartete er auf sie, ihr Prinz im schwarzen Anzug. Das Herz pochte wie wild in ihrer Brust. Nun sah er sie das erste Mal in ihrem Brautkleid. John saß in einen der vorderen Reihen und winkte ihr unauffällig zu. Sie lächelte kurz in seine Richtung. `Natürlich ist er ohne Sherlock hier…´, dachte sie feststellend, war allerdings nicht allzu enttäuscht darüber, da es sie keineswegs überraschte. Ganz vorne stand Albert neben Moran und Fred. Alle waren makellos herausgeputzt. Wie ein Magnet zogen Alberts Augen ihre eigenen an. In seinem Blick lag die ihr bekannte Warmherzigkeit, doch seinen unterdrückten Schmerz konnte sie noch immer erkennen. Nicht lange hielt sie diesem brennenden Augenkontakt stand, von dem nur sie allein wusste, was er zu erzählen versuchte. Sie war darum bemüht, ihn für eine Weile gezwungenermaßen auszublenden, um nicht aus dem Konzept zu geraten. Wenn sie darüber nachdachte, war es um die Voraussetzung sehr schlecht bestellt, ein harmonisches neues Leben beginnen zu können. Nicht mehr lange und sie hätte zwei Stiefbrüder. Der eine hegte sehnsüchtige, romantische Gefühle für sie und der andere wiederum hegte einen verachtenden, tiefen Groll ihr gegenüber. Plötzlich musste sie sich eingestehen, dass Sherlock gar nicht mal so unrecht, mit seinen pessimistischen Einwänden gehabt hatte. Doch Miceyla würde alles ertragen, um an Williams Seite sein zu können. Egal ob sie gegen den schlimmsten Sturm ankämpfen oder durch lodernde Flammen laufen müsste. Nichts war mächtig genug, um ihre klare Sicht rauben zu können, damit sie immer wieder zu ihrem Liebsten zurückfand. Mit erhobenem Haupt schritt sie vor den Altar, während leise Orgelmusik im Hintergrund spielte und kam neben William zum Stehen.

„Du siehst traumhaft schön aus…“, flüsterte er mit liebvollem Lächeln. Bei dieser ganzen Wehmut in seinen Augen, die am liebsten die Zeit angehalten hätte, musste sie sich am Riemen reißen, ihm nicht um den Hals zu fallen. Emily nahm ihr den Brautstrauß ab und Louis gesellte sich an die Seite von Albert. Der Pfarrer vor ihnen begann mit seiner Rede und alle hörten wie gebannt zu. Nur Miceyla schien sich nicht wirklich darauf konzentrieren zu können und starrte mit einem hektischen Herzschlag geradeaus.

„…Dann ist jetzt die Möglichkeit für das Brautpaar, sich ein paar letzte Worte von der Seele zu sprechen, bevor ihr Gelübde die Ehe besiegelt“, sprach er bedachtsam und betonend. Wachgerüttelt wandte Miceyla sich William zu und nahm zärtlich seine Hand.

„Ich beginne… William, es gibt keinen Menschen, der mich so gut versteht wie du. Und dabei liegt unser erstes Treffen noch nicht lange zurück. Nie zu träumen hätte ich gewagt, nun hier mit dir an diesem besonderen Ort zu stehen. Alles was ich mir wünsche ist, dass wir den heutigen Tag niemals vergessen werden und jede noch so kleine gemeinsame Erinnerung wertschätzen. Denn schließlich lebt man nur einmal… Ich werde dich immer lieben. Kein Schmerz und keine Trauer sind stark genug, um mir meine Gefühle für dich zu rauben. Egal wo du bist, werde auch ich sein. Ich bin stets bei dir. Auch wenn es dir mal schlecht gehen sollte, halte ich deine Hand und werde sie nicht loslassen, komme was wolle.“

„Meine liebste Miceyla, du bist mein strahlendes Licht, mein Sonnenschein, der mein Leben um einiges bereichert hat. Es ist eines der wertvollsten Güter, sich vollstes Vertrauen entgegen zu bringen und sich in schwierigen Zeiten zu unterstützen. Wir sind beide zwei unabhängige Individuen und wählen den Weg, der uns in ein freies und erfülltes Leben führt. Wir bilden unsere eigenen Meinungen und errichten zusammen eine glorreiche Zukunft, für die es sich zu leben lohnt. Warum sich nach dem Unmöglichen sehnen, wenn wir doch so viel erschaffen können, dass die Welt in Staunen versetzt. Meine Liebste, bis zu meinem letzten Atemzug gehört mein Herz dir allein…“, sprach William mit felsenfester Stimme und sie beide lächelten sich mit sachter Schwermut an. Denn sie wussten, die Bedeutung seiner Worte wiegte schwerer, als es den Anschein hatte.

„…Sollte es irgendjemand geben, der Einspruch gegen den Bund dieser zwei jungen Menschen erhebt, so möge er nun sprechen oder auf ewig schweigen“, setzte der Pfarrer seine Rede fort, als Miceyla und William sich das Ja-Wort gegeben hatten. Erleichtert stellte sie fest, dass es mucksmäuschenstill blieb und sie durften sich ohne eine Unterbrechung, gegenseitig die leuchtend goldenen Eheringe an den Finger stecken. Der Beweis dafür, dass sie von jetzt an endgültig zusammengehörten.

„Hiermit erkläre ich sie beide offiziell zu Mann und Frau…“ Der Pfarrer endete mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seine Rede. Endlich war es William erlaubt, seine geliebte Miceyla zu küssen. Sie schlossen gleichzeitig die Augen, in dem Moment als ihre Lippen aufeinandertrafen. Es war ein Kuss der ihr Gelübde besiegelte und den Beginn ihres unabwendbaren Schicksals einleitete…

Scherlock stand außerhalb der Kirche, an einer Hausmauer angelehnt und blieb unbemerkt, als das frisch vermählte Ehepaar aus dem Eingangstor trat, von der Menge umjubelt. Immer mehr Passanten stoppten mit bewundernden Blicken. Einer von ihnen kam neben Sherlock zum Stehen. In den trüben Augen des Mannes, spiegelte sich Neid und Wohlwollen wider.

„Ach, was für ein herrlicher Anblick… Ist das nicht himmlisch? Junges Blut, dass in trauter Zweisamkeit ein neues Leben beginnt…“, meinte dieser mit kratziger Stimme.

„Finden Sie? Für mich gleicht es eher dem Sprung ins Unglück. Es gab da mal einen Ehemann, der hat seine eigene Frau in einem brennenden Zimmer eingeschlossen und ihre verkohlte Leiche anschließend in die Themse geworfen. Alles nur weil die erzürnte Dame, den Alkohol ihres faulen Gatten vor ihm versteckt hielt. Und dann wäre da noch jene bestialische Frau, die ihre eigenen Kinder…“, erzählte Sherlock munter und hielt inne, als der schockierte Mann eilig das Weite suchte. ´Ha, ha, meine Horrorehegeschichten will wohl keiner hören. Na…was für eine tragische Geschichte, darf ich von euch beiden in meiner Sammlung aufnehmen…? Jedenfalls wird sie alle bisherigen übertreffen. Ein facettenreiches Spektakel zwischen Licht und Schatten…´, dachte er beschließend und blickte Miceyla und William hinterher, wie sie in ihrer Kutsche, die von vier Schimmeln gezogen wurde, davonfuhren.

„Lang lebe das Brautpaar…“, murmelte Sherlock, während er zurückschlenderte und sich geruhsam eine Zigarette anzündete.
 

Später Abend war es geworden. Langsam kehrte Ruhe ein und bei Miceyla machte sich die Müdigkeit, nach einem langen Tag der Feier bemerkbar.

„William, ich habe soeben ein Telegramm erhalten. Die Antwort ist negativ…“, kam plötzlich Albert mit ernster Miene herbei und übermittelte seine dringende Nachricht.

„Wie ich es erwartet hatte. Ich werde dann morgen bereits sehr früh aufbrechen. Schicke noch bitte Treffpunkt und Uhrzeit an besagte Person zurück. Alles Weitere regele ich“, sagte William daraufhin mit einem entspannten Lächeln. Zwar wusste sie nicht worum genau es ging, jedoch konnte sie deutlich heraushören, dass es sich bestimmt um einen ihrer Aufträge handeln musste.

„Das trifft sich gut. Ich begleite dich, Bruder. Tja, sieht wohl ganz danach aus, als fielen die fröhlichen Flitterwochen ins Wasser“, spottete Louis und grinste höhnisch. Miceyla musste sich eine scharfe Bemerkung verkneifen.

„Louis… Verzeih meine Liebe, dass der Zeitpunkt etwas ungelegen kommt. Sollte alles reibungslos verlaufen, bin ich noch vor morgen Abend wieder hier. Gut, sollen wir rasch das Wichtigste vorbereiten?“, entschuldigte William sich bei ihr und verschwand kurz darauf mit seinen zwei Brüdern. Miceyla wurde allein zurückgelassen. Sie stand da als wäre sie ein verirrtes Wesen, an dem Abend ihrer eigenen Hochzeit. Sollte dies von nun an Gang und Gebe sein, dass sie wie ein artiges Schoßhündchen darauf wartete, bis William sie dazu aufforderte etwas zu tun? Und sollte sie die führsorgliche Hausfrau spielen, während ihr Ehemann und dessen Brüder draußen mit der Gefahr konfrontiert waren? Nein, das war garantiert das Letzte was sie wollte. Ihr Streben war es, eigenständig zu handeln und sich weiterzuentwickeln. Und sie wusste auch schon, wie sie am besten damit beginnen konnte. Zügig lief Miceyla die Treppenstufen des Anwesens hinunter und suchte Moran auf, der leise summend die Reste von der großen Tafel plünderte.

„Hm…? Oh, du bist es bloß. Was soll der kritische Blick?! Ich stehle hier kein Essen!“, verteidigte er seine Unschuld, ohne sich dabei aufhalten zu lassen.

„Moran… Ich muss dich um etwas bitten…“
 

Liebes Tagebuch, 21.3.1880
 

von heute an werde ich an einem neuen Ort Tagebuch führen. William hat mir den großen Schreibtisch in unserem Schlafzimmer überlassen. Ich hatte noch nie so viel Platz an einem Tisch. Hier kann ich mich ordentlich breit machen, he, he. Sogar ein eigenes Ankleidezimmer habe ich. Unsere Hochzeit heute war ein prägendes Ereignis. Irgendwie fühlt es sich ein wenig seltsam an, dass es für Emily und John eine ganz gewöhnliche Feier war, ohne das sie wissen können, was sich bei uns im Hintergrund alles abspielt… Und Sherlock, wie er wohl über das alles wirklich denkt? Ich habe ihn heute nicht gesehen. Doch auch seine Gabe hat Grenzen. Solange er nicht auf einmal die Macht des Hellsehens entwickelt, wird er bei uns keine Spuren vorfinden, die auf Verbrechen des Meisterverbrechers hindeuten. Ach ja, es gab tatsächlich heute einen klitzekleinen Zwischenfall. Mycroft Holmes hat sich anonym unter die Gäste gemischt! Er stand nicht auf der Gästeliste. Wollte er uns etwa ausspionieren? Nicht lange hat es gedauert, bis Will Wind davon bekam. Mycroft ergriff dann ruckzuck die Flucht und Fred sollte für eine Weile seine Verfolgung aufnehmen, um sicherzugehen das er nicht wieder zurückkam. Dieser Mycroft ist mir noch immer ein Rätsel… Allerdings scheint er Sherlock recht gern zu haben, also kann es sich bei ihm nur um einen guten Menschen handeln. Die ganze Zeit seit heute Vormittag, versuche ich mich hartnäckig von einer gewissen Sache abzulenken… Und zwar von Alberts indirektem Liebesgeständnis. Ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll… Auch wenn er es nicht offen ausgesprochen hat, ist es deutlicher gewesen als all das, was er bislang zu mir gesagt hatte. William wird von seinen geheimen Gefühlen wissen, denn er kennt ihn besser als jeder andere. Es ist furchtbar… Ich hoffte Teil einer glücklichen Familie werden zu können. Doch es sieht ganz danach aus, dass wir uns am Ende alle gegenseitig verletzen… Aber dennoch wird sich kaum etwas an der Beharrlichkeit der drei Brüder ändern. Und auch ich muss voranschreiten und hart an mir arbeiten! Ohne das William es aussprechen muss weiß ich, dass er genau dies von mir erwartet. Es ist nicht damit getan, dass ich hier sitze und darauf warte, dass sich alles zum Guten wendet und stur Aufträge ausführe. Nein! Ich werde eigenständig darüber entscheiden, wie ich Will am besten zur Hand gehen kann. Nur der eigene Fortschritt erzeugt Anerkennung und bewirkt etwas in den Herzen der Menschen. Jetzt habe ich die einmalige Chance, meinen unerschütterlichen Willen unter Beweis zu stellen.
 

Rosenprinz
 

Weiße Rose, eingebettet in deiner Geborgenheit,

engelsgleich schwebe ich dahin in meinem reinen Kleid.

Freudentränen fallen wie sanfte Federn auf den Schnee,

meine Innere Kälte nimmt Abschied und schmilzt zu einem klaren See.
 

Deine Wärme strahlt zu mir als ein zarter Lichtschleier,

zwei Herzen vereinen sich auf einer heiteren Feier.

Unser neues Glück leuchtet wie funkelnde Diamanten,

es ist mehr als nur ein Schicksal, welches wir fanden.
 

Lass uns jeden führen in ein schönes Leben

und allen einen Teil der Hoffnung zurückgeben.

Den Weg in die Zukunft betreten die zerbrechlichen Seelen,

an Mut und Stärke wird es ihnen garantiert nie fehlen.
 

Freude steht denen zu, die hart dafür gekämpft haben

und mit erhobenem Haupt weiterleben, trotz der Narben.

Nun erscheint sie mir gar nicht mehr so trist, die Welt,

geliebter Prinz, du bist mein beschützender Held.

Vergessene Helden des Krieges

Da Moran nicht wusste, worauf Miceyla hinauswollte, blickte er nur verdutzt drein.

„Das ist ein ziemlich gefährlicher Blick… So solltest du nicht einfach einen Mann ansehen. Was wenn William das mitbekommt, der zieht mir das Fell über die Ohren! Also, womit kann ich dir dienen?“, warnte er sie leise und sah verstohlen um sich.

„Bringe mir bitte das richtige Kämpfen bei! Sprich, wie ich mich in unterschiedlichen Situationen korrekt selbst verteidige. Und den Umgang mit diversen Waffen. Theoretisches Wissen besitze ich derweil genug. Ich will nicht länger als Amateurin abgestempelt werden. Auch wenn ich es bei brenzligen Gefahren irgendwie schaffe mich durchzuschlagen, wird dies nicht ausreichen, falls ich mal mit einem Gegner konfrontiert bin, der weitaus erfahrener ist als ich. Auf Hilfe kann ich mich nicht ständig verlassen“, sprach Miceyla fest entschlossen und hoffte inständig auf seine Zustimmung. Jemand der so kampferprobt war wie Moran, könnte ihr einiges beibringen.

„Ach, davon hast du gesprochen…“, murmelte er und legte nachdenklich den Kopf schräg.

„Was hattest du denn schon wieder gedacht? Trottel… Also, wie lautet deine Antwort?“, hakte sie verbissen nach.

„Hach… Ich weiß ja nicht so recht…“, zögerte er unentschlossen.

„Komm schon, gib dir einen Ruck! Ich sehe nicht wirklich, dass du hier etwas Besseres zu tun hättest. Etwas Training käme auch dir zugute. Denn wenn du weiterhin unbekümmert vor dich hin futterst, wird aus dir bald ein dicker, fetter Rollmops, der für Will keine Hilfe mehr ist“, überzeugte sie ihn weiter mit Ironie.

„Hey! Pass auf was du sagst! Ich wette du hast noch keinen Mann gesehen, der durchtrainierter ist als ich! Du kannst ein ganz schön vorlautes Mundwerk haben… Na schön… Ich gebe zu, dass du die nötigen Voraussetzungen erfüllst. Davon durfte ich mich ja höchst persönlich überzeugen. Aus diesen Ansätzen, lässt sich bestimmt einiges rausholen. Ein hoffnungsloser Fall bist du schon mal nicht. Gut, dann werde ich dich unter meine Fittiche nehmen, da ich deine Beharrlichkeit respektiere. Doch ich sage es dir bereits gleich im Voraus, Rücksicht kannst du nicht von mir erwarten, nur weil du eine Frau bist. Und meinen Anweisungen werden Folge geleistet! Auch wenn du nun in der Öffentlichkeit mir höhergestellt bist und ich als dein Diener fungieren muss. Bei unserem privaten Training, wird ohne Ausnahme mein Soldatenrang respektiert. Wenn ich dich schon in den Grundtechniken des Militärs unterweise, dann nur ernsthaft und vernünftig. Trotzdem müssen wir dein Training, erst noch von Will absegnen lassen. Soweit alles verstanden?“, setzte Moran mit verantwortungsbewusster Miene voraus. In Miceyla begann es vor lauter Vorfreude wie wild zu kribbeln.

„Habe verstanden, Sir! Ich bin mir garantiert für keine Anstrengung zu schade! Wann geht es los?“, erkundigte sie sich erwartungsvoll und war so motiviert wie schon lange nicht mehr.

„Na jetzt mach aber mal halblang! Du hast heute gerade erst geheiratet und willst dich gleich im Dreck wälzen. Was für ein Wirbelwind du doch bist, ha, ha! Denke mal, dass wir übermorgen beginnen können. Treffen wir uns nach dem Frühstück, vor dem Tor des Anwesens. Ich kenne da nämlich einen netten Ort, an dem es sich prima ungestört trainieren lässt“, meinte er und machte sich wieder eifrig an dem Resteessen zu schaffen.

„Wunderbar! Ich danke dir schon mal vielmals für deine aufopfernde Zeit!“ `Endlich kein untätiges rumsitzen mehr und Louis hat mir auch langsam das Nötigste erklärt.` Bester Laune lief sie wieder hinauf. Etwas wehmütig hängte Miceyla ihr Brautkleid in den Schrank und setzte sich kurz darauf, an ihren neuen Schreibtisch im Schlafzimmer. `Es wäre wundervoll, wenn ich mich hier bald vollwertig heimisch fühlen werde. Ein wahres Zuhause, der Ort an dem man gerne zurückkehrt…`, dachte sie verträumt und zündete sich eine Kerze an. Da trat William ganz leise herein.

„Bin wieder da, meine Liebe… Hm, du führst Tagebuch. Das passt zu dir“, sagte er lächelnd und erhaschte einen kurzen Blick auf ihr aufgeklapptes Buch.

„J-ja, dies tue ich fast schon seitdem ich schreiben kann. Darin gehen Gefühle und Gedanken niemals verloren… Aber vielleicht ist das nun eher ein Verhängnis für uns… Ich meine, es ist alles sehr ehrlich geschrieben. Das darf nicht in die falschen Hände geraten“, sprach sie verunsichert, als ob sie eine Sünde begehen würde.

„Das finde ich nicht. Ganz im Gegenteil, es ist klasse das jemand unsere Pläne von Anfang bis zum Ende festhält. Die späteren Generationen werden Augen machen, falls sie dies lesen. Auf diese Weise wird dein Name unsterblich. Es ist doch toll, ein Hinterbleibsel zurückzulassen, dass auf ewig Gesprächsthema sein wird. Solltest du dies mit uns gemeinsam schaffen, werden wir alle praktisch zu einer Legende. Die einen lobpreisen uns, die anderen verabscheuen uns wiederum. Und ich hatte die Idee, dass wir beide von jetzt an jede Woche zwei Tage in Durham verbringen, wenn ich dort an der Universität arbeite. Nur du und ich in unserem beschaulichen Anwesen dort. Das ist doch kein schlechter Kompromiss. Denn ich weiß, dass es für dich auch nicht immer einfach sein wird, wenn hier so viel los ist… Das bin ich dir schuldig. Wenigstens diese Zeit, werde ich voll und ganz dir widmen“, versprach er ihr liebevoll. Lächelnd erhob sie sich von ihrem Stuhl.

„Aber Will, du bist mir doch überhaupt gar nichts schuldig. Und dennoch macht es mich sehr glücklich. Etwas Abstand von dem ganzen Trubel, wird dir und mir sehr guttun. Ich bin bereit für alles was auf uns zukommt. Ich scheue keine Anstrengung und keine Gefahr. Bei dir fühle ich mich sicher, du schenkst mir Mut und Kraft…mein Liebster…“ Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, nahm William sie zärtlich in die Arme. Sie schloss die Augen und genoss dabei die Geborgenheit und seine vertraute Wärme.
 

Die Vögel zwitscherten munter und die Schatten der am Himmel vorüberziehenden Wolken, wanderten gemächlich über den Boden. Miceyla wartete am Tor des Anwesens auf Moran und marschierte motiviert auf und ab.

„Ich sehe du bist pünktlich. Wunderbar, dann Abmarsch!... Und mal so nebenbei, siehst echt schick aus!“, sprach Moran, der sie erreichte und sie grinsend musterte.

„Nicht wahr! Habe mir extra eine Hose zugelegt, damit ich in meinen Bewegungen nicht eingeschränkt bin“, erwiderte sie gespielt prahlerisch und konnte ihm die Belustigung ansehen. Moran schlug ein forsches Tempo ein und beide verließen das Grundstück auf der hinteren Seite. Sie lief mit ihm über jenes Feld, wo sie schon einmal mit William entlangspaziert war. Doch nun liefen sie noch weiter, auf ein großes Waldstück in der Ferne zu.

„Was hast du denn alles da in deinen Sack gepackt? Sieht richtig schwer aus. Hoffentlich keine Folterinstrumente, ha, ha“, meinte Miceyla lachend auf dem Weg und klopfte auf seinen prall gefüllten Beutel, den er auf seinem Rücken trug.

„Für dich nur das feinste Spielzeug, hi, hi“, antwortete er bloß und lachte verschwörerisch. Nach kurzer Zeit hatten sie den Waldrand erreicht und anstatt einen Weg zu nehmen, führte er sie querfeldein, mitten durch das Dickicht. Artig folgte sie ihm und musste angestrengt darauf achten, nicht an irgendwelchen Sträuchern oder Dornen hängen zu bleiben. Ewigkeiten war es her, seitdem Miceyla das letzte Mal mitten durch einen Wald lief. Das Leben in der Großstadt hatte sie ziemlich hölzern werden lassen. Doch rasch waren all ihre Sinne geweckt und sie genoss das aufregende Gefühl, nicht zu wissen was sie erwartete. Miceyla vertraute Moran, der genau zu wissen schien, wohin sie laufen mussten. Obwohl es immer schwieriger wurde, sich durch das dichte Gestrüpp zu zwängen, achtete er nicht darauf, ob sie mit ihm mithalten konnte.

„Hör mal… Kommen wir heute noch an? Existiert dein geheimer Ort überhaupt?“, wollte sie sich vergewissern, wie lange sie noch diesen Hindernisparkour durchhalten musste.

„Nicht jammern! Wir sind fast da“, rief er in einem unbekümmerten Ton. Und tatsächlich, sie erreichte hinter ihm eine große Lichtung, mit einer Wiese und einer kleinen Holzhütte.

„Ui… Wer hätte gedacht, dass du mich an einen solch märchenhaften Ort führen würdest. Vor längerer Zeit hast du hier Schießübungen gemacht, nicht wahr? Die Spuren sind nicht zu übersehen“, sagte sie strahlend und blickte sich neugierig um.

„Ja. Mensch bin ich lange nicht mehr hier gewesen… Und schau an, die ganzen Zielscheiben haben die letzten Stürme überlebt. Hier drinnen ist auch noch alles beim Alten. Dieses lauschige Plätzchen, kann dir zukünftig als Rückzugsort dienen. Komme hier her, wann immer du ungestört sein willst oder unser Querkopftrio dich zu sehr piesackt. Nicht einmal Jäger verirren sich zu diesem Ort“, meinte Moran und öffnete mit einem nostalgischen Blick die knarzende Hüttentür. Da entdeckte Miceyla einen schmalen Pfad, der in die Richtung führte, aus der sie gekommen waren.

„He! Es gibt also doch einen vernünftigen Weg! Ich glaube du bist hier derjenige, der mich am meisten quält!“, beschwerte sie sich lautstark. Moran wandte sich ihr mit zorniger Miene zu.

„Denkst du etwa, vor dir liegt stets ein ausgerollter Teppich bereit und hält dir gleichzeitig die ganze Gefahr vom Leib? Wenn du nicht in unwegsamen Geländen zurechtkommst, ist das dein eigener Untergang. Jeder Feind wird diese Schwäche ausnutzen,“

„Selbstverständlich ist mir das bewusst! Wenn es darauf ankäme, könnte ich ganze Berge besteigen, bis mir die blutigen Hände abfallen!“, konterte sie hastig. `Sein Training hat längst begonnen! Ich sollte mich mehr bemühen!`, zwang sie sich in Gedanken und nahm vor ihm eine kerzengerade Haltung ein.

„Sehr schön. Bevor du mir Hand an eine Waffe legst, werde ich dich erstmal ordentlich zum Schwitzen bringen. Auf geht’s, umrunde zehn Mal die Wiese. Aber in einem zügigen Lauftempo!“, befahl er mit einer kurzen Kopfbewegung, in Richtung jener weitläufig begrünten Fläche.

„Och nö… Die Wiese ist riesig und…“, jammerte sie leise. Da zückte Moran einen Revolver und schoss ihr unmittelbar neben die Füße. Verschreckt wich Miceyla zur Seite.

„Hey! Das petze ich William!“

„Du brauchst gar nichts zu petzen. Das war lediglich eine Platzpatrone. Fünfzehn Runden. Bei jeder Beschwerde werden es fünf Runden mehr“, bestimmte er strikt. Ohne weitere Widerworte rannte sie los und hielt sich an dem äußeren Rand der Wiese. Moran beobachtete sie dabei mit Adleraugen, dass sie auch ja keine Abkürzung nahm oder langsamer wurde. Er war jeder Zeit dazu bereit, erneut in ihre Richtung zu schießen. Als sie die fünfzehnte Runde endlich beendet hatte, stützte sie sich keuchend an einem Baumstamm ab.

„Gut, dann machen wir direkt weiter. Ich lasse dich mit jeder der unterschiedlichen Waffen,

die ich mitgebracht habe, mehrmals schießen. Damit du auch mal den richtigen Unterschied zwischen Revolvern und Pistolen kennenlernst. Siehst du die Zielscheiben dort an den Bäumen? Versuche sie aus verschiedenen Distanzen zu treffen“, erklärte er gelassen und deutete mit dem Finger auf die verschiedenen Zielscheiben, welche leicht abgenutzt waren.

„Das wird aber schwierig mit meiner momentanen Erschöpfung. Mit schwachen Händen, werde ich wohl kaum vernünftig zielen können“, meinte sie mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck.

„Du musst in jeder Situation dein Ziel treffen können. Gleichgültig ob deine Hände taub oder deine Augen mit Blut verschmiert sind. Stell dir vor, du wurdest an den Rand des Todes getrieben und hast nur noch eine Kugel übrig. Dieser eine Schuss entscheidet ob du überlebst oder nicht. Vielleicht rettest du damit sogar das Leben eines Kameraden. Egal wie heikel die Lage ist, bewahre stets einen kühlen Kopf und eine noch viel ruhigere Hand.“ Mit diesen Worten nahm er sich ein Gewehr, legte es an und schoss unmittelbar hintereinander, drei Schüsse ab. Bei jeder der Zielscheiben traf er genau in die Mitte.

„Oh…! Welch exzellente Treffsicherheit! Ich applaudiere! Na da will ich mich auch mal darin versuchen.“ Miceyla kannte längst sein überragendes Können im Umgang mit Schusswaffen und dennoch fand sie es unterhaltsam ihm zuzusehen. Obwohl sie eigentlich jene Tötungswaffen verabscheute, bekam sie Lust, auch ein paar Übungsschüsse zu machen, solange sie bloß auf hölzerne Zielscheiben zielte. Entschlossen griff sie nach einem Revolver, den sie von Morans mitgebrachten Waffen ausgewählt hatte und spielte damit etwas in der Hand herum.

„Hey, ziel damit nicht auf mich! Das ist kein Spielzeug! Ich glaube Ernstfälle sind besser geeignet für dich, weil du dann nicht auf die Idee kommen kannst, Blödsinn zu treiben“, rief Moran leicht genervt und wich in den toten Winkel ihres Schussfeldes.

„Du hast mich doch selbst in Richmond dafür gelobt, dass ich zielen könnte, schon vergessen? Und ich denke du warst so rücksichtsvoll und hast jede der Übungswaffen mit Platzpatronen geladen, da du keine kostbare Munition verschwenden willst“, meinte sie grinsend.

„Ja, ja, schön wenn dir das klar geworden ist, Schlaumeier. Trotzdem ist es deshalb noch lange nicht ungefährlich, jemanden direkt zu treffen. Und vielleicht war das im Schloss des Militärheinis, bloß ein glücklicher Zufall und du hast einen guten Tag erwischt. Außerdem siehst du mir mit deiner zerbrechlichen Statur nicht gerade danach aus, als ob aus dir über Nacht eine Schießkünstlerin wird…“, sprach Moran in einem leicht provozierenden Ton. Wortlos legte sie ihre Waffe zurück und riss ihm ohne Vorwarnung sein Gewehr aus der Hand.

„H-he! Was hast du damit vor?!“, schimpfte er und starrte sie perplex an. Etwas unbeholfen versuchte sie das Gewehr anzulegen und eine der Zielscheiben anzuvisieren. `Verdammt ist das Teil schwer… Aber jetzt blamier dich bloß nicht!` Sie biss mit einem konzentrierten Blick die Zähne zusammen und betätigte wie er es getan hatte, drei Mal hintereinander den Abzug. Nach dem Rückstoß taumelte sie kurz ein wenig nach hinten, jedoch formten sich ihre Lippen zu einem stolzen Lächeln. Zwar traf sie nicht wie Moran perfekt die Mitten, dennoch hatte sie ihre Ziele nicht verfehlt.

„Ha, ha! Nun hast du deine Tauglichkeit vollends unter Beweis gestellt. Ich gebe mich geschlagen. Na komm, ich nehme dir das Gewehr wieder ab, bevor dir die Arme abfallen“, sagte er lachend und nahm ihr mit einer Hand die schwere Waffe ab.

„Was hältst du von einer kleinen Pause? Ich will nicht, dass du gleich am ersten Tag so fix und fertig bist, sodass ich dich nach Hause tragen muss“, schlug er vor und legte das Gewehr ab. Anschließend war er auch schon gleich dabei, sich eine Zigarette anzuzünden.

„Das ist eine großartige Idee!“, erwiderte sie froh über seinen Vorschlag. Beide setzten sich jeweils auf einen Baumstumpf.

„Du…ich muss mich bei dir entschuldigen…“, murmelte Moran beinahe verlegen.

„Entschuldigen, wofür?“, fragte sie amüsiert über seinen plötzlich so kleinlauten Tonfall.

„Ich habe dich am Anfang nicht wirklich ernst genommen… Ich dachte mir, was schleppt Will uns denn da für ein treuherziges, kleines Gör an, dass er mal eben schnell in Londons Straßen aufgelesen hat. Im Gegensatz zu ihm, bin ich manchmal einfach nur blind. Also, es tut mir aufrichtig leid. Ich bin froh, dass du nun meine Kameradin bist“, gab er ehrlich zu und unterstrich seine Worte mit einem zaghaften Lächeln.

„Ach, deine Vorurteile finde ich sogar ganz verständlich. Es freut mich, dass ich dich umstimmen konnte und es ist lieb von dir, dass du dich entschuldigst. Ich schätze deine Aufrichtigkeit. Wenigstens bist du nicht so stur wie ein gewisser jemand…“

„Und sag mal, woher kommen dein sagenhaftes Reaktionsvermögen und deine Treffsicherheit? Das kann nicht bloß Anfängerglück sein. Selbst mit Talent müssen sogar wir Soldaten viel üben, um den korrekten Umgang mit einer Waffe zu beherrschen. William würde jetzt sicher erraten können, was dein kleines Geheimnis ist. Mir musst du da etwas mehr auf die Sprünge helfen. Also, spuck es schon aus“, hakte er neugierig nach.

„Na ja… Da steckt tatsächlich eine kleine Geschichte dahinter. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich früher als Kind gelernt habe, mit Pfeil und Bogen umzugehen. Es war eher unfreiwillig. Als ich eine Zeit lang auf mich alleingestellt war, wurde ich in etwas verwickelt, an das ich noch heute mit gemischten Gefühlen zurückdenke… Aber ich mag dich nicht mit meiner tristen Vergangenheit langweilen“, verriet Miceyla ihm gedankenversunken.

„Pfeil und Bogen? Das nenne ich mal außergewöhnlich für ein junges Mädchen. Und ganz auf dich allein gestellt? Deine Vergangenheit scheint alles andere als langweilig gewesen zu sein. Erzähle mir die Story ruhig. Ich bin kein so schlechter Zuhörer, wie ich vielleicht aussehen mag. Außerdem weiß ich bislang kaum etwas über dich“, ermutigte er sie interessiert. Es machte sie glücklich, dass Moran sich Zeit nahm um sie besser kennenzulernen. Das war eine ganz neue Erfahrung für sie, da sie meistens nur von Schnelllebigkeit und eigensinnigen Personen umgeben war. Jetzt hatte sie viele freundliche Menschen um sich, denen sie sich mit gutem Gewissen anvertrauen konnte.

„Noch nie zuvor habe ich jemandem davon erzählt. Jedoch erinnere ich mich an alles, als wäre es gerade erst gestern passiert. Zehn Jahre war ich alt und wurde ohne ein Wort von meinen Eltern, in einem kleinen heruntergekommenen Hause allein gelassen. Es fehlte uns an Geld und mich hatten sie praktisch geopfert… Für mich bedeutete dies allerdings eher eine neue Freiheit, schließlich musste ich keine Gewalt mehr erdulden. Dennoch, Sorgen hatte ich allemal. Es war der erste Monat, in dem ich mich selbstständig versorgen musste…“
 

„Oh nein… Es ist schon wieder alles angebrannt… Heute werde ich wohl abermals ohne etwas zu essen ins Bett gehen…“, klagte Miceyla, sank dabei missmutig zu Boden und wedelte den Qualm um sich herum weg. Da hörte sie plötzlich hastige Schritte hinter sich.

„Rück das Essen raus! Das ist ein Überfall!... Puh, was für ein Gestank.“ Erschrocken fuhr sie herum. Seit drei Wochen hatte sie keine Stimmen mehr gehört.

„W-wer seid ihr? Ich habe selbst nichts Essbares mehr bei mir…“, stotterte Miceyla kleinlaut und blickte ehrfürchtig eine kleine Gruppe von Kindern an, die mit Hacken und Steinschleudern bewaffnet waren. Sie alle sahen genauso verwahrlost und ausgezehrt aus, wie sie es war. Nur in den Augen des größten Jungen, leuchtete eine ungewöhnliche Entschlossenheit.

„Leben hier keine Erwachsenen mehr? Wo sind deine Eltern?“, fragte der Älteste und blickte sich prüfend um.

„Die sind fortgegangen… Seit ein paar Wochen lebe ich hier allein…“, antwortete sie und sah wie Besorgnis seiner Angriffslust wich.

„Ich verstehe… Und wie willst du dich von nun an ernähren? Du wirst krank ohne Nahrung und sauberes Wasser. Dann stirbst du irgendwann“, erinnerte der Junge sie an ihr baldiges Schicksal.

„Zur Not finde ich etwas Essbares auf den Feldern draußen…“

„Und im Winter? Das wird nicht funktionieren. Außerdem werden die Bauern aus dem Dorf ganz schnell dahinterkommen. Also schlag dir das lieber gleich aus dem Kopf. Wie heißt du überhaupt und wie alt bist du?“, konterte er unbarmherzig.

„Ich bin zehn und heiße Miceyla.“

„Dann wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben, als dich uns anzuschließen, wenn du überleben willst. Wir sind alle Waisenkinder. Ich heiße Finn und bin letzten Monat zwölf geworden. Da ich der Älteste bin, trage ich die Verantwortung für diese Kinder. Henry ist auch zehn. Lily ist acht, Theo sieben und Amelia ist mit fünf die Jüngste. Doch du darfst nur beitreten, wenn du unsere Regeln befolgst. Denn wir haben uns einen Eid geschworen und teilen unsere Beute immer gerecht auf. Und die Älteren beschützen die Jüngeren“, erklärte Finn ihr pflichtbewusst.

„Wenn ihr Waisenkinder seid, wo schlaft ihr dann eigentlich? Ich könnte euch ja anbieten, dieses kleine Haus mit mir zu teilen, doch hier ist nicht genug Platz für so viele Kinder. Und mit Beute meint ihr das Essen, welches ihr aus den Häusern stehlt?“, überlegte Miceyla und sah auf den staubigen Fußboden hinab.

„Bäh… In dieser Dreckshütte, wo mir bei Nacht Ratten die Zehen annagen, könnte ich kein Auge zu machen! Da schlafe ich lieber unter freiem Himmel. Die Bauern unten im Dorf leben in Saus und Braus. Schau dir die Fettklöpse doch mal an. Jede Woche beliefern die London und verdienen sich eine goldene Nase. Und vor den reichen Schnöseln in der Stadt, tun sie so scheinheilig als seien sie bitterarm. Alles Lug und Betrug! Deren Angestellte und Mägde sind die waren Notleidenden. Schuften pausenlos auf dem Feld, während ihre Herren sich fettfressen. Daher rauben wir so viel wie wir nur können. Dazu ist mir jedes Mittel recht!“, blaffte Finn zähneknirschend und schwang seine spitze Hacke einmal energisch durch die Luft.

„D-dann seid ihr ja Verbrecher! Mit euch will ich besser nichts zu tun haben!“, warf Miceyla ihm kühn an den Kopf. Sie konnte sich keine weiteren Probleme erlauben.

„Gut, wenn du lieber auf deinen langsamen Tod warten willst, bitteschön! Von uns kannst du dir keine Hilfe erhoffen… Kommt Freunde, wir gehen!“ Die fünf Kinder kehrten ihr den Rücken zu und liefen wortlos aus der Küche, in der es noch immer leicht qualmte. Miceyla trippelte unentschlossen auf der Stelle. `War es richtig die Kinder wegzuschicken…? Ich meine, was habe ich schon zu verlieren? Vielleicht wäre dies eine gute Gelegenheit, um endlich von hier fortzukommen. Ich will diese schrecklichen Erinnerungen hinter mir lassen und einen Neuanfang wagen! Auch wenn von nun an alles noch viel schwerer werden wird… Jedoch bin ich am Leben, daher darf ich nicht einfach aufgeben. Hierbleiben und warten rettet mich nicht aus meiner jetzigen Situation. Wenn die grausame Welt dort draußen nach mir ruft, nehme ich eben den Kampf mit ihr auf!` Hastig lief sie in ein benachbartes Zimmer und packte ihr einziges leicht zerfleddertes Buch, in welches sie häufig schrieb, zusammen mit einem Stift in eine kleine Beuteltasche und stürmte geschwind aus dem Haus.

„Finn! Warte!“, rief sie so laut wie sie nur konnte und versuchte die Kinder einzuholen.

„Was ist? Aha! Das sieht für mich ganz danach aus, als hättest du es dir anders überlegt“, erkannte Finn und grinste plötzlich breit.

„Ja! Ich werde mich euch anschließen!“, teilte sie ihm entschlossen mit.

„Dann heiße ich dich bei den Himmelszelt-Helden herzlich willkommen! So wie jeder Stern einen eigenen Platz am Nachthimmel innehält, so verdient auch jeder von uns Menschen, seinen festen Ort zum Glücklichsein auf der Erde!“ Lächelnd streckte Finn seine einladende Hand zu ihr aus, die Miceyla nach kurzem Zögern zaghaft schüttelte. Dabei blickte sie ihn einmal ganz genau an. Die verwuschelten dunkelbraunen Haare, verliehen ihm ein verwegenes Äußeres. Und seine hellwachen himmelblauen Augen, strahlten trotz seiner Lebenssituation, unglaublich viel positive Energie aus. Er trug ein grünes Hemd, welches ihm eigentlich zu groß war, daher hatte er es unten mit einem Knoten kürzer gebunden. An seinem Hosengürtel, war ein leicht gekrümmtes Schneidemesser befestigt. Für sein Alter wirkte er ziemlich reif und sie konnte sich gut vorstellen, dass er einen fairen Anführer abgab.

„Willkommen, Miceyla!“, riefen Theo, Amelia, Lily und Henry gleichzeitig.
 

„Von da an, verbrachte ich die meiste Zeit mit den fünf Waisenkindern. Wir schliefen nachts in einer alten Scheune, in der selten jemand ein und aus ging. Finn war übrigens ein Spezialist, wenn es darum ging verschlossene Türen zu öffnen. Da ich mich stur weigerte, in die Häuser anderer einzubrechen und deren Nahrungsmittel zu stehlen, durfte ich mich, während Finn mit den älteren Kindern auf Streifzug ging, um die kleine Amelia kümmern…“
 

„Warum gehen wir nicht dort drüben etwas, auf der wunderschönen Blumenwiese spielen? Es muss doch für dich furchtbar langweilig sein, hier nur rumzusitzen und auf die anderen zu warten“, versuchte Miceyla Amelia lächelnd dazu zu motivieren, gemeinsam ein wenig Spaß zu haben. Das kleine Mädchen sprach nicht viel und war schrecklich schüchtern. Miceyla sorgte sich sehr um ihr Wohlergehen. Stets hielt Amelia einen kleinen Stoffhasen fest im Arm, der genauso traurig dreinblickte wie sie es selbst tat.

„Dann lass uns wenigstens zusammen singen. Ein heiteres Lied vertreibt die Sorgen und schenkt jedem neuen Mut… `Ich erinnere mich an jenen alten Weg, an einem regnerischen Tag, wo ich dich das erste Mal traf. Der Weg führt zu einem fernen Märchenwald, dieses Geheimnis bewahre ich. Ich warte, ich warte, solange bis er vorüber ist, der Kampf in unseren Herzen. Ich werde stark sein, ich werde mutig sein, ich werde ganz bestimmt sicher sein. Folge mir, bis der Kampf sein Ende gefunden hat. Sieh das Licht, das langsam auf dich herabscheint, dieses Geheimnis bewahre ich…`“, sang Miceyla mit einer hellen und klaren Stimme. Abrupt hielt sie inne, als Amelia sie mit ihren kugelrunden braunen Augen fasziniert ansah.

„H-hat dir das Lied nicht gefallen? War das eine schlechte Idee von mir…?“, fragte sie kleinlaut.

„Du singst wunderschön. Wirst du mal eine Sängerin?“, sprach Amelia und wirkte auf einmal viel fröhlicher. Das glückliche Gesicht des Mädchens, erheiterte Miceyla noch wesentlich mehr als ihr Lob.

„Ich glaube nicht, dass ich es auf eine Bühne schaffen könnte. Wer will schon ein armes und abgemagertes Mädchen anschauen?... Aber… Ich denke mir noch viel lieber Geschichten aus. Daher ist es mein großer Traum, Schriftstellerin zu werden. Denn Erzählungen verbinden die Herzen der Menschen. Gleichgültig ob sie von einem wohlhabenden Landgrafen oder einer armen Bauernmagd geschrieben wurden“, vertraute sie sich ihr ganz offenherzig an.

„Ließt du mir dann eines Tages davon vor?“, bat Amelia interessiert und lächelte das erste Mal zaghaft.

„Das werde ich ganz bestimmt, versprochen!“ Liebevoll streichelte Miceyla über die blonden Haare des Mädchens.

„Dein Arm ist ja ganz rot. Hast du dir wehgetan?“, bemerkte Amelia mit einem besorgten Blick.

„Ach, das ist mir beim experimentieren in der Küche passiert… Ich bin nicht besonders geschickt, wenn es ums Kochen geht.“ Amelia drückte vorsichtig ihr Kuscheltier an die rote Stelle von Miceylas Arm. Ganz so als wollte sie ihre Wunde dadurch heilen. Plötzlich vernahmen die beiden vertraute Stimmen in der Ferne.

„Finn! Ihr seid wieder da! Wart ihr erfolgreich?“, begrüßte Miceyla lächelnd die Rückkehrer. Doch Finn packte bloß ohne ihr zu antworten, nach ihrer Hand und zog sie grob hinter sich her.

„W-was ist denn los mit dir? Ist etwas passiert?“, erkundigte sie sich voller Verwunderung.

„Nö. Langsam wird es einfach nur mal Zeit, dass du uns bei Beutezügen unterstützt. Mäuler von Feiglingen stopfe ich nur sehr ungern. Wenn du schon nicht bereit bist, aus nächster Nähe zu agieren, werde ich dich eben für den Fernkampf einsetzen“, beschloss Finn launisch.

„Fernkampf? Aber wir ziehen doch nicht in den Krieg!“, blaffte Miceyla empört.

„Doch, natürlich ist der tägliche Kampf ums Überleben ein Krieg! Was denn sonst? …Hier werde ich mit dir Bogenschießen übern. Das wirst du schon hinbekommen. Dann kannst du uns wunderbar den Rücken freihalten und bist das perfekte Ablenkungsmanöver.“ Die zwei erreichten ihren provisorisch errichteten Lagerplatz und Finn wühlte in einem Busch, bis er einen langen Bogen und ein paar Pfeile herauszog.

„Wo hast du denn den Bogen her?“, fragte sie erstaunt.

„Den habe ich selbst hergestellt! Du darfst mich gerne, für mein handwerkliches Geschick loben!“, prahlte er stolz.

„Für den Anfang ist es am besten, wenn du einfach nur versuchst, einen breiten Baumstamm zu treffen. Nehmen wir die dicke Eiche da hinten. Sollte das gut klappen, suche ich dir kleinere Ziele aus oder direkt etwas Bewegliches wie einen Vogel. Schau genau her, ich mache es dir einmal vor.“ `Ich werde bestimmt kein armes Tier erschießen!`, dachte sie stur ohne diese Bemerkung laut auszusprechen, sonst hätte es gleich wieder in einem Streit geendet. Miceyla beobachtete, wie er einen der spitzen Pfeile auf seinem linken Daumen abstützte und mit der rechten Hand, die stramm gespannte Sehne des Bogens, mit drei Fingern nach hinten zog. Finns Körperhaltung war aufrecht und seine geschmeidigen Handgriffe sahen aus, wie die eines geübten Jägers. Ruckartig ließ er die Sehne los und der Pfeil traf in hoher Geschwindigkeit den entfernten Baumstamm, in dem er gerade steckenblieb. Voller Bewunderung klatschte sie in die Hände.

„Toll wie du das kannst! Ich mag auch so gut Bogenschießen können“, sprach sie begeistert.

„Gewiss, ich werde es dich lehren! Dann nenne mich von nun an `Meister`“, befahl Finn mit übertrieben arroganter Stimme.

„Wieso sollte ich das tun? Du bist doch viel zu jung, um ein richtiger Meister zu sein! Außerdem scheinst du dir selbst am wichtigsten zu sein. Ein echter Lehrmeister, gibt seine Lebensweisheiten an seine Schüler weiter“, predigte sie und blickte ihn vorwurfsvoll an. Finn rollte nur beleidigt mit den Augen und drückte ihr den Bogen in die Hand.

„Na los, Naseweis. Zeig was du kannst.“ Miceyla packte den Bogen an dem glatt geschliffenen Holz. Dabei versuchte sie den Pfeil anzulegen und zu spannen, wie er es getan hatte. Allerdings verrutschte ihr der Pfeil und sie ließ zu früh los. Er landete daraufhin vor ihr im Gras.

„Gleich nochmal. Übung macht den Meister, daher bin ich ja auch schon einer! Ha, ha!“, meinte Finn lachend. Genervt von seinen neunmalklugen Sprüchen, mühte sie sich verbissen ab, ihr Ziel zu treffen. Gerade als sie das Gefühl bekam, den Dreh raus zu haben, peitschte die dünne Sehne nach dem loslassen, mit voller Wucht gegen ihren Unterarm.

„Autsch!“ Abrupt ließ sie den Bogen fallen und hielt sich den wunden Arm. Dann war es ausgerechnet noch dieselbe Stelle gewesen, an der sie sich beim kochen verbrannt hatte. Es tat ihr höllisch weh.

„Was bist du doch für ein Tollpatsch. Das bekommt sogar Amelia besser hin. Mache ich dir eben einen lächerlichen Stoffpolster. Du wehleidige, olle Heulsuse…“, nörgelte Finn, hob den Bogen auf und untersuchte ihn gründlich, ob er auch ja keinen Schaden genommen hatte.

„Warum bist du so fies zu mir? Ich habe zum ersten Mal einen Bogen in der Hand. Und ich werde sowieso keine Waffe, bei deinen räuberischen Übergriffen einsetzen! Ich hasse dich!“, schrie sie ihn an und rannte mit kullernden Tränen davon. Miceyla wusste nicht, ob sie seine Worte nicht etwas zu ernst genommen hatte oder ob ihr knurrender Magen, für ihren Gefühlsausbruch verantwortlich war. Jedenfalls bekam sie sogleich ein schlechtes Gewissen. Dennoch fühlte sie sich generell, bei den Waisenkindern nicht wirklich dazugehörig und wohl. Eher wie eine Außenseiterin, die aus Mitleid aufgenommen wurde…

Einige Wochen waren verstrichen und Finn verhielt sich ihr gegenüber, als hätte es zwischen ihnen niemals einen Streit gegeben. Auch Miceyla blieb vernünftig, da sie nicht von der Gruppe ausgestoßen werden wollte. An einem sonnigen Nachmittag, standen die Kinder aufgeregt um Finn versammelt, der etwas in der Hand zu halten schien. Neugierig gesellte sich Miceyla zusammen mit Amelia dazu.

„Was hast du denn da? Ist das ein Schreiben aus dem Dorf?“, fragte sie und betrachtete das bunt verzierte Blatt Papier in seinen Händen.

„Ja, diese Flugblätter haben sie im Dorf verteilt. Also hier steht…ähm… Jedenfalls geht es um irgendeine Feier oder ähnliches…“, nuschelte Finn und kratzte sich nachdenklich am Kopf.

„Sag bloß du kannst nicht lesen? Gib mal her… `Wir laden euch alle recht herzlich zu unserem Erntedankfest, kommenden Sonntag ein. Lasst uns gemeinsam feiern, dass die Ernte dieses Jahr so reich ausgefallen ist. Es erwartet euch ein großes Festmahl, für Groß und Klein. Dabei wird gesungen und getanzt, die ganze Nacht lang`“, las sie fehlerfrei und flüssig vor. Die Kinder sahen sie bewundernd mit großen Augen an, als wäre es ein seltenes Phänomen, ein Kind vorlesen zu hören. Nur Amelia lächelte heimlich hinter ihrem Stoffhasen.

„Wo hast du so gut lesen gelernt? Garantiert nicht von deinen hohlköpfigen, herzlosen Eltern“, platzte es erstaunt aus Finn.

„Nein, natürlich nicht. Ich habe es mir selber beigebracht über die Jahre. Anfangs war es alles andere als einfach, doch nach und nach machten sich erste Fortschritte bemerkbar. Das bringt mich auf eine Idee… Finn, was hältst du davon, wenn ich dir und den Kindern auch ein wenig Lesen und Schreiben beibringe? Im Austausch dafür, startest du mit mir einen zweiten Versuch und bringst mir das Bogenschießen richtig bei. Ich mag dir nämlich beweisen, dass ich so schnell nicht aufgebe! Na, wie findest du meinen Vorschlag?“ Finn tauschte kurz Blicke mit seinen Freunden aus, ehe er antwortete. Alle schienen von der Vorstellung begeistert, etwas zu lernen, dass ihnen bislang verwehrt geblieben war.

„Also schön, dann machen wir es so. Im Übrigen wäre es ziemlich peinlich, als Soldat nicht lesen zu können… Man würde mich auslachen. Bis zu dem Fest, haben wir noch etwas über eine Woche Zeit. Bis dahin solltest du die Grundlagen des Bogenschießens beherrschen. Denn mir ist gerade ein genialer Einfall gekommen!“, sprach er enthusiastisch, als hätte er gerade eine Vision erhalten.

„Als Soldat?“, wiederholte Miceyla neugierig.

„Japp! Mein Traum ist es ein echter Soldat zu werden. Es muss ein unglaubliches Gefühl sein, für die Gerechtigkeit zu kämpfen und dabei von allen umjubelt zu werden“, schwärmte er träumerisch und blickte dabei zum fernen Horizont.

„Heißt im Umkehrschluss, du willst in den Krieg ziehen und sterben. Die gegnerische Seite verteidigt auch nur ihre eigene Gerechtigkeit. Alles ist nur eine Frage der Sichtweise. Und wenn du bloß auf Anerkennung für deine Taten abzielst, bist du ein Heuchler. Ein wahrer Soldat der Ehre besitzt, vollbringt auch seine Heldentaten, obwohl niemand hinsieht“, belehrte Miceyla ihn, um seine Überheblichkeit ein wenig einzudämmen.

„Urgh…! Du hast ein unglaubliches Talent dafür, die Vorstellungen von anderen zu zerstören. Was weißt du schon von Soldaten. Kümmere dich lieber um Mädchenkram, wie Sticken und Kochen. Ach stimmt, was den Haushalt betrifft, bist du ja ebenfalls eine unübertreffbare Niete. Du wärst sicher mal eine unglaublich miese Ehefrau. Aber wer will dich auch schon freiwillig heiraten. Bestimmt wirst du mal mutterseelenallein, von dieser Welt Abschied nehmen“, hänselte Finn sie unaufhaltsam. Eingeschnappt kehrte sie ihm den Rücken zu und verschränkte die Arme ineinander. Die anderen Kinder hatten sich bereits heimlich aus dem Staub gemacht. Wie kam es dazu, dass immer so schnell ein Streit zwischen Finn und Miceyla vom Zaun brach? Es wäre doch das Vernünftigste, einfach Freundschaft zu schließen. Warum schafften sie es nicht, eine friedvolle Konversation zu führen?

„…Mir…mir tut es leid, Finn… Ich wollte nur ehrlich sein. Vertragen wir uns wieder? Komm schon, der Klügere gibt nach. Ich weiß selbst, wie das mit den eigenen Träumen ist. Aus dir wird sicher mal ein tapferer Soldat, wenn du fest daran glaubst. Mit einem starken Willen ist alles möglich! Lass dich von niemanden aufhalten“, suchte Miceyla nach versöhnenden Worten und drehte sich wieder zu ihm herum. Überrascht blickte er für eine Weile, in ihre leuchtend grünen Augen. Kurz darauf zeigte er sein schönstes Lächeln, einer freien und ungezähmten Seele.

„Na klaro! Wenn ich meine Ziele erreichen kann, schaffst du das auch. Zumindest falls du hart an dir arbeitest, ha, ha!“ Die darauffolgenden Tage verbrachte Miceyla damit, fleißig das Bogenschießen einzuüben. Mit dem von Finn angefertigten Armschutz, konnte sie nun optimal über eine längere Zeit hinweg trainieren. Irgendwann war sie sogar selbstsicher genug, um ihn damit ärgern zu können, dass sie ihn bald übertreffen würde. An dem Abend vor dem Erntedankfest, saßen die Kinder alle gemeinsam um ein knisterndes Feuer herum.

„Morgen ist der große Tag! Wir haben die Gelegenheit, so viel zu Essen zu schnappen, dass es beinahe für einen ganzen Winter reicht. Also hört meinen Plan: Fast alle Dorfbewohner, werden in der Mitte des Dorfes auf dem Festplatz versammelt sein. Und die ganzen Vorratskammern sind währenddessen unbeaufsichtigt. Wir nutzen den Moment und schaffen so viele Nahrungsmittel heraus, wie wir nur tragen können und solange uns die Zeit ausreicht. Auch Amelia wird mithelfen. Wir benötigen jede helfende Hand. Und damit wir auch wirklich nicht bei unserer Aktion erwischt werden, wird Miceyla die Dorfbewohner für uns ablenken. Du darfst morgen deine neuen Bogenschießkünste unter Beweis stellen. Ziele aus dem Verborgenen heraus, mit einem brennenden Pfeil, auf einen der Heu- und Strohhaufen in der Nähe des Festes. Die sorglos feiernden Leute werden in Panik geraten und damit beschäftigt sein, das Feuer zu löschen. Keiner wird unterdessen auf uns achten. Wir sind dadurch praktisch unsichtbar“, erläuterte Finn mit einer Stimme, die nur so vor Selbstüberzeugung trotzte. Miceyla stockte der Atem und ihre Hände begannen nervös zu zittern. Sie traute ihren Ohren kaum.

„Ach du liebe Zeit… Finn, bist du denn von allen guten Geistern verlassen! Ist das dein Ernst, ich soll ein Feuer legen? Wir riskieren dadurch, das gesamte Dorf in Brand zu setzen! Du musst doch selbst wissen, wie rasch sich ein Feuer ausbreitet. Ein Funke genügt… Und wo wollt ihr das ganze Essen hinschaffen? Bei Sonne und Regen verdirbt alles. Dein Plan ist viel zu waghalsig und bietet keine Alternativen, falls etwas schief gehen sollte. Du bringst uns damit alle in Gefahr…“ mahnte Miceyla ohne jede Hoffnung, den Sturkopf umstimmen zu können.

„Was schlägst du dann stattdessen vor? Das wir in den Wintermonaten an Hungersnot verenden? Betteln bringt uns auch nichts. Jede Familie die noch Güte besitzt, hat für sich selber kaum ausreichend Nahrung um satt zu werden. Und in der Stadt würden sie uns als Fußabtreter benutzen. Wir haben also gar keine andere Wahl! Wer nichts wagt, der hat auch keine Hoffnung und Zukunft mehr! Und unsere neuen Vorräte, bringen wir in dein hässliches altes Heim. Keiner interessiert sich für das abgelegene, leerstehende Haus. Die Hütte ist das beste Versteck“, meinte Finn und stand nach wie vor felsenfest hinter seiner Idee. `Zu mir nach Hause?!... Hach, es ist ohnehin nicht mehr mein Zuhause… Nein, es ist nie ein echtes Zuhause für mich gewesen…`, dachte Miceyla traurig und versuchte sich innerlich, von den vergangenen Zuständen in jenem Haus zu verabschieden.

„Gut! Sind die Himmelszelt-Helden, wieder bereit für die nächste Schlacht?“, rief Finn motiviert und streckte seine rechte Hand nach vorne aus.

„Na klar! Für den Sieg und einen vollen Magen!“, sprachen Lily, Theo und Henry begeistert. Dabei legten sie ihre eigenen Hände auf die von Finn. Nur Miceyla verharrte regungslos auf der Stelle. Und auch Amelia, hatte nur schläfrig ihren Kopf gegen sie gelehnt.
 

„Und somit kam der Tag des Erntedankfestes. Eine Tragödie wurde ins Rollen gebracht, von der ich noch heute in meinen düstersten Träumen heimgesucht werde… Meine schrecklichen Vorahnungen, bescherten mir damals eine schlaflose Nacht. Die letzte, welche ich gemeinsam mit den Kindern verbrachte. Wer weiß, vielleicht hätten sich doch noch Freundschaften entwickelt, die ein Leben lang gehalten hätten. Da stand ich nun, mit Pfeil und Bogen in meinem Versteck. Es begann zu dämmern. Die ausgelassenen Stimmen der feiernden Dorfbewohner, schalten zu mir herüber. Und es wehte ein sehr ungünstiger Wind… Diese Nacht hat noch mehr Ängste in mir geweckt, als ich ohnehin schon besaß…“
 

`Das gefällt mur ganz und gar nicht… Bei dieser Windstärke, wird sich das Feuer viel zu schnell ausbreiten. Es bleibt nicht bloß bei einem brennenden Heuhaufen, ich sehe es kommen…`, befürchtete Miceyla und ihre innerliche Panik, wurde von Minute zu Minute heftiger. Da raschelte es auf einmal hinter ihr im Gebüsch. Instinktiv erschrak sie und fuhr zusammen. Doch als sie die Gestalt eines ihr bekannten Jungen erkannte, atmete sie erleichtert auf.

„Finn! Du hast mich zu Tode erschreckt!“

„He, he! Du wusstest doch Bescheid, wann ich noch mal bei dir vorbeikomme. Ich zünde dir diese Fackel an und stecke sie hier in die Erde. Tunke einen der Pfeile, mit der Spitze in den Eimer mit der Flüssigkeit und halte ihn anschließend ganz kurz in die Flamme der Fackel. Die Pfeilspitze wird sofort Feuer fangen. Denke einfach immer an dein Training der vergangenen Tage zurück. Und warte gleich auf das Zeichen von Theo, wenn wir alle bereit sind“, erklärte er ihr mit der Ruhe weg und richtete alles Nötige für ihren Einsatz her.

„Finn… Das hier ist kein schlichter Streich mehr. Das Leben von Menschen steht auf dem Spiel. Erwachsene sind außerdem unberechenbar…“, sprach Miceyla noch einmal gewissenhaft auf ihn ein und sah ihn mit einem ängstlichen Gesichtsausdruck an.

„Herrje… Man hat dir wirklich jeden Funken Mut genommen. Die haben das Feuer in Nullkommanichts gelöscht, wirst sehen. Wenn Gefahr droht, kriegen sogar die Fettklöpse ihre dicken Hintern hoch. Halt mal still… Die langen offenen Haare werden dich nur stören. So, viel besser!“ Finn band ihr die Haare zu einem Zopf zusammen. Ein wenig aufgewühlt, tastet sie sich an das stramm gebundene Haarband.

„D-danke…“

„Du darfst es behalten. Das ist jetzt dein neuer Glücksbringer!... Und… Du hast ein sehr hübsches Gesicht… Du brauchst es nicht zu verstecken…“, flüsterte er ungewohnt sanft. Miceyla war verblüfft und gleichzeitig verlegen, plötzlich solche unerwarteten Worte von ihm zu hören. Trotz allem zauberte es ihr ein Lächeln auf die Lippen und nahm ihr ein kleines bisschen die unheilvollen Befürchtungen.

„W-was soll dieser seltsame Blick?“, stotterte Finn und gab sich unbeteiligt.

„Endlich…hast du mal etwas Nettes gesagt… Ich wünsche dir und den anderen viel Glück. Passt gut auf euch auf… Du kannst dich darauf verlassen, dass ich mein Bestes geben werde!“, versprach die zum Abschied.

„Dir auch viel Erfolg! Bis später!“ Er wollte schon davonstürmen, da rief sie noch einmal nach ihm.

„Finn!... Wir…wir sind doch Freunde, oder?“

„Klaro, dessen kannst du dir sicher sein. Wahre Freunde gehen durch dick und dünn!“ Wieder lächelte er so siegessicher, als könnte er kein Wässerchen trüben. Es war ein Lächeln, welches sie niemals vergessen würde… Die Augenblicke während der Ruhe vor dem Sturm, fühlten sich an wie ganze Stunden. Miceyla wartete und wartete auf das Zeichen, um ihre Gräueltat zu beginnen. Sie meinte vor lauter Angst, innerlich zu erfrieren. `Ich…ich kann das nicht tun… Ich will das einfach nicht… Was wenn sich jemand ernsthaft verletzt oder sogar…` Ihre zweifelnden Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Theo ihr in der Ferne mit einer leuchtenden Laterne, dass Zeichen zum abfeuern gab. Sofort spannte sie ihren brennenden Pfeil und zielte auf einen großen Heuberg, der sich in unmittelbarer Entfernung, der feiernden Dorfbewohner befand. Ihr gesunder Menschenverstand war nun vollkommen unterdrückt. Schließlich ließ sie die Sehne los und der Pfeil traf beinahe zeitgleich sein Ziel.

Daraufhin geschah alles so schnell, dass sie den Eindruck hatte, man wolle sie bestrafen und ihr extra die Zeit zum Handeln rauben. Ein kleiner Teil des Heuhügels, begann zuerst leise knisternd zu brennen. Doch in beängstigender Geschwindigkeit, breitete sich die überschaubare Flamme aus und verschluckte das ganze leichte Heu. Einen kurzen Moment später, stand die komplette Ansammlung des Heus in Flammen. Vorerst bemerkte keiner das grell leuchtende Feuer, da alle selbst um ein Lagerfeuer versammelt waren. Jedoch dauerte es nicht lange, da rümpfte eine Frau, welche dem brennenden Heuhaufen am nächsten saß, die Nase und sah sich prüfend um.

„Feuer! Um Himmels willen, es brennt! Holt Wasser, Beeilung!“, schrie diese entsetzt und alle schossen nach ihrer Warnmeldung, wie in einer Kettenreaktion in die Höhe. Alle schrien panisch wild durcheinander und die meisten wirkten sehr orientierungslos. Aber einige kamen bereits mit randvollen Wassereimern angestürmt und versuchten verzweifelt die ersten Löschversuche. Ganz bestimmt wollte sich keiner von ihnen eingestehen, dass es längst zu spät war. Der kräftige Wind, blies einige der versenkten Heuhalme in Richtung einer Scheune, die nun ebenfalls rasch Feuer fing. Und noch ehe irgendjemand etwas retten konnte, lichterloh in Flammen aufging. `Das muss alles ein Alptraum sein! Was habe ich getan…? Oh nein! Nein! Direkt hinter der Scheune, befindet sich der Speicher mit der Vorratskammer! Ich muss Finn und die anderen schleunigst warnen!` Hastig löschte Miceyla die Fackel und kämpfte sich mit dem Bogen bewaffnet, durch das Gestrüpp aus ihrem Versteck heraus und umlief die von Furcht übermannte Menschenansammlung. Durch das lodernde Feuer, war ihre Umgebung trotz hereinbrechender Nacht hell erleuchtet.

„Finn! Ihr müsst da raus, sofort! Die ganzen Holzbalken werden in sich zusammenstürzen, sobald das Feuer hier ankommt! Hörst du mir überhaupt zu?!“, alarmierte sie flehend ihre Weggefährten und versuchte hektisch einzuschätzen, wie viel Zeit ihnen noch zur Flucht blieb.

„Noch eine Ladung; dann sind wir hier weg. Pack am besten mit an“, sprach Finn beinahe desinteressiert über die hereinbrechende Bedrohung. Aufgrund ihrer Panik merkte sie nicht, dass er seine eigenen Gewissensbisse, krampfhaft mit Mut zu überspielen versuchte.

„Weißt du was, du widerst mich einfach nur an! Während du hier egoistisch an deinen blöden Vorrat denkst, kämpfen Menschen gerade um ihr Zuhause, ihre einzige Heimat. Ich hätte niemals bei diesem blöden Plan mitmachen sollen! Nein noch besser, ich hätte mich dir niemals anschließen sollen!... Ist Amelia etwa auch…!“ Miceyla überkam eine ungeheure Wut, doch ihre Selbstvorwürfe waren bei weitem drastischer. Finn ignorierte sie schlichtweg und verschwand wieder im Speicher. Da entdeckte sie schockiert Theo, der den Eingang bewacht hatte und nun einem stämmigen Mann gegenüberstand. Dessen Augen waren vor Zorn und Angst rot unterlaufen und er funkelte den zitternden Jungen unbeherrscht an.

„Ihr verabscheuungswürdigen Rotzlöffel seid das gewesen! Euch Teufeln werde ich nun den Garaus machen! Kommt und holt euch eure Strafe ab!“, zischte der Mann mordlustig und richtete eine Pistole auf den kleinen Jungen, der sich ängstlich mit einer großen Mistgabel zu verteidigen versuchte.

„Lauf weg, Theo! Dagegen kommst du nicht an!“, rief Miceyla verzweifelt. Doch noch ehe er überhaupt reagieren konnte, drückte der Mann gnadenlos ab und traf den gebrechlichen Jungen mitten auf der Brust. Augenblicklich fiel er nach hinten zu Boden und Blut sammelte sich um seinen zierlichen Körper.

„Theo! Neiiiiiin!“ Ohne lange nachzudenken rannte sie auf den Mann zu und holte weit mit

ihrem harten Holzbogen aus. Sie versetzte ihm einen solch kraftvollen Hieb gegen sein Schienbein, dass er ins Straucheln geriet und sie erzürnt zu packen versuchte. Doch er besann sich eines Besseren, als er mit schockierter Miene einen Blick hinaufwarf. Kurz darauf ergriff er die Flucht. Miceyla wirbelte herum und verstand sofort warum. Mit hämmerndem Herzen warf sie den Bogen fort und kniete sich kurz neben den leblosen Theo.

„Bitte sprich mit mir… Du darfst nicht sterben…“ Sie musste sich eingestehen, dass für ihn jede Rettung zu spät kam. Zum Trauern blieb für sie keine Zeit, da sie sich vergewissern wollte, ob die anderen Kinder wohlauf waren. Gerade erreichte sie den Speicher, da sah sie wie Finn zusammen mit Lily und Henry herausrennen wollte. An ihren verschreckten Gesichtern konnte Miceyla ablesen, dass auch sie endlich den Ernst der Lage begriffen hatten.

„Nein! Vorsicht! Bleibt stehen!“ Ihr kreischender Warnschrei ging unter, als die komplette Vorderwand krachend in sich zusammenstürzte und somit nun den Eingang versperrte. Miceyla wich stolpernd zurück und rieb sich die Augen, welche vor lauter Rauch höllisch brannten. Als sie wieder ein einigermaßen klares Sichtfeld bekam, wollte sie den Anblick nicht wahrhaben, der sich vor ihr erbot. Die drei Kinder lagen unter etlichen, schweren Holzbalken begraben. Lily und Henry hatten ihr Bewusstsein verloren und rührten sich nicht mehr. Nur Finn war noch bei Bewusstsein und wollte sich unwillkürlich wieder erheben. Jedoch fehlte es ihm an Kraft, seine Beine unter dem ganzen Schutt hervorzuziehen. Mit schmerzverzehrter Miene, tastete er sich an seinen blutenden Kopf und blickte in Miceylas Richtung, bevor die Flammen seine Sicht nahmen.

„K-kümmere…dich …nicht um uns… Rette Amelia… Sie ist dort hinten…hinaufgeklettert…“, keuchte er mit schwerem Atem und zeigte in den hinteren Bereich der Vorratskammer.

„Es…tut mir leid…Miceyla…“ Seine letzten flüsternden Worte konnte sie nicht mehr hören, da sie bereits um das brennende Gebäude herumhechtete und zu der einzigen Seite rannte, welche noch nicht vollends in Flammen stand. Mit Ruß und Schweiß bedeckt, kletterte sie zu dem niedrigsten Fenster empor und hievte sich hinein. Sie keuchte schwer und musste darauf achten, nicht zu viel Rauch einzuatmen. Durch zusammengekniffene Augen blickte sie in die qualmende, halb zerfallene Vorratskammer hinein und fand Amelia, wie sie an einem erhöhten Holzbalken baumelte. Mit den letzten Kräften, bemühte sich das kleine Mädchen darum sich krampfhaft festzuhalten. Mit ihren zierlichen Händen, drohte sie jeden Moment abzurutschen. `Du meine Güte! Wie ist die Ärmste bloß bis da hinaufgekommen?`

„Amelia! Ich bin gleich bei dir! Bitte lasse nicht los!“ Inständig betete Miceyla, noch rechtzeitig bei ihr zu sein.

„Miceyla! Hilfe!“, wimmerte Amelia verzweifelt und weinte bitterlich. `Sei tapfer, meine kleine Freundin…`, dachte Miceyla beklommen und stieg von dem Fenster aus, auf den schmalen Holzbalken, an dessen Ende das verängstigte Mädchen hing. Die Flammen drohten das komplette Haus zu verschlingen. Miceyla zog sich mit beiden Armen vorwärts, um zu ihr zu gelangen. Dabei musste sie angesträngt darauf achten, nicht selbst hinunter zu stürzen. Es knackte bedrohlich vor ihr im Holz und es bildeten sich kleine Risse.

„Ich schaffe es nicht weiter nach vorne, der Balken wird brechen. Versuche meine Hand zu greifen!“ Miceyla streckte so weit es nur ging, ihre Hand zu ihr aus. Trotz ihrer Todesängste, besaß Amelia noch genug Überlebenswillen, um sich verbissen darauf konzentrieren zu können, die rettende Hand zu packen. Jedoch befand sich noch immer ein zu großer Abstand zwischen den beiden. Ein Stück rutschte Miceyla weiter vor. Dabei begann das Holz sich unter ihr zu spalten und bohrte sich wie ein spitzer Pfahl in ihren Oberschenkel. Sie schrie

kurz auf vor Schmerz und schob sich dennoch weiter, um Amelias Hand endlich erreichen zu können.

„Gleich…ist es geschafft… Dann ziehe ich dich hoch… Und wir fliehen in Sicherheit… Ich werde immer bei dir bleiben. Vergiss unser Versprechen nicht… Lass…lass mich bitte nicht im Stich. Nicht aufgeben…“, sprach Miceyla mutmachende Worte. Ganz flüchtig berührten sich ihre Hände. Da rutschte Amelia mit der anderen Hand urplötzlich ab und stürzte schonungslos auf den Untergrund zu, wo die heißen Flammen darauf warteten, über sie herzufallen.

„Neiiiiiin! Amelia“, schrie sie sich die Stimme aus dem Leib und ein letztes Mal blickte sie in ihre blutjungen Augen, die niemals mehr den nächsten Morgen miterleben würden. Kurz darauf prallte sie auf den Boden und verlor auf der Stelle das Bewusstsein. Regungslos kauerte Miceyla weiterhin oberhalb. Blut floss aus ihrer pochenden Wunde und all ihre Hoffnungen, waren mit den Kindern in den Flammen untergegangen. Sie hätte einfach auf ihren eigenen Tod warten können und trotzdem hangelte sie sich zurück und ließ sich aus dem Fenster in das weiche Gras fallen, da ihr gesamter Körper gelähmt war. Energielos kroch sie über die Erde, um weit genug von dem Feuer wegzukommen. Irgendwann sackte sie zusammen und blickte noch einmal in das Dorf zurück, von dem bald nicht mehr viel übrigbleiben würde. `Warum…soll gerade ich weiterleben? Wo es in dieser ungerechten Welt, ohnehin keinen Platz für mich zu geben scheint…`

Knapp eine Woche später, konnte Miceyla sich wieder einigermaßen auf den Beinen halten. Doch ihre Seele hatte Wunden davongetragen, die in ihrem restlichen Leben niemals komplett verheilen sollten. Für jedes der fünf Kinder, errichtete sie ein Grab, in der Nähe ihres geheimen Lagerplatzes. Auch wenn es nur leere Gräber waren. Liebevoll setzte sie den kleinen Stoffhasen auf Amelias Grab.

„Wir sehen uns eines Tages im Himmel wieder. Wartet solange auf mich. Jetzt habt ihr endlich euren festen, friedlichen Platz gefunden. Ich werde leben um Buße zu tun. Schließlich ist es meine Pflicht, euch nicht einfach zu vergessen. Lebt wohl, ihr Himmelszelt-Helden…“
 

„Gerade mal kurze drei Monate, verbrachte ich mit den Waisenkindern. Nach dem Drama, schlug ich mich noch einige Wochen alleine durch, ehe ich auf schicksalhafte Weise meinen Pflegeeltern begegnete, die mich sofort ins Herz geschlossen hatten. Ich war nur noch ein Hungerhaken und vollkommen antriebslos. Sie mussten sicher alle Mühe gehabt haben, um mich wieder aufzupäppeln. Nun, das war sie, die größte Tragödie meiner Vergangenheit. Eine Last, welche sich tief in meinem Herzen eingenistet hat…“, endete Miceyla ihre leidvolle Geschichte und fühlte einen dicken Kloß im Hals, bei den ganzen tristen Erinnerungen, die sie gerade wachrüttelte. Moran hatte während ihrer gesamten Erzählung, kein einziges Mal dazwischengeredet. Er hielt etwas den Kopf gesenkt und stützte sich nachdenklich mit den Ellenbogen auf den Beinen ab.

„Dann kennst du ja tatsächlich das Gefühl, wie es ist seine Kameraden zu verlieren… Du musstest einiges durchstehen, mein lieber Scholli… Jetzt weiß ich auch, woher der verborgene Ausdruck von Stärke in deinen Augen kommt. Dieser Finn scheint mir ein kühnes Bürschchen gewesen zu sein. Ein bisschen wie unser William, ha, ha. Also war der Bub deine erste Liebe, huh?“, neckte er sie mit einem zaghaften Lächeln, um ihre Stimmung ein wenig zu erheitern.

„U-unsinn! Er war…so etwas wie mein Vorbild. Und Finns Intellekt, reichte nicht mal annähernd an den von Will heran. Vom Charakter her war er viel zu hitzköpfig und übermütig. Allerdings waren Tapferkeit und selbstloses Handeln seine Stärken. Aus ihm wäre ein herausragender Soldat geworden…“, sprach sie wehmütig.

„Und wenn man es genau betrachtet, warst du sogar Teil eines Verbrechens…“, murmelte Moran.

„Du sagst es… Das Ganze war mein Verschulden. Jedoch, wenn ich den brennenden Pfeil nicht abgeschossen hätte, so wäre es eine Tat von Finn geworden. Dennoch bleibt und ist es eine furchtbare Dummheit von mir. Meine Narbe am Bein, erinnert mich tagtäglich daran. Klar, viele der garstigen Menschen im Dorf, haben mal einen kleinen Schock verdient und dennoch gab es auch gutherzige unter ihnen. Am Ende verloren wir den Kampf ums Überleben. Wir die Schwächeren, mussten vor den Stärkeren kapitulieren. Es sind letztendlich die fatalen gesellschaftlichen Unterschiede, welche zu solchen Übergriffen führen… Vielleicht ist es mein erneutes Schicksal, auf dich und die Brüder gestoßen zu sein. Auf diese Weise kann ich meine Sünden begleichen und im Gegenzug erhalte ich Wertschätzung, die ich niemals richtig erfahren durfte. Aber… Ich wurde dazu genötigt ein Feuer zu legen, Will tat es mit seinen Brüdern aus purer Absicht, darüber bist du sicher selbst im Bilde. Alles was ich zu verhindern versuchte… Sobald ich daran denke…wird mir ganz schummrig zumute…“, gestand Miceyla ehrlich und wagte erst jetzt, seinen Blickkontakt zu suchen.

„Du weißt, dass wir alle dazu bereit sind, die Konsequenzen dafür zu tragen. Wir entschieden uns für den Weg eines Sünders, der im Verborgenen die verschollene Gerechtigkeit in diese Welt zurückholt. Du kannst dir doch bestimmt vorstellen, wie viele Menschen ich im Krieg erschossen habe… Die Leichen häufen sich um dich herum, mit deinen eigenen Kameraden darunter. Gerade eben saßt du noch mit ihnen am Tisch und ihr habt etwas zusammen getrunken, da liegen sie plötzlich tot neben dir. Doch als Soldat befolgst du lediglich deine Befehle und versuchst als Anführer für Sicherheit zu sorgen. Selbst wenn man weit genug aufsteigt und selbst die Vorrechte hat, anderen Befehle zu erteilen, macht dies das Ganze nicht einfacher. Denn Verantwortung ist eine sehr schwere Bürde. Mit dir und den Kindern ist es nicht anders gewesen. Du hast Finns Anweisungen ausgeführt und wolltest euch dadurch das Überleben sichern. Wenn von außen keine Hilfe zu erhoffen ist, muss man eben zu härteren Maßnahmen greifen. Wie du schon sagtest, dies ist die Problematik unserer Gesellschaft. Lass dich nicht zu sehr von deiner Vergangenheit zerfressen. Wir haben alle unsere Gründe für die Entscheidungen, welche wir treffen. Einen Grund zum Leben, sollte man sich von niemanden nehmen lassen. Jene die einen Krieg überlebt haben, entwickeln die stärksten Persönlichkeiten…“, sprach Moran Miceyla ins Gewissen und legte ihr freundschaftlich eine Hand auf die Schulter.

„Und genau das ist es ja, was ich nicht akzeptieren kann! Wir lassen unsere verstorbenen Freunde zurück und langsam löschen wir alles, was wir mit ihnen in Verbindung bringen. Das die Zeit alle Wunden heilt, ist eine gewaltige Lüge. Mag sein, dass es erträglicher wird und es einen abhärtet. Blicke nach vorn… Schließe Frieden mit dir und deiner Vergangenheit… Lerne zu vergeben und zu vergessen… Ich kann das nicht mehr hören! Erinnerungen sind ein wertvoller Teil von uns, geliebte verstorbene Menschen sind ein unersetzbarer Teil von uns. In Wahrheit bin ich stets en Schatten meiner Selbst gewesen… Dank William, finde ich vielleicht wieder zu meinem verloren gegangenen Lebenswillen zurück… Moran! Du bist doch auch der Meinung, dass Helden nicht in Vergessenheit geraten dürfen! Ich werde für die Waisenkinder und deine gefallenen Kameraden Kerzen anzünden. Ebenfalls für die Menschen, welche wegen uns ihr Leben lassen mussten und alle zukünftigen… Auch wenn es hunderte von Kerzen werden! Das ist mir gleichgültig. Ihnen gebührt dieser Respekt“, beschloss Miceyla emotional und packte ergriffen den Arm von Moran. Perplex riss er die Augen weit auf und blickte sie einfach nur sprachlos an.

„Meine Güte… Ich weiß gar nicht, was ich auf deine impulsiven Worte antworten soll… Alles was ich dir versprechen kann ist, dass du meine vollste Unterstützung hast und das wir uns die Bürde teilen. Keine Opfer sind umsonst. Ich hätte da noch eine Frage. In welchem Dorf hast du damals gelebt und leben die heimtückischen Bauern immer noch dort?“, fragte er grübelnd. Langsam löste sie wieder ihren Griff von ihm und sah abwesend zu Boden.

„Ein kleines, namenloses Dorf in der Nähe von Harefield… Ja, sie sind seit vielen Generationen dort ansässig. Soweit ich weiß, wurde das Dorf sogar noch weiter ausgebaut. Spuren eines Brandes, gibt es dort keine mehr“, meinte sie bedrückt.

„Hm… So, so…“, brummelte Moran bloß und bekam einen eigenartigen Gesichtsausdruck.

„Komm mir ja nicht auf dumme Gedanken“, sagte sie und lächelte zaghaft. Miceyla konnte genau erraten, was ihm gerade vorschwebte.

„Nicht doch. Alleingänge sind mir strengstens untersagt“, erwiderte er grinsend.

„Gut so…“ Gedankenversunken betrachtete sie ein flaches Holzbrett, dass an der Tür von der Waldhütte hing.

„Du hast nicht zufälligerweise ein Messer parat?“, fragte sie geheimnistuerisch.

„Na aber klar doch. Gehört zu meiner Grundausstattung. Hier. Was hast du jetzt nur wieder vor?“ Er überreichte ihr mit hochgezogenen Augenbrauen, ein scharfes Messer. Anschließend sprang sie sofort auf und nahm das Brett von der Tür. Als Miceyla sich anschließend damit zurück auf den Baumstumpf setzte, begann sie etwas mit dem Messer dort hinein zu ritzen. Sobald sie ihr Werk vollbracht hatte, zeigte sie Moran freudestrahlend das Holzbrett.

„`Himmelszelt-Helden`…“, las er leise vor und lächelte sanft. Schweigend hang sie das Brett wieder an die Tür und legte sich mit einem wehmütigen Blick, die Hand auf das Herz.

„Na komm, lass uns heimkehren. Zwar haben wir heute nicht allzu viel erreicht, aber in der nächsten Zeit, kommen wir ja öfters hierher. Und momentan bietet das Wetter die besten Voraussetzungen zum Trainieren. Nicht zu kalt und nicht zu warm. Ich pack noch eben schnell die Waffen zusammen, dann können wir aufbrechen. Und keine Bange, diesmal nehmen wir den richtigen Weg“, verkündete Moran entspannt und reckte sich genüsslich.

„Super! Danke, dass du mir so geduldig zugehört hast. Und ich freue mich schon auf unser nächstes Training… Meister…“, sprach Miceyla lächelnd und sah ihn etwas verlegen an.

„Meister…? Ich…?“, wiederholte er verwundert.

„Ja… Ich glaube in dir habe endlich einen echten Meister gefunden. Bei wem sonst könnte ich so viel über Kriegskunst lernen. Also… Wenn du nichts dagegen hast, würde ich dich sehr gerne so nennen. Ein klein wenig fühle ich mich dabei schon, wie eine richtige Soldatin. Denn es gibt da jemanden, den ich um jeden Preis beschützen will. Daher muss ich stärker werden“, sagte sie mit glücklicher Miene.

„Hm… Es ist zwar etwas seltsam, aber wenn du unbedingt darauf bestehst. Doch nenn mich bloß nicht vor den anderen so. Sonst kommt das nur wieder falsch rüber. Da fällt mir ein… Ich schätze ja, dass du mich ausgewählt hast. Doch warum hast du dich nicht Albert anvertraut? Er wäre für dich bestimmt noch geeigneter als ich. Jetzt komm mir nicht mit der Ausrede, er sei zu beschäftigt“, erkundigte Moran sich nach dem Grund für ihre Entscheidung. Ihr Blick trübte sich und sie schwieg einen Moment.

„Mit ihm …ist alles ein wenig komplizierter“, murmelte sie knapp.

„Warum das denn auf einmal? Ihr beide versteht euch doch prächtig. Ach egal. Komm, lass uns gehen.“ Munter plaudernd liefen die zwei zum Anwesen zurück. Dort angekommen, hatte Miceyla erst einmal vor sich frisch zu machen, da sie so aussehen musste, als ob sie eine halbe Weltreise hinter sich hätte. Ihr war bewusst, dass die Chance relativ gering war unentdeckt zu bleiben. Daher wunderte sie sich nicht, als Albert mit ein paar Briefen in der Hand aus dem Wohnzimmer schlenderte und sie zusammen mit Moran den Eingangsbereich betreten sah.

„Wo seid ihr so lange gewesen? Und Miceyla…diese Kleidung…“, meinte Albert und musterte sie skeptisch. Er schien alles andere als begeistert, über ihr chaotisches Erscheinungsbild zu sein. Es stand außer Frage, dass er sie hübsch zurechtgemacht bevorzugte. Irgendwie amüsierte sie sein frustrierter Gesichtsausdruck aber auch ein wenig.

„Wir waren an einem geheimen Ort trainieren, wie waschechte Soldaten! Denn ich muss euch doch tatkräftig zur Seite stehen können. Nicht wahr, Meister?“, sprach Miceyla euphorisch und knuffte Moran neckend in den Arm.

„Hey! Was habe ich dir vorhin gesagt?!.“, beschwerte dieser sich verärgert. Sie grinste bloß unschuldig.

„Meister…? Ja, mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr beide nun Kampftechniken einübt. Stärke macht dich noch schöner, meine liebreizende Eisblume. Und dennoch erhoffe ich mir, dass du nicht zu viel von deiner zarten Weiblichkeit verlierst. Es würde mir das Herz brechen, wenn du mich nicht mehr in einem wunderschönen Kleid, begrüßen kämst. Hier in unserem Zuhause, wo ich dich in Sicherheit weiß und immer ein Auge auf dein Wohlergehen haben kann“, meinte Albert unsagbar sanft und fuhr ihr zärtlich mit einer Hand, über ihr leicht zerzaustes Haar. Anschließend streichelte er so sachte ihre Wange, als wäre sie aus Porzellan. Augenblicklich bekam Miceyla eine Gänsehaut, bei seiner liebevollen Berührung. Sie hätte sich selbst etwas vorgemacht, wenn sie sich einredete, dass ihr dies nicht gefiel. Allmählich sah sie wirklich einen großen Bruder in ihm, der sie beschützen wollte. Wenn auch auf eine ganz besondere Art und Weise… `Ich bin keine Puppe, Albert… Ich mag mich nicht ständig klein und schwach fühlen. Auch ich wünsche mir, Ziele aus eigener Kraft erreichen zu können…`, dachte sie beharrlich und wurde trotzdem mit einem pochenden Herzschlag schwach, als sie in seine tiefgrünen Augen sah.

„Moran mein Guter, solltest du Miceyla irgendwann einmal verletzt nach Hause bringen, werde ich meine neuen `Trainingsmethoden` an dir ausprobieren“, warnte Albert ihn mit einem teuflischen Lächeln.

„Ich gebe darauf Acht, dass sie keinen Kratzer bekommt. Will ja schließlich noch meinen Kopf behalten, ha, ha“, versprach Moran daraufhin und verhielt sich vor dem Ältesten der Moriarty-Brüder so respektvoll, wie es sein unzüchtiges Wesen zuließ.

„Oh Mann, von allen Seiten werde ich hier in die Enge getrieben… Und wie soll man so anständig trainieren…?“, murmelte er noch etwas genervt und entfernte sich.

„Ich freue mich darauf, bald das erste Resultat deines praktischen Trainings zu sehen. Mute dir aber nicht zu viel zu und sei stets vorsichtig. Rasche Fortschritte kommen nicht über Nacht und brauchen Geduld. Perfektion entspringt deinen eigenen Überzeugungen. Präge dir das gut ein, Schwesterherz“

„Ich bleibe immer bedachtsam. Da ich nun nicht mehr alleine bin und Menschen gefunden habe, die mir sehr am Herzen liegen, passe ich gut darauf auf, euch keinen Kummer zu bereiten…Bruderherz…“
 

Der Tag ging zu neige und draußen wurde es stockduster. Miceyla lief im Wohnzimmer hin und her, von einer Stelle zur nächsten und zündete, wie sie es angekündigt hatte, eine Kerze nach der anderen an. Im Geheimen hatte sie beinahe das gesamte Anwesen, nach den verschiedensten Kerzen abgesucht und überall im Raum verteilt aufgestellt. Auf den Tischen, Stühlen, sogar auf dem Boden, sie ließ keinen Platz aus. Geruhsam zündete sie die letzte Kerze an und blickte sich um. Sie stand umringt von etlichen, friedlich flackernden Lichtern. Inmitten von kleinen, tanzenden Feuern. Furcht übermannte Miceyla, als sie ihre rechte Hand, zu einer der zart leuchtenden Flammen ausstreckte und die prickelnde Hitze auf der Haut zu spüren bekam, in der eine immense Macht schlummerte. Dabei stellte sie sich vor, wie es sein musste, in einem glühenden Feuer zu verbrennen. Keinen qualvolleren Schmerz könnte sie sich vorstellen, als einen langsamen, leidvollen Tod zu sterben. Sie wollte dennoch nicht wegschauen, sich dieser Furcht stellen und an all die Menschen denken, welche auf grausame Weise ihr Leben lassen mussten. Moran stand schon eine ganze Weile an der Tür und beobachtete sie im Stillen.

„Da bin ich wieder… Ach du liebes bisschen! Weshalb brennen hier denn so viele Kerzen? Das ist ja das reinste Flammenmeer.“ William betrat das mit Lichtern überflutete Wohnzimmer und Miceyla fand bei ihm einen Gesichtsausdruck des puren Erstaunens vor, den sie bislang nur selten gesehen hatte. Moran fuhr sich bloß mit nachdenklicher Miene, durch seine schwarzen Haare, dann wandte er sich schweigend ab. Miceylas und Williams Blicke trafen sich. Seine rubinroten Augen spiegelten das Kerzenlicht wider, welches sie beide umgab. Auch er selbst verströmte eine feurige Hitze. Jedoch fürchtete sie sich nicht vor seiner verborgenen Kraft. Viel eher war sein Glühen wie ein schützendes Funkeln, dass sich sanft um sie legte. Während ihre Blicke miteinander verschmolzen, konnte sie sich auf einmal vorstellen, dass sie beide die Fähigkeit besäßen, unbeschadet durch das erbarmungsloseste Feuer zu schreiten, solange sie nur füreinander da wären. Gemächlich schritt William auf Miceyla zu und gesellte sich zu ihr in die Mitte des Raumes. Zärtlich legte er seine Arme um sie, als wollte er sie von all den bedrohlichen Flammen abschirmen.

„In deinen Augen schimmert die Angst, noch mehr zu verlieren, als du es ohnehin schon getan hast. Und die Trauer, vergangene Fehler und falsche Entscheidungen nicht begleichen zu können. Ebenso die Zweifel, ob du den richtigen Weg für die Zukunft gewählt hast. Zu guter Letzt funkelt darin noch der starke Wille, die schönen Seiten des Lebens nicht zu vergessen und dankbar zu sein für jeden neuen Tag, an dem du dir sagen kannst: `Es ist wert niemals aufzugeben und die etlichen Wunder dieser Welt zu erforschen.` Du brauchst keine Angst vor den Flammen zu haben. Werde selbst zu einer unaufhaltsamen Flamme und besiege das erstickende Feuer um dich herum. Lass uns gemeinsam brennen. Unaufhaltsam und endlos. Ich werde dein verwundetes Herz heilen, meine Liebste“. Seine Worte hatten eine wahrlich magische Wirkung auf sie. Es fühlte sich für Miceyla an, als wäre sie schwerelos und würde von ihm davongetragen werden. Weit weg, von all den auflauernden Gefahren, welche in den Schatten auf sie warteten.

„Ich liebe dich, Will…“ Nach ihren flüsternden Worten, beugte er sich etwas zu ihr hinab und küsste sie sanft auf die Lippen, während sie in einem Flammenmeer standen, das aus unzähligen Kerzen bestand. In jedem der ruhigen Lichter schlummerte eine Seele, die zwar bereits erloschen war, doch in den Herzen der Menschen, niemals in Vergessenheit geraten würde.
 

Liebes Tagebuch, 23.3.1880
 

widerwillig habe ich die schrecklichen Facetten meiner Vergangenheit wachgerüttelt. Es ist erschreckend, wie fest Verluste einen in der Hand haben können. Ich kann gut nachvollziehen, weshalb viele Menschen schnell gereizt und empfindlich auf gewisses Gesprochene reagieren. Oft verbirgt sich ein triftiger Grund dahinter. Woher wissen wir, was eine Person alles durchstehen musste? Und welche Gefühle verletzt wurden? Vielleicht fällt es der Person auch schwer, ihr Umfeld oder gar sich selbst zu akzeptieren. Was für eine Weltanschauung wir erlernen, wird bereits bei der Geburt festgelegt. Wir werden in ein Grundmuster hineingeboren und ahmen die Lebenseinstellung unserer Mitmenschen nach. Aber warum wird es als unzüchtig angesehen, aus diesem Schema ausbrechen und einen neuen Lebensweg beschreiten zu wollen? Es muss doch gerecht sein, wenn man eine Gabe besitzt, von unten nach ganz oben aufzusteigen. Während ich die Menschen betrachte, sehe ich meistens nur, wie sie sich oberflächlich und mit lauter Vorurteilen begegnen, Ich jedoch mag die wahren Hintergründe verstehen lernen. Eine scheue Seele hat nicht immer den Mut, sich anderen zu öffnen. Und auch hinter dem kühnsten Lächeln, verbirgt sich oftmals eine zermürbende Trauer. Ich werde mein Umfeld gut beobachten und wer weiß, ob ich nicht dem ein oder anderen eine herzzerreißende Geschichte entlocken kann, die zuvor nicht dagewesenes Mitgefühl anderer weckt. Gerechtigkeit ist nichts, was man erzwingen kann. Es beginnt damit, dass jeder einzelne sein eigenes Handeln reflektiert und die Fehler von sich selbst und seinem Gegenüber vergibt. Für einen Neuanfang ist es nie zu spät. Das Leben hält immer wieder neue Entdeckungen parat, die uns herausfordern und bereichern. Helden die ihr Leben riskiert haben, um geliebte Menschen zu beschützen und der Gefahr trotz eigener Ängste mitten ins Auge blickten, verschwinden nicht einfach. Sie leben unsterblich in unseren Erinnerungen weiter und gehen in die Geschichte ein.
 

Vergessene Helden des Krieges
 

Erstickender Schwefel, brennende Erde,

Soldaten stürmen aufeinander zu wie eine wilde Herde.

Hektisches Kreischen, brüllende Kanonen,

die Strategie des Krieges sollte sich nicht länger lohnen.
 

Tobender Sturm, fallende Kameraden,

die Gewehre werden von neuem geladen.

Listige Intrige, gebrochenes Versprechen,

die Feinde werden sich ohne ein jähes Ende rächen.
 

Flüchtiger Sonnenstrahl, schmerzende Wunden,

die Generäle drehen erneut ihre Runden.

Stilles Opfer, Frieden in der Ferne,

von der wahren Treue erzählen bloß nur noch die Sterne.
 

Glücklose Illusion, rostendes Schwert,

die gefühlskalte Grausamkeit welche jedem widerfährt.

Starker Wille, vergessener Held,

die Zukunft sich dem letzten Gefecht gegenüberstellt.

Im Schutz einer Gemeinschaft

Auf Londons Straßen herrschte reges Treiben. Die Leute liefen fröhlich von einem Verkaufsstand zum nächsten und verrichteten ihre täglichen Einkäufe. Miceyla war gemeinsam mit William und Louis in die Stadt gefahren, um allerlei Besorgungen zu erledigen. Der April zeigte sich von seiner besten Seite und bei den ganzen frohgestimmten Gesichtern denen sie begegnete, bekam auch sie gute Laune. Das einzig ungewohnte war, dass die meisten Menschen der unteren Schichten, sie und die Brüder mit beinahe ehrfürchtigen Blicken beäugten, als seien sie Mitglieder der Königsfamilie. Ein wenig seltsam fand sie es schon, plötzlich so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Den Brüdern schien dies nicht im Geringsten etwas auszumachen. Und auch sie selbst lief einfach mit einem freundlichen Lächeln durch die Gegend. Während die ganzen anderen vornehmen Damen in ihrem Alter so trüb und gekünstelt dreinblickten, wie drei Tage Regenwetter, war sie ein Sonnenschein, der Freude und Heiterkeit verströmte. Nun trug Miceyla hochwertigere Kleider, um ihrer Rolle als junge Adelige gerecht zu werden. Jetzt war es nur nicht mehr so einfach für sie, mit einem schlichten Kleid in der Menge untertauchen zu können.

„Schaut euch nur all das leckere Obst an! Nehmen wir hiervon etwas und davon auch! Oh! Und wie wäre es hiermit?“, sprach sie mit strahlenden Augen, bei der großen Auswahl an frischem Obst.

„Miceyla, wir müssen das alles auch irgendwie tragen können. Beim nächsten Mal, nehmen wir wieder Moran mit. Und bedenke, dass uns die zuvorkommenden Bauern aus Durham, mit vielerlei Obst und Gemüse eindecken. Für verschwenderisches Verhalten ist kein Bedarf“, meinte Louis rechthaberisch.

„Missbrauche den armen Moran nicht immer als Packesel“, verteidigte sie ihn rasch.

„Wir nehmen von allem etwas. Wie kann man bei der großen Auswahl auch nein sagen. Diese Händler hier profitieren ebenfalls von unserer Unterstützung. Lass uns dann gleich zum nächsten Stand gehen, meine Liebe“, sprach William lächelnd und legte ihr wohlwollend eine Hand auf die Schulter.

„Hach… Ihr beiden mal wieder…“, kam es nur seufzend von Louis.

„Oh, seht mal dort drüben!“ Miceyla wollte zu einem der benachbarten Stände laufen, da stieß sie unsanft mit jemandem zusammen.

„Ups!... Verzeihung, das war ungeschickt von mir…“, entschuldigte sie sich hastig, doch von der Person kam keinerlei Reaktion. Es war ein hochgewachsener Mann, in einem langen, zerfledderten Umhang. Man konnte sein Gesicht nicht richtig erkennen, da er eine tiefgezogene Kapuze trug. Er wandte sich ihr kurz zu, dann schlurfte er stumm in der Menschenmenge davon. `Irgendetwas war verdächtig an dem Kerl…`, dachte sie mit zusammengekniffenen Augen und blickte ihm noch mal hinterher. Nachdem William und Louis bezahlt hatten, gesellten die zwei sich mit jeweils einer Einkaufstüte bepackt zu ihr.

„Ist etwas passiert?“, erkundigte William sich ernst,

„Da war nur ein unfreundlicher Mann, mit einem äußerst zwielichtigen Erscheinungsbild. Jetzt ist er auch schon wieder weg…“, murmelte Miceyla nachdenklich.

„Das hast du dir bloß eingebildet. Gewöhne es dir ab, in allem und jedem etwas Verdächtiges zu sehen“, meinte Louis daraufhin desinteressiert.

„Ich bilde mir nichts ein!“, zischte sie nur beleidigt. William blickte schweigend für einen Moment zu einem Ort, den sie nicht ausmachen konnte, dann entspannte er sich aber sofort wieder.

„Lasst uns gehen, ihr Lieben. Ich denke wir haben mehr als genug eingekauft“, beschloss William und sie nickte zusammen mit Louis zustimmend. Zu dritt verließen sie den Marktplatz und schlugen den Weg zu ihrer Kutsche ein. Da hörten sie plötzlich maunzende Laute. Alle drei tauschten wortlos Blicke miteinander aus.

„Das kam von dort trüben!“ Miceyla lief geschwind in eine enge Gasse hinein. Dort fand sie zwei kleine Kätzchen, die verängstigt dicht beieinander, auf dem verdreckten Boden kauerten. Sofort überkam sie Mitgefühl, beim Anblick der verwahrlosten Geschöpfe. Langsam ging sie in die Hocke und streckte vorsichtig eine Hand zu ihnen aus.

„Habt keine Angst, meine Kleinen. Ich tue euch nichts.“ Das eine Katzenkind war schneeweiß mit himmelblauen Augen, dass andere war orange-weiß gestreift und hatte grüne Augen. Doch ihr beider Fell war zerzaust und glanzlos. Zusätzlich zeichneten sich ihre Rippen ganz deutlich darunter ab. Die weiße Katze schnupperte zitternd an einem ihrer Finger. `Leider haben wir nichts zu Essen gekauft, was ihr mögen würdet…`, dachte Miceyla frustriert.

„Ach Gottchen, was für arme hungernde Katzen. Das ist leider kein seltenes Vorkommen in der Innenstadt…“, meinte William sorgenvoll.

„Ja, da blutet einem das Herz“, sprach Louis, stellte seine Einkaufstüte ab und hockte sich neben sie. Kurz darauf begann er ohne Scheu, dass gestreifte Kätzchen zu streicheln.

„Die beiden sind noch sehr jung und scheinen ihre Mutter verloren zu haben…“, vermutete sie betrübt.

„Wer weiß was dem Muttertier zugestoßen ist… In dieser Gegend, wird sehr oft Jagd auf Straßenkatzen gemacht“, berichtete William und bekam einen düsteren Gesichtsausdruck, beim Gedanken an all die garstigen Menschen.

„Wie abscheulich! Können wir diese widerlichen Tierquäler, nicht auch auf unsere Liste setzen? Ich kümmere mich gerne selbst darum“, sagte Miceyla ergriffen.

„Da schließe ich mich dir liebend gern an“, meinte Louis im Anschluss an ihre Worte. Verwundert blickte sie in sein verantwortungsbewusstes Gesicht, das auf einmal Züge eines Beschützers besaß.

„Sag bloß, du magst ebenfalls Katzen?“, erkundigte sie sich verblüfft.

„Was ist daran so sonderbar? Ich habe kein Herz aus Stein“, erwiderte er ohne sie dabei anzusehen. Mittlerweile hatten die beiden Kätzchen Vertrauen zu ihnen gefasst. Die Weiße schmiegte den Kopf gegen ihre Hand und die Gestreifte schnurrte laut bei Louis‘ Streicheleinheiten. Jetzt trafen sich ihre Blicke und Miceyla meinte zum ersten Mal, denselben Gedanken wie Louis zu haben.

„Will, hättest du etwas dagegen, wenn wir die beiden jungen Katzen bei uns aufnehmen? Ich werde mich auch gewissenhaft um sie kümmern, versprochen. Wir wohnen in einem riesigen Anwesen, da stören solch sanfte Wesen bestimmt niemanden“, versuchte sie William davon zu überzeugen, die kleinen Straßenkatzen zu adoptieren.

„Teilen wir uns diese Aufgabe. Auch ich kümmere mich um die beiden Fellnasen“, fügte Louis noch hinzu.

„Nun… Es scheint mir, als ob ich euch zwei Katzenliebhabern, damit einen Herzenswunsch erfüllen würde. Wenn ihr dafür sorgt, dass sie gut erzogen werden und keinen Unfug im Anwesen treiben, können wir den Kleinen, sehr gerne bei uns ein neues Zuhause schenken. Und solange keine weiteren dazukommen“, willigte William mit einem Lächeln ein. Nach dessen positiven Einwilligung, lächelten Miceyla und Louis sich sofort glücklich an. Ihr Herz machte vor Freude einen Sprung. Noch nie zuvor hatte er sie mit dieser aufrichtigen Güte in den Augen angelächelt. Sie beide hatten ein gemeinsames Interesse gefunden, dass eine versöhnende Wirkung auf ihren brodelnden Zwist ausübte. Sie nahm sachte eines ihrer neuen kleinen Katzenfreunde auf den Arm. Louis nahm liebevoll die andere Katze, dann erhoben sie sich wieder.

„Es sind beides weibliche Katzen. Lass uns ihnen schon mal Namen geben. Ich finde Luna passt gut für die Weiße“, beschloss sie heiter.

„Und die Gestreifte nennen wir Lucy“, sagte Louis zufrieden und lief gemeinsam mit ihr aus der Gasse hinaus.

„Puh… Darf ich das jetzt alles tragen?“, meinte William mit Blick auf die am Boden stehende Einkaufstüte, welche er nun auch noch tragen musste.

„Da sind wir wieder!“ Miceyla betrat als Erste das Anwesen und Albert nahm sie gleich mit einem Strahlen in Empfang.

„Ah, wie schön. Willkommen daheim… Und…? Was haben wir denn hier, gab es heute Katzen im Angebot?“, fragte er verwundert.

„Die hilflosen Kätzchen, fanden wir in einer verschmutzten Gasse. Sieh dir die Ärmsten doch nur mal an. Wenn die Kleinen nicht bald etwas in den Magen bekommen, werden sie verhungern. Will hat sich schon einverstanden erklärt, dass wir sie bei uns aufnehmen können. Louis und ich kümmern uns gut um die beiden. Ich hoffe auch du hast nichts dagegen“, sagte sie mitleidvoll und betrachtete die junge weiße Katze, welche bereits in ihren warmen Armen eingeschlummert war.

„Na, es steht drei gegen einen, da kann ich doch gar nicht mehr nein sagen. Die zwei werden sich bestimmt hier rundum wohlfühlen. Nun wurden sie von ihrem Elend erlöst und fanden dank euch ein neues Zuhause, dass für sie wie ein Paradies sein wird. Ich erfülle dir jeden Wunsch, der dich noch glücklicher macht, meine liebe Eisblume… Moran, dann können wir dich ja gleich auf den Fischmarkt schicken“, sprach Albert und warf einen grinsenden Blick zur Treppe, auf der ein leicht verschlafen aussehender Moran erschien.

„Wie…? Was…? Hab ich da meinen Namen gehört?“, brummelte dieser schläfrig.

„Meister! Auch du wirst dich sicherlich schnell mit den niedlichen Kätzchen anfreunden!“ Miceyla lief übermütig mit der Katze auf ihn zu, woraufhin er hastig einige Schritte zurückwich. Auf einmal wirkte er hellwach.

„Urgh…! Hauptsache die Viecher kratzen mir nicht die Augen aus oder springen mich mitten in der Nacht an…“, meinte er und schien alles andere als begeistert zu sein.

„Also ehrlich! Das sind doch keine wilden Bestien… Hat da etwa jemand Muffensausen? Ich dachte, du seist ein gestandener Mann. Hi, hi…“, kicherte sie schelmisch.

„Jetzt hör aber mal auf! Mach dich ja nicht über mich lustig! Ich glaub es hakt!“, versuchte Moran sich argwöhnisch rauszureden.

„Da fällt mir ein, es gibt da noch ein kleines Anliegen meinerseits, dass darauf wartet erledigt zu werden. Miceyla, komme mal eben mit mir“, bat Albert geheimnisvoll und winkte sie herbei während er die Treppe hinauflief. Sie überreichte die weiße Katze Louis und folgte Albert anschließend in sein Arbeitszimmer. Dort erhaschte sie kurz einen Blick, auf den glänzend polierten Flügel, der darauf wartete, dass man auf ihm spielte.

„Ich habe hier ein bescheidenes Schreiben, für das ich deine Unterschrift erbitte.“ Mit diesen Worten legte er ihr ein vertragsähnliches Dokument vor, mit dem Familienwappen der Moriartys darauf.

„Gut. Und worum genau handelt es sich dabei? Ich dachte, alles zum Thema familiäre Angelegenheiten, wäre bereits erledigt“, fragte sie und wollte das Blatt wenden, um es sich einmal näher durchzulesen. Albert jedoch, legte noch vorher seine Hand darauf und sah ihr mit einer ungewöhnlichen Beharrlichkeit in die Augen.

„Wieso darf ich nicht erfahren, was der Inhalt des Schreibens ist? Wir verbergen doch nichts voreinander. Ich unterzeichne nicht blindlinks einen Vertrag, ohne zu wissen, was dies für Auswirkungen haben könnte“, stellte sie besonnen klar und fühlte sich auf einmal ein wenig unwohl.

„Verzeih… Das ist eigentlich nicht meine feine Art. Dennoch gibt es keinen Grund für Misstrauen. Du weißt ganz genau, dass ich niemals etwas in die Wege leiten würde, dass dir schaden könnte. Im Gegenteil, ich versuche alles in meiner Macht Stehende zu tun, um dein Glück zu bewahren“, versicherte er ihr in einem sanften Ton.

„Gewiss… Deine Mühen für mich, sind mir mehr als teuer. Allerdings…bedeutet dies, dass wenn ich den Inhalt des Schreibens kennen würde, mich folglich weigerte, meine Unterschrift darauf zu setzen. Hach… Weiß William davon?“

„Selbstverständlich“, antwortete Albert ihr augenblicklich.

„Dann vertraue ich euch einfach mal. Was bleibt mir auch anderes übrig…“ Ein leicht mulmiges Gefühl bekam Miceyla, als sie den Stift ansetzte und langsam unterschrieb.

„…Ich habe ohnehin einen Teil meiner Freiheit für euch geopfert…“, flüsterte sie im Anschluss.

„Ich danke dir vielmals…“, wehmütig nahm er das unterzeichnete Dokument wieder an sich. Schweigsam erhob sie sich von ihrem Sitzplatz und lief zur Tür.

„Bis nachher…“, meinte Miceyla noch leise, dann schritt sie hinaus und gesellte sich zu den anderen ins Wohnzimmer. William hatte mittlerweile die Einkäufe in der Küche verfrachtet und plauderte mit Moran am Tisch. Fred war im Garten beschäftigt und Louis bot derweil den kleinen Katzen, zwei Schälchen mit Milch an und startete einen ersten Fütterungsversuch. Sie legte ihre Tasche auf dem Sofa ab, welche sie die ganze Zeit über umhängen hatte und warf einen flüchtigen Blick hinein.

„Nanu…?! Wo kommt dieser Anhänger plötzlich her?“, sprach sie ihre Gedanken laut aus und holte einen merkwürdig aussehenden Kettenanhänger, mit einem seltsamen Kreuz darauf hervor, der nicht von ihr stammte.

„Und dort ist ein `L` eingraviert“, erkannte sie nach genauerem inspizieren des fremden Objektes.

„Nein, sag bloß…!, platzte es erstaunt aus Moran.

„Die Apostel von Lambeth!“ Fred kam eilig herbeigestürmt und blickte voller Aufregung drein. Wie er ihr Gemurmel aus der großen Entfernung gehört haben konnte, war ihr ein Rätsel.

„Sollte mir das ein Begriff sein?“, fragte sie den aufgebrachten Jungen unwissend.

„Das ist eine kleine Gruppierung, die in Lambeth ansässig ist. Viele der Mitglieder haben ihren Adelstitel abgelegt und sind der Kirche beigetreten. Sie verteidigen die Rechte der Bürger und verteilen mahnende Botschaften an diejenigen, welche ihre Untergebenen wie Nutztiere behandeln. Die Oberschicht beschimpft sie als die Ausgestoßenen der Gesellschaft und fürchtet deren Taten, wie Flüche eines wahnsinnigen Zauberers. Ich kenne einige von dieser Gruppe, es sind sehr herzensgute Menschen unter ihnen“, erzählte Fred um sie aufzuklären.

„Das hast du gut beschrieben. Diese Leute haben sich mittlerweile einen Namen in ganz England gemacht. Wer sich mit den aktuellen Kriminalfällen aus dem Untergrund beschäftigt, wird früher oder später auf die Apostel von Lambeth stoßen. Natürlich zogen sie rasch die Aufmerksamkeit von Scotland Yard auf sich und für die Polizisten, war jene populäre Gruppierung sofort ein Dorn im Auge. Nun kommt es allmählich zu den ersten Konfrontationen. Daher haben die Lambeths mich als Mentor in kriminellen Angelegenheiten, beziehungsweise uns, um Hilfe gebeten. Na, erinnerst du dich an deine rätselhafte Begegnung von heute Morgen, mein Liebling? Dieser Mann war unser Auftraggeber“, verriet William geruhsam.

„Dann hat er mir also den Kettenanhänger in meine Tasche gesteckt! Unglaublich, ich habe nicht mal ansatzweise etwas davon bemerkt! Und das obwohl ich eigentlich immer sehr aufmerksam bin“, kam es ehrfürchtig von Miceyla.

„In ihrer Organisation, sind einige Menschen mit bemerkenswerten Fähigkeiten. Es wäre eine Schande, diese ganzen außergewöhnlichen Talente verkümmern zu lassen. Alleine schaffen es die Apostel von Lambeth nicht, den Konflikt mit Scotland Yard zu lösen. Daher sind sie auf die Hilfe von Außenstehenden angewiesen, um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Zwar nutzt die Gruppe andere Methoden und folgt einem anderen Leitbild als wir, doch schadet es nicht, noch ein paar Sympathisanten dazu zu gewinnen. Es würde mich sogar nicht wundern, wenn Sherlock angelockt und mitreingezogen wird… Dann wollen wir uns ihrer Notlage mal annehmen. Miceyla, Moran, euch beide werde ich damit beauftragen, den Fall in die Hand zu nehmen. Fred kann euch mit weiteren Informationen versorgen und euch nach Lambeth begleiten, da er die Leute dort persönlich kennt. Ich empfehle, gleich diesen Freitag dorthin aufzubrechen. Fahrt ein paar Stationen mit dem Zug und nutzt den Anhänger, wenn nötig als Erkennungssymbol“, beschrieb William ihre Vorgehensweise und schlug kurz darauf die Zeitung auf und las entspannt darin.

„Und…?“, begann Miceyla zögerlich.

„Und?“, wiederholte William und sah sie lächelnd an.

„Ich meine… Gibst du uns keinen detaillierten Plan mit auf den Weg, nach den wir uns richten sollen?“, hakte sie verunsichert nach.

„In der Tat schwirren mir bereits etliche Ideen durch den Kopf, wie die Sache am besten angegangen werden sollte. Aber es wäre doch unspektakulär, euch immer nur stur Anweisungen abarbeiten zu lassen. Ihr wärt ja vollkommen unterfordert. Und außerdem seid ihr drei kluge Köpfe. Ich verlasse mich auf euer schauspielerisches Talent. Sorgt dafür, dass es zu einer Einigung zwischen den Apostel von Lambeth und Scotland Yard kommt. Der Idealfall wäre eine friedliche Verhandlung. Bedenkt jedoch, der Auftrag wird erst dann erfolgreich erfüllt sein, wenn es auf beiden Seiten keinen einzigen Toten gegeben hat. Wohlan, ich wünsche euch allen viel Erfolg“, sprach William und lächelte bestärkend, ehe er sich wieder seiner Zeitung zuwidmete. `Das hört sich ganz nach einer ernstzunehmenden Herausforderung an…`, dachte sie aufgeregt.

„Prima, dann lasst uns mal ein paar Heiligen aus der Patsche helfen. Vor der Mission sollten wir unser Waffenrepertoire auffrischen gehen. Miceyla, bei der Gelegenheit zeige ich dir, wo du dich jeder Zeit mit allerlei Utensilien eindecken kannst. Unser netter Freund, hält nur die allerfeinste Ware bereit“, meinte Moran motiviert.

„Na da bin ich aber mal gespannt“, erwiderte sie freudig und wollte gerade mit Moran das

Wohnzimmer verlassen, als Louis sie beide energisch am Arm packte.

„Schön hiergeblieben ihr zwei! Bevor ihr euch irgendwo vergnügen geht, werdet ihr erstmal eine Besorgung für mich erledigen! Wir haben keine Kerzen mehr. Unser gesamter Vorrat ist aufgebraucht, da eine gewisse Person neulich so verschwenderisch war. Schon vergessen? Und du Moran, hast sie dabei auch noch kräftig unterstützt. Also wisst ihr, welches Anliegen Priorität hat. Es gibt für euch kein Abendessen, wenn nicht vorher ein entschädigender Nachschub hier eintrifft. Verstanden?“, erinnerte er sie mit strengem Blick.

„U… Wah…! Louis, du bist gruselig… Na gut, na gut. Ich komme für die geopferten Kerzen auf. Du brauchst nicht gleich tobsüchtig zu werden…“, seufzte sie nachgebend.

„Fein, erledigen wir das eben zuerst…“, murmelte Moran und verdrehte schlecht gelaunt die Augen.
 

„Aha, so sieht für dich also konkret, eine missionsvorbereitende Maßnahme aus. Ich sehe weit und breit kein Waffenlager. Du hast mich in ein miefendes Pub geschleppt! Jetzt weiß ich auch, warum Fred abgelehnt hat mitzukommen. Ich bin schwer von dir enttäuscht, Meister!“ Miceyla saß zusammen mit Moran, an einem runden Kneipentisch, während er sorglos Bier in sich hineinschüttete und sie ihn mit wütenden Blicken verfluchte. Und zu allem Überfluss, hatten es sich zwei aufreizende junge Damen, direkt neben Moran bequem gemacht und machten ihm schöne Augen. `Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich daheim geblieben, um meine Zeit sinnvoller zu nutzen…`, dachte sie erzürnt.

„Entspann dich mal etwas. Erst das Vergnügen, dann die Arbeit. Wir sind doch nicht auf der Flucht. Komm, trink ein Gläschen mit“, sprach er nur unbekümmert und lächelte die jungen Frauen gefühlvoll an.

„Ein dreckiger Weiberheld bist du auch noch… Ich fange an meinen Respekt für dich zu verlieren…“, murmelte Miceyla und seufzte leise. `Obwohl mir dies schon der erste Eindruck von dir vermittelt hat`, fügte sie belustigt in Gedanken hinzu. Plötzlich beäugten die zwei Frauen sie finster.

„Wer ist dieses fein gekleidete Fräulein? Ihr seid gemeinsam hergekommen. Die ist sich doch bestimmt zu schade, für einen gewöhnlichen Tropfen aus einem Pub“, sagte die eine höhnisch.

„Genau! Hast du es etwa geschafft, dir eine Adelige zu angeln? Damit wirst du dir nur Ärger einhandeln. Sie wird hoffentlich nicht deine Favoritin sein…“, meinte die andere und klammerte sich flehend an Moran.

„Würg… In diesem Leben und auch im nächsten garantiert nicht mehr…“, konterte Miceyla mit ausdrucksloser Miene.

„Ich kann euch beruhigen, Mädels. Diese reizende Kratzbürste ist bereits verheiratet und in festen Händen. Sie ist die Gattin von dem vornehmen Herrn, für den ich arbeite. Bald wird aus ihr wahrscheinlich auch ein altes Motzweib. Dies ist das Schicksal aller Ehefrauen, die keinen frischen Wind mehr abbekommen“, meinte er scherzhaft und die Damen mussten laut anfangen zu kichern. Miceyla schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. Und anstatt empört zu sein, lachte sie so laut, dass alle Anwesenden des gesamten Pubs, sie fragwürdig anstarrten.

„Ha, ha, ha! Moran, du alter Frechdachs! Hüte deine Zunge. Du wartest ja anscheinend nur so darauf, dass man dir eine Abreibung verpasst. Und meine werten Ladys, ihr könnt mir gerne einen vollen Krug pures Schweineblut servieren. Ich garantiere, dass ich alles bis zum letzten Tropfen herunterbekomme, ohne auch nur einmal das Gesicht zu verziehen“, prahlte

Miceyla und grinste die jungen Frauen beinahe schon dämonisch an. Die beiden rissen verschreckt von ihrer überraschenden Selbstsicherheit, die Augen weit auf und zogen sich leise tuschelnd zurück.

„Hey, jetzt hast du mir meine Mädchen vertrieben! Naja, hab’s auch irgendwie verdient, nach meiner dezent sarkastischen Bemerkung, ha, ha. Aber ordentlich Schneid besitzt du, dass muss ich schon sagen“, meinte er ehrlich und leerte dabei seinen Krug.

„Das waren nicht `deine` Mädchen! Und ich muss mich nun mal behaupten, in einer Welt, in der jeder gegen Vorurteile ankämpft und vor allem die Männer glauben, sie hätten das Recht, frei über andere Menschen bestimmen zu können. Jeder, absolut jeder sollte sich seine eigene Rolle im Leben selber aussuchen dürfen. Und vielleicht wirst auch du zukünftig vernünftiger und hältst nach etwas Besonderem Ausschau, anstatt weiter den Herzensbrecher zu spielen. Na komm, lass uns endlich gehen. Es gilt eine Mission vorzubereiten!“, sprach Miceyla beharrlich und erhob sich energisch, dennoch lächelte sie Moran freundlich an. Dieser wirkte auf einmal viel ruhiger und blickte nachdenklich in seinen leeren Krug.

„Für etwas Besonderes ist meine Zeit zu knapp… Am Ende werden nur noch mehr mit ins Unglück gezogen und der Gefahr ausgesetzt. So wie William es mit dir gemacht hat… Argh! Was blase ich hier Trübsal! Gehen wir, Wirbelwind! Ich zeige dir die vortrefflichste Waffenkammer, die du je gesehen hast. Das wird dir glatt die Sprache verschlagen!“ `Die Zeit ist kein greifbares Objekt… Warum muss jeder immer alles vorrausschauend planen? Bereits der nächste Morgen, könnte so viel Neues bringen. Es wäre um einiges leichter, im Leben auch mal Überraschungen zuzulassen und sich nicht ständig nach einem faden Kreislauf zu richten…`, dachte Miceyla noch betrübt im Stillen, dann verließ sie mit Moran das Pub.

„Da wären wir! Na zufrieden, dass wir nach einem kleinen Umweg unseren Zielort erreicht haben? Willkommen in den Werkstätten des M16. Nach dir.“ Endlich kam sie mit Moran, an ihrem etwas abgelegenen Ort der Bestimmung an und staunte in der Tat nicht schlecht, über die modern ausgestattete Fabrik, welche sie gerade betrat.

„Das ist also jene Scheinfirma, von der ihr mir schon so einiges erzählt habt…“ Es packte sie sofort der Entdeckungsdrang und sie erkundete neugierig ihre Umgebung, in der es leicht nach Öl und Schießpulver roch. Da kam plötzlich wie aus dem Nichts heraus, ein junger Mann auf sie und Moran zugestürmt und schüttelte mit überschwänglichem Eifer ihre Hand.

„Welch eine Freude, hoher Besuch! Endlich hat unser räudiger Revolverheld, Sie mithergebracht! Freut mich, Sie nun persönlich kennenlernen zu dürfen, Mrs Moriarty. Ich bin von Herder. Sie werden bald feststellen, dass es keinen anderen Meisteringenieur gibt, dessen herausragender Ruf an den meinen heranreicht. In dieser Werkstatt, werden nur die erstklassigsten Unikate hergestellt“, stellte der freundliche Mann stolz sich und seine Arbeit vor. Er war von großer, schlanker Statur und hatte strahlend blonde Haare. Doch das Sonderbarste an ihm war, dass er eine Augenbinde trug. `Dieser Mann soll ein Ingenieur sein? Ist er etwa blind? Wenn er ohne zu sehen, trotzdem perfekt arbeiten kann, wäre dies mehr als nur bemerkenswert`, dachte sie staunend und betrachtete ihn eine Weile wie gebannt. Sein kräftiger Händedruck, hatte ihr bereits sein handwerkliches Geschick verraten.

„Freut mich ebenfalls Sie kennenzulernen, wo ich schon so viel Positives von Ihnen gehört habe. Gestatten Sie mir eine Frage, Sie stammen nicht aus England, oder?“, fragte sie ihn höflich.

„Gur erkannt! Ich komme gebürtig aus Deutschland. Schauen Sie sich ruhig um, vielleicht finden Sie ja etwas, dass Ihr Interesse weckt“, gab er Miceyla lächelnd die Erlaubnis, seine Werkstatt einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

„Ist meine Bestellung bei dir angekommen? Ich warte seit einer gefühlten Ewigkeit, auf das ganze Zeug!“, beschwerte Moran sich lautstark.

„Qualität braucht eben seine Zeit. Außerdem zerstörst du mit deinen Wurstfingern alles und ich bekomme nur beschädigte Einzelteile wieder! Meine Waffen sind zu schade, um sie nach dem ersten Gebrauch gleich zu verschrotten! Fange mal damit an, meine Mühen wertzuschätzen!“, entgegnete der junge Ingenieur frustriert. Während die beiden Streithähne, sich voller Herzblut freundschaftlich bekriegten, erkundete Miceyla das große Sammelsurium an Waffen und Gerätschaften. Einiges davon hatte sie noch nie zuvor gesehen und begann somit, über die Funktionen einzelner Utensilien zu spekulieren. In den Schränken und Vitrinen waren Unmengen an Schusswaffen gelagert. Jede einzelne Waffe war präzise verarbeitet worden und man fand welche, mit unterschiedlicher Größe und Anzahl an Fuhren. Während sie interessiert umherstöberte, erreichte sie eine Abteilung, in der Gegenstände gelagert wurden, die sich eher weniger für den alltäglichen Missionsgebrauch eigneten und daher wie aussortierte Ware im Abseits platziert waren. Ihr fiel ein langer Bogen ins Auge und sofort verspürte sie einen schmerzenden Stich im Herzen. Unbeirrt lief Miceyla weiter und entdeckte eine geräumige Vitrine mit ausschließlich Stichwaffen. Kurze, lange Messer, Dolche und Degen, die verschieden geformte Klingen besaßen. Darunter befand sich auch ein richtiges Schwert, das ihre volle Aufmerksamkeit gewann. Die lange silberne Klinge, zierte für sie unlesbare Schriftzeichen, welche sie keiner Sprache zuzuordnen vermochte. Und der Griff oberhalb war golden und kupferfarben. Miceyla wusste nicht weshalb, doch dieses Schwert zog sie komplett in den Bann. Es schien, als wollte die majestätische Waffe ihr eine mystische Geschichte erzählen. Ihre Augen spiegelten sich in der glänzenden Klinge. Für einen Moment schaltete sie jegliche Gedanken vollkommen ab und meinte, all die sagenumwobenen Geheimnisse zu spüren, welche tief in dem Schwert verborgen waren.

„Oho! Wie ich sehe, haben Sie den richtigen Riecher was Waffen angeht. Eine Dame mit Geschmack, ist mindestens genauso schwer zu finden, wie eine Perle im Ozean.“ Miceyla zuckte zusammen, als die laute Stimme des Ingenieurs, sie wieder ins Diesseits zurückholte.

„Das Schwert ist wunderschön… Es verkörpert den Stolz und die Tapferkeit eines rastlosen Kriegers, der trotz des Schmerzes sich immer wieder erhebt und weiterkämpft. Er senkt den Blick nicht und dennoch vergießt er unendlich viele Tränen. Eine Trauer, die auf Ewig fortbestehen bleibt. Doch da er ein gutes Herz besitzt, ist ihm der Frieden in seinem ewigen Schlaf vergönnt…“ sprach sie leise und lächelte sanft.

„Ach wie rührend… Sie besitzen ja wirklich eine blühende Fantasie. Und mit Ihrer Vorstellung, liegen Sie gar nicht mal so verkehrt, verblüffend! Ich habe mir dieses Schwer auf einer langen Reise andrehen lassen und nach einer ausgiebigen Recherche, erfuhr ich von einer dazugehörigen, uralten keltischen Legende. Jedenfalls weiß ich nur wage worum es dabei geht, da ich nicht die Motivation besaß, den dicken Schmöker zu lesen. Grob zusammengefasst handelt die Legende von einem Gott, der sich in eine Sterbliche verliebt. Als Strafe und um seine Angebetete am Ende retten zu können, wird er dazu gezwungen, sich mit diesem Schwert zu enthaupten. Das einzige Schwert, das einem Gott seine Unsterblichkeit nehmen kann. Tja, dies ist alles was ich darüber aufgeschnappt habe. Ärgerlich das mir das

Buch abhandengekommen ist. Wenn ich gewusst hätte, mal auf jemanden zu stoßen, der sich für derart seltene Geschichten interessiert, wäre ich pfleglicher damit umgegangen. Aber vielleicht schaffen wir es gemeinsam, das alte Buch wieder aufzutreiben. Eventuell besteht jedoch die Möglichkeit, dass eine solch dramatische Tragödie, zu sehr auf Ihr Gemüt schlägt. Dann vergessen Sie das Ganze besser“, erzählte von Herder leidenschaftlich.

„Glaub mir, es existiert keine Tragödie auf dieser Welt, welche ihre eigene übertreffen könnte. Miceyla ist ein taffes Mädel…“, nuschelte Moran mit einer Zigarette im Mund und betrachtete ebenfalls unbeeindruckt das Schwert.

„H-he! Wie oft muss ich dir noch sagen, dass hier drinnen nicht geraucht wird? Du bekommst bald Hausverbot oder ich lasse dich am besten gleich Schadensersatz zahlen!“, schimpfte der pflichtbewusste Ingenieur und bangte dabei um seinen ganzen kostbaren Besitz.

„Herrgott nochmal! Ich passe schon auf! Hältst du mich denn für total meschugge?“, erwiderte Moran mit erzürnter Miene und löschte seine Zigarette dennoch wieder, um es nicht drauf ankommen zu lassen.

„Genau, da hörst du es, Meister! Es gibt nichts Wertvolleres als ein Produkt, das nur dank der eigenen Arbeit entstehen konnte. So ergeht es mir auch mit meinen Geschichten. Das alles sollte wertschätzend behandelt und respektiert werden. Denn schließlich erschaffen wir Kunstwerke, die späteren Generationen, als Inspiration für ihre Entwicklungen und Fortschritte dienen“, sprach Miceyla lächelnd und stellte sich auf die Seite des gewissenhaften Ingenieurs.

„Ach, was für eine Wohltat! Diese Worte sind wie Musik in meinen Ohren. Endlich jemand der mich versteht. Hm… Na wie sieht es aus, möchten Sie das Schwert haben? Ich sehe doch den begeisterten Glanz in Ihren Augen, der mir Ihr Schwärmen dafür verrät. Ich schenke es Ihnen!“, entschied von Herder ganz spontan. Völlig verdutzt blickte sie den spendablen Mann an.

„A-aber geht das denn in Ordnung? Das Schwert muss sicherlich ein unersetzbares Unikat für Sie sein.“

„Ach was, für mich persönlich sind Waffen, die einen häufig gebräuchlicheren Nutzen haben und mit denen man anderen in technischer Hinsicht, stets einen Schritt voraus ist, weitaus wertvoller. Dieser alte antike Schatz verstaubt hier nur. Schließlich bin ich ein Mann der Zukunft! Die Vergangenheit ist bloß ein kleiner Baustein, auf dem alles Wesentliche aufbaut. Also, nehmen Sie es bitte. Ich vertraue Ihren bedachtsamen Händen, das Schwert in Ehren zu halten“, bestärkte er sie noch einmal lächelnd.

„Nun, wenn das so ist, bedanke ich mich für Ihre Großzügigkeit und nehme es mit gutem Gewissen an. Mich interessiert auch die dahintersteckende Legende. Vielleicht lüfte ich sogar das Rätsel, um die darauf befindlichen Schriftzeichen. Sie haben wirklich ein ausgezeichnetes Auge für Raritäten… Hoppla! Ich meine ein ausgezeichnetes Gespür! Natürlich wollte ich Gespür sagen, ha, ha!“, haspelte Miceyla und lachte verlegen.

„Ist das dein Ernst? Eine auffälligere Waffe konntest du dir nicht aussuchen. Was willst du denn mit dem protzigen Teil? Im Wald einen auf heldenhaften Krieger machen? Oh Mann ey… Wie dem auch sei, ich hab alles bekommen, weswegen ich herkam. Wir können also wieder verduften. Es sei denn, du willst noch mehr alten Plunder mit nach Hause schleppen. Louis wird sehr begeistert sein, wenn wir das Anwesen zumüllen…“, nörgelte Moran nur verständnislos.

„Dafür findet sich schon eine Verwendung. Und keine Sorge, ich habe nicht vor ein

Antiquitätengeschäft zu eröffnen. Gehen wir. Ich bedanke mich nochmal vielmals, dass Sie das Schwert in meine Obhut geben. Bestimmt sehen wir uns bald wieder und können uns weiter unterhalten“, verabschiedete Miceyla sich strahlend.

„Keine Ursache! Auf ein andermal“, sprach von Herder zufrieden und überreichte ihr das Schwert, welches er zuvor sorgfältig in einen Lederbeutel eingewickelt hatte. Nach dem Verlassen der Werkstatt, stieg sie gemeinsam mit Moran und ihrer reichen Ausbeute in eine Kutsche.

„Wir treffen uns übermorgen mit Fred morgens am Bahnhof. Sagen wir halb acht. Und pack dir Sachen für ein paar Tage zusammen. Denn ich denke nicht, dass sich der Aufruhr in Lambeth, an nur einem Tag aus der Welt schaffen lässt. Daher werden wir uns dort für den Fall der Fälle, in einem Hotel einquartieren. An dem Tag unserer Ankunft, verschaffen wir uns erstmal einen Überblick über die dortige Lage. Alle weiteren Handlungen, lassen sich dann anschließend davon ableiten. Das wird garantiert kein halsbrecherisches Manöver, nur ein wenig Fingerspitzengefühl ist gefragt. Da fällt mir ein… Wo wir gerade eben so schön beim Thema Schwerter waren, kam mir in den Sinn, dass William und ich früher mal mit Stäben Fechten geübt hatten. Die Dinger liegen garantiert noch irgendwo herum. Seine Techniken hat er in Perfektion gemeistert. Gegen ihn kommst du allein mit Kraft nicht an. Mann oh Mann, wie oft musste ich mich doch geschlagen geben. Ich bekomme jedes Mal eine Gänsehaut, wenn ich daran denke… Ihn wollte ich nicht als ernsthaften Gegner haben“, verriet Moran und schwelgte in Erinnerungen.

„Wirklich?! Das wusste ich ja noch gar nicht! Und versuche mal etwas zu finden, dass Will nicht meisterlich beherrscht, he, he. Übst du mit mir auch mal Fechten? Ich würde mich über diese Abwechslung sehr freuen. Denn die ganze Schießerei und das Ausdauertraining, wird mir auch irgendwann zuwider. Ich bitte dich, Meister“, bat Miceyla begeistert und faltete hoffnungsvoll die Hände zusammen.

„Na meinetwegen. Wir haben morgen noch einen ganzen Tag zur freien Verfügung. Da können wir gerne ein Ründchen fechten. Aber nicht zu lange, damit du am Freitag nicht völlig ausgepowert die Mission antrittst. Und wir bleiben im Garten, dort ist Platz genug. Müssen nur darauf achten, Louis` Gestrüpp nicht niederzumetzeln. Glaub mir, der Kerl schmeißt uns sonst gefesselt in die Themse, ha, ha! Andernfalls gehen wir eben in den großen freien Raum im zweiten Stock, der auch für Trainingseinheiten genutzt werden kann. Und stelle dir das Ganze nicht zu einfach vor, nur weil du dein glorreiches Schwert im Kopf hast. Fechten bedeutet weitaus mehr, als ein paar Stäbe aufeinanderzuschlagen. Es müssen einige Grundschritte verinnerlicht werden. Jede Bewegung und Haltung, muss im perfekten Einklang mit deiner innerlichen Konzentration sein. Dein Reaktionsvermögen wird auf einem wesentlich höheren Niveau geschult, als dies etwa bei anderen Kampfsportarten der Fall ist. Verkehrt ist es garantiert nicht, für dein Aufgabengebiet mal in die Kunst des Fechtens reinzuschnuppern.“ Beide kamen bester Laune beim Anwesen an und wollten ihre neuen Waffen sogleich hinauftragen.

„…Wetten ich treffe mein Ziel, beim nächsten Training sogar mit verbundenen Augen? Ich bin in Topform!“, prahlte Miceyla und stieg die Treppe hüpfend empor.

„Warum verlegen wir dann nicht gleich das Training auf die Nacht? Ich stelle es mir spaßig vor, dich quer durch den düsteren Wald zu jagen, ha, ha!“, meinte Moran daraufhin scherzhaft.

„Hey! Mal sehen wer dabei wen jagt!“, kam es neckend von ihr.

„Na, ihr beiden Rabauken, seid ja jetzt schon ein Herz und eine Seele“, kommentierte Louis, der ihnen über den Weg lief, ihr lebhaftes Geplauder mit nüchterner Miene. Miceyla und Moran blickten sich an und grinsten frech.

„Wir doch nicht!“, sprachen beide anschließend gleichzeitig.
 

Am nächsten Tag, stand sie mit Moran am späten Nachmittag, auf der großen Wiese im Garten, mit jeweils einem Fechtstab in der Hand.

„Die Tortur mit der ganzen Ausrüstung, sparen wir uns für den Anfang. Also werde hier nicht zum Überflieger, sonst gibt das böse blaue Flecken. Du stehst mir in einem angemessenen Abstand parallel gegenüber, ausgezeichnet. Fangen wir mit dem Fechtgruß an“, erläuterte Moran entspannt. Sie machte es ihm nach und senkte in einer aufrechten Haltung, die Waffe in seine Richtung. Danach rührte Moran sich wie versteinert nicht von der Stelle. Daher zeigte sie die Initiative und wagte ein paar wohlüberlegte Schritte nach vorn und hielt ihren Stab schützend vor sich. Sie wollte ohne Vorwarnung auf ihn losstürmen, jedoch machte ein kleines Problem, ihr einen Strich durch die Rechnung.

„Willst du dich nicht doch lieber noch vorher umziehen gehen? In diesem Kleid wirst du…hinfallen…“, riet er ihr zu spät und kniff ein Auge zu, als sie unbeholfen auf die weiche Wiese stürzte.

„Ha, ha… Upsala. Ich hätte mir meinen ersten Fechtangriff etwas eleganter vorgestellt. Als richtige Lady, muss ich jeder Zeit auch in einem langen Kleid vollen Einsatz zeigen können. Gerade diese Erschwernisse sind es, welche uns Frauen unglaublich stark machen. Also, sieh dich vor!“ Ruckartig sprang Miceyla wieder auf und hatte Moran fix erreicht. Dieser parierte ihren ersten Angriff problemlos. Doch sie blieb unbeeindruckt und holte pausenlos, unmittelbar hintereinander mit ihrem Fechtstab aus, ohne sich vorher zu verraten, welche Seite sie von ihm anvisierte. Zwar stellte es für ihn noch immer in keiner Weise eine Herausforderung dar, beschäftigt war er dennoch allemal.

„Was wird das wenn es fertig ist? Mit deinen unkoordinierten Hieben, erreichst du nur, dass dir deine Kondition innerhalb weniger Minuten flöten geht. Und dann mache ich dich fix und alle“, kommentierte Moran ihren Kampfstil grinsend. William stand am Eingang zum Garten, blickte geruhsam hinaus durch das Fenster und beobachtete nachdenklich, wie die beiden Fechten übten.

„Hallo Will, bin wieder da. Oh schau an, unsere zwei Soldaten trainieren wieder fleißig. Jetzt sind sie schon beim Fechten angelangt. Das war wohl ihre Idee, huh? Miceylas quirliger Enthusiasmus, hält Moran ordentlich auf Trapp. Finde ich gut, so kommt der Gute mal zeitweise, von seinen schlechten Angewohnheiten weg“, sprach Albert lächelnd und gesellte sich zu ihm.

„Ich grüße dich, Bruder. Aber sieh einmal ganz genau hin, dann wird es dir auch auffallen. Natürlich hat Miceyla kaum Erfahrungen und weiß nicht, wie sie ihre Waffe effizient einsetzen soll. Trotzdem wird sie von Moment zu Moment wendiger und versucht Moran auszutricksen und eine Schwachstelle bei ihm zu finden. Doch ihre konfusen Schritte, verraten die Unsicherheit darüber, was richtig und was falsch ist. Dies hat zur Folge, dass sie ihre eigene Körperkraft nicht effektiv ausbalancieren kann und sich somit selbst behindert, um ihr wahres Potenzial zu entfalten“, analysierte William die Schwierigkeiten von Miceyla.

„Du hast recht, in jeglicher Hinsicht. Man mag sie am liebsten schon beim Zuschauen korrigieren. Jedoch liegt es nicht bloß an Miceylas eigener Unerfahrenheit. Es ist Moran, der für sie eine Blockade darstellt. Zwar ist er zweifelsohne ein überragender Schießkünstler, doch als Fechtlehrer ist er gänzlich ungeeignet. Was sie braucht, ist ein Fachmann auf dem Gebiet des Fechtens, der ihre Schwächen explizit auszubessern weiß. Dadurch würde Miceyla innerhalb kürzester Zeit, beachtliche Fortschritte erzielen. Wie du immer sagst, ihr Talent und Wille warten darauf erweckt zu werden“, bestätigte Albert seine Analyse und beobachtete sie dabei mit liebevollem Lächeln.

„Genau so ist es. Und diese Tatsache können wir nicht einfach auf sich beruhen lassen, nicht wahr? Also, dann mag ich mal zur Tat schreiten.“ Nach jenen ruhigen Worten, zog William schwungvoll die lange spitze Klinge aus seinem Spazierstock heraus, welcher am Sofa angelehnt stand.

„Du meine Güte, Will… Ist es denn wirklich notwendig, immer gleich zu solch korrupten Maßnahmen zu greifen?“, kommentierte Albert sein Vorhaben ein wenig erschrocken.

„Bruderherz, bitte versuche nicht ständig Miceyla in Watte zu packen. Es ist für ihr Selbstvertrauen wichtig, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Dein Beschützerinstinkt wird lediglich zu einer Kehrtwende führen. Schließlich sind wir alle Individuen und Teil eines Ganzen, einer zusammenhaltenden Gemeinschaft. Vor was magst du sie in Wirklichkeit beschützen? Vor den ganzen Übeln dieser Welt? Ihrem aufgezwungenen Schicksal? Oder vor dem, was ich in Wahrheit im Sinn habe? Eines steht jedenfalls fest, unsere Gefühle für sie, befinden sich auf einer Wellenlänge. Hüten wir diese Familienliebe. Ein kostbareres Geschenk werden wir nicht mehr erhalten. Aber vielleicht… Nein, es bleibt unumstritten. Nun denn…“, sprach William leicht wehmütig und legte anschließend lächelnd den Zeigefinger auf die Lippen. Albert erwiderte sein sanftes Lächeln. Nicht einmal für einen Augenblick, hätte er an dem starken Vertrauen zu seinem klugen Bruder gezweifelt. Geräuschlos schritt William hinaus und betrat mit seiner geschärften Waffe den Garten. Mittlerweile hatten Morans Fechthiebe an mehr Dynamik gewonnen, obwohl er zu Beginn noch vorgehabt hatte, es locker angehen zu lassen. Langsam spürte Miceyla einen leichten Schmerz im rechten Handgelenk, nach all den ungünstigen Verrenkungen. Da geschah plötzlich etwas Unerwartetes, dass sie vollkommen unvorbereitet zusammenzucken ließ. William tauchte wie ein Blitz aus dem Nichts heraus, unmittelbar vor ihr auf und stellte sich zwischen sie und Moran. Er gönnte ihr keine Atempause, um sich auf die neue Situation einstellen zu können und attackierte sie gnadenlos mit seiner Klinge. Panisch riss Miceyla die Augen weit auf, als sie die gefährliche Waffe sah, welche sie hektisch mit ihrem stumpfen Fechtstab abzuwehren versuchte. Williams Umgang mit seinem Stab, besaß eine solche Präzession, dass es ihr den Atem raubte. Er schien jede einzelne ihrer eigenen Reaktionen voraussehen zu können und passte seine Angriffe ihrer Reaktionsgeschwindigkeit an, ohne ihr somit gefährlich werden zu können. Sie kämpften im perfekten Zusammenspiel miteinander. Ein Kampf, der einem synchron aufeinander abgestimmten Tanz glich. Wie in Hypnose wurde sie in einen Bann gezogen, dabei schien kein Ende in Sicht zu sein. Doch auf einmal unterbrach William den hitzigen Einklang und schlug Miceyla mit nur einem kräftigen Hieb, von unten den Stab aus der Hand, welcher in hohem Bogen im Gras landete. Jetzt stand er dicht vor ihr, richtete die Klinge, auf seine nun unbewaffnete Gegnerin und zeigte ein Lächeln, dass zwar edelmütig war und dennoch eine feurige Unberechenbarkeit zum Vorschein brachte. Sie fühlte sich wie ein Ritter, der ein Duell gegen einen König verloren hatte und trotzdem von diesem gewürdigt wurde. Nein, Miceyla verspürte keine Ehrfurcht, viel eher war sie wieder einmal wie verzaubert, von Williams unverwechselbaren Auftreten.

„Wenn du danach strebst die Fechtkunst zu beherrschen, bin ich so frei und nehme mir das Recht, mich dafür zu deinem Lehrmeister zu ernennen“, verkündete er beschließend und blickte dabei gefühlvoll in ihre leuchtend grünen Augen.
 

Es herrschte eine unruhige Hektik, als das Trio in Lambeth aus dem Zug stieg. Passanten liefen mit gestressten Mienen, auf allen Seiten am Bahnsteig hin und her. Miceyla jedoch betrachtete neugierig den ihr fremden Stadtbezirk und hielt ihren Hut fest, als ihr ein kräftiger Wind entgegenblies.

„Ich wünsche den Herrschaften einen angenehmen Aufenthalt in Lambeth!“ Einer der Schaffner verabschiedete sich lächelnd und stieg wieder zurück in den Zug, der kurz darauf scheppernd seine Fahrt fortsetzte.

„Eliot, trage bitte meine Koffer!“, bat Miceyla an Moran gewandt mit gespielter Hochnäsigkeit und lief würdevoll voraus, wobei sie leicht schmunzeln musste. Dieser versuchte krampfhaft sein Ärgernis darüber herunterzuschlucken.

„Ja, ja, kommandier mich hier ruhig herum! Das zahl ich dir alles doppelt und dreifach wieder heim! Und ist das ganze Gepäck wirklich von Nöten gewesen? Ich habe von ein paar Sachen gesprochen und nicht dem ganzen Haushalt! Wir machen hier keinen Urlaub… Egal, Themawechsel. Falls wir auf jemanden treffen sollten, der uns kennt und skeptisch wird, sagen wir, die mit Albert befreundete Grafenfamilie Crawford, hätte uns zu sich eingeladen, welche hier in der Nähe wohnt. Sie möchten gerne die Gattin seines jüngeren Bruders kennenlernen. Ganz schlicht und simpel. Die Crawfords wissen ebenfalls Bescheid, Albert hat sie per Telegramm informiert. Das wurde alles bereits arrangiert. So können wir uns voll und ganz auf unsere Mission konzentrieren“, erwähnte Moran noch einmal pflichteifrig und blickte sich selbst forschend um, während er die Koffer von Miceyla trug, welche zusammen mit Fred neben ihm lief.

„Geht ihr euch erst mal im Hotel einchecken. Ich habe gleich ein geheimes Treffen, mit einem unserer Auftraggeber, um Informationen auszutauschen. Ihr kennt den Treffpunkt für später. Dann sehen wir uns nachher dort“, kündigte Fred an und sauste sogleich davon, ohne eine Bestätigung von seinen Kameraden abzuwarten.

Wenige Stunden waren vergangen und Miceyla befand sich mit Moran auf dem Weg zu dem Versteck oder vielmehr der Basis, von den berühmtberüchtigten Apostel von Lambeth.

„Wir haben uns ganz schön weit von dem Zentrum der Stadt entfernt. Diese Leute scheinen sich wirklich, wie eine Gruppe von Einsiedlern abzuschotten“, meinte sie feststellend während ihrem langen Fußmarsch. Sie und Moran hatten sich beide umgezogen und ihre vornehme Kleidung gegen etwas Schlichtes ausgetauscht, um sich unauffälliger unter das Volk mischen zu können.

„Japp, wer haust schon gerne draußen in der Pampa. Schau an, da wären wir. Laut der Wegbeschreibung von Fred, führt dieser dustere Eingang da vorne zu deren Versteck“, sprach Moran mit prüfendem Blick und blieb in sicherer Entfernung stehen.

„Das sieht für mich nach einer alten Mine aus, die nicht mehr genutzt wird. Oha… Hoffentlich sind das keine Verrückten, welche dort in der Dunkelheit okkulte Rituale verrichten. Dann könnte ich verstehen, warum man an ihrer Rechtschaffenheit zweifelt, ha, ha. Gut, warten wir auf Fred, um zu erfahren ob wir ohne einen Hinterhalt empfangen werden. Nicht das uns ein paar vermeidliche Mitglieder der Gruppe, in verkleideter Montur überfallen, die in Wahrheit zu Scotland Yard gehören“, meinte Miceyla belustigt und stellte sich im Geiste allerhand skurrile Szenarien vor.

„So siehts aus… Und hoffen wir mal, dass unsere Waffen tatsächlich nicht zum Einsatz kommen. Ah, da kommt unser flinker Informant auch schon!“ Moran hatte die Arme ineinander verschränkt und wirkte etwas angespannt, aufgrund der Tatsache nicht zu wissen, was ihn gleich erwarten würde. Fred kam mit leisen Schritten auf sie beide zugeeilt. Seine getrübten Augen verrieten ihr sofort, dass er besorgt war.

„Dein Blick verheißt nichts Gutes… Ist nicht alles nach Plan verlaufen?“, fragte sie in ruhigem Ton und konnte nicht verhindern, ein wenig nervös zu werden.

„Im Prinzip schon… Nur wundert mich deren plötzliche Skepsis, mit der ich konfrontiert wurde. Und das sogar mir gegenüber. Jedoch hat man sich dafür bei mir entschuldigt und sie sagten, es diene zu ihrem Eigenschutz. Irgendetwas scheint dennoch vorgefallen zu sein, dass man uns verschweigt. Aber lassen wir uns davon nicht einschüchtern, um zu beweisen wie ernst wir die Mission nehmen. Sowohl William, als auch den Apostel von Lambeth. Ich fürchte nur, dass euch die Wachposten nicht hereinlassen werden, selbst wenn ihr den Kettenanhänger vorzeigt. Ausschließlich eine Person aus der Führung, wird euch Gehör schenken. Es gibt einen geheimen Eingang oberhalb der Mine. Findet einen Weg hinauf und klettert dort hinab. Ich muss vorher noch etwas überprüfen gehen, ehe ich zu euch stoße“, offenbarte Fred und lächelte noch motivierend, bevor er wieder aufbrach.

„Ach verflixt! Was soll ich davon bloß halten? Die Bande hat uns doch selbst angeheuert! Wenn die dermaßen pingelig sind, können die ihr Scharmützel mit Scotland Yard eigenständig ausfechten! Echt Mann, da krieg ich so einen Hals!“, schimpfte Moran unzufrieden und scharrte mit den Füßen über den Boden, wie ein wild gewordener Stier.

„Aber, aber, wer wird denn da gleich so pessimistisch? Entspanne dich, Meister. Sonst mutierst du auch noch zu einem Motzkopf. Frustration löst die Lage nicht. Gehen wir den versteckten Eingang suchen. Denke stets daran, wie viel Mühe Fred sich gibt, er hat es ebenfalls nicht leicht“, sprach Miceyla heiter auf den verärgerten Moran ein und boxte ihn aufmunternd gegen den Arm.

„Fred ähnelt dir vom Charakter her kein kleinstes bisschen. Seid ihr wirklich miteinander verwandt? Oder dient das auch wieder nur als Mittel zum Zweck?“, murmelte sie noch nachdenklich. Moran gab ihr darauf keine Antwort und blickte nur unbeteiligt zur Seite. Beide entfernten sich unauffällig von der Vorderseite der Mine und suchten nach einer Möglichkeit, das steile, hügelartige Bergwerk zu erklimmen.

„Das sieht nicht gerade rosig für uns aus… Obwohl, wir könnten versuchen den Baum dort hinaufzuklettern, um von da oben aus, auf das Dach der Mine zu gelangen. Roger, damit hätten wir einen Plan! Der dicke Ast müsste sogar mich tragen können. Nach Ihnen, werte Lady“, sprach Moran gespielt höflich und verbeugte sich etwas vor ihr.

„Himmel… D-das ist eine beachtliche Höhe… Ich bin das letzte Mal als Kind richtig geklettert. Bitte klettere du zuerst hinauf, dann kann ich mir von dir abschauen, wie ich es am besten angehen sollte“, drückte sie sich angespannt vor dieser Unannehmlichkeit.

„Gut, wie du meinst. Gleich will ich aber kein Gejammer mehr hören!“ Mit der Ruhe weg, krempelte er sich die Ärmel hoch und erklomm mühelos den stämmigen Baumstamm bis zu dem ersten kräftigen Ast, von welchem er sich im schnellen Tempo, immer weiter nach oben zog. Beinahe hatte er schon die Baumkrone erreicht. Von einem weit herausragenden Ast, schwang Moran sich anschließend auf das steinige Dach der großen Mine. Bei ihm sah die Klettertour danach aus, als wäre er ein Federgewicht.

„Worauf wartest du? Schlag da unten keine Wurzeln und komm herauf!“, rief er ihr ungeduldig von oberhalb zu. Um sich nicht wie der letzte Feigling aufzuführen, atmete Miceyla einmal tief durch und griff in die harte Rinde des Baumes, an welcher sie langsam emporstieg. Etwas überrascht stellte sie fest, dass es leichter ging als gedacht und sie erreichte ohne abzurutschen den dicken Ast. Auf diesem sitzend, machte sie jedoch den fatalen Fehler und blickte flüchtig hinab. `H-hilfe ist das hoch!`, dachte sie angsterfüllt und schwankte von Schwindel gepackt. Um ein Haar hätte sie sich zu weit zur Seite gelehnt, doch dank Morans aufdringlicher Stimme, fand sie den Halt wieder.

„Miceyla! Erschreck mich nicht so! Schaue zu mir, nicht nach unten! Komm, ein kleiner Sprung, dann ist es geschafft!“ Seine Mut machenden Worte, hatten keine Wirkung. Sie konnte sich keinen Millimeter mehr rühren. Wie erstarrt klammerte sie sich an den Ast und wollte einfach nur schnellstmöglich von dort oben wegkommen.

„I-ich kann nicht. Ich werde es nicht schaffen, egal wie sehr ich mich zusammenreiße…“, stammelte Miceyla mit dünner Stimme. Selbst das Sprechen kostete sie Unmengen an Überwindung.

„Ach herrje, ich bin geplättet. Du hast ja tatsächlich Höhenangst… Hängt das auch mit jener Geschichte zusammen?“, murmelte Moran grübelnd und wollte sie aber keinesfalls damit schikanieren.

„Warte, bin gleich bei dir.“ Nach einem kurzen Sprung, landete er vor ihr auf dem breiten Ast. Da knackte es plötzlich unheilverheißend.

„Wah!“ Mit einem panischen Schrei, klammerte sie sich ängstlich an ihn.

„H-he, ganz ruhig! Das war lediglich ein dünner Ast, an dem ich mich festgehalten habe. Er ist abgebrochen. Glaubst du, wenn ich geahnt hätte, dass der Ast uns nicht beide aushält, wäre ich hier leichtfertig zu dir gesprungen? Wird Zeit, dass du deine Angst vertreibst und wieder deinen Verstand anschaltest“, meinte Moran lächelnd und schnipste leicht mit dem Finger gegen ihre Stirn.

„Autsch… Ja…ja du hast recht…“, sagte Miceyla kleinlaut. Ohne noch länger auf der Stelle zu verharren, zog er sie mit einem Arm an sich und sprang gemeinsam mit ihr auf das Minendach. Als sie sich endlich in Sicherheit wiegte, sackte sie sogleich erleichtert zu Boden. Ihr rasendes Herz beruhigte sich auch allmählich.

„Es tut mir schrecklich leid, Moran… Ich verhalte mich wie ein kleines Kind. Bitte erzähle keinem davon…“, sagte sie heiser und blickte ihn entschuldigend an.

„Klar, dein kleines Geheimnis behalte ich für mich. Du brauchst dich dafür nicht zu schämen. Es hat doch jeder irgendwelche Ängste“, beschwichtigte er sie aufmunternd.

„Auch Will?“, fragte Miceyla lächelnd und erhob sich wieder.

„Nun… Sollte er vor etwas Furcht hegen, so habe ich es einfach noch nicht herausgefunden. Also, dann wollen wir mal da weiter machen, wo wir stehen geblieben waren. Man kann von hier aus bereits den zweiten Eingang zur Mine sehen.“ Sie liefen zu besagter Öffnung und rutschten dort ein Stück eine schräge Felswand hinab. Wenige Augenblicke später, befanden die beiden sich im Innern der stillgelegenen Mine. Da helles Tageslicht durch das Loch in derDecke fiel, konnten die zwei sich vorerst gut zurechtfinden.

„So viele Gänge und nirgends ist eine Menschenseele zu entdecken. Wir müssen uns in diesem Irrgarten vorsehen. Ich habe das Gefühl, wir befänden uns auf feindlichem Territorium…“, flüsterte Miceyla leise, während sie Seite an Seite mit Moran geräuschlos das Zentrum der Mine aufsuchte. Im Gegensatz zu ihr, hielt er einen Revolver bereit. Nach einiger Zeit erreichten sie einen engen Gang, an dessen Ende es eine weitere Abzweigung gab. Doch dieses Mal flackerten dort einige Fackeln. Anscheinend befand sich dahinter ein weitflächiger Bereich, wo sie garantiert ihre mysteriösen Auftraggeber vorfinden würden. Das Herz klopfte ihr vor Aufregung bis zum Hals, als sie mit Moran dort ankam. Sie pressten sich beide unauffällig gegen die harte Wand und spähten um die Ecke. Mit dem was sie in jenem Moment sah, hätte sie nie im Leben gerechnet.

„Sherlock!“ Beinahe hätte sie seinen Namen zu laut ausgesprochen und man wäre auf sie aufmerksam geworden. Gerade noch rechtzeitig konnte sie ihre Stimme dämpfen. Er lag reglos auf dem Boden und war an den Händen und Füßen mit einem strammen Strick gefesselt worden. Um ihn herum standen fünf Personen in dunklen Roben und blickten auf Sherlock herab.

„Was macht der aufdringliche Detektiv denn bitteschön hier?! Verflixt! Jetzt stehen wir vor einem kniffligen Problem…“, fluchte Moran leise und begann sofort über eine brauchbare Lösung nachzudenken.

„Ja, wenn du daraus ein Problem machst. Falls du jetzt denkst, ein Rückzieher wäre ratsam, dann hätten wir uns den ganzen Aufwand sparen können. Für Sherlock wird es unbestreitbar sonderbar erscheinen, uns hier aufkreuzen zu sehen. Na und! Das liefert mir noch lange keinen Grund, einen guten Freund im Stich zu lassen! Zum Teufel mit dieser ganzen Heimlichtuerei!“, sprach sie voller Entschlossenheit und blickte Moran eisern an.

„Mach mal halblang! Wenn du vor Holmes erscheinst, könntest du dir noch ein paar Ausreden zusammenreimen, da ihr euch kennt. Doch sobald er mich sieht, wird er direkt erkennen, dass ich ein ehemaliger Soldat hohen Ranges bin. Und was er dann daraus schließt, will ich lieber erst gar nicht wissen. Fakt ist, solltest du da nun tatsächlich reinstürmen, müssen Fred und ich uns aus dem Fall raushalten und können dich nur noch begrenzt aus dem Hintergrund heraus unterstützen. Somit würde es an dir und dem Detektiv liegen, das Kind zu schaukeln. Und als ob der Kerl sich so leicht hat schnappen lassen. Irgendetwas ist da faul. Das stinkt gewaltig zum Himmel. Eigentlich wäre es ratsam, dass ich noch zusätzlich das Hotel wechsle, falls er… Argh! Wir sind hier das Team, nicht du und Sherlock!“, schimpfte er mit gedämpfter Stimme und schlug seine geballte Faust gegen die Steinwand. Doch er wusste selbst nur zu gut, dass ihr unvernünftiges Vorhaben, der einzige Weg zum Ziel war, die Mission zum Erfolg zu führen.

„Ob Falle oder nicht, ich werde es gleich erfahren und bin auf alles Mögliche vorbereitet. Da muss ein Missverständnis vorliegen. Wollen wir außerdem wetten, dass William damit gerechnet hat, dass wir hier auf Sherlock stoßen? Um ehrlich zu sein habe ich keine Lust, ständig nach der Pfeife anderer zu tanzen. Eigeninitiative ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil, in einem gut funktionierenden Team. Also drehen wir uns nicht im Kreis, sondern laufen geradlinig nach vorn! Was für ein Quatsch, das Hotel zu wechseln. Eine Adelige reist nicht ohne Personal. Mit deinen ganzen Vorsichtsmaßnahmen, machst du alles nur noch wesentlich auffälliger. Das wird schon, vertraue Sherlock und mir. Wir treffen uns spätestens bei der Heimreise wieder. Bis dann!“ Miceyla zwinkerte ihm noch kurz lächelnd zu und machte sich bereit, sich unter das fragwürdige Geschehen vor ihr zu mischen. `Verstehe… Sherlock ist also derjenige, den du unter Einsatz deines Lebens beschützen willst. Wie lange das wohl noch gut gehen mag? Du hast Will nicht umsonst deine Treue geschworen. Das wird ein böses Ende nehmen…`, dachte Moran und bekam einen düsteren Gesichtsausdruck.

„Viel Glück… Und vergiss nicht, eine gute Kameradin, lasse auch ich niemals im Stich“, gab er ihr noch mit auf den Weg, kurz darauf wandte er sich mit dem deprimierenden Gefühl, sich nun im Hintergrund halten zu müssen, von dem Konflikt in der Mine ab.

„Lasst sofort Sherlock Holmes frei! Er arbeitet unabhängig von Scotland Yard und will euch garantiert nichts Böses! Wenn ihr schon um die Hilfe von Außenstehenden bittet, dann nehmt diese auch an und steht zu eurer Lebenseinstellung, Apostel von Lambeth!“, rief Miceyla geradewegs zu den in schwarzen Roben gekleideten Personen und baute sich in voller Größe vor ihnen auf. `Herrje… War das jetzt ein wenig zu direkt? Andererseits muss ich versuchen mir Respekt zu verschaffen und den Streit mit Worten lösen…`, dachte sie besonnen. Die unheimlich wirkenden Menschen, drehten sich allesamt in Miceylas Richtung. Ihre Gesichter blieben unter den Kapuzen der Roben verborgen. Aufgrund des schwachen Lichts, sah man ohnehin recht schlecht. Auch der Blick von dem am Boden gefesselten Sherlock, richtete sich abrupt auf sie. Er sah sie mit einem solch perplexen Gesichtsausdruck an, wie er dies noch nie zuvor getan hatte. Doch es brauchte nicht lange, da grinste er so breit, dass es beinahe schon eine Beleidigung, für die gesamte Situation darstellte. Einen Moment später sprang er mit einer solchen Wucht in die Höhe, als hätte er neuen Tatendrang gewonnen und streckte seine Glieder von sich, wobei all seine Fesseln gelockert zu Boden fielen, welche anscheinend nie wirklich festgebunden waren.

„Aha! So ist das also!“, sprach er enthusiastisch und schritt eilig auf sie zu. Miceyla schluckte schwer. Nun war sie gezwungen, ihr übermütiges Handeln wieder auszubaden.

„Miceyla, meine kühne Heldin, was für eine Überraschung! Mit deinem unerschrockenen Erscheinen, habe ich zugegebenermaßen nicht gerechnet. Mein Lob für deinen tapferen Auftritt. Ich war neugierig zu erfahren, welche Truppe die Herrschaften hinter mir um Unterstützung gebeten haben und wollte deren Vertrauenswürdigkeit auf die Probe stellen. Aber das du plötzlich auftauchst… Wo hast du deine netten Kameraden gelassen? Ich finde ihr Verhalten äußerst unhöflich, sich nicht wenigstens mal kurz ordnungsgemäß vorzustellen“, sagte Sherlock munter, hielt dabei seine rechte Hand über die Augen und tat so, als würde er nach ihren Freunden Ausschau halten.

„Für uns ist es beide ein Zufall, in dieser abgelegenen Mine aufeinanderzutreffen. Wir machen eben gerne Ausflüge zu ungewöhnlichen Orten, ha, ha! Aber was machst du eigentlich hier? Ist Scotland Yard der ganze Fall zu lästig geworden, sodass sie dich mit ins Boot geholt haben? Oder hilfst du den Aposteln von Lambeth aus eigenem Interesse heraus, nach einer friedlichen Lösung zu suchen?“, fragte sie ganz offen und konnte ihre Freude kaum verbergen, den eigentümlichen Detektiv wiederzusehen. Dennoch prüfte sie kurz das Verhalten der fünf Robenträger, die einfach nur schweigsam ihrer Konversation lauschten.

„Hm… Du weichst meiner Frage aus und bombardierst stattdessen mich mit lauter Fragen. Schön, schön. Dann bin ich halt ebenfalls frech und stelle dir die Gegenfrage: Was machst `du` hier in der alten Mine von Lambeth? Du musst wissen, die Lambeths sind nicht gerade sehr redefreudig. Das Wort Gastfreundschaft haben die auch noch nie gehört. So… Ich warte auf deine Antwort“, entgegnete Sherlock mit einem leicht neckenden Blick. `Komm schon, sage einfach das die Moriartys angeheuert wurden! Dein kleiner Ausflug war genaustens geplant. An ernsthafter Hilfsbereitschaft gibt es nichts zu bemängeln, doch mich interessieren die versteckten Absichten dahinter. Es werden nur selten Geschäfte eingegangen, ohne das für beide Seiten dabei etwas herauskommt. Und warum hat man gerade dich, in die brenzlige Lage mitreingezogen?`, dachte er hinzufügend und fixierte sie eindringlich mit seinen klaren Augen.

„Na das ist doch sonnenklar! Ich bin gekommen, um einem guten Freund aus der Patsche zu helfen!... Ha, ha, ich weiß, diese simple Aussage genügt dir nicht. Die mit Williams älteren Bruder befreundete Grafenfamilie Crawford, hat mich zu sich eingeladen. Und natürlich ist uns der Aufruhr, welcher sich hier zugespitzt hat, nicht entgangen. Sowas kann man doch gar nicht als entgegenkommende Adelsfamilie ignorieren. Die Vorbildfunktion und der gute Ruf eines gewissenhaften Adeligen, sind ein zentrales Aushängeschild in der heutigen Zeit und in unserer egoistischen Gesellschaft leider nur spärlich zu finden. Kurz gesagt sind wir eben sehr hilfsbereite Menschen“, sprach Miceyla mit aufrichtiger Glaubwürdigkeit. Eine Weile blickte er sie einfach nur zart lächelnd an. Auch seine eigene Freude darüber sie wiederzusehen, schien seine Skepsis zu überspielen. `Du hast wahrlich ein Talent dafür, Lügen zu deiner Wahrheit zu machen…`, dachte er während jener stillen Minute.

„Mit deiner ersten Antwort kann ich leben. Belassen wir es vorerst dabei. Du wirst dich wundern, doch der Konflikt ist nur nebensächlich der Grund, weswegen ich angereist bin Die Einzelheiten spare ich mir für einen besseren Zeitpunkt auf. Ich lasse dir nun den Vortritt zu versuchen, mit den Lambeths ein vernünftiges Gespräch zu führen“, meinte Sherlock geduldig und trat etwas zur Seite. Zum ersten Mal nach der ganzen Hektik, hatte sie die Gelegenheit, ihre Umgebung genauer zu betrachten und war sogleich überrascht. Die große Minenhalle war richtig wohnlich eingerichtet. Es gab sogar gepolsterte Möbel in hellen Farben und einen Altar, der liebevoll dekoriert worden war. Die Atmosphäre glich eher einem fröhlichen Festsaal, anstatt der eines düsteren Unterschlupfs. Wer auch immer sich die Innenausstattung hat einfallen lassen, besaß wahrlich einen guten Geschmack. `Ich muss verhindern, dass unser Auftrag zu Wort kommt. Hoffentlich können die Apostel soweit zwischen den Zeilen lesen, dass wir vor Sherlock ein wenig diskreter sein müssen…` Nach diesem letzten Gedanken, trat sie ein paar langsame Schritte nach vorn. Sofort stellten sich vier große Männer, schützend vor eine wesentlich kleinere Person.

„Ich bin Miceyla Moriarty. Mein Wunsch ist es, eine gerechte Lösung für alle zu finden. Seht die Kette mit dem Anhänger. Mein Versprechen sei euch sicher, dass meinen Absichten, die pure Aufrichtigkeit zu Grunde liegt. Auch ich…war früher ein Opfer einer falschen Gerechtigkeit…“, sprach sie ehrlich und hielt jene funkelnde Kette in die Höhe, welche jedes der treuen Mitglieder umhängen hatte.

„Bitte tretet zurück.“ Die vier Männer gehorchten und ein junges Mädchen zog sich die Kapuze vom Kopf. `Hat dieses Kind hier etwa das Sagen?! Die ist doch bestimmt noch nicht älter als Vierzehn. Naja, die ganze Organisation an sich, fällt schon aus dem Rahmen…` Miceyla wollte ihren Respekt für die junge Dame zum Ausdruck bringen und neigte etwas vor ihr den Kopf. Das Mädchen trug ihre glatten braunen Haare, gerade mal auf Kinnlänge und ihre glasigen Augen blickten sie besonnen an.

„Ich heiße dich als unsere Schicksalsbotin willkommen. Vergib die unwegsamen Vorkehrungen. Zu allererst stelle ich mich kurz vor. Meinen Adelsnamen habe ich abgelegt, daher nennt man mich nur noch Freesia. Als Adelige wurde ich geboren und von meinen Eltern als Tochter verschmäht, da sie sich einen Sohn für ihr Erbe gewünscht hatten. Ich wurde behandelt wie eines der Dienstmädchen. Ich sollte früh verheiratet werden und man teilte mir einen Heiratsanwärter zu, der mich sogleich mit auf sein Anwesen nahm. Meinen Eltern war mein eigenes Glück vollkommen gleichgültig. Dieser Mann verhielt sich furchtbar grob mir gegenüber… All diese Pein und Erniedrigungen. Wäre dies meine Zukunft gewesen, so hätte ich mein Leben beendet. Jedoch gab es wie durch ein Wunder, eine neue Hoffnung für mich. Ich wurde gerettet, von einem Helden, den mir der Himmel geschickt hatte“, erzählte Freesia gefasst und wirkte kein wenig bedrückt darüber, von ihrer schweren Vergangenheit zu erzählen. Sherlock schnalzte kurz misslaunig mit der Zunge. Miceyla sah kurz zu ihm herüber und fragte sich, vorüber er sich auf einmal so sehr ärgerte.

„Er war es auch der mich dazu ermutigt hat, diese Organisation zu gründen. Dank ihm wurden die Apostel von Lambeth ins Leben gerufen und ich erhielt die Chance, meine Dienste in den Kampf für eine bessere Welt zu stellen. So stark und rechtschaffen ist er, ein wahrer Held eben. Mir ist es untersagt, näheres über seine Person preiszugeben. Doch manche seiner Worte, müssen einfach mit Außenstehenden geteilt werden, es wäre sonst eine Schande drum. So sagte er zum Beispiel, dass jeder von uns Menschen eine Blume sei. Jede von ihnen wird unter unterschiedlichen Voraussetzungen geboren. Manchen fehlt das Licht, die Fürsorge. Anderen mangelt es an Regen, der Nahrung. Und die meisten sehnen sich nach Luft, der Anerkennung, Liebe und Wertschätzung. Einige Blumen werden plötzlich zertrampelt, obwohl sie gerade erst in voller Blüte erstrahlen. Neid und Hass erdrücken die Träume. Doch eines hat jede der Blumen gemeinsam. Denn früher oder später ist jede von ihnen dazu verdammt zu verblühen. Egal wie viel ein Mensch in seinem Leben erreicht hat, ob er arm oder reich, hinterhältig oder gütig war, den eigenen Tod kann keiner verhindern. Jeder von uns ist und bleibt eine machtlose Kreatur, die an sein Schicksal gefesselt ist. Wer dieses Schicksal zu durchbrechen versucht, wird zu einem Narren und verkennt den Wert des Lebens. `Öffnet eure Augen, sonst werdet ihr all die wunderschönen Blumen übersehen, die direkt neben euch still erblühen. Sie sind das wahre Gold dieser Welt.` Diese Worte haben mein Herz berührt und bleiben auf ewig mein Leitsatz…“, fuhr Freesia fort und faltete kurz mit geschlossenen Augen die Hände zusammen. `Da stimme ich ihr zu, dies ist ein treffender Vergleich. Es steckt sowohl ein tiefgründiger Sinn, als auch etwas Träumerisches dahinter. Das muss wirklich ein sehr kluger und außergewöhnlicher Mensch sein. Wie gerne würde ich ihn einmal kennenlernen`, dachte Miceyla mit Begeisterung und konnte die Schwärmerei des Mädchens, nur zu gut nachvollziehen.

„Nun denkt nicht, dass es viel zu dem eigentlichen Thema, weswegen du und der Detektiv angereist seid, zu besprechen gäbe. Die Unheiligen werden unsere lobpreisenden Taten und Entschlossenheit schon noch zu spüren bekommen und sich dem beugen müssen“, sprach Freesia unerbittlich.

„Die Unheiligen?“, wiederholte Miceyla grübelnd.

„Sie spricht von Scotland Yard“, flüsterte Sherlock ihr leise zu.

„Oh, ach so!“ Sie musste sich ein belustigtes Lachen verkneifen.

„Schon heute Nacht, werden wir erneut zuschlagen. Einige Hilfsbedürftige erwarten bereits unsere Rettung in der Not. Unterstützt uns bei dem Zwist mit der Polizei oder lasst es bleiben. Hauptsache ihr kommt unserer Arbeit nicht in die Quere. Es wäre mir nun genehm, wenn ihr euch jetzt entfernt. Ich werde den Wachen Bescheid geben, euch passieren zu lassen, falls doch noch etwas Wichtiges besprochen werden muss“, verabschiedete sich die junge Anführerin der Lambeths und wandte ihnen den Rücken zu.

„Hach! Endlich wieder an der frischen Luft! Hat ja nicht unbedingt viel gebracht, die ganze

Unterredung. Diese Freesia strotzt nur so vor Stolz. Aber sie hat ein äußerst intelligentes und erwachsenes Wesen. Zudem übernimmt das Mädchen eine Menge Verantwortung“, meinte Miceyla, als sie mit Sherlock die Mine durch den Haupteingang verlassen hatte und sie nun zu zweit waren.

„Aber du hast weitaus mehr erreicht als ich. Liegt wohl an deinem hübschen Anhänger. So ein Unikat, hat man mir leider nicht geschenkt…“, sagte er beiläufig. Da legte er auf einmal mit einem freundschaftlichen Lächeln, eine Hand auf ihre Schulter.

„Ich bekam da drinnen in der modrigen Höhle, noch nicht wirklich die Gelegenheit, dich richtig zu begrüßen. War alles etwas zu chaotisch. Es tut gut dich zu sehen, Miceyla.“ Bei seinem strahlenden Blick, wurde ihr unsagbar warm ums Herz. Zwar verhielt Sherlock sich ihr gegenüber, vor der Hochzeit noch recht distanziert, doch nun behandelte er sie wieder ganz normal. Für ihn war sie immer noch die Alte und keine äußeren Einflüsse, vermochten daran etwas zu ändern. Es machte sie glücklich, dass er sie wie eine ganz gewöhnliche junge Frau behandelte. Miceyla bewunderte an ihm, dass er Standesunterschiede und adelige Etiketten nicht als Vorwand sah, eine Freundschaft aufrecht zu erhalten.

„Ich habe deinen rätsellösenden Spürsinn, in letzter Zeit sehr vermisst. Ähm… Heißt das also, wir nehmen beide den Fall des Lambeth-Konflikts in die Hand und arbeiten zusammen?“, fragte die hoffnungsvoll.

„Na wo denkst du hin! Du weißt doch: Eine gute Tat und ein nett gemeinter Rat, bewahren dich, ehe dir ein böses Ende naht. Siehst du, ich lebe ganz nach deinem Motto“, sprach er grinsend.

„He! Jetzt klaust du mir schon meine Sprüche, ha, ha. Aber sag mal, wo hast du denn wieder John gelassen? Als Team lassen sich schwierige Fälle viel leichter lösen. Nichts macht eine Reise angenehmer, als einen guten Weggefährten bei sich zu wissen“, hakte Miceyla lächelnd nach. Sherlock blickte plötzlich beleidigt drein.

„Er hat sich geweigert mitzukommen… Die wahren Gründe meiner Recherche, passen ihm nicht wirklich, aus diversen Gründen. Jedoch wird sich das bald radikal ändern“, murmelte er mit trüben Augen.

„Oje… Habt ihre zwei euch wieder gezankt? Andere Sichtweisen zu verstehen, ist oftmals sehr schwierig. Besonders wenn es um deine geht“, antwortete sie ruhig.

„Mal etwas ganz anderes…“ Sherlock blieb auf einmal stehen und stellte sich dicht vor sie. Anschließend kam er ihrem Gesicht so nahe, dass ihre beiden Nasenspitzen sich beinahe berührten. Miceyla meinte, er wolle sie mit seinem intensiven Blick verschlingen. Ruckartig wich sie zurück und hielt sich verlegen die Hände vor das Gesicht.

„W-was sollte das?! Könntest du einen vielleicht mal, bei deinen merkwürdigen Eigenarten vorwarnen?“ stammelte sie durcheinander.

„Ha, ha, ha! Eine gesunde Reaktion. In dieser Hinsicht hast du dich jedenfalls nicht verändert. Was ich allerdings eigentlich anmerken wollte war, dass du einiges an Gewicht verloren hast. Du warst ja vorher schon sehr schlank. Die adeligen Leute sind fast rund um die Uhr am futtern und legen ordentlich Gewicht zu. Bei dir scheint es jedoch den gegenteiligen Effekt zu haben, in die obere Schicht aufgestiegen zu sein“, sprach er amüsiert und zündete sich lachend eine Zigarette an.

„Oh, ist das so offensichtlich? Bis jetzt hat mich noch niemand darauf aufmerksam gemacht“, erwiderte Miceyla überrascht.

„Es hat mich eben in der halbdunklen Mine, nicht mal zehn Sekunden gebraucht, um dies festzustellen. Doch es liegt nicht am Essen, du bewegst dich in letzter Zeit viel öfter als gewöhnlich. Kein Sport zum Vergnügen, nein, du wirst gezielt trainiert. Und nicht von irgendwem, es muss jemand sein, der jahrelange Kampferfahrung besitzt. Deine rechte Hand sieht auch ganz schön mittgenommen aus, all die Druckstellen… Mit ein paar interessanten Waffen hast du da gespielt. Aber zu welchem Zweck dient das Ganze?“, analysierte Sherlock nun wesentlich ernster. Miceyla lief hektisch vor ihm auf und ab, damit er sie nicht mehr wie eine Statue beobachten konnte.

„Na das ist doch selbsterklärend! Für ein Abenteuer wie dieses! William wünscht sich, dass ich stark und unabhängig werde, sodass er nicht ständig in Sorge um mich sein muss. Außerdem mag ich stets in vorderster Reihe mitmischen. Ein langweiliges Leben als Hausfrau, ist nichts für mich. Die Tätigkeitsfelder der Männer, sind wesentlich aufregender und interessanter.“ Nach ihrer selbstbewussten Antwort, lächelte Sherlock kurz.

„Klar, deine eigenen Einstellungen kenne ich in- und auswendig. Dennoch sieht es für mich eher danach aus, als würde man dich…auf das Töten vorbereiten…“ Miceyla erstarrte bei seinen scharfen Worten und begann zu zittern. Was sollte sie nun zu ihrer Verteidigung sagen? Wenn dies so weiterginge, verlor sie all ihre Überzeugungskraft. Sie war seinem hellwachen Instinkt einfach nicht gewachsen. `Sieh dich nur an, du willst es ja selbst nicht wahrhaben. Nein, du weigerst dich sogar es einzugestehen. Die Wahrheit schönzureden, bereitet dir nur noch mehr Kummer. Lass uns hoffen, dass meine finsteren Vorahnungen, niemals eintreffen werden. Eine Person zu etwas zu bringen, dass sie normalerweise aus eigenem Willen heraus, unter keinen Umständen tun würde, ist eine grausame Untat. Und ist William Moriarty, wirklich einfach bloß ein rechtschaffender Mathematiker, der deine Gunst gewonnen hat? Diese Frage stelle ich mir immer wieder aufs Neue. Sein gerissener Verstand erlaubte es ihm, die Schattenseite deines Herzens hervorzulocken und damit nach belieben zu experimentieren. Beim bloßen Gedanken daran bekomme ich eine Gänsehaut… Die ganzen Spekulationen vermitteln mir den Eindruck, als stündest du vor den Toren zu zwei unterschiedlichen Welten, Miceyla. Die Welt der Gesetzeshüter und die der Verbrecher. Welche wirst du wählen, solltest du dazu gezwungen werden eine Entscheidung zu treffen? Oder besser, welche werden `wir` wählen. Denn manchmal bleibt nur noch eine letzte Option übrig. Und die lautet Feuer mit Feuer zu bekämpfen, ehe alles aus dem Ruder läuft…`, dachte er mit gemischten Gefühlen. Nach und nach nahm sein Gesicht aber wieder freundlichere Züge an.

„Tut mir leid, ich wollte dir damit keine Angst machen. Es freut mich doch, wenn deine Talente gefördert werden und du dich endlich frei entfalten kannst. Des Weiteren habe auch ich etwas davon. Sonst müsste ich dich von jeder brenzligen Situation fernhalten, hättest du nicht die geeigneten Fähigkeiten und Konditionen. Nun gut, genug geplaudert. Ich werde mir dann mal einen netten Plan ausdenken, wie wir diese ganze Lappalie rasch über die Bühne bringen. Ich komme auf dich zu, sobald meine Ideen Form annehmen“, verkündete Sherlock knapp ihr weiteres Vorgehen und lief mit einer winkenden Hand gemächlich davon, ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen.

„Warte! Weißt du überhaupt, wo du mich finden kannst?“, rief Miceyla ihm noch verwirrt hinterher, doch er reagierte nicht mehr.

„Hach… Sherly…“
 

Die Nacht brach herein, eine dichte Wolkendecke verbarg den Sternenhimmel und der Wind rüttelte von außen an den Fensterläden. Miceyla befand sich auf ihrem Hotelzimmer und saß bei flackerndem Kerzenschein, an einem kleinen Tisch. Nach Schlaf war ihr nicht zumute, daher schrieb sie in ihr Tagebuch. Weder Fred noch Moran, hatte sie am restlichen Tag noch einmal zu Gesicht bekommen. Garantiert zogen beide zurate, das Geschehen im Verborgenen zu beobachten und nur dann einzuschreiten, sollte es ernsthafte Schwierigkeiten geben. Seufzend legte sie ihren Stift ab. Ihr war kalt und sie fühlte eine seltsame Leere in sich. Sie dachte darüber nach, was William wohl gerade tat. Ob er auch an sie dachte und wieder die ganze Nacht durcharbeitete. Es war ihr von Anfang an bewusst gewesen, dass sie häufig getrennt voneinander agieren mussten und sich für eine längere Zeit nicht sehen konnten. Doch jetzt wo Miceyla es am eigenen Leib erlebte, fühlte sie wie schmerzhaft es in der Realität war. Es glich einer ganz neuen Form der Einsamkeit. All die geliebten Menschen, welche in ihr Leben getreten waren, schienen plötzlich weit entfernt. Wahres Glück war für sie etwas anderes und schien ihr momentan nicht vergönnt zu sein. Jeden Tag beisammen zu sein und gemeinsam zu lachen, blieb wohl Wunschdenken. Ein Versprechen galt es zu bewahren, aus jedem schönen Moment, eine unvergessliche Erinnerung zu machen. Denn die Zeit konnte niemand anhalten, sie lief ihnen unaufhörlich davon. Nicht nur sie selbst benötigte eine Stütze, um ihren Pfad sicher zu beschreiten, auch William brauchte sie an seiner Seite. Damit sie ihm Kraft spendete und ihn immer mit einem warmherzigen Lächeln begrüßte. Miceyla zweifelte nicht an seinem zielstrebigen Voranschreiten, seine perfekten Pläne durchzusetzen. Jedoch konnte eine schwere Bürde, einen ganz urplötzlich von innen heraus erdrücken. Aber nicht nur William benötigte liebevolle Zuwendung, damit sein Herz nicht aufgrund der ganzen schändlichen Taten zu Eis gefror… Sie erhob sich und lief zu einem ihrer Koffer. Sorgsam öffnete sie ihn und holte ein kleines, dunkellilafarbenes Samttässchen hervor, in welchem sich die aquamarinblaue Halskette befand. Miceyla nahm die Kette und setzte sich an eine Spiegelkommode. Kurz darauf legte sie sich die Kette an und fuhr mit den Fingern über den funkelnden Stein. Sofort wurde sie an jenen Moment ihrer Hochzeit erinnert, wo Albert ihr die Kette geschenkt hatte. Für sie fühlte es sich so an, als wäre ein Teil von ihm immer bei ihr, um sie zu beschützen. `Vielleicht sollte ich ihm einfach mal einen Brief schreiben und ihn dann heimlich auf seinen Schreibtisch legen. Dies müsste Albert eine große Freude bereiten…`, dachte sie lächelnd. Der kurze melancholische Moment endete jäh, als es plötzlich von außen laut am Fenster klopfte. Panisch fuhr Miceyla herum und wollte schon instinktiv nach einer Waffe greifen. Doch da erkannte sie im schwachen Licht das Gesicht von Sherlock und seufzte erleichtert.

„Meine Güte, du altes Ungeheuer! Wie hast du es bloß fertiggebracht, den Balkon im zweiten Stock zu erreichen? Und woher wusstest du, in welchem Hotel ich mich befinde?“, fragte Miceyla neugierig beim öffnen des Fensters und war viel eher belustigt als verwundert. Bei ihm wunderte sie sich wirklich über gar nichts mehr.

„Wie ich hier raufgekommen bin… Das willst du lieber nicht wissen. Die feine Bude schließt leider die Pforten für ungebetene Gäste. Na, in diesem riesigen Hotel, das speziell die reichen Gäste aufnimmt, kann man dank der hohen Sicherheit herrlich untertauchen, oder? Und deine Vorhänge waren so zugezogen, dass sich in der Mitte ein perfekt symmetrischer Spalt befand. Dies war auch in deiner alten Wohnung der Fall… Es stört dich, wenn deine Umgebung nicht bis ins kleinste Detail ästhetisch ist. Tja und auf diese Weise, konnte ich mit Leichtigkeit dein Zimmer ausfindig machen“, erklärte er gelassen und trat eilig ins Warme. Sie schloss rasch wieder das Fenster, als ein pfeifender Wind um sie tobte und betrachtete ihn anschließend schmunzelnd. Er trug eine verdreckte Lederhose und oberhalb einen zerfetzten Umhang. Seine schwarzen Haare fielen ihm noch zerzauster als sonst, wegen des Sturms auf die Schulter.

„Nette Kleidung, wo hast du die denn mitgehen lassen? Du siehst aus wie ein Räuber.“

„Schick, nicht wahr? Hab ich mir geborgt. Ist der letzte Schrei! Ne, grässlich diese alten Lumpen. Und der modrige Gestank erst! Das trage ich nur für unseren Plan. Scotland Yard darf mich nicht so schnell identifizieren. Bei Nacht sind die Kerle sowieso halb blind“, meinte er und verzog missfallend sein Gesicht.

„Also… Der Zigarettengeruch ist immer noch am intensivsten. Du hast die märchenhafte Szene zerstört. Hättest dich ruhig etwas feiner machen können. Es wäre die perfekte Inspiration für meine Geschichten gewesen“, sagte sie gespielt enttäuscht und schnüffelte ausgiebig an ihm. Sherlock blickte Miceyla nur fragend an.

„Welche märchenhafte Szene?“

„Na, jene Nacht, in der ein armer Bauernknabe seine Angebetete im Schloss besucht. Heimlich klettert er hinauf zu ihrem Zimmer und sie hält ihm lächelnd ihre Hand entgegen, um ihm vom Fenster aus hineinzuhelfen. Ist das nicht herrlich romantisch?“, sprach Miceyla hingebungsvoll und tanzte dabei durch den Raum.

„Urgh… Ich hätte wissen müssen, dass jetzt sowas in der Richtung kommt. Freut mich, wenn ich für dich den Clown spielen konnte“, meinte Sherlock etwas gleichgültig, musste aber selbst darüber lachen.

„Nun weiß ich, wie ich dich in Zukunft ärgern kann“, neckte sie ihn und kicherte über ihren eigenen Scherz. Doch steckte mehr Ernsthaftigkeit dahinter, als es vermuten ließ. Er war für jeden Spaß zu haben und sie liebte es einfach, mit ihm zusammen herumzualbern.

„Jetzt bist du wieder putzmunter. Als ich hier reinkam, hast du mich noch mit einem teilnahmslosen Blick angesehen. Warum sitzt du hier mit trüber Stimmung? Ich dachte, wo du nun endlich den Mann geheiratet hast den du liebst, wärst du nun der glücklichste Mensch auf Erden. Die Welt ist wohl doch nicht so heile, was? Du wünschst dir Zweisamkeit, welche dir verwehrt bleibt.“ Sherlocks abrupter Themawechsel, ließ Miceyla wieder einen eisigen Schauer in sich spüren und sie schwieg, ohne ihm etwas zu entgegnen.

„Und du denkst viel zu viel über alles nach. Darüber was andere denken könnten, wie dein Verhalten ankommt und was du als Nächstes zu wem sagst, um Konflikte zu vermeiden. Weisen Menschen liegt planendes Denken im Blut, doch du zerstückelst deine Sorgen nochmals in unzählige neue Probleme und machst daraus eine Endlosschleife. Dadurch legst du dir selbst nur unüberwindbare Schranken in den Weg und kommst nicht vorwärts. Lerne Haken an Tatsachen zu setzen und mit ihnen abzuschließen. Was bringt es im stillen Kämmerlein vor sich hinzugrübeln, obwohl man eigentlich machtlos ist? Während dieser vertrödelten Zeit, sind dir andere bereits Meilen voraus und widmen sich neuen Aufgaben. Akzeptiere den Stand der Dinge und nutze die Möglichkeiten, die du besitzt. Und ganz wichtig, halte deine eigenen Gedanken, immer von den anderer differenziert. Du kannst nicht erforschen, was andere wirklich denken. Es bleibt eine einzige Rätselraterei. Die Logik liegt in allem, was sich mit Wissen und Wahrnehmungen realitätsgetreu erklären lässt. Aber deinen eigenen Gedanken sind keine Grenzen gesetzt. Also genieße deine innere Freiheit und verschwende nicht dein Potenzial, das in dir schlummert. Was für einen Wissensschatz du zu besitzen wünschst, hängt allein von dir ab. Es ist reine Kopfsache, mit was du dich tagtäglich auseinandersetzen willst. Keiner kann darüber bestimmen, solange du es nicht zulässt. Also entrümple mal deine Gedanken und schmeiße alles Belanglose fort und schaffe Platz. Nicht nur für Neues, sondern allem voraus um Wesentliches zu verschärfen. Was glaubst du, wie du dadurch einen Triumph nach dem nächsten erzielst. Dein Umfeld wird staunen und den Hut vor dir ziehen. Das war jetzt vielleicht ein wenig ausschweifend. Jedoch lege ich diesen guten Rat, ganz besonders dir ans Herz, da du eine der wenigen bist, die geistig dazu befähigt ist, dies in die Tat umzusetzen. Hinzu kommt, dass du dir nichts zu Kopf steigen lässt und stets bescheiden und vernünftig bleibst,“ vertraute er ihr ungewöhnlich besonnen, seinen tiefgründigen Ratschlag an. `Und vor allem um dich davor zu bewahren manipuliert zu werden und dich wie eine Skulptur formen zu lassen. Ich kann nur immer wieder betonen, bitte, bitte beherzige meine Worte. Lass dein strahlendes Licht die Dunkelheit durchbrechen…`, fügte er noch still mit einem beklommenen Gefühl in der Brust hinzu.

„Sherlock… Deine Lebensweisheiten haben beinahe schon…wie soll ich sagen…einen poetischen Nachklang. So kenne ich dich gar nicht. Du entpuppst dich noch als richtiger Seelenklempner. Ich finde, du solltest ebenfalls deine eigenen Ansichten zu Papier bringen. Damit könntest du einiges in unserer trostlosen Gesellschaft bewegen“, sagte sie berührt und lächelte ihn voller Wehmut an.

„Dies brauche ich überhaupt nicht zu tun. Denn ich habe doch zwei großartige Schriftsteller um mich herum, die meine Zitate in ihren Werken verewigen. Du und John werdet einmal zu dem unsterblichen Beweis, welche Höhen und Tiefen sich in diesem Zeitalter ereignet haben“, sprach er wahrlich glücklich darüber und lächelte sie nun auch sanftmütig an. Ihr Herz pochte, seine Worte machten sie froh und es gab ihr Mut, dass er sie wie immer ernst nahm. Jedoch schmerzte es merkwürdigerweise gleichzeitig, es auf diese Weise zu hören bekommen. Plötzlich war sie nicht mehr dazu in der Lage, ihre Gefühle zurückzuhalten und ließ Tränen über ihre Wangen kullern, die sie viel zu lange in sich gefangen gehalten hatte.

„Danke…danke das ich mit dir befreundet sein darf…“, schluchzte Miceyla und versuchte vergebens sich die Augen trocken zu reiben. Sherlock schritt langsam auf sie zu, streichelte über ihren Kopf und drückte ihn anschließend sanft gegen seine Schulter.

„Es ist in Ordnung zu weinen. Du bist erst dann tapfer, wenn du dich nicht ständig damit abmühst stark zu sein. Das du den Mumm besitzt, zu jeder Zeit deine ehrlichen Emotionen zu zeigen, macht dich sehr authentisch. Wir kämpfen uns alle auf unsere eigene Art durch das Leben. Einfach ist es nie, aber wir halten zusammen. Stimmst du mir da zu?“, meinte er aufmunternd. Jedoch merkte sie sofort, wie er sich abmühen musste, die richtigen Worte zu finden. Er schien sich in dem Moment etwas unwohl zu fühlen, aber nicht auf negative Weise.

„Du stinkst fürchterlich…“, kam von ihr nur eine schniefende Antwort und sie schaffte es sogar zu lachen. Verlegen nahm er seine Hand von ihr und sie stellte sich wieder aufrecht hin.

„Vielleicht lenken praktische Tätigkeiten, von meinen ganzen Grübeleien ab. Ich sehne mich nach jemandem, der meine Hand nimmt und mir die große weite Welt zeigt. So banal wie es auch klingen mag. Doch wozu lebt man, wenn das Herz sich in einem Käfig befindet? Das macht das Leben nicht lebenswert. Der Abstand zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, ist nicht wirklich groß. Denn jeder Mensch, gestaltet seine eigenen Wünsche und Träume selbst und formt daraus ein ganz persönliches, individuelles Universum, dass für ihn Sinn ergibt.“ Der positive Glauben kehrte allmählich zu ihr zurück.

„Siehst du. Daher ist es auch unabdingbar, sich von Zeit zu Zeit einer Person anzuvertrauen, die einen versteht und richtig bei allen Sorgen zuhört. Und habe ich dich jemals zurückgewiesen? Na los, die weite Welt da draußen wartet schon darauf, von uns beiden unsicher gemacht zu werden! Es beginnt gleicht jetzt! Bereit für eine Nacht-und-Nebel-Aktion und alles stehen und liegen zu lassen? Für solch ein Abenteuer, brennen wir doch beide!“, beschloss Sherlock motiviert und stützte seine Arme breit grinsend auf seiner Hüfte ab.

„Worauf du dich verlassen kannst! Schieß mit deinem Plan los!“, gab Miceyla sich enthusiastisch einverstanden.

„Sehr schön! Es wird kein großes Spektakel. Die Lambeths müssen einfach nur unter Beweis stellen, dass sie mit Rücksicht handeln können und sich kooperativ zeigen. Wir fädeln das Ganze so ein, dass Scotland Yard bereit ist, ein vernünftiges Gespräch mit ihnen zu führen. Folgendermaßen gehen wir vor: Du bist heute Nacht eine wehrlose Dame, die von einem Wahnsinnigen überfallen wird, der von keinem geringerem als mir gespielt wird. Unsere eigennützigen Freunde, werden dir vor den Augen der Polizei zu Hilfe heilen. Es ist eine hochrangige Heldentat, eine junge Adelige zu retten. Da stellt jeder Polizist seine vorwurfsvollen Diskussionen abrupt ein. Da kannst du endlich mal deinen neuen Rang ausnutzen und ich natürlich auch, he, he. Am Ende werde ich mich zu erkennen geben, auch wenn es ein Heidenspaß ist, Scotland Yard in die Irre zu führen. Aber vor allem würde ich gerne vermeiden, hinter Gitter zu landen. Die Lambeths wissen grob über meinen Plan Bescheid. Vorhin wurde schon eifrig gemunkelt, dass es in dieser Nacht zu einem heftigen Aufeinanderprall, der beiden Fronten kommen könnte. Wir haben also keine Zeit zu verlieren, machen wir uns schleunigst auf den Weg. Da ich hier in Lambeth, wieder einmal nicht mein eigentliches Ziel erreicht habe, bin ich etwas schlecht gelaunt und mag wenigstens für einen sinnreichen Zweck hier gewesen sein, wenn ich schon mit leeren Händen nach Hause fahren muss. Keine Sorge, ich kläre dich später darüber auf, wessen Spur ich verfolge, damit du den neusten Stand der Dinge kennst. Jetzt hält uns das nur auf. Verschieben wir den etwas komplexeren Austausch. Ich führe dich zu dem Ort, wo wir unser Schauspiel vollführen. Schmeiß dir rasch eine Jacke über, dann mogele ich mich dieses Mal, mit dir zusammen durch den Eingang im Foyer. Bin deine provisorische Begleitung. Gut, mehr brauchst du nicht zu Vorbereitung, siehst zu jeder Tageszeit hübsch aus. Und ich vermute, dass es gleich einen heftigen Niederschlag geben wird…“, erklärte er gelassen und bediente sich am Dessert ihres Abendmahls.

„Du hast also vor den Verbrecher zu spielen… In Ordnung, wenn du meinst, dass dein Plan funktioniert, gebe ich mir Mühe bei meiner Rolle.“

„Ah und noch etwas. Gehe ich richtig der Annahme, dass sich unter deinem Gepäck eine Waffe befindet? Dann nimm sie bitte mit, man kann nie wissen“, bat Sherlock sie noch vorsorglich.

„Ja, hier.“ Miceyla holte einen Revolver hervor, den sie auch rasch wieder wegsteckte, damit sie ihn nicht groß vor ihm zur Schau stellte. Sonst analysierte er nachher anhand eines kurzen Blickes den Waffenhersteller. Und sie fand es fast schon verwunderlich, wie tolerant er mit der Tatsache umging, dass sie mit einer geladenen Waffe herumlief. Geschwind zog sie ihren Mantel an und schloss, nachdem sie mit Sherlock das Hotelzimmer verlassen hatte, die Tür ab. `Augenblick mal… Hat er mich gerade eben `hübsch` genannt? So ein Wort aus seinem Mund zu hören, ist ein wenig ungewohnt… Ich sollte nicht wieder so viel da hineininterpretieren, wenn bei ihm dabei kein Funken Gefühl dahintersteckt…`, dachte Miceyla noch als die Tür ins Schloss fiel und schüttelte kurz kräftig den Kopf, um sich auf ihren geplanten Friedensakt zu konzentrieren. Es bereitete ihnen keinerlei Schwierigkeiten, dass Hotel mehr oder weniger unbemerkt zu verlassen. Im strammen Tempo rannte sie hinter Sherlock durch die stürmische Nacht. Er führte sie zu einem eingezäunten Grundstück, auf dessen Mitte sich eine große Villa befand. Die Außenfassade des Hauses war teilweise stark beschädigt und es gab kaum noch ganze Fensterscheiben.

„In dem Gebäude wird heimlicher Sklavenhandel betrieben. Die Apostel von Lambeth, dürften da drinnen gerade schwer beschäftigt sein. Und wie du siehst, hat sich bereits eine ganze Scharr Polizisten, vor dem äußeren Zaun positioniert und die gesamte Villa umstellt. Sie warten darauf, die heiligen Helden in Spe abzufangen. Ich glaube Worte bleiben diesmal nicht das einzige Mittel, von dem sie Gebrauch machen werden… Noch ehe es zur Eskalation kommt, starten wir unser kleines Schauspiel. Solange bleibe ich unsichtbar und warte auf meinen Einsatz. Du kannst bestimmt herrlich laut schreien. Bis gleich“, sprach Sherlock leise, während sie gemeinsam unter einer Gruppe von Bäumen Schutz suchten. Miceyla nickte ihm bestätigend zu und verließ mit leisen Schritten ihr Versteck. Der Sturm verstärkte ihre Anspannung und obwohl sie nun mit dem erfahrenen Sherlock die Mission ausführte, bekam sie trotzdem das sich einschleichende Gefühl, dass etwas gleich schief gehen sollte. Sie wusste nicht ob es ein Verhängnis war, ständig vom Schlechten auszugehen. Und zu allem Überfluss, prasselten jetzt auch noch dicke Regentropfen auf sie herab. Einer der Polizisten wurde auf Miceyla aufmerksam, als sie in dessen Nähe vorbeispazierte.

„Guten Abend mein Fräulein! Zu solch später Stunde noch alleine unterwegs? Dann sehen Sie zu, dass Sie schnell nach Hause kommen. Es ist sehr ungemütlich heute Nacht und viele Trunkenbolde treiben in der Gegend ihr Unwesen“, warnte er sie in einem freundlichen, dennoch beharrlichen Ton.

„Ich danke Ihnen für Ihre Besorgnis. Ich werde mich beeilen. Dank Scotland Yard, fühle ich mich viel sicherer nachts auf den Straßen“, antwortete sie lächelnd, mit einer Spur versteckter Ironie und lief unbeirrt weiter. Ein gutes Stück hatte Miceyla sich entfernt, da blieb sie stehen und wartete mit einem beobachtenden Blick ab, bis jemand aus der Villa trat. Nicht lange brauchte sie an Ort und Stelle auszuharren, da betrat eine Gruppe von sieben Personen den kargen Vorgarten. Unverkennbar handelte es sich bei ihnen um die Apostel von Lambeth. Beinahe zeitgleich, rückte auch schon die Polizei mit gezückten Waffen an. `Jetzt ist der geeignete Moment! Es kann losgehen!` Sie holte einmal Tief Luft, um laut nach Hilfe zu rufen. Doch sie hielt inne, als etwas ganz anderes, die Aufmerksamkeit von Scotland Yard erweckte.

„Hey! Du da, stehen geblieben! Was treibst du hier? Siehst mir sehr verdächtig aus, du dreckiger Straßenköter!“, rief einer der Polizisten argwöhnisch. `Was macht Sherlock dort drüben?! Und warum hat man ihn schon entdeckt? Er sollte sich doch in meiner Nähe aufhalten. Ihm unterlaufen nicht solche fahrlässigen Fehler. Da muss ein Dritter seine Finger mit im Spiel haben…`, dachte Miceyla verwirrt und sah verzweifelt dabei zu, wie ihr Kamerad von den Polizisten umzingelt wurde. Weder flohen die Apostel von Lambeth, noch schritten sie ein. Der erste Polizist begann Sherlock mit einem Schlagstock zu attackieren. Wundersamerweise hielt dieser ebenfalls einen langen Stock parat und gewann schnell in dem hektischen Gefecht die Oberhand. `Sherlock kann ebenfalls unheimlich gut fechten… Auch wenn er einen ganz anderen Stil hat als William`, stellte sie bewundernd fest und konnte nicht anders, als wie gebannt zuzusehen. Jeder seiner Hiebe war geschmeidig und er bemühte sich darum, den Polizisten nicht ernsthaft zu verletzen. Doch dies rettete die Situation nun auch nicht mehr, der Plan war gescheitert… Da näherte sich ihr plötzlich ein Mann in einer schwarzen Robe. Direkt vermutete Miceyla, dass er ein Mitglied der Lambeths sein musste. Sie war erleichtert darüber, jemand Vertrauliches bei sich zu haben und wollte ihn ansprechen. Aber aufgrund seines fragwürdigen Verhaltens, blieb sie vorerst stumm. Mehrmals umkreiste der Mann sie, dann stellte er sich vor sie und berührte mit einer kalten Hand ihren Hals. Bei dem was er wenige Sekunden später tat, vergaß sie vor Schreck das Atmen. Mit einem ruckartigen Handgriff, entriss er ihr die Kette und hielt das kostbare Juwel fest umklammert.

„H-he, meine Kette! Geben Sie mir die Kette sofort wieder!!“, befahl Miceyla entsetzt und verunsichert. `Oh nein, Alberts Kette! Warum musste ich sie auch anbehalten? Ich Idiot!` Da rannte der Mann ohne ein Wort zu sagen davon.

„Nein, warten Sie!“, schrie sie panisch und sah wie er auf einen hohen Glockenturm zu schnellte. Mit rasendem Herzen, blickte sie sich hastig nach Sherlock um und wusste, dass er alleine zurechtkommen würde. Zur Not konnte er immer noch seine wahre Identität preisgeben. Miceyla stürmte somit nach kurzen Überlegungen, dem Dieb hinterher. Sie musste die Kette zurückgewinnen, koste es was es wolle! Ihr war egal, um was für einen wertvollen Gegenstand es sich dabei handelte. Für sie zählte einzig und allein, dass es ein Geschenk von Albert war, in dem all seine Liebe steckte. Klatschnass erreichte sie den Eingang des Turms und entdeckte die nassen Fußspuren des Mannes, auf einer steilen Wendetreppe. Sie schluckte ihre Angst hinunter und begann die Treppenstufen zu besteigen. Zitternd erreichte sie die obere Ebene, wo die Spuren endeten. Auf der einen Seite war sie froh über die Dunkelheit, da sie nicht sehen konnte, auf welcher Höhe sie sich gerade befand. Auf der anderen Seite allerdings fürchterlich nervös, nicht so leicht ausfindig machen zu können, wo sich der rätselhafte Mann befand.Sie zuckte am ganzen Leib, als sie hinter sich das Geräusch einer sich entzündenden Fackel vernahm und ihre Umgebung erleuchtet wurde.

„Was für eine aufregende Nacht! Finden Sie nicht auch…Mrs Moriarty? Für ein leidenschaftliches Rendezvous ist es schließlich nie zu spät. Eine imponierende Kette hat man Ihnen da anvertraut. In diesem Schmuckstück stecken eingefrorene Gefühle… Wünscht man sich denn nicht, ihnen etwas Wärme zu schenken?“ Völlig verschreckt wirbelte Miceyla herum und fand vor sich den hinterhältigen Dieb mit ihrer Kette stehen. Wieder einmal konnte sie nur über das Gesicht des Mannes rätseln, da seine Kapuze zu weit darüber gezogen war. `Kann nicht mal zur Abwechslung, mit offenen Karten gespielt werden?`, dachte sie trotz ihrer Furcht wütend.

„Rücken Sie meine Kette wieder raus! Ich weiß zwar nicht auf wessen Seite Sie stehen, doch ich kann Sie nur warnen. Räubern die sich einen Spaß daraus machen, andere Leute zu bestehlen, geht es früher oder später an den Kragen. Und da Sie wissen wer ich bin, müssen Sie wohl mit den Aposteln von Lambeth in Verbindung stehen. Was wollen Sie also von mir?“, forderte Miceyla verkrampft und strengte sich verbissen an, sich nicht einschüchtern zu lassen.

„Oh weh! Da bekomme ich ja Angst bei diesem Blick! Wer wird mich denn nun schnappen? Ihr Freund der Detektiv? Oder…der berüchtigte Meisterverbrecher?“ Seine Stimme klang plötzlich so tief und unheilvoll, dass Miceyla binnen kürzester Zeit, am gesamten Körper eine Gänsehaut bekam. Dieser Mann konnte die Tonlage seiner Stimme so perfekt verstellen, dass man meinte, unterschiedliche Personen würden sprechen. Um sicherheitshalber Abstand zu gewinnen, trat sie langsam etwas zurück und dachte schon, in eine Regenpfütze getreten zu sein. Doch als sie einen Blick hinab warf erkannte sie, dass es sich um dickflüssiges, dunkelrotes Blut handelte. Entsetzt ließ Miceyla ihren Blick wandern und fand zwei Leichen am Boden liegen, welche grausam zugerichtet waren. Erst jetzt vernahm sie einen grässlich faulen Gestank, den der Sturm bislang verschleiert hatte. `Riskiere ich hier gerade wirklich für eine Kette mein Leben?`, fragte sie sich von Panik zerfressen in Gedanken. Rasch hafteten ihre Augen wieder auf jenen Mann, der für diese Gräueltat verantwortlich sein musste. Ihr Widersacher griff unter seinen Umhang und hielt kurz darauf einen langen, silbernen Degen in Händen, womit er anschließend erbarmungslos begann, in den leblosen Körpern der beiden Männer herumzustochern.

„Dieser Mann hier hat etliche kleine Mädchen misshandelt, nur um seine sadistischen Fantasien ausleben zu können. Und der andere Teufel hat unzählige Kinder, als Sklaven an den Adel im Ausland verkauft. Für solch unmenschliche Unholde, ist nicht mal der Tod als Strafe ausreichend. Wieso der bestürzte Gesichtsausdruck? Haben Sie sich denn mittlerweile nicht längst, an den Anblick des Todes gewöhnt? Das Böse in seiner Gesamtheit lässt sich nicht auslöschen. Der Abschaum muss einzeln ausgerottet werden, bis keiner von dem minderwertigen Gesindel mehr übrig ist. Oho… Wie ich sehe dämmert es Ihnen allmählich, mit welcher bescheidenen Person Sie es gerade zu tun haben…“, sprach er in einer Mischung aus Groll und Heiterkeit. In der Tat fiel es Miceyla wie Schuppen von den Augen und sie konnte den mysteriösen Mann nun endlich entlarven. `D-das Gespenst aus Richmond! Seine Stimme... Seine ganze Art, es passt einfach alles zusammen…` Mit einer zitternden Hand, richtete sie ihren entsicherten Revolver auf ihn. Nun wurde ihr schmerzlich bewusst, in welcher kritischen Bredouille sie sich gerade befand. Der Mann dessen Namen sie nicht kannte, war ihr in vielerlei Hinsicht haushoch überlegen. Ob er aus einer Laune heraus, sich einen heimtückischen Scherz erlaubte oder ernsthafte Ziele verfolgte, darüber konnte sie bloß spekulieren.

„Ich sage es Ihnen nur einmal klar und deutlich, halten Sie sich lieber von uns fern. Was auch immer Sie vorhaben, lassen Sie es bleiben. Am Ende werden Sie es sein, der das Nachsehen haben wird… Das kann ich Ihnen versichern. An dieser Stelle, würde ich Ihnen gerne für Ihre Hilfe damals danken, aber das haben Sie jetzt selbst kaputt gemacht“, drohte Miceyla und versuchte tapfer zu bleiben. Der Mann trat einen großen Schritt auf sie zu.

„Die Gegebenheiten ändern sich nun mal. Dient alles der Unterhaltung. Zeige niemals deine wahre Persönlichkeit und du wirst zu einem unantastbaren Geschöpf, das die Herzen der Menschen in Händen hält. Dies ist der Schlüssel zur vollendeten Macht… Aber, aber, was plappere ich hier nur wieder meine ganzen Geheimnisse aus! Ich kleiner Dussel, ha, ha! Ach Herzchen, nimm diese hässliche Waffe runter. Du könntest doch sowieso niemals abdrücken. Deine Gutmütigkeit siegt über deinen Hass. Noch ist dies jedenfalls der Fall… Was ist Gerechtigkeit? Wir leben in einer Welt voller Lügen, in der die Wahrheit beinahe ausgestorben ist. Das Leben gleicht einem Spiel ohne feste Regeln. Finden wir heraus wer es gewinnt. Denn wer zuerst verstirbt, ist folglich der unglückliche Verlierer. Eines sei dir noch gesagt, du bist garantiert die Letzte, der ich feindlich gesinnt bin…“, entgegnete er ihr bedachtsam, dennoch lag in seinen Worten eine angsteinflößende Kälte. Die Distanz zwischen den beiden verringerte sich immer mehr und er trieb Miceyla unaufhörlich auf den offenen Rand des Turmes zu, an dem es kein Geländer gab…

Am Fuße des Glockenturms, hatten sich in der Zwischenzeit Moran und Fred eingefunden.

„Ich fasse es nicht! Der Maulwurf hat auch hier in Lambeth, wieder seine dreckigen Finger mit im Spiel! Wenn ich diesen feigen Hund erwische, werde ich all seine Eingeweide aus ihm rausprügeln! Und was rennt Miceyla dem Heini auf eigene Faust hinterher? Ist sie denn vollkommen Lebensmüde?“, zischte Moran tobsüchtig und konnte sich kaum noch unter Kontrolle halten. Nichts hasste er mehr als untätig zuzusehen.

„Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Mann mit den Aposteln gemeinsame Sache macht. Aber dann glaube ich nicht, dass er Miceyla etwas antun wird. Andererseits hat er den Plan von ihr und Sherlock vereitelt… Mir gefällt es zwar auch nicht, doch müssen wir vorerst abwarten, wie sich das Ganze entwickelt…“, sprach Fred besonnen und versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren. Jedoch hielt er nervös ein Messer in der rechten Hand und blickte mit scharfen Augen zur Turmspitze empor. Er war jeder Zeit bereit hinaufzustürmen.

Mittlerweile hatte der Mann, von dem Miceyla nicht konkret wusste, ob er nun gut oder böse war, sie an das steile Ende der obersten Turmebene getrieben und ihr jegliche Wege zur Flucht komplett abgeschnitten.

„Deine hübsche Kette, behalte ich als Pfand für meine grandiose Darbietung, bis wir uns das nächste Mal wiedersehen. Wer wird deine verzweifelten Hilfeschreie hören und für dich sein Leben riskieren? Wer…wird dich wohl retten kommen, aus den Flammen der Hölle? Nun flieg, mein Vögelchen, flieg!“ Nach seinen letzten besiegelnden Worten, schubste er sie energisch mit einer Hand von sich weg, sodass sie zurücktaumelte und mit den Füßen nach unten wegrutschte. Hilflos stürzte Miceyla den Turm hinab… Doch gerade noch rechtzeitig schaffte sie es, sich an einem Spalt in der glitschigen Außenmauer festzuhalten. Ihr schriller Entsetzensschrei durchbrach sogar den Lärm des Sturms. Unter Todesangst blickte sie hinauf und sah zum ersten Mal für einen flüchtigen Moment, das Gesicht des Mannes. Die Halbmaske welche er trug, funkelte golden im hellen Licht der Fackel. Mit schimmernd blauen Augen starrte er sie an und seine Lippen waren zu einem Lächeln geformt, dass weder verachtend noch bösartig war. Viel eher verbarg sich dahinter die Botschaft, ihre Hoffnungslosigkeit eindämmen zu wollen. Aber dies vermochte sie in ihrer brenzligen Notlage, nicht richtig zu deuten… Kurz darauf verschwand der Mann und überließ sie ihrem Schicksal…

„Miceyla!“, schrien Moran und Fred zeitgleich, als sie den kreischenden Laut hörten und ihre Kameradin von der Turmspitze herabbaumeln sahen.

„Ich eile sofort zu ihr!“ Fred wollte schon hinaufflitzen, da packte Moran ihn am Arm und hielt ihn zurück.

„Warte! Ich weiß, du willst das gerade nicht hören… Aber Sherlock wird die Rettungsaktion für dich übernehmen. Wenn wir jetzt einschreiten, war die ganze Diskretion umsonst. Halte dich in der Etage unter ihr versteckt und fange sie auf, sollte sie vorher stürzen. Ich hefte mich derweil an die Versen von unserem Spitzel.“ Diesmal war es Fred, der den voreiligen Beschluss von Moran stoppen musste.

„Das hat keinen Zweck. Schlag dir das besser aus dem Kopf. Falls du hier und jetzt einen Streit anzetteln solltest, erschaffst du damit für William nur unnötigen Ballast. Zuerst müssen wir ein genaueres Bild, über die Absichten und Person des Mannes bekommen. Er ist kein Laie auf dem Gebiet des Verbrechens, so viel ist sicher…“

„Argh…! Ärgerlich das wenn es drauf ankommt, du immer recht haben musst… Ja, ich gebe es nur ungern zu, aber er ist ein pfiffiges Kerlchen. Doch das er mit William mithalten könnte, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen… Dann ab auf deinen Posten mit dir. Ich verdünneresiere mich auch mal wieder“, gab Moran widerwillig nach und beide tauchten im Schutz der dunklen Nacht unter.

Miceylas Schrei erschütterte Sherlock bis ins Mark. Nach einem kurzen Blick zu ihr hinauf, schlug er alle Polizisten um sich herum weg und bahnte sich einen Weg frei. Pfeilschnell spurtete er auf den Glockenturm zu und sprintete im Rekordtempo die Treppenstufen nach oben. Bei der letzten Etage angekommen, ignorierte er die Leichen, schmiss sich gehetzt zu Boden und hielt ihr sogleich seine rettende Hand entgegen.

„Was machst du hier bloß für halsbrecherische Alleingänge?! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?!“, tadelte Sherlock lautstark, dennoch lag in seinem Tonfall mehr Panik als Zorn. In seinen Augen flimmerte eine Angst, die Miceyla bei ihm bislang in diesem Ausmaß noch nie gesehen hatte.

„Ver…verzeih mir bitte… Ich bin töricht gewesen… Meine Hände…ich spüre sie kaum noch…“, wimmerte sie mit einem Ansturm von Schuldgefühlen, zugelassen zu haben, dass Sherlock wegen ihr beinahe vor Besorgnis umkam.

„Ist schon gut… Dich trifft keine Schuld. Na hopp, nimm meine Hand und ich zieh dich rauf“, sprach er ruhig auf sie ein, um ihre beiden Gemüter, in dieser misslichen Lage zu beschwichtigen.

„N-nein… Dann rutsche ich mit der anderen Hand ab. Es hat zu viel geregnet. Wenn du dich noch weiter vorbeugst, wirst du mit mir zusammen hinabstürzen. I-ich will nicht, dass du dich wegen mir in Gefahr begibst…“, stotterte Miceyla flehend.

„Red‘ keinen Unsinn! Hör auf mit dem Drama und spiel hier nicht das Heldenopfer! Solltest du fallen, habe ich keine andere Wahl, als mit dir nach unten zu stürzen!“, rief er stur und beugte sich mit seinem ganzen Oberkörper zu ihr hinunter. Mit vereinten Kräften sorgte Sherlock dafür, dass ihn seine Beine oben hielten. Sobald er den Eindruck gewonnen hatte, genügend ausbalanciert zu sein, packte er ihre Hand und begann sie hinaufzuziehen. Er schien seine eigenen Grenzen überschreiten zu müssen, damit Miceylas Gewicht ihn nicht aus der Balance brachte. Doch sie kam ihm entgegen und nutzte ihre letzten Energiereserven, um mit ihrer freien Hand, in eine höhergelegene Spalte der Mauer zu greifen. Gemeinsam kämpften sich die beiden unter größter Anstrengung nach oben und Sherlock schafften es schließlich, Miceyla unbeschadet auf die Ebene des Turms zu hieven. Mit hektischem Atem, kauerten sie nun vollkommen erledigt, dicht beieinander am Boden. Noch immer weigerte er sich, ihre nasskalte Hand loszulassen. Sein Totenkopfring, den er stets an seinem rechten Zeigefinger trug, ergab eine seltsame Konstellation, mit ihrem leuchtend goldenen Ehering.

„Ich danke dir für deine Rettung, Sherlock… Jetzt hast du mich gerettet, anstatt mich zu überfallen…“, hauchte sie lächelnd und lehnte erleichtert ihren Kopf gegen seine bebende Brust.

„Tu…tu mir das nie wieder an…“, flüsterte er wie weggetreten und senkte ebenfalls seinen Kopf, den er erschöpft auf ihrer Schulter abstützte. Es war ein kurzer Moment der friedlichen Ruhe und um den Schock zu verarbeiten. Sherlock fand als Erster von beiden, wieder zu seiner alten Verfassung zurück. Sachte ließ er von ihr ab und prüfte nun mit kritischem Blick seine Umgebung.

„Eine schöne Sauerei hat dieses Schlitzohr hier hinterlassen. Jetzt ist er mir abermals durch die Lappen gegangen… Hattest du wenigstens ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Kerl?“, fragte er zähneknirschend und kniff die Augen zusammen. Miceyla kniete noch immer auf dem harten Boden und begann erneut zu zittern. Gerade besaß sie einfach nicht genug Kraft, um sich der Wahrheit und dem unheimlichen Anblick ihrer Umgebung zu stellen.

„D-das Gespenst! Es verfolgt mich!“, wisperte sie und hielt sich die Hände schützend vor die Augen.

„Das Gespenst?“, wiederholte er murmelnd und wusste nur zu gut, was ihr gerade durch den Kopf ging.

„Komm, Miceyla. Dies ist ein äußerst unpassender Ort, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Unser Plan ist zwar nach hinten losgegangen, aber für Verwirrung haben wir dennoch allemal gesorgt. Sieh nur, da unten stehen sich die beiden Parteien nun gegenüber. Es ist verdächtig still. Gesellen wir uns mal dazu, bevor es doch noch laut wird. Der Regen hat mittlerweile auch endlich nachgelassen“, sagte er lächelnd und reichte Miceyla seine Hand, um ihr aufzuhelfen. Sie konnte gar nicht schnell genug aus dem Turm hinauskommen und trat noch vor Sherlock ins Freie.

„Das reicht! Ich höre mir diesen Stuss nicht länger an! Von wegen Gesandte Gottes! Das entschuldigt noch lange nicht eure barbarischen Taten! Wir Hüter des Gesetzes sind es, die das letzte Wort haben!“, brüllte ein Polizist gereizt, der sich bedrohlich vor Freesia gestellt hatte.

„Aufhören, sofort! Wenn ihr euch alle nur mal selbst sehen könntet, würdet ihr bemerken, wie lächerlich dieses ganze Gezanke in Wirklichkeit ist! Benutzt mal euren Verstand!“, platzte es forsch aus Miceyla und sie ging mit eiserner Miene dazwischen. Perplex verstummte der Polizist, welcher dem Anschein nach, dass Kommando über die Gruppe von Scotland Yard in Lambeth besaß. Und als er den vermeidlichen Räuber ohne Kapuze auftauchen sah, fiel ihm vor Schreck die Kinnlade herunter.

„A-aber, was um alles in der Welt…?! Sie sind das gewesen, Mr Holmes?! Dann haben Sie mit dem Luder hier gemeinsame Sache gemacht, um die frevelhaften Überfälle, von diesem rechtswidrigen Pack herunterzuspielen?“, blaffte der Polizist durcheinander. `Hat der Mann mich gerade tatsächlich als `Luder` beleidigt?!`, dachte Miceyla eingeschnappt.

„Fabelhaft. Wenn Sie doch imstande sind, soweit schlussfolgern zu können, warum nutzen Sie Ihr Hirn dann nicht dazu, die wahren Verbrecher dingfest zu machen? Übrigens, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie gerade in ein fatales Fettnäpfchen getreten sind? Meine tollkühne Kumpanin hier, ist Miceyla Moriarty. Jetzt müssten sogar bei einem Hinterwäldler wie Ihnen, die Allarmglocken läuten. Und sehen Sie zu, dass Sie sich mit den Lambeths versöhnen. Meine Nerven sind am Limit angelangt. Gab es jemals Tote, bei den ganzen `Verbrechen` der Gruppe? Und hat es jemals Beschwerde in der Bevölkerung gegeben?“, forderte Sherlock von dem Polizisten, sich diese Fragen zu stellen. Man konnte deutlich heraushören, dass seine Geduld langsam überstrapaziert worden war. Der Mann blickte nach seinem strengen Einwand, verunsichert zu Boden.

„Was bin ich doch für ein Trottel… Bitte vergeben Sie mir mein anmaßendes Verhalten, Lady Moriarty… Es ist mir ein wenig peinlich, dass wir uns vor Ihnen beiden, wie die letzten Tölpel benommen haben. Und nein, die Apostel von Lambeth, ließen kein einziges Mal einen Toten zurück. Wir fanden stets alle Menschen, die man eines Verbrechens beschuldigte, gefesselt oder bewusstlos vor. Zugegebenermaßen konnten wir dank ihrer unerlaubten Organisation, Personen hinter Gitter befördern, die wir eigenständig niemals zu fassen gekriegt hätten. Zumindest von der unteren Schicht der Gesellschaft erhalten sie Lob. Aber ich kann einfach kein Auge zudrücken. Meine Vorgesetzten würden mich feuern… Persönlich habe ich ja überhaupt nichts gegen diese Leute…“, gestand der Polizist und ärgerte sich selbst über die verzwickte Lage.

„Hach… Was sagt man dazu? Dadurch das Sie Ihren Vorgesetzten in den Schoß kriechen und Urteile fällen, gegen die Sie sich eigentlich sträuben, verfehlen Sie Ihren Job als Wachmann im Außendienst. Kennen Ihre Vorgesetzten den aktuellen Standpunkt der Dinge? Haben sie denn jemals eigenständig mit den Aposteln gesprochen? Nein, oder? Die Wahrheit kennen nur Sie selbst. Und während Ihre Befehlshaber, anhand von Gerüchten andere durch den Dreck ziehen, ist es Ihre Aufgabe, genau jene Wahrheit herauszufiltern und an die Öffentlichkeit zu tragen. In was für einer scheußlichen Welt leben wir denn, wenn man schon Angst davor haben muss, für Ehrlichkeit bestraft zu werden. Ich erstelle gerne ein Schreiben, in dem ich alles Positive aufliste, dass die Apostel bis jetzt erreicht haben. Das können Sie dann gerne Ihren tüchtigen Vorgesetzten vorlegen. Und wenn mein Name allein noch nicht genügt, da die Meinung einer Frau leider oft belächelt wird, lasse ich gerne noch zusätzlich meinen Mann oder am besten direkt Graf Moriarty, eine Unterschrift daraufsetzen. Daran soll es nicht scheitern. Es ist an der Zeit, dass Scotland Yard und die Apostel von Lambeth, einen versöhnenden Schritt aufeinander zu wagen. Springen Sie über Ihren eigenen Schatten und scheuen Sie sich nicht davor, die jeweils andere Seite besser kennenzulernen. Begegnen Sie sich mit Toleranz und zeigen Sie die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen. Dies gilt für jeden von Ihnen. Erarbeiten Sie ein Konzept, dass einstimmig akzeptiert wird. Das kann nur dann funktionieren, wenn alle an einem Strang ziehen. Arbeiten Sie Hand in Hand miteinander und Sie werden merken, welche ungeahnten Vorteile sich dadurch ergeben. Nun, das ist alles, was ich als beobachtende Außenstehende, Ihnen mit auf den Weg geben kann. Jetzt liegt es an Ihnen, meine moralische Unterstützung in die Tat umzusetzen“, appellierte Miceyla an beide Fronten, welche allesamt lauschend ihre Blicke auf sie gerichtet hatten.

„Das würden Sie wirklich für mich tun? Meinen verbindlichsten Dank. Tja…also… Wir können ja einmal versuchen, miteinander zu kooperieren. Allerdings ziehe ich es vor, wenn wir uns bei Tageslicht zusammensetzen. Wären Sie damit einverstanden?“, sprach der Einsicht zeigende Polizist nun wesentlich freundlicher und hielt endlich Freesia die versöhnende Hand in.

„Gewiss. Es ist im Sinne aller, schnellstmöglich eine zufriedenstellende Lösung zu finden“, antwortete Freesia zustimmend und reichte ihrem ehemaligen Rivalen die Hand. Miceyla fiel vor Erleichterung ein Stein vom Herzen, dass sie mit ihren Worten, doch noch alles zum Guten wenden konnte. Lächelnd betrachtete sie die Mitglieder der Lambeths, wie sie sich überglücklich gegenseitig umarmten. Unendlich froh darüber mussten sie sein, dass man ihre Organisation nicht zur Auflösung zwang. Es war die beispiellose Warmherzigkeit, eines starken Zusammenhalts. Ein tiefes Band, welches von nichts und niemandem zerstört werden konnte.

„Ein Bild des Friedens. Prima, jetzt hast du ein weiteres Mal, die aus den Fugen geratene Harmonie wiederhergestellt. Du kannst ungemein gut auf die Gefühle anderer eingehen. Da kann sich so manch einer, eine Scheibe von abschneiden. Denn die meisten Leute welche diese Gabe besitzen, missbrauchen sie bedauerlicherweise zur Manipulation… Bewahre deine aufrichtige Einfühlsamkeit. Mit dir an meiner Seite, geht die Arbeit wesentlich bequemer von der Hand. Der beste Beweis dafür, dass ich dich öfters anheuern sollte, he, he. Ein Erfolg mit kleinen Abstrichen. Auftrag erledigt?“, sprach Sherlock grinsend, als sie sich etwas von der Menge entfernt hatten, bei der es allmählich auch zur Auflösung kam und streckte ihr seine Faust entgegen.

„Erledigt. Im wahrsten Sinne des Wortes, ha, ha“, gab Miceyla ihm lachend ihre Antwort und drückte ihre eigene Faust gegen seine.

„Nur… Wie verfahren wir mit den Leichen im Turm?“, erkundigte sie sich vorsichtig wieder etwas ernster.

„Was das betrifft sind wir einfach mal so primitiv und vertuschen das Ganze. Heute Nacht gab es schon genug Geplänkel, findest du nicht auch? Das Vergehen unseres Unruhestifters, muss von den internen Aufträgen der Apostel differenziert werden. Es besteht nur ein indirekter Zusammenhang. Solange es unerwähnt bleibt, wird keine weitere Problematik ins Leben gerufen, für die bislang noch keiner eine taugliche Lösung parat hat. Schweigen ist meistens mehr wert als man denkt. Denn wie heißt es so schön: Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. Ein sich anbahnender Konflikt, ist wie eine kleine Flamme. Wird sie nicht im Keim erstickt, entwickelt sich daraus ein unaufhaltsamer Brand… Ahhh! Meine müden Knochen, brauchen dringend eine vernünftige Pause! Du siehst mir ebenfalls danach aus, als wärst du kurz davor umzukippen. Suchen wir uns einen beschaulichen und ruhigen Ort, an dem wir uns ungestört weiter unterhalten können“, beschloss Sherlock und steckte sich ausgiebig. Sie verließen das Gebiet und erreichten ein stillgelegenes Zuggleis, auf dem ein einsamer Eisenbahnwaggon stand. Er öffnete am Waggon eine Tür, die sich quietschend öffnete und sie trat nach ihm in das muffig riechende Innere. Dort fand er eine alte Laterne mit einer kurzgebrannten Kerze, die er mithilfe seines Feuerzeugs anzündete. Danach ließ er sich geschafft auf einer Sitzbank nieder. Miceyla setzte sich neben ihm und war heilfroh, sich nun endlich ein wenig ausruhen zu dürfen. Sherlock zog leise fluchend seinen Umhang aus und warf ihn auf die gegenüberliegende Sitzbank.

„Wir mussten zwar ein paar Umwege in Kauf nehmen, aber letztendlich haben wir genau das erreicht, was wir von vorneherein geplant hatten. Das ist die Hauptsache. Wenn es auch sehr anstrengend war…“, meinte sie aufatmend. `Und wenn man die zwei Leichen in dem Glockenturm ausblendet, hat es während der Streitigkeiten, keinen einzigen Toten auf beiden Seiten gegeben. Nach Williams Vorsatz zu schließen, ist die Mission also erfolgreich ausgeführt worden`, dachte sie noch stolz.

„Ja… Die Aktion ist ziemlich ausgeartet… Auf den Schreck muss ich erst mal eine rauchen. Ach verflucht! Die ganzen Zigaretten sind ja völlig aufgeweicht! Na, wen wunderts…“, nörgelte er schlecht gelaunt.

„Hast du gesehen, wie glücklich Freesia und ihre Freunde am Ende waren? Das ist eine wundervolle Gemeinschaft…“, sagte sie lächelnd, mit der Erinnerung an die zufriedenen Gesichter.

„Du scheinst mir aber auch, eine verlässliche Gemeinschaft gefunden zu haben. Deine Kameraden waren die ganze Zeit über vor Ort und behielten ein Auge darauf, dass dir nichts zustößt. Es beruhigt mich zu wissen, dass du von loyalen Menschen umgeben bist. Eine Gemeinschaft kann zu einer wahrlich starken Kraft werden, die einem dabei hilft sich positiv zu verändern und markanterer Persönlichkeitsmerkmale zu entwickeln. Sie ist wie ein Schutz, der dir deine Ängste nimmt und dich bei Gefahr nicht alleine lässt. Eine aufrichtige Gemeinschaft, ist das Grundgerüst für eine glorreiche Zukunft“, verriet er ihr und blickte sie mit einem offenherzigen Lächeln an. `Fred und Moran waren also wirklich in der Nähe?! Das ist mir im Eifer des Gefechts völlig entgangen… Der Vorfall muss sie ebenfalls sehr erschüttert haben… Und es ist etwas merkwürdig, solche Worte von jemandem zu hören, der sich eigentlich als Einzelkämpfer durchs Leben schlägt, ha, ha`, dachte sie entlastend und war dennoch teilweise bekümmert.

„Gut, wollen wir dann nicht mal langsam, deinem `Gespenst` einen Namen verpassen? Du hast doch bestimmt noch nicht, jenes bescheidene Kryptogramm vergessen? Das hast du dir garantiert, von deinem lieben Gatten entschlüsseln lassen“, hob Sherlock an und faltete in sich gehend die Hände ineinander.

„Da liegst du richtig. Der Lösungsname lautet Clay…“, begann Miceyla, doch er kam ihr damit zuvor den Namen preiszugeben.

„Clayton Fairburn. Ich habe mir den Inhalt des Kryptogramms gemerkt. War nicht sonderlich schwer. So, jetzt hast du die Auflösung zu der rätselhaften Person, der du deiner Reaktion im Turm nach zu urteilen, heute nicht zum ersten Mal begegnet bist… Er ist es auch gewesen, von dem Freesia so geschwärmt hat“, enthüllte Sherlock argwöhnisch.

„Dann handelt es sich dabei also um ein und dieselbe Person?!“, rief sie mit weit aufgerissenen Augen. `Und ausgerechnet diesen Mann, wollte ich unbedingt kennenlernen… Der Kerl hätte mich beinahe umgebracht…`, dachte sie und musste ihr verängstigtes Zittern unterdrücken.

„Wem ich momentan so verbissen hinterherjage, hast du nun auch erfahren. Clayton hat bereits etliche Mädchen jeden Alters, vor dem Tod oder der Unterdrückung bewahrt. Freesia ist da keine Ausnahme. Da müssen persönliche Grunde dahinterstecken. Was weiß der Teufel. Aber dies ist nur nebensächlich von Bedeutung. Das er über Leichen geht, spricht für sich. Dadurch ist nur schwer abzuwägen, in was für eine Kategorie Mensch man ihn einordnen sollte. Anfangs dachte ich, er würde bloß eine Show veranstalten, um etwas Aufmerksamkeit zu erregen. Mittlerweile hege ich sachte Zweifel und bin am Grübeln, ob sich da nicht ein weitaus größeres Desaster, aus dem Untergrund heraus anbahnt…“, sprach Sherlock und dachte währenddessen angestrengt nach.

„Dann vermutest du also, dass es sich bei Clayton Fairburn um den…“, begann sie mit pochendem Herzen.

„…Meisterverbrecher handelt? Gut möglich. Ganz ausschließen kann ich es jedenfalls nicht. Allerdings gibt es noch zu viele Ungereimtheiten. Auch wenn es für mich fast schon eine Erleichterung darstellen würde, wäre er es… Ich habe einen Haufen an Theorien und versuche nach und nach die Fakten einzugrenzen. In Sachen Perfektion, sehe ich durchaus gewisse Ähnlichkeiten. Doch muss ich bei den verschiedenen Fällen, ganz klare Grenzen ziehen, um nicht auf eine falsche Fährte gelockt zu werden. Clayton mordet gezielt und versucht so gut es nur geht, seine diebischen Übergriffe im kleineren Rahmen zu halten, da ihm ein Tumult zu lästig wäre. Der Meisterverbrecher pickt sich seine Opfer, zwar ebenfalls sehr systematisch heraus, jedoch versucht er genau das Gegenteil und präsentiert förmlich seine Verbrechen. Dabei führt er noch zusätzlich alle Beteiligten an der Nase herum. Man sollte die zwei nicht über einen Kamm scheren. Sollte auf einmal ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen beiden entstehen, dann nur weil der eine den anderen imitiert. Fest steht, sie sind zwei Meister wenn es darum geht, ein heimtückisches Schauspiel vorzuführen. Aber Clayton einen Verbrecher zu schimpfen, wäre anmaßend. Er ist weitaus mehr… Jetzt kommt es so rüber, als sähe ich ihn als die wahre Bedrohung, was jedoch völlig falsch ist. Das Licht welches auf den Meisterverbrecher scheint, wirft immer noch den größten Schatten. Clayton Fairburn hat eine gute Seite an sich, aus der ich meinen Nutzen ziehen kann. Denn ich vermute, gleichgültig was sich noch alles hinter seinem Namen verbirgt, dass er genau weiß, wer hinter dem Meisterverbrecher steckt. Daher habe ich mir zum Ziel gesetzt, die Verfolgung von Clayton aufzunehmen. Und am Ende schlage ich idealerweise zwei Fliegen mit einer Klappe. Die Divise lautet: Allen Personen, die grausame Verbrechen begangen haben, dass Handwerk zu legen. Egal welche ehrenhaften Beweggründe dahinterstecken. Jemand der Menschen tötet muss damit rechnen, dass dessen Verfolger keine Gnade walten lassen werden. Daher bin ich auch so fuchsteufelswild, dass der Kerl vorhin für mich zum Greifen nah war! Zur Hölle mit ihm!“ Wutentbrannt schrie Sherlock seine letzten Worte und schlug mit der rechten Faust neben sich gegen die Fensterscheibe, welche daraufhin klirrend zersprang. Geschockt zuckte Miceyla bei seinem plötzlichen Wutanfall zusammen und blickte nachdenklich hinab. `Ob es gut oder schlecht ist, dass ein weiterer Verbrecher aufgetaucht ist, dem Sherlock nacheifern kann, weiß ich im Moment noch nicht. William wird dies sicherlich wieder ganz ungeniert als Sprungbrett, für einen weiteren Plan ausnutzen. Das waren zu viele Informationen auf einmal. Ich muss das alles erstmal verarbeiten, sonst platzt mir der Kopf…`, versuchte sie einen ruhigen Gedanken zu fassen.

„Ich…ich finde es gut, dass du deinen Zorn nicht unterdrückst. Emotionen müssen raus. Deshalb bin ich auch darüber besorgt, dass William sich stets unter Kontrolle hat und eine solche Besonnenheit ausstrahlt, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. Doch was passiert, wenn auf einmal die ganze angestaute Wut zum Vorschein kommt? Die Vorstellung macht mir ein wenig Angst…“, sagte Miceyla so leise, dass es fast nur noch ein Flüstern war. Sherlocks Gesichtsausdruck hatte sich wieder etwas entspannt und ihre Blicke trafen sich. `Hätte ich das jetzt besser für mich behalten sollen?`, zweifelte sie nervös, als sie aus seinen forschenden Augen, die eine gefühlte Ewigkeit auf ihr ruhten, nicht schlau wurde.

„Stimmt, er besitzt eine ungewöhnliche Selbstbeherrschung. Ist doch gut so. Schätze sein sanftes Wesen. Ich würde tobsüchtig werden, falls er seine Wut an dir ausließe. Du musst dich ständig mit meiner Sprunghaftigkeit herumschlagen, das reicht schon, ha, ha! Danke, dass du auch mir Gehör schenkst und nicht gleich das Weite suchst“, sagte er lächelnd und lehnte sich seufzend gegen die gepolsterte Rückenlehne.

„Ich hoffe nur, egal was deine nächsten Vorhaben sein mögen, dass du nicht alles alleine stemmst…“, meinte sie voll Kummer.

„Dasselbe gilt für dich. Du hast gerade eben selbst erlebt, was passiert wenn man unüberlegt handelt“, ermahnte Sherlock sie fürsorglich. Nur ungern wurde Miceyla an ihre erst jüngst verspürte Todesangst erinnert.

„Dürfte ich dich um etwas bitten?“, fragte sie geheimnisvoll.

„Und das wäre? Ich bin ganz Ohr.“

„Bringst du mir ein paar deiner Fechttricks bei? Ich mag mir so viele Techniken wie nur möglich aneignen und mich nicht nur auf eine festlegen. Falls es dir nichts ausmacht, wenn ich mir hier und da ein wenig abgucke“, bat sie nun auch Sherlock, sie darin zu unterrichten.

„Aha! Schau an, da hat mich doch glatt jemand, während des ganzen Trubels heimlich beobachtet. Wenn sich eine günstige Gelegenheit findet, erkläre ich mich gerne dazu bereit. Allerdings müssen wir darauf achten, dass du aufgrund deines anderen Trainings, nicht zu sehr überlastet wirst. Ich finde die Idee recht clever, von mehreren Personen lernen zu wollen. Dadurch liegt dir ein wesentlich weitläufigeres Spektrum an Möglichkeiten zu Füßen“, bot er ihr lächelnd seine Unterstützung an. `Genau! Und wer weiß, was sich später daraus ergibt, wenn ich Williams und Sherlocks Fechtstil, zu meinem ganz persönlichen vereine`, dachte sie motiviert.

„Noch eine klitzekleine Frage… Bewunderst du mich?“ Miceyla musste heimlich lächeln, als sie ihm diese Frage stellte. Er sah sie verwundert an und legte den Kopf etwas schräg.

„Ist das schon wieder eine deiner Anspielungen, mit versteckter Bedeutung? Ich schätze dich sehr und deinen gesamten Charakter. Du bist eine treue Seele, der ich Vertrauen schenken kann. Aber bewundern? Das käme ja praktisch anhimmeln gleich. Also lautet meine Antwort auf deine Frage ganz klar: Nein, tu ich nicht.“ Seine Worte klangen wieder so abgestumpft wie eh und je. Doch sie schmunzelte nur darüber, dass Sherlock Verstand und Gefühl, einfach nicht miteinander vereinbaren konnte.

„Oh! Da fällt mir auch noch eine Kleinigkeit ein! Vermisst du nicht etwas?“, fragte er frech und hielt plötzlich grinsend ihren Revolver in die Höhe.

„Richtig! Mir blieb ja nichts anderes übrig, als die Pistole vor Schreck fallen zu lassen. Ganz vergessen! Und du hast die Waffe, ohne das ich es mitbekommen habe, aufgelesen. Ich danke dir. Wärst du dann so gütig und gibst mir den Revolver?“, bat Miceyla ungeduldig und versuchte ihm rasch die Schusswaffe abzunehmen. Jedoch ärgerte Sherlock sie, indem er seine Hand so weit hochhielt, sodass sie nicht drankam.

„Mir gefällt das leichte Design. Könntest du mir nicht auch, ein solch schickes Exemplar besorgen?“, meinte er verschmitzt.

„Hey! Jetzt gib mir das olle Teil endlich wieder! Und ziel damit ja nicht auf mich!“, flehte Miceyla nervös, während er so tat, als würde er ein Ziel anvisieren. Miceyla verfiel noch immer in Panik, sobald sie jemanden mit einer Schusswaffe in der Hand sah. Reflexartig stoppte Sherlock seine Albernheiten, senkte den Arm und händigte ihr den Revolver aus.

„Mir müsste schon eine Gehirnwäsche verpasst werden, ehe ich eine Waffe auf dich richte…“, sprach er mit finsterer Miene und bereute seinen kleinen Scherz sofort. Eine Weile verfielen sie in Schweigen. Dann erhob er sich auf einmal unangekündigt und klatschte dynamisch in die Hände.

„Wie siehts aus? Langsam sollten wir beide mal aufbrechen, oder? Und eine weitere schlaflose Nacht… Ich werde mich für die nächsten zwei Tage, in meinem Zimmer verbarrikadieren. Da können John oder Mrs Hudson noch so viel quengeln“, entschied er gähnend und löschte die Kerze. Zusammen verließen sie den Zugwaggon.

„Und noch eine kleine Anregung zum Abschluss. Ein `für immer` existiert nicht. Nichts bleibt auf ewig bestehen. Also genieße die Zeit in deiner neuen `glücklichen` Familie. Auch wir beide, werden nicht immer eine Gelegenheit wie hier in Lambeth finden, um unbekümmert miteinander plaudern zu können. Behalte das im Hinterkopf…Mia… In diesem Sinne… Lass dich nicht unterkriegen“, sprach Sherlock sobald sie im Freien waren und lief gemächlich los. `Mia…`, wiederholte sie verträumt in Gedanken.

„Willst du mich hier jetzt einfach alleine zurücklassen?“, rief sie ihm schwermütig nach und versuchte ihre Trauer zu verbergen, dass es so früh wieder zum Abschied kam. Abrupt blieb er stehen und blickte grinsend über die Schulter hinter sich, wo Miceyla ein wenig zerstreut auf der Stelle trippelte.

„Keineswegs. Deine treuen Freunde, kommen mich doch gleich ablösen. Übrigens treffen wir uns nächste Woche im Theater. Ich werde dir am sechzehnten April um etwa achtzehn Uhr zwanzig, von unten zur Loge hinaufwinken, abgemacht?“

„Äh… Was? Im Theater?“, kam es perplex von ihr. `Natürlich! Clayton Fairburn arbeitet ja im Theater. Aber wie kommt er darauf, dass wir uns gerade an diesem Tag, ohne Verabredung dort treffen? Grundgütiger…! Glaubt er vielleicht, dass Will genau dasselbe vorhat?! Dies bedeutete rein theoretisch ein Aufeinandertreffen aller…`, folgerte sie erschaudernd und blickte Sherlock nach, wie er wortlos einen durch Laternen beleuchteten Weg entlangschlenderte. Am liebsten wäre sie ihm nachgelaufen und hätte ihn begleitet. Doch die unabwendbare Tatsache erinnerte sie daran, dass ihr Platz bereits woanders war… Sie vernahm eine tiefe Kluft zwischen ihr und Sherlock, welche sich stetig vergrößerte. Als würde er in einen Zug steigen und sie blieb verlassen auf der Strecke zurück. Wieso hatte sie nur plötzlich dieses merkwürdige Gefühl? Beide folgten sie demselben Pfad und dennoch entfernten sie sich immer mehr voneinander. Was wäre wohl gewesen, hätte sie niemals vor William ihren Schwur abgelegt? Sich für eine Seite entscheiden zu müssen, käme einer Folter gleich… Da tauchten auf einmal zwei dunkle Gestalten hinter ihr auf, die sich wie schleichende Schatten auf sie zubewegten. Kurz darauf blieb Fred links neben Miceyla stehen und Moran kam an ihrer rechten Seite zum Stehen, welcher ihr lobend den Kopf tätschelte. Zu dritt blickten sie in die Richtung, wo Sherlock allmählich nicht mehr zu sehen war.

„Ich danke euch…für euren Schutz…“, flüsterte sie und schloss wehmütig die Augen. `Ihr beide seid ein wichtiger Bestandteil der Mission gewesen. Denn ihr habt über das Geschehen und mich gewacht…`, dachte sie lächelnd. Nichts wünschte sie sich nun mehr, als schnellstmöglich nach Hause zu kommen. Miceyla sehnte sich danach, in Williams Armen zu versinken und seine beruhigende Stimme zu hören. Einige neue Erkenntnisse, nahm sie aus ihrem Abenteuer in Lambeth mit. Doch gleichzeitig war sie gezwungen, etwas sehr Wertvolles zurückzulassen. Nämlich Alberts eisblaue Halskette… Und zusätzlich musste sie sich auch noch, für eine bedrohliche Konfrontation wappnen. Bereits jetzt ahnte sie, dass danach nichts mehr so sein sollte, wie es einmal war…
 

Der Vorhang öffnete sich. Das leise Gemurmel in der Zuschauermenge verstummte, als ein Mann geräuschlos die Bühne betrat. Seine Haut war so blass, dass sie mit silbernem Mondschein konkurrieren konnte. Hell und ebenmäßig, wie die feinsten weiblichen Gesichtszüge. Seine blauen Augen glichen zwei Meeren, aus unendlich vielen Tränen. Sein Publikum blickte er nicht an, er sah geradewegs durch die Menschenmenge hindurch. Er wurde vom Licht angestrahlt, wobei sein prachtvolles Kostüm, das seine große und schlanke Statur betonte, gülden funkelte. Langsam hob er etwas den Kopf, als er betonend und voller Hingabe zu sprechen begann.

„Sagt mir, wer hat mir nur mein Lächeln geraubt? Wo habe ich es verloren? Ich ertrage diese Pein nicht, dich vergessen zu müssen. In einem sich ewig drehenden Rad bewege ich mich. Müde und antriebslos setze ich meine Reise fort. Doch mein Ziel wurde mir genommen. Ich höre sie reden, von etwas so Unwirklichem wie dem Schicksal. Das waren alles Schwindler, ich sage es euch. Welchen Preis muss ich zahlen, um dich wiederzufinden? Ich gebe dir sogar mein Leben. Aber wenn ich mich auch noch, von meiner kompletten Existenz verabschieden muss, was bringt es mir dann, wieder mit dir vereint zu sein? Wie ich sehe, verschwören die kalten Gesetze der Natur sich gegen mich. Dann soll es so sein. Wenn ich aus dem Gefängnis, der bitteren Realität nicht ausbrechen kann, wird diese Welt eben…zu meinem Feind!“
 

Liebes Tagebuch, 9.4.1880

mir waren gerade mal zwei Stunden Schlaf vergönnt, als Moran mich am frühen Morgen geweckt hatte und unsere Heimreise kundtat. Ich fühle mich noch immer so ausgelaugt, als hätte ich eine mehrtägige Schlacht hinter mir... Das ist ein Zeichen dafür, dass ich meine Kondition noch weiter ausdehnen sollte und gezielt daran arbeite, nicht gleich schlapp zu machen. Sonst kann ich mit den anderen nicht Schritt halten. Oder setze ich einfach meine Erwartungen an mich selbst zu hoch? Da bin ich mir etwas unsicher... Sobald wir wieder beim Anwesen ankamen, dauert es nicht lange und wir saßen alle für unsere Berichterstattung beisammen. Als das Dilemma im Glockenturm zur Sprache kam, fiel Albert aus allen Wolken und bombardierte Moran mit etlichen Vorwürfen. Ich verteidigte ihn rasch, dass er nicht zum Sündenbock gemacht werden sollte. Doch Alberts Entrüstung ließ sich nur schwer besänftigen. Das mir meine Kette gestohlen wurde, werde ich ihm vorerst verschweigen... Die ganze Geschichte mit Clayton Fairburn, schien Will nicht sonderlich zu bewegen. Doch er wirkte ein wenig resigniert. Ich merkte es sofort, vor mir kann er nichts verbergen. Und das ich mit Sherlock zusammengearbeitet habe, stellte ihn fast schon richtig zufrieden. Es ist auch verwunderlich, dass weder Sherlock noch William, mich viel über die jeweils andere Person ausfragen. Was mich aber froh stimmt, dass ich tatsächlich nicht als Spionin missbraucht werde. Vielleicht warten beide auch darauf, dass ich von mir aus die Initiative ergreife. Doch solange kein Leben auf dem Spiel steht, wird es nicht dazu kommen... An meiner Idee mit dem Schreiben an Scotland Yard, halte ich fest. Will entschied auch, dass wir und die Apostel von Lambeth, uns zukünftig gegenseitig unterstützen. Und da Sherlock es bereits angekündigt hatte, wunderte es mich nicht als Will davon berichtete, dass wir in der nächsten Woche eine Vorstellung im Theater besuchen werden. Es kommt mir so vor, als hätte Clayton uns alle zusammengerufen... Wenigstens bin ich beim erneuten Aufeinandertreffen, mit diesem undurchschaubaren Mann nicht alleine... Ich muss mich solange noch irgendwie ablenken. Luna und Lucy sind zwei unglaublich liebe Kätzchen. Diesen Abend bin ich glatt vorm Kamin eingeschlafen, während die beiden sich schnurrend an mich gekuschelt hatten. Nun haben auch sie ein neues, friedliches Zuhause gefunden.
 

Im Schutz einer Gemeinschaft
 

Zuversicht kommt und geht,

für einen neuen Vorsatz ist es nie zu spät.

Es tut nicht weh mit Hilfe etwas zu erreichen,

auch musst du nicht ständig alles nur begleichen.
 

Zusammen lässt sich viel Größeres vollbringen,

zur Isolation kann dich keiner zwingen.

Vielleicht kommt es ab und an zu einem Streit,

doch am Ende teilt ihr die Sorgen und das Leid.
 

Noch leichter wird es mit Vertrauen,

Akzeptanz wird dir keiner klauen.

In der Ferne warten neue Möglichkeiten,

fürchte dich nicht, du wirst geschützt von allen Seiten.
 

Nichts ist so unerschütterlich wie eine starke Gemeinschaft,

Mut und Zuversicht geben jedem Kraft.

Bedingung für ein glückliches Leben ist der Zusammenhalt,

du wirst sehen, in deinem Herzen ist es bald nicht mehr kalt.

Bühne der Einsamkeit

„Nun lernst auch du sie kennen, die eigens für dich errichtete Bühne der Einsamkeit. Du befindest dich im Zentrum und die gesamte Aufmerksamkeit deiner Zuschauer, richtet sich nur auf dich. Dennoch bleibst du für dein Publikum unantastbar. Du wirst zu einem Phänomen der Fantasie, das die Menschen kurzweilig unterhalten soll. Doch zurück bleibt lediglich der bittere Nachgeschmack von Einsamkeit, welcher sich auf ewig in dein Herz einbrennt, während du die rastlose Hülle deiner leblosen Seele, hinter einer ach so glücklichen Maske versteckst."
 

Miceyla lief munter durch die kleine Ortschaft von Durham. Mittlerweile kannte sie einige der Leute dort persönlich und wurde häufig mit einem strahlenden Lächeln begrüßt. Und das, obwohl sie sich nur zwei Tage in der Woche in Durham aufhielt. Zwar ist es ihr Wunsch gewesen, zusammen mit William fern von der lauten Stadt ein wenig entspannen zu können, doch saß sie die meiste Zeit alleine bei gespenstischer Stille im Anwesen, während er in der Universität arbeitete. Und auch wenn er zurückkam, fand er stets genug Vorwände, um beschäftigt zu sein. Er schien wahrhaftig seine Begabungen, bis zur bitteren Erschöpfung auszunutzen. Dies bereitete ihr große Sorgen. Sie vermisste in jeder stillen Minute Moran, der immer für lebhafte Stimmung sorgte, Louis und Fred, wie sie ihn ohne Gnade zurechtwiesen und nicht zuletzt Alberts charmante Sprüche. So sehr hatte Miceyla sich bereits an das gemeinschaftliche Leben in London gewöhnt. Die ganze familiäre Heiterkeit lenkte sie ab. Aber sobald sie mit William alleine war, holte die finstere Realität sie wieder ein und ihr schwirrten jegliche bitterernsten Umstände durch den Kopf, welche sie tagtäglich im Geheimen verfolgten. Am liebsten hätte sie sich mit ihm in einen Raum eingeschlossen und so lange darauf gewartet, bis die Menschen draußen von alleine zur Vernunft kämen und die Rivalität zwischen den unterschiedlichen Ständen beendeten. Dann wäre es endlich möglich, gemeinsam ein langes glückliches Leben zu leben, in dem alle Träume in Erfüllung gehen konnten. Solch närrische Vorstellungen bekam sie schon. Aber der Frieden schien zum Greifen nah. Die Meinungsverschiedenheit, würde die Menschheit wohl irgendwann vollends ausmerzen. Vielleicht war Egoismus ja gar kein so schlechtes Vergehen, wenn Nächstenliebe keinen Anklang fand. Denn wieso sich für eine Gesellschaft aufopfern, in der jeder einen letztendlich doch nur mit Füßen trat. Solange Miceyla jedoch, die tiefe Verbundenheit zu ihren neuen Freunden aufrechterhalten konnte, würde sie all ihre Hoffnungen in Williams

grandiose Pläne stecken, bis zum Schluss. Manchmal bekam sie aber auch den Eindruck, dass er sie ebenfalls abschirmen wollte, vor sich selbst und dem unentrinnbaren Hauch des Todes, der ihn umgab. Damit er die Beharrlichkeit nicht verlor, an seinem selbstlosen Lebensziel festzuhalten und seinen Gefühlen für sie nicht zu sehr verfiel… Sie konnte es aus seinen rubinroten Augen genau ablesen, er wollte nicht, dass die skrupellose Art seiner Vorgehensweisen auf sie abfärbte. Obwohl sie sich selbst dazu entschlossen hatte, jenen sündhaften Weg zusammen mit ihm zu gehen. Und er sie im Gegensatz zu Albert, der sie vorzugsweise von jeglicher Gefahr fernhielt, Einsetzen zuteilte, bei denen ein lebensbedrohliches Risiko nie ganz auszuschließen war. Nur um ihren Willen zu stählern. Was beabsichtigte William bloß damit? Wie Sherlock es erwähnte, war das Schweigen die Waffe der Weisen, um Konflikte zu verhindern. Dennoch sah sie gerade darin die wahre Lüge. Miceyla glaubte allerdings nicht, dass dies zu einer Hürde für ihre Liebe werden könnte. Ganz im Gegenteil, es war eine Herausforderung die sie annahm, um William dazu zu bringen, ihr sein Herz zu öffnen. Das Vertrauen, welches sie sich gegenseitig entgegenbrachten, war schließlich unerschütterlich und beflügelte sie. Ein Geheimnis blieb nicht lange unausgesprochen, an dieser Tatsache gab es nichts zu rütteln. Und Sherlock musste oft hintergangen worden sein, wenn er ihre Liebe so sehr anzweifelte. Miceyla blieb vor dem Außengelände der Universität stehen. Sie grüßte einige der an ihr vorbeilaufenden Studenten und wartete bis William aus dem breiten Haupteingang trat. Sofort entdeckte er sie und lief lächelnd auf sie zu.

„Hallo meine Liebe. Kommst du mich heute abholen? Das ist aber eine Überraschung“, sprach er heiter.

„Hallo Will, ich hoffe du hattest einen angenehmen Tag. Ich gestehe, dass mir etwas langweilig daheim wurde, nachdem ich meine alltäglichen Aufgaben erledigt hatte. Sogar das Wohnzimmer und die Küche habe ich hübscher eingerichtet. Mir fehlt hier im Anwesen immer noch das gewisse idyllische Flair, bei dem man sich zu Hause fühlt. Hoffentlich findest du meinen Geschmack nicht zu übertrieben, ha, ha“, erzählte sie ihm bester Laune.

„Ha, ha. Du hast immer deine ganz eigenen Vorstellungen, wie du deine Umgebung gestaltest. Dies reflektiert die Kreativität deiner Seele. So häufig sind wir ja nicht hier. Komm, lass uns heimkehren.“ Seite an Seite liefen sie den Kiesweg entlang, der an dem großen Universitätsgebäude vorbeiführte. Noch einmal erhaschte sie einen Blick, auf die in kleinen Grüppchen zusammenstehenden Studenten, welche voller Lebensfreude miteinander lachten. `All diese jungen Männer, haben eine strahlende Zukunft vor sich. Mehr oder weniger… Manche von ihnen, werden einen bedeutenden Posten in unserer Gesellschaft einnehmen. Einer wird eine revolutionäre Erfindung entwickeln, die ihm möglicherweise jemand anderes klaut. Und der wahre Name des Erfinders, erhält niemals seine ihm zustehende Anerkennung. Einer wiederum bereist die Welt und erkennt plötzlich, worin seine wahre Aufgabe im Leben besteht. Ein anderer verliebt sich unsterblich und ist am glücklichsten, wenn er von seiner kleinen Familie umgeben ist. Und dann gibt es da noch die beiden Kindheitsfreunde, welche sich gegenseitig geschworen haben, Soldaten zu werden. Doch der eine muss unfreiwillig in den Krieg ziehen…`, stellte sich Miceyla in Gedanken vor und wandte rasch wieder den Blick ab. Denn umso länger sie die Jungspunde betrachtete, umso mehr meinte sie, dass Schicksal eines jeden von ihnen voraussehen zu können. Seufzend sah sie zu William auf und errötete, als sie sein Schmunzeln sah. Da hatte er sie doch glatt wieder erwischt.

„Wünschst du dir ebenfalls, eine Universität zu besuchen? Dein Fleiß wäre sicher ein exzellentes Vorbild, für gewisse nachlässige Herren…“, meinte er mit strenger Miene, wobei er bestimmt an jene faulen Studenten denken musste, die sich ständig seinen Tadel einfingen.

„Oh… Daran habe ich eigentlich nie gedacht. Zumindest war es für mich sinnlos, sich Hoffnungen zu machen, etwas schier Unerreichbares anstreben zu wollen. Meine Pflegeeltern bezahlten, wie es bei den meisten Kindern meines Standes üblich war, einen Privatlehrer, der mich in einer großen Bandbreite an Fächern unterrichtete. Allein dafür bin ich schon unendlich dankbar, dass ich dieses Privileg einige Jahre genießen durfte. Sie mussten wegen mir nicht gerade sehr bescheidene, finanzielle Defizite in Kauf nehmen… Und ich möchte noch den Tag erleben, an dem es zur Normalität wird, als Frau eine Universität besuchen zu dürfen“, sprach Miceyla ruhig und schwelgte dabei in Erinnerungen. William schwieg einen Moment und ein stilles Lächeln umspielte seine Lippen.

„Hm… Vielleicht sollte ich dich einfach mal mitnehmen. Deine Anwesenheit käme sicherlich einer Attraktion gleich, ha, ha, ha“, schlug er lachend vor. Jedoch konnte sie ganz deutlich heraushören, dass er dies mehr als Scherz meinte.

„A-aber das geht doch nicht! Also wirklich…ha, ha“, erwiderte sie verlegen.

„Bist du nervös, wegen Samstag? Ich weiß, es raubt dir den Schlaf…“, begann er nun wieder ein wesentlich ernsteres Thema. Miceyla dachte noch einmal an die ausweglose Situation im Glockenturm zurück. An ihr vor Angst rasendes Herz, die Kälte des Sturmes und daran, an den Rand des Todes getrieben worden zu sein. Sie konnte noch nicht viel über den Mann namens Clayton Fairburn sagen. Er mordete anscheinend im Auftrag der unterdrückten Bürger. Ein wenig wie es William und seine Verbündeten taten. Doch war er nun ein guter oder ein böser Mensch? Allerdings musste sie sich eingestehen, es von sich selbst nicht mehr wirklich zu wissen. Denn konnte man sich, als jemand der anderen das Leben nimmt oder Beihilfe zum Mord leistet, auch wenn ein noch so edler Grund dahintersteckt, einen rechtschaffenden Menschen nennen? Sherlock würde ihr jetzt eine eindeutige Antwort darauf geben. Wer sich schuldig macht, muss dafür geradestehen und die Konsequenzen daraus ziehen. Jedenfalls war sie auf die nächste Begegnung mit Clayton vorbereitet, um ihn genaustens analysieren zu können. Was garantiert nicht nur das ihre Vorhaben war…

„Wir werden zu viert hingehen, Louis, Albert, du und ich. Moran und Fred lasse ich dennoch den Außenbereich des Theaters im Blick behalten. Allerdings denke ich nicht, dass Clayton Fairburn in seinem eigens errichteten Schauspielhaus, für Furore sorgen wird. Nichtsdestotrotz ist Wachsamkeit angesagt. Eine beschauliche Kennenlernrunde hat er wohl kaum geplant. Seit ende letzten Jahres, treibt er hinter unserem Rücken seinen obszönen Schabernack. Komplikationen gab es dadurch zwar nie, aber er weiß genaustens Bescheid, was sich hinter dem Namen Moriarty verbirgt. Soll er sich ruhig still ins Fäustchen lachen und den Irrsinn besitzen zu glauben, mich auf die Folter spannen zu können. Nicht mit mir. Welches Mittel ich anwenden muss, um ihn zum Schweigen zu bringen, lasse ich noch offen. Ich habe sogar in Betracht gezogen, eine zweckdienliche Verhandlung mit ihm zu führen. Aber mit dem was er dir antat, hat er sein durchtriebenes Spiel auf die Spitze getrieben. Wäre ich dabei gewesen, so hätte er sein letztes Stoßgebet sprechen können“, sprach William sachlich und ergriff für sie mit einem erzwungenem Lächeln Partei, das seinen Zorn verschleierte und ein wenig die Spur eines schlechten Gewissens, dass nicht er derjenige gewesen ist, welcher sie aus ihrer Notlage gerettet hatte. Liebevoll nahm sie seine Hand.

„Du musst dich nicht grämen, dass du mir keinen Beistand leisten konntest. Ich bewundere immer wieder dein Vertrauen uns gegenüber, dass wir selbstständig einen Weg aus einer ausweglosen Situation finden. An das Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten, muss ich weiterhin noch arbeiten… Allein die Vorstellung, hättet ihr zwei da oben im Turm randaliert, ha, ha. Und bevor ein Urteil gefällt wird, sollten erst die Gründe von Claytons Taten hinterfragt werden.“

„Da fällt mir ein, du hast noch immer nicht verraten, weswegen du ihm eigentlich nachgelaufen bist. Ich vermute, dass er dir etwas genommen hat. Ist es…“, hakte er umsichtig nach.

„Ähm… Nun, vor dir kann ich es ja eh nicht verbergen. Er stahl mir Alberts Hochzeitsgeschenk…“, gestand sie mit trübem Blick.

„Oh, die goldene Kette mit dem Aquamarin. Ach, du erhältst sie am Samstag zurück, wirst sehen“, nahm William ihr die Sorgen und strahlte über das ganze Gesicht. Er schien sich dessen hundertprozentig sicher zu sein.

„Wenn du das sagst…“ Im Anwesen angekommen, legte er seinen Zylinder ab und wollte die Tür zur Küche öffnen, doch Miceyla stellte sich angespannt davor.

„Äh…ha, ha… Da solltest du besser noch nicht reingehen! Es ist noch ein klein wenig unordentlich, ha, ha!“, haspelte sie nervös.

„Ach, ich dachte du hättest alles fein hergerichtet? Fliegen mir deine Dekorationen entgegen, wenn ich die Tür öffne?“, fragte er und grinste herausfordernd.

„Naja…ha, ha… Mir ist heute Morgen ein klitzekleines…Missgeschick passiert. Ich hätte besser direkt alles wieder in Ordnung bringen sollen. Was bin ich doch für ein hoffnungsloser Tollpatsch…“ William legte sich die Hand vor den Mund und fing einfach nur an, lauthals loszulachen.

„D-du müsstest jetzt eher sehr verärgert sein und mit mir schimpfen. `Du kannst ja gar kein gescheites Weib sein, wenn du bei der Küchenarbeit versagst! Wieso habe ich bloß nicht besser eine andere Frau geheiratet?!` Ich warte darauf, so etwas zu hören“, sprach sie voller Ironie und musste nun auch lachen. Ihre Worte verstärkten seinen Lachanfall nur noch mehr.

„Ha, ha, ha! Meine liebe Miceyla, du bist mir ein wahres Goldstück. Die schwierigsten Tätigkeiten erledigst du mit Bravour und lässt andere alt aussehen. Aber bei vielerlei simplen Aufgaben, kommt plötzlich deine unschuldige Ungeschicklichkeit zu Tage. Das macht dich unvergleichbar liebenswürdig… Dann fürchte ich, dass du uns heute den Tee servieren musst“, trug William ihr gütig auf und verzauberte sie mit seinem sanftesten Lächeln. Kurz darauf beugte er sich etwas zu ihr hinab und küsste sie zärtlich auf die Wange.

„Ja…mache ich selbstverständlich…“, hauchte sie leise und wich verlegen seinem innigen Blick aus.

„Dann gehe ich schon mal ins Wohnzimmer… Dort droht mir keine akute Gefahr?“, rief er ihr neckend zu während er loslief.

„Nein, ha, ha. Dort bist du in Sicherheit“, versicherte sie ihm und betrat lachend die Küche. Der Abend brach herein. Nach dem Abendessen legte William sich alle Unterlagen zurecht, die er für den nächsten Tag benötigte. Miceyla lief den Flur entlang und hatte vor, einen flüchtigen Blick in sein Arbeitszimmer zu werfen. Genau im selben Moment trat er heraus und sie wäre um ein Haar gegen ihn gestoßen.

„Huch…Verzeih mir! L-lass dich nicht bei der Arbeit stören! Das hat schließlich oberste Priorität. Ich bin auch gleich wieder weg…“, entschuldigte sie sich rasch und wollte umkehren, doch er packte sanft ihre Hand.

„Aber, aber meine Liebe. Alles ist längst vorbereitet. Ich habe sogar mehr geschafft, als ich eigentlich geplant hatte. Der Abend gehört also ganz uns beiden. Heute vertreibe ich deine Sorgen, die du heimlich mit dir herumschleppst. Es ist immer viel zu tun. Allmählich sollte ich mich schämen und wie ein anständiger Ehemann benehmen, nicht wahr?“, scherzte William und strich ihr langsam über das Haar und zog sie an sich. Miceylas Herzschlag überschlug sich und wie benommen suchte sie seinen Blickkontakt.

„Herrje… Mein Gefühl sagt mir, dass dein Herz bald zu mir herausspringt. Versetzt es dich denn noch immer in eine solche Ekstase, wenn ich dich berühre? Und dann blickst du mich mit diesen hilflosen Augen an, die sich mir vollständig unterwerfen wollen…“, flüsterte er lächelnd und klopfte ihr behutsam, im Takt ihres Herzschlags auf den Rücken.

„Es kommt nun mal…so selten vor… Ich habe Angst, dass du deine Kräfte überstrapazierst. Nachts ist es furchtbar kalt ohne dich. Mag sein das es selbstsüchtig von mir ist… Aber ich wünsche mir nichts mehr, als morgens zusammen mit dir aufzuwachen. So oft bist du schon vorm Schreibtisch eingeschlafen. Vielleicht...ist dein Interesse an mir, auch einfach doch nicht sonderlich groß und…“ Abrupt brach Miceyla ab, als sie seinen schockierten

Gesichtsausdruck sah. `Das hätte ich jetzt nicht auf diese Weise sagen sollen…`, dachte sie mit Reue. William ließ für einen Moment wie entgeistert von ihr ab, nur um sie danach noch fester in die Arme zu schließen. Er verstand auf Anhieb, was sie mit ihren kummervollen Worten zum Ausdruck bringen wollte und lächelte besänftigend.

„Du glaubst meine gelegentliche Distanz sei Absicht, um mich nicht ablenken zu lassen, da irrst du dich. Ich tue es vor allen Dingen für dich und versuche auf dein Wohlergehen Rücksicht zu nehmen. Denn ich versuche zu vermeiden, dass ich mich dir ständig aufdränge und über dich herfalle. Gefühle…können ganz schnell die eigene Gedankenwelt verzerren. Ich wünsche mir, dass du in deiner Einzigartigkeit erhalten bleibst und das wir weiterhin eine angemessene Sorgfalt walten lassen. Das Maß der Dinge währt länger, als Übermut der rasch wieder verblasst. Wann immer ich in deiner Nähe bin, ergeht es mir nicht viel anders als dir. Es gleicht beinahe schon einem Kampf, das Gleichgewicht zwischen Leidenschaft und Rationalität aufrecht zu erhalten. Aber meine Empfindungen für dich, haben jegliche Vernunft längst weit hinter sich gelassen…“, sprach er ungehemmt und ehrlich. Miceyla bekam bei ihrer innigen Umarmung den Eindruck, als stünde ihnen ein schmerzvoller Abschied bevor.

„Unsere junge Liebe, die stärker und unerschütterlicher ist, als alles andere auf der Welt, eines Tages loslassen zu müssen, kann ich mir einfach nicht vorstellen…ich weigere mich es mir vorzustellen…“, flüsterte sie und war den Tränen nah.

„Ich habe eine Idee! Komm mit, hier drinnen steigt einem ja auch irgendwann die Langeweile und Eintönigkeit zu Kopf“, sprach William plötzlich enthusiastisch und zog sie an der Hand geschwind hinter sich her.

„Wir haben einen solch großen Balkon, der viel zu selten genutzt wird!“ Mit diesen Worten öffnete William die hohe Flügeltür, hinter welcher sich ein großflächiger Balkon befand. Auf jenem breitete er anschließend eine weiche Decke aus. Sobald er damit fertig war, löschte er alle Lichter im Raum, sodass es stockduster wurde.

„Ähm… Sollen wir nicht wenigstens ein paar Kerzen anmachen? Ich sehe nichts mehr, ha, ha“, meinte sie verwundert und rätselte was er wohl vorhaben mochte.

„Wir brauchen kein künstliches Licht. Denn schau mal hinauf. Dir entgeht doch sonst dieser prächtige Anblick“, sprach William fröhlich, während er sie vor sich herschob, bis sie mitten auf dem Balkon standen. Miceylas Augen begannen auf einmal zu funkeln und ihr Kummer löste sich wie von Zauberhand in Luft auf.

„Was für ein traumhaftschöner Sternenhimmel! In der Stadt ist es selten so klar. Es ist ein unbeschreiblich friedliches Gefühl hinaufzublicken. Während wir uns mit jedem Tag weiter verändern, erscheint dennoch jede Nacht aufs Neue dasselbe Himmelszelt. Ein beinahe schon unwirkliches Phänomen…“, beschrieb sie hingerissen und gleichzeitig auch voller Ehrfurcht, die unzähligen kleinen Sterne, welche hoch über ihr in der Stille der Nacht hell leuchteten.

„Unerreichbare Weiten, mächtiger als alles Wissen auf Erden und uneinnehmbare Planeten. Ein unendliches Universum, dass uns alle in sich trägt… Und sieh dir nur an, welch undankbare und habgierige Geschöpfe sich in der Menschheit tummeln. Sie besudeln unseren schönen Planeten und glauben, ihr eigenes Reich in dem sie leben beherrschen zu können. Mag unser Kosmos auch grenzenlos erscheinen, unser Leben hingegen, ist mit vielerlei Einschränkungen verbunden. `Also lasst uns unser Können, unsere Kräfte und all unser Wissen bündeln, um für jedermann ein faires Leben zu ermöglichen. ` Dies ist mein Aufruf an die gesamte Welt und es beginnt in diesem Land. Komm meine Liebe, setzen wir uns“, sprach er würdevoll von seinen Visionen und die besonnene Ruhe welche er ausstrahlte, ging auf ihr über. Nun saßen sie dicht beieinander auf der warmen Decke und betrachteten lächelnd den flimmernden Sternenhimmel.

„Dieser Augenblick ist fast schon wie in einen meiner Träume… Aber hoffentlich bleiben gewisse unheilvolle Dinge in der Traumwelt eingeschlossen und werden niemals real. Auch frage ich mich was geschieht, wenn all die eigenen Träume ihre Erfüllung gefunden haben. Wie geht es danach weiter? Wonach soll man noch streben, wenn es nichts mehr zum Träumen gibt? Bleibt dann nicht eine fade leere Hülle von einem zurück, da man gar nicht so glücklich geworden ist, wie man es hätte werden sollen?“, grübelte Miceyla und dachte daran, ihren allerersten großen Traum, eine bekannte Schriftstellerin in England zu werden, weiter zu verfolgen.

„Ich denke nicht, dass ein kurzes Menschenleben ausreicht, um sich jeden einzelnen Traum erfüllen zu können. Das größte Problem besteht darin, dass die meisten Leute ihre eigenen Fähigkeiten völlig falsch einschätzen und einer Tätigkeit nachgehen, die ihrer eigentlichen Neigung nicht entspricht. Oft hat man gar keine andere Wahl. Es sind die Lebensumstände, die einen jeden von uns fest im Griff haben. Und das Traurige daran ist, dass diese Menschen irgendwann an einen Punkt angelangen, wo sie ihre ganze verlorengegangene, wertvolle Zeit bereuen und in purer Verzweiflung versinken. Dem muss Abhilfe verschafft werden. Wenn jeder Mensch auf einer Stufe stünde und dieselben Chancen zur Verfügung gestellt bekommt, auf denen er sein Leben aufbauen kann, herrschte endlich Gleichberechtigung. Daher nutzen wir unsere Privilegien als Adel der Oberschicht, um dies durchzusetzen. Auch wenn wir dabei gegen das ein oder andere Gesetz verstoßen müssen. Doch was spielt das schon für eine große Rolle. Das Endproduckt wird eine revolutionäre Befreiung, aller zu Unrecht behandelten Menschen, der unteren Schichten der Gesellschaft sein. Aber lassen wie das Thema. Du musstest es ja bereits zur Genüge über dich ergehen lassen, ha, ha. Ich kann kaum fassen, dass unsere Hochzeit erst seit etwas über zwei Wochen zurückliegt…“, versuchte er den friedlichen Moment zu berücksichtigen und ihr Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Ja… Doch von nun an, rennt auch uns unaufhörlich die Zeit davon…“, bestätigte Miceyla wehmütig und blickte weiterhin träumerisch zum klaren Firmament empor.

„Zähle nicht so häufig die Tage und genieße es im Diesseits zu stehen. Was wir für die Zukunft planen, arbeiten wir nach und nach ab. Die Entscheidungen treffen schließlich wir allein, wann die einzelnen Konstrukte jenes Plans ausgereift sind, um sie in die Tat umsetzen zu können. Unsere Reise dorthin, schweißt uns mit jeder Herausforderung enger zusammen. So war es auch bereits in der Vergangenheit, mit mir und meinen Brüdern. Und da du ebenfalls zu uns gestoßen bist, gehörst nun auch du vollwertig dieser tiefen Bindung an. Verschweigen kann ich nicht, dass besonders Albert dich von Anfang an, als ein wahres Mitglied unserer Familie ins Herz geschlossen hat… Stets beobachte ich, dass ihr euch wie richtige Geschwister, gegenseitig liebevoll behandelt. Trotzdem frage ich aus reinem Interesse einfach mal nach… Was siehst du in Albert? Und was fühlst du, wenn du bei ihm bist? Es muss dir nicht unangenehm sein, denn wir haben dich damals ja praktisch überfallen. Doch in dir schlummert eine tapfere junge Frau, die sich sogar wagt Louis die Stirn zu bieten. Ha, ha! Verzeih, dass musste ich nur kurz mal aussprechen. Aber nun zurück zu meiner Frage…“ Gelassen lächelte William sie an und wartete geduldig ihre Antwort ab. Kurz trafen sich ihre Blicke, ehe sie nachdenklich hinabsah. Es war ihr wichtig, ebenso entspannt zu bleiben, da sie nur zu gut wusste, dass er ihre wahren Gefühle, von ihrem Gesicht ablesen konnte. Daran vermochte selbst die dunkle Nacht nichts zu ändern. `Das er dies einmal zur Sprach bringt, war abzusehen… Es stimmt, dass sich mein Verhalten Albert gegenüber, seitdem ich weiß was er für mich empfindet, noch mehr versteift hat als zuvor. Bestimmt muss es ihn verletzen, mich so glücklich mit William zu sehen. Aber vielleicht verflüchtigen sich seine Gefühle auch irgendwann wieder. Denn er ist ein bodenständiger Mensch und arbeitet auf dasselbe Ziel hin wie seine Brüder, welches nur dank seiner unendlichen Güte und der Bewunderung für Williams gerissenen Verstand, ins Leben gerufen werden konnte. Genau, anders wird es nicht sein, anders darf es auch gar nicht sein`, versuchte Miceyla sich selbst davon in Gedanken zu überzeugen.

„Albert ist für mich der große Bruder, den ich nie gehabt hatte. Manchmal stelle ich mir vor, dass wir uns schon von Kindesbeinen an kennen. Mit ihm an meiner Seite, wäre meine Kindheit deutlich unbeschwerter verlaufen. Wann immer meine Mutter voller Zorn auf mich los ist, Albert kam und stellte sich schützend vor mich. Wenn ich zu weit von zu Hause weglief und mich verirrte, er suchte nach mir und Hand in Hand liefen wir wieder heim. Er hat dafür gesorgt, dass mir im Winter nie kalt geworden ist und das ich nie hungern musste. War ich traurig, so nahm er mich tröstend in die Arme und sagte zärtlich zu mir: Gib niemals auf, denn ich werde für immer bei dir bleiben. Diese Erinnerungen existieren ausschließlich in meiner Fantasie, da von all dem nichts passiert ist. Doch nun ist er bei mir, mein führsorglicher Bruder, der mich in jeder Notlage beschützen wird…“, beschrieb sie lächelnd, was sie sich für eine Beziehung mit Albert wünschte. William wirkte kein wenig erstaunt und dennoch schien es ihm einen Stich ins Herz zu versetzen, welch leidvollen Weg sie bereits hinter sich hatte. Sanft legte er einen Arm um sie und brachte sie dazu, ihren Kopf gegen ihn zu lehnen.

„Geschwisterliebe… Das ist etwas Wunderbares und hält meist ein Leben lang. Jetzt darfst du all das erleben. Dank deiner schweren Kindheit, bist du stärker und schöner als der Rest geworden. Sage dir das selbst jeden Tag. Unsere Kindheit ist ebenfalls nicht ganz unschuldig, an unserem Werdegang gewesen… Es gibt noch einige Geheimnisse. Doch wenn du mir weiterhin vertraust, werden wir am Ende zufrieden und glücklich sein. Ich verspreche es dir. Denn schließlich…gehört all meine Liebe nur dir allein…“, versicherte William ihr so standhaft, als würde er ihr jedes erdenkliche Opfer darbringen. `Welche Geheimnisse…? Natürlich vertraue ich dir. Ich gab mein Leben in deine Hände.` Langsam sah sie zu ihm auf und ihr Herz machte wie gebannt einen Sprung. Im blassen Sternenlicht, sah sein Gesicht noch schöner aus. Als sei er geradewegs einem Gemälde entsprungen. Würde man ihn verletzen, so verletzte es sie ebenfalls. Miceyla hob eine Hand und legte sie ihm liebevoll auf seine warme Wange. Kurz darauf verschmolzen ihre Blicke miteinander und er beugte sein Gesicht zu ihrem hinab.

„Das sind sie, die schönsten Augen der Welt. Jedes Mal ziehen sie mich magisch an…“, hauchte William gefesselt. Einen Wimpernschlag später, trafen ihre Lippen aufeinander. Sein Kuss war das Süßeste, dass sie je kosten durfte. Bei dieser sachten, stetig wachsenden Leidenschaft, die jedes Mal in ihnen aufzuflammen begann, konnte sich keiner von beiden noch länger zurückhalten. Es war die unaufhaltsame Flamme der Liebe. Beinahe zerstörerisch brannte sie in ihnen und verriet, dass sie zueinander gehörten. Mit allen Ungetümen, welche sie auseinanderzubringen versuchten, würden sie kurzen Prozess machen. Ein gefährliches Verlangen, bei dem Miceyla spürte, nicht mehr sie selbst zu sein. Nie hätte sie gedacht, dass Gefühle eine solche Macht besäßen. Mit halb geöffneten Augen, ließ William allmählich von ihren feuchten Lippen ab und erhob sich plötzlich. Vom Schwindel gepackt, nach seinem hitzigen Kuss, tat sie es ihm nach.

„Lass uns hineingehen, langsam wird es kühl. Und noch mal zur Erinnerung, du genießt viele Freiheiten bei uns und ich bin sehr großzügig, was deine Wünsche betrifft. Zum einen, dulde ich deine Freundschaft mit Sherlock. Doch beherzige im Gegenzug deine Pflichten und werde niemals nachlässig. Es wäre fatal, wenn die Harmonie in unserer kleinen Familie, auf einmal auf der Kippe stehen sollte. Da wirst du mir zustimmen. Drum bleibe bedachtsam und verlasse unter keinen Umständen den Pfad, an den wir beide gebunden sind. Du gehörst zu mir und zu niemandem sonst“, sprach er mit fester Stimme, während er an der Balkontür stand und seine rubinroten Augen blickten ihr mit einer solchen Standhaftigkeit entgegen, dass sie einen eisigen Schauer verspürte. Doch seine dämonische Miene wich alsbald wieder einem gütigen Lächeln und er lief unbeirrt hinein. Noch ein letztes Mal betrachtete Miceyla den klaren Sternenhimmel und sah einen schimmernden Lichtstrahl, pfeilschnell über den Himmel gleiten. `Eine Sternschnuppe… Was ist wohl mein wahrer Wunsch…?`, überlegte sie verträumt und legte sich dabei eine Hand auf die Brust. Nicht lange dauerte es, da folgte sie William mit einem Lächeln hinein.
 

„Schwindendes Sonnenlicht, oh bitte verlass mich nicht. Schenke mir noch einmal deine Wärme, ehe ich mich von dieser Welt verabschiede. Mein Herz trägst du mit dir als Trophäe herum. Unvollkommen bleibe ich, bis deine Hände mich fest in Armen halten und nie mehr loslassen… Wie war das?“ Irene stand auf einer riesigen Bühne und trug ein stattliches, bodenlanges Kleid in kräftigen Rottönen. Strahlend blickte sie geradeaus auf die Zuschauertribüne, wo nur ein einziger Mann saß, der sich in der vordersten Reihe platziert hatte.

„Bravo, bravo meine bezaubernde Saphira! Hiermit wäre die letzte Probe für den heutigen Tag beendet. Die Premiere unseres neuen Stücks am Samstag wird perfekt!“, sprach Clayton begeistert und klatschte eifrig Beifall. Da öffnete sich eine der Türen und eine junge blondhaarige Frau betrat den großen Theatersaal.

„Ich bin fertig mit meinem Kontrollgang. Die Leitungen sind allesamt mit der Dampfmaschine verbunden. Jeden einzelnen Schalter habe ich auch noch mal überprüft. Zwar weiß ich nicht genau, wie die Vorrichtung genau funktioniert, aber unheimlich finde ich das Ganze allemal… Versprich, das du die Kontrolle darüber behältst, Clay. Deine Erfindungen werden immer gefährlicher. Was hast du überhaupt vor, in den kesselartigen Behälter zu füllen?“, berichtete sie mit einer Spur von Besorgtheit.

„Ach, das dient als Katalysator. Es muss alles flott und zügig vonstattengehen. Zerbrich dir darüber mal nicht den Kopf, mein lieber Sonnenschein. Ich werde nicht zulassen, dass es hier in unserem idyllischen Palast, zu einem hässlichen Blutvergießen kommt. Und hab noch mal tausend Dank. Warum beehrst du uns nicht am Samstag, ebenfalls mit deiner liebreizenden Anwesenheit? Das wird schließlich ein feierlicher Anlass! Das darfst du nicht verpassen! Für dich ist stets noch eine Rolle reserviert. Stell dir vor, der berühmte Meisterdetektiv erscheint und die Familie Moriarty. Ein umwerfendes Singvöglein hat den jungen, teuflischen Lord geheiratet. Ich sah in ihren Augen einen ähnlichen Schmerz, wie ich ihn in deinen sehe. Ein bemitleidenswertes Mädchen… Aber Miceyla würde dir gefallen“, erzählte Clayton euphorisch. In den rehbraunen Augen der jungen Frau, leuchtete für einen flüchtigen Moment ein nostalgischer Glanz.

„Miceyla… Nein, ich bleibe bei den Kindern im Waisenhaus. Als Älteste trage ich die Verantwortung. Irene wird schon hier sein. Sie ist wesentlich reifer und geschickter als ich. Außerdem liebt sie das Rampenlicht und weiß sich bei Gefahr selbst zu verteidigen. Einer Frau wie sie, könnte ich nicht mal in hundert Jahren das Wasser reichen. Doch solange ich bei dir sein kann, fehlt es mir an nichts…“

„Hach… Meine trübselige kleine Sonnenblume, was ruinierst du dir bloß mit deinen Sorgenfalten dein hübsches Gesicht. Lächle mein Kind, lächle! Und ich flehe dich an, iss ordentlich was! Bei deiner zerbrechlichen Erscheinung bekomme ich Angst, dass du mir bald zusammenbrichst. Mache dich nicht unnötig schlecht. Irene musste auch hart arbeiten, um an Bekanntheit und Raffinesse zu gewinnen. Unter anderem ist sie dir fünf Jahre voraus. In dieser Zeit wirst du deine eigenen Träume für dich entdecken. Auf dem Weg dahin, werde ich dich immer unterstützen. Und du wirst sehen, dass du mich eines Tages nicht mehr brauchst… So, die Uhr sagt uns, dass wir langsam Feierabend machen sollten. Es war ein langer Tag und fleißig waren meine tüchtigen Akteure wie eh und je. Fühlt euch von mir gedrückt! Räumen wir noch etwas auf. Und jemand soll bitte nachsehen gehen, ob heute schon wieder so ein faules Stück in der Umkleide eingeschlafen ist, ha, ha! Es werden alle rausgescheucht. Wegen Samstag… Vielleicht überlegst du es dir ja doch noch anders, Amelia“, verkündete Clayton und verschwand mit seinem für ihn typisch unergründlichen Lächeln, hinter der Bühne.
 

„Und wohin soll dieser ganze Stapel? Ich renne nicht ständig zwischen Ost- und Westflügel hin und her. Das ist ein halber Gewaltmarsch!“ Mittlerweile befand Miceyla sich wieder in London und war gerade dabei, gemeinsam mit Louis das Archiv auf Vordermann zu bringen. Sie schimpfte trotzig, während er sie rücksichtslos herumkommandierte.

„Im Beschweren bist du weltklasse. Wenn du nichts zu tun hast, gehst du mir gefälligst zur Hand. Morans schlechte Manieren färben noch auf dich ab, ließe ich dich ständig mit ihm abhauen und… Oh! Sieh mal einer an, dass hier sind doch alle Kontaktdaten der Personen, welche mit jener zwieträchtigen Handelsgesellschaft aus Nordengland zu schaffen haben. Neulich sprach Albert davon. Bringe ihm bitte zügig diese Unterlagen, um den Rest hier kümmere ich mich dann. Beim Aufräumen wird man doch immer fündig“, sprach Louis heiter und drückte ihr einen Ordner mit einigen losen Blättern darin in die Hand.

„Gut, mache ich. Ist Albert denn schon zu Hause?... Ach, bereits so spät. Stundenlang habe ich mich also mit dem Sortieren von Papierkram herumschlagen müssen… Was solls, ich gehe dann mal.“ Rasch verließ Miceyla das Archiv, ehe Louis auf ihre Nörgeleien kontern konnte. Vor der Tür empfing sie die kleine Luna mit einem zarten Miauen. Nun, nach einigen Tagen des Päppelns, sahen die beiden Katzenkinder wieder wesentlich munterer aus und bekamen langsam aber sicher ein gesundes Gewicht und glänzendes Fell.

„Na du, kommst du mit mir Albert einen kleinen Besuch abstatten?“, fragte Miceyla lächelnd und bückte sich, um ihr weiches Fell zu streicheln. Daraufhin lief sie geschwind los und sah mit einem Blick über die Schulter, dass Luna ihr hinterhersprang. Bei seinem Arbeitszimmer angelangt stellte sich rasch heraus, dass er nicht dort war. Luna flitzte plötzlich an ihr vorbei und verschwand in Alberts Schlafzimmer.

„He, wo willst du denn so schnell hin?!“ Miceyla eilte dem Kätzchen hinterher und hielt inne, als sie Albert durch die leicht geöffnete Zimmertür entdeckte. Dieser kleidete sich gerade aus und legte seine Militäruniform ab. Sie wusste, dass es sich für sie als anständige Ehefrau nicht gehörte, einem Mann außer William, ohne Scham beim Umkleiden zuzusehen. Doch er tat es auf eine solch graziöse Weise, dass ihre Augen nirgendwo anders mehr hinschauen konnten. Er besaß ebenfalls einen makellos schönen Körper, der verriet wie jung und stark er war. Als Albert sich dann mit der Hand durch sein braunes Haar fuhr, ertappte sie sich dabei, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. `Was mache ich hier eigentlich gerade?! Aber…ist es denn schimpflich, den eigenen Bruder zu beobachten…?`, ermahnte sie sich selbst. Da saß auf einmal wieder Luna vor ihr und miaute laut, woraufhin Albert sofort zur Tür blickte. `Herrje, jetzt hast du mich doch glatt verraten, ha, ha.` Auch wenn es dafür längst zu spät war, klopfte sie höflich, mit sichtlicher Erleichterung, dass er bereits wieder fertig angekleidet war.

„Miceyla meine Liebe, tritt ein! Ich hätte meine Uniform besser noch ein Weilchen länger anbehalten sollen, huh?“, grüßte er sie mit keckem Grinsen. Schüchtern und ohne ihn direkt anzusehen, hielt sie ihm den Ordner hin.

„Bitte sehr. Louis hat mich damit beauftragt, dir das hier zu überreichen.“

„Oh, seid ihr beiden fleißig am Ordnung schaffen? Und dabei ist genau das aufgetaucht, wonach ich seit längerem suchte. Hervorragend! Dir gilt mein aufrichtigster Dank. Dies trifft sich gut, denn im Gegenzug, habe ich auch ein kleines Präsent für dich…“, sprach er voll Vorfreude und holte eine kleine Schachtel, mit einer rosafarbenen Schleife darum, aus seiner Tasche hervor.

„Als ich das im Schaufenster sah, dachte ich dabei sofort an dich und wusste, dir damit ein Lächeln auf die Lippen zaubern zu können“, fügte er gütig hinzu, während sie neugierig den Deckel abnahm.

„Wie wundervoll, ein solch außergewöhnliches Briefpapier, habe ich noch nie in Händen gehalten, geschweige denn darauf schreiben dürfen. Dieses goldbraun mit den Rosen wirkt zeitlos und ist beinahe schon zu schade, für einen stumpfen Schriftverkehr. Hierauf sollten nur Worte stehen, die von Herzen kommen… Und was für ein beachtlicher Vorrat an Blätter. Da wird einem so schnell nicht bange, dass sie schnell ausgehen. Du hast mal wieder genau meinen Geschmack getroffen. Ich danke dir, Albert“, nahm Miceyla freudestrahlend sein Geschenk an.

„Nichts erfüllt mein Herz mit mehr Freude, als dich glücklich zu sehen. Aber das weißt du ja, meine liebe Eisblume. Lass dich niemals beim Schreiben aufhalten. Ein besonderes Briefpapier, für besondere Menschen. Manchmal ist es schwer, gewisse Gefühle in Worte zu fassen. Daher ist es oftmals einfacher sie aufzuschreiben. Briefe sind die Geheimnisse der Seele. Keiner kann sie uns rauben und vergessen lassen…“, sprach er mit einer betörenden und selbstsicheren Stimme, die nicht davor zurückschreckte, jede noch so hartnäckige Regel zu brechen. Und abermals senkte er den Kopf und hauchte seine gefühlvollen Worte dicht neben ihrem Ohr. Miceyla schloss die Augen, um sich nicht von seinem schmeichelhaften Charisma vereinnahmen zu lassen. Einzig er schaffte es, dass in ihr ein unbändiges Chaos zu toben begann. Als wollte er die Grenzen ihrer Selbstdisziplin erproben. Weder fühlte es sich für sie angenehm an, noch bedauerte sie diese unzugängliche Sehnsucht, welche in der Luft lag, sobald sich ihre Blicke trafen. Es hatte etwas Aufregendes, bei dem sie sich lebendiger denn je fühlte. Doch ihr klarer Verstand warnte sie im Verborgenen. Albert könnte seine ehrlichen Gefühle über Bord werfen und daraus ein Spiel machen, nur um sein intensives
 

Verlangen nach ihr zu stillen, das er gezwungenermaßen unterdrückte. Es war unsagbar schmerzvoll, auf etwas verzichten zu müssen, dass man sich sehnlichst wünscht. Und was wenn man keine geeignete Lösung fand und der innerliche Kampf nicht enden wollte? Was wäre das daraus entstehende Resultat? Welche selbstsüchtigen Gedanken und Taten würden erweckt werden, um seinem Frust Luft zu machen?

„Du hast vollkommen recht… Und ich weiß auch schon, welchem besonderen Menschen ich meinen ersten Brief schreiben werde“, meinte Miceyla lächelnd. Schweigend erwiderte er ihr Lächeln und sah sie dabei voller Hingabe an. Wann immer sie in das tiefe Grün seiner Augen blickte, stellte sie sich vor, wie sie beide ganz allein mitten in einem dichten, geheimnisvollen Wald standen. Umringt von hohen, dunkelgrünen Tannen, welche ihnen Schutz boten. Keinen ihrer Schritte vermochte man auf dem weichen Moss zu hören. Zartes Licht fiel von oben durch die Baumkronen auf sie herab. Einzig und allein die friedlichen Geräusche der Natur, leisteten ihnen Gesellschaft. Frei und unbefangen konnten sie miteinander tanzen, auf ihrer ganz privaten Tanzfläche, inmitten eines Märchenwaldes, in dem die Zeit stehen blieb. Ein geheimer Ort, an dem sie beide sich nur nachts im Traume treffen durften. Etwas geistesabwesend verließ Miceyla Alberts Schlafzimmer und lief mit ihrem neuen Briefpapier zum Schreibtisch und ließ sich dort nieder. Da William erst spät nach Hause kommen würde, nutzte sie die Zeit, um ihren ersten Brief zu schreiben und zückte einen Stift. Einen Moment betrachtete sie noch, die langsam am Himmel vorüberziehenden Wolken durch das Fenster, ehe sie begann und ihre Gedanken geordnet hatte.

Lieber Albert,

ich denke ich beginne damit, dir ein wenig die Wut und den Kummer zu nehmen, wegen der unvorhergesehenen Vorfälle in Lambeth. Ja, meine Angst ist gewaltig gewesen, doch nur dank dem Vertrauen in meine neuen Kameraden, zu denen Moran und Fred gehören, konnte ich überhaupt erst den Mut aufbringen, mich Clayton zu stellen. Ich weiß das du und William immer in Gedanken bei mir seid. Und auch ich denke stets an euch. Natürlich darf Sherlock ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Zwischen uns beiden ist das Band einer treuen Freundschaft entstanden. Will nutzt sein Talent knifflige Fälle zu lösen, nach Belieben für seine Zwecke aus. Und mir ist klar, dass du jedes Vorhaben von Will, ohne mit der Wimper zu zucken ausführen würdest. Ihr Brüder lebt ja praktisch nur für jenen Plan… Auch ich muss mich dem unweigerlich beugen. Aber ich bitte dich Albert, aus allertiefsten Herzen, sei vorbereite. Denn sollte die Feindschaft erstmal anfangen, wird sie nicht mehr aufzuhalten sein… Ich gestehe, dass ich mich noch etwas unbehaglich fühle, wenn ich an die Zukunft denke. Von Glück kann ich sagen, dass ich mich euch jeder Zeit anvertrauen kann. Ach verzeih, jetzt schreibe ich hier bloß von meinen Sorgen. Doch ich bin mir sicher, dass du in jeder noch so verzwickten Situation, nach einer Möglichkeit suchen wirst, mich aufzuheitern. Und darf ich dir etwas verraten? Ich fühle mich wie neugeboren, wann immer ich Bruder zu dir sage. In dieser Familie lerne ich eine Geborgenheit kennen, die schöner nicht sein könnte. Trotz aller holprigen Umstände. Doch unser starker Zusammenhalt, kennt keine unüberwindbaren Hürden, nicht wahr? Bitte überarbeite dich nicht ständig und nimm dir ein wenig mehr Zeit für dich selbst. Spiele häufiger auf dem Klavier, du liebst es doch so sehr. Und ich genieße es ebenfalls, dir beim spielen zuzuhören. Es öffnet uns die Türen zu fernen Welten. Wundersame Orte, die wir uns erträumen. Deine lieblichen Klänge werden mich zu dir tragen, das verspreche ich dir…

Deine Miceyla

Sie überflog noch einmal den Text und war sich unschlüssig, ob sie Albert wirklich diesen Brief zum Lesen geben konnte. Noch ehe Miceyla es sich anders überlegte, faltete sie das schöne Papier ordentlich und tat es in einen Umschlag. Leise auf Zehenspitzen schlich sie den Flur entlang. Von unten hörte sie heitere Stimmen zu ihr hinaufschallen. William war nach Hause zurückgekehrt und unterhielt sich mit Albert. Miceyla lugte in dessen stilles Arbeitszimmer hinein und huschte kurz darauf geschwind zu seinem Schreibtisch. Dort legte sie den Brief ab und verließ mit einem zufriedenen Lächeln wieder den Raum.

Nach dem Abendessen und einer ausgiebigen Besprechungsrunde, lief Albert hinauf in sein Arbeitszimmer und sortierte seufzend etliche Dokumente, welche er noch abarbeiten musste. Da fiel ihm alsbald Miceylas Brief ins Auge. Die ausstehende Arbeit schob er erstmal beiseite und setzte sich in aller Ruhe. Er begann zu lesen und lächelte, bei der wohligen Wärme, die er bei ihren Worten spürte. Genau dies wünschte er zu lesen, Worte die ausschließlich ihm gewidmet waren. Sanft strich er mit der Hand über ihren Brief und legte ihn zur Seite, sobald er fertiggelesen hatte. Anschließend holte er sein eigenes Papier hervor. Kurz ging Albert in sich, dann begann er mit dem Schreiben.
 

Da kam er nun, jener unheilverheißende Samstag der sechzehnte April. Im Moriarty-Anwesen herrschte Aufbruchstimmung. Sie wollten frühzeitig beim Theater eintreffen, um einem stürmischen Menschenauflauf aus dem Weg zu gehen. Miceyla hatte mal wieder damit zu kämpfen, ihr Kleid für den Abend anzuziehen. Der Stoff war dunkellila und zwar gefiel ihr das aufwendige Schnittmuster, doch war das Kleid für ihren Geschmack viel zu schwer und extravagant. Aber was tat man nicht alles dafür, um sich der gehobenen Gesellschaft anzupassen. Während sie verbissen versuchte sich in das Kleid zu zwängen, klopfte es plötzlich an ihrem Ankleidezimmer.

„Ja, bitte. Oh, Miss Moneypenny, Guten Abend!“, grüßte Miceyla die junge Frau, welche lächelnd in den Raum trat.

„Guten Abend, Mrs Moriarty. Wie ich sehe, komme ich genau zur rechten Zeit, he, he. Man trug mir auf, Ihnen beim Ankleiden zu helfen. Um Ihre Frisur kümmere ich mich gleich auch noch“, teilte ihr Moneypenny höflich mit.

„Welch eine Erleichterung, ich danke dir vielmals!“, atmete Miceyla dankbar auf.

„Es wird bestimmt eine unterhaltsame Vorstellung. Der Regenbogenschwingen -Palast ist dafür bekannt, dass dort jedes einzelne Stück, auf seine eigene Art und Weise einzigartig ist. Doch geben Sie Acht. Das gesamte Theater ist genauso sonderbar, wie sein Name. Dabei handelt es sich um kein gewöhnliches Schauspielhaus, wie man es aus den großen Städten gewohnt ist. Das Theater `lebt` regelrecht. Es ist mit der fortschrittlichsten Elektrizität ausgestattet. Ständig ist dort etwas am leuchten oder in Bewegung. Jeder Besuch in diesem Haus, wird zu einem einmaligen Erlebnis. Daher ist es auch unheimlich beliebt. Leute aus ganz England reisen an, um sich dort eine Vorstellung anzusehen. Ebenso zieht es viele Touristen an. Zwar weiß ich nicht, ob Lord Fairburn persönlich dahintersteckt, doch die klugen Köpfe in unserer Gesellschaft, sprechen von einem `Wunderwerk der Wissenschaft`. Ich kann es selbst bezeugen, da ich bereits selbst einmal in jenem Theater gewesen bin“, vertraute Moneypenny ihr vorwarnend an.

„Das hört sich wirklich sehr interessant an. Ich werde Augen und Ohren offenhalten“, erwiderte Miceyla und ihre Aufregung war nun in Höchstform. Endlich war sie angemessen gekleidet und staunte nicht schlecht, über die Fingerfertigkeiten der jungen Frau.

„Eine prachtvolle Frisur hast du mir da gezaubert! Du hast wahrlich magische Hände! Und das in der kurzen Zeit, ich hätte bestimmt Stunden gebraucht, ha, ha“, lobte Miceyla sie strahlend und betrachtete sich dabei von allen Seiten im Spiegel.

„Ihr Lob ehrt mich sehr. Scheuen Sie sich nicht davor, mich zukünftig zu rufen, wenn Sie meine Dienste in Anspruch nehmen möchten. Es ist eine willkommene Abwechslung, zu meiner groben Arbeit da draußen, ha, ha. Dann verabschiede ich mich an dieser Stelle und wünsche Ihnen einen erlebnisreichen Abend. Kommen Sie und die Brüder wieder wohlbehalten zurück“, sprach Moneypenny zum Abschluss noch freundlich.

„Das werden wir, versprochen. Nochmals danke für deine Hilfe. Dann kann der Showdown ja beginnen…“ Miceyla holte ihre Perlenohrringe aus der Schmuckschatulle hervor und zog sich die glänzenden Erinnerungsstücke an. Kurz darauf verließ sie mit klopfendem Herzen das Ankleidezimmer. Oberhalb auf der Treppe stehend sah sie bereits, wie William, Albert und Louis sich makellos herausgeputzt wie eh und je im Anzug, vor dem Eingangsbereich versammelt hatten. So ausgelassen plauderten sie miteinander, als stünde ihnen bloß eine gewöhnliche Vorstellung zur Bespaßung bevor. `Bin ich denn hier die Einzige, welche schrecklich nervös ist?`, fragte sie sich gekränkt.

„Schaut an, da kommt unsere Nachzüglerin! Gerade noch rechtzeitig kreuzt du hier auf. Wir wollten gerade ohne dich aufbrechen“, kam es sogleich neckend von Louis.

„Ha, ha, nicht doch. Du bist sogar früher mit dem Ankleiden fertig geworden als gedacht. Und was soll ich sagen… Die Grazie deiner Schönheit wächst von Tag zu Tag…“, schwärmte Albert mit sanfter Stimme.

„Hach… Bei so viel Schmeicheleien werde ich wieder rot und… Huch! Wah!“ Miceyla trat versehentlich auf ihr langes Kleid und wäre beinahe die Treppe hinuntergestürzt. Doch glücklicherweise gab das Geländer ihr Halt.

„Herrjemine… Was für ein Schreck. Das wird diesen Abend sicherlich noch öfters passieren, ha, ha“, meinte sie verlegen. Albert seufzte erleichtert und William trat mit einer ihr entgegenhaltenden Hand auf sie zu.

„Das werde ich zu verhindern wissen. Sei unbesorgt, mein Liebling.“ Lächelnd ließ sie sich von ihm vor die Eingangstür führen. Da tauchte plötzlich Moran auf, der im Gegensatz zu den Brüdern nicht fein zurechtgemacht war und seine normale Alltagskleidung trug.

„Viel Spaß, Jungs und Mädels. Mischt den Laden ordentlich auf. Schade, ich verpasse garantiert eine grandiose Vorstellung. Aber ich bekomme ja hinterher alles erzählt, he, he. Dann mache ich mich auch mal auf die Socken, muss ja eine separate Kutsche nehmen… Fred ist bereits vor Ort. Hoffen wir mal, dass es ein einigermaßen friedlicher Abend wird und ich mich nur langweilen muss, anstatt einzugreifen… Hals und Beinbruch, bis später!“ verabschiedete dieser sich und lief winkend hinaus.

„Dir auch gutes Gelingen, Meister!“, rief Miceyla ihm noch motivierend hinterher. William setzte sich seinen schwarzen Zylinder auf und zückte seinen Spazierstock.

„Dann wollen wir uns mal ins Vergnügen stürzen!“, verkündete er zum Aufbruch. Dabei glühten seine rubinroten Augen beinahe vor Euphorie und seine Lippen waren zu einem furchtlosen Grinsen geformt.

Etwas über eine halbe Stunde waren die vier unterwegs, bis sie beim Theater in Zentrallondon ankamen. Bereits durch das Fenster der Kutsche, sah Miceyla von Weitem das prachtvolle Gebäude. Durch die Flammenfarben der allmählich hereinbrechenden Abenddämmerung und das beleuchtende Licht der Straßenlaternen, schimmerte es rötlich. Vor dem Eingang hatten sich bereits einige Personen in einer langen Schlange eingereiht und warteten auf ihren Einlass. Von allen Richtungen kamen Kutschen angefahren, welche Adelswappen zierten, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Und ihr fiel auf, dass sogar mittellose Arbeiterkinder angerannt kamen, die ihre Eintrittskarten den Torwächtern vorzeigten und ohne Umschweife durchgelassen wurden.

„Nanu? Ich dachte für den Eintritt wird ein deftiger Preis verlangt? Wie haben es diese Kinder dann geschafft, an Karten zu gelangen?“, fragte Miceyla verwundert.

„Der Preis ist auf die unterschiedlichen Schichten abgestimmt. Wer vermögend ist, muss tiefer in die Tasche greifen. Die Ärmeren zahlen hingegen nicht mal ein Viertel des Gesamtpreises. Ich finde es erstaunlich, wie dies gehandhabt wird, ohne das es dabei zu Scherereien kommt oder jemand heimlich pfuscht“, verriet William, der kurz stehengeblieben war und das gesamte Gebäude von außen genaustens inspizierte. Auch Miceyla blickte ehrfürchtig hinauf und betrachtete das auffällig bunte Schild, auf dem Regenbogenschwingen-Palast in geschwungenen Buchstaben geschrieben stand.

„Ist jemand von euch schon einmal hier gewesen?“, erkundigte sie sich dabei.

„Obwohl wir jede Ecke und jeden Fleck von ganz London kennen, gab es bisher nie eine Gelegenheit oder triftigen Grund, um dieses Theater zu besuchen. Weder hat es Vorstellungsthemen gegeben, die uns hätten interessiert, noch wurden wir von Bekannten hierher eingeladen. Aber kein anderes Schauspielhaus, hat in weniger als drei Jahren, an solch einer Popularität gewonnen. Was nicht zuletzt unserem kleinen Provokateur zu verdanken ist…“, antwortete Albert, der seine Augen leicht argwöhnisch zusammenkniff, wodurch sein sonst so sanftmütiger Gesichtsausdruck zornig aussah.

„Wie wahr, Bruder. Wenn dieser Mann unbedingt auf Vergeltung aus ist, soll er sie bekommen!“, fügte Louis ebenso eisern hinzu. William jedoch, ließ sich nicht zu irgendwelchen negativen Emotionen hinreißen und lief unbeirrt mit Miceyla an seiner Seite voraus.

„Danke sehr. Bitte folgen Sie dem rechten Korridor, dort führt Sie eine Treppe hinauf zu ihren Plätzen“, ließ ein extraordinär gekleideter Mann die vier passieren, nachdem William ihre Karten vorgezeigt hatte. Im Innern hielt sie instinktiv nach Sherlock Ausschau, ob er ebenfalls verfrüht zugegen war. Doch bislang fehlte von ihm jede Spur. Da kam sie abrupt zum Stillstand und riss die Augen verdutzt weit auf.

„Gütiger Himmel! Wie sollen wir den bitteschön, diese skurrile Treppe hinaufkommen?! Da fehlen ja die ganzen ersten Treppenstufen!“ Auch Louis neben ihr wusste nicht, was er von jener unbegehbaren Treppe halten sollte.

„Wer zum Henker kommt bloß auf solch irrsinnige Ideen?! Soll das etwa der einzige Weg, zu unseren Logenplätzen sein? Die anderen Besucher, haben nicht mit einem derartigen Hindernis zu kämpfen“, beschwerte dieser sich empört. Albert hingegen fing leise an zu kichern.

„Ein ansprechender Willkommensgruß. Findest du nicht auch, Will? So viel Mühe macht man sich nur für unseren Empfang, da sollten wir uns geehrt fühlen.“

„In der Tat. Doch eine solche Lappalie, stellt nun wirklich in keiner Weise eine nennenswerte Herausforderung dar. Ich hatte gehofft, etwas mehr gefordert zu werden. Allerdings, gleich zu Beginn das beste Ass aus dem Ärmel zu schütteln, wäre auch wieder fatal. Nun gut. Werft mal einen Blick auf den Boden vor euch. Folglich werdet ihr erkennen können, dass die fehlenden Stufen, sich unter unseren Füßen befinden müssen. Sie werden höchstwahrscheinlich mit einem Mechanismus in Verbindung stehen, der wenn er betätigt wird, die Treppenstufen emporsteigen lässt. Was sagt man dazu, die Lösung unseres kleines Problems, finden wir dort drüben an dieser `unauffälligen` Wand“, kam William ziemlich unbeeindruckt, ihrer ein wenig dreisten Stolperfalle auf die Schliche und zeigte auf eine hervorragende Stelle in einer Wand, an der sich etliche Zahnräder in unterschiedlichen Größen befanden.

„Das heißt, wir müssen die Zahnräder lediglich in Bewegung bringen und die Stufen kommen dort, aus der verdächtig aussehenden Stelle im Boden hervor? Die Idee dahinter ist eigentlich recht schlau und ungewöhnlich zugleich, ha, ha. Nur was passiert, wenn wir einen Fehler machen…?“, grübelte Miceyla besorgt.

„Das finden wir besser gar nicht erst heraus. Von vornherein alles korrekt zu machen, ist ja wohl das Mindeste“, meinte Louis nüchtern. William durchlöcherte die Wand für kurze Zeit mit seinen scharfen Augen.

„Albert, dürfte ich dich bitten, dass Zahnrad ganz oben links im Uhrzeigersinn zu drehen. Und Miceyla, drehe bitte das Zahnrad unten rechts gegen den Uhrzeigersinn“, bat er mit felsenfester Überzeugung, dass dies funktionieren würde. Die beiden befolgten nickend seinen Anweisungen und begannen zur gleichen Zeit die Zahnräder zu drehen. Ohne großen Kraftaufwand schafften sie es, dass jedes der aneinandergereihten Zahnräder, sich leicht quietschend zu drehen begann. Und auf einmal lief der gesamte Mechanismus, ohne ihre Hilfe weiter. Es dauerte nicht lange, da kamen tatsächlich auf beinahe magische Weise, Treppenstufen aus dem Boden hervor und vervollständigten die Treppe. Sprachlos beobachtete Miceyla das eindrucksvolle Geschehen. William setzte einen Fuß prüfend auf die erste Stufe.

„Ladys und Gentleman, folgt mir nach oben“, gab er ihnen lächelnd zu erkennen, dass es sicher war. Endlich durften sie auf ihren bequemen Sitzplätzen Platz nehmen. Sobald Miceyla die imposante Theaterhalle von oben betrachten konnte, kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das erste Mal befand sie sich in einem Theater dieser Größe. Ein dunkelroter Samtvorhang, verbarg momentan noch die Bühne. Jegliche Säulen und Geländer, waren mit funkelnd goldenen Mustern verziert, die Engelsflügeln ähnelten. Es sah nach einer aufwendigen Handarbeit aus. An der hohen, nach außen gewölbten Decke, hingen mehrere riesige schillernde Kronleuchter. Aber da entdeckte sie noch etwas recht Fragwürdiges an der Decke. Unzählige kleine schwarze Einkehrbungen befanden sich dort, die nach absichtlich angebrachten Löchern aussahen. Auch William neben ihr, nahm die Innenarchitektur des Theaters genaustens unter die Lupe und folgte ihrem grübelnden Blick.

„Wozu dienen denn diese ganzen Löcher? Wir werden doch hoffentlich nicht beschossen…“, hoffte Miceyla, während sie grausame Spekulationen bekam.

„Es wäre wohl etwas unvorteilhaft, dass eigene Publikum unter Beschuss zu nehmen. Lassen wir uns einfach überraschen“, sprach William bloß und lächelte unbesorgt. `Das beruhigt mich jetzt nur wenig…`, dachte sie mit einem mulmigen Gefühl. `In einer halben Minute ist achtzehn Uhr zwanzig`, stellte sie fest, nachdem sie die Uhrzeit auf ihrer Taschenuhr überprüft hatte. Langsam ließ sie ihren Blick über die gefüllten Zuschauerplätze schweifen. Ausnahmslos jeder Platz war besetzt worden, ebenso die Plätze der anderen Logen. Sofort blieben ihre Augen freudig an einer Person haften, die ihr von unterhalb zuwinkte. `Sherlock! Er ist wirklich hier, wie er gesagt hatte und auf die Minute genau, ha, ha. Und John ist auch mit hergekommen.` Die beiden saßen ziemlich in der Mitte nebeneinander. Ganz flüchtig winkte sie ihm ebenfalls zu. Sie glaubte kaum, dass sie es schaffte sich einfach zurückzulehnen und die Vorstellung genießen zu können. Viel mehr tobten in ihr wilde Vorstellungen, was an diesem Abend noch alles passieren würde. Zehn Minuten vergingen, da war es soweit und der Vorhang öffnete sich. Mucksmäuschenstill wurde es, als man eine leise, dramatische Musik hören konnte. Nun hatte ein jeder freie Sicht auf die Bühne, wo der zur Seite gleitende Vorhang, einen dort alleinstehenden Mann zum Vorschein brachte. `Clayton Fairburn…`, erkannte Miceyla ihn rasch und ein Anflug unbändiger, innerer Aufregung überkam sie. Reflexartig griff sie nach Williams Hand, der zärtlich ihren Händedruck erwiderte, was sie sogleich wieder ein wenig beruhigte.

„Seid gegrüßt werte Damen. Meine farbenfrohen Blumen, die unserer Welt zu wahrem Glanz verhelfen. Und willkommen ihr tüchtigen Herren, die Geldscheffler und Stützen unserer Nation. Da sind wir wieder alle versammelt, in alter Frische. Euer Matador Muscari hat die Ehre, euch heute ein brandneues Stück zu präsentieren. Aber es wäre anmaßend, dazu nur schlicht Aufführung zu sagen. Nein, es ist Zeit für ein revolutionäres Gefecht. Täglich denken wir uns fantasievolle Szenarien aus, bloß um der hoffnungslosen Realität zu entfliehen. Doch verkümmert dabei unser Wille, im wahren Leben etwas bewegen zu wollen. Vertraut mir, die Realität ist weitaus interessanter als ihr denkt. Ihr müsst einfach mal richtig hinschauen, was sich hinter unserem Rücken alles verbirgt… Drum kostet mit mir zusammen etwas von der Süße des Schmerzes, der lähmenden Trauer und der dämonischen Wut. In jedem von uns schlummert schließlich ein Monster. Die ernüchternde Wahrheit wird nach euch greifen und jeden in den Ruin führen. Aber fürchtet euch nicht, die Todesengel haben sich bereits versammelt, um ihr gerechtes Urteil zu fällen. Also seid schön artig. Ob ihr die Jager oder Gejagten werdet, liegt ganz in euren Händen…“, begann Clayton seine Empfangsrede, teils fröhlich, teils düster. Und als er mit finsterem Grinsen zu ihren Logenplätzen hinaufblickte, glaubte Miceyla ihr Herz würde stehen bleiben. Doch nicht nur sie, das ganze Publikum, wurde durch seine einschüchternden Worte in den Bann gezogen. Clayton verließ die Bühne und verriet mit dieser Geste, dass nun die Vorstellung begann. Bei dem momentanen tristen Hintergrund der Bühne, handelte es sich um ein karges Ödland, dass aussah als stünde es in Flammen. Eine schöne, junge braunhaarige Frau erschien. Sie trug einen dreckigen, zerfetzten Mantel und hatte den Blick trübselig zu Boden gerichtet. Da stoppte sie plötzlich und sackte auf die Knie.

„So viel habe ich gegeben, meine Güte, meine Hilfsbereitschaft, ich opferte einfach alles. Muss ich denn bis zur bitteren Erschöpfung arbeiten? Wenn aus meinen Händen Blut strömt, wird mich dann endlich jemand anerkennen? Oh Hoffnung und Glück, ihr habt mich beide betrogen! Mein Leid zerfrisst mich… Von meinem Lebenswillen ist längst nichts mehr übrig… Was soll ich tun? Wieso bloß besitze ich nicht die Kraft, etwas zu verändern? Ich weiß es…die Welt muss bluten, genau wie mein Herz. Wenn alle Sünden verbluten, wird in jedem der wahre Frieden wiedergeboren…“, wimmerte sie verzweifelt, doch schien der Wille ihr noch nicht vollends entglitten zu sein. Da erschien erneut Clayton, jedoch in einem völlig neuen Gewand und einer schwarzen Perücke. Er sah aus wie ein heldenhafter Ritter, ehrenhaft und unverdorben. Trostspendend hielt er der jungen Frau seine Hand entgegen.

„Oh weh, mein holdes Mädchen. Noch nie erblickte ich solch Kummer, in derart schönen

Augen. Dein unschuldiges Wesen ist getränkt in hässlichem Hass. Willst du denn leibhaftig

diese schwere Last tragen und dich gegen die gesamte Welt auflehnen? Doch sollte jener

Entschluss deine klagende Sehnsucht stillen, werde ich dein treuer Begleiter sein. Mit mir wirst du jeden Kampf gewinnen, meine violette Knospe des Frühlings…Amethesya“, sprach er beschützend. Plötzlich ging bei Miceyla ein Licht auf und sie wäre um ein Haar von ihrem Platz gesprungen. `D-das gibt es nicht! Warum bin ich bloß die ganze Zeit über so blind gewesen?! Der Mann, welcher mir im letzten Jahr diese rätselhaften Gedichtzeilen, auf mein verloren gegangenes Blatt schrieb, ist Clayton gewesen! Meine Güte, der Kerl ist das reinste Chamäleon, wenn es darum geht sein Äußeres zu verwandeln. Aber hat er wahrhaftig die ganzen Ereignisse vorhergesehen oder ist alles schierer Zufall…? Entweder er besitzt lediglich eine künstlerische Ader, der seine grenzenlose Kreativität zuzuschreiben ist oder er ist…ein Genie…`, dachte sie und schluckte schwer. Trotz ihrer aufwühlenden Erkenntnisse, versuchte sie sich wieder auf das Stück zu konzentrieren. Mittlerweile hatte die junge Frau, besser gesagt `Amethesya`, ihren ärmlichen roten Mantel abgeworfen und zeigte sich nun in einem prachtvollen, rubinroten Kleid und strahlte jetzt neugewonnene Selbstsicherheit und einen bannbrechenden Frohsinn aus. Auf dem Boden lagen nun etliche Menschen, deren teure Kleidung mit Blutflecken beschmutzt waren. Verzweifelt bettelten sie um Gnade.

„Sterbt, ihr undankbares Gesindel! Möget ihr endlose Qualen erleiden. Eure Körper sollen denselben Schmerz zu spüren bekommen, den ihr anderen wehrlosen Seelen zugefügt habt! Und steigt empor ihr klagenden Menschen, für die leider jede Hilfe zu spät kam. Ihr seid endlich frei! Fliegt und zeigt das reine Licht eurer Herzen!“, blaffte sie verurteilend, blickte hinauf und breitete dabei ihre Arme weit aus. Wie auf ein Zeichen hin, geschah etwas so Unerwartetes, dass ein erstauntes Raunen durch die gesamte Zuschauermenge ging. Jedes der kleinen Löcher an der Decke, begann plötzlich zu leuchten. Und nicht nur das, es regnete aus ihnen glitzernde, helle Funken. Sie fielen langsam und geräuschlos herab, wie dicke Schneeflocken. `Sitze ich gerade wirklich in einem Theater…? Über mir befindet sich ein Sternenhimmel und es regnet Sternenstaub auf mich herab…`, versuchte Miceyla den traumhaftschönen Augenblick zu begreifen. In jenem Moment glaubte sie, schwerelos durch den endlosen Nachthimmel zu schweben. Sie bekam Flügel und ihre Angst vor Höhen geriet in Vergessenheit. Mussten nicht gerade alle im Theater, dieses unwirkliche Gefühl, bei dem die Zeit stehenbleiben zu schien, verspüren? Ganz gleich ob arm oder reich? Ja, in jenem Moment waren sie alle miteinander verbunden. Weit und breit kein Groll, keine Vorurteile mehr. Einfach nur in der Stille den Anblick zu genießen, fühlte sich richtig an. Miceyla streckte ihre geöffnete Handfläche nach vorne aus, um eine der schimmernden Funken aufzufangen. Dabei spürte sie nur eine leichte Wärme und kurz nachdem das schimmernde Licht ihre Haut berührte, löste es sich wieder auf. Dieser Überraschungsmoment mit den Lichtern, besaß die Macht, jeden Griesgram zu besänftigen und jedes niedergeschlagene Kind aufzuheitern. Das Stück lief längst weiter, doch bekam sie nur die Hälfte mit. Als es allerdings einen radikalen Handlungswechsel gab und es allmählich auf das Finale zuging, war sie wieder hellwach bei der Sache. Am Rande tauchte Clayton auf und beobachtete angewidert das Geschehen vor sich. Nun war von seinem ritterlichen Glanz, nicht mehr viel

übriggeblieben.

„Was bin ich töricht gewesen. Ein Narr der herumgeschuppst wird. Ich sah so viele Menschenleben enden, dass ich sie schon gar nicht mehr zu zählen vermag. Und wo bleibt der langersehnte Frieden, die wahre Gerechtigkeit? Letztendlich ist es bloß eine Lüge gewesen, die deinem selbstsüchtigen Verstand entsprungen ist. Heute werde ich dem Ganzen ein Ende bereiten! Nimm all meine Liebe mit ins Grab. Ich brauche sie nicht mehr, wenn du dich von dieser Welt verabschiedet hast. Doch eines verspreche ich, die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit, werde ich für immer im Herzen tragen. Solange, bis mein eigenes Leben endet…“ Mit diesen dramatischen Worten, zog er ein langes Schwert und mit Tränen in den Augen, durchbohrte er damit die ahnungslose Amethesya. Miceyla stockte der Atem. Alles sah so unglaublich realistisch aus, dass man kaum glauben konnte, dass es sich nur um ein Schauspiel handelte. Alle gerade Anwesenden im Theater, fieberten zitternd mit.

„Mein…mein Liebster… Noch nie sah ich solch Wut, in den gefühlskalten Augen eines Verräters… Der Tod…ich spüre seinen ewigen Kuss… Die notleidenden Menschen waren auf mich angewiesen. Aber du…hast mich in Wahrheit nie gebraucht. Jedoch…bereue ich nicht, dir mein Herz geschenkt zu haben… Nun lebe und trage von jetzt an, die bitteren Folgen unserer beiden Schicksale durchs Leben. Lebe wohl…“ Noch ein letztes Mal lächelte sie ihren Geliebten an, dann schloss sie regungslos die Augen. Clayton befreite sich aus der Umarmung ihres leblosen Körpers und erhob sich teilnahmslos.

„Schaut her, was aus mir geworden ist! Ein Mörder! Für mich gibt es keine Zukunft mehr. Deine verführerischen Absichten, haben aus mir einen Verbrecher gemacht… Mich, die Gerechtigkeit in Person, hat es ins Verderben gestürzt… Die Nacht bricht herein, mein Herz, es wird zu Stein. Keine klagenden Stimmen mehr, dein Trank des Todes ist nun endlich leer. Lasst mich fortlaufen zu fernen Weiten, müde bin ich, vom ewigen Streiten. Zeit, das ich den Verlauf ordnungsgemäß richte, dennoch fragt mich bestimmt ein jeder, nach deiner Geschichte. An dich werde ich denken, wenn mich umgibt der Flieder. Liebste, eines Tages sehen wir uns in einer glücklichen Welt wieder…“, prophezeite Clayton abschließend und hielt dabei das Schwert, an dem das Blut von Amethesya klebte, fest umklammert. Derweil rätselte Miceyla über die verborgene Interpretation des Stücks. Man wollte nämlich ganz bestimmten Personen eine Botschaft übermitteln, dies war nun mal Fakt. `Doch wen genau sollen die Hauptdarsteller darstellen? Die Frau mit dem Pseudonym Amethesya, könnte den Meisterverbrecher repräsentieren, also William. Und Clayton den ihn jagenden Detektiv, nämlich Sherlock`, spekulierte sie gedankenversunken. Jedoch musste sie eingestehen, dass die Rolle der jungen Frau, auch recht gut zu ihr selbst passte. Vielleicht lag sie aber mit jeder ihrer Theorien daneben und man wollte sie alle nur, mit einer abstrakten Vorstellung in die Irre führen. Miceyla warf einen Blick zu William, um seine Reaktion auszukundschaften und erschrak zusammenzuckend, als hätte sie ein greller Blitz getroffen. Seine Augen fixierten mit einer beängstigenden Finsternis die Bühne. Bei seiner unterdrückten Anspannung meinte man, er wolle am liebsten hinunterpreschen und Clayton sein eigenes Schwert ins Herz rammen. `Nein… Irrtum…`, dachte sie berichtigend, als seine funkelnd roten Augen zur Zuschauertribüne wanderten und an Sherlock haften blieben. `H-hast du etwa die Interpretation des Stücks verstanden? Aber selbst wenn, ist es doch nicht weiter von Belang. Dies war eine rein frei erfundene Handlung. Auch jemand der so ideenreich wie Clayton ist, kann nicht die Zukunft vorhersehen. Das solltest du schließlich am besten wissen, Will. Du wirst einfach immer die genauen Absichten der Leute analysieren und deine Pläne umstrukturieren, sollte etwas unstimmig sein. Ich glaube kaum, dass eine noch so kluge Person, deinen Perfektionismus übertreffen könnte… Denn du hast liebevolle Menschen um dich herum, die dich zu jeder Zeit unterstützen werden`, dachte sie wehmütig und versuchte dabei, ihre friedvolle Güte auf ihn zu projektzieren. William schien zu spüren, dass ihr umsorgender Blick auf ihm ruhte und schenkte ihr zur Beruhigung sein sanftestes Lächeln. `Ja meine Liebste… Genau das meinte ich damit, als ich davon sprach mich daran zu erinnern, meinen eigenen Zielen treu zu bleiben. Mag ich auch verfrüht Urteile fällen, wir werden die tückischen Fallen von anderen mit Bravour umgehen, sodass wir siegreich durch die Ziellinie schreiten. Differenzieren wir uns weit genug von jenen Menschen, die uns Steine in den Weg legen wollen, wodurch unsere Pläne für deren Sabotagen unantastbar werden…`, beschloss er mit geruhsamer Miene und nahm zur Besiegelung seiner Worte ihre Hand. `Die gesamte Welt wird zwar zu unserem Feind, doch ich bleibe in jeder noch so stürmischen Zeit an deiner Seite. Egal welche Opfer ich in Kauf nehmen muss. Meine Liebe zu dir übersteht alles, ausnahmslos alles…`, dachte sie mit pochendem Herzen, während der Vorhang fiel und ein schallender Applaus zu hören war. Die zwei ignorierten das laute Treiben um sich herum und widmeten den Moment ganz sich selbst. `Auch wenn wir auf Kriegsboden wandeln, nichts könnte mich davon abhalten, immer wieder zu dir zu finden und deine Hand zu halten. Solange bis…` Williams Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Albert jeweils ihm und Miceyla eine Hand auf die Schulter legte. Er und Louis hatten sich ebenfalls nicht dem jubelnden Applaus angeschlossen und verharrten still auf ihren Plätzen.

„Schwesterherz, Bruderherz, schaut! Das Publikum zieht nach und nach von dannen und verlässt das Theater. Nun beginnt für uns die eigentliche Vorstellung. Wollen wir mal dem Hauptdarsteller, zu seinem gelungenen Auftritt gratulieren gehen…“, rief er die beiden Träumer freundlich ins Diesseits zurück. Miceyla spürte die unermüdliche Bereitschaft welche in Albert brodelte, sich einer Konfrontation zu stellen, bei der noch keiner so wirklich wusste, wie sie ausgehen mochte… `Das Stück hat fast zwei Stunden gedauert. Nun ist es soweit… Oh bitte, ein höfliches Gespräch genügt doch schon. Ich habe wie immer das ungute Gefühl, dass gleich die Fetzen fliegen werden… Aber hätte Will etwas Derartiges geahnt, würde er mich nicht unbewaffnet hier herumlaufen lassen. Jedoch gibt es auch Gefechte, die ohne den Einsatz einer Waffe auskommen…`, rechnete sie nervös mit dem Schlimmsten und wusste aber insgeheim, dass die drei Brüder ihre schützenden Hände über sie hielten, falls die Lage eskalierte.

„Eine ernüchternde Vorstellung, mit Möchtegern-Schauspielern. Hättet ihr nicht auch eine Parodie, von unserer schändlichen Gesellschaft vorgezogen? Dann hätten die Zuschauer wenigstens, über ihre eigene Dummheit lachen können“, meinte Louis mit wenig Begeisterung.

„Ha, ha, das wäre auch nicht schlecht gewesen. Vielleicht steht das noch aus und ist für das zukünftige Programm geplant. Wer weiß was die Vielfalt der Darsteller, noch alles Skandalöse in petto hat. Gut, die Treppe ist noch vollständig, sputen wir uns lieber“, sprach William lächelnd und lief wieder voraus. `Moneypenny hat kein bisschen übertrieben. Dieses Theater gleicht wahrhaftig einem magischen Zauberschloss. Wer so geschickt mit Technik und Elektrizität umgehen kann, muss ein sehr helles Köpfchen besitzen`, erkannte Miceyla mit beinahe kindlicher Bewunderung, für die ihr unbekannten Wunder der heutigen Zeit. Jedoch blieb sie auf dem Boden der ernsten Tatsachen. Denn sie befanden sich noch immer in einem Theater, dessen Eigentümer bislang als ihr vermeidlicher Feind einzustufen war. Unterhalb vor der Bühne, entdeckte sie Clayton wieder ohne Perücke, der von einigen Damen umringt war, welche ihn mit Komplimenten bombardierten. Das Geschnatter der Frauen war so laut, dass es bis zu ihr herüberschallte.

„Sir Muscari! Mir sind die Tränen gekommen. Das Ende hat mich sehr bewegt. Oh welch schicksalhafte Tragödie…“

„Die herabfallenden Lichter, haben mir den Abend versüßt! Sie sind ein wahrer Zauberer!“

„Es ist trotzdem beruhigend zu wissen, dass es sich bloß um eine ausgedachte Geschichte handelt. Ich könnte mir gut vorstellen, dass dieser berüchtigte Meisterverbrecher, um den etliche Gerüchte kursieren, auch nur einem Ammenmärchen entsprungen ist. Die Leute erfinden heutzutage doch gerne irgendwelchen Humbug, um anderen Angst einzujagen.“ `Wenn du dich da mal nicht irrst… Eine Spekulation entfaltet erst dann ihre komplette Wirkung, wenn man die Wahrheit mit eigenen Augen gesehen hat… Daher schreibe ich nicht nur von dem oberflächlichen Ganzen, sondern setze mich auch mit den verschiedenen kleinen Details auseinander, die es verdient haben, näher betrachtet zu werden. Ob die Menschen eines Tages unserer Geschichte Glauben schenken, ist ihnen selbst überlassen. Aber vielleicht gibt es ja einen unter tausenden, der nachvollziehen und begreifen kann, was sich hier auf der düsteren Seite von London, alles zugetragen hat. Das genügte schon. Doch die alleinigen Zeugen, sind und bleiben wir, die für gerechte Ideale kämpfen…`, dachte Miceyla anmerkend, beim Zuhören der ahnungslosen Frauen.

„Ladys, ich erfreue mich immer an euren treuen Besuchen. Und hört her, der heutige Abend war erst die orakelhafte Ouvertüre. Wartet ab, die nächsten Vorstellungen werden wahre Meisterwerke! Ich tue alles dafür, um eure trägen Gemüter, die im trübseligen Alltagstrott gefangen sind, mit Spannung einzuheizen! Die leuchtenden Augen von schönen Frauen, bereichern mich mit einem unvergleichbaren Frohsinn“, erwiderte Clayton schmeichelnd und hatte schwer damit zu kämpfen, die anhänglichen Damen abzuwimmeln, wie es nach jedem seiner Auftritte sein musste.

„Widerlich… Was für ein Süßholzraspler…“, spottete Louis leise, der ebenfalls dem Gespräch lauschte. Miceyla blickte Clayton aus der Ferne, noch einmal ganz genau an und ihr fiel dabei ein winziges Detail, an seinem Verhalten gegenüber den Frauen auf, dass anderen nur schwer ins Auge springen würde.

„Miceyla! Welch eine Freude dich heute Abend hier zu sehen!“ Bei dieser vertrauten und lebhaften Stimme, wechselte sie sofort die Blickrichtung.

„John! Ach was freue ich mich! Es ist fast, als ob wir uns an diesem farbenfrohen Ort verabredet hätten, nicht wahr? Wie hat dir das…`originelle` Stück gefallen? Bei mir hat es jedenfalls einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen…“, begrüßte sie den gutgelaunten jungen Arzt, während sie zwischen den mittlerweile leeren Sitzbänken, auf den Gang am Rande zulief.

„Oh ja, das hat es bei mir auch… Ich bekam sogar am Ende eine Gänsehaut… Aber ich bin froh, dich gesund und munter zu sehen. Komm doch die Tage mal bei uns vorbei, falls du in der Nähe bist. Wir müssen uns schließlich darüber austauschen, wie wir bei unseren aktuellen Werken vorankommen! Und ich soll dich ganz herzlich von Mrs Hudson grüßen. Sie versprach, wieder etwas ganz besonders leckeres zu backen, wenn du bei uns bist“, sprach er mit überschwänglicher Euphorie.

„Dann ist es ja meine Pflicht, euch bald zu besuchen! Die nächstbeste Möglichkeit werde ich dazu ergreifen, Schriftstellerehrenwort!“, versprach Miceyla lächelnd. Erst jetzt fiel ihre Aufmerksamkeit auf Sherlock, der mit ineinander verschränkten Armen und einer Zigarette im Mund, in sich gekehrt an der Wand angelehnt stand.

„Frohe Zusammenkunft wünsche ich dem Herrn Detektiv! Oh und welch ungewöhnlicher Anblick. Wer hat dir denn deine alte Kluft geklaut und dich in diesen todschicken Anzug gezwängt? Du bist ja beinahe nicht wiederzuerkennen“, grüßte sie ihren guten Freund mit einem kleinen Scherz. Normalerweise wäre er sofort darauf angesprungen und hätte grinsend angefangen, mit ihr herumzublödeln. Doch dieses Mal verzog er keine Miene und sah sie nur mit einem unergründlich prüfenden Blick an, der in ihr Unwohlsein weckte. `Ich hätte es wissen müssen… Sherlock hat selbstverständlich ebenfalls, die Interpretation verstanden und versucht nun seine Schlüsse daraus zu ziehen… Argh! Ich komme mir vor, wie bei einem Wettrennen um Leben und Tod!`, dachte Miceyla und war von Sherlocks unnahbarem Verhalten, mehr als nur verunsichert. Allerdings war ihr bewusst, dass das heutige Aufeinandertreffen einen ausschlaggebenden Meilenstein darstellte, wie die nächsten Züge der jeweiligen Kontrahenten auszusehen hatten. John jedoch, verhielt sich weiterhin heiter und unbekümmert.

„Das bin ich gewesen. Ich habe Sherlock gezwungen, sich dem Anlass entsprechend anzukleiden. Denn ich würde mich ansonsten in Grund und Boden schämen, mit ihm zusammen auszugehen und ein feines Theater zu besuchen. Er ist ja nicht mal dazu in der Lage, sich anständig eine Krawatte zu binden“, tadelte John seinen anpassungsunfähigen Mitbewohner. Miceyla musste sich zwingen, Sherlock ein Lächeln zu schenken, um ihn wenigstens ein bisschen aufzumuntern.

„Nanu? Wo bleibt dein: `Ha, siehst du! Hab ich nicht gesagt, dass wir uns im Theater wiedersehen? Ich warte auf mein wohlverdientes Lob deinerseits, für meine unübertreffbar grandiose Vorhersage!`“ Sherlock legte den Kopf etwas schräg und wich ihrem Blick aus. Doch dabei entging ihr nicht, dass seine Mundwinkel sich zu einem flüchtigen Lächeln formten.

„Verzeih, mir hat das Stück schwer auf den Magen geschlagen“, entschuldigte er sein abweisendes Verhalten und betrachtete nun mit einem ernsten Gesichtsausdruck, die drei Moriarty-Brüder, welche sich hinter Miceyla näherten.

„Ah, ich wünsche den Herren der Familie Moriarty, auch einen schönen Abend! Schön das Sie heute allesamt erschienen sind“, grüßte John höflich.

„Guten Abend, Doktor Watson. Und ich freue mich, dass Sie die Zeit gefunden haben, sich eine Vorstellung der Extraklasse anzusehen, Mr Holmes“, sprach William neutral und die Blicke von ihm und Sherlock trafen sich.

„Liam, auf ein Wort“, fiel dieser direkt mit der Tür ins Haus, ohne irgendwelche

Höflichkeitsfloskeln. Und ehe sich Miceyla versah, entfernte er sich mit einem nickenden William. `Das fängt ja schon gut an… Ich wüsste nur zu gern, was er mit Will besprechen möchte. Aber es ist nicht wirklich schwierig, dies zu erraten…`, dachte sie und blickte den beiden ein wenig frustriert nach. Die zwei liefen auf die gegenüberliegende Seite der Theaterhalle und auch dort lehnte Sherlock sich wieder lässig gegen die Wand an.

„Sie brennen darauf, Antworten auf Ihre Fragen zu erhalten. Dann nur keine Zurückhaltung. Wobei kann ich Ihnen mit meiner Meinung dienen?“, begann William zuvorkommend.

„Fairburn… Miceyla hat Ihnen garantiert eifrig, von ihrer Konfrontation mit ihm in Lambeth erzählt. Die entscheidende Frage lautet, ob er nur ein Wohltäter ist, der junge Mädchen aus ihren kläglichen Verhältnissen befreit und dabei alle Missetäter aus dem Weg räumt, was für mich schon als schwerwiegendes Verbrechen ausreicht, um ihn in die Schranken zu weisen. Oder ob er zusätzlich ein heimtückisches Vorhaben am basteln ist, dass einem viel größeren Zweck dient“, erläuterte Sherlock und schloss kurz die Augen, um seine bisher gesammelten Fakten, über den mysteriösen Clayton zu ordnen.

„Hm… Ich kann aus Ihren Worten herausfiltern, dass Ihre Gedankengänge sich in Richtung des Meisterverbrechers bewegen. Sie haben nun eine Person gefunden, die man leicht mit ihm vergleichen könnte. Jedoch lassen Sie sich nicht von einer oberflächlichen Ähnlichkeit und Zufällen täuschen. Sie ziehen in Betracht, dass der wahre Meisterverbrecher, Clayton Fairburns Handlungen als Beleidigung, seiner perfekt inszenierten Verbrechen ansehen könnte und sich somit seiner lästigen Person entledigen würde. Und genau dabei wollen Sie ihn erwischen“, offenbarte William Sherlocks Gedanken, als wäre er kurz in dessen Geist gewandert.

„Liam, kein Mensch den ich kenne, ist mit einem vergleichbar bemerkenswerten Verstand gesegnet worden. Doch zurück zum Thema Fairburn. Sie haben exakt ins Schwarze getroffen. Das wäre der Plan, mit der größten Chance auf Erfolg. Dennoch birgt die ganze Sache, einen nicht zu ignorierenden Haken. Der Meisterverbrecher wird Clayton nicht unüberlegt Schaden zufügen. Denn ihn zu stürzen, würde mehr als nur eine Lücke, in Londons Vergnügungsszene hinterlassen… Aber nun gut… Wir haben leider nicht die Zeit, um ausführlicher darüber zu diskutieren. Das müssen wir vertagen. Doch einer Sache will ich mich noch vergewissern, solange wir noch unter vier Augen sprechen können. Und verzeihen Sie mir, wenn ich einen etwas forscheren Tonfall wählen sollte. Ihnen ist sehr wohl bewusst, was für einer Gefahr Sie Miceyla aussetzen. Der Ausflug nach Lambeth, diente nicht als Freizeitbeschäftigung. Und dann kommt auch noch das ganze Training hinzu. Ich kann nicht leugnen, dass sie eine aufgeweckte junge Seele ist, die wissensdurstig ihrem Entdeckungsdrang nachgeht. Doch in jener Nacht, sah ich sie voller Angst um ihr Leben bangen. Ich glaube kaum, dass Sie Ihre eigene Frau so sehen wollen. Weshalb also soll Miceyla abgehärtet werden? Lebt sie nicht wohlbehütet in einem Heim, in dem drei starke Männer über sie wachen? Wie dem auch sei… Ich erbitte lediglich, mir eine Frage ehrlich zu beantworten. Werden Sie Miceyla ein glückliches Leben schenken? Eine Zukunft, der sie trotz der Spaltungen in unserer Gesellschaft, positiv entgegenblicken kann? Ihre Aufgeschlossenheit und ihr Optimismus, werden noch vielen Menschen helfen, denen es als Kind ähnlich schlecht erging. Und bitte stellen Sie nicht immer nur ihre Beobachtungsgabe in den Vordergrund, die sie schulen wollen. Denn das…ist mittlerweile zu meiner Aufgabe geworden…“, mahnte Sherlock verantwortungsvoll. Jedoch wurden seine Worte weicher, als er einen Blick auf die andere Seite warf, wo Miceyla munter mit John, Louis und Albert plauderte. Zusätzlich hielt er die ganze Zeit über ein scharfes Auge darauf, ob Clayton auftauchte, der schon seit längerem hinter der Bühne verschwunden war. Seine dezent vorwarnende Anmerkung, kam für William nicht unerwartet und dennoch fiel sein Blick ebenfalls, mit einer Spur der sachten Melancholie auf Miceyla, ehe er ihm eine Antwort gab.

„Ihnen scheint Miceyla sehr ans Herz gewachsen zu sein. Sie genießt die Abenteuer und die Herausforderung, schwierige Fälle zu lösen. Und wenn Sie dabei an ihrer Seite sind, kann ich mich darauf verlassen, dass ihr nichts geschieht. Denn auch ich muss meiner Arbeit mit Sorgfalt nachgehen und kann folglich nicht immer zugegen sein. Dasselbe gilt auch für meine Brüder. Und Sie haben mein Wort, vor Miceyla liegt ein langes und glückliches Leben, in dem sie all ihre Interessen und Fähigkeiten voll ausschöpfen kann. Schließlich ist genau das mein größter Wunsch für sie. Seien Sie daher unbesorgt, Sherlock“, versicherte William ihm mit einem ehrlichen Lächeln. Sherlock fixierte ihn forschend mit den Augen, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln, als wollte er ihn hypnotisieren. `Er spricht die Wahrheit und liebt Miceyla aufrichtig. Dessen kann ich mir nun sicher sein. Aber trotzdem verschleiern seine Worte die Wahrheit hinter der Wahrheit. Die wahrwerdende Lüge lässt mal wieder grüßen…. Ach verflixt! William, du bist wie ein zweischneidiges Schwert. Und aus Miceyla machst du auch nichts anderes. Eventuell hätte ich nach einem `gemeinsamen` glücklichen Leben fragen sollen…` Sherlock blieb keine Zeit mehr übrig, um tiefgründiger nachzudenken, da Clayton nun endlich wieder auftauchte und im Schlepptau einer ihm wohlbekannten Frau, auf Miceyla und die anderen zumarschierte.

„Es ist so weit, die Abrechnung steht kurz bevor. Sind Sie nicht auch gespannt, welche Überraschung man für uns geplant hat? Ich denke es wird noch ein wenig spektakulärer, als ein paar herabrieselnde Lichter“, meinte William vorwurfsvoll und beobachtete Clayton mit zusammengekniffenen Augen.

„In der Tat. Die Spannung liegt förmlich spürbar in der Luft. Beeilen wir uns. Ich will nichts verpassen. Weder ein einziges gesprochenes Wort von ihm, noch die kleinste Veränderung seiner Mimik“, stimmte Sherlock ihm angespannt zu und hofft, nun mehr über die Persönlichkeit von Clayton zu erfahren, wenn er ihm Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Genau zur rechten Zeit, trafen die zwei wieder bei den anderen ein.

„Willkommen! Voller Ungeduld wartete ich auf den Moment, meine größten Verehrer in meinem Reich begrüßen zu dürfen! Heute Abend werdet ihr allesamt mit dem Privileg beglückt, ein privates Gespräch mit mir führen zu dürfen. Denn die Spätaufführung fällt aus. Das heißt, keiner außer uns ist gerade hier…“, verriet Clayton und grinste unheilvoll, während er vor der Gruppe zum Stehen kam. Miceyla erkannte bei der Frau neben ihm, dass es sich um die Darstellerin aus dem Stück handelte. Sie trug hochgesteckte, leicht gewellte blonde Haare und hatte hellblaue Augen. Anhand ihrer aufrechten Haltung und ihrem wachen Blick erkannte sie sofort, dass sie eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein besaß. Und aus ihrem ersten Eindruck konnte Miceyla schließen, dass sie bestimmt nicht vor schmutzigen Tricks zurückschreckte und Männer mit den Waffen einer Frau um den Finger wickelte. Als Clayton Miceyla ins Visier nahm, schmiegte sie sich gegen Albert und schwor sich, dieses Mal keine Furcht vor ihm zu zeigen.

„Hinreißend mein Vöglein! Wahrlich hinreißend! Was für ein farbenprächtiges Kleid! Ihr

Brüder habt aus dem hässlichen Entlein, wortwörtlich einen schönen Schwan gezaubert!

Doch, was verbirgt sich wohl hinter der Maskerade…?“ Albert legte einen Arm um Miceyla

und nahm sie mit einem zornigen Blick in den Schutz.

„Und was verbirgt sich hinter `Ihrer` Maskerade? Miceyla war auch bereits bevor sie anfing luxuriöse Kleider zu tragen, eine Schönheit, deren Grazie von ihren unvergleichbar klugen und liebenswerten Charakterzügen abgerundet wird. Also halten Sie sich bitte mit Ihren grotesken Äußerungen zurück“, konterte Albert in einem solch schroffen Ton, den man nur äußerst selten bei ihm zu hören bekam. Clayton tat so, als hätte ihn seine Bemerkung schwer beleidigt.

„Ah… Ihre Worte bohren sich wie spitze Nadeln tief in mein Herz! Mein Vergleich war doch wesentlich charmanter.“

„Also ich persönlich bevorzuge Alberts Charme. Seine Sprüche sind wesentlich stilvoller“, sagte Miceyla und lächelte Clayton mutig an.

„Erst einmal bedanke ich mich für die Einladung, welche Sie uns auf abnormalem Wege haben zukommen lassen, Lord Fairburn. Aber… Darf ich Sie überhaupt so ansprechen? Ich hörte Gerüchte, dass Ihre Familie bereits seit längerer Zeit, vom Adel ausgestoßen wurde… Und Sie meine Dame sind…?“, fragte William freundlich die junge blondhaarige Frau, während Clayton ihn kurz finster anfunkelte.

„Ich bin die Aktrice Saphira“, antwortete sie sogleich freudestrahlend.

„Sie heißt Irene Adler…“, enthüllte Sherlock daraufhin ihren wahren Namen und tauschte mit ihr einen rätselhaft innigen Blick aus. `Sherlock scheint diese Frau zu kennen… Jagd er dann auch hinter ihr her, da sie für einen Verbrecher arbeitet…?`, dachte sie grübelnd darüber nach, welche Rolle Irene wohl bei dessen Verfolgungsjagd spielen mochte.

„Überspringen wir die langweilige Vorstellungsrunde. Wir scheinen uns doch alle mehr oder weniger zu kennen. Also, wie hat Ihnen eigentlich unser Stück gefallen?“, fragte Clayton mit kindlicher Neugierde nach.

„Ein vortreffliches Fiasko haben Sie erschaffen. Ich kam mir vor wie bei einem Kasperletheater. Spielen Sie ruhig weiter den Hampelmann. Sie besitzen ja anscheinend genug Pappenheimer, die bei Ihren sinnfreien Imitationen Anklang finden“, meldete Louis sich als Erster zu Wort und grinste ohne Zurückhaltung höhnisch. `Oha, Louis teilt ordentlich aus, ha, ha`, dachte Miceyla schmunzelnd und musste sich ein Kichern verkneifen, als sie Johns entsetzten Gesichtsausdruck sah.

„Oh lala… Das hat gesessen. Doch was kümmert mich schon die Meinung einer einzelnen Person… Meine wehrten Gäste, wenn Sie mich dann entschuldigen würden, ich habe noch einiges vorzubereiten…“, tat Clayton geheimnistuerisch seinen Austritt aus der Runde kund und zwinkerte mit dem rechten Auge. `Hä, was?! Das war jetzt doch noch kein vernünftiges Gespräch! Und er will einfach wieder schnell abhauen? Nicht mit mir! Ich habe noch ein paar Takte mit diesem Aufschneider zu reden!`, dachte Miceyla sturköpfig und marschierte ihm ohne ihre Freunde vorzuwarnen hinterer.

„Miceyla!“, kam sogleich der zurückhaltende Ruf von William. Jedoch machte er keine weiteren Anstalten, sie aufhalten zu wollen. Sie öffnete dieselbe Tür neben der Bühne, durch welche Clayton verschwand und folgte seiner schattenhaften Gestalt in einem dunklen Korridor. Er bog in einen Raum ab, der nach einem Umkleideraum für die Darsteller aussah. Denn dort fand man etliche, maßgeschneiderte Kostüme in den schillerndsten Farben. Nicht

zu ignorieren war auch das künstlerische Chaos. Zwar brannte nur ein schwaches Licht, doch

sah sie vor sich im Geiste, die unterschiedlichsten Geschichten, welche auf der Bühne zum Leben erweckt wurden. Prächtige Bilder der Fantasie, die zum Träumen einluden. Clayton empfing Miceyla mit einem ungewöhnlich warmherzigen Lächeln, als sie den Raum betrat. Angst hatte sie nun keine mehr.

„Was liegt dir auf dem Herzen, mein Trauervöglein?“, begann er in einem ruhigen Ton.

„Wer sagt das ich trauere? Und Sie wissen ganz genau, was für ein Anliegen mir keine Ruhe lässt. Jene Gedichtzeilen, die Sie mir Ende des letzten Jahres geschrieben haben. Dank der heutigen Aufführung, kenne ich ihre versteckte Bedeutung. William ist der Rubin, der für mich gleichzeitig Glück, als auch Zerstörung bedeutet. Amethesya, das bin ich selbst. Aber dieses Schicksal, wählte ich eigenständig. Und der Saphir, der mich beschützen soll, wollen Sie ihn etwa darstellen? Sie hätten mich um ein Haar fast umgebracht…“, interpretierte Miceyla furchtlos sein eigenes Gedicht.

„Welch erschütternder Vorwurf! Wie könnte ich einem so schönen Mädchen, jemals etwas antun! Hätte ich dich ernsthaft umbringen wollen, wäre es nicht nur bei einem leichten Schubser geblieben… Und zudem waren doch deine ganzen Mitstreiter vor Ort. Aber das ist nun Schnee von gestern. Übrigens liegst du mit deiner Annahme daneben, ich sei der schützende Saphir. Denn ich habe bereits genug Schäfchen, die ich hüten muss. Obwohl ich dem auch nicht abgeneigt wäre. Allerdings dachte ich dabei viel eher an…“ Clayton brach grinsend mitten im Satz ab, da er von ihrem perplexen Gesichtsausdruck ablas, dass sie sich ihren eigenen Reim draus machen konnte. `…Sherlock…` Für einen Moment war sie wie weggetreten und verwirrt darüber, dass seine Gedichtzeilen teilweise vollkommen gegensätzlich, zu der heutigen Vorstellung waren. Schließlich handelte es sich um ein und dieselben Charaktere. Jedoch dämmerte es ihr langsam, was Clayton mit der Interpretation des Stücks auszudrücken versuchte. `Es ist bloß eine unwirkliche Zukunftsvorstellung, die seiner Fantasie entsprungen ist`, versuchte Miceyla einen vernünftigen Gedanken zu fassen und nicht gleich wieder in Wallung zu geraten.

„Oh! Haben wir zwei Hübschen nicht etwas Wichtiges vergessen? Jetzt muss ich dich schon selbst, an dein kostbares Schmuckstück erinnern. Ich dachte dein Herz hängt mehr daran, he, he. Wo hab ich es noch gleich hingelegt…“, bekam er plötzlich einen spontanen Einfall und begann leise murmelnd in einer Schublade zu wühlen. Kurz darauf warf er ihr etwas Glänzendes entgegen.

„Meine Halskette!“, rief sie voller Erleichterung und drückte Alberts funkelnde Kette erleichtert gegen die Brust.

„Ich war bereits am überlegen, ob ich das Collier verkaufen solle. Es hätte mir bei dem richtigen Händler, ein nettes Sümmchen eingebracht“, meinte Clayton seufzend.

„Unterstehen Sie sich! Das Sie überhaupt daran dachten, ist wahrlich unverschämt. Aber Sie haben Ihr Wort gehalten und mir die Kette zurückgegeben. Dafür bedanke ich mich anstandsgemäß. Nur warum Sie so viel Geld benötigen, erschließt sich mir nicht. Sie müssten doch mit Ihrem Theater, ein komplettes Vermögen zusammenbekommen haben“, erwiderte Miceyla mit einem fragenden Blick. Auf einmal warf er sich vor sie auf die Knie und machte ein klägliches Gesicht

„Ach, ich armer Schlucker habe kein Geld! Meine Ausgaben sind einfach viel zu hoch und ich stehe bis zum Hals in Schulden…“, wimmerte Clayton gespielt theatralisch. Sie war über sein stark schwankendes Verhalten belustigt und verwundert zugleich. `Er macht einem professionellen Schauspieler alle Ehre.`

„Und wofür geben Sie all Ihr Einkommen aus, wenn ich fragen darf?“, wollte sie neugierig von ihm wissen. Clayton erhob sich wieder mit elegantem Schwung.

„Ein gewissenhafter Geschäftsmann hat eben seine Geheimnisse…“, antwortete er nur verschwiegen und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen.

„Wie dem auch sei… Endlich sehe ich Sie mal ohne Maske, Lord Fairburn. Oder Sir Muscari. Wie auch immer Sie genannt werden wollen“, wechselte Miceyla das Thema, da ihr klar war, dass sie auf direktem Wege nichts aus ihm herausbekommen würde.

„Sag einfach nur Clayton zu mir, dass ist völlig ausreichend, mein Vöglein. Aber bist du dir deiner Entscheidung sicher? Wer einmal auf dem Pfad eines Verbrechers wandelt, kann ihn nie mehr verlassen. Klammerst du dich nicht bloß an William, um dein tiefes Loch in deinem Herzen zu schließen? Es wird jedoch unweigerlich dazu führen, dass sich ein noch wesentlich größeres Loch dort auftut…“, warnte er sie mit einem Hauch Trübsal.

„In William habe ich einen Menschen gefunden, der mich so gut wie kein anderer versteht. Was auch immer mit meinem Herzen geschehen möge, es gehört einzig und allein ihm“, gab sie Clayton eine knappe, jedoch klare Antwort.

„Das unzertrennbare Band der Liebe… Ehe man sich versieht, zerreißt es von ganz allein. Gegenwehr ist nutzlos“, hauchte er so leise, dass sie sich anstrengen musste ihn zu verstehen. Für einen Moment herrschte Stille und sie beobachtete ihn einmal ganz ungeniert. Denn nun besaß sie eine größere innere Ruhe, als bei ihrer letzten Begegnung in Lambeth. Er besaß ein äußerst hübsches Gesicht. Seine längeren, hellbraunen Haare fielen ihm auf die Stirn. Und das kräftige Blau seiner Augen, kam ihr beinahe unwirklich vor. Sein charakterstarkes Antlitz vergaß niemand so schnell. Dessen große und schlanke Statur verriet ihr, wie wendig und geschickt er beim Fechten sein musste. Doch sie achtete nicht nur auf sein Äußeres. Allem voraus wollte sie schließlich erfahren, welche Art Mensch sich dahinter verbarg.

„Nun gut, Clayton… Du spielst unterschiedliche Rollen, die deinen Schmerz verbergen. Aber nicht nur Trauer, es ist endloser Hass, der dich antreibt und aus dem der Wunsch entsprungen ist, die Welt brennen zu sehen. Du kämpfst verbissen dafür, alles auszulöschen, was dir jenen unerträglichen Schmerz angetan hat. Bis…deine Rache gestillt ist… Und du schlüpfst in so viele Rollen, dass ich nicht sagen kann, was deine wahre Persönlichkeit ist. Vielleicht weißt du es nicht einmal mehr selbst…“ Miceyla vergaß die Zeit und verschmolz mit ihren Spekulationen über Claytons Beweggründe. Er sah sie zuerst verwundert an, dann blickte er nachdenklich zu Boden.

„Ich verstehe… Du besitzt also auch die Gabe, in die Herzen der Menschen zu sehen… Such dir eine Seite von mir aus, welche dir am besten gefällt. Das ist der einfachste Weg.“ Ihre Unterhaltung endete abrupt, als plötzlich Albert hereinplatzte und Miceyla so unvorbereitet an sich drückte, dass sie die Augen vor Verwunderung weit aufriss.

„A-Albert…“, stammelte sie verlegen.

„Ich denke Sie durften nun lange genug das `Privileg` auskosten, mit meiner bezaubernden Eisblume zu sprechen, meinen Sie nicht auch?“, sprach Albert gelassen und blickte Clayton herausfordernd an.

„Eisblume? Oh ja, sie ist wahrlich eine seltene und zerbrechliche Blume… Sie sind das also…hm…“, murmelte dieser grinsend.

„Komm, lass uns wieder gehen. Es haben sich bereits einige Sorgen um dich gemacht und…

Nanu? Weshalb hältst du auf einmal die Kette in den Händen? Du hattest sie heute Abend doch gar nicht angelegt“, fragte Albert etwas verwirrt.

„Das ist eine etwas kompliziertere Geschichte… Gehen wir erst mal zu Will und den anderen zurück“, erwiderte Miceyla zögerlich und blickte sich beim hinauslaufen, noch einmal nach Clayton um. Dieser lächelte sie in einer verbeugenden Position mysteriös an. In jenem Augenblick, wo sich ihre Blicke trafen, fällte sie ihr Urteil über seine wahre Person. `Clayton…ist kein böser Mensch…` Als sie sich wieder in der großen Theaterhalle befanden, fiel ihr als allererstes auf, dass Irene nicht mehr dort war.

„Miceyla! Ein Glück, du bist zurückgekehrt. Fairburn soll ein schlimmer Langfinger sein. Daher sei bitte auf der Hut, wenn du mit ihm alleine bist“, sagte John besorgt und stürmte auf sie zu. `Sherlock wird ihm wohl auch alles über Clayton erzählt haben. Zumindest fast alles…`, dachte sie, während Sherlock, William und Louis anhand ihres Gemütszustandes zu erraten versuchten, ob sie etwas Interessantes herausgefunden hatte. `Nachher werde ich wieder von allen ausgefragt... Aber ich bin ja selber diejenige, die immer neugierig ist.` Die kurzweilige Idylle fand ein jähes Ende, als urplötzlich alle Lichter ausgingen und auf magische Weise, einige Fackeln an den Wänden zu brennen begannen. Es herrschte ein gespenstisches Ambiente. Da schallte auf einmal ein lautes Klatschen zu ihnen hinüber und sie sahen Clayton auf die Mitte der Bühne zumarschieren.

„Meine wehrten Querdenker und Anhänger der freien Rechte! Zeit für ein kleines Kennenlernspiel!“, rief er laut. Und während er klatschte, kam aus mehreren Spalten des Fußbodens und den Wänden, zischend ein eigenartig riechender Rauch heraus und begann die Luft in der Theaterhalle zu verpesten.

„Alle Türen und Fenster dieses Gebäudes sind verriegelt. Wenn ihr das giftige Gas länger als fünfundzwanzig Minuten einatmet, geht es zu Ende mit euch. Drum sucht die Quelle allen Übels und verhindert, dass noch mehr Gas austreten kann, ehe eure Zeit abgelaufen ist. Teilt euch auf, dies erleichtert die Suche. Simpel, oder? Viel Erfolg…“, beschrieb Clayton die Regeln seines grotesken Spiels und tauchte in den Schatten hinter sich unter. Miceyla schaute panisch umher und bemühte sich dennoch, so wenig wie möglich von dem schädlichen Gas einzuatmen.

„Na wer sagts denn! Mir sind vor Langeweile bereits die Füße eingeschlafen. Liam, hätten Sie etwas dagegen, wenn wir beide den ersten Suchtrupp bilden würden?“, sprach Sherlock so ausgeglichen, als hätte er schon ihr baldiges Unglück verhindert. Und auch William lächelte bester Launer.

„Da sage ich doch nicht nein. Lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang, durch die bescheidenen Räumlichkeiten dieses Theaters unternehmen“, willigte er ohne zu zaudern ein und lief zielstrebig mit dem Detektiv, auf die Tür rechts neben der Bühne zu. `Schon wieder reden die zwei in einem solch lockeren Ton miteinander. Nach außen hin wirkt es so, als wären sie unglaublich dicke miteinander. Aber testen beide nicht bloß in Wahrheit, aus welchem Holz der jeweils andere geschnitzt ist…?`, überlegte Miceyla und blickte William und Sherlock mit einem unbehaglichem Gefühl hinterher. Leicht stutzig bemerkte sie, wie Louis ihr einen verständnisvollen Blick zuwarf. Ihm schien wohl derselbe Gedanke durch den Kopf zu gehen.

„Kommen Sie Doktor Watson, klappern wir die oberen Ebenen im südlichen Bereich ab“, sprach Louis an John gewandt und übernahm sogleich die Führung.

„Ich folge Ihnen auf Schritt und Tritt! Dieser dreisten Schikane von Fairburn, muss Einhalt geboten werden! Bis später Miceyla und pass gut auf dich auf“, rief John ihr aufgewühlt, aber dennoch führsorglich zu.

„Dann wollen wir uns mal wieder in die Richtung begeben, aus der wir gerade kamen“, meinte Albert sanft und lächelte sie zuversichtlich an.

„In Ordnung…“ `Wir befolgen gerade genau den Plan von Clayton und teilen uns auf… Ob das gut gehen wird bezweifle ich…`, dachte sie ein wenig misstrauisch und hielt die Hand vor Mund und Nase, als der bestialisch riechende Gestank des Dampfes intensiver wurde.
 

„Na sieh sich das mal einer an! Welch untypische Anordnung der Räumlichkeiten in einem Theater und die ganzen Glastüren und Fenster sind abgeriegelt worden. Auf was tippen Sie, was sich hinter der Fassade dieses Gebäudes versteckt?“, fragte Sherlock William grinsend und klopfte an mehreren Stellen gegen die Wand, um auszutesten wo sich Hohlräume befanden und die Gasleitungen entlangliefen.

„Ich tippe darauf, dass wir uns gerade in einem alten Krankenhaus befinden, welches zu einem Schauspielhaus für Unterhaltungszwecke umfunktioniert wurde. Wir müssen lediglich den Katalysator finden, der für den Ausstoß des Gases verantwortlich ist und stoppen somit die Leitungen“, kam William sogleich mit der Lösung des Problems.

„Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Außerdem hat Fairburn ein klein wenig geflunkert. Es handelt sich um kein tödliches Gas. Bei längerer Einatmung, hätte es nur eine mäßig lähmende Wirkung. Wird Zeit, dass wir den Spieß bei seinem kleinen Katz- und Mausspiel

umdrehen.“
 

Derweil lief Louis mit John durch ein Schneideratelier, in dem die aufwändigen Kostüme hergestellt wurden. Er wusste das sein Bruder William, den Ausweg aus Claytons Falle finden würde und richtete sein Augenmerk daher auf etwas ganz anderes…

„Bemerkenswert das Lord Fairburn, alles eigenständig fabrizieren lässt und keine Hilfe von außenstehenden, fachkundigen Händlern annimmt. Dieser Mann steckt viel Herzblut in seine Arbeit, dies muss man einfach zugeben“, sprach John mit staunendem Blick. `Holmes und Watson geben als Doppelpack ein lästiges Duo ab. Will hat den Detektiv bereits fest in seinen Plan integriert. Doch nun ist ein weiterer Störenfried aufgetaucht, der uns zum Verhängnis werden könnte. Denn Clayton nutzt im Gegensatz zu Sherlock, dieselben rechtswidrigen Mittel wie wir. Er ist wegen diesem nervigen Schauspieler, immer näher dran zu erfahren, wer der Meisterverbrecher ist. Eine verfrühte Offenbarung sollte dringend verhindert werden. Es muss für Ablenkung gesorgt werden. Und der gutherzige Doktor, stellt dabei das perfekte Opfer dar… , dachte Louis und fixierte John energisch mit seinen Augen.
 

Miceyla und Albert ließen den Ankleideraum hinter sich und liefen eine Treppe nach oben.

„Wie viele Stockwerke und Räume es hier gibt… Wenn man im Zentrum der Theaterhalle sitzt, bleibt einem das alles verborgen. Und was ist das hier…?! Wah! Hilfe!“ Sie lief in eine vollgestellte Kammer, mit den skurrilsten Gegenständen, die bei diversen Bühnenbildern zum Einsatz kommen mussten. Und da baumelte plötzlich ein Skelett, direkt vor ihr von der Decke herab. Verschreckt sprang sie zurück und befreite sich von dem klappernden Knochengerüst.

„Ha, ha. Lass mich besser vorangehen. Wer weiß was uns noch alles entgegenspringt. Es handelt sich hierbei sogar um echte Menschenknochen. Wo Clayton das Skelett aufgetrieben hat, mag ich lieber erst gar nicht wissen“, meinte Albert beschützend und war dennoch etwas amüsiert, über ihren erschrockenen Gesichtsausdruck.

„Einer ist hier makabrer als der andere… Was auch immer als Nächstes mit mir Bekanntschaft machen mag, hau ich in Stücke!“, sprach Miceyla sich selbst Mut zu und war heilfroh, Albert an ihrer Seite zu haben. Auf einmal hörten sie ein lautes Klacken und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.

„Das darf doch nicht wahr sein! Sie lässt sich nicht mehr öffnen! Wir sind jetzt eingeschlossen. Und hier strömt ebenfalls Gas hinein…“, rief sie verzweifelt und blickte ängstlich von einer Ecke des fensterlosen Raumes zur anderen.

„Nur keine Panik, wir finden schon wieder einen Weg hinaus. Es ist aber deutlich weniger Gas, dass hier hereingelangt. Zufall? Das bezweifle ich. Machen wir uns erst mal etwas Licht“, beschwichtigte er sie geruhsam und entzündete die Kerzen eines kleinen Kronleuchters.

„Ich bewundere deine Gelassenheit, in einer solch ungewissen Situation. Findest du nicht auch, dass Clayton ein ziemlich ambivalentes Verhalten an den Tag legt? Wieso wollte er das wir uns aufteilen? Ihm ist bewusst, dass William oder Sherlock zuerst die Apparatur ausfindig machen werden, welche für das verpestende Gas verantwortlich ist. Hat er vor während des Kopf-an-Kopf-Rennens, sich einem von ihnen zu stellen? Noch diesen Abend? Oh Albert, ich habe ein schreckliches Gefühl… Ich lege großes Vertrauen in den Scharfsinn der beiden, jedoch…“, sie hielt inne, als sie die recht geräumige Kammer, mit mehr Licht betrachten konnte. Allerlei Spieluhren und Musikinstrument waren dort verstaut. Sogar eine hübsch bemalte Kuckucksuhr fand sie. Miceyla wollte eine der Spieluhren näher betrachten, als diese von Zauberhand zu spielen begann.

„Ich rühre nichts mehr an… Mir hätte klar sein müssen, dass egal wo Clayton sich aufhält, es spukt…“, seufzte sie und wappnete sich für alle kommenden, surrealen Phänomene.

„Es wird nicht lange dauern, bis William seinem Streich ein Ende bereitet. Aber ich verstehe deine Sorgen nur zu gut. Auch ich ziehe in Betracht, Vorsicht wallten zu lassen. Und schau an, was haben wir denn hier Feines…“ Albert zog eine Decke weg und enthüllte ein schneeweißes Klavier.

„Es sieht danach aus, als wäre es eine Ewigkeit her, seitdem jemand darauf gespielt hat. Eine Schande um das schöne Instrument“, sagte sie leise mit träumerischem Blick.

„Dann wird es höchste Zeit, dass wir dies ändern“, beschloss Albert lächelnd und setzte sich würdevoll auf den davorstehenden kleinen Hocker. Sofort war er voll und ganz in seinem Element, als er zu spielen begann.

„Jedenfalls ist das Klavier vortrefflich gestimmt worden. Es hat einen ausgezeichneten Klang“, meinte er zufrieden und genoss die eigene Melodie, welche er zauberte.

„Dieses Stück kenne ich noch gar nicht. Es weckt tiefe Sehnsucht. Jedoch steckt keine bitterliche Trauer dahinter. Ein Lied, das jedem jungen, liebenden Herzen schmeichelt. Die

Vorfreude auf…“ Miceyla hielt inne, da sie viel zu spät bemerkte, wie sehr ihr Blick mit dem von Albert verschmolz. Peinlich berührt starrte sie auf das weiße Klavier.

„Weißt du welche Geschichte dieses Stück erzählt? Sie handelt von einem sensiblen Mädchen, das von der wahren Liebe träumt. Hartnäckig versteift sie sich darauf danach zu suchen und übersieht dabei all die selbstlosen Gefühle, die man ihr mittels stiller Zeichen zusendet. Letztendlich ist es das Schicksal des Mädchens, niemals ihr Glück zu finden. Allerdings ist sie nicht die Einzige, welche mit diesem Verzicht leben muss…“, erzählte Albert gefühlvoll seine eigene Geschichte, zu dem lieblichen Klavierstück.

„Solch ein trauriges Schicksal ist keine Seltenheit. Es kann ein Risiko sein, zu intensiv dem eigenen Herzenswunsch nachzujagen. Denn manchmal entsteht sogar aus einem niedergebrannten Aschehaufen, neues Leben. Jeder Mensch verdient Liebe gleichermaßen. Abgesehen von denen, die andere ausnutzen, machtgierig sind und kaltblütig morden. Nur ein Herz das Mitgefühl, Schmerz, Trauer und Schuld empfindet, kann die Liebe erreichen und sie wiederum anderen schenken. Wahre Liebe ist das schönste Geschenk, welches wir auf der Welt finden können. Sie bedeutet blindes Vertrauen und selbst in der dunkelsten Stunde ist man sich nah. Daran glaube ich…“, sprach Miceyla in einem solch weichen Tonfall, dass Albert mit wehmütigem Blick sein Klavierspiel beendete. Lächelnd erhob er sich und schritt gemächlich auf sie zu. Das sie eigentlich gerade mit Zeitdruck zu kämpfen hatten, schien für beide vorerst in den Hintergrund gerückt zu sein.

„Das du dabei selbstverständlicher Weise an Will denkst, ist für mich etwas frustrierend. Doch weißt du woran `ich` glaube? Das wahre Liebe auf den unterschiedlichsten Wegen entstehen kann und oftmals viele, viele Jahre braucht, um zu erblühen“, sagte er sanft und sie konnte nicht anders, als dabei tief in seine grünen Augen zu blicken.

„Und was ist, wenn einem die Zeit geraubt wird und…dem einen die Liebe überhaupt nichts bedeutet…?“, flüsterte sie, wollte ihre Frage aber gar nicht ausgesprochen haben.

„Dann hat diese Person sein Herz verschlossen, aus Angst dich zu verlieren. Und zum Eigenschutz, nicht verletzt zu werden. Wer sich vor der Liebe fürchtet, verpasst das schönste und gleichzeitig auch schmerzvollste Gefühl, das wir empfinden können. Und vergiss nicht, der am längsten aufgesparte Kuss, ist der Schönste und mit keinem vorherigen zu vergleichen…“ Mit diesen hingebungsvollen Worten, legte er seinen Zeigefinger auf ihre weichen Lippen. Und ehe Miceyla wusste wie ihr geschah, beugte er sich zu ihr hinab und berührte den Finger mit seinen eigenen Lippen. Nur sein Finger trennte nun ihre beiden Lippen voneinander. Ihr Herz drohte jeden Moment aus ihrer Brust zu springen. So nah wie in jenem Augenblick, war sie ihm noch nie zuvor gewesen. Sie konnte sich nicht mehr rühren und drohte von einer Schwindelattacke gepackt umzukippen. Für ein paar Sekunden schloss er die Augen, dann löste er sich wieder schweigend von ihr. `Warum…setzt du uns einer solchen Gefahr aus…? Du müsstest doch wissen, welches unglückliche Dilemma auf dich und mich wartet wenn…` Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als beide ein unheilvolles Geräusch, von einer der zugestellten Wände vernahmen. Albert stellte sich schützend vor Miceyla und lugte hinter einen Schrank, der an jener Wand stand, von welcher das dumpfe Geräusch zu hören war. Rasch erhellte sich seine Miene.

„Du darfst aufatmen, dahinter befindet sich eine zweite Tür!“, verriet er freudig und sie half ihm, noch immer aufgewühlt, den zierlichen Schrank beiseite zu schieben.

„Ich gehe zuerst hinaus. Denn ich habe das ungute Gefühl, dass uns dahinter eine weitere

unliebsame Überraschung erwarten könnte…“ Behutsam drückte er den Türgriff hinunter. Die Tür ließ sich ohne Weiteres öffnen und Albert überprüfte lautlos, einen menschenleeren Korridor. Gerade wollte Miceyla nachfragen, ob die Luft rein sei, doch da zog sie eine Person mit grobem Griff zurück in den Raum und schlug die Tür zu, noch ehe Albert reagieren konnte.

„Miceyla! Geht es dir gut? Antworte mir bitte! Die Tür lässt sich von außen nicht mehr öffnen!“, schrie er panisch und ärgerte sich über seine eigene Unaufmerksamkeit. Verzweifelt trat und schlug er gegen die Tür, allerding ohne Erfolg. Sie war einfach zu schwer, um sie aufbrechen zu können. Ängstlich fuhr Miceyla herum, da sie schnellstmöglich in Erfahrung bringen wollte, wer sie derart böswillig überfallen hatte und sah hellblaue Augen ihr forsch entgegenblicken.

„Irene…!“
 

Mittlerweile waren Sherlock und William im Keller unterhalb des Theaters angelangt und spürten, dass sie kurz davor waren auf Clayton zu stoßen.

„Hier spaltet sich der Gang. Ich tippe darauf, dass sich rechts der Raum mit der zentralen Energieversorgung befindet. Was schlagen Sie vor? Ich ziehe zu Rate, dass nur einer von uns die Höhle des Löwen betritt“, entschied Sherlock und blickte konzentriert geradeaus.

„Das ist definitiv ein kluger Vorschlag. Dann übernehme ich diesen Part und wage mich zum Herzen seiner Festung vor. Heute wird es ohnehin zu keinem ausartenden Zwist kommen“, antwortete William lächelnd.

„Nein, die Ruhe vor dem Sturm, hält fürs erste noch an. Fairburn scheint nicht nur an mir, sondern auch an Ihnen einen Narren gefressen zu haben. Die Frage ist, wer hier wen aufeinanderhetzt. Sehen Sie sich vor, William James Moriarty. Ich lasse mich nicht als Opfer einer eingefädelten Intrige abstempeln. Es existiert kein ehrenvolles Verbrechen. Ob nun Fairburn oder der Meisterverbrecher, solange ich lebe werde ich nicht davon ablassen, ihnen das Handwerk zu legen. Nun denn, dann suche ich mir mal meine eigenen Hinweise zusammen…“, sagte Sherlock mit bitterernstem Ton und ging seines Weges.

„Gewiss Herr Detektiv, dass werden Sie. Schließlich sind Sie ein Meister in Ihrem Beruf und überschreiten mit aufopferungsvoller Leidenschaft Ihre Grenzen“, meinte William und grinste dezent zynisch.

„Danke für die Blumen. Das kann ich nur zurückgeben. Sie sind ein meisterlicher Professor, Herr Mathematiker. Passen Sie jedoch auf, dass Sie sich bei Ihren zukünftigen, strategischen Ausarbeitungen nicht verrechnen. Es wäre ein Verhängnis für Ihre beispiellose Perfektion. Denn es soll Leute geben, die ein solch kleines Anzeichen von Schwäche ausnutzen würden“, kamen Sherlocks letzte beharrliche Worte, ehe er den linken Gang entlanglief und ihm grinsend einen messerscharfen Blick zuwarf. Unbeeindruckt von dessen Anspielungen, lief William nach rechts weiter. `Dein facettenreiches Wissen ist mit fehlenden, handfesten Beweisen genauso unspektakulär, wie ein Instrument ohne seinen Spieler. Erst wenn es zu einem Zusammenspiel der beiden kommt und man sich Gehör vom Publikum verschafft, wird es brenzlig. Solange ich aber die zwei sich suchenden Gegenstücke

voneinander fernhalte, bleibt mir selbst genügend Spielraum, bis die inszenierten Verbrechen erste Früchte tragen`, dachte William ruhigen Gemüts, um noch mal seine persönlich ausgeklügelte Vorgehensweise wachzurufen, die in seinen Augen unantastbar war. Ohne seine Anwesenheit verschleiern zu wollen, stieß er die schwere Tür zu einem großen Maschinenraum auf. Dort befand sich ein riesiger Kessel, über einem knisternden Heizofen. An dem Kessel befanden sich provisorisch angelegte Rohre, welche bis zu etlichen Öffnungen in der Decke verlegt worden waren.

„Nicht schlecht. Mithilfe dieser Vorrichtung wäre es möglich, ein Gebäude mit einer stattlichen Größe wie dieses, komplett mit Wärme zu versorgen. Oder alle sich dort aufhaltenden Menschen, an einem akuten Sauerstoffmangel, qualvoll verenden zu lassen… Für einen studierten Physiker, scheinen Sie aber mit den unabänderbaren Naturgesetzen auf Kriegsfuß zu stehen“, sprach er bewusst laut und deutlich, als Clayton auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes erschien, um seinen Gast zu empfangen.

„Aller Achtung! Sie haben einen ausgezeichneten Riecher, werter Meisterverbrecher. Hoppla, sollte ich das vielleicht nicht so laut aussprechen?“, meinte er und grinste gerissen.

„Sie wissen ganz genau, dass ich mich nicht von Ihnen provozieren lasse. Da wir beide wie ein offenes Buch füreinander sind, bietet dies doch die geeignete Grundlage, um ehrliche Worte miteinander zu wechseln, oder etwa nicht? Ich akzeptiere Ihre ganz privaten Gründe, wegen denen Sie den `Schmutz`, aus unserem Klassensystem der Tyrannei entfernen. Jedoch brauche ich eigentlich gar nicht zu erwähnen, dass Sie ein völlig gegensätzliches Ziel verfolgen. Wir beide machten es uns wesentlich einfacher, wenn ich dieses erfahren dürfte. Und falls ich mir dessen sicher sein kann, dass Sie Ihr Schweigen nicht brechen werden, gebe ich Ihnen mein Versprechen, dass wir uns gegenseitig nicht in die Quere kommen werden. Und so ganz nebenbei erlaube ich mir, Ihre brodelnde Apparatur auszuschalten. Denn wir wollen doch nicht, dass einer von uns mit geschädigter Lunge nach Hause geht. Ich bin sogar so umsichtig und zerstöre nichts, denn Sie müssen bestimmt viele Stunden daran gebastelt haben“, gab William sich verhandlungsbereit und schaltete mit keinerlei Schwierigkeiten den überhitzten Kessel ab und sofort hörte es in allen Rohren auf zu rauschen. Clayton blieb geduldig auf der Stelle stehen, ohne ihn davon abhalten zu wollen.

„Da verlangen Sie aber recht viel auf einmal von mir. Ihr Ziel würde ich im Gegenzug dann genauso gern erfahren. Für mein Schweigen brauche ich keinen Lohn. Ich erfreue mich nicht an den Streitigkeiten anderer. Ein solch verwerfliches Verhalten missfällt mir. Mein Interesse gilt etwas ganz anderem… Wohlan, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Erachten Sie es als einen Handel unter Freunden der Wissenschaft. Veranstalten wir doch ganz einfach am kommenden Dienstag, einen kleinen Wettbewerb. Irene hat an diesem Tag einen Gesangsauftritt. Sie müssen wissen, das Publikum liebt ihre Stimme. Finden Sie ein weiteres Singtalent, dass im Anschluss auftreten kann. Wer den meisten Applaus erhält gewinnt. Sollten Sie gewinnen, gewähre ich Ihnen am darauffolgenden Tag ein Fechtduell, bei dem wir uns gegenseitig alle offenen Fragen beantworten. Wenn ich jedoch gewinne… Nun, dies können Sie sich bestimmt selbst ausmalen, was dann passiert. Und übrigens brauchen Sie gar nicht lange suchen, um ein geeignetes Singvöglein zu finden… Was sagen Sie? Klingt doch fair, oder?“, schlug Clayton mit einer Mischung aus kindischem Gehabe und tatsächlicher Vernunft vor. William dachte genaustens über seinen spontan wirkenden Vorschlag nach, der in Wahrheit geplant sein musste und kniff dabei seine feuerroten Augen leicht zusammen.

„Jeder normale Bürger würde nun behaupten, dass Sie einen schändlichen Sinn besitzen, um sich die Langeweile zu vertreiben. Aber ich sehe Ihnen klar und deutlich an, dass Sie bitterernste Absichten verfolgen. Sie sind Opfer der Rechte und Pflichten des Adels geworden. Ihr wunder Punkt scheint mehr nach außen, als Sie denken. Wie dem auch sei, ich

willige ein. Denken Sie nun nicht, dass Sie mir einen Schritt voraus seien. Zugegebenermaßen geben Sie für die breite Masse, einen souveränen Spieler und Akteur ab. Doch da ich längst Ihre gewieften Tricks durchschaut habe, mit denen Sie spielen, ist Ihre prahlende Überheblichkeit leider vom Tisch. Mehr habe ich nicht vor, Ihnen heute zu sagen. Nur eines noch. Verwickeln Sie Miceyla nicht, in irgendwelche persönlichen Angelegenheiten. Ich halte mich bewusst mit schärferen Drohungen zurück, da Sie bestens Bescheid wissen müssten, was Ihnen andernfalls droht. Derweil wünsche ich noch ein heiteres Schauspiel, Mr Muscari“, gab William ihm seine sofortige, dennoch wohldurchdachte Einwilligung.

„So soll es sein. Dann lasse ich für heute Abend, erst einmal den Vorhang fallen. Halten Sie weiterhin Ihre scharfen Augen geöffnet. Der wahre Feind, lauert immer in den Schatten…“
 

„Du bist wirklich ein reizendes Mädchen. Doch ich muss zugeben, dass ich mir die Frau des Meisterverbrechers, etwas anders vorgestellt habe. Ich finde, du passt nicht richtig in das Bild eines Gesetzesbrechers. Es tut weh zu sehen, wie man dich maßlos ausnutzt. Naja, möglicherweise kannst du noch gerettet werden, wenn Sherlock deinen hochachtungswürdigen Gatten, hinter Schloss und Riegel befördert“, begann Irene vergnüglich und lief dabei einmal um Miceyla herum, um sie genaustens zu betrachten.

„Dafür steht Ihnen umso mehr ins Gesicht geschrieben, dass Sie eine Verbrecherin sind. Mich interessiert was Sie dazu bewogen hat, mit Clayton gemeinsame Sache zu machen. Und wie Sie von der Identität des Meisterverbrechers erfahren haben. Die Bühne ist sicherlich nicht Ihre einzige Tätigkeit… Aber bevor ich mir irgendwelche, an den Haaren herbeigezogene Lügengeschichten über mich ergehen lassen muss, hake ich da erst gar nicht weiter nach. Und könnten mich vielleicht alle mal, mit ihrem aufgezwungenen Mitleide in Ruhe lassen! Ich bin an der Seite von William mehr als glücklich. In meinem bisherigen Leben, ging es mir wesentlich schlechter. Kapiert das endlich mal! Ich treffe meine eigenen Entscheidungen! Liebe ist außerdem stärker, als irgendwelche Intrigen. Es wird zu keinem ungeplanten Aufruhr, zwischen William und Sherlock kommen, solange ihr hinterlistigen Schauspieler nichts verratet. Sherlock hält zudem an unserer Freundschaft fest, komme was wolle. So gut kenne ich ihn bereits. Also brauchen Sie sich überhaupt nichts vorzumachen, dass er zu Ihnen halten würde!“, wagte Miceyla sich ohne Zurückhaltung, die vorlaute junge Frau anzublaffen. Sie wusste nicht weshalb, doch Irene brachte sie einfach zur Weißglut.

„Liebe… Du bist ja tatsächlich noch ein richtiges Kind. Soso, du bist also mit Sherlock `befreundet`. Wird Zeit, dass dich mal jemand auf den Boden der vollendeten Tatsachen zurückholt. Denn momentan irrst du zwischen Traumwelt und einem ausgedachten Wunderland umher. Armes Mädchen…“, sprach Irene mit gespieltem Mitgefühl. Miceyla platzte allmählich der Geduldsfaden.

„Es reicht langsam mit dem ganzen wirren Zeug, das Sie da faseln! Lassen Sie mich gefälligst zu Albert zurückgehen. Die Herzen der Menschen sind kein Spielzeug, mit dem man nach Belieben herumspringen kann. Sie mögen Ihrem Publikum etwas vorgaukeln können, bei mir haben sie dafür jedoch die falsche Person erwischt. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Ich begebe mich wieder hinaus…“ Irene blickte für einen kurzen Augenblick verwundert drein.

„Du klingst beinahe wie…“, flüsterte diese, da zückte sie ohne Vorwarnung ein Messer und verpasste Miceyla eine kleine Schnittwunde mitten auf die Wange. Es geschah so schnell, dass sie nicht einmal im ersten Moment einen Schmerz verspürte und einfach nur regungslos auf der Stelle verharrte. Allerdings dauerte es nicht lange, da machte sich ein intensives Pochen bemerkbar und sie fasste sich reflexartig mit ihrer Hand an die triefende Wunde. Anschließend sah sie von der blutverschmierten Handfläche, entsetzt zu Irene.

„W-was sollte das? Ich habe Sie weder mit Taten, noch mit Worten verletzt, sondern nur meine Meinung zu Ihren provozierenden Äußerungen gesagt“, stammelte Miceyla und fühlte sich von Sekunde zu Sekunde unbehaglicher, mit dieser unberechenbaren Frau alleine zu sein. Irene wollte gerade schonungslos kontern, da öffnete sich jene Tür, durch welche sie mit Albert hereingekommen war, ohne das eine Person zum Vorschein kam. Und auf unerklärliche Weise löste sich das Seil, an welchem das Skelett befestigt war von der Decke und es fiel direkt krachend zwischen sie und Irene. Miceyla zögerte nicht und nutzte das Ablenkungsmanöver, um schnurstracks durch die offenstehende Tür zu flüchten. Ohne zu überprüfen ob sie verfolgt wurde, rannte sie blindlinks den dunklen Gang entlang. Dabei bemerkte Miceyla nicht, dass sie an einer weiteren jungen Frau vorbeirannte, die sich nahe der Tür versteckt hielt…

„Hach Amelia… Jetzt hast du unser lebhaftes Gespräch unterbrochen. Es fing doch gerade erst an interessant zu werden“, seufzte Irene und blickte dennoch lächelnd zur Tür, wo Amelia hereintrat.

„Lass Miceyla bitte in Frieden. Du bist mal wieder zu weit gegangen. Sie ist ein warmherzigerer Mensch als wir. Ich…wollte mich vergewissern, ob sie tatsächlich wie Clayton gesagt hatte, einer Verbrecherbande angehört. Nicht das ihm misstrauen würde, er lügt mich nicht an, niemals… Aber…ich…“, Amelia konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Zu viele Emotionen überwältigten sie, wo sie nun endlich ihre Freundin aus ihrer kurzen, schweren gemeinsamen Kindheit wiedergefunden hatte. `Miceyla… Ich bin erleichtert, dass auch du herzensgute Menschen getroffen hast, die dich in ihren Schutz genommen haben. Nur hoffte ich, dass du wenigstens im Gegensatz zu mir, aus der Vergangenheit gelernt hättest. Du verkennst den Wert des Lebens… Verlorenes kehrt nicht mehr zu einem zurück…`, dachte sie verbittert und lehnte sich bedrückt gegen den Türrahmen.

„Wenn dir doch so viel an diesem Mädchen liegt, warum zeigst du dich ihr dann nicht und sprichst direkt mit ihr?“, fragte Irene, um ihr bei der Problemlösung für ihre Sorgen behilflich zu sein und legte tröstend einen Arm um sie.

„Ich…bin noch nicht bereit dazu… Kann gut sein, dass ich sogar ein wenig Angst habe. Denn schließlich weiß Miceyla nicht, dass ich noch unter den Lebenden weile…“
 

Keuchend drosselte Miceyla ihr Tempo, da sie hinter sich keine Schritte vernahm. In ihrem langen und schweren Kleid, hatte sie ohnehin keine Chance, länger rennen zu können. Ihr blieb beinahe das Herz vor Schreck stehen, als sie mit jemandem zusammenstieß. Doch schnell erkannte sie, dass es sich um Albert handelte und fiel erleichtert in seine Arme.

„Dem Himmel sei Dank, du bist wohlauf! Verzeih mir, ich hätte für keinen Augenblick von deiner Seite weichen dürfen. Das ist mir nun eine Lehre. Und dann hat es auch noch ewig gedauert, wieder auf die andere Seite zu gelangen und…“ Er brach mit entsetzter Miene ab,

da er ihre blutige Schnittwunde im Gesicht entdeckte.

„Welcher Widerling hat es gewagt dich zu verletzen?! Sage es mir bitte und ich werde mich für dich rächen! Wer dir Leid zufügt, soll meinen Zorn zu spüren bekommen! Ist das schon wieder Clayton gewesen?“, sprach Albert wütend und streichelte dabei zärtlich über ihren Kopf.

„Beruhige dich…Bruder. Wegen einer solch mickrigen Wunde, brauchst du nicht gleich einen riesen Aufstand zu machen. Nein, Clayton hat damit nichts zu tun. Er würde niemals eine Frau verletzen. Auch ich hatte zu Beginn ein falsches Bild von ihm. Das hat sich nun geändert… Was gerade eben geschehen ist, spielt jetzt erst mal keine bedeutende Rolle. Suchen wir schleunigst die anderen und verschwinden von hier. Das war genug düsteres Schauspiel für einen Tag. Mir geht es gut, glaube mir“, beschwichtigte Miceyla seinen in Rage geratenen Beschützerinstinkt.

„Du hast recht… Ich kann mich nur einfach nicht zügeln, wenn du in Gefahr bist, meine liebe Eisblume. Ständig tapfer zu sein, wird dich früher oder später erschöpfen…“, sagte er sanft und blickte sie erneut mit hilfloser Wehmut an.

„Natürlich, jeder von uns darf sich ab und an mal fürchten. Selbst der mutigste Soldat, lässt seine Waffe in einer aussichtslosen Lage fallen und weiß nicht mehr weiter. Doch wenn er sich der Angst stellt und erneut seine Waffe ergreift, beweist er wahren Mut. Keiner kämpft alleine“, meinte sie bestärkend und lächelte ihn an. Er sah kürz verblüfft darüber, wie sie es immer schaffte sich und andere zu motivieren, zu ihr hinab.

„Deine Worte erwärmen mein Herz… Komm, William wartet auf dich.“ Liebevoll nahm Albert Miceyla bei der Hand und lief mit ihr abermals den verlassenen Gang in die Theaterhalle zurück. Es wunderte sie kein bisschen, dass sich die anderen dort bereits versammelt hatten. William lief mit einer Spur von Schuldgefühlen, auf Miceyla zu. Sie zögerte nicht länger und eilte ihm entgegen.

„Vergib mir, mein Liebling… Auch wenn es keine Entschuldigung dafür gibt, dass man dich verletzt hat. Doch du weißt ja, wir teilen uns jeden Schmerz. Beim nächsten Mal bin ich wieder an deiner Seite“, sprach er einfühlsam und packte zärtlich ihre Hände. Für einen kurzen Moment, meinte sie in seinen Augen eine Besorgnis zu sehen, die leicht mit Angst zu verwechseln war. Und das in unerschütterlichen Augen, welche selbst niemals Furcht zeigten, sondern eher anderen das Fürchten lehrten.

„Du liebe Zeit! Da hat aber jemand mit einem gefährlich geschärften Messer herumgefuchtelt! Gott sei Dank ist die Wunde nicht sehr tief. Aber lass mich sie vorsichtshalber mal genauer betrachten…“, rief John überführsorglich und ging sofort seinem Arztinstinkt nach. Miceyla ließ ihn geduldig die Wunde überprüfen, die er mit einem Taschentuch vorsichtig abtupfte. Währenddessen fiel ihr Blick auf Sherlock, der sich wieder ins Abseits verkrümelt hatte. Und ein wenig erschrocken bemerkte sie ohne Umschweife, wie er kurz wutentbrannt, auf den blutenden Kratzer in ihrem Gesicht starrte und danach zähneknirschend zu Boden sah. `Weiß er etwa, wer mich verletzt hat…?` Grübelnd versuchte sie mit ihm Blickkontakt aufzunehmen, doch er vermied es erneut sie direkt anzusehen.

„Gut, fürs erste ist die Wunde gesäubert und wird sich rasch schließen. Glücklicherweise ist sie nicht tief und ich kann dich beruhigen, dass keine Narbe zurückbleibt“, versicherte John ihr und schien selbst erleichtert darüber zu sein, denn er lächelte so heiter wie er nur konnte.

„Vielen Dank, John. Es ist wahrlich ein Segen, einen solch gütigen und verlässlichen Arzt um sich zu haben“, bedankte Miceyla sich aufrichtig.

„Lasst uns aufbrechen. Die Pforten sind wieder geöffnet worden. Es besteht kein Grund, hier noch länger zu verweilen“, verkündigte Louis sichtlich ungeduldig. Seine Brüder stimmten ihm nickend zu.

„Noch eine angenehme Nacht, Mr Holmes und Doktor Watson“, verabschiedete William sich knapp mit höflicher Stimme, während er ihre Hand nahm, um zu Albert und Louis, die gerade das Eingangstor passierten, aufzuschließen. Als Miceyla an Sherlock vorbeilief, warf sie ihm noch einen allerletzten stillen Blick zu und riss dabei die Augen perplex weit auf. Er sah sie mit vollkommener Entspanntheit an und hatte dabei das friedlichste Lächeln auf den Lippen, dass sie je bei ihm gesehen hatte. `Was hat denn so plötzlich, deine resignierte Stimmung vergessen lassen…?`, fragte sie sich und dachte, dass dies garantiert keine gewöhnliche Stimmungsschwankung sei. Genau wie sie selbst, brachte auch Sherlock seine Emotionen auf ehrliche Weise zum Ausdruck. Man musste nur das sensible Fingerspitzengefühl besitzen, um sie richtig zu deuten. Miceyla zeigte ihm ihre Freude darüber, indem sie sein herzliches Lächeln erwiderte. Mit neuer Entschlossenheit verließ sie mit den Brüdern das Theater und bevor sie in die Kutsche stieg, blickte sie noch mal auf die äußere Fassade, des in die hereinbrechende Nacht gehüllten Regenbogenschwingen-Palastes. `Der heutige Abend mag glimpflich ausgeklungen sein. Doch ich höre bereits das unheilverheißende Getöse der Kriegsfanfahnen…` Mit diesem Gedanken, fuhr sie in der Kutsche zusammen mit den Brüdern, zum Moriarty-Anwesen zurück. Dort angekommen, trafen sie mit Moran und Fred zusammen und entschieden sich für eine kurze Besprechungsrunde, um die Ereignisse und Informationen des Tages auszuwerten.

„Und was heißt das jetzt im Klartext? Ich bin der Meinung, dass wir bei Fairburn kein Auge zudrücken können. Der pfuscht uns doch nur wieder dazwischen. Machen wir kurzen Prozess und fertig! Ich sehe keinen Zweck darin, dem Kerl weiterhin freien Spielraum zu lassen“, brüllte Moran mit geballten Fäusten, nach einer groben Zusammenfassung des Theaterbesuchs.

„Zügle etwas deine Brutalität. Die Entscheidung, wie wir mit diesem Mann verfahren, liegt nicht bei dir allein. Erst gut zuhören, dann handeln“, wies Fred ihn sogleich vernünftig zurecht.

„Fragen wir doch einmal Miceyla, bevor ich mich weiter zu ihm äußere. Du hattest ebenfalls die Gelegenheit, kurz unter vier Augen mit Clayton zu sprechen. Wie ist nun dein Eindruck über ihn?“, fragte William, seine Abmachung ihm gegenüber, verschwieg er vorerst.

„Also… Es ist schwer dies in Worten auszudrücken… Ich versuche dennoch, seine Persönlichkeit näher zu beschreiben. Ein äußerst kluger Mensch ist er, der sich nicht viel aus den Meinungen anderer macht. Recht zukunftsorientiert denkt er und findet die gesellschaftlichen Ungleichheiten, ebenso abstoßend wie wir. Negative Gefühle treiben ihn an. Ich vermute, dass ihm besonders racheähnliche Gelüste keine Ruhe lassen. Seine gespielte positive Ausstrahlung, versucht er auf sein Publikum zu übertragen. Außerdem wirkt er trotz seiner offenen Art sehr distanziert, wenn es darum geht engere Kontakte zu knüpfen. Das fiel mir auf, als er sich mit ein paar Frauen unterhielt. Er sträubt sich gegen jegliche romantischen Gefühle und scheint allerdings ein waschechter Feminist zu sein, da er Frauen einen höheren Stellenwert zuschreibt, als sie ihn erhalten. Kurzum, von Claytons Handlungen kann keiner behaupten, dass sie ebenso gut oder böse, wie die unseren seien. Ein wenig schade finde ich es schon, dass wir keine Zusammenarbeit mit ihm einfädeln können. Sein Wissen wäre eine gewinnbringende Bereicherung für uns.“, beschrieb Miceyla detailgetreu seine verborgenen Charakterzüge.

„Ein Feminist sagst du… Dafür hat er dich in Lambeth aber ziemlich grob angepackt…“, äußerte Albert sich am Rande.

„Danke für deine ausführliche Beschreibung. Ich bin mit dir ganz einer Meinung. Nur würde Clayton niemals mit uns kooperieren. Für ihn ist es unabänderlich, dass er der alleinige Bestimmer seiner Pläne ist. In dieser Hinsicht könnte er es unter keinen Umständen über sich bringen, Abstriche zu machen. Jedenfalls wird sein schauspielerisches Talent, die Herzen der Menschen zu bewegen, uns noch von Nutzen sein. Wie wir allerdings letztendlich mit ihm verfahren und ob er zum Makel unserer Pläne wird, hängt von seinem wahren Vorhaben ab. In der nächsten Woche, werde ich mein Urteil darüber fällen“, entschied William und lächelte verschwiegen.

„Nächste Woche…? Und hast du denn gar keine Bedenken, dass Clayton oder diese Irene, etwas vor Sherlock ausplaudern könnten? Ich sehe da eine ganz deutliche Gefahr. Launisch sind sie schließlich allesamt“, meldete Louis sich besorgt zu Wort.

„Keine Bange, Bruder. Was hätte Clayton schon momentan davon, mit Sherlock aus dem Nähkästchen zu plaudern. Fairburn liebt die große Bühne und setzt seine Hiebe gezielt dorthin, wo es am meisten schmerzt. Und Holmes setzt sich eigenständig mit der Materie, seiner ungelösten Fälle auseinander, ohne dabei auf Beihilfe zu hoffen. Eine eiserne Entschlossenheit, besitzen jedoch alle beide. Wir behalten die Lage ununterbrochen im Blick und können jederzeit die Gefahr eindämmen, falls sie auszubrechen droht. Das Band unserer Gemeinschaft, kann von niemandem zerstört werden. Hiermit löse ich nun die Runde auf. Es wird Zeit, dass wir uns etwas ausruhen, schließlich war es ein langer, nervenstrapazierender Abend“, beschloss William, als er all die müden Gesichter vor sich sah.

„Ich vertraue deinem Instinkt. Trotzdem fände ich es erstrebenswert, ein scharfes Auge darauf zu haben, dass die zwei Egomanen, uns nicht in einer ausweglosen Zwickmühle einkesseln“, sagte Moran erinnernd zum Abschluss und lief mit einer Flasche Cognac in der Hand, hinauf in sein Zimmer.

„Will, ich gehe auch schon mal ins Schlafzimmer. Ich gestehe, dass mich der Tag sehr erschöpft hat“, verriet Miceyla ihren ausgelaugten Gemütszustand und tat sich schwer damit, die Augen noch länger offen zu halten.

„Selbstverständlich, meine Liebe. Gehe dich bitte ausruhen. Aber ehe ich es vergesse, hätte ich noch einen Apell an dich. Halte dich vorerst von Clayton distanziert, solange ich keine weiteren Anweisungen gebe. Es dient zu deiner eigenen Sicherheit“, antwortete William und lächelte verständnisvoll.

„Gewiss, Vorsicht ist besser als Nachsicht. Ich werde deiner Bitte Folge leisten“, erwiderte Miceyla sogleich.

„Nicht doch, dies ist zur Ausnahme mal ein Befehl. Verzeih, wenn das etwas gestochen klingt, doch steht zu viel auf dem Spiel Du hast nicht immer Schutz um dich herum…“, korrigierte er sie leicht beharrlich.

„Natürlich… Ich kann dich voll und ganz verstehen“, meinte sie daraufhin nickend.

„Schlafe gut und habe süße Träume“, wünschte Albert ihr noch, in einem unvergleichbar sanften Ton. Mühsam schleppte Miceyla sich in ihrem unpraktischen Kleid, welches ihr mittlerweile mehr als nur unbequem vorkam, die Treppenstufen empor. Heilfroh war sie, sich nun endlich auskleiden zu dürfen. Als sie ihr knöchellanges Nachthemd anhatte, öffnete sie

die oberste Schublade ihres Schreibtischs und überlegte, ob sie ihren Tagebucheintrag auf den nächsten Tag verschieben sollte. Doch entschied Miceyla sich rasch dagegen. `Nein, die heutigen Ereignisse müssen sofort verschriftlicht werden, ehe neue dazukommen.` Gerade wollte sie ihr Tagebuch herausnehmen, da fiel ihr ein hübscher Briefumschlag auf, der darunter lag. `Der Brief ist von Albert…` Lächelnd legte sie sich auf das Bett und öffnete sorgfältig den Umschlag. An den Rändern des darin befindlichen Papieres, waren wunderschöne Dahlien in Korallfarben abgebildet. Ihr Herz klopfte freudig, als sie begann seine schöne Schrift zu lesen.

Liebe Miceyla,

du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich über deinen ersten Brief gefreut habe. Es beschäftigt mich, aus was für einer Perspektive, du unsere Einstellungen und die daraus resultierenden Fortschritte, der Eingriffe in das Klassensystem siehst. Ich bin dankbar, dass du offen deine Sorgen ansprichst. Du musst wissen, dass wir mit möglichen Fehlschlägen rechnen und das nicht alles immer perfekt verlaufen wird. Daher benötigt William unsere vollste Unterstützung, um Rückschläge wieder auszugleichen. Er ist genauso ein Mensch wie wir es alle sind, mag seine Intelligenz auch noch so überragend sein. Verwundbar ist er dennoch. Daher braucht er deine liebevolle Güte. Mehr als ich es tue… Wir können nur spekulieren, was noch alles auf uns zukommen wird. Unsere Zuversicht kann uns jedoch keiner nehmen. Meine liebe Eisblume, ich bitte dich von ganzem Herzen, deinen sturen Willen zu behalten, egal wie hart dir eine Situation vorkommt. Zwar ist jeder für sein eigenes Glück verantwortlich, aber mit Zusammenhalt kommen wir am weitesten. Nur ein einzelner Mensch braucht den richtigen Weg einzuschlagen, mögen die anderen dem auch keine Zustimmung schenken. Aber nach und nach folgen sie ihm und zeigen Einsicht. Ohne Zwänge über sein Leben frei entscheiden zu können, sollte für jedermann selbstverständlich werden. Drum lache stets, verliere niemals dein zauberhaftes Lächeln. Du wirst sehen, eines Tages lacht die ganze Welt mit dir und dein Lächeln wird sich in den Herzen der Menschen einprägen. Du bist stark, eine wahre Kämpferin. Ich bin unendlich stolz, dass du Teil unserer Familie geworden bist. Das Leben gleicht oftmals einem Kampf, doch kann es dennoch wunderschön sein, wenn wir nur all die positiven Güter dieser Welt nicht vergessen und dankbar bleiben. Ich hoffe meine Worte geben dir Kraft, denn auf diesem Wege, können wir beide uns zu jeder Zeit nah sein.

Dein Albert

Miceyla drückte den Brief an sich und schloss lächelnd die Augen.
 

Der nächste Tag begann mit einer viel größeren Heiterkeit, als sie erwartet hatte. Nach dem Frühstück lief sie auf den Balkon, um etwas frische Luft zu schnappen. Es war ein milder Apriltag und sie genoss den Anblick auf die himmlischen Kirschblüten, welche vor dem Anwesen in voller Blüte standen. Miceyla war glücklich und dankbar darüber, gerade dort an jener Stelle stehen zu dürfen. Auch wenn die Erinnerung an die bittersüße Vergänglichkeit,

ihr immer wieder zuflüsterte.

„Du kamst als ich dich rief, während ich ziellos durchs Leben lief. Meinem Dasein gabst du einen Sinn, nun gehe ich befreit zu dir hin. Mein Schmerz brannte wie Feuer, die Hoffnung war mir noch nie geheuer. Ich folge dir auf deinem Wege, mächtige Gefühle ich für dich hege. Unsere Träume erzählen eine Geschichte, auf das die Liebe eine strahlende Zukunft für uns herrichte…“ Es packte Miceyla plötzlich der Drang zu singen und so sang sie. Alsbald fühlte sich ihr Herz losgelöst an und wurde von jeglichen Sorgen befreit. `Ich vergaß wie schön es ist zu singen. Sollte ich vielleicht öfters die Gelegenheit dazu ergreifen…? Vor allem wenn mir keiner zuhört und mich die Einsamkeit packt`, dachte sie schwermütig und glaubte gerade alleine zu sein. Doch als sie sich an dem Geländer des Balkons umdrehte, erstarre sie, da sich einige Zuschauer vor der Tür versammelt hatten. William, Albert, Louis, Moran und Fred, sie standen einfach allesamt da und hatten schweigend gelauscht. Die ganze Situation war für Miceyla furchtbar unangenehm und sie trippelte peinlich berührt auf der Stelle.

„W-was belauscht ihr mich denn hier alle, mit solch einer unschuldigen Miene? Wie lange steht ihr schon da?“, stotterte sie nervös.

„Lange genug um zu wissen, dass in diesem Haus eine Elfe mit einer Engelsstimme lebt“, sprach Albert mit schwärmerischem Blick.

„Du singst wunderschön… Es ist eine Wohltat dir zuzuhören“, meinte Louis mit einem entspannten Gesichtsausdruck. `Ich muss wohl träumen… Ein Kompliment von Louis!` Miceyla konnte kaum glauben, was ihre bloße Stimme gerade vollbracht hatte.

„Singe bitte öfters. Ich fände es schade, wenn keiner etwas von deinem versteckten Talent mitbekäme“, ermutigte Fred sie lächelnd.

„Tja Wirbelwind. Wir haben Sonntag und sind ausnahmsweise mal alle hier. Also ist es recht absehbar, dass wir eine kleine Showeinlage von dir mitkriegen“, sprach Moran frech.

„Ha, ha, Meister. Das klingt ja fast so, als hättet ihr nur darauf gewartet, mich singen zu hören. Denn ein wenig verdächtig, finde ich eure plötzliche Massenversammlung schon“, erwiderte Miceyla und lachte verlegen. William der bislang geschwiegen hatte, trat zu ihr auf den Balkon und zog sie mit einem Arm zärtlich an sich.

„Mein Liebling, was hältst du davon nächste Woche Dienstag, vor einem großen Publikum zu singen? Du erhältst deinen eigenen Auftritt im Regenbogenschwingen-Palast. Ganz London wird mit Begeisterung, von deiner zauberhaften Stimme sprechen. Dies wird auch deinem Bekanntheitsgrad als Schriftstellerin zugutekommen“, schlug er mit geübter Überzeugungskraft vor.

„W-wie kommst du denn auf einmal darauf? Das wäre bereits übermorgen! Und dann auch noch ohne vorher viel geübt zu haben, vor einer solch gewaltigen Menschenmenge singen… Will, du überschätzt mich… Garantiert hast du das mit Clayton ausgemacht. Was ist nun der wahre Grund, weshalb ich dort im Theater auftreten soll?“, fragte sie völlig perplex.

„Da stecken zwei Gründe dahinter. Zum einen wird es ein kleiner Wettbewerb, bei dem du Irene Adler übertreffen musst, damit es zu einer ausführlicheren Unterredung, zwischen mir und Clayton kommt. Zum anderen ist deine Chance auf einen eigenen Auftritt, eine Wiedergutmachung, weil er in Lambeth so korrupt mit dir umgesprungen ist. Das brauchte er gar nicht auszusprechen, ich weiß es einfach. Außerdem muss ich dich dazu nicht groß überreden, da für dich ein geheimer Wunsch in Erfüllung geht. Habe ich recht?“, sprach William liebevoll und legte etwas den Kopf schräg. Miceyla lächelte verlegen und musste sich eingestehen, dass sie nichts dagegen einzusetzen hatte. Eine solche Chance ihr Gesangstalent unter Beweis zu stellen, bekam sie nicht alle Tage.

„Ich habe ja praktisch keine Wahl, wenn du dadurch über den weiteren Werdegang entscheiden kannst. Für dich wäre ich bereit, ausnahmslos jedes Risiko einzugehen, da ich weiß wie wertvoll diese Opfer sind. Nun… Ganz allein auf einer riesigen Bühne zu stehen und dabei von hunderten Menschen angestarrt zu werden, ist dennoch eine nicht zu

verkennende Herausforderung…“ Ihr Blick fiel nachdenklich auf Albert und sogleich sahen seine tiefgrünen Augen sie beruhigend an. Gemächlich lief Miceyla zu ihm hinüber.

„Das ist zwar alles etwas kurzfristig… Aber wenn es wirklich zu einem angekündigten Auftritt von mir kommt, möchte ich die Sache ernst nehmen und alles richtig machen. Und nichts wäre mir dabei eine größere Hilfe, als wenn du mich auf dem Klavier begleiten würdest. Mir gäbe es Mut zu wissen, dass sich jemand den ich gut kenne, in unmittelbarer Nähe befindet. Solltest du die Güte besitzen, mir für die kurze Zeit auf der Bühne beizuwohnen, müsste ich mich den durchlöchernden Blicken des Publikums, nicht vollkommen alleine stellen. Clayton hat bestimmt nichts dagegen“, bat Miceyla ihn um einen Gefallen, den sicherlich niemand so elegant mit Bravour bewältigen könnte wie er. Albert legte sanft seine linke Hand auf ihre Schulter und fasste sich mit seiner rechten Hand an sein Herz.

„Meine liebe Eisblume, es wäre wie ein wahr gewordener Traum, mit dir zusammen aufzutreten. Du darfst ein Stück wählen, welches deine Stimmer perfekt untermalen wird. Wir werden…nein `du` wirst den Zuschauern ihren Atem rauben. Zaubere mithilfe deiner harmonischen Stimme, Glück in die trüben Herzen der Menschen. Die Bühne wird zu deinem eigenen Schlachtfeld und deine Stimme zu einer unbezwingbaren Waffe, die von Gerechtigkeit und dem Elend dieser Welt erzählt. Nirgendwo anders kann man sich so effektiv Gehör verschaffen, als in einem gut besuchten Theater. Zwei Tage reichen uns zum proben aus. Denn schließlich beherrschen wir unsere Leidenschaften fehlerfrei im Schlaf“, kam er ihrer Bitte liebevoll, mit überschwänglicher Bereitschaft entgegen.

„Albert, keine Worte dieser Welt, können meine Dankbarkeit dir gegenüber ausdrücken. Ich werde singen und kämpfen. Es sei euch gesagt, dass ich das Schlachtfeld ohne Furcht betrete und mich mit erhobenem Haupt, den kritischen Meinungen der egoistisch eingestellten Gesellschaft stelle. Und ihr habt mein Wort, dass ich siegreich aus dem Kampf hervorgehen werde, zum Wohle unserer zusammengeschweißten Gemeinschaft“, verkündete Miceyla verantwortungsbewusst ihren Freunden und war dabei stolz auf sich selbst, den Mut zu besitzen, sich unbekannten Herausforderungen zu stellen. Sie spürte, wie sie innerlich von dynamischer Stärke und neugewonnenem Selbstvertrauen strotzte.
 

Am Tag vor ihrem großen Auftritt, nutzte sie die verbliebene freie Zeit zwischen ihren Proben mit Albert, um mit der Kutsche in die Innenstadt zu fahren. Da ihr zweitägiger Aufenthalt mit William in Durham ausfiel. Dabei dachte Miceyla hin und hergerissen darüber nach, ob sie nun Sherlock einen Besuch abstatten sollte oder nicht. Während sie unschlüssig darüber durch die Straßen lief, entdeckte sie auf einmal Irene, die gerade ein Geschäft verließ. Sofort war Miceyla in Alarmbereitschaft und versteckte sich hinter einer Hauswand. Von dort aus beobachtete sie, wie Irene in ihrem vornehmen, dunkelblauen Kleid zielstrebig in eine schmale Gasse einbog. Ihre Neugierde und ihr Instinkt trieben sie dazu, der zwielichtigen Frau zu folgen. Miceyla gelang es unentdeckt zu bleiben, während sie Irene verfolgte, welche morgen im Theater ihre Konkurrentin sein würde. `Sie ist keine gewöhnliche Frau. Wenn ich mehr über sie herausfinden könnte, käme das auch William zugute.` Allmählich stellte Miceyla bei ihrer Verfolgung fest, dass sie sich langsam der Baker Street näherten. `Sie will doch nicht etwa?!` Jegliche Zweifel wurden eingeräumt, als Irene das Haus von Sherlock und John betrat. Emily ließ sie ohne längere Diskussionen hinein. `Was mache ich denn jetzt? Ich muss erfahren, was sie bei ihnen zu schaffen hat. Aber befördere ich mich nicht in eine kritische Lage, wenn ich da nun auch noch hineinspaziere? Andererseits kann es nicht viel schlimmer als am Samstag enden. Nur darf ich nicht vergessen, dass diese Frau mich alles andere als gut leiden kann und ich habe ebenfalls schon nettere Zeitgenossen kennengerlernt…`, dachte sie angestrengt nach. Dennoch lief Miceyla gefasst auf die Haustür zu, bevor sie noch länger zögerte. `Ich lasse mir von nichts und niemand, den Besuch bei meinen Freunden verderben!` Sie atmete tief durch und zog entschlossen an der Türklingel. Einige Minuten musste sie dort vor der Tür ausharren, ehe Emily ihr mit dezent gereizter Miene öffnete.

„Hier hat man aber auch wirklich keine Ruhe! Nicht mehr lange und ich drehe durch!... Oh! Miceyla! Entschuldige mein ruppiges Verhalten. Doch eine gewisse aufdringliche Dame, besitzt mal wieder die dreisten Nerven, es sich hier bequem zu machen und Unruhe zu stiften. Ich nehme an du weißt, von welcher aufschneiderischen Frau ich spreche. Komm nur herein, falls du dir dieses Tohuwabohu antun möchtest“, sprach sie misslaunig und bemühte sich trotzdem um einen freundlichen Ton.

„Ha, ha… Ruhig Blut Emily. Ich habe Irene zufällig in der Stadt gesehen und folgte ihr hierher. Und dann ist sie mir tatsächlich zuvorgekommen, euch einen Besuch abzustatten. Leider weiß ich nicht viel über ihre wahre Natur, doch ich bin drauf und dran dies zu ändern. Vor allem werde ich nicht zulassen, dass sie Sherlock auf der Nase herumtanzt. Übrigens freue ich mich sehr, nach einigen turbulenten Ereignissen wieder hier zu sein. Frei Zeit ist nämlich in meinem stramm strukturierten Tagesablauf, wie immer nur spärlich zu finden“, meinte Miceyla lächelnd und merkte mittlerweile, dass die Nervosität, sobald sie an ihren morgigen Gesangsauftritt dachte, sie hibbelig werden ließ.

„Lass dich nicht unter Druck setzen. Du weißt, dass wir immer auf deiner Seite sind“, versuchte Emily sie etwas aufzumuntern. Miceyla zog ihren Hut, mit lila Federn darauf aus und legte ihre cremefarbenen Handschuhe ab. Dann stieg sie zügig die Treppenstufen empor. Sie hörte bereits die helle Stimme von Irene, die sich wie Gift in ihren Ohren anfühlte.

„So trifft man sich wieder, Irene Adler. Und ich grüße euch, Sherlock und John“, sagte sie tapfer und platzte mitten ins Wohnzimmer.

„Ha, ha, es wird langsam voll hier. Hallo Miceyla, gesell dich zu uns“, begrüßte John sie teils belustigt, teils beunruhigt.

„Oha… Na das kann ja jetzt heiter werden. Ein Zufall jagt den nächsten. Ich grüße dich, Mia“, sprach Sherlock mit einem erzwungenen Lächeln. Und anhand seines leicht genervten Gesichtsausdrucks konnte sie ablesen, wie unwohl er sich bei so viel weiblichen Besuch fühlte.

„Nein, welch eine Überraschung! Mrs Moriarty, wir beide müssen wahrlich telepathische Fähigkeiten besitzen, da wir zur selben Zeit den gleichen Ort besuchen. Oder suchen Sie bloß detektivischen Rat, um Informationen weiter zu geben?“, sagte Irene mit gekünstelter Freude bei ihrem Hereinplatzen und erhob sich übertrieben euphorisch von ihrem Sitzplatz. `Dein schauspielerisches Gehabe zieht bei mir nicht. Behalte deine manipulierenden Griffel lieber bei dir, sonst verbrennst du dir noch an meinem eisernen Willen, deine hübschen Hände`, dachte Miceyla zähneknirschend und versuchte sich dennoch weiterhin höflich ihr gegenüber zu verhalten. Kindisches Gezanke unter Gleichaltrigen, wäre ein anmaßendes Verhalten für eine gebildete Lady. Plötzlich räusperte sich Emily, die mit einer Teekanne und Tassen auf einem silbernen Tablett, vor der Wohnzimmertür stand.

„Mögen die Damen vielleicht Tee?“, erkundigte sie sich aufmerksam.

„Aber gewiss, meine werte Mrs Hudson. Ihr selbstgebrauter Tee mundet mir so vorzüglich, wie kein anderer in London.“, bejahte Irene sofort strahlend Emilys Angebot. Ohne jegliche Begeisterung für ihre lobenden Worte, stellte sie schweigend die Tassen auf dem Tisch ab und schenkte den dampfenden Tee ein. Anschließend lief sie zu Miceyla, die noch immer abseits der Tischgruppe stand und sich bislang nicht dazu gesellt hatte.

„Ich kann diese Frau einfach nicht ausstehen. Für wen hält die sich eigentlich, dass sie glaubt sich auf solch unmanierliche Weise, bei Sherlock einzuschleimen zu können?“, flüsterte Emily ihr beleidigt ins Ohr.

„Auch ich kann sie nicht leiden. Jedoch sind es gerade jene Menschen wie sie, welche mit ihrem schamlosen Durchsetzungsvermögen am weitesten kommen“, antwortete Miceyla ihr leise.

„Nana. Lästern gehört sich nicht. Wir trinken alle denselben Tee und teilen den gleichen Ärger mit den Männern. Drum lasst uns Freundinnen sein! Nichts geht über ein idyllisches Teekränzchen, oder Sherly?“, meinte Irene lächelnd, an einen empathisch wirkenden Sherlock gerichtet. Dieser vergrub für einen kurzen Moment den Kopf in seinen Händen. Dann blickte er wieder mit grimmiger Miene in die Runde.

„Raus! Allesamt raus, sofort! Bei diesem ganzen Frauenauflauf, kann ja keiner einen klaren Gedanken fassen! John, ich wäre dir sehr verbunden, wenn auch du kurz den Raum verlassen würdest“, befahl er diskret, um weiteren Chaos aus dem Weg zu gehen. Ohne Protest verließen John und Irene ihre Plätze. Auch Miceyla wollte etwas gekränkt hinauslaufen, doch wurde sie noch ehe sie die Tür erreichte zurückgehalten.

„Warte Miceyla, du darfst bleiben“, sprach er wieder ruhiger. Überrascht drehte sie sich zu ihm herum.

„Ach herrje. Sherlock sieht in dir noch nicht einmal eine richtige Frau“, rief Irene ihr noch kichernd zu, ehe sie endlich das Zimmer verlassen hatte. Miceyla warf ihr einen wütenden Blick zu und fühlte sich noch erniedrigter als zuvor.

„Hach… Ruhe…“, seufzte Sherlock und schloss erleichtert die Tür.

„Was machst du denn für ein bekümmertes Gesicht? Lass dich von Irenes Aufmüpfigkeit doch nicht niedermachen. Du bist viel stärker. Sage dir einfach immer: `Hochmut kommt vor dem Fall`. Na hopp, lass uns in mein Zimmer gehen“. Mit zartem Lächeln folgte sie ihm und erkannte erstaunt seine Rumpelkammer kaum wieder.

„Nanu? Du hast aufgeräumt?! Ich sehe zum ersten Mal richtig den Boden! Und atmen kann ich auch! Du machst Fortschritte, ich bin stolz auf dich“, sagte sie mit amüsierter Begeisterung und klopfte ihm lobend auf den Rücken.

„Jetzt übertreib mal nicht. So grauenvoll hat es hier vorher gar nicht ausgesehen. Ich wollte meinen Experimentiertisch etwas erweitern und ich nutzte die Gelegenheit, für einen verspäteten Frühjahrsputz. Ich habe einige Versuche geplant, bei denen du mir assistieren kannst“, erzählte er ihr aufgeregt und grinste über das gesamte Gesicht. Miceyla teilte seine Freude, jedoch verdüsterte sich ihre Stimmung kurz darauf wieder.

„Darauf freue ich mich schon. Aber… Du wusstest also, dass Irene zu Besuch kommt und hast alles extra auf Hochglanz gebracht…“

„Wie bitte?! Du glaubst doch wohl selber nicht, dass ich für diese Furie auch nur einen Finger krumm mache!“, erwiderte Sherlock entrüstet.

„Ha, ha, ist ja schon gut. Doch woher und wie lange kennt ihr euch eigentlich? Du wirkst ein wenig zurückhaltender, wenn sie zugegen ist. Bewunderst du Irene etwa? Es gibt nicht viele Frauen, die es wagen ihren gerissenen Verstand, bei den dominanten Männern einzusetzen, wie sie es tut…“, murmelte sie leise.

„Oh Mann. Ich bewundere Irene nicht. Komm, setzen wir uns erst mal.“ Sherlock ließ sich auf seinem Sofa nieder und bedeutete ihr mit einer winkenden Handbewegung, es ihm nachzutun. Miceyla nahm neben ihm Platz und war gespannt, was er ihr zu erzählen hatte.

„Irene traf ich das erste Mal im Spätsommer des letzten Jahres. Aufgrund ihrer schauspielerischen Gabe, durchschaut sie die Tricks von anderen in Nullkommanichts. Es war auch dasselbe Jahr, in dem der Meisterverbrecher auffällig aktiv wurde und ich Nachforschungen über Clayton Fairburn anstellte. Zu ihm verrate ich dir mal ein paar Fakten, die dich bestimmt ebenfalls interessieren. Er wurde 1856 nahe Pembroke in Südwales geboren und war ein Einzelkind einer bescheidenen Adelsfamilie. Um die existenziellen Sorgen zu begleichen, stellte die Familie Fairburn ihre Dienste viele Generationen, in die einflussreiche Grafenfamilie Granville. Mir scheint das Clayton einen guten Draht zu seinen Eltern gehabt haben muss. Denn er trat in die Fußstapfen seines Vaters und studierte Physik an der Oxford Universität. Jener verstarb vor sieben Jahren. Seine Todesursache geht leider aus keinen meiner Aufzeichnungen hervor. Seine Mutter ist zwar noch am Leben, doch erblindete sie und verfiel dem Wahnsinn. Ein zusammenhängender Punkt mit dem Schicksal der Eltern, ist möglicherweise das beinahe zeitgleiche Ableben, der jüngsten Tochter von den Granvilles, Lydia. Ich versuche so gut es geht, die Vergangenheit von Clayton zu durchleuchten. Denn der bisherige Lebensweg, ist das Spiegelbild eines jeden Menschen. Es formt die eigenen Ideale, aus denen die vermeidlich unbegreiflichen Beweggründe entspringen. Wie du siehst ist es ganz simpel, da immer nur eine Wahrheit existiert, die es herauszufiltern gilt. Sobald ich den Namen des Meisterverbrechers kenne, werde ich dasselbe mit ihm tun. Aber eventuell benötige ich diesen noch nicht einmal dafür… Nun aber zurück zu Clayton. Nach seinem Studium zog er nach London und errichtete hier ein Waisenhaus, in dem ausschließlich Mädchen aufgenommen werden. Um seine finanziellen Mittel aufzustocken, eröffnete er zusätzlich sein eigenes Theater, bei dem er Arbeit und Leidenschaft unter einen Hut bringen konnte. Dies war ihm alles nur möglich, da er dank seiner sympathischen Redegewandtheit, unterstützende Hilfskräfte, in allen Schichten der Gesellschaft für sich gewann. Auch Irene ging ihm Tatkräftig zur Hand. Wirklich wählerisch war Clayton diesbezüglich nie. Er ist ein Mann, in dessen Herz es sehr düster aussieht und dennoch versucht er der Welt eine positive Farbpracht zu verleihen und begegnet jedem Mädchen mit aufrichtiger Würde. Sein Ziel könnte ganz simpel Rache sein. Denn sonst nähme er nicht in Kauf, sich die Hände schmutzig zu machen. Clayton verabscheut eigentlich was er da tut und weiß nur all zu gut um die Schuld Bescheid, welche er auf sich lädt. Aktuell kann ich nur sagen, dass ich ihn vorerst noch weiter beobachten werde, ehe ich meinen Zug mache. Die Kaltblütigkeit des Meisterverbrechers, erscheint mir dagegen doch wesentlich barbarischer. Radikal die Befehlsgewalt des Adels ausmerzen zu wollen, führt auf Dauer zu keiner ausbaufähigen Grundlage, um der Arbeiterklasse mehr Rechte zu gewähren. Wie dem auch sei, gut Ding will Weile haben. Der Weise zieht seine Kraft aus der Geduld. Obwohl ich manchmal selbst etwas über die Stränge schlage. Doch bei meinen jetzigen Kontrahenten, muss ich jeden meiner Schritte penibel genau überdenken. Denn mindestens einer wird am Ende den Kürzeren

ziehen, so viel steht fest. Tut mir leid Mia, dass du dir mal wieder eine Moralpredigt von mir, über dich ergehen lassen musstest. Aber du bist eine unschlagbar gute Zuhörerin, die mir nicht ins Wort fällt und meinen Gedankengängen folgen kann“, schilderte Sherlock entspannt seine bisherigen Recherchen. Miceyla hörte sofort heraus, wie sehr er sich für Clayton interessierte und das nicht nur im negativen Sinne. `Na jetzt weiß ich auch, was Clayton das Geld aus den Taschen zieht. Wenn er für die Unkosten eines ganzen Waisenhauses aufkommen muss, ist es kein Wunder das er dauerpleite ist`, dachte Miceyla bewundernd für dessen aufopferungsvolle Hingabe.

„Aller Achtung, vor dir ist wirklich keine Biografie sicher. Vielen Dank, dass du deine Informationen mit mir teilst. Und nein, ich spiele keine Spionin und gebe alles an William weiter. Dies habe ich gar nicht nötig. Man weiß nie, ob er bereits mehr in Erfahrung gebracht hat… Nun mag ich mich dir auch anvertrauen. Es geht um morgen…“, begann sie nervös und ihre Blicke trafen sich flüchtig.

„Du wirst morgen im Theater singen, ich weiß. Irene hat damit geprahlt, dass sie dich haushoch in den Schatten stellen wird. Ich frage erst gar nicht, was Clayton und dein William, im Geheimen für ein Scharmützel geplant haben. Doch ich für meinen Teil kann dir nur ans Herz legen, diese Chance zu genießen. Wie ich immer sage, schmeiße auch mal die pessimistischen Gedanken über Bord und erkunde die aufregenden Seiten des Lebens. Sonst wirst du dich eines Tages, über all die verpassten Möglichkeiten ärgern. Dich einmal auf der großen Bühne singen zu hören, wird ein fantastisches Erlebnis. Heißt de facto ich gehe morgen abermals ins Theater. Und jetzt denke nicht wieder, ich würde wegen Irene dort hingehen. Die gesamte Stadt kennt ihr Showtalent. Doch bald wirst auch du in aller Munde sein. John und Mrs Hudson werden mich natürlich sofort unaufgefordert begleiten, sobald ich deinen Auftritt erwähne“, versprach er und lächelte stolz

„Lieben Dank… Mir kommt das alles nur noch ein wenig unwirklich vor. Ich und auf einer riesigen Bühne singen… Da fällt mir ein, dass ich heute noch ausreichend Zeit zum proben nutzen sollte. Beim nächsten Mal leiste ich dir wieder länger Gesellschaft“, entschied Miceyla sich für einen zeitigen Aufbruch. Dabei fiel ihr Blick auf seine an der Wand angelehnte Geige. Sie konnte nicht anders als zu lächeln. `Violine wäre ebenfalls ein traumhaftschönes Begleitinstrument… Vielleicht ein anderes Mal…`, dachte sie verträumt und hatte dabei Sherlock vor Augen, wie er graziös auf diesem lieblichen Instrument spielte. Er folgte schweigend ihrem Blick und lächelte ebenfalls still vor sich hin.

„Dann werde ich dich hier nicht länger festhalten. Bis morgen und schlafe heute Nacht ausreichend“, verabschiedete er sich umsichtig und geleitete Miceyla zur Tür. Eigentlich wollte sie sich noch von Emily und John verabschieden, jedoch fehlte von beiden jegliche Spur. `Ich glaube die beiden haben sich vor dem mürrischen Sherlock, in dem Keller versteckt, ha, ha`, dachte sie belustigt und schlug den direkten Weg zu ihrer wartenden Kutsche ein. Gerade bog Miceyla an einer Hausecke ab, da stand sie plötzlich abermals Irene gegenüber und kam gezwungenermaßen abrupt zum Stillstand.

„Sie sind ja noch immer in dieser Gegend! Warteten Sie hier etwa auf mich? Ich wüsste nicht, dass ich mit Ihnen noch etwas zu bereden hätte. Und mich vor dem morgigen Gesangsauftritt einzuschüchtern ist zwecklos. In meinem bisherigen Leben habe ich etliche Male gelernt, mich als Schwächere durchzusetzen“, begann Miceyla mit kühner Standhaftigkeit. Rasch musste sie aber feststellen, dass Irenes friedliches Antlitz, ihr alles andere als den Eindruck vermittelte, dass sie Streit suchte.

„Aber nein, Miceyla. Ich freue mich, in dir eine würdige Gegnerin gefunden zu haben und blicke mit ungeduldiger Erwartung, der morgigen Kostprobe deines Talents entgegen. Doch nun ist es meine Pflicht, mich bei dir zu entschuldigen. Ich habe dich im Theater feige angegriffen und verletzt. Sieht wohl ganz danach aus, als besäßest du von uns beiden eine bessere Selbstbeherrschung“, entschuldigte Irene sich mit überraschender Aufrichtigkeit. Miceyla fühlte sich von ihrer plötzlichen, gütigen Geste etwas überrumpelt. Jedoch sah sie ihr unverkennbar an, dass sie es ehrlich meinte.

„Entschuldigung angenommen. Auch ich verhielt mich leicht daneben und war ein klein wenig aufbrausend. Ich hoffe du vergibst mir mein voreingenommenes Verhalten. Danke das du mich als Rivalin anerkennst. Morgen werde ich mein Bestes geben und garantiert nicht verlieren!“, teilte sie Irene mit entschlossener Miene mit.

„Das höre ich doch gern. Du bist eine Frau, die ordentlich Mut und Selbstvertrauen besitzt, das gefällt mir. Genau solche Leute braucht diese träge Welt, um den Schwächeren aus der Patsche zu helfen. Aus dir kann noch viel werden. Dann sehen wir uns morgen im Theater. Und vergiss nicht, ich verhalte mich dir gegenüber nur vorerst rücksichtsvoll, weil es da jemanden gibt, dem du sehr am Herzen liegst. Und da ich für das Wohlergehen dieser Person mitverantwortlich bin, kann ich nicht zulassen, dass sie wegen dir in Sorge gerät. Also solltest du deinem Leben einen größeren Stellenwert zuschreiben und es dir zweimal überlegen, bevor du dich in Gefahr begibst. Der Tod wird bei uns allen, noch früh genug an die Haustür klopfen. Noch einen angenehmen Tag, Lady Moriarty“, verabschiedete Irene sich mit mysteriösem Lächeln und ging ihres Weges. Miceyla blickte ihr mit leicht gerunzelter Stirn, nach ihrem seltsam klingenden Worten hinterher.

„Ebenso, Lady Adler…“ `Diese Frau zu durchschauen, wird wohl härter als ich erwartet hatte. Und von welcher Person hat sie bitte gesprochen? Ich besitze keine in Vergessenheit geratenen Verwandten oder Freunde mehr, denen etwas an mir liegen würde… Meine jetzige Familie und neugewonnen Freunde, bedeuten mir mehr als alles andere auf der Welt. Auch ich sträube mich davor, geliebte Menschen und Gefühle zurücklassen zu müssen. Doch solange jene mit mir von dannen ziehen, habe ich damit kein Problem. Also, was gäbe es schon so Bedeutungsvolles, von dem ich nichts wissen sollte? Dann kann es ja gar nicht wirklich wichtig sein…`, dachte sie ein wenig naiv, um nicht wankelmütig zu werden und lief endlich zu ihrer Kutsche.
 

Bereits früh am Morgen erwachte Miceyla und atmete beim öffnen des Fensters, die kühle und frische Luft von draußen ein. Sie fühlte sich ausgeschlafen und bereit dazu, am Abend im Theater beim Singen gegen Irene zu revoltieren. Miss Moneypenny war wieder so zuvorkommend und würde sie erneut für ihren Auftritt herrichten. Die letzten Vorbereitungen waren erledigt und alles Notwendige besprochen. Gerade lief Miceyla an Alberts offenstehender Arbeitszimmertür vorbei und erwischte ihn dabei, wie er lächelnd an seinem glänzenden Flügel stand. Er ließ sich extra für diesen Tag von seiner Arbeit freistellen.

„Du scheinst den heutigen Abend, noch mehr als ich herbeizusehnen, habe ich recht?“, erkundigte sie sich heiter und trat andächtig in den Raum.

„Nun, es muss doch auch dich erleichtern, wenn meine Hände zur Abwechslung mal ein Instrument spielen, anstatt eine Waffe zu führen. Wäre eine Schande, solch löbliche Fähigkeiten verkommen zu lassen. Für dich spiele ich so oft es mir nur möglich ist. Fröhliche und traurige, dramatische und heitere Stücke. Wir versetzen unser Publikum mit jedem beliebigen Genre in Staunen. Jedoch gehört die Bühne ausschließlich uns, den Darstellern. Das von uns gespielte Stück kann niemand übertrumpfen“, sprach Albert enthusiastisch in die Zukunft blickend und sah sie liebevoll an.

„Wie wahr, zusammen sind wir unbesiegbar. Es gefällt mir sehr, dir beim Klavierspielen zuzusehen. Aber…als Soldat gefällst du mir immer noch am besten… Der starke und stattliche Beschützer, welcher jedem in der Not zur Hilfe eilt. Du trägst deine Waffe nicht um Leben zu nehmen, sondern um Gerechtigkeit walten zu lassen. Dasselbe gilt für William und die anderen. Es gab in der Geschichte keinen ehrenvollen Ritter, der dieses Schicksal nicht akzeptiert und zum Schwert gegriffen hätte. Wer in diesem Leben etwas verändern will und die Ungerechtigkeiten nicht auf sich beruhen lassen kann, muss kämpfen. Ganz egal ob man am Ende siegt oder verliert, das ist ohnehin subjektiv. Hauptsache keiner von uns gibt jemals auf“, offenbarte Miceyla Albert ihre eigene Einstellung und schenkte ihm dabei ein treues, liebenswürdiges Lächeln.

„Die tapfere Soldatin schlummert auch in dir. Denn wieso sonst, würden sich Bilder von dir auf dem Pfad eines Soldaten, in meine Vorstellungen einschleichen. Wenn du danach strebst eine Waffe zu führen, werde nicht einmal ich dich daran hindern. Schönheit ist nur dann vollkommen, wenn sie sich in ihrer eigenen Freiheit ungezügelt entfalten kann. Liebe Schwester, lass mich heute Abend deine Melodie sein, die deine zauberhafte Stimme beflügelt. Auf der Bühne werden wir eins…“, hauchte er unbeschreiblich sanftmütig, während er sich etwas zu ihr herabbeugte und seinen Kopf sachte gegen den ihren schmiegte.

„Ja, lieber Bruder… Lass uns zu einer harmonischen Melodie werden, dessen sinnliche Klänge, all unsere unerfüllbaren Träume in den Himmel emporsteigen lassen…“, flüsterte sie und schloss mit einem melancholischen Gefühl in der Brust die Augen.

Der vorüberziehende Nachmittag, läutete allmählich den Abend ein. Zwar hatte sie dieses Mal länger gebraucht, um sich in Schale zu werfen, jedoch war es von Nöten eine mehr als nur perfekte Erscheinung zu besitzen, wenn sie auf die Londoner Bühne trat. Ausgehfertig gesellte Miceyla sich zu ihren Kameraden, welche ebenfalls fein hergerichtet waren. Ihre Stimmung erheiterte ganz besonders, dass Moran und Fred sie dieses Mal als Gäste des Theaters begleiten durften.

„Seht nur, unsere umwerfende Eisblume, trägt heute ein wie für sie gemachtes himmelblaues Kleid. Der Mantel eines ewigen Winters hüllt dich ein, doch deine wohltuenden Töne, werden die eingefrorenen Herzen der Menschen erwärmen“, begrüßte sie Albert so überschwänglich wie eh und je.

„Wie recht du hast, Bruder. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Herz existiert, welches bei deinem bildschönen Anblick nicht dahinschmelzen würde, mein Liebling. Eine Erleichterung zu wissen, dass du zu mir gehörst. Und es war eine gute Entscheidung, heute deine Haare offen zu tragen. Dies untermalt prächtig deine unbeugsame Seele“, sagte William zärtlich mit einem Leuchten in den Augen, dass seine bedingungslose Liebe ihr gegenüber zum Ausdruck brachte. Liebevoll nahm er ihre rechte Hand und schmiegte sie sich an die Wange.

„Will…“, hauchte sie leise mit klopfendem Herzen und liebte ihn unendlich dafür, dass sie mit ihm diese aufregende Leidenschaft erleben durfte. Moran räusperte sich laut und verdrehte dabei etwas genervt die Augen.

„Genug Sentimentalität für einen Tag. Lasst uns aufbrechen, sonst wurden die ganzen Häppchen im Theater schon weggefuttert“, nörgelte er ungeduldig.

„He, he, ich finde als Schürzenjäger solltest du dich nicht so hartnäckig, gegen ein paar Lektionen in Sachen Liebe sträuben, um längerfristig Erfolge zu erzielen. Da musst du mir doch zustimmen“, zog Louis Moran lachend auf.

„Bei dir piepts wohl! Komm her, ich zieh dir die Ohren lang!“, fuhr dieser wütend aus allen Wolken.

„Hach…Moran… Dein peinliches Verhalten ist gesellschaftsuntauglich. Du lässt dich wahrlich so schnell provozieren, wie ein kleines Kind. Mir ist es schleierhaft, wie du es mit deinen rebellischen Charakterzügen bewerkstelligt hast, zum Oberst aufzusteigen…“, seufzte Fred zurechtweisend.

„Ha, ha, hier ist es wieder lebhafter denn je. Freunde, die Bühne wartet! Beweisen wir, dass kein professioneller Schauspieler uns etwas vormachen kann! Schließlich sind wir alle die wahren Meister unseres Werkes!“, verkündete Miceyla lebhaft und blickte erwartungsvoll in die Runde.

Im Regenbogenschwingen-Palast war mal wieder jeder einzelne Platz belegt worden. Nun packte Miceyla doch das Lampenfieber bei dem Gedanken, vor all diesen Menschen auftreten zu müssen. Selbst den allerkleinsten Patzer von ihr, würden alle mitbekommen. Glücklicherweise hatte sie gleich Albert an ihrer Seite. Ein vornehm gekleidetes Dienstmädchen führte sie in den Umkleideraum, um während des Auftritts von Irene letzte Vorbereitungen zu treffen. `Was Clayton wohl treibt…? Ich habe ihn noch nirgends gesehen…` Neugierig suchte sie ihre Umgebung nach ihm ab, doch sie erhaschte nicht die kleinste Spur von ihm. Nun saß Miceyla alleine im Raum an einem Frisiertisch und blickte hypnotisierend ihr eigenes Spiegelbild an. Die glasklare, bannbrechende Stimme von Irene, schallte zu ihr herüber. Und all die Jubelrufe des begeisterten Publikums, sprachen für sich. `Du liebe Zeit… Was habe ich mir da nur wieder eingebrockt? Wie soll ich ihr Talent, denn bloß noch übertreffen können? Oh Will… Was wenn ich letztendlich doch versage…?` Miceyla wurde die Zeit geraubt, um länger nervös zweifeln zu können, als das Dienstmädchen wieder vor ihr erschien.

„Mrs Moriarty, Sie werden nun auf die Bühne gebeten“, forderte man sie höflich auf, sich bereit zu machen.

„Jetzt schon…? Ist gut, denn ich sollte der Ehre mit Respekt begegnen, heute hier zu singen.“ `Die stundenlangen Proben, dürfen nicht umsonst gewesen sein. Ich habe nicht so hart an mir gearbeitet, um an diesem Abend jemanden zu enttäuschen.` Während Miceyla sich innerlich Mut zusprach, betrat sie eine halbdunkle Bühne, dessen Vorhang sich vor ihr noch unten befand. Mit einem vor Aufregung rasendem Herzen, betrachtete sie das am linken äußeren Rand stehende Klavier. Albert würde erst beim öffnen des Vorhangs die Bühne betreten. Sie zuckte am ganzen Leib, als jemand von hinten eine Hand auf ihre Schulter legte.

„Willkommen mein Sprössling des Verbrechens. Möge die Nachtigall heute aus ihrem Käfig befreit werden“, sprach Clayton so dicht neben ihrem Ohr, dass sie eine Gänsehaut bei der Intensivität seiner Worte bekam.

„C-Clayton! Guten Abend… Du hast dir wahrhaftig die Fähigkeiten, einer sich anschleichenden Katze angeeignet“, beschrieb Miceyla wachgerüttelt seine gewieften Tarnungskünste.

„Nun lernst auch du sie kennen, die eigens für dich errichtete Bühne der Einsamkeit. Du befindest dich im Zentrum und die gesamte Aufmerksamkeit deiner Zuschauer, richtet sich nur auf dich. Dennoch bleibst du für dein Publikum unantastbar. Du wirst zu einem Phänomen der Fantasie, das die Menschen kurzweilig unterhalten soll. Doch zurück bleibt lediglich der bittere Nachgeschmack von Einsamkeit, welcher sich auf ewig in dein Herz einbrennt, während du die rastlose Hülle deiner leblosen Seele, hinter einer ach so glücklichen Maske versteckst. Es ist schierer Irrglaube zu denken, da draußen warteten Gleichgesinnte auf dich, die dein düsteres Schicksal nachempfinden können. Reiner Irrsinn! All die Betrüger greifen mit ihren verdreckten, gierigen Händen direkt in die Herzen der Unschuldigen und entreißen ihnen jegliche Liebe und Hoffnung. Denn mein liebes Vöglein, die Menschen sind die größten Monster, welche unsere scheinbar so fantastische Welt jemals hervorgebracht hat. Bewahre deinen Glauben an das Gute, ehe du ihn verlierst, so wie ich ihn vor langer Zeit verloren habe… Wer es nicht schafft in seinem Leben ein Einzelkämpfer zu werden, muss sich auf einen verfrühten, qualvollen Tod einstellen…“, erzählte Clayton von seiner eigenen Sichtweise, auf die momentanen Lebensumstände. Miceyla war bestürzt und schockiert zugleich über seine drastische Wortwahl und hatte noch nie so viel Leid und Kummer auf einmal, in den Augen einer einzelnen Person gesehen, wie sie es gerade bei ihm sah.

„Hast du etwa eine solch triste Einstellung, zu deiner eigenen Arbeit, der Arbeit eines bekannten Schauspielers? Die etlichen von dir gespielten Stücke, sollten dir und deinen Zuschauern Freude bereiten. Deine Präsenz ist nicht bloß von kurzweiliger Dauer, nein! All deine übermittelten Botschaften, prägen sich in die Erinnerungen der Menschen ein. Du bist ein wertvoller Bestandteil unserer Londoner Gesellschaft. Zwar weiß ich nicht, was zu deiner pessimistischen Sichtweise geführt hat, doch du kannst gar nicht allein sein. Soweit ich weiß, rettest du junge Mädchen aus ihrer verwerflichen Lebenslage. Die Kinder werden alle zu dir halten und eine unersetzbare Dankbarkeit wird dir zuteil. Du besitzt ein gutes Herz, also bitte, gehe nicht so hart mit dir selbst ins Gericht“, versuchte Miceyla ihn von Mitleid gepackt ein wenig aufzubauen. Jedoch erkannte sie an seinem unzugänglichen Lächeln, dass dies keinerlei Wirkung bei ihm erzielte.

„Solch ähnlich rührende Worte hörte ich schon einmal… Ach mein Mädchen, du hättest auch noch Güte für den Teufel übrig. Du wirst deinen eigenen Untergang heraufbeschwören, wenn du nicht rasch lernst, dich etwas unnahbarer gegenüber Gefühlen zu verhalten… Nun aber genug geplaudert! Die Pause ist vorüber! Sing mein Vöglein, sing! Hauche diesem eingerosteten Theater, mit deinem wiederbelebenden Gesang neues Leben ein. Wunder bleiben lediglich ein Produkt unserer Fantasie, wenn wir sie nicht selbst erwecken…“, läutete er mit einer unterstreichenden Verbeugung, ihren in Kürze beginnenden Auftritt ein und schlich langsam wieder davon. Aufgewühlt blickte sie ihm nach. `Nun tun sich mir unendlich viele Fragen auf, mit denen ich Clayton bombardieren möchte. Ich muss mich jetzt wohl am Riemen reißen und mir diese für eine spätere Gelegenheit aufsparen. Doch eines steht nun für mich fest, ich werde die Geschichte über sein gebrochenes Herz in Erfahrung bringen, noch ehe William oder Sherlock handgreiflich werden und kurzen Prozess mit ihm machen. Diese Entscheidung lasse ich mir nicht nehmen…`, dachte sie eisern, als zeitgleich der schwere Vorhang hochgezogen wurde. Leises Gemurmel ging durch die Zuschauermenge, während diese das ihnen unbekannte Gesicht betrachtete. `Konzentriere dich. Nur ein Lied, aber jeder einzelne Ton muss sitzen`, ermahnte Miceyla sich. Doch sogleich wurde ihre Nervosität von Glücksgefühlen abgelöst, als Albert ehrwürdig die Bühne betrat und auf dem Hocker vor dem Klavier Platz nahm. Einen Moment lang tauschten beide lächelnde Blicke aus. `Deine Melodie und mein Gesang werden ihren Einklang finden. Und ein perfektes Lied wird daraus resultieren`, dachte sie startklar und sah mit einer aufrechten Körperhaltung geradeaus. Miceyla wusste, dass ihre Freunde gerade irgendwo vor ihr saßen, doch richtete sie ihre komplette Aufmerksamkeit auf ihre Stimme. Es breitete sich eine angenehme Wärme in ihrer Brust aus, als Albert den Auftakt des Liedes zu spielen begann und sie bei den ruhigen Klängen auf ihren Einsatz wartete.

„Hörst du mich? Spürst du nicht meine flehende Hand, die dich aufzuhalten versucht? Glück war uns hold, doch eisige Winde flüsterten uns längst eine Warnung zu. Den Wechsel der Jahreszeiten hat noch niemand aufhalten können und dennoch kämpfst du unbeirrt gegen den Strom der Zeit an. Du bist wie silbernes Sternenlicht auf gefrorenem Schnee. Du besitzt wärmende Güte, aber du erreichst damit die Verwundeten nicht. Dabei ziehst du eine brennende Blutspur hinter dir her und ich, einen endlosen Fluss aus Tränen. Wir sind Könige, führen die Klinge der Gerechtigkeit. Der Weg zum Frieden ist geebnet, doch der Tod befindet sich dicht auf unseren Fersen… Du kamst und nahmst mir meinen Schmerz. Besessen warst du davon, die Wunde dieser klagenden Welt zu schließen. Die größte Verletzung würde dich am Ende selbst ereilen. Noch immer lehrst du mich Vertrauen, während ich den Fehlern der Vergangenheit vergebe. Uns wohnt unermessliche Kraft inne, die Kraft Neues zu errichten und Altes zu zerstören. Für was wirst du dich entscheiden, wenn von der Liebe nur noch eine verblasste Erinnerung übrigbleibt? Gelobet hier und jetzt, dass ihr eure Waffen fallen lassen werdet und Feindseligkeit durch Wertschätzung ersetzt. Keiner von uns wird mit bloßer Macht unsterblich. Erkämpft euch die Anerkennung, doch bettelt nicht darum. Wie oft hat man mich verachtet. Wie oft wurde ich allein gelassen. Der Schmerz zerfrisst mich, bis nichts mehr von mir übrigbleibt. Öffnet eure Augen, schaut nicht weg beim Anblick des Elends. Nur die Gemeinschaft kann etwas verändern. Denn wir sind Könige, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Hörst du mich? Mein geliebter Lichtstrahl, geboren aus einem unscheinbaren Aschehaufen. Bei dir bin ich sicher, losgelöst von allen Sorgen. Vereinen wir unsere Wünsche, auf das uns bei der Morgendämmerung, eine geläuterte Welt begrüßen wird…“ Die letzte Strophe ihres dramatischen und fesselnden Liedes endete. Wie in Trance legte Miceyla sich eine Hand auf ihr rhythmisch schlagendes Herz und lauschte wie gebannt, dem von Albert gespielten Abspann. Ihr Werk war vollbracht und während sie auf das Resultat wartete, erspähte sie nun endlich Sherlock, der in einer der vordersten Reihen saß. Unsagbar herzlich lächelte er ihr zu, ohne Worte teilte er ihr mit, dass er ihren Gesang mehr als nur genossen hatte. John und Emily saßen mit Tränen in den Augen gerührt neben ihm. `Meinen Freunden hat das Lied gefallen. Für mich ist dies schon ein Sieg…`, dachte Miceyla glücklich und hätte ihren gerade empfundenen Stolz, nicht in Worte fassen können. Ihr Blick wanderte zwei Reihen weiter vor, wo William zwischen Louis, Moran und Fred saß. Bei dem magischen Moment, alsbald sich ihre anziehenden Blicke trafen, erinnerte sie sich abermals an die erste schicksalhafte Begegnung zurück. Niemand könnte seinen liebevollen Gesichtsausdruck übertreffen, der so voller Hingabe war und nur ihr allein galt. `Mein geliebter Will, dank dir stehe ich nun hier. Allmählich vertraue ich darauf, dass wir gemeinsam alles erreichen können…` Miceyla versuchte von den erstarrten Gesichtern des schweigenden Publikums abzulesen, ob ihr Lied nun einen positiven Eindruck hinterlassen hatte oder die übermittelte Botschaft alle erschüttert hatte. Noch ehe sie ein genaueres Urteil darüber fällen konnte, erhob sich die gesamte Zuschauermenge und applaudierte zeitgleich mit begeisterten Blicken. Es kam ihr beinahe schon unwirklich vor, dass der ganze Beifall für sie bestimmt sein sollte. Diesen Augenblick würde sie nie mehr vergessen. Wer sie war schien für jedermann zweitrangig zu sein, man lobte sie ausschließlich für ihren Gesang. Freudestrahlend blickte sie zu Albert, der ihr nickend zulächelte. `Wir haben es geschafft! Unser Lied hat ein Wunder vollbracht!`, dachte Miceyla überglücklich und wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, doch riss sie sich vor all den Menschen zusammen.

Auf einer der oberen Logen stand Amelia und blickte mit einem wehmütigen Lächeln hinab auf die Bühne zu Miceyla. `Das Bauernmädchen ist zur Königin aufgestiegen. Fest entschlossen kämpft sie um Rang und Ehre. Der König schenkte ihr eine gestohlene Krone. Die Feinde warten bereits darauf, mit dem Königspaar die Klingen zu kreuzen. Wer wird am Ende die Krone behalten? Auch ich werde viel verlieren, doch eines kann mir keiner rauben, die Erinnerung an deine wunderschöne Stimme…` Mit diesem Gedanken wandte Amelia sich ab und verließ die Loge.

Miceyla hatte das Gefühl, der Applaus wollte gar nicht mehr enden, als sie zusammen mit Albert die Bühne verließ.

„Ich gratuliere zum Sieg. Wie nur schwer zu überhören ist, haben sich die Leute über ein neues Gesicht in der Theaterbranche sehr gefreut. Meine Erwartungen hast du jedenfalls nicht enttäuscht. Für eine Anfängerin besitzt du ein ungewöhnliches Talent. Nur die Besten der Besten schaffen es hier bei uns, längerfristig die Bühne zu besteigen. Wer nicht den hohen Ansprüchen von Matador Muscari gerecht wird, kann ganz schnell wieder das Handtuch werfen und sich von seiner Theaterkariere verabschieden“, lobte Irene sie ehrlich, jedoch setzte sie dabei wieder ein vorwarnendes Lächeln auf.

„Vielen Dank für solch rühmende Worte. Und das bekomme ich auch noch von einer Frau zu hören, die weitaus mehr Erfahrung als ich, auf dem Gebiet der Unterhaltung besitzt. Ich kann mir sicher noch das eine oder andere von dir abschauen. Es gibt stets viel zu lernen, um die eigenen Leidenschaften zu perfektionieren“, dankte Miceyla ihr zufrieden und war froh über ein Lob der erfahrenen Irene. Dennoch wusste sie das es besser wäre, weiterhin in ihrer Gegenwart wachsam zu bleiben. So einfach würde Miceyla ihr nicht vertrauen können…
 

William betrat zur selben Zeit einen Balkon des Theaters, auf dem sich niemand außer Clayton aufhielt. Er hatte seine Arme ineinander verschränkt, während er dort angelehnt am Geländer stand und ihn mit schiefgelegtem Kopf angrinste.

„Glückwunsch! Wer hätte gedacht, dass Ihre geliebte Miceyla ein solches Gesangstalent ist… Aber wir wussten ja beide, wie das heutige Wettsingen ausgehen würde. Trotzdem lade ich Sie nachher auf ein Glas Champagner ein“, gratulierte Clayton ihm feierlich.

„Sie sind zu freundlich, Lord Fairburn. Das Angebot eines wahren Gentlemans, nehme ich dankend an. Doch nun wüsste ich gern, wann und wo Sie gedenken, unser kleines Duell plangemäß auszuführen. Zwar sind Sie der Verlierer, dennoch mag ich Nachsicht zeigen und Ihnen die Wahl von Zeit und Ort überlassen“, sprach William mit höflichem Lächeln.

„Zu gütig der werte Herr. Wahrlich Formidabel! Sie müssen zweifellos den perfekten Ehemann aus einem Bilderbuch abgeben. Aber wie ich immer zu sagen pflege: Die hellste Sonne, wirft die größten Schatten... Nun, ich hatte dafür gleich den morgigen Tag vorgesehen. Ich kenne da einen behaglichen Ort, an dem man sich herrlich nach Sonnenuntergang ungestört unterhalten kann…“, verriet Clayton ihm und kniff seine Augen leicht verschwörerisch zusammen. William verstand nur zu gut, worauf er hinauswollte und grinste ihn dämonisch an.

„Ich bin ganz Ohr…“
 

Eine schwere und dicke Wolkenfront, bedeckte am nächsten Tag den gesamten Himmel. Man konnte nur schwer sagen, ob die Sonne bereits am untergehen war. Denn vom Morgen bis in die frühen Abendstunden, herrschte bereits eine düstere Atmosphäre. William marschierte an dem Gewölbeeingang, einer großen unterirdischen Krypta vorbei und betrat die vertrocknete Rasenfläche eines verlassenen Friedhofs. Das lärmende Gekreische der umherfliegenden Krähen, war das einzige Zeichen von Leben in der Umgebung. Er blieb mit der Ruhe weg stehen, als er mit seinen rubinroten Augen Clayton erspähte, der es sich etwas von ihm entfernt, auf einem Grabstein bequem gemacht hatte. Und er hielt schon erwartungsfreudig seinen langen, gezogenen Degen fest umklammert.

„Hoffentlich habe ich Sie nicht allzu lange warten lassen. Sie besitzen wirklich ein Faible für das Drama und einen seltsamen Geschmack, was groteske Orte betrifft. Ein Friedhof für Adelige also…“, sprach William mit vorwurfsvollem Lächeln, bei der Ankunft am vereinbarten Ort ihres Duells.

„Ist doch recht treffend, nicht? Hier liegen jede Menge bedeutende Persönlichkeiten begraben. Vom einfachen Wissenschaftler und Architekten, bis hin zum ehemaligen Mitglied des Parlaments, ist hier alles dabei. Jedenfalls… Mag mein Name auch nicht von bedeutungsvoller Abstammung sein, durch meine Adern fließt dennoch das Blut eines gebürtigen Adeligen. Doch wie sieht es bei Ihnen aus? Haben Sie überhaupt das Recht, um an diesem Platz begraben zu werden? Ich hege da so meine Zweifel… Ob Sie nun den gerissenen Hochstapler spielen oder nicht, kann mir letztendlich egal sein. Denn wissen Sie was? Diese verfluchte Ständegesellschaft, interessiert mich einen feuchten Dreck!“, zischte Clayton mit einer ungezügelten Wut, welche allerdings nicht William galt und richtete seinen Degen auf ihn.

„Mit dieser Einstellung erhalten Sie bei mir größte Genugtuung. Beginnen wir nun unser kleines Frage-Antwort-Spiel, oder wollen Sie vorher noch ein paar Gräber besichtigen? Den Toten soll ihre Ruhe vergönnt sein“, meinte William beharrlich und zog angriffsbereit die Klinge aus seinem Spazierstock.

„Wir werden ja sehen, wie viel Luft Ihnen noch zum Plaudern übrig bleibt… Denn leider ist mir heute nicht nach Zurückhaltung zumute.“ Mit diesen energischen Worten sprang Clayton von dem Grab und ohne weitere Vorbereitungsmaßnahmen, preschte er direkt auf seinen gelassen wirkenden Gegner zu. William gelang es gleich zu Beginn des Gefechts, die wohlüberlegten Hiebe von ihm zu parieren. Jedoch wich er von dessen Durchschlagskraft überrascht ein wenig zurück.

„Meine Hochachtung. Mir war von Anfang an klar, dass Sie Fechten nicht bloß für Ihre Schauspielkünste trainierten. Man wird Sie bereits in jungen Jahren, ernsthaft darin unterwiesen haben. Ihr Vater muss für Sie ein unangefochtenes Vorbild gewesen sein…“, meinte William herausfordernd.

„Sie nehmen wie immer den Mund ganz schön voll. Verschonen Sie mich mit Ihrem hellseherischen Gefasel! Noch wissen Sie rein gar nichts über mich oder meine Gefühle. Doch ich gestehe es als Wohltat zu empfinden, mich mit jemandem zu duellieren, der noch weiß wie man eine Klinge zu führen hat. Bedauerlicherweise dient Fechten heutzutage, größtenteils als Zeitvertreib der Obrigkeit. Lassen Sie uns aber langsam mal zur Sache kommen! Also, was bezwecken Sie mit Ihren ganzen, aufwendig eingefädelten Tötungsdelikten an Adeligen? Welches Hirngespinst wollen Sie damit in die Welt setzen? Die Meinungen über den Meisterverbrecher sind sehr gespalten. Ich sehe keinen Sinn darin, den ehrenvollen Vollstrecker für die Armen zu spielen. Dadurch werden sie auch nicht reich und der Adel stirbt durch eine Handvoll weniger auch nicht aus“, stellte Clayton hemmungslos die entscheidende Frage und attackierte ihn weiter.

„Ihre Zweifel sind berechtigt. Doch lassen Sie mich das Konzept meines Plans kurz und knapp erläutern. Es geht mir darum, die alleinige Befehlsgewalt dem Adel zu entreißen, um sich auf eine menschenwürdige Zusammenarbeit, mit den unteren Klassen einzulassen. Dafür inszenieren wir auffällige Morde, damit wir die Verwerflichkeit der Reichen, dem gesamten Volk vor Augen führen. Und wir die Moriartys, werden somit zu einem gemeinsamen Feind der beiden Schichten, den sie nur bezwingen können, wenn sie sich zusammenrotten und Hand in Hand dagegen ankämpfen. Jeder in diesem Land verdient seine Freiheiten und eine Chancengleichheit. Wir gehen langsam aber sicher auf die nächste Jahrhundertwende zu. Da wird es Zeit, dass die Menschen endlich mal mit dem vernünftigen Denken anfangen“, schilderte William zügig seine Ideale und wurde dennoch beim Fechten nicht annähernd unaufmerksam. Während Clayton die gerade gewonnenen Informationen zu verarbeiten versuchte, bemühte er sich darum, weiterhin keinen der gegnerischen Hiebe zu ihm durchdringen zu lassen.

„Aha… Ich verstehe… Mir geht ein Licht auf. Und Sherlock Holmes hat an Bekanntheit gewonnen, da er Ihre mysteriösen Fälle auflöst. Es hagelt ständig neue Schlagzeilen über ihn. Nun ja, ein solch ehrenvolles Ziel verfolge ich nicht. Tun Sie sich keinen Zwang an, wenn Sie glauben durch Ihre Mittel und Opfer, etwas an dieser verdorbenen Welt ändern zu können. Da vernichte ich lieber weiterhin im Geheimen das niederträchtige Gesindel und helfe an Orten, wo Ihr scharfes Auge nicht hinreicht. Denn auch Sie können nicht überall gleichzeitig sein“, erwiderte er ein wenig abwertend und glaubte vorerst nicht an eine Bewältigung, seines schwer umsetzbaren Plans.

„Sie helfen wo Sie nur können und scheuen sich nicht davor, gegen die Gesetze zu verstoßen. Dies ist das größte Indiz dafür, dass auch Sie etwas verändern wollen. Mein Ziel kennen Sie jetzt. Ich bin gespannt darauf, nun Ihres näher erläutert zu bekommen“, stellte William die Gegenfrage und genoss es in einem Kampf auf Augenhöhe, sein komplettes Potenzial entfalten zu können.

„Mir entgeht nicht, dass es für Sie längst offensichtlich ist. Rache… Den einzigen Sinn, welchen ich noch in meiner Existenz sehe. Sagt Ihnen der Name Harley Granville etwas?“, offenbarte Clayton ohne Scheu seine wahren Absichten und kämpfte unermüdlich weiter mit ihm. William riss erstaunt die Augen weit auf, bei der Erwähnung jenes Namens.

„Nun, jedem Bürger des Vereinigten Königreichs, sollte der Name des amtierenden Premierministers ein Begriff sein. Sie brauchen mir keine ausführlicheren Details darüber zu verraten, warum Sie nach dem Leben dieses Mannes trachten. Auch so weiß ich, dass er Leben auf dem Gewissen haben muss, für die Sie sich rächen wollen und nicht ruhen, ehe er seinen letzten Atemzug getan hat…“, fuhr er weiter für Clayton fort und konnte sich nur zu gut, in dessen aufgebrachte Gefühlslage hineinversetzen.

„Setzten Sie ihn gar nicht erst auf Ihre Liste. Um ihn kümmere ich mich persönlich. Ich kenne ihn lange genug, um zu wissen wie ich mit ihm fertig werde. Nur ist ein Attentat auf den Premierminister kein Unterfangen, das man mal eben schnell erledigen könnte. Daher benötige ich Zeit. Oder wie Sie nun sagen würden: Es muss perfekt geplant werden. Schon wieder dieser Blick… Schauen Sie mich nicht so an, als könnten Sie die Gefühle für meine Absichten nachempfinden. Glauben Sie, dass Sie allen überlegen seien und Ihnen ständig jede Tat, leicht von der Hand gehen wird? Ja mir ist bewusst, auch Sie sind in ihrem Leben oft, mit den Ungerechtigkeiten dieser Welt konfrontiert worden, sonst hätten Sie nicht solch extreme Denkansätze. Jedoch haben Sie alles erreicht und bekommen, was immer Sie wollten. Pures Glück, nichts weiter. Aber… Wissen Sie denn auch wie es ist, etwas Geliebtes zu verlieren? Kennen Sie den Schmerz, etwas für immer loslassen zu müssen? Sich machtlos zu fühlen und glauben, an einer überwältigenden Trauer ersticken zu müssen? Nein! Nein, Sie kennen all diese entsetzlichen Gefühle nicht! Auch Sie erleben schon noch den Tag, an dem Sie etwas Unersetzbares verlieren und mit der puren Verzweiflung konfrontiert werden… Stellen Sie sich nur einmal vor, Miceyla würde in ihren Armen sterben. Könnten Sie dann noch länger unbeirrt durchs Leben wandern und an Ihren heiligen Plänen festhalten? Dieses Szenario ist gar nicht mal so unwahrscheinlich, bei der ganzen Gefahr, welcher Sie Miceyla aussetzen. Wenn…wenn Sie nicht bereit sind, für die Liebe zu sterben…haben Sie auch keine verdient!“, schrie Clayton von Argwohn gepackt und steigerte sich immer mehr, in seine eigenen verletzten Gefühle hinein. Erbarmungslos brachte er William blitzschnell in eine Verteidigungsposition und zielte geradewegs auf seinen ungeschützten Hals. Clayton rechnete damit, dass er sich unter seinem Hieb wegducken würde. Doch zu dessen großen Erstaunen, blieb er nur lächelnd wie versteinert auf der Stelle stehen und bot sich seinem Gegner mit keinerlei Gegenwehr an. Verwirrt schaffte es Clayton nicht mehr rechtzeitig, seinen kraftvoll ausgeholten Degenhieb zu stoppen und schnitt ihm mit seiner Waffe, eine tiefe Wunde in die Schulter. William verzog kurz schmerzverzerrt das Gesicht, woraufhin er seinen Widersacher allerdings wieder kühn anlächelte.

„Wieso…wieso sind Sie meinem Schlag nicht ausgewichen? Das wäre für Sie kein Problem gewesen. Ich hätte Sie lebensbedrohlich verletzen können“, sprach er aufgewühlt und hielt regungslos seinen Degen fest, dessen Spitze sich noch immer in Williams blutender Schulter befand.

„Niemals würden Sie mich ernsthaft verletzen, geschweige denn mir das Leben nehmen. Da Sie im Hinterkopf haben, dass dann für Miceyla eine Welt zusammenbräche“, meinte William ruhigen Gemüts. Clayton schüttelte lächelnd den Kopf und zog nun endlich seine Klinge von ihm zurück und steckte sie weg.

„Sie sind ja doch ein wahrer Teufel… Seien Sie froh, dass es noch einen weiteren Teufel gibt, der Ihnen übergeordnet ist“, sagte dieser seufzend und blickte schwermütig hinauf zum düsteren Himmel.

„Und… Vielleicht gibt es ja eine Person außer mir, die bereit wäre für Miceyla ihr Leben zu

opfern…“, fügte William noch mit trister Miene hinzu. Verwundert richtete Clayton wieder seinen Blick auf ihn. Doch als er die Bedeutung seiner Worte begriffen hatte, lächelte er ihn verständnisvoll an.

„Scheint mir, als hätten Sie erst durch die Begegnung mit Miceyla gelernt, was es bedeutet ein Herz zu haben. Die Lektion der Liebe, ist die wichtigste im Leben. Vergessen Sie das nicht, William James Moriarty“, sprach er gewissenhaft zum Abschluss und wollte sich nun von ihm abwenden. Aber William hielt ihn mit einem weiteren Anliegen zurück.

„Clayton, ich hätte da noch eine Bitte. Würden Sie Miceyla in Ihrem Theater arbeiten lassen? Eins, zwei Auftritte von ihr die Woche, werden Sie schon miteinplanen können. Sie brauchen doch das Geld, richtig? Und Miceyla wäre ebenfalls sehr erfreut darüber. Aber vor allen Dingen weiß ich nun, dass Ihr Theater ein sicherer Ort für sie ist. Zusätzlich gäbe uns dies vorerst, einen triftigen Grund für eine Waffenruhe“, schlug er taktvoll vor. Abrupt blieb Clayton stehen und drehte sich wieder mit einem gerissenen Grinsen zu ihm herum.

„Ha, ha, ha! Netter Vorwand um mich auszuspionieren! Schön, schön, dann soll es so sein. Doch das ich diesen Gefallen nicht für Sie tue, ist wohl selbsterklärend. Unsere unterschiedlichen Pfade, bleiben damit auch zukünftig miteinander verwoben. Wir schreiten weiter voran in Richtung eines Schicksals, voller Höhen und Tiefen…“
 

William kehrte bei Einbruch der Nacht wieder in das Moriarty-Anwesen zurück und stellte beim eintreten überrascht fest, dass sich alle im Eingangsbereich versammelt hatten, um ihn zu empfangen.

„Willkommen daheim! Wie verlief das Gespräch mit Clayton? Wir haben bereits während wir warteten, etliche Spekulationen aufgestellt und…! Du wurdest verletzt! Ich habe es ja geahnt! Geht es dir gut? Das sieht sehr schmerzvoll aus…“, platzte es bestürzt aus Miceyla, beim Anblick seines blutverschmierten Anzugs und sie rannte gemeinsam mit Louis sorgenvoll auf ihn zu.

„Aber nein ihr Lieben, beruhigt euch bitte wieder. Diese Stelle auf der Schulter verheilt im Nu. Ich erzähle euch gleich alles“, sagte William besänftigend und legte liebevoll einen Arm um Miceyla, deren bekümmertes Leuchten in den Augen, ihm einen Stich ins Herz versetzte. `Keiner von uns wird vorzeitig den jeweils anderen im Stich lassen. Ich werde dich stark machen, meine geliebte Winterrose. So stark, dass du dank deines unbeugsamen Willens, frei und unabhängig leben kannst…`, dachte William wehmutsvoll und zog Miceyla lächelnd an sich.
 

Am nächsten Tag, half Miceyla ausnahmsweise einmal ohne Widerworte Louis bei der Arbeit und durfte anschließend als Belohnung, mit Moran im Wald trainieren gehen. Später am Nachmittag wartet sie dann, dass Albert und William von der Arbeit nach Hause kamen, um mit ihnen gemeinsam zu essen. Als es Abend wurde saß sie grübelnd an ihrem Schreibtisch und konnte ihre wirren Gedanken nur schwer verschriftlichen. Da trat gerade William ins Zimmer und sie blickte lächelnd zu ihm auf.

„Na meine Liebe. Die geeigneten Worte zu finden, ist oftmals selbst für den geübtesten Schreiber nicht leicht. Aber möglicherweise erhältst du hiermit ja neue Inspirationen… Dies ist mein Geburtstagsgeschenk für dich. Es wird dein Herz höherschlagen lassen, davon bin ich fest überzeugt. Mit einem herzlichen Lächeln überreichte er ihr ein kleines, silbern glänzendes Kästchen. Gerührt erhob sich Miceyla und nahm ihm verlegen sein Geschenk ab.

„Danke… Das ist sehr lieb von dir…“ Beim Öffnen der Schachtel begannen ihre Augen zu strahlen. Darin befand sich ein dunkellilafarbener Füller und als sie ihn herausnahm erkannte sie, dass auf der goldenen Federspitze ihr Name eingraviert war.

„Oh wie wunderschön! Nichts hätte mich glücklicher machen können! Ich danke dir, mein geliebter Will. Mit diesem Füller, verhelfe ich unseren Geschichten zu noch mehr Glanz…“, sprach Miceyla beflügelt und schloss kurz die Augen, ehe sie William entschlossen anblickte.

„Vertreiben wir all das Böse…“, begann sie zaghaft.

„…Und verhelfen der Welt zu rechter Größe“, fuhr er fort und nahm sie daraufhin zärtlich in die Arme.
 

Liebes Tagebuch, 21.4.1880

heute darf ich das erste Mal mit meinem neuen, zauberhaftschönen Füller schreiben. Auf magische Weise, werden meine Gedanken auf Papier festgehalten. Will ist wahrlich ein Engel, der genau weiß was mir am besten gefällt. Ich bin erleichtert, dass seine Wunde auf der Schulter schnell wieder verheilen wird. Es hätte alles noch wesentlich schlimmer ausgehen können. Uns stehen Kämpfe bevor, bei denen unsere Gegner nicht mehr so gnädig sein werden… Ich habe schreckliche Angst davor, dass sich einmal jemand von uns schwer verletzt… Mir wird übel, wenn ich nur daran denke… Doch ich sollte mich weiter um die Gegenwart kümmern. Auch meine Wunde auf der Wange verschwindet allmählich. Ich kann noch immer nicht fassen, dass Will mir angeboten hat, von nun an öfters im Theater zu singen! Er schaffte es tatsächlich, Clayton dazu zu überreden. Und ich musste schmunzeln als er hinzugefügt hatte, dass ich dort ganz bequem, aus nächster Nähe Clayton beschatten könnte, da ich mich ja bereits bei Sherlock weigere dies zu tun. Es stimmt aber, wir haben alle Vorteile dadurch. Denn nicht nur Claytons düstere Beweggründe, möchte ich besser verstehen lernen. Auch die Persönlichkeit von Irene, mag ich näher durchleuchten. In diesem Theater warten so viele Geheimnisse darauf gelüftet zu werden, dass ich kaum weiß, wonach ich zuerst Ausschau halten soll. Eine gute Gelegenheit, um mich an Sherlocks Methoden heranzutasten und meine eigene Auffassungsgabe zu schärfen. Das Will mich jetzt doch in die Nähe von Clayton lässt kann nur bedeuten, dass auch er sich nun davon überzeugt hat, dass er zwar den wankelmütigen Geist eines undurchschaubaren Schauspielers besitzt, der von viel Kummer geprägt wurde, wie wir ihn alle besitzen, doch in Wahrheit kein bösartiger Mensch ist. Die wahren Bösewichte warten da draußen auf uns. Wer jedoch letztendlich ein Feind oder Freund für uns ist, zeigt sich wohl erst dann, wenn aus dem Spiel bitterer Ernst wird… Falls mich jedoch meine Sorgen zu sehr belasten sollten, kann ich jeder Zeit Albert einen vertraulichen Brief schreiben. Der Gedanke daran spendet mir Trost.
 

Bühne der Einsamkeit
 

Die freudige Erwartung löst sich auf im Nebel,

eisige Luft durchdringt mich wie ein spitzer Säbel.

Die triste Bühne fällt in sich zusammen,

sie geht auf in grellen Flammen.
 

Wie ein leises Echo höre ich den letzten Jubel,

von dannen zieht der lebendige Trubel.

Lass mich erstrahlen in einem neuen Licht,

ohne das ich dabei aussehe wie ein winziger Wicht.
 

Ich verlor mich selbst in meiner Einsamkeit,

noch bin ich nicht so besonnen wie ihr es alle seid.

Mein eigener Verstand ist es der mich betrügt

Und das lechzende Flüstern das mich ständig anlügt.
 

Weiterleben ohne etwas zu bereuen,

mich nicht mehr vor dem Unbekannten scheuen.

Ein neues reines Herz wird erwachen

und die Welt erfüllen mit wunderbarem Lachen.

Verlorene Liebe

„Wir befinden uns im Krieg, meine Teuerste. Und um das alles durchzustehen, musst du tatsächlich zu einer Soldatin werden. Denn in diesem Krieg, wird keiner von uns Ruhm oder Ehre ernten. Von der Liebe wird auch nur eine flüchtige Erinnerung übrigbleiben. Und eine verloren Liebe, ist mit keinem Schmerz der Welt zu vergleichen…“
 

„Hereinspaziert, hereinspaziert! Ich heiße dich noch mal recht herzlich im Regenbogenschwingen-Palast willkommen. Auf eine gute Zusammenarbeit!“ Clayton schüttelte feierlich Miceylas Hand, während sich einige Schauspieler um sie beide versammelt hatten und freundlich lächelten.

„Ich bedanke mich für diese warmherzige Begrüßung. Es ist mir eine Ehre, mit euch allen zusammenzuarbeiten und die kunterbunte Welt der Schauspielerei kennenlernen zu dürfen“, dankte sie mit stolzem Lächeln und blickte neugierig die ganzen ihr unbekannten Gesichter an.

„Dann werde ich dich mal mit unserer Stammtruppe vertraut machen. Manchmal heuern wir noch Gastschauspieler oder Sänger an, die bei uns auftreten. Aber alle hier gerade anwesenden, sind fester Bestandteil meines Teams. Ich weiß ganz genau, dass ich mich auf jeden einzelnen von ihnen blind verlassen kann. Jeder von ihnen hat eine ganz individuelle Herkunftsgeschichte und besitzt langjährige Erfahrung in den verschiedensten Bereichen. Hier spielt Abstammung keine bedeutende Rolle. Wer sein Herz am rechten Fleck hat und mit Talent glänzen kann, wird bei uns mit offenen Armen empfangen. So, ich stelle dich nun mal jedem der Reihe nach vor. Die Schwestern Cataleya und Violet sind bezaubernde Tänzerinnen und beherrschen eine unnachahmliche Akrobatik. Die kleine Ivy schlüpft meistens in die Rolle eines Kindes. Olivias Spezialgebiet ist der Operngesang und sie hat einige atemraubende Zaubertricks auf Lager. Erin und Jaral sorgen dafür, dass die Bühnenbilder perfekt in Szene gesetzt werden. Hacor ist größtenteils für die Organisation und Verwaltung des Theaters zuständig und vergewissert sich, dass jede Vorstellung reibungslos vonstattengeht. Tirell und Yarik sind ehemalige Söldner und übernehmen Rollen, die mit einem größeren Gefahrenrisiko verbunden sind. Außerdem packen sie dort mit an, wo Kraft benötigt wird. Mit unserer Aktrice Saphira bist du ja bereits bestens vertraut. Die Drehbücher für jedes der einzelnen Stücke, schreibe ich persönlich. Wie du merkst, besitzt hier jeder einen Künstlernamen und wird auch nur mit solchem angesprochen. Ich könnte dir noch zu jedem von ihnen eine kurze Anekdote erzählen, aber die erfährst du auch, wenn du näher mit deinen neuen Kollegen ins Gespräch kommst. Nun denn, betritt die Bühne und scheue dich nicht davor, die Schattenseite des Lebens zu repräsentieren. Wir sind nicht bloß einfache Schauspieler, wir sind die Spiegelbilder aller düsteren Seelen der Menschen und mimen deren Ängste, Träume, Begierden und Sorgen. `Behalte stets den Überblick im Spiel, du gewinnst dabei sehr viel. Schaue immer nur nach vorn und nie zurück, dies beschert dir wesentlich mehr Glück. Sammle zu jeder Zeit nützliches Wissen, Überlegenheit wirst du dadurch niemals missen. Blicke deinem Feind direkt ins Gesicht und lache, ehe du ihn überfällst mit Rache.` Präge dir unseren Leitsatz gut ein, mein Vöglein“, sprach Clayton betonend und Miceyla erkannte dabei, dass sich hinter seinen gesprochenen Worten, noch eine weitaus tiefere Bedeutung verbarg. Es erschien ihr, als hätte er sich eine eigene Hoffnung erschaffen, um den stechenden Schmerz in seinem Herzen zu lindern. Doch es bescherte ihr ein stilles Lächeln, dass ebenfalls in dieser Theatergruppe, welche aus den ungewöhnlichsten Menschen bestand, der Zusammenhalt ganz groß geschrieben wurde. Nach ihrer beschaulichen Willkommensfeier, verließ Miceyla nachdenklich das Theater und vermied die menschenüberfüllten Straßen. Seitdem William erfahren hatte, dass Claytons Erzfeind, der Premierminister Harley Granville zu sein schien, verliefen seine Nachforschungen vorübergehend in eine ganz andere Richtung. Albert nutzte unter anderem seine Verbindung zu Mycroft, der in direktem Kontakt mit jenem bedeutsamen Mann stand. Doch bislang konnten keine vermeidlich kriminellen Machenschaften, von ihm aufgedeckt werden. Daher trat Sir Granville, als herausragende Persönlichkeit vor die Öffentlichkeit, welche mit verantwortungsbewusster Gewissheit, seinem wichtigen Amt nachging. Aber Miceyla beunruhigte der Gedanke, dass in dem Zeugen Clayton, die Wahrheit über Harley Granville schlummern musste. Was geschah wohl, wenn sie oder William diese erfuhren? Welchen Nutzen würden sie daraus ziehen? Es überkam sie die nicht zu unterdrückende Angst, dass sie und ihre Kameraden sich bei dem kleinsten Fehler, die gesamte Regierung zum Feind machten. War es denn wirklich notwendig einen Krieg anzuzetteln, nur um damit Frieden zu schaffen? Erneut plagten sie Zweifel, ob der Kampf für Gerechtigkeit nicht bloß als Vertuschung diente, um anderen die eigenen Ideale mit Gewalt aufzuzwingen. Ehe Miceyla sich wieder auf den Heimweg machte, wollte sie noch eine Kostprobe ihres neuen Manuskriptes, bei ihrem Verlag abgeben gehen. Auch ihre Einnahmen durch ihr erstes herausgebrachtes Buch konnten sich sehen lassen. `Mit ein wenig Unterstützung kann jeder Traum in Erfüllung gehen…`, dachte sie optimistisch und verließ gut gelaunt die kleine Buchhandlung mit dem freundlichen Verleger. Während sie leichtfüßig ihres Weges ging, riss sie ein zaghaftes Miauen aus ihren Träumen. Kurz darauf entdeckte Miceyla drei kleine Katzenkinder, die unter einer hervorstehenden Bordsteinkante Zuflucht gesucht hatten. Mit sorgenvollem Gesicht kniete Miceyla sich zu ihnen hinab.

„Oh weh, ihr Ärmsten… Euch liebenswerten Tierchen, wird viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ich scheine euch aber auch alle magisch anzuziehen. Was mache ich denn nun? Ich kann jetzt nicht einfach meinen Blick abwenden und weiterlaufen…“, seufzte sie mitleidvoll. `Will hat mir ausdrücklich verständlich gemacht, dass wir nicht jedes hilfsbedürftige Tier bei uns aufnehmen können. Wenn ich mit weiteren Katzen zu Hause ankomme, wird es wohl oder übel Ärger geben… Jedoch… Ich bekäme ein schlechtes Gewissen, würde ich sie nun hier zurücklassen. Bis ich für die drei ein neues Zuhause gefunden habe, verstecke ich die Kleinen und sorge für ihr Wohlergehen`, beschloss Miceyla und setzte die jungen, hungernden Kätzchen in ihre Tasche, welche genug Platz bot. Die Katzen ließen sie ohne Gegenwehr gewähren. Als sie beim Anwesen eintraf, huschte sie unauffällig die Treppe hinauf und lief geradewegs in ihr Ankleidezimmer. Luna und Lucy, die sofort ihre neueingetroffenen Artgenossen rochen, folgten ihr neugierig.

„Ha, ha. Ich komme aber auch wirklich immer auf die verrücktesten Ideen…“, meinte sie lachend und warf einen Blick auf ihre beiden Verfolgerinnen.

„Miceyla, komme bitte zu uns hinunter. Es gibt etwas Wichtiges zu besprechen!“ Sie erstarrte bei Louis‘ energischer Stimme und blickte panisch umher.

„Husch, husch! Ab mit euch in den Kleiderschrank! Keiner darf von meiner erneuten Rettungsaktion Wind bekommen!“ Hastig und dennoch sanft, versteckte Miceyla ihre drei Findlinge in dem Schrank, woraufhin Luna und Lucy an der Schranktür zu kratzen begannen.

„Bitte haltet inne! Ihr wollt mich doch nicht verpetzen“, ermahnte sie die zwei schmunzelnd.

„Sag mal bist du schwerhörig? Von mir bekommst du sicher keine Extraeinladung!“, befahl Louis gereizt, dessen Stimme sich nun unmittelbar vor der Zimmertür befand. Doch er war nicht alleine…

„Aber, aber, wer verliert denn da gleich so schnell die Geduld? Miceyla ist gerade erst nach Hause gekommen, lass ihr ein wenig Zeit“, besänftigte Albert ihn. Sie wollte schleunigst das Ankleidezimmer verlassen, da stieß sie mit William zusammen, der verwundert die Augenbrauen hochzog.

„Alles in Ordnung, meine Liebe? Normalerweise triffst du immer als eine der Ersten bei unseren Besprechungen ein. Ich weiß schließlich, dass deine Neugierde kaum zu stillen ist“, erkundigte er sich lächelnd und las innerhalb eines Wimpernschlages von ihren Augen ab, dass sie etwas zu verbergen hatte. `Schachmatt, ha, ha… Jetzt muss ich wohl meine Kapitulation eingestehen`, dachte Miceyla und fragte sich, ob es jemals möglich wäre, vor seinem scharfen Verstand etwas geheim halten zu können. Als ein gedämpftes Maunzen aus dem Kleiderschrank zu hören war, formten sich die Lippen der drei Brüder, zeitgleich zu einem breiten Grinsen.

„Jetzt komme mir nicht mit der Ausrede, dass diese Laute nur von unseren beiden Katzendamen kommen. Dann lass mich mal dein kleines Geheimnis lüften…“, meinte William mit einem neckenden Klaps auf ihre Schulter und lief zielstrebig zum Kleiderschrank. Etwas entmutigt sah Miceyla dabei zu, wie er diesen öffnete, woraufhin die drei quirligen Kätzchen sofort miauend ins Freie sprangen.

„Hach… Da bist du heute mal wieder durch die abgelegensten Gassen gelaufen. Ich teile ja deine Sympathie für Katzen, doch wenn du nun alle streunenden Tiere von ganz London ins Anwesen schleppst, entsteht dadurch ein merkliches Problem“, kommentierte Louis den Anblick der herumtollenden Katzenkindern mit gemischten Gefühlen.

„Es ist schwer, seine Gutherzigkeit im Zaun zu halten, nicht wahr? Und es gibt nichts unangenehmeres als Schuldgefühle“, fügte Albert hinzu und lächelte verständnisvoll.

„Ich habe es ja begriffen… Dann bringe ich die Katzen eben dorthin zurück, wo ich sie gefunden habe und überlasse sie ihrem Schicksal. Denn auf die Schnelle, werde ich wohl kaum einen neuen lieben Besitzer finden, der die Bereitschaft besitzt, verlauste Straßenkatzen aufzunehmen…“, gab Miceyla missmutig nach.

„Nicht doch, davon kann überhaupt gar keine Rede sein…“, widersprach William ihr nachdenklich.

„Und welche Lösung schlagt ihr dann vor? In dieser Stadt haben es sogar Waisenkinder schwer, einen Heimplatz zu finden. Wer schenkt da schon hungernden Tieren Beachtung…“, verfluchte Miceyla die grenzenlose Ignoranz der Menschen.

„Ich hätte da einen Einfall, der möglicherweise unser aller Interesse wecken könnte. Denn in Problemen entdecken wir stets verborgene Lösungen, die uns mehr als andere zum Erfolg führen. Wieso gründest du nicht eine Pension für Katzen? Also sozusagen ein Waisenhaus für Tiere, in dem sie aufgenommen werden und an neue, zuverlässige Besitzer vermittelt werden. Ein Unternehmen, welches deinen Namen trägt. Um das Startkapital und die finanziellen Angelegenheiten, kümmere ich mich selbstverständlich. Es wäre von großer Bedeutung, wenn in unserer Familie jemand eine wohltätige Aufgabe übernehmen würde. Da früher oder später die Ersten, meiner Scheinfirma auf die Schliche kommen werden. Du kennst gewiss die besagten Kandidaten dafür… Folglich stünde die Aufrichtigkeit der Moriartys auf der Kippe. Und dies wollen wir noch ein Weilchen hinauszögern. Du wirst damit als tüchtige junge Dame, sowohl bei deinen Konkurrentinnen, als auch bei den Herren in aller Munde sein und agierst als ein Vorbild, bei denen sich die faulen Adeligen, eine Scheibe abschneiden können. Siehe da meine liebe Eisblume, wir erschaffen uns in verzweifelten Situationen, neue Wege zum glücklichen Ziel. Zudem denke ich auch, dass es an der Zeit ist, dir eine verantwortungsvolle Aufgabe zu überlassen, bei der du dich ganz unabhängig von unseren geplanten Einsätzen entfalten kannst“, schlug Albert mit bestärkender Überzeugungskraft vor.

„Ich bin sprachlos… Gegen deine Argumente gibt es nichts einzuwenden. Und wieder einmal, würden wir einen solch nützlichen Vorschlag alle befürworten. Ein Haus für Katzen also… Das wird in London sicherlich einen positiven Eindruck hinterlassen. Großartig, lasst uns noch den nötigen Papierkram erledigen und Alberts grandioser Idee steht nichts mehr im Wege!“, gab Miceyla begeistert ihr Einverständnis und blickte daraufhin zu den verspielten Kätzchen, die dabei waren, mit den zwei etwas größeren Katzendamen Freundschaft zu schließen.

„Wunderbar gesprochen, mein Liebling. Pragmatisch und unkompliziert. Die Sprache, welche wir vier fließend sprechen. Nun können wir uns meinem Anliegen widmen und dieses kurz ausdiskutieren. Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen“, erwiderte William zufrieden und lief als Erster hinaus. Albert folgte ihm, nur Louis blieb noch einen Moment lang neben Miceyla stehen und blickte sie mit einem schelmischen Grinsen an.

„Na, sollen wir die drei kleinen Rabauken, derweil in Morans Zimmer unterbringen? Seine verschreckte Reaktion wäre bestimmt höchst unterhaltsam.“ Miceyla musste sich nach seiner sarkastischen Bemerkung, ein lautes Lachen verkneifen.

„Ha, ha! Ich rate dir, von diesem Einfall lieber abzusehen. Es sei denn du bist versessen darauf, in unserem Anwesen eine Tragödie heraufzubeschwören.“

„He, he, keine Bange. Das Wohlergehen der Kätzchen hat Vorrang. Ich werde Miss Moneypenny damit beauftragen, die drei in einem separaten Raum unterzubringen und zu versorgen“, versicherte Louis ihr pflichtbewusst und gesellte sich mit Miceyla zu seinen Brüdern in das Wohnzimmer.

„Gut, heute müssen wir einmal ohne die Anwesenheit von Moran und Fred auskommen, da die zwei sich zurzeit noch auf `Streifzug` befinden und erst spät in der Nacht zurückkommen werden. Zudem haben beide in den kommenden Tagen, bereits genug `Aufräumarbeiten` zu erledigen. Bei unserer nächsten Mission, tasten wir uns mal etwas an die gehobenere Liga der Infiltration und Spionage heran. Nicht das all die bisherigen Aufträge rein spartanisch gewesen wären. Doch sollten wir allmählich durchleuchten, welche Machthaber in Londons Regiment eigentlich zum Wohle des Volkes agieren oder nur eigennützige Interessen verfolgen. Die Werdegänge der oberen Befehlshaber im Parlament und beim Militär beherrschen wir im Schlaf. Dennoch muss langsam mal aussortiert werden, wer von ihnen den aufrichtigen Willen und die Selbstlosigkeit besitzt, das Vereinigte Königreich in eine gerechte Zukunft zu lenken. Es darf keine Person mit einem breit gefächerten Handlungsspielraum, bei unseren Plänen dazwischenfunken. Clayton gab uns nun erste Hinweise, aber anstatt einen direkten Attentat zu verüben wie er es anstrebt, der zu einer kritischen Spaltung in der Bevölkerung führen würde oder sogar einen Bürgeraufstand hervorrufen könnte, setzen wir unsere ganz individuellen Methoden ein. Eine geplante Exekution, lassen wir als letzte Option offen. Zu allererst sammeln wir so viele aussagekräftige Informationen, wie es uns nur möglich ist. Albert konnte in Erfahrung bringen, dass Harley Granville einen Verwaltungsassistenten besitzt, der sozusagen als seine rechte Hand agiert. Für diesen Mann

ist der Premierminister wie ein offenes Buch. Und um der Komplikation aus dem Weg zu gehen, eine Persönlichkeit mit unzähligen Bediensteten zu beschatten, wählen wir die bequemere Variante und infiltrieren das Anwesen des Assistenten, welches nur von einer Handvoll durchschnittlicher Angestellter instandgehalten wird, die wir mit Leichtigkeit ablenken können. Wir halten uns für dieses Unterfangen, einen Tag in der ersten Maiwoche frei. Heute ist der fünfundzwanzigste April, daher gehen wir die Sache ganz entspannt an und widmen uns parallel den nächsten Projekten. Und es reicht, wenn zwei von uns jenen Spionageakt übernehmen. Miceyla meine Liebe, du und ich werden die Auskundschaftung seines Anwesens in Angriff nehmen. Hm… Du schaust so überrascht wie ich es erwartet hatte. Freut es dich nicht, mit mir alleine einen spannenden Auftrag auszuführen oder macht es dich sogar nervös? Ich kann dir doch nicht ständig, den ruppigen Moran als Missionspartner zumuten“, offenbarte William die genaueren Details, seiner geplanten Spionage und blickte sie schmunzelnd an.

„Oh! Nein, nein! Ich meine…natürlich freue ich mich darüber! Sofern man sich über eine riskante Infiltrierung freuen kann, ha, ha. Ich bin auch neugierig, die Hintergrundgeschichte von Harley Granville zu erfahren. Deshalb werde ich dir tatkräftig zur Seite stehen!“, erwiderte Miceyla rasch und verlegen bemerkte sie, dass sie seinem innigen Blickkontakt, nicht lange standhalten konnte. `Was wäre eigentlich wenn…Albert und ich mal für längere Zeit alleine blieben? Sei es auf einer Mission oder hier im Anwesen? Bislang kam es nie dazu. Allerdings… Vielleicht versucht Will genau das zu vermeiden. Dennoch weiß ich ganz genau, dass dies nicht auf ewig so bleiben kann und wird. Wir sind ein Team, das einen ernsthaften Plan verfolgt. Daher muss jeder mit jedem professionell zusammenarbeiten können. Trotzdem… Das mulmige Gefühl in meiner Brust, will einfach nicht verschwinden…`, überkam Miceyla plötzlich dieser unangenehme Gedanke und sie warf instinktiv einen Blick zu Albert, der neben ihr auf dem Sofa saß, gegenüber von William und Louis. Völlig unerwartet bemerkte sie, wie seine grünen Augen sie ebenfalls tiefgründig anblickten. Errötet senkte Miceyla hastig den Blick. `H-hatte er etwa gerade dieselbe Vorstellung wie ich gehabt?!`, überlegte sie aufgewühlt und spürte Williams brennenden Blick auf sich ruhen.
 

Der nächste Tag begann mit warmem Sonnenschein und einem klaren Himmel. Miceyla hatte Fred darum gebeten, dass wenn er Zeit hätte, sie einmal zu Claytons Mädchenwaisenhaus zu führen, da er wusste wo sich dieses befand. Und wie sie es von dem freundlichen Jungen gewohnt war, erklärte er sich sofort bereit dazu.

„Es ist schon erstaunlich wie Clayton es schafft, zeitgleich ein Theater und ein Waisenhaus zu führen. Er muss doch bestimmt geheime Helfer haben, die ihm den Rücken stärken. Das alles alleine zu bewerkstelligen, finde ich nämlich etwas utopisch“, sprach Miceyla ihre Gedanken laut aus, während sie nach einer kurzen Kutschfahrt, mit Fred nun zu Fuß unterwegs war.

„Naja… Dieser Mann besitzt einen ähnlich stark ausgeprägten Willen wie William, um seine Ziele durchzusetzen. Mich beschäftigt eher etwas ganz anderes... Kurz gesagt, was passiert wenn die führende Person umkommt, welche sich das alles erarbeitet hat? Fällt dann alles in sich zusammen, weil niemand existiert, der dessen Träume auf die gleiche Weise fortführen könnte? Jeder Mensch ist unersetzbar…“, sprach Fred mit trüben Augen. Miceyla lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. `Leider hat er recht… Ein äußerst unangenehmer Gedanke, aber er entspricht der bitteren Realität. Was sind wohl die finsteren Konsequenzen für all jene Kinder, wenn ihr Retter versterben sollte…? Wer besucht noch ein Theater, dessen beliebtester Akteur nicht mehr auftritt…? Und…was passiert mit den ganzen genialen Plänen, falls William als Erster von uns…` Kopfschüttelnd zwang Miceyla sich dazu, diesen schauerlichen Gedanken zu unterbrechen.

„Oh! Wir sind ja schon da!“ Abrupt blieb sie mit Fred stehen, als sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein gepflegtes Gebäude sah, das nach einer kleinen, eingezäunten Schule aussah. Im Vorgarten befanden sich großflächige Blumenbeete mit Arten, welche eigentlich nur selten in London vorzufinden waren. Und in der Mitte befand sich sage und schreibe, ein ansehnlicher Springbrunnen, mit einer plätschernden Fontäne.

„Meine Güte! Das ist kein Waisenhaus, das ist ein richtiger Palast! Clayton hat wirklich alles drangesetzt, um kleine Mädchenträume wahr werden zu lassen“, staunte Miceyla bewundernd.

„Das stimmt. Dieses Haus ist das Produkt, welches durch seine Güte gegenüber den misshandelten Kindern entstanden ist. Ich würde dich ja sehr gerne mit hinein begleiten, denn ich habe Kinder ebenfalls sehr gern, doch kannst du dir bestimmt denken, weshalb ich davon besser absehe…“, meinte Fred und lächelte sie zaghaft an.

„Ja, ich verstehe schon. Als ein Junge würdest du von allen schräg angeschaut werden. Ob Clayton wohl der einzige Mann ist, der dieses Waisenhaus betreten darf? Ich finde jedoch, dass es für die Mädchen wichtig ist zu lernen, dass auf dieser Welt noch andere liebevolle männliche Wesen existieren. Und vor allem müssen sie lernen, sich beim stärkeren Geschlecht durchzusetzen. Diese Fertigkeit ist für jede Frau unabdingbar, um ein freies und unbestimmtes Leben zu führen. Uns Frauen fehlt es leider noch immer an den nötigen Rechten… Verzeih, das ich meine Meinung so unbekümmert ausgesprochen habe“, meinte sie ein wenig bedrückt.

„Du brauchst dich deswegen nicht zu entschuldigen. Deine offene Ehrlichkeit ist beachtenswert. Ich wünsche dir viel Spaß, bei deinem Aufenthalt in dem Waisenhaus. Vielleicht entdeckst du ja auch noch etwas Interessantes.“ Mit diesen letzten Worten verabschiedete Fred sich und ließ sie alleine zurück. `Dann wollen wir mal! Ich platze bereits vor Neugierde!` Gespannt darauf, was Miceyla nun erwarten würde, passierte sie das Eingangstor, auf dem oberhalb eine kupferfarbene Magnolienblüte abgebildet war. Einige der Mädchen nutzten das schöne Wetter und spielten lachend im Freien. Hübsche Kleider trugen sie und sahen alle sowohl körperlich als auch geistig kerngesund aus. Jedoch gab es auch Ausnahmen. Denn anhand der Gesichtsausdrücke und Statur konnte sie mühelos ablesen, welche der Mädchen schon länger an diesem Ort lebten und welche erst vor kurzem von ihrem Armutsleben befreit worden waren. Zwei der Jüngeren blickten Miceyla neugierig mit kugelrunden Augen an, während sie von drei älteren Mädchen misstrauisch angestarrt wurde. Sie lächelte den Kindern nur freundlich zu, ohne sie mit ihrer Stimme zu verschrecken, da sie genau wusste, dass jedes von ihnen traumatische Erlebnisse durchgestanden hatte. Miceyla betrat das Gebäude und blickte sich prüfend um. `Ich frage mich ob hier noch mehr Erwachsene, außer Clayton und Irene Aufsicht haben. Denn mit ihrer Arbeit im Theater und diversen Missionen, sind die zwei doch bereits völlig ausgelastet. Fragen über Fragen… Aber ich werde Antworten erhalten, vorher lasse ich nicht locker!` Mit hellwachen Sinnen, lief sie durch einen geräumigen Speisesaal und gelangte in einen großen Wohnbereich, der gleichzeitig wie ein Spielzimmer aussah. Und aneinander gereihte Tische und Stühle vor einer Tafel verrieten ihr, dass in diesem Raum die Kinder sogar unterrichtet wurden. Ein kleines Mädchen, das ungefähr erst drei Jahre alt war, spielte auf dem Teppichboden mit mehreren Stoffpuppen. Freudestrahlend blickte sie zu Miceyla auf und hüpfte vergnügt in ihre Richtung.

„Hallo meine Kleine. Du scheinst mir aber einen unerschrockenen Frohsinn zu besitzen. Aus dir wird bestimmt einmal eine tapfere junge Dame, die nicht so schnell klein beigibt. Kannst du schon sprechen? Wie heißt du denn?“, fragte Miceyla munter und ging vor dem kleinen Mädchen in die Hocke. `Das hier auch Kinder in einem solch zarten Alter wohnen, finde ich zwar lobenswert, doch bricht es mir auch gleichzeitig das Herz, wenn ich daran denke, dass ein Kind wie sie ganz ohne Eltern aufwachsen muss. Genauso schwer erging es William und Louis. Jedoch, nicht einmal Geschwister an seiner Seite zu haben, macht den eigenen Lebensweg noch mal um einiges härter…`, dachte sie trübsinnig und blickte dabei in die unschuldigen, hellgrünen Augen des Mädchens.

„Clara!“ Ihre zarte Stimme riss sie aus ihren Gedanken und bevor sie etwas erwiderte, lächelte sie einfach nur warmherzig.

„Nanu? Ich dachte schon mein Gehör spielt mir einen Streich. Unsere kleine Clara spricht tatsächlich das erste Mal, mit einem ihr fremden Menschen. Ich vermute, dass sie in dir ihre verlorene Mutter sieht. In ihrem Alter ist das völlig natürlich. Dies nennt sich Liebe auf den ersten Blick! Aber jetzt mag ich dich endlich ordnungsgemäß begrüßen, ehe mir noch meine gesitteten Manieren abhandenkommen. Also mein Vöglein, fühle dich in diesem bescheidenen Waisenhaus wie zu Hause. Und vergib mir, dass ich dich nicht persönlich hierher eingeladen habe. Doch wie ich sehe, beschreitest du deinen Schicksalspfad ganz unaufgefordert…“ Miceyla zuckte bei jener beschwingten Stimme zusammen und erhob sich reflexartig.

„Huch?! Clayton, du bist ja hier! Ich sollte mich eher für mein unangekündigtes Hereinplatzen entschuldigen. Und…du meinst wirklich, dass Clara mich als Mutter sehen könnte? Ich...eine Mutter…“ Die letzten Worte murmelte sie nur noch nachdenklich vor sich hin und konnte dabei ihren Blick nicht von dem kleinen Mädchen abwenden, deren Aufmerksamkeit weiterhin voll und ganz ihr gewidmet war.

„Meine Hauptarbeit im Theater beginnt erst am Nachmittag. Die meiste Zeit des Vormittags verbringe ich hier und unterrichte die Mädchen. Ich übernehme die naturwissenschaftlichen Fächer, Irene die künstlerischen und musischen und unser ältestes Mädchen, beschäftigt sich intensiv mit der Literatur. Wissen ist nun mal Macht und davon möchte ich den Mädchen, soviel wie möglich mit auf den Weg geben“, verriet er ihr mit einem unnachahmlichen Lächeln.

„Wie wundervoll. Du schenkst den Kindern unsichtbare Reichtümer, die man mit keinem Geld der Welt bezahlen könnte“, freute Miceyla sich für das neuerrungene Glück der Waisenkinder. `Doch um ihnen das alles zu ermöglichen, kommt auch Clayton nicht drumherum, sich die Hände schmutzig zu machen… Es bleibst scheinbar unausweichlich. Wer das wahre Böse bezwingen will, muss selbst zum Verbrecher mutieren. Und das Rätsel bleibt ungelöst, wem am Ende die Gerechtigkeit zusteht. Aber wenn ich mir hier die zufriedenen Gesichter der Mädchen betrachte, erhält der Begriff Gerechtigkeit eine ganz neue Bedeutung. Und einmal mehr findet meine Zuversicht Bestärkung, dass Williams Ideale jeden auf den rechten Pfad führen werden. Dennoch prallt er nach wie vor damit gegen die von Sherlock, der Gut und Böse ganz klar voneinander unterscheidet. Beide sind gewissermaßen mit ihren Grundeinstellungen im Recht und vertreten ihre eigene Meinung`, dachte sie und war sich unschlüssig darüber, welche Sichtweise man vernünftigerweise mehr Zustimmung schenken sollte.

„Meine Güte… Du verwirrst nur deine eigene Wahrnehmung, mit deinen ganzen Grübeleien. Wir alle befinden uns in einem ewigen Kreislauf, welcher durch keine existierende irdische Kraft zu durchbrechen ist. Verdorbenheit und Rechtschaffenheit sind dabei zwei ineinander verhakte Zahnräder, die niemals voneinander ablassen werden. Ich überlasse jedem seine individuelle Weltanschauung, auch deinem Geliebten, mit seinem überdimensionalen Akt einer erzwungenen Revolution… Ach, lass uns schleunigst von diesem tristen Thema wegkommen. Was bin ich doch das ständige Gejammer leid! Kinder, kommt mal alle her! Zeit für eine spannende Geschichte! Miceyla mag sie sicherlich ebenfalls mitanhören“, rief Clayton seine Schützlinge zusammen und präsentierte dabei wieder die Gabe seines plötzlichen Stimmungswandels. Miceyla fixierte ihn eindringlich mit ihren schimmernd grünen Augen, ohne dabei nach außen zu tragen, was sie gerade fühlte. `Unfassbar… Nach William und Sherlock ist er die dritte mir bekannte Person, welche es schafft die Gedanken anderer zu entschlüsseln. Oder in die Herzen der Menschen zu blicken, wie er es nennt… Eine solch scharfe Auffassungsgabe, ist immer wieder aufs Neue beängstigend. Aber ist es nicht genau das, was auch ich immerzu versuche? Und ist diese Fähigkeit für einen selbst, vielleicht ein ganz natürlicher Prozess des Beobachtens und Schlussfolgerns, bei dem man keinerlei Besonderheiten feststellt…?` Während Miceyla so tief in ihren Überlegungen vertieft war, hatte sich eine ganze Schar Mädchen um sie herum auf dem Teppich versammelt und blickten Clayton erwartungsvoll an.

„Was für eine aufregende Geschichte erzählst du uns heute? Ist es eine deiner Abenteuer und Eroberungen? Oder erfahren wir nun endlich, wie die Tragödie der mutigen Soldatin endet und ob ihr Traum in Erfüllung geht, eine wahre Heldin zu werden?“, fragte ein etwa zwölf Jahre altes Mädchen laut und faltete dabei bettelnd die Hände ineinander.

„Oh ja bitte! Erzähle uns die Geschichte der tapferen Kriegerin weiter! Eines Tages werde ich genauso stark wie sie sein und uns alle beschützen!“

„Nein! Sie ist schon mein großes Vorbild! Du traust dich doch gar nicht richtig zu kämpfen! Ich hingegen schon!“ Miceyla hätte über ihren kindlichen Streit belustigt sein sollen, jedoch wurde sie hellhörig, als eine Erzählung erwähnt wurde, die von einer Soldatin handeln soll. Und ganz nebenbei war sie über die Maße überrascht, dass die jungen Mädchen wie sie selbst, Interesse an einem solch ungewöhnlichen Themengebiet zeigten.

„Die Geschichte von der ihr da sprecht… Ihr meint doch nicht etwa…“, begann Miceyla wie hypnotisiert. Clayton grinste plötzlich breit, als er ihren beinahe fassungslosen Gesichtsausdruck sah, bei dem man meinte, sie hätte ein unrealistisches Trugbild gesehen.

„Oho… Ihr habt einen guten Geschmack, meine Lieben. Aber ihr wisst, dass nicht ich es war, der anfing euch jene Abenteuergeschichte vorzulesen. Drum sollte `sie` euch diese auch zu Ende erzählen. Das seht ihr sicher genauso, nicht wahr? Bei ihrer liebreizenden Erzählstimme, kann man sich alles so lebendig vorstellen, dass man eine richtige Gänsehaut bekommt und die Geschichte in den eigenen Träumen durchlebt. Das haben wir natürlich auch der großartigen Autorin zu verdanken, die solch ein Wunderwerk erschaffen hat. Wer weiß, vielleicht steckt ja tatsächlich eine waschechte Soldatin dahinter…? Nun mag ich euch alle aber nicht noch länger auf die Folter spannen. Amelia Liebes, deine Wenigkeit wird hier gebraucht!“, rief Clayton lächelnd und die Mädchen warfen sich gegenseitig begeisterte Blicke zu. Einige Minuten verstrichen, die Miceyla wie eine gefühlte Ewigkeit vorkamen. Und sie wusste nicht, weshalb sich auf einmal ein merkwürdiges Gefühl in ihr ausbreitete, daher wartete sie nur schweigsam das nächste Geschehen ab.

„Clay, du hast mich gerufen? Ich dachte, ich soll den Kindern erst vor dem Schlafengehen weiter vorlesen. Aber wenn du jetzt extra alle hier versammelt hast, kann ich auch…“ Eine junge blondhaarige Frau, kam geruhsam eine Treppe von oberhalb hinabgestiegen. Als sie Miceyla entdeckte, fiel ihr vor Schreck ein Buch aus den Händen und es polterte noch einige Stufen hinunter. Miceyla erkannte im Bruchteil einer Sekunde, dass es sich um ihr eigenes Buch handelte. Allerdings richtete sie rasch wieder den Blick auf die junge Frau, welche nach wie vor versteinert auf der Stelle verharrte. In ihren rehbraunen Augen verbarg sich großer Kummer, der dennoch gleichzeitig mit einer unerschütterlichen Standhaftigkeit rang. Sie besaß eine zerbrechlich aussehende Statur und trug ein enganliegendes weißgelbes Kleid, das ihr bis unter das Kinn zugeschnürt war. Ihre langen dunkelblonden Haare, hatte sie zu einem seitlichen Zopf geflochten. Das Mädchen schaffte es wieder, sich ein wenig zu rühren und hob eilig das fallengelassene Buch auf. Anschließend fiel ihr Blick erneut ehrfürchtig auf Miceyla, die gerade glaubte, zurück in die Vergangenheit zu reisen. Der Geruch von Kornfeldern und modrigem Holz durchströmte ihre Nase. Bilder schossen ihr durch den Kopf, wie sie zusammen mit einer Gruppe von Kindern, unter dem Sternenhimmel am Lagerfeuer saß. Doch diese flüchtigen Erinnerungen, gingen alsbald wieder in den Flammen der Verdammnis unter. Die versammelten Mädchen verstummten plötzlich und blickten sich verwirrt während der bedrückenden Atmosphäre an. Ausschließlich Claytons Lippen waren zu einem verschwörerischen Grinsen geformt.

„Einst trennten sich ihre Wege. Sie glaubten sich für immer verloren zu haben. Leben erlischt und wird wiedergeboren. Starke Herzen durchbrechen jedes noch so mächtige Schicksal. Miceyla, hier steht sie nun, deine größte heimliche Bewunderin…“ Sie hörte ihm kaum richtig zu und wollte sich vergewissern, ob die junge Frau wirklich jenes kleine Mädchen war, mit dem sie die damalige Tragödie in ihrer Kindheit durchlebt hatte. Miceylas Hals fühlte sich schrecklich trocken an und sie musste mehrmals schlucken, ehe sie einen Ton rausbekam.

„Bist…bist du tatsächlich Amelia…? Ich meine die Amelia, welche einer kleinen Gruppe von Waisenkindern angehörte? Aber damals… Der furchtbare Brand… Die Flammen umhüllten dich… Du kannst das unmöglich überlebt haben… Und würdest du dich überhaupt noch an mich erinnern? Du warst gerade einmal fünf Jahre alt. Wenn etwas solch

Unglaubwürdiges wahr sein kann, steht für mich die komplette Welt Kopf…“, sprach Miceyla verkrampft und vernahm wie ihr Unterbewusstsein sie eindringlich davon zu überzeugen versuchte, dass es sich wahrhaftig um jene Amelia handelte, die sie einst gekannt hatte. Die junge Frau entspannte sich nun etwas mehr und lief die letzten Treppenstufen hinunter.

„Nun, unsere Welt birgt so manches Wunder, das wir nicht begreifen können. Vielleicht sollten wir die Dinge einfach mal nehmen wie sie sind und nicht ständig alles verbissen ergründen. Manchmal kommen die Antworten von ganz alleine auf einen zu. Geht dir nicht die Schönheit des Träumens verloren, jetzt wo du zwischen detektivischen Spürsinn und verbrecherischen Taktiken wandelst? Die Heldin darf ihr Schwert niemals loslassen, denn sonst wird sie von beiden Fronten zerdrückt und in einen tiefen Abgrund ohne jegliche Hoffnung gestoßen… Tut mir leid, doch es ist eine meiner unliebsamen Angewohnheiten, gleich zu Beginn das Negative in den Vordergrund zu stellen. Ich hoffe du wirst mir dies nicht verübeln. Aber die Miceyla, die ich einst kennenlernte hat ein gutmütiges Herz, das vergeben kann. Und nun…frage ich dich noch einmal, wirst du mir jetzt vorlesen, deine eigene Geschichte?“, fragte Amelia mit bittersüßem Lächeln und hielt ihr das Buch entgegen. Miceyla konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen langsam über die Wangen rollten.

„Amelia… Ich kann es zwar noch immer nicht ganz glauben, aber das Schicksal, nein, dein Wille zu überleben hat dich gerettet. Natürlich, es ist für mich höchste Zeit, mein Versprechen von damals einzulösen…“ Nach ihren Schluchzenden Worten, liefen die beiden jungen Frauen sich entgegen und fielen sich in die Arme, unendlich dankbar darüber, dass es auf wundersame Weise zu einer Wiederbegegnung gekommen war. Auch Amelia konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Nach einer Weile ließ Miceyla von ihr ab und musterte sie einmal lächelnd aus nächster Nähe.

„Lass dich mal richtig ansehen! Wenn mich nichts täuscht, bist du jetzt eine achtzehn Jahre alte Lady. Deine Haare sind recht dunkel geworden, sie sind ja beinahe hellbraun. In meinen Vorstellungen sehe ich noch immer, das kleine zuckersüße Mädchen vor mir stehen. Du hast dich sehr verändert, doch anhand deiner unverwechselbaren, strahlend braunen Augen, habe ich dich auf Anhieb wiedererkannt. Na, nun hast du aber einiges zu erzählen. Ich mag alles erfahren, wie es dir von jenem Tag an ergangen ist und wie du es geschafft hast, den lodernden Flammen zu entkommen. Vorausgesetzt du möchtest keine alten Wunden aufreißen… Jedoch denke ich, dass wir uns beide gerade abermals, mit unserer schmerzlichen Vergangenheit konfrontiert haben. Aber die Gewissheit, dass wir die einzigen Überlebenden Kinder der Himmelszelt-Helden sind, lässt mich an ein unzertrennliches Band zwischen uns beiden glauben. Und es sieht ganz danach aus, als ob uns das Verbrecherleben magisch anziehen würde. Oder viel eher die Menschen, welche in unmittelbaren Zusammenhang dazu stehen…“; meinte sie sanft während ihrer Wiedervereinigung. Die jüngeren Mädchen, beobachteten bei andächtiger Stille die rührende Szene und manche von ihnen waren so sehr davon berührt, dass sie auch Tränen vergossen.

„Also… Mein Überleben habe ich höchstwahrscheinlich meinem damaligen, zierlichen Körper zu verdanken. Denn ich bin nach dem Sturz nicht richtig bewusstlos geworden und verkroch mich unter einem großen leeren Sack, der mich komplett bedeckte. Als das Feuer irgendwann gelöscht wurde, versorgte mich einer der Dorfbewohner, welcher mich voll Schutt und Asche fand. Doch stellte sich bald für mich heraus, dass es kein Mitleid war, welches ihn zu meiner Rettung bewogen hatte… Zuvor muss ich dir noch verraten, dass mein ganzer Körper schlimme Verbrennungen davontrug. Ich bin somit bis an mein Lebensende entstellt… Von Glück kann ich sagen, dass wenigstens mein Gesicht verschont geblieben ist. Wie dem auch sei… Dieser Dorfbewohner mit seinem aufgesetzt fürsorglichen Verhalten, gab mir zu Essen und zu Trinken. Solange, bis ich wieder bei Kräften war. Einige Monate später packte er mich plötzlich und verkaufte mich hemmungslos an einen der Grafen von Harefield. Offiziell sollte ich dort zu einem gehorsamen Dienstmädchen erzogen werden. Aber in Wirklichkeit, wurde ich wie eine Sklavin schonungslos gezüchtigt und musste widerwillig jede mir aufgetragene Aufgabe, ohne Wiederworte ausführen. Es dauerte nicht lange und aus mir wurde eine willenlose Marionette, welche die Wahl zwischen striktem Gehorsam und groben Peitschenhieben hatte… Meine Kindheit war somit in Stein gemeißelt und ich wünschte mir während jener abscheulichen Zeit, dass ich bei dem Brand besser ums Leben gekommen wäre, damit mir das unendlich andauernde Leid erspart geblieben wäre. Doch ich schwor mir ehrgeizig zu bleiben und träumte davon, eines Morgens in einer friedlichen Umgebung aufzuwachen. Und tatsächlich kam vor vier Jahren dieser schicksalhafte Tag, der mich von meinem tristen Dahinvegetieren erlösen sollte. Der Graf hatte in London, mit einigen anderen Gesellen der Obrigkeit, Geschäftliches zu erledigen und nahm mich als seine Dienerin mit. Ich kann noch immer nicht in Worte fassen, was ich damals in jenem Moment fühlte, als ich Clayton das erste Mal begegnete… Mag es auch Zufall gewesen sein, dennoch spürte er sofort, in was für einer ausweglosen Notlage ich mich befand. Und so geschah es, ich brannte mit ihm durch und endlich war es mir vergönnt, mein Leben richtig beginnen zu dürfen. Ich brauche auch nicht zu verschweigen, dass Clay sich für mich rächte und den grausamen Grafen ermordete. Auf diese Weise ändern sich Schicksale und ich kann dir nicht verübeln, dass du ebenfalls einen edelmütigen Mann gefunden hast, der den Mut besitzt, die Regeln unseres fesselnden Klassensystems zu brechen und dem du all deine Liebe und Bewunderung geschenkt hast. Wir wissen beide von wem ich gerade spreche… Für mich ist Clayton dieser Held…“, erzählte Amelia ergriffen ihre dramatische Geschichte, die sich glücklicherweise zum Guten gewendet hatte und blickte im Anschluss schüchtern zu Clayton, der mit geschlossenen Augen und einem mitfühlenden Lächeln ihren bewegenden Worten lauschte. Die Gruppe der noch immer auf dem Teppich sitzenden Mädchen, hatte nun ihre Erzählstunde der etwas anderen Art erhalten, aber keines von ihnen schien es zu bereuen. Miceyla schmerzte das Herz nach ihrer bitteren Geschichte und trotzdem erleichterte es sie, Amelia nun als eine gesunde junge Dame, vor sich stehen zu sehen. `Unser Wiedersehen verdanke ich nur ihrem aufopfernden Retter…`, dachte sie feststellend, dabei schwenkte sie langsam ihrem Blick zu Clayton und schritt mit noch immer feuchten Augen, zielstrebig auf ihn zu. Unmittelbar vor ihm kam sie zum Stillstand und blickte ihn aufrichtig an.

„Clayton… Es mag stimmen, wir Menschen sind alle eigennützige Räuber, die Leben auslöschen nur um jene zu beschützen, die ihnen am Herzen liegen. Ich muss dir im Namen der ganzen Mädchen, welche du gerettet hast, Amelia miteingeschlossen, meinen innigsten Dank aussprechen. Du verdienst noch wesentlich mehr Anerkennung. Wer willkürlich mordet, muss gezwungenermaßen den daraus resultierenden Konsequenzen gegenübertreten. Doch du lässt dich ebenso wenig wie William davon einschüchtern und zeigst keine Reue. Aber es sind unsere Herzen, welche die größten Wunden davontragen. Wunden, die sich bis zu unserem Tod nie mehr schließen lassen. Das tropfende Blut unserer zermürbten Seelen, sind die Tränen all der erbrachten Opfer, die notwendiger Weise dazu dienen, eine gerechte Welt zu erschaffen. Ich habe Angst davor, von schändlichen Taten gebrauch zu machen. Und dennoch machen mich meine Worte und Einstellungen höchstwahrscheinlich bereits zu einer Verbrecherin. Nun… Noch ehe auch an meinen Händen Blut kleben wird, werde ich dafür sorgen, dass ihr alle euer gutes Herz bewahrt und ein wenig liebevoller mit euch selber umgeht. Denn wie ich immer sage, uns allen gebührt Liebe gleichermaßen. Viele Gefechte warten noch auf uns und es liegt nicht in meiner Macht, über deren Ausgang zu entscheiden. Nichtsdestotrotz erachte ich es als richtig, dir in diesem Moment zu danken, dass du Amelia und mich wieder zusammengeführt hast. Ich danke dir, Clayton…“, sprach Miceyla mit leicht gebeugtem Kopf und nahm seine linke Hand, um ihre Dankbarkeit ihm gegenüber noch stärker zum Ausdruck zu bringen. `Und ich bete darum, dass wir in der Zukunft, nicht doch als ernsthafte Feinde aufeinanderstoßen werden. Jedoch bezweifle ich leider, dass die harmonische Idylle ewig anhalten wird. Aber am meisten fürchte ich mich immer noch davor was passiert, wenn Sherlock die Wahrheit über Will herausgefunden hat…` Sie konnte nicht vermeiden, dass diese Tatsache der Dreh und Angelpunkt ihrer Gedanken war. In Claytons Gesichtsausdruck befand sich das pure Erstaunen, nach ihrem aufrichtigen Geständnis. Doch rasch fand er wieder zu seiner alten, selbstbewussten Fassung zurück.

„Hört, hört, welch lobpreisende Rede! Dürfte ich mir deine gefühlvolle Ansprache, für eines meiner Stücke ausborgen? Ha, ha, das war nur ein kleiner Scherz. Und wieder einmal bekommst du zu spüren, wie sehr Gefühle einen überwältigen können. Aber ich gönne euch beiden das Glück, eine alte Freundschaft wiedererweckt zu haben. Es beschwichtigt das Gemüt, eine Leidensgenossin an seiner Seite zu wissen, nicht wahr Amelia? Und Miceyla… Mag ich auch in deinen Augen heldenhafte Taten vollbringen, so bin ich doch nur ein düsterer Schatten, der erst dann vom Licht ausgelöscht werden kann, wenn dessen selbstsüchtige Ziele seine Vollendung gefunden haben. Die Liebe hat mein Herz pechschwarz werden lassen. Eine Liebe, die meinen schwachen Händen entglitten ist… Darum zaubere ich jeder unglücklichen Seele ein Lächeln ins Gesicht, um meine eigene innere Dunkelheit zu verschleiern. Doch dir mein Vöglein rate ich, für die Liebe zu kämpfen. Jedes Opfer ist dafür recht. Und wenn dein Liebster, dir mit diesem hingebungsvollen Kämpferwillen entgegenkommt, kannst du dir sicher sein, dass die Mühen es wert sind, die Bande eurer Herzen bis zum Tod aufrecht zu erhalten. Ach herrje, rede ich da gerade davon, dass in der Liebe so etwas wie Zuversicht existiert? Manchmal glaube ich meinen eigenen Unsinn kaum, den ich von mir gebe… Hm… Dein wissbegieriges Funkeln in deinen Augen, finde ich schon ein wenig sonderbar… Du gehörst zu der Sorte Frau, welche die Zuneigung von Männern ganz unbewusst für sich gewinnt. Ha, ha, diese kleine Bemerkung konnte ich mir gerade einfach nicht verkneifen!... Nun gut. Mein Instinkt sagt mir, dass du darauf brennst, nun meine eigene Hintergrundgeschichte zu erfahren, die hinter meinen hartnäckigen Beweggründen steckt. Ich habe prinzipiell nichts dagegen einzuwenden. Wenn du dich dazu berufen fühlst, die Schicksale der Menschen als unsterbliche Erinnerungen zu dokumentieren, mögest du diesen leidvollen Weg des Zuhörers auch mit Gewissheit nachgehen. Doch gib Acht, die Finsternis der Erzähler, überträgt sich ganz leicht auf dich selbst… Und deine persönliche Geschichte, wird letztendlich ein wahres Glanzstück. Drum biete ich dir an, dass wir uns am Donnerstag nach der letzten Vorstellung, beim Hinterausgang des Theaters treffen. Ich werde dich dort erwarten…“, gab er ihr überraschend die Chance, sich näher mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen zu dürfen und lächelte sie dennoch verschwiegen an. Miceyla machte große Augen, da sie damit nicht gerechnet hätte, dass Clayton von sich aus mehr von seiner mysteriösen Person preisgeben würde. Schließlich gehörte sie mehr oder weniger zu dessen Feind. `Ich muss aufpassen, dass es mir nicht zum Verhängnis wird, wenn ich als Erste die Wahrheit rund um ihn und Harley Granville erfahre. Sollten bei der falschen Person Informationen durchsickern, gibt das nur wieder für alle erhebliche Probleme… Langsam verhalte ich mich schon wie Sherlock, der seine Nase auch immer in diverse Angelegenheiten stecken muss. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich lasse mir von niemandem eine Falle stellen, die ich nicht eigenständig umgehen könnte. Da William mit seinen schlüssigen Methoden zügig voranschreitet, muss ich nach wie vor einiges dafür tun, um mithalten zu können. Und außerdem ist es unabdingbar, einen gescheiten Überblick zu bewahren, auf was für einen Standpunkt sich die jeweiligen Kontrahenten gerade befinden, damit nicht alles unvorhersehbar aus dem Ruder läuft. Denn mein Wunsch ist nach wie vor, so viele Leben wie nur möglich zu retten…` Ihre Gedanken fanden ein jähes Ende, als eine hohe Standuhr laut zwölf Uhr mittags schlug. Und als hätten die Mädchen nur auf dieses Zeichen gewartet, erhoben sie sich allesamt schwungvoll und stürmten in den Speisesaal.

„Ach schau an! Die Zeit fliegt wieder nur so von dannen! Mittagessen Kinder! Ich danke dir für deinen reizenden Besuch, Miceyla. Wir sehen uns dann…“, verabschiedete Clayton sich kurz und bündig, woraufhin er mit einem Augenzwinkern an ihr vorbeilief. Amelia lief geschwind auf sie zu und man erkannte anhand ihrer trübseligen Miene, dass sie nicht so rasch wieder Abschied nehmen wollte.

„Miceyla… Hättest du etwas dagegen, wenn auch wir beide uns noch einmal am Donnerstag treffen würden? Wie wäre es nachmittags im Park? Wenn du doch an diesem Tag ohnehin in der Innenstadt bist. Es gäbe da nämlich einiges, was ich gerne unter vier Augen mit dir bereden möchte. Denn jetzt, wo wir beide erwachsen sind, haben die Umstände ein ernsthafteres Ausmaß gewonnen. Unsere neuen Verbündeten spielen keine nichtigen Jungenstreiche mehr. Wir befinden uns im Zentrum einer sündenhaften Rebellion. Und ich weiß, dass es unser beider Anliegen ist, den verursachenden Schaden unserer jeweiligen Partei, möglichst gering zu halten. Mag mein Herz auch an Clayton hängen, so bleibt es mir dennoch nicht verwehrt, über meine Rechte frei entscheiden zu dürfen. Aber mich beschleicht das ungute Gefühl, dass du einen Pakt geschlossen hast, der dich in deiner Handlungsfreiheit erheblich mehr einschränkt… Die Bande der Liebe hinterlässt bei uns allen ihre Spuren. Und vergiss nicht, egal was für ein Krieg sich auch um uns zusammenbrauen mag, ich werde immer deine Freundin bleiben. Aber behalte Irene im Blick, sie ist sich für keine Gräueltat zu schade und wird auf dich vorausblickend keine Rücksicht nehmen. Besonders das Vertrauensverhältnis zwischen Sherlock und dir ist ihr ein Dorn im Auge…“, fasste Amelia mit wohlüberlegten Worten, ihre zwiespältige Lage zusammen, welche sie beide auf schicksalhafte Weise miteinander verband und packte dabei Miceylas Hände.

„Amelia, auch dir muss ich danken, für deine Offen- und Ehrlichkeit die du mir entgegenbringst. Du bist wahrlich zu einer reifen und klugen jungen Frau herangewachsen. Unsere Herzen kennen beide wahren Schmerz und sind daher gewappnet, sollte eine erneute Leidwelle über uns herfallen. Mache dir keine Sorgen, meiner Skepsis anderen Menschen gegenüber ist es zu verdanken, dass ich stets Vorsicht wallten lasse, ehe ich größeres Vertrauen fasse. Ein wunderbarer Vorschlag, uns im Park zu treffen. Nun halte ich dich aber nicht länger auf. Schließlich warten all die lieben Mädchen darauf, dass du ihnen beim Mittagessen Gesellschaft leistest. Ich mache mich dann auch mal wieder auf den Weg“, tat sie mit freundlichem Lächeln ihren Aufbruch kund und drückte Amelia noch einmal liebevoll an sich.
 

„Was hältst du von diesem stattlichen Gebäude? Es gibt sogar einen eingezäunten Hinterhof. Die Außenfassade kann sich ebenfalls sehen lassen. Beinahe so stattlich ist übrigens auch der Verkaufspreis, ha, ha. Aber da kann man gewiss noch etwas verhandeln. Was meinst du, sollen wir mal einen Blick in die inneren Räumlichkeiten werfen, damit du dir einen besseren Eindruck verschaffen kannst?“ Miceyla war gerade mit Albert auf Besichtigungstour, um ein geeignetes Domizil für die ganzen heimlosen Katzen zu finden, das als Pension dienen sollte. Gründlich betrachtete sie das erste leerstehende Haus, welches er ihr vorschlug und zum Verkauf bereitstand. Es war ihr äußerst wichtig, gleich zu Beginn die richtige Wahl zu treffen. Was sie aber schon jetzt zufrieden stellte war, dass die Umgebung einen guten Eindruck zu machen schien. Ein ordentlich gepflegtes Wohnviertel, in dem größtenteils Menschen der Mittelschicht lebten und arbeiteten, bot die besten Voraussetzungen, um ein eigenes Unternehmen zu gründen. `Allerdings… Noch viel wichtiger als die äußere Fassade ist das Personal, welches mit mir zusammenarbeiten muss. Ich werde wohl kaum alles alleine auf die Beine stellen können und die Brüder haben bereits genug zu tun. Sollten wir also neue Mitarbeiter einstellen, werden diese dann ebenfalls auf die Probe gestellt und mit eingeweiht…? Wobei ich dies mehr als nur übertrieben fände, bei einem rein unabhängigen Geschäft.` Ihre Gedanken überschlugen sich mal wieder und sie blickte viel zu weit in die Zukunft.

„Der Eingangsbereich ist auch wirklich sehenswert. Hier sieht es meines Erachtens nach sehr einladend aus. Perfekt um Kunden zu empfangen. Oder was meinst du? Den Rat eines Fachmanns nehme ich gerne an“, sprach sie heiter während ihrer Besichtigungstour und blickte Albert lächelnd an. Dieser erwiderte einfach nur eine Weile ihr Lächeln. Beinahe so lang, dass es sie verlegen machte.

„Genau richtig würde ich sagen, meine liebe Eisblume. Umso wohler sich Kunden fühlen, desto offener sind sie für tiefere Gespräche. Und genau darin liegt der Knackpunkt. Die Leute werden mit dir nicht bloß einen Handel abschließen, sondern kann es auch gut sein, dass sie dir von ihren Sorgen, Bitten und Neuigkeiten erzählen, die sie in der Stadt aufgeschnappt haben. Ganz unwillkürlich, ohne jegliche Hintergedanken. Menschen gehen ein und aus und hinterlassen mehr als nur schlichte Eindrücke, welche deinem scharfen Blick nicht entgehen werden. Und wer weiß, ob sich dadurch nicht der ein oder andere Auftrag ergibt, der auch das Interesse von Will und mir weckt“, verriet Albert ihr vorausschauend, die geheime Funktion ihrer neuen Aufgabe.

„Huch… Das hört sich ja fast danach an, als würde ich sozusagen wie William als Mentor fungieren und mich der Probleme meiner zukünftigen Kunden annehmen. Aber ich verstehe schon, was du mit deinen Worten auszudrücken versuchst. Nun fühlt sich die ganze Sache noch ein wenig wichtiger an. Und ich kann mit gutem Gewissen behaupten, dass ich unserer Gesellschaft etwas Gutes tue. Ich erschaffe mir einen Ort, an dem ich Abstand hätte von unseren…rechtswidrigen Machenschaften… So ist es doch, oder? Daher kam bestimmt dein Vorschlag. Es missfällt dir noch immer, mich in euren düsteren Pfad der Verbrecher zu involvieren. Du magst meinen Gerechtigkeitssinn behüten und so gut es nur geht verhindern, dass Will eine kaltblütige Seite in mir weckt, die sich aufgrund meines früheren Leidensweges in mir versteckt hält. Bitte…sieh mich nicht so überrascht an… Dies bestätigt das Ganze nur noch. Menschen die morden reden sich ein, sie gehörten dadurch zu den Stärkeren. Doch dieser Irrtum raubt ihnen jegliches Mitgefühl. Wer schwach ist, geht den bequemeren Weg und beseitigt mit Gewalt all das, was ihn in seinem Leben stört. Der Starke aber, akzeptiert die Sichtweisen seiner Mitmenschen, bleibt den eigenen aufrichtigen Werten treu und bewahrt bei Auseinandersetzungen ein gesundes Maß an Zurückhaltung. Egal wie weit hergeholt das auch klingen mag, keiner ist dazu bemächtigt, Leid, Mord und Ungerechtigkeiten vollständig aus unserer Welt zu verbannen. Dennoch soll dies nicht heißen, dass ich mich eurem Kampf nicht anschließe und zur Waffe greife. Ich kann nur immer wieder deutlich machen, was für wundervolle Menschen ihr seid, Albert. Einen tieferen Sinn hättet ihr meinem Leben gar nicht schenken können. Und als Gegenleistung gehört all meine Entschlossenheit und mein unbeugsamer Wille euch und der Umsetzung jener beispiellosen Pläne. Darum schiebe mich bitte nicht ab, sondern gehe Hand in Hand mit mir den Weg eines Soldaten, so wie ich es mir von meinem großen Bruder erhoffe…“, bat Miceyla ihn mit einem liebevollen Nachdruck in der Stimme. Albert blickte für einen Moment wehmütig zu Boden, ehe er ihr anerkennend seine Hand zärtlich auf ihre Schulter legte.

„Ich denke nicht einmal im Traum daran, dich abschieben zu wollen. Und dennoch verlangt meine Intuition von mir, dich nicht allzu sehr in gefahrvolle Aufgaben miteinzubeziehen. Letztendlich bringt das keinen von uns weiter, dies ist mir klar. Denn keiner von uns, wird seine Hände jemals wieder in Unschuld waschen können. Auch ich wünsche mir, dass wir beide Seite an Seite für eine gerechte Welt kämpfen. Solange uns dabei nicht die Würde und der Respekt unseren Feinden gegenüber verloren geht. Und du wirst rasch merken, da du Wills Herz zum erweichen gebracht hast, wird er alles daransetzen, um dich in Schutz zu nehmen… Na komm, wir sind noch nicht fertig mit der Besichtigungstour. `Magst du ein Land verändern, gewinne die Herzen der Menschen für dich, anstatt mit ihren Gefühlen zu spielen.` Ist dies nicht dein neuer Leitsatz? In uns allen wohnt der Kummer inne. Wie wir ihn aber bewältigen, hängt von unserer eigenen Einstellung ab“, redete Albert Miceyla so sanftmütig ins Gewissen, dass es wahrhaft ihr Herz berührte. `So ist es… Und mit jedem schmerzvollen Erlebnis, erhalten wir eine wertvolle Erinnerung, die uns ein Leben lang prägt. Darum lass uns weiterkämpfen, auf das wir eines Tages das wahre, wohlverdiente Glück erreichen.` Als die zwei nach ihrer Besichtigung mit der Kutsche zum Moriarty-Anwesen fuhren, tat Miceyla ihre Wahl für das zukünftige Katzenheim kund. Albert gab sich mit ihrer Entscheidung einverstanden und sie überlies es seinem Verhandlungsgeschick, den Preis etwas herunterzuhandeln. Zu Hause eingetroffen, wartete William im Wohnzimmer mit einer Überraschung auf sie, die perfekt an ihre gerade abgeschlossene Besichtigung anknüpfte.

„Mein Liebling, Bruderherz, ihr kommt genau zur rechten Zeit. Darf ich euch drei sehr engagierte junge Menschen vorstellen…“ Mit der rechten Hand deutete er höflich auf zwei Frauen und einen Mann, dessen Gesichter ihr unbekannt waren und sie freundlich in einer

Reihe stehend anlächelten. `Sag bloß diese Leute sind aufgrund der Stellenausschreibung hier, die Will in der Zeitung hat veröffentlichen lassen?! Er übertrifft sich mit seinem raschen agieren mal wieder selbst. Das es genug Menschen der Arbeiterklasse gibt, die für ein Adelshaus mit gutem Ruf arbeiten wollen, versteht sich von selbst. Es werden sich etliche Bewerber bei Will gemeldet haben. Das gerade ausschließlich diese drei Personen hier stehen kann nur bedeuten, dass er bereits seine kontrollierende Auswahl getroffen hat…`, dachte Miceyla voller Erstaunen und grüßte die Gäste anstandsgemäß, um einen positiven ersten Eindruck zu hinterlassen. Denn von Adeligen die eine offenherzige Güte besaßen, konnte man nur Gutes in der Öffentlichkeit erzählen.

„Wie du dir sicher denken kannst, sind dies deine möglichen, zukünftigen Angestellten, welche dir in deiner Katzenpension, bei diversen Arbeiten zur Hand gehen werden. Stellen Sie sich doch noch einmal alle nacheinander Miceyla vor. Schließlich ist sie diejenige, die das neue Arbeitsverhältnis mit Ihnen besiegeln muss“, bat William an die drei gewandt und gab ihr nickend zu verstehen, dass er sich nun im Hintergrund halten würde. Louis trat ebenfalls herein und servierte jedem mit vornehmer Körperhaltung eine Tasse heißen Tee. Miceyla musste sich ein Schmunzeln verkneifen, als sie die unbehaglichen Gesichter der Bewerber erblickte und wurde direkt daran erinnert, wie furchtbar nervös sie sich selbst damals gefühlt hatte, als sie zum allerersten Mal ein Adelshaus betrat und in eine ihr ungewohnte Welt eintauchte. Mittlerweile war ihr das alles aber so vertraut, dass es sich für sie anfühlte, als würde sie bereits seit vielen Jahren, in solch einem noblen Umfeld leben. `Wie anpassungsfähig ein Mensch doch sein kann ist schon erstaunlich. Ich bin gespannt, ob sich die Gesellschaft einer Großstadt und gar eines ganzen Landes, ebenfalls so einfach formen lässt… Warten wir es ab, die Zeit heiligt die Mittel…` Kurz driftete Miceyla mit ihren Gedanken ab, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Gäste richtete, welche gegenüber von ihr und den Brüdern auf dem Sofa Platz genommen hatten.

„Guten Tag, Mrs Moriarty. Wenn Sie mir gestatten, stelle ich mich kurz als erstes vor. Ich heiße Olivia Averill und bin siebenundzwanzig Jahre alt. Ursprünglich komme ich nicht aus London, da ich mir das teure Leben in der Stadt nicht leisten kann. Dennoch bin ich eitel genug, dass ich einer Unterkunft im Armenviertel abgeneigt wäre. Ich kam nur zur Arbeit in die Innenstadt, wo ich in einem kleinen Geschäft aushalf, das handgemachte Vorhänge herstellte. Der Laden besaß einen guten Ruf und lockte sogar Kunden höherer Kreise an, aufgrund der tadellosen Qualität. Doch eines Tages war einer unserer vermögenden Kunden, grundlos unzufrieden mit seiner Ware und verklagte das Geschäft schamlos. Daraufhin musste es wegen der privilegierten Handlungsfreiheit des Mannes sofort schließen. Keiner der Mitarbeiter, mich eingeschlossen, besaß die Macht um Einspruch dagegen zu erheben. So schnell kann es gehen… In der heutigen Zeit ist es nicht gerade unwahrscheinlich, alles von heute auf morgen zu verlieren. Und plötzlich schaut man blöd aus der Wäsche, weil man weder Arbeit und zu Essen, noch ein Dach über dem Kopf hat. Warum ich mich gerade für eine Anstellung bei einer Adelsfamilie beworben habe? Nun… Ich finde es bemerkenswert, dass Sie als junge Frau ein eigenes Unternehmen gründen wollen, obwohl Sie es überhaupt nicht nötig hätten, selbst zu arbeiten. Das ist sehr ungewöhnlich beim Adel, Lady Moriarty. Sie müssen wahrlich ein Herz für Tiere und Menschen besitzen, wie keine zweite Dame Ihres Standes. Dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass meine Neugierde geweckt wurde. Was auf mich zukommen wird…da werde ich mich einfach überraschen lassen. Und ich kenne mich zwar nicht sonderlich gut mit Katzen aus, kann aber bei Vermittlungen und Aufnahmen behilflich sein. Was mein Tätigkeitsfeld betrifft bin ich ziemlich flexibel“, erzählte die junge Frau von den Gründen für ihre Entscheidung.

„Vielen Dank, Miss Averill. Ich entnehme Ihren Worten, dass Sie mit viel Motivation und Gewissenhaftigkeit Ihre Arbeit verrichten. Und ich verspreche Ihnen, dass Sie bei uns lernen werden, den Adel aus einer ganz neuen Perspektive zu betrachten. Vielleicht gibt es sogar jemand, der Ihre stillen Klagerufe gehört hat und es dem Mann, der für die Schließung des Geschäfts verantwortlich war, heimzahlen wird…“, sprach Miceyla mit geheimnisvollen Lächeln und warf einen Blick zu William, der ihr verschwiegenes Lächeln erwiderte und kurz mit ihr innigen Blickkontakt austauschte.

„Ähm…also… Ich mache dann mal weiter… Ich bin Derek Gardner, dreiunddreißig Jahre alt und bin Spezialist im Bereich der Tierheilkunde. Hauptsächlich machte ich private Hausbesuche bei Klienten der oberen Schicht und versorgte dort deren erkrankte Haustiere. Sie müssen wissen, dass ein Rassehund oder der edle Schimmel im Stall, für einen adeligen Herren oftmals als sein wertvollster Besitz angesehen wird und solch einem kostbaren Tier sogar einen höheren Stellenwert zuschreibt, als Frau und Kindern. Sicherlich können Sie bereits erraten, was mir wiederfahren war… Ich versorgte ein Pferd, dass unter starken Koliken litt. Der Besitzer nutzte das Tier häufig, um auf die Jagd zu reiten. Einen Tag nach meiner Versorgung verstarb das Pferd. Wutentbrannt beschuldigte der naive Herr natürlich sofort mich und mein medizinisches Versagen, Jedoch konnte ich in Erfahrung bringen, dass der Mann dem Tier eine viel zu hohe Dosis, der ihm zu verabreichenden Medizin gab, als ich es zuvor empfohlen hatte. Aber wie es nun mal bei den adeligen Herrschaften so üblich ist, siegte Stolz und Eitelkeit über der Selbsteinsicht. Vor Gericht wurde ich vor eine schwere Wahl gestellt. Entweder ich zahle den zehnfachen Kaufpreis des verstorbenen Pferdes, an den Besitzer zurück oder mir wird die Lizenz entzogen, weiter meiner tiermedizinischen Arbeit nachzugehen… Doch in meiner Verzweiflung, erhielt ich wie durch ein schieres Wunder einen anonymen Brief, dass besagte Summe schon an den Mann ausgezahlt wurde. Bisher konnte ich noch nicht überprüfen, ob dies der Wahrheit entspricht. Allerdings sind plötzlich die drängenden Forderungen des Mannes verstummt. Und da jenes Schreiben nur von einem wohltätigen Edelmann stammen konnte, bin ich gewillt dem Adel noch eine Chance zu geben und werde mich dennoch vom ständigen herumreisen zu meinen Patienten verabschieden und festen Fuß fassen, was meinen Arbeitsplatz betrifft. Und hier bin ich nun. Meine Dienste könnten voll und ganz Ihnen gehören, Mrs Moriarty“, erzählte der Tierarzt von seiner schicksalhaften Rettung, die ihn davor bewahrte, nicht zu Unrecht seine Arbeit zu verlieren. `Schon wieder eine Geschichte, die mit der Verwerflichkeit des Adels in Verbindung steht… Würde mich nicht wundern, gleich noch eine ähnliche dritte Erzählung zu hören`, dachte Miceyla wenig überrascht darüber und warf einen dankbaren Blick erst zu Albert, dann zu William. Beide schenkten ihr ein warmherziges Lächeln.

„Danke Mr Gardner. Sie verrichten eine äußerst wichtige Tätigkeit. Denn Tiere verspüren ebenso wie wir Menschen Schmerzen“, dankte sie ihm respektvoll.

„Gut, gut. Ist ja wirklich alles recht abenteuerlich, was ihr jungen Leute so alles erlebt. Ich bin dann wohl die dritte im Bunde und mit meinen fünfundvierzig Jahren zwar nicht mehr die Jüngste, aber eingerostet bin ich deshalb noch lange nicht. Fast mein ganzes bisheriges Leben, habe ich auf einem großen Hof mit vielen Tieren verbracht. Von Hühnern bis hin zu Pferden war dort alles dabei. Ha, ha, keine Sorge, ich schlachte keine armen Tiere, falls Sie dies nun denken mögen. Mein Anliegen ist schlicht und ergreifend folgendes. Ich möchte Abstand von dem ganzen Trubel gewinnen und meinem Leben auf dem Bauernhof, für ein paar Jahre den Rücken kehren. Jünger werde ich nun mal auch nicht mehr und etwas Abwechslung täte meiner alteingesessenen Seele sehr gut. Also Mrs Moriarty, wie sie hören, könnten sie von meiner Lebenserfahrung nur profitieren. Übrigens bin ich verheiratet und habe vier Kinder. Harte Arbeit liegt mir daher im Blut und Sie müssen mich nicht schonen, ha, ha! Jetzt habe ich zu Beginn, doch glatt vergessen meinen Namen zu erwähnen! Molly Collins dürfen Sie mich rufen. Etwas Aufregendes, habe ich ansonsten nicht zu meiner bescheidenen Person zu berichten. Ich hoffe, deshalb bin ich bei Ihnen nicht gleich unten durch, ha, ha. Ach und mit dem Adel habe ich persönlich keine Probleme. Menschen sind wir alle und teurer Schnickschnack macht auf Dauer nicht glücklich, wenn man nicht auch mal nackt durch einen See schwimmen kann, von Herzen dabei lacht und das eigene Leben schätzt!“, stellte die Letzte in der Runde sich wesentlich selbstbewusster vor, als die beiden Jüngeren zuvor, welche schon einiges durchstehen mussten und strahlte eine überschwängliche Lebensfreude aus. `Ha, ha, mit meiner Vermutung, dass drei Schicksalsschläge vor mir sitzen, bin ich wohl zu vorschnell gewesen. Eine ganz gewöhnliche Dame ist also auch dabei. Aber ich begreife schon jetzt, was Will mit dieser Konstellation, die keinesfalls zufällig zustande gekommen ist, vorhat. Die Älteste wird die beiden niedergeschlagenen Jüngeren wieder aufbauen und ihnen neuen Mut schenken, um Vertrauen in die Menschen zu fassen. Eine Hand wäscht die andere. Will, du bist so genial wie eh und je.` Miceyla lächelte die drei grundverschiedenen Persönlichkeiten vor sich herzlich an und legte dabei ihre rechte Hand aufs Herz.

„Ich bedanke mich für Ihre Mühen, dass Sie heute hier erschienen sind. Auch für mich wird es eine neue Erfahrung, ein eigenes Unternehmen in London zu gründen. Aber mit verlässlichen Kameraden die einen aufmuntern und mit denen man gemeinsam lachen kann, ist jede Herausforderung bewältigbar. Darum bitte ich Sie drei, mir bei dieser aufregenden Reise behilflich zu sein. Auf gute Zusammenarbeit und willkommen bei den Moriartys!“
 

Der große Stadtpark in London, trotzte nur so vor lebendigen Treiben. Familien machten auf den grünen Wiesen unter den Bäumen ein Picknick. Die Kinder tollten nach Herzenslust umher und steckten sich gepflückte Blumen in die Haare. Paare saßen auf den Bänken nahe dem kleinen See und fütterten gemeinsam die Schwäne. Im kristallklaren Wasser, spiegelten sich die wenigen schneeweißen Wolken am hellblauen Himmel. Herabfallende Blütenblätter der Bäume, schwammen langsam über die schimmernde Wasseroberfläche. Das lebhafte Plaudern der Leute vermischte sich mit fröhlichem Vogelgezwitscher und dem friedlichen Plätschern der Springbrunnenfontänen. Es war der perfekteste Frühlingstag, den man sich nur wünschen konnte und bescherte einem den zarten Vorgeschmack, auf einen in nicht mehr allzu großen Entfernung wartenden Sommer. Und dennoch fröstelte es Miceyla, als sie durch den Park schritt. Während die Menschen um sie herum ihr Leben genossen, schufteten anderer Orts Leute pausenlos für einen mickrigen Lohn, um ihnen ein komfortables Dasein zu ermöglichen. Und nicht nur das ging ihr durch den Kopf. Heute war der Tag, an dem sie Claytons schleierhafte Vergangenheit erfahren würde. Es hätte keinerlei Sinn gehabt, ein Treffen mit ihm vor William geheim zu halten, daher hatte sie es ihm sofort mitgeteilt. Und ohne viel Diskussion erhielt die dessen Erlaubnis, was sie nicht groß wunderte, da es im Interesser aller war, die Schattenseite von Harley Granville ans Licht zu bringen. Ein wenig stolz fühlte Miceyla sich schon, noch vor William und Sherlock dahinter zu kommen. Aber sie musste der Gefahr aus dem Weg gehen, dass ihr dies nicht zur Bürde wurde. Ihre Lippen formten sich sogleich zu einem Lächeln, als sie Amelia abseits des turbulenten Geschehens, auf einer Parkbank entdeckte. Beinahe regungslos wartete sie dort und beobachtete die umherfliegenden Vögel hoch oben in den Baumkronen. Noch immer erschien es Miceyla wie ein Traum, dass Amelia wirklich noch am Leben war und sie sich beide nun zu jeder Zeit sehen konnten.

„Es ist sehr schön hier, nicht wahr? Ich kam oft zum schreiben hierher, hauptsächlich im Winter, wenn hier keine Menschenseele zugegen war. Sonst fand ich nirgendwo meine Ruhe. Ha, ha, so verrückte Dinge tue ich. Du wirst lachen, wenn ich dir von Mrs Green erzähle, mit der ich mich jahrelang herumschlagen musste. Zum Glück wurde ich von ihr erlöst, ha, ha. Ich freue mich dich wiederzusehen, Amelia“, begrüßte sie ihre wiedergefundene Freundin frohgestimmt und setzte sich lächelnd neben sie auf die Bank.

„Miceyla… Hallo. Schon eigenartig… Ich las deine Geschichte und erschuf in meinen Vorstellungen ein Ebenbild, deiner unterdrückten kämpferischen Persönlichkeit, die du mit einer willensstarken Soldatin assoziierst. Aber jetzt, wo ich dich in der Wirklichkeit vor Augen habe, glaube ich daran, dass du sogar imstande sein wirst, die Kräfte deiner Fantasie zu übertreffen. Schmerz und Leid haben dich unheimlich stark werden lassen. Kluge Menschen erkennen dies mit ihrem sechsten Sinn… Doch es ist eine sehr zerbrechliche Stärke, die mir Sorgen bereitet. Ich mag dich heute Nachmittag nicht allzu lange aufhalten. Denn du wirst heute Abend eine langwierige Erzählung vor dir haben, die nicht so leicht zu verdauen ist. Ich weiß davon, Irene ebenfalls…“ Amelia blickte sich unauffällig um und hielt dabei nach heimlichen Zuhörern Ausschau.

„Weißt du Amelia, ich verrichtete tagtäglich ohne Nörgeleien meine Arbeit, lächelte den ganzen mürrischen Gesichtern in meinem Umfeld zu und glaubte dabei immer an meine Träume, die stets kurz davor waren, von Einsam- und Hoffnungslosigkeit verschlungen zu werden. Doch der Hass auf unsere egoistische Welt, mit all ihren darauf lebenden herzlosen Menschen, blieb zu jeder Zeit tief in mir verborgen bestehen. Er wurde in meiner frühen Kindheit geweckt und wuchs mit den Jahren, sodass ich ihn nur noch mit endloser Trauer unterdrücken konnte. Und dann durfte auch ich einen schicksalhaften Tag erleben, an dem ich Menschen traf, welche jener ungerechten Welt den Kampf angesagt hatten. Der eine nutzt seine unantastbare Kombinationsgabe, um Verbrechen aufzudecken. Der andere wiederum bedient sich rechtswidriger Mittel, um den mittellosen Leuten einen neuen Lichtblick in ihrem Leben zu schenken. Mich zog es zu den Moriarty-Brüdern, da ich ihren Drahtseilakt zwischen Gut und Böse von Anfang an bewunderte. Ich verstehe deine Sorgen. Menschen liebzugewinnen, die ein Ziel anstreben, das mit aller Wahrscheinlichkeit nur mit dem Opfer des eigenen Lebens erreichbar ist, birgt eine große Gefahr… Man verrennt sich in einer Besessenheit, welche plötzlich alle anderen Güter in den Schatten stellt. Aber ich bin nicht blind vor Liebe, ich sehe glasklar. Und dennoch fürchte ich den Tag, an dem ich etwas Wertvolles in dieser Welt zurücklassen muss, falls mich das jüngste Gericht erwartet… Ha, ha, da hörst du es, mein unfehlbarer Pessimismus schlägt mal wieder erbarmungslos um sich. Spekulieren allein hilft nichts. Auf welchem Wege Williams Pläne umgesetzt werden, ist noch ungewiss. Vielleicht kommt auch alles ganz anders. London ist nicht der Mittelpunkt der Welt. Wer weiß schon, welche Umstrukturierungen in anderen Ländern im Gange sind, die uns bald erreichen könnten. Das dies zu weiteren Konflikten führen würde steht außer Frage. Doch wie wird es für Clayton ausgehen…? Sollte er tatsächlich einen Attentat auf…du weißt schon wen…geplant haben, ist solch eine Tat ebenfalls ein Selbstmordakt. Tut mir leid, dass ich die Wahrheit so ungezügelt ausspreche, aber ich finde sein egoistisches Verhalten, den ganzen zuvor geretteten Mädchen gegenüber einfach nur rücksichtslos. Und vor allem auch dir selbst gegenüber. Ignoriert er denn völlig deine Gefühle? Mir ist nicht verborgen geblieben, dass dein Herz mit starken Empfindungen für ihn zu kämpfen hat. Mich macht das unsagbar wütend! Als Strafe würde ich deinen ach so ehrenvollen Retter am liebsten in einem Verließ einsperren, bis er zur Vernunft kommt! Ich bereue es fast, ihm so aufgelöst gedankt zu haben…“, sprach Miceyla bewegt und konnte nicht vermeiden, dass ihr gelassener Tonfall etwas aufbrausender wurde. Amelia neben ihr presste die Lippen aufeinander und starrte auf ihre leicht zitternden Hände hinab, welche auf ihrem Schoß ruhten.

„Es…es mag vielleicht ein wenig verwirrend klingen, doch deine Worte sind für mich Wohltat und Schmerz zugleich. Ach… Miceyla… Ich ertrage es einfach nicht länger. Ja, ich liebe Clayton… So sehr, dass ich ihm bis ans Ende der Welt folgen und für ihn sterben würde. Warum reißt mir denn keiner mein klägliches Herz aus meiner Brust, damit ich dieses vereinnahmende Gefühl der Liebe, nicht mehr erdulden muss. Denn meine Sehnsüchte haben keinerlei Hoffnung, jemals Anklang zu finden. Meine Gefühle erreichen Clays eingefrorenes Herz nicht und er würde sie ohnehin niemals erwidern. All seine Liebe schenkte er bereits vor langer Zeit einem Mädchen. Wer einst auf solch intensive Weise geliebt hat, nimmt die Erinnerung daran mit ins Grab, unfähig sich vorher noch einmal einer anderen Person öffnen zu können. Ich sollte mich selbst dafür hassen, dass ich so etwas wie Eifersucht für jene junge Frau empfinde, die schon längst in den Himmel gerufen wurde. Es ist schwer sich damit abzufinden, dass eine Liebe zwischen und beiden, in diesem Leben niemals möglich sein wird. Man kann wohl nicht bei allem Glück haben. Eigentlich müsste ich schon dafür dankbar sein, mich gerade hier an diesem friedlichen Ort, mit dir unterhalten zu dürfen. Du und ich wissen beide, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. Übrigens behaupten viele im Theater, Clayton und Irene wären ein heimliches Paar, was ein großer Irrtum ist. Seine Sturheit besitzt eine solche Beharrlichkeit, dass er nie und nimmermehr für eine Frau Gefühle entwickelt, aus Furch seinen eigenen Schwur untreu zu werden. Ja so ist es, selbst die tapfersten Männer wissen was Angst bedeutet. Aus der Geschichte zwischen dir und William, werde ich mich raushalten. Mir gefallen seine ganzen radikalen Verbrechen nicht. Zwar kann auch ich die meisten egoistischen Adeligen nicht leiden, aber… Egal… Wie gesagt, ich mische mich da nicht ein. Nur würde mich noch interessieren, welche Rolle du dem Detektiv Sherlock Holmes, bei dem hitzigen Rennen für Rum und Ehre zuschreibst. Im Theater neulich da… Nein, vergiss mein neugieriges Nachfragen. Im Moment ist es zu früh, sowohl für dich als auch für mich. Denn gewisse Entscheidungen dürfen darauf warten, getroffen zu werden. Und dann sind da ja auch noch die Brüder von William, die es dir sicher nicht gerade leicht machen, mit ihm Zeit alleine zu verbringen. Hi, hi… Unser Gejammer ist wahrlich auf höchstem Niveau. Du wirst deinen vor dir liegenden Weg schon meistern, schließlich liegt dir die Abenteuerlust im Blut. Jedoch ist Normalität für uns beide gleichermaßen zu eintönig. So ganz nebenbei… Es macht mich unheimlich glücklich, dich von nun an öfters im Theater

singen hören zu dürfen. Deine zauberhafte Stimme ist Balsam für die Seele…“, erzählte Amelia offenherzig und lächelte zaghaft, was ihre feinen Gesichtszüge noch mehr hervorhob.

„Es freut mich zu hören, dass ich dazu beitragen kann, dass du fröhlicher sein kannst. Und danke, dass du meine Entscheidung akzeptierst, mich Williams Revolte angeschlossen zu haben. Liebe…ist kein Gefühl das einem immerzu Glück beschert. Es trägt auch oftmals dazu bei, dass man sich unglücklich fühlt. In wen wir uns verlieben, entscheidet meist unser Herz. Du kannst nicht viel dagegen unternehmen, außer diesen bittersüßen Schmerz unerwiderter Gefühle anzunehmen. Sieh es als eine lehrreiche Erfahrung, die dir zeigen will, dass die für dich bestimmte Person, noch irgendwo auf dich wartet. Liebe entsteht von ganz allein und kann sich so urplötzlich, wie der Nebel in der Morgensonne wieder auflösen. Behüte dein Herz, doch halte es nicht wie Clayton verschlossen. Wenn zwei füreinander bestimmte Menschen sich finden und die ihnen entgegengebrachten Gefühle empfangen, entsteht ein Wunder, dass sich mit keiner Wissenschaft dieser Welt erklären lässt. In diesem Sinne, lass und dankbar bleiben und lächelnd in die Zukunft blicken, mag sie auch noch so ungewiss sein. Ich würde ja nur zu gern die Zeit anhalten, um länger mit dir plaudern zu können, doch es wartet noch eine Verabredung auf mich, bei der ich mehr oder weniger gezwungen bin, sie wahrzunehmen…“, sprach Miceyla aufmunternd und warf seufzend einen Blick auf ihre Taschenuhr. Neugierig betrachtete Amelia das golden schimmernde Ziffernblatt.

„Deine Uhr ist wirklich ein Hingucker. Ich habe bisher keine schönere gesehen. Woher hast du sie? Ein Geschenk von deinem William?“, fragte sie lächelnd nach. Verträumt schüttelte Miceyla den Kopf.

„Nein, Albert schenkte sie mir, sein älterer Bruder.“

„Albert… Verstehe. Dann solltest du diese Uhr wie deinen wertvollsten Schatz behüten. Denn ich wette mit dir, dass er diese Taschenuhr als Symbol für eure gemeinsam Verbrachte Zeit ansieht. Wo wir gerade von der Zeit reden, ich denke du brichst jetzt besser zu eurem vereinbarten Treffpunkt auf. Sonst kommt Clayton noch auf dumme Gedanken und überlegt sich wieder irgendeinen irrwitzigen Streich, um ein wenig auf deinen Nerven herumzutanzen. So etwas macht er für sein Leben gern, wenn andere nicht ihren Pflichten nachgehen. Clay besitzt eine ziemlich eigentümliche Art, seine Strenge zum Ausdruck zu bringen. Hach… He…! Schau mich nicht so neckend an! Ja, ja, ich liebe nun mal jede Seite an ihm… Bis bald, Miceyla. Und möge dir der Mut hold sein. Du wirst haufenweise davon brauchen…“ Verlegen erhob Amelia sich und blickte sie aber noch einmal mit einem gefassten Gesichtsausdruck an, woraufhin ein Lächeln zum Abschied folgte. Auch Miceyla verließ ihren Platz auf der Parkbank aufbruchsbereit.

„Der Mut wird uns beide leiten. Wir haben es bis hierher geschafft, daher gibt es für uns keinen Grund, dass vor uns liegende Unbekannte zu fürchten. Auf ein baldiges Wiedersehen, Amelia.“
 

Miceyla hörte den jubelnden Applaus der letzten Vorstellung, gedämpft von innen zu ihr in den Außenbereich herüberschallen. Die Sonne verschwand allmählich am Horizont und färbte den Himmel über den Dächern beinahe blutrot. Nervös drehte sie im hinteren Bereich des Theaters mehrere Runden, da sie zu angespannt war um stillstehen zu können. Sie bekam nach einer langen Zeit des Wartens den Eindruck, Clayton wäre anderweitig beschäftigt, doch da öffnete sich auf einmal knarzend das hintere Tor und er trat tänzelnd zu ihr hinaus.

„Guten Abend, mein Vöglein. Freut mich zu sehen, dass du es heute geschafft hast, dem Käfig der Moriartys zu entfliehen. Hoppala! Hab ich dich etwa erschreckt? Ha, ha! Verzeih das Warten, aber die Damen haben mich mal wieder mit Geschenken und Blumen überhäuft. Da musste ich mich natürlich anständig revanchieren. Schande über mein Haupt, dass ich unsere Verabredung hinten drangestellt habe! Nichtdestotrotz, hier stehe ich nun, bereit dir deine Offenbarung zu schenken, die du schon voller Inbrunst herbeisehnst.“ Miceyla versuchte ihre Erschrockenheit zu vertuschen und musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Ebenfalls einen guten Abend, werter Matador Muscari. Ihr tragt ja noch immer Euer auffälliges Kostüm von Eurem Auftritt. Gedenkt Ihr nicht Euch noch vorher umzuziehen, ehe Ihr Euch in ein konservatives London hinauswagt? Ist bloß ein gut gemeinter Rat meinerseits, um Euch vor Unannehmlichkeiten zu bewahren“, kommentierte Miceyla scherzhaft seine übertrieben auffällige Maskerade und musste kichern. Auch Clayton lachte erstmal nach ihrem ironischen Einwand.

„Zu gütig Herzchen, dass du dich um meinen guten Ruf sorgst. Doch ist dies mein Zeichen der Entschädigung, für deine lange Wartezeit. Nachdem ich mich von den Damen losgerissen hab, stürmte ich gleich von der Bühne hierher. Hörst du nicht, wie sehr ich außer Atem bin? Wohlan, da ich heute wieder den Alleinunterhalter spielen darf, wähle ich mal einen gemütlichen Ort, für unsere Plauderrunde aus. Folge mir unauffällig. Ich zeige dir wie ich hause, wenn ich die Nacht nicht im Waisenhaus oder im Theater verbringe…“, sprach Clayton geheimnisvoll und übernahm schnurstracks die Führung. Miceyla tat wie ihr geheißen und wollte ihm vertrauen. Nach einem beachtlich zurückgelegten Fußmarsch, erreichten sie einen unbewohnten Bezirk der Stadt, in dem man nur stillgelegte Fabrikhallen und Lager für diverse Rohstoffe vorfand. Etwas verwirrt behielt sie die Frage für sich, ob er tatsächlich in dieser beklagenswerten Gegend lebte. Denn dann würde sie nur wieder, an ihrem neugewonnenen Vertrauen ihm gegenüber zweifeln.

„Da wären wir! Herzlich willkommen in meinem beschaulichen Heim! Ha, ha, ha! Köstlich dein überraschtes Gesicht! Hast du etwa erwartet, dass ich dich zu einem vornehmen Anwesen führe? Sei jetzt nicht enttäuscht. Ich würde diesen Ort für kein teures Grundstück eintauschen. Hier…bin ich mit Herz und Seele zu Hause“, stellte Clayton ihr mit nostalgischem Blick, seine ungewöhnliche Behausung vor. Miceyla befand sich auf einer großen Weidefläche, auf dessen Mitte ein hoher Turm emporragte, der beinahe wie eine kleine mittelalterliche Burg aussah. Um ihn herum standen einige dunkelgrüne Tannen, die ihm einen märchenhaften Touch gaben. Bei dem hohen Gebilde vor sich, bekam sie sogleich ein Déjà-vu und dachte an jenes unangenehme Scharmützel in Lambeth zurück. Sie versuchte den Gedanken daran rasch wieder zu verdrängen.

„Ähm… Nun ja… Um ehrlich zu sein, erahnte ich bereits etwas Ähnliches in der Richtung. Du magst nach außen hin vielleicht wie ein umgänglicher Geselle wirken, doch in deinem Innern bist du ein Mensch, der das Alleinsein genießt. Und was soll ich sagen, du besitzt wahrhaft ein Faible für höher gelegene Orte, ha, ha. Bin gespannt wie der Turm von innen aussieht“, meinte sie lachend und folgte ihm weiter bis zur Eingangstür.

„Das darfst du ja jetzt erfahren. Bitte tritt ein, in mein eigenes kleines Reich, in dem man den Sternen ein ganzes Stück näher ist…“ Clayton ließ ihr mit höflichem Lächeln den Vortritt und betätigte hinter ihr einen Schalter, woraufhin im gesamten Turm Lampen zu leuchten

begannen, die ein angenehmes Licht verströmten.

„Du kannst bis zur obersten Etage hinauflaufen. Die Aussicht dort oben ist fantastisch, wirst sehen!“, spornte er sie mit kindlicher Begeisterung an. Miceyla lächelte daraufhin nur leicht unbehaglich und folgte der steilen Wendeltreppe bis ganz nach oben. Dort betrat sie etwas zögerlich einen großflächigen Raum, der fast wie ein gewöhnlicher Dachboden aussah. Doch sie machte große Augen bei dem, was es dort alles zu entdecken gab. Beinahe rundherum befanden sich deckenhohe Regale, vollgestellt mit diversen Büchern. Auf Tischen standen unzählige verschieden große Apparaturen, an denen Kabel, Drähte und Schalter befestigt waren. Ihr Blick wanderte weiter und blieb an einem bewunderungswürdigen Teleskop haften, das seinen Platz auf einem idyllischen Balkon hatte.

„Clayton, ich bin sprachlos, dieses Zimmer ist wie geschaffen für einen Physiker. Die Ausstattung ist perfekt darauf abgestimmt. Es erinnert mich etwas an eine Sternenwarte. Und im Gegensatz zu einem gewissen Chaoten, besitzt du ein äußerst penibles Ordnungssystem, für deine ganzen kostbaren Utensilien, ha, ha“, scherzte sie und blickte sich weiter interessiert um.

„Na das versteht sich doch von selbst! Das sind alles unersetzbare Unikate, die gehegt und gepflegt werden müssen. Ach ja, vorwarnend sollte ich dir noch besser sagen, lieber nicht den Generator dort drüben in Gang zu setzen. Ich weiß selbst noch nicht genau was dann passiert, ha, ha. Aber bevor wir uns dem Ernst des Lebens widmen, lass uns noch vorher die prachtvolle Aussicht genießen. Der klare Himmel kommt an diesem Abend wie gerufen. Ab geht’s nach draußen an die frische Luft!“ Heiter lud Clayton sie dazu ein, sich zu ihm auf den Balkon zu gesellen. Mit entsetzter Miene wich sie etwas zurück.

„W-was?! Dir ist hoffentlich klar, dass ich hohe Orte verabscheue. Machst du das extra um mich zu ärgern? Ich habe nicht vergessen, wie das in Lambeth geendet hat!“, verweigerte Miceyla beharrlich, auch nur einen Fuß hinaus zu setzen. Nach einem langen Seufzer lachte er, um sie ein wenig zu beruhigen.

„Liebes, ich würde niemals von dir verlangen, mir den kleinen Schubser von damals zu verzeihen. Das war grausam von mir. Doch mittlerweile ist dies doch längst Schnee von gestern, oder? Schau her, wie hoch das Geländer hier ist, da kann überhaupt nichts passieren. Außerdem möchte ich, dass du nach oben blickst, anstatt nach unten. Komm schon, fünf kurze Minuten, dann gehen wir wieder hinein. Du wirst es nicht bereuen, versprochen!“, versuchte er gelassen, ihr die Angst zu nehmen und schien damit Erfolg zu haben. Denn Miceyla ließ sich doch von ihm überreden und gestand sich ein, dass ihre kindischen Ängste übertrieben waren und ihr bloß wieder im Weg standen, um ihren wahren Mut entfalten zu können. Mit leicht schlotternden Knie, lief sie langsam zu ihm auf den Balkon hinaus und atmete einmal tief durch, um zu vermeiden das ihr plötzlich schwindelig wurde. Er hielt ihr seine unterstützende Hand entgegen, jedoch lehnte Miceyla sie mit einem verkrampften Lächeln ab.

„Na also! Mein Lob, du hast deine Furcht überwunden. Und nun bitte ich dich, mal einen Blick durch das Teleskop zu werfen. Lass dich einfach mal überraschen, was du dann sehen wirst…“, bat Clayton erwartungsvoll. Sie nickte bereitwillig und blendete das Außengelände rund um den Turm aus, welches im fahlen Licht der hereinbrechenden Nacht, ohnehin nur bruchstückhaft zu erkennen war. Unmittelbar vor dem Teleskop stehend, beugte sie sich etwas hinab und legte eine Hand darauf, damit sie durch die untere Linse hindurchlugen konnte. Clayton half ihr, das Teleskop in eine passende Position zu bringen, die auf ihre Körpergröße abgestimmt war. Es brauchte einen Moment, bis sie scharf sehen konnte. Doch als sie ein klares Sichtfeld hatte, machte ihr Herz vor Begeisterung einen Sprung.

„Die…die Sterne…sie sind zum Greifen nah! Was für ein bezaubernder Anblick! Ich bekam noch nie die Gelegenheit, durch ein Teleskop zu blicken. Du hast vollkommen Recht gehabt, ich hätte ein einmaliges Erlebnis verpasst, wäre ich weiterhin so ein Sturkopf geblieben.“ Miceyla hielt inne, um in aller Ruhe, die unendlichen Weiten des Himmelszeltes erforschen zu können.

„Es ist atemberaubend, nicht wahr? Jede sternklare Nacht ist kostbar für die Sternenkunde, da unser altbekanntes schlechtes Wetter meist dazwischenfunkt. Sieh genau hin und du wirst die Milchstraße erkennen und sogar die für diese Jahreszeit typischen Sternzeichen. Ferne Wunder, die wir zu entschlüsseln versuchen. Wer sich mit der Konstellation der Sterne auskennt, hat auf der gesamten Welt eine recht verlässliche Orientierung. Nicht nur für Seemannsmänner ist dies von essenzieller Bedeutung. Ich hoffe, dass ich dir mit diesem kurzen Ausblick auf die Sterne, eine kleine Freude bereiten konnte. Es ging mir nicht nur darum, dir eine meiner großen Leidenschaften aufzuschwatzen. Wir alle brauchen hin und wieder einmal eine kleine Ablenkung, welche uns die Sorgen und Probleme der irdischen Welt für eine Weile vergessen lässt. Da hörst du es, von Zeit zu Zeit bin auch ich mal sentimental. Was meinst du, sollen wir uns nun auf eine Reise, in die finsteren Abgründe meiner Vergangenheit begeben? Dann darfst du jetzt wieder hineingehen und es dir auf einem der Sessel bequem machen.“ Seine fröhliche Miene verdüsterte sich. Er schien sich gedanklich schon auf seine Erzählung vorzubereiten. Nickend begab Miceyla sich in sein Zimmer.

„Danke, dass ich kurz die traumhaft schönen Sterne, durch dein Teleskop betrachten durfte.“ Für eine Weile herrschte Schweigen und Clayton holte ein altes Buch aus einem der Regale heraus, in dem sich gepresste Blütenblätter von unterschiedlichen Blumen und Sträuchern befanden, die akkurat beschriftet worden waren. Er hielt ihr das Buch hin und gab ihr mit einer wortlosen Geste zu verstehen, dass sie darin blättern durfte. Vorsichtig schlug Miceyla die erste Seite auf und las einen kurzen dort stehenden Kommentar des Autors.

„`Das Leben braucht nicht viel um zu gedeihen. Gib ihm etwas Luft, Wasser und Licht, nun schau zu wie es von alleine wächst. Ebenso wie die Natur, befinden auch wir uns in einem ständigen Wandel. Doch die Natur ist weitaus klüger als der Mensch, welcher diesen Wandel krampfhaft zu verändern versucht. Es ist wichtig loszulassen. Verwelkt eine Blume, finden wir an einem anderen Ort eine neue. Und wenn wir das Unergründliche erforschen und festhalten, geht es niemals verloren, solange wir den Glauben daran in unserem Herzen tragen. Lydia Granville.`“

„Worin liegt der Sinn, für seine Überzeugungen zu kämpfen, wenn man von jedem nur abgewiesen wird? Ist es fair, dass bestimmte Personen gesonderte Rechte zugeteilt bekommen? Der Meisterverbrecher und ich töten, um das schmutzige Mistvieh aus der Welt zu schaffen. Die einzige Gemeinsamkeit, welche uns beide verbindet. Eure Liebe ist nicht gerade eine mit roten Rosen bestückte Romanze. Begehrt dein Herz ihn wirklich so sehr, dass du bereit bist für seine dir eingetrichterten Ideale, alles was du besitzt zu opfern? Du glaubst auf deinem bisherigen Lebensweg Leid erfahren zu haben. Jedoch mein Vöglein, dass wahre Leid steht dir erst noch bevor. Ich weiß, dass jegliche vorwarnende Bemerkungen von mir überflüssig sind, doch sehe ich bereits kommen, dass die Familie Moriarty bald in blutroten Nebel gehüllt sein wird. Meine eigene ist längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen. Noch ist es meine Pflicht eine letzte Aufgabe zu erfüllen, ehe ich dahin folgen kann“, sprach er ungewöhnlich ernst, ohne auf den Kommentar des Buches einzugehen.

„Nun, wir sind sehr sture Wesen, die wenn sie einmal einen festen Entschluss gefasst haben, nicht mehr so leicht umzustimmen sind. Lieber für eine begrenzte Zeit, die glücklichen Momente mit den Menschen genießen die man liebt, als ein sinnloses Leben in Einsamkeit zu fristen. Gleichgültig ob es um die Umstände gut oder schlecht bestellt ist, das Leben bleibt ein aufregendes Abenteuer, bei dem es immer wieder Neues zu entdecken gibt“, teilte Miceyla ihm lächelnd ihre unanfechtbare Einstellung mit. Auch Clayton zeigt kurz ein flüchtiges Lächeln und schob einen Sessel zurecht, sodass sie sich parallel gegenübersaßen und lehnte sich lässig darin an.

„Hm… Uns ist wohl beiden kein langes Leben vergönnt… Dann beginnen wir mal mit unserer Zeitreise. Wir wandern sieben Jahre zurück, nach Pembroke, meiner Meinung nach einer der schönsten Orte im Süden Englands, der sich in Hafennähe befindet. Wo soll ich anfangen? Oh, wie wäre es mit jenem Frühlingstag, der beinahe genauso heiter wie der heutige war? Ach was blühten die Blumen doch damals in den prächtigsten Farben! Wäre ich künstlerisch begabt, so hätte ich alles in einem fantastischen Gemälde festgehalten! Der hohe Farn, wie er sachte meine Haut streift. Die angenehm frische Brise, wie sie mein Gesicht umschmeichelt…“, begann Clayton enthusiastisch und brach allerdings abrupt ab, als er sah wie Miceyla skeptisch die Augen zusammenkniff und begann laut zu lachen.

„Ha, ha, ha! Ist ja schon gut! Kein Grund gleich grummelig zu werden. Lassen wir das mit den überflüssigen Ausschmückungen und fangen noch mal vernünftig an. Schließlich kann selbst die friedvollste Umgebung, nicht vom vergossenen Blut ablenken… Ich lebte damals mit meinen Eltern Harry und Kate, zusammen in einem kleinen Anwesen. Geschwister besaß ich keine. Nicht weit von unserem Grundstück entfernt, befand sich die Residenz der Granvilles, gegen die unser mickriges Anwesen, wie eine lausige Waldhütte wirkte. Jene hochangesehene Familie, besaß schon immer wichtige Verbindungen im gesamten Land und war politisch sehr engagiert. Wir, die Familie Fairburn, waren an die Granvilles durch einen Vertrag gebunden, an dessen Vorschriften wir uns verpflichtend halten mussten, damit unser Adelsgeschlecht am Leben gehalten werden konnte. Denn Erfolg war auch schon immer beim Adel ziemlich ungleichmäßig verteilt. Wer nicht bereit ist sich dem Mächtigeren unterzuordnen, verliert schnell jegliche Alternativen, um sich über Wasser zu halten und dafür zu sorgen, dass der eigene Adelstitel nicht aus der Welt verschwindet. Aber ich denke du bist mittlerweile gut genug, mit dem strengen Regelwerk des Adels vertraut und ich kann mir weitere Erklärungen diesbezüglich sparen. Die erste Ehefrau des damaligen Oberhauptes der Grafenfamilie Granville, Brendon Granville, verstarb sehr früh. Doch es dauerte nicht lange, da fand er eine neue Gattin, die ein uneheliches Kind mit in die Familie brachte. Der Name des Mädchens lautete Lydia. Aus Liebe zu der Frau namens Fiona, akzeptierte er das Kind. Aber damit Lydia sich als ein vollwertiges Mitglied der Granvilles bezeichnen durfte, musste sie mit dem Sohn des Oberhauptes, Harley Granville vermählt werden. Das man ein jungfräuliches Mädchen, mit einem zwölf Jahre älteren Mann verheiraten wollte, der überhaupt nicht an ihrem Glück interessiert war, ging mir sofort gehörig gegen den Strich. Und so kosteten wir die letzte Zeit aus, in der wir uns ungehindert treffen konnten, ohne das unsere Familien etwas dagegen hatten…“
 

Leise summend lief Lydia über eine Wiese, dessen hohes Gras ihr beinahe bis zu den Knien reichte. Ihr Ziel war ein kleiner Hügel, auf dem rote Mohnblumen im sachten Wind tanzten. Schmunzelnd blickte sie an sich hinab.

„Mein Kleid ist wieder mal mit Flecken übersäht. Da wird man wie immer endlos mit mir schimpfen, ha, ha“, sprach sie lachend und setzte unbekümmert über diese Nichtigkeit ihren Weg fort. Heiter ließ sie sich an dem höchsten Punkt des Hügels nieder, auf dem ein einzelner Magnolienbaum wuchs, der in voller Blüte stand. Lydia lächelte beim Anblick der vor ihr liegenden, häuserlosen Landschaft und schlug ein Buch auf, in dem sie sorgfältig begann Skizzen anzufertigen. Sie war so sehr in das Zeichnen vertieft, dass ihr der Atem stockte, als plötzlich rosafarbene Blütenblätter auf sie herabregneten und einige von ihnen, die Seite mit der gerade von ihr angefangenen Zeichnung bedeckten. Nachdem Lydia sich von ihrem Schreck erholt hatte, klappte sie schmunzelnd ihr Buch zu und ließ es gemeinsam mit dem Stift von ihrem Schoß fallen. Anschließend sprang sie ruckartig in die Höhe und wirbelte herum.

„Clayton, du alter Lausebengel! Na warte, Rache ist süß!“, rief Lydia belustigt und schnappte sich einen großen Haufen, der am Boden liegenden Magnolienblüten. Kurz darauf jagte sie dem flüchtenden Clayton hinterher und warf die Blütenblätter nach ihm. Lachend hielt er sich schützend die Hand vor sein Gesicht.

„Ha, ha! Hey, das ist nicht fair! Du weißt doch, dass ich… Ha-hatschiii!“ Niesend rieb er sich seine juckenden Augen, welch sich mehr und mehr röteten.

„Herrjemine, Clay. Es kommt mir so vor, als würde deine Allergie von Frühling zu Frühling schlimmer werden. Für mich käme es einem Todesurteil gleich, gegen die Schönheit der Natur allergisch zu sein. Zeit das wir einen Arzt finden, der wenigstens deine Symptome etwas lindern kann. Sonst musst du irgendwann die Sommermonate im Keller verbringen und ich bekomme dich nur noch im Winter hier draußen zu Gesicht“, sprach sie liebevoll und stupste ihm spielerisch mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Blinzelnd blickte er Lydia an und musste erst mal schweigend lächeln. Wann immer er sie sah, entspannte sich sein gesamter Gemütszustand und er hätte das Irrsinnigste geglaubt, dass man ihm erzählte. Ihre langen Haare schimmerten in der Sonne in einem hellen Rotbraun und ihre grünbraunen Augen strahlten solch eine warmherzige Güte aus, dass es ihn verlegen machte, wenn er sie zu lange anblickte.

„Ich finde den Winter herrlich, da stört mich dieses ganze aufdringliche Gestrüpp wenigstens nicht, ha, ha! He…! Hey, bleib mir mit dem Gras vom Leib! Ich nehme alles zurück, was ich gesagt habe! Ha, ha, Hilfe!“, neckte Clayton sie spielerisch und ergriff erneut die Flucht, als sie Anstalten machte, dass zuvor ausgerupfte Gras ihm mitten ins Gesicht zu werfen.

„Du wagst es tatsächlich schon wieder, das Wort `Gestrüpp` in den Mund zu nehmen?! Hiergeblieben, dein letztes Stündlein hat geschlagen, ha, ha!“, rief sie herausfordernd und musste laut über ihr Herumgealbere lachen. Eine Weile rannten beide auf dem Hügel umher, bis sie nicht mehr anders konnten, als sich erschöpft in dem weichen Gras niederzulassen. Dort schnappte Clayton sich ihr Skizzenbuch.

„Mensch Lydia, deine Zeichnungen verschlagen mir glatt die Sprache. Vielleicht solltest du doch den Rat deines Vaters folgen und dich intensiver der Malerei widmen, anstatt dich mit Pflanzen und deren Heilwirkungen auseinanderzusetzen. Ich meine ja nur… Denn stell dir vor, mit deinem Talent hättest du das einmalige Potenzial, um in London als Hofmalerin für die Königin engagiert zu werden. Aber einen Platz an der Universität zu bekommen, ist hingegen etwas unrealistischer. Leider wird dies für eine Frau deines Adelsstandes, als unangemessen angesehen. Ich wünschte wir lebten in einer Welt, in der wir all unsere Träume erfüllen könnten…“ Seufzend blätterte Clayton in ihrem Buch und genoss dabei Lydias Wärme, während sie neben ihm saß und sich mit ihrem Kopf gegen seine Schulter lehnte.

„Ach Clay, erinnere mich bitte nicht an dieses Elend. Ganz gleich für welchen Weg ich mich auch entscheide, letztendlich lande ich in einer Sackgasse. Für mich ist die Heirat nun mal vorrangig vorgeschrieben. Ich kann meine Mutter nicht noch weitere Enttäuschungen zumuten. Seitdem mein leiblicher Vater von uns gegangen ist, verlor sie jegliche Lebensfreude. Doch als sie den Grafen Brendon Granville kennenlernte, begann sie wieder zu lächeln. Ich habe ihn als meinen neuen Vater akzeptiert, was einige Jahre in Anspruch genommen hat. Ihm ist die Familientradition sehr wichtig, jedoch ist er ein Mensch der nicht wegsieht, wenn andere Hunger leiden. Und dies beweist, dass er ein barmherziges Wesen besitzt. Auch mit Harley… werde ich schon irgendwie klarkommen. Sein schier unendliches Engagement, macht seine großspurigen Charakterzüge wieder wett. Für unser Land wird er schon bald eine bedeutsame Rolle spielen. Als die Frau an seiner Seite, darf ich ihm daher keine Schande bereiten und muss ihm bei seinem Werdegang unterstützen.“, erwiderte Lydia ein wenig monoton, sodass man ihre gerade gesprochenen Worte kaum ernstnehmen konnte. Zähneknirschend klappte Clayton das Buch zu und drehte sich zu ihr herum, damit er sie direkt anblicken konnte.

„Hörst du dir selbst eigentlich mal zu? Mir wird jedenfalls übel, wenn ich mir das anhöre. Meine liebe Lydia, du bist drauf und dran dich selbst aufzugeben. Das der Graf ein gerechter Mann ist, da kann ich dir noch zustimmen. Dank seiner ausgeglichenen Hierarchie, geht es meiner Familie sehr gut. Aber kannst du wirklich damit leben einen Mann zu heiraten, den du überhaupt gar nicht liebst? An dir hat er auch nicht das kleinste Interesse. Allein bei dem Gedanken, dass er dich grob anpackt, würde ich ihm am liebsten das nächste Küchenmesser in sein Herz rammen. Du wirst bis an dein Lebensende todunglücklich sein. Ach, wie gern würde ich mit dir fortlaufen… Doch wenn ich alles verliere, kann auch ich dir kein glückliches Leben mehr ermöglichen. Nur…was nicht ist, lässt sich ja eventuell noch ändern…“, beklagte Clayton ihre deprimierende Lage und ließ sich nach hinten in das dichte Gras fallen. Lydia legte sich neben ihn und nahm zärtlich seine Hand.

„Clay mein Guter, sieh bitte nicht alles so negativ. Auch ich male mir in meiner Fantasie aus, was für ein abwechslungsreiches Leben wir führen könnten… In Freiheit… Ein schlichtes und einfaches Leben mit keinerlei Verpflichtungen. Solch ein naiver Traum wird leider niemals in Erfüllung gehen. Bitter aber wahr. Und denke immer daran, dass auch du noch einiges erreichen willst. Du magst doch schließlich die Familie Fairburn stolz machen, oder? Außerdem bin ich ein Jahr älter als du, daher sei schön fleißig! Es ist deine große Chance, in Oxford studieren zu dürfen. Weltfremde junge Männer, haben nun mal keine erfolgreiche Zukunft vor sich. Und sei nicht traurig, wenn wir uns länger nicht sehen. Veränderungen machen uns stärker. Ich habe es geschafft, meine Heirat um einige Monate hinauszuzögern. Doch nun stößt meine Ausrede, ich sei noch nicht bereit dazu, auf taube Ohren. Vielleicht entdeckst du dich selbst auch neu und schenkst, so wie du es mir ebenfalls rätst, deinen Begabungen etwas mehr Beachtung. Denn jeder hier im näheren Umkreis weiß doch, wie sehr du die Schauspielerei liebst. Ich kann mich noch an jedes Stück erinnern, das du an unseren ganzen Feiern aufgeführt hast. Keiner kann die Menschen so gut zum lachen bringen, als auch zu Tränen rühren wie du. Und wer kennt schon jeden einzelnen Text von Shakespeare auswendig und kann ihn fehlerfrei aufsagen. Stell dir nur mal vor, wie du deine eigene Bühne betrittst, als der sagenumwobene `Matador Muscari`!“, verkündete Lydia

betonend und blickte ihn strahlend an.

„Matador Muscari? Was für ein furchtbarer Name, ha, ha. Du hast einfach noch wildere Fantasien als ich. Was auch immer die Zukunft für uns in petto haben mag, wir werden wieder zueinander finden und hier unter dem Magnolienbaum beieinander liegen…“, erwiderte Clayton träumerisch und beide schmiegten lächelnd ihre Köpfe aneinander.
 

Mit entmutigter Miene schlurfte Clayton nach Hause und war zu lustlos, um irgendeine sinnvolle Tätigkeit ausführen zu können. Das Lydia in weniger als zwei Wochen, einen griesgrämischen Möchtegern Wohltäter heiratete und er nichts dagegen tun konnte, trieb ihn in die pure Verzweiflung. Und gleichzeitig machte es ihn so unsagbar wütend, dass er sich mit der gesamten Welt anlegen würde, um ihre Heirat zu verhindern. Grübelnd lag er auf seinem Bett und starrte an die Decke. Ein lautes Klopfen an der der Tür unterbrach sein Dahinvegetieren.

„Clayton, ich komme jetzt rein…“ Es trat ein Mann in sein Zimmer, an dessen freundlichen hellblauen Augen man erkennen konnte, dass er viel wert auf eine umsichtige und disziplinierte Lebenseinstellung legte. Rasch setzte Clayton sich in seinem Bett auf.

„Vater… Verzeih das ich nicht auf dein Klopfen reagiert habe. Ich bin heute etwas durch den Wind…“, entschuldigte er sich mit einer trübseligen Tonlage.

„Hach… Mein Junge, du bist nicht nur heute durch den Wind, sondern bereits schon seit einigen Wochen. Um genauer zu sein, seitdem ein Datum für Lydias Hochzeit gefallen ist. Du hast heute wieder die Tochter der Granvilles getroffen, stimmts?“, fragte sein Vater geruhsam und konnte das Gefühlschaos seines Sohnes, nur zu gut nachempfinden. Da Clayton keine geeigneten Worte fand, um ihm vernünftig darauf zu antworten, schwieg er nur, ohne ihm direkt in das Gesicht zu sehen.

„Zwischen euch beiden hat sich bereits sehr früh, eine wunderbare Freundschaft entwickelt. Doch ich kann dir nur ans Herz legen, eure unterschiedlichen Lebenssituationen, aus einer realistischen Perspektive zu betrachten. Dramen lassen sich vermeiden, wenn man eine anständige Vernunft besitzt. Schließlich bist du doch weitaus klüger, als deine ganzen Helden aus Shakespeares Werken, oder? Deine Mutter und ich mussten im Leben auch auf einiges verzichten. Aber sehen wir für dich, wie unglückliche Menschen aus?“, fuhr er belehrend fort.

„Was nützt mir Klugheit, wenn ich nur von Narren umgeben bin, bei denen gut durchdachtes Handeln völlig überflüssig ist? Verzicht…hinterlässt bloß Lücken im Herzen, welche durch nichts auf der Welt mehr ersetzt werden können… Wiederum mag ich mich auch nicht wie irgendein dahergelaufener Tölpel verhalten. Ich werde schon merken, wann ich an der Reihe bin, um meinen Zug zu machen“, entgegnete Clayton nüchtern. Lächelnd trat sein Vater zu ihm ans Bett und legte eine längliche Schatulle aus Kiefernholz neben ihm ab.

„Weise gesprochen, mein Sohn. Nicht mehr lange und du wirst ausreichend Ablenkung erhalten. Mit deinem Studium wirst du genug ausgelastet sein. Und mit Stolz kann ich bereits jetzt vorausblickend sagen, dass du dich an der Universität als einer der Besten, wenn nicht sogar der Beste in der Fakultät für Physik bezeichnen kannst. Und das du als einer der Ersten deinen Abschluss machen wirst, versteht sich von selbst. Es ist nicht meine Absicht, deine Begabungen in den Himmel zu loben, mir ist einfach nur wichtig, dass du deine verdienten Chancen erhältst, um all das aus dir rauszuholen was in dir steckt. Wenn du es geschickt anstellst, erreichst du mehr als meine Wenigkeit im Leben. Daher Kopf hoch, mein Junge! Wer eine starke Psyche besitzt, braucht unangenehme Gefühle nicht zu fürchten“, sprach er

überschwänglich und klopfte Clayton dreimal kräftig auf den Rücken.

„Gefühle… Übrigens, was ist eigentlich in der hölzernen Kiste? Ist es etwa das was ich denke…?“, fragte er murmelnd und blickte forschend auf die Schatulle seines Vaters.

„Öffne sie und du wirst es erfahren.“ Das lies Clayton sich nicht zweimal sagen und nahm vorsichtig den Deckel ab.

„Das…das ist doch dein alter Degen…“, platzte es sogleich erstaunt aus ihm und er betrachtete ehrfürchtig die funkelnd silberne Klinge.

„Genau, mein Sohn. Mit diesem Degen verbinde ich so einige Erinnerungen. Sowohl gute als auch schlechte. Ich möchte ihn dir anvertrauen und hätte gerne, dass du ihn mit nach Oxford nimmst. Er wird dich an meiner Statt beschützen und dir Glück bringen. Und du kannst es auch gerne, als verspätetes Geschenk zu deinem siebzehnten Geburtstag betrachten, ha, ha. Zudem habe ich dir jede noch so schwere Fechttechnik beigebracht. Deine Präzession macht selbst mich sprachlos. Es gibt nichts mehr, was du noch lernen könntest. Wenn du mit diesem Degen trainierst, wirst du mich bestimmt eines Tages übertreffen, davon bin ich fest überzeugt“, sprach sein Vater leicht rührselig und blickte Clayton wehmütig an.

„Ich glaube nicht, dass ein Schüler seinen Meister jemals übertreffen kann. Doch ich danke dir, dass du mir deinen wertvollsten Besitz anvertraust und werde gut darauf aufpassen. Nun bin ich motiviert weiterzukämpfen. Die Fechtkunst war schon immer deine große Leidenschaft. Auch wenn du tagtäglich nur über Physik redest, ha, ha“, sprach Clayton warmherzig und lächelte ihn dankbar an.

„Ich bin froh, dass zwischen uns ein so gutes Vertrauensverhältnis herrscht. Nun gut, jetzt solltest du dich schon mal vorbereiten. Schließlich sind wir heute zum Abendessen bei den Granvilles eingeladen. Du kennst die anstandsgemäße Routine. Mit anderen Worten bitte ich dich, ein ausgiebiges Bad zu nehmen und deinen elegantesten Anzug anzuziehen. Na komm mein Junge, mach nicht schon wieder ein solch bekümmertes Gesicht. Du wirst dieses wichtige Anliegen ja wohl nicht vergessen haben“, predigte sein Vater mit einer liebevollen Strenge.

„Nicht vergessen, eher verdrängt… Die wievielte Verlobungsfeier ist das jetzt? Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mir die ganzen gekünstelten Bräuche des Adels zum Hals raushängen… Du denkst da genauso, aber schweigst im Gegensatz zu mir. Doch ich mag meinen Geburtsort nicht mit schlechtem Gewissen verlassen. Daher werde ich mich der Schikane noch ein Weilchen länger fügen und mich der strikten Hierarchie beugen“, gab Clayton wiederwillig nach und verschloss dabei die Schachtel mit dem langen Degen.

„So ist es richtig, mein Sohn. In der Ruhe liegt die Kraft. Wild um sich schlagende Rebellen, ziehen in unserem Land den Kürzeren. Bewahre stets einen kühlen Kopf und du wirst irgendwann die Menschen, mit deinen im Stillen ausgedachten Plänen überrumpeln…“
 

Clayton fuhr mit seiner rechten Hand über das vergoldete Geländer, während er die breite Treppe im Anwesen der Granvilles emporstieg. Unruhig zupfte er sich seine Fliege zurecht und strich noch einmal über seine nach hinten gekämmten Haare. Er wusste nicht wo seine plötzliche Nervosität herkam. Denn eigentlich gab es dafür keinen triftigen Grund. Ein abendliches dinieren beider Familien, war seit Jahren für ihn Gang und Gebe. `Hoffentlich ist dies keine unheilvolle Vorwarnung, dass am heutigen Abend etwas Unvorhergesehenes passieren wird…`, dachte er mit einem unbehaglichen Gefühl im Magen und ließ sich von einem Butler die Tür zum Speisesaal öffnen. Er hatte es nicht eilig gehabt, daher trudelte er als Letzter ein. Seine Eltern waren vorgegangen und saßen bereits nebeneinander an der langen Tafeln. Clayton war froh, dass es sich um ein Treffen in kleinem Rahmen handelte. Lydias Mutter und der Graf Brendon Granville, führten mit seinen Eltern ein oberflächliches Gespräch. Als sein Blick auf Harley fiel, der genüsslich an seinem Weinglas nippte, begannen seine Hände argwöhnisch zu zucken.

„Clayton, mein junger Freund! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, du könntest die vortreffliche Vorspeise des heutigen Mahls verpassen. Aber du bist noch rechtzeitig eingetroffen. Setz dich her und trinke ein Gläschen mit mir. Oder verträgt ein Jüngelchen wie du etwa keinen Alkohol?“, sprach Harley mit herausfordernder Stimmlage und grinste ihn schelmisch an. Clayton musste sich arg am Riemen reißen, dass ihm kein scharfer Kommentar entglitt und nahm schräg gegenüber von dessen Tischseite Platz, damit er beim Essen nicht in seine appetitverderbende Visage blicken musste. Denn immer wenn er den jungen Mann ansah hatte er den Eindruck, eine düstere Version von sich selbst zu erblicken. Harleys ordentlich gekämmten hellbraunen Haare und seine wohlgeformten dunkelblauen Augen mit langen Wimpern, ließen ihn viel jünger wirken als er eigentlich war. In der Grafschaft Pembroke, galt er bei den Frauen als der attraktivste Mann. Und dies war nicht nur bei den adeligen Frauen der Fall. Was oft zum Ärgernis für ihn wurde, wenn Verehrerinnen die zum niederen Pöbel gehörten ihm auflauerten. `Lydia! Jetzt hab ich mich von diesem Wichtigtuer so sehr ablenken lassen, dass mir völlig entgangen ist das sie noch gar nicht anwesend ist…` Genau in dem Moment als er sich besorgt umzublicken begann, öffnete sich die Tür und Lydia trat herein. Sie trug ein schwer aussehendes Kleid, dass man ihr um die Taille viel zu fest zugeschnürt haben musste. Denn ihre langsamen Bewegungen ließen sie sehr steif aussehen. Selbst ein Blinder hätte erkannt, dass sie sich gerade mehr als nur unwohl fühlte. Ihre Haare waren mit etlichen diamantenbesetzten Klammern hochgesteckt worden. Der Rotstich ihrer Haarpracht konkurrierte mit der kräftigen Farbe ihres Kleides. Und ihr Gesicht war so hell gepudert, dass sie noch blasser aussah als sonst. Ihr gesamtes äußeres Erscheinungsbild glich eher einer dreißigjährigen Grafengattin, als eines achtzehnjährigen Mädchens. Und trotzdem raubte es Clayton den Atem, sie in dieser Pracht zu sehen. Der Gedanke, dass Lydia gerade optisch perfekt zu Harley passte, versetzte ihm einen schmerzvollen Stich ins Herz. Reflexartig erhob er sich von seinem Stuhl und lief ihr entgegen.

„Lydia… Geht es dir gut? Verzeih, das ist eine törichte Frage… Es ist offensichtlich, wie unwohl du dich fühlst… Ach, ich rede wirres Zeug. Du siehst bezaubernd aus… Ich bekomme kaum noch einen vernünftigen Satz heraus…“, stammelte er hastig und ein hitziges Gefühl überkam ihn.

„Hi, hi… Clay, einmal tief Luft holen! Du siehst mich heute doch nicht zum ersten Mal, in meiner Abendgarderobe. Und zudem macht mich dein Anblick noch viel verlegener… Du bist mit Abstand der vornehmste Gentleman, den ich je gesehen habe…“, sprach sie schmeichelnd und blickte ein wenig schüchtern in seine saphirblauen Augen. Ein lautes Räuspern ließ beide gleichzeitig zusammenzucken.

„Lydia, Clayton, bleibt doch nicht wie angewurzelt stehen. Seht nur, ihr blockiert die Tür. Das Essen wird in wenigen Augenblicken gebracht. Setzt euch, wir wollen uns heute alle gemeinsam unterhalten. In Zukunft werden wir nicht mehr so häufig hier zusammenkommen“, forderte Brendon die zwei mit gütigem Lächeln auf. Sofort folgten sie seiner Aufforderung und nahmen an der großen Tafel Platz. Clayton warf noch rasch einen flüchtigen Blick zu Lydia, die nun zwischen ihrer Mutter und Harley saß.

„Ach schaut nur, ist es nicht entzückend? Immer wenn Clayton sich so fein herausgeputzt hat, sieht es danach aus, als sei er Haleys jüngerer Bruder“, meinte Lydias Mutter fanatisch mit erröteten Wangen.

„Äußerlichkeiten sind nichtsagend und völlig überbewertet. Die Entfernung unserer beiden Charaktere, ist in etwa vergleichbar mit der Entfernung der Erde, zu jeglichen Planeten unseres Sonnensystems. Multipliziert die ganzen Entfernungen miteinander und ihr erhaltet eine grobe Vorstellung davon, wie weit ich und Harley auseinanderliegen“, kam ohne zu zögern ein etwas schroffer Kommentar, um auf die Bemerkung von Lydias Mutter einigermaßen elegant zu kontern. Doch mit seiner umständlichen Formulierung, konnte kaum einer etwas anfangen. Lydia hielt sich eine Serviette vor den Mund, um ihr Lachen zu verbergen. Harley schnalzte verärgert mit der Zunge und funkelte ihn kurz argwöhnisch an. Claytons Mutter gab ihm einen unangenehmen Klaps auf den Hinterkopf.

„Clayton! Was fällt dir ein so herabwürdigend vor den werten Granvilles zu sprechen? Wo sind deine gesitteten Manieren? Ich verlange von dir, dass du dich für den restlichen Abend anständig benimmst!“, blaffte diese ungehemmt und neigte vor dem Grafen und Harley entschuldigend den Kopf. Clayton wich den Blicken der ihm gegenübersitzenden Granvilles aus, die darauf warteten, dass er seine Worte wieder zurücknahm. Er dachte nur etwas resigniert daran, dass seine Mutter in Gesellschaft der vermögenderen Familie eine dominante Person spielte, doch in Wahrheit hatte sie vor ihnen pure Angst. Für ihn bedeutet es die reinste Qual, sich vor anderen verstellen zu müssen, nur aufgrund des Eigenschutzes und um den anderen gerecht zu werden. Für wen zählte schon noch die wahre Persönlichkeit?

„Ach ihr Lieben, hebt eure Häupter und lasst uns zusammen feierlich anstoßen. Für mich gehört ihr alle zur Familie“, sprach Brendon versöhnend und hob sein Glas in die Höhe. Just in dem Moment öffnete sich die Tür im Speisesaal und ein nach Atem ringender Dienstbote platzte herein.

„Verzeihen Sie mir bitte die Störung, doch ich muss dem Grafen eine dringende Botschaft überbringen…“, bemühte dieser sich um einen höflichen Tonfall und eilte an die Seite von Brendons Sitzplatz. Der Bote flüsterte ihm etwas zu und drückte ihm einen Briefumschlag in die Hand. Während Brendon las, wurde er auf einmal ganz bleich im Gesicht und blickte nach einer kurzen Schweigeminute mit bitterernster Miene in die Runde.

„Ich fürchte, dass ich unsere heutige Zusammenkunft an dieser Stelle beenden muss. Mich ereilte soeben der verzweifelte Hilferuf eines sehr guten Freundes, den ich unter keinen Umständen ignorieren kann. Ich werde unverzüglich nach London aufbrechen. Lydia, Harley, bitte vergebt mir… Sage dem Kutscher es ist höchste Eile geboten, er soll die schnellste Strecke zum Bahnhof nehmen!“, verkündete der Graf pflichtbewusst und erhob sich noch ehe er zu Ende gesprochen hatte. Sein Essen ließ er unberührt zurück.

„A-aber Liebling…so warte doch…!“, rief Lydias Mutter ihrem Gatten bestürzt hinterher. `Das nenne ich mal selbstlose Hilfsbereitschaft. Die Lage des Freundes muss sehr ernst sein. Den plötzlichen Aufruhr mal beiseitegeschoben… Was wird jetzt aus dem heutigen Abend…? Soll ich mit meinen Eltern wieder nach Hause gehen?`, fragte Clayton sich unschlüssig darüber und tauschte Blicke mit Lydia aus, die genauso ratlos zu sein schien. Harley sah sich als Erster dazu verpflichtet, das Wort zu erheben.

„Nun Ladys und Gentleman. Diesen kleinen Vorfall hatte keiner von uns voraussehen können. Wäre doch schade drum, wenn jetzt schlechte Stimmung aufkäme. Überlassen wir die Angelegenheit meinem Vater. Harry, hättest du nicht Lust, mit mir zusammen in den Salon zu gehen und ein wenig mit Kartenspielen die Zeit zu vertreiben? Unser restliches Abendmahl inklusive des Desserts, können wir auch dort einnehmen. Die Damen können sich ja derweil anderweitig beschäftigen“, schlug Harley tiefenentspannt vor. `Und ich bin mal wieder für dich Luft, was?`, dachte Clayton verächtlich und wollte dennoch nicht tolerieren, sich von ihm zu kränken zu lassen.

„Selbstverständlich, mit dem größten Vergnügen!“, willigte Harry sofort ein. Mit hasserfülltem Blick sah Clayton dabei zu, wie Harley mit seinem Vater den Speisesaal verließ.

„Wie sieht es aus Kate, magst du mich in den Wintergarten begleiten und ein kleines Schwätzchen halten, um auf andere Gedanken zu kommen?“, fragte Fiona an Claytons Mutter gewandt.

„Eine fabelhafte Idee! Lydia mein Schatz, möchtest du auch mitkommen?“, erkundigte diese sich sogleich bei ihrer Tochter.

„Vielen Dank, aber mir ist nicht nach plaudern zumute…“, erwiderte sie kopfschüttelnd.

„Wie du meinst. Clayton, habe bitte solange ein Auge auf meine Tochter.“ Nach dieser letzten Bitte, verließen die beiden Mütter nun ebenfalls den Speisesaal.

„Komm… Mir ist hier nicht wohl, bei den ganzen beobachtenden Blicken der Dienerschaft…“, flüsterte Lydia ihm zu und zog ihn an der Hand hinaus. Verblüfft von ihrem unruhigen Verhalten, ließ er sich von ihr die Treppe hinauf zum zweiten Stockwerk des Anwesens führen, wo sich die Schlafgemächer der Granvilles befanden. Nur das schwache Kerzenlicht der Kronleuchter, erhellte den schier unendlich langen Flur, in dem eine gespenstische Stille herrschte. Mit dem Rücken zu ihm blieb sie dort stehen und riss sich ihre protzige Kette vom Hals, dessen schimmernde Perlen, sich geräuschlos quer über dem Teppich verteilten. Mit pochendem Herzen sah Clayton dabei zu, wie sie sich mit Tränen in den Augen zu ihm herumdrehte.

„Lydia…“, hauchte er mitleidvoll.

„Clay… Ich bin diese ganze Maskerade leid. Tagtäglich das brave und gehorsame Mädchen zu spielen, bringt mich um den Verstand. Am liebsten würde ich meinen ganzen Frust, in die undankbare Welt hinausschreien. Ich verabscheue Harley so sehr, wie ich noch nie einen Mann in meinem Leben verabscheut habe. Du hast doch nur darauf gewartet, dass ich dies sage, stimmts? Mir wird speiübel, wenn ich daran denke ihn heiraten zu müssen. Und es ekelt mich an, mit ihm bald jede Nacht ein Bett zu teilen… Clay… Ich will das du der Erste bist der mich berührt… Das ist unser letzter gemeinsamer Abend. In der nächsten Woche wirst du nach Oxford ziehen. Wenigstens ein einziges Mal möchte ich erfahren, wie sich Liebe anfühlt, die auf Gegenseitigkeit beruht. Ich liebe dich Clay… Nicht mehr lange und meine Gefühle werden zu Eis gefrieren. Bitte…bitte ignoriere nicht meinen allerletzten Wunsch, auch wenn es schmerzt, dass unser Glück nur von kurzer Dauer sein wird…“, bat Lydia verbittert und schmiegte sich eng an ihn. Zärtlich legte Clayton seine Arme um sie und drückte sie mit kummervollem Blick an sich.

„Meine liebste Lydia… Du weißt doch längst, dass mein Herz einzig und allein dir gehört… Ich kann dir gar nicht oft genug sagen, wie sehr ich dich liebe. Aber es sind Gefühle, die mit großem Kummer verbunden sind. Denn die Gewissheit, dass du niemals vollwertig zu mir gehören wirst, zerfrisst förmlich meine Seele. Sollte auch nur der kleinste Funken Hoffnung existieren, um unser besiegeltes Schicksal ändern zu können, so will ich dafür kämpfen. Doch lass uns in dieser Nacht, alle Gewissensbisse für eine Weile vergessen. Ich habe genug von Vorschriften und Regeln. Wir wünschen uns beide dasselbe, also warten wir nicht länger und sorgen dafür, dass unsere kurzweilige Liebe ihre Erfüllung findet, ehe wir sie für immer verlieren…“ Nach seinen entschlossenen Worten dauerte es nicht lange und ihre Lippen trafen aufeinander. Clayton und Lydia kosteten einen Kuss aus, der voller Ungeduld und Sehnsucht war. Von jenem Augenblick an, vergaßen sie plötzlich wie auf magische Weise ihr freudloses Umfeld und dachten nur noch an den jeweils anderen. Für ihn gab es auf Erden keinen anderen Menschen, nach dessen Nähe er sich so sehr sehnte, wie nach der von Lydia. Er wollte ihr wenigstens einen kurzen glücklichen Moment schenken, damit sie das Gefühl von wahrer Liebe kennenlernte, bevor sie bis ans Lebensende, in einer unglücklichen Ehe gefangen sein würde. Die Gefahr bei ihrem Regelbruch, der schwere Folgen für sie beide hätte, falls es jemand mitbekäme, blendete er fahrlässiger Weise vollkommen aus…
 

„Ich bedanke mich für das interessante Gespräch, Harry. Ich finde es ist an der Zeit, dass ich nun nach meiner lieben Verlobten sehe. Sie muss sich bestimmt schon furchtbar langweilen. Und schauen wir mal, was ihr Sohn gerade treibt. Denn er hat doch stets allerlei Schabernack im Kopf… Ich werde dich und deine Frau, gleich noch unten verabschieden“, beendete Harley wohlwollend sein Gespräch mit Claytons Vater und lief entspannt zur Tür des Salons.

„Es war mir eine Freude. Das sollten wir bei Gelegenheit wiederholen. Ich gehe dann mal Kate suchen“, meinte dieser daraufhin lächelnd und blickte Brendons Sohn jedoch ein wenig misstrauisch nach. Ohne Eile lief Harley die Treppenstufen zum zweiten Stockwerk empor und kniff seine Augen voller Missgunst zusammen.

„Clay… Ich würde am liebsten noch bis zum Morgen mit dir hier liegen bleiben. Aber du solltest jetzt besser gehen. Wir sind nicht alleine im Anwesen…“, sprach Lydia leicht besorgt, während sie an Clayton geschmiegt in ihrem Himmelbett lag.

„Nanu? Vorhin warst du noch Feuer und Flamme, bereit dazu jedes Gesetz zu brechen. Und auf einmal überkommt dich die Furcht, man könnte uns hier zusammen entdecken? Meine Liebste, nur Mut! Lass mich noch einen Moment deine Wärme genießen, dann werde ich…“ Er verstummte, als er plötzlich Schritte von draußen näherkommen hörte. Sie waren so deutlich zu hören, dass die Person ihre Anwesenheit anscheinend nicht zu verschleiern versuchte. Erschrocken fuhr Lydia hoch.

„Ich habe es ja geahnt! Clay, zieh dir rasch etwas an und versteck dich! Es gilt ein gewaltiges Unglück zu verhindern!“, sprach sie panisch und rang vor Angst nach Atem. Auch ohne den Druck ihrer mahnenden Worte, sprang Clayton ruckartig vom Bett und zog sich in Windeseile seine Hose und sein Hemd an. Da ihm die Zeit fehlte, ließ er das Jackett unterm Bett verschwinden. Verzweifelt blickte er sich nach einer geeigneten Versteckmöglichkeit um. Jedoch hätte man ihn ohne Probleme überall finden können. Die einzige Fluchtmöglichkeit welche ihm blieb, war der Balkon…
 

Harley drückte langsam die Türklinke hinunter und durchforstete mit umherschweifendem Blick den Raum.

„Lydia Liebes, schläfst du schon?“, fragte er mit einem energischen Unterton in seiner Stimme, bei der sie anfangen musste nervös zu zittern.

„Ja-ja Harley… Ich bin wirklich sehr müde. Bitte las mich schlafen…“, stammelte Lydia heiser. Wenig von ihrer Aussage überzeugt, marschierte er auf ihr Bett zu und riss ihr brutal die Decke vom Leib, woraufhin sie entsetzt aufschrie und instinktiv ihren splitternackten Körper zu bedecken versuchte.

„Wieso schläfst du nackt? Ich denke du frierst nachts immer so schrecklich?“, hakte er skeptisch nach und blickte sie voller Bosheit an.

„Ich…ich…“ Lydia wagte es nicht ihn anzulügen und eine lausige Ausrede zu erfinden, die er mittels seines scharfen Verstandes, mühelos aufdecken würde. Wütend ließ er die Bettdecke los, welche sie sogleich wieder verängstigt über sich zog. Als wüsste Harley genau wo er suchen musste, bückte er sich und griff mit einer Hand unter das Bett. Kurz darauf hielt er Claytons schwarzes Jackett in Händen und sein düsterer Gesichtsausdruck wurde immer furchteinflößender.

„Oho… Was haben wir denn hier Feines? Da will mich wohl jemand für dumm verkaufen! Die Beute entkommt dem Jäger nicht…“ Verächtlich warf Harley das Jackett zurück auf den Boden und schritt zielstrebig auf den Balkon zu. Lydia setzte sich schockiert im Bett auf und betete im Stillen, dass ein Wunder geschehen möge. Er riss lieblos die Flügeltür des Balkons auf und ertappte Clayton dabei, wie er unbeholfen sich darum bemühte, zu dem darunterliegenden Balkon hinabzuklettern.

„Clay mein tapferer Hecht, was soll dieses dilettantische Verhalten? Das kannst du doch sicher um einiges besser. Komm, ich zeige dir wie es richtig geht…“ Mit gespielter Sympathie, zerschlug er eine auf dem Balkontisch stehende Blumenvase und rammte eine der Scherben mitten in Claytons linke Hand, mit der er sich noch am oberen Balkongeländer festhielt.

„Aaaargh!“ Mit schmerzverzehrtem Gesicht ließ er los und stürzte unsanft auf den unteren Balkon hinab, der glücklicherweise nicht allzu weit vom oberen entfernt war. Der packende Schmerz in seiner Hand lähmte ihn weitaus mehr, als der dumpfe Sturzaufprall. Voller Zorn blickte er hinauf zu Harley.

„Du Monster! Ist das jetzt wirklich nötig gewesen? Du kannst nicht nach Belieben über die Rechte von Lydia und mir entscheiden! Lass uns in Ruhe! Noch lebt sie in einer Freiheit, die du ihr schon bald rauben wirst!“, zischte Clayton hasserfüllt zu ihm hinauf.

„Wer ist hier das Monster? Du hast gerade ohne über die Folgen nachzudenken, meine Verlobte besudelt! Lydia ist nun ein beschmutztes, wertloses Weib, das nicht mehr würdig ist meine Braut zu werden. Da du so versessen darauf gewesen bist, ihr die Unschuld zu rauben, wirst du als Gegenleistung wohl mit deinem Leben bezahlen müssen. Jedoch… Ich fände es wesentlich unterhaltsamer, vorher noch das andere Lumpenpack der Sippe Fairburn zu piesacken… Na, was hältst du davon? Wo wir doch gerade alle hier so schön versammelt sind…“, sprach er erbarmungslos und seine Mundwinkel formten sich zu einem unheilvollen Grinsen. Clayton hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, sein Herz würde aufhören zu schlagen, so entsetzt war er über seine Anspielungen.

„H-hör auf mit diesem Unsinn! Rede nicht so abfällig von Lydia! Ihre Seele ist tausendmal reiner als deine! Und lass bloß die Finger von meinen Eltern, sie haben dir nie etwas getan! Außerdem sind wir hier nicht alleine. Lydias Mutter und all die Bediensteten befinden sich auch noch im Anwesen. Also würde ich es mir gut überlegen, einen tobsüchtigen Aufstand zu starten!“, schrie er von Schmerz und Angst gepackt. Dennoch verlieh ihm sein Hass, dem Sohn der Granvilles gegenüber, einen ungeheuren Mut.

„Eine Frau hat in diesem Haus nichts zu sagen. Und die Diener sind mir alle treu ergeben… Also Clay, dann zeig mir mal, was deine jugendliche Entschlossenheit so draufhat. Ich gehe nun deine werten Eltern `verabschieden`…“ Mit diesen kaltherzigen Worten, verschwand Harley aus seinem Sichtfeld und lief wieder hinein.

„B-bitte beruhige dich Harley… T-tu das nicht…“, flehte Lydia hilflos. Ohne ihr auch nur einen Funken Beachtung zu schenken, eilte er zügig aus dem Zimmer. Mit vor Panik weit aufgerissenen Augen, unterdrückte Clayton einen weiteren Schmerzensschrei, als er sich die Scherbe aus der stark blutenden Hand zog und diese daraufhin an sich drückte. `I-ich muss diesen Teufel aufhalten und meine Eltern warnen, bevor es zu spät ist!` Während er sich darum bemühte, einen klaren Gedanken zu fassen, schlug er mit einem Hocker die Glasscheibe, der von außen geschlossenen Balkontür ein und stürmte ins Innere. Endlich hatte es für ihn einen Nutzen, dass er sich so gut in dem riesigen Anwesen auskannte. Trotzdem rannte er kopflos durch die Zimmer auf den Flur hinaus, um schnellstmöglich die Treppe zu erreichen. Keuchend hechtete er so flink wie noch nie in seinem Leben, zum Erdgeschoss hinunter. Um ein Haar wäre Clayton gestolpert, als er einen schrillen Schrei vernahm. `M-mutter…!`, erkannte er sofort, von wem der unheilverheißende Ruf kam. Zu seinem Übel hatte es Harley noch vor ihm geschafft, seine Eltern zu erreichen und begann nun ein Gefecht, um die Wut über seine und Lydias Dummheit an ihnen auszulassen.

„Harley! Derjenige der gerade die eigentliche Schandtat verübt, dass bist du! Und…! Um Himmels willen! Was hast du meiner Mutter da, für ein übelriechendes Zeug ins Gesicht geschüttet?!“, rief Clayton voller Bestürzung und kniete neben seine am Boden kauernde Mutter, die sich wimmernd ihre Hände vor die Augen hielt.

„Nun… Mal abgesehen von einem kaum auszuhaltenden Schmerz, den sie gerade durchlebt, wird sie ihren geliebten Sohn nie mehr bewundern können. Ihre Welt ist von nun an in ein tiefes Schwarz gehüllt. Wie sich das wohl anfühlen mag…?“, sprach ein überheblicher Harley, dessen Schadenfreude Clayton augenblicklich zur Weißglut brachte. Er wollte sich zornig auf den gnadenlosen Widerling stürzen. Doch als er sah, dass dieser zwei Degen in Händen hielt, besann er sich eines Besseren. Harley war auch überhaupt nicht auf ihn fixiert, sondern auf seinen Vater, der mit ausdruckloser Miene herbeischritt.

„Harry mein Guter, du bist spät dran! Sieh nur, was in der Zwischenzeit mit deiner lieben Frau geschehen ist. Na, willst du nicht etwas Dampf ablassen? Wie wäre es mit einem kleinen Duell, wie in alten Zeiten?“, forderte Harley Claytons Vater siegessicher heraus und warf ihm noch ehe er eine Antwort bekam, einen der zwei Degen zu. Harry fing die scharfe Waffe gekonnt an dem Griff auf. Sein nun mürrischer Gesichtsausdruck verriet, wie sehr ihn Harleys terrorisierendes Verhalten entsetzte. Dennoch blieb er besonnen und ließ seine Wut nicht die Oberhand gewinnen.

„Ich habe dich und dein wahres Wesen, bereits sehr früh durchschaut. Mein Fehler war es, dass ich nicht bereits eher eingriff, um eine solche Tragödie zu verhindern… Dir liegt die Welt zu Füßen und trotzdem dürstet es dich nach noch mehr Macht. Du zerstörst gerade das Leben der Kinder. Aus Selbstsucht, hast du meine Frau und meinen Sohn schwer verletzt. Verzeihen kann und werde ich dir deine Taten niemals…“, sprach Harry entrüstet und warf dabei einen Blick, zuerst auf die sich am Boden krümmende Kate und anschließend auf Claytons blutende Wunde in der Hand. Kurz darauf schoss er pfeilschnell mit dem Degen fest umklammert, auf einen ruhig dastehenden Harley zu. Clayton hielt wie gebannt den Atem an, als er dabei zusah, wie sich ihre Klingen kreuzten. Es versetzte ihn in Ehrfurcht, dass tatsächlich jemand existierte, der seinem Vater beim Fechten die Stirn bieten konnte. Beide kämpften ohne Zurückhaltung. Harley schaffte es Harry am Brustkorb zu treffen und eine blutige Schnittwunde zu hinterlassen, während dieser seinen Gegner, nur einmal kurz an dessen linken Oberarm, mit der Degenspitze streifte.

„Aufhören! Wenn ihr so weiter macht…dann…dann…wird er dich umbringen, Vater! Harley kämpft im Gegensatz zu dir mit purer Mordlust! Er besitzt kein Ehrgefühl wie du. Bitte…stoppt diesen unausgewogenen Kampf!“ Claytons flehende Worte gingen im Eifer des Gefechts vollkommen unter und er wurde von beiden Kämpfern nicht mehr wahrgenommen.

„Harley! Lass die Familie Fairburn in Frieden! Das ist ein Befehl! Sonst…“ Die ganze angespannte Situation, bekam noch mal eine zusätzliche radikale Wendung, als Lydia von jetzt auf gleich im Erdgeschoss erschien. Sie trug ein langes weiß-rosafarbenes Nachthemd und ihre offenen Haare, umrahmten ohne jegliche Klammern ihr bildschönes Gesicht. Mit einem fragwürdigen Blick, betrachtete Clayton ein kleines silbernes Fläschchen, welches sie in ihrer rechten Hand hielt. Auch die Aufmerksamkeit von Harley und Harry, richtete sich kurz auf die dazwischenfunkende Lydia, jedoch ohne dabei ihren Kampf zu unterbrechen.

„Du willst mir etwas befehlen? Lächerlich! Und sonst was? Mit einem verunreinigten Weibsstück wie dir, rede ich nicht mehr! Scherr dich zum Teufel!“, blaffte Harley unbeeindruckt von ihrem dickköpfigen Auftreten.

„Na schön… Dann wird es dir auch völlig gleichgültig sein, wenn ich mich hier und jetzt vor deinen Augen umbringe. Ich hatte ohnehin vorgehabt, mir noch vor unserer Hochzeitsnacht das Leben zu nehmen. Denn als würde ich es ertragen, mit einem Abschaum wie dir vermählt zu werden… Es tut mir nur unendlich leid für die wenigen Menschen, die mir etwas bedeuten und mein Opfer beklagen werden…“, sprach Lydia mit felsenfester Stimme, die weder einen Funken Angst noch Reue in sich trug. Das beklemmende Gefühl puren Unbehagens, bekam in Claytons Brust ein immer größeres Ausmaß. Sein Verstand wagte kaum zu begreifen, was für ein rigoroses Vorhaben ihr da gerade vorschwebte.

„L-Lydia… Sag mir bitte nicht…in diesem Gefäß ist…“, hob er heiser an und traute sich kaum noch, unüberlegte Bewegungen zu machen.

„Clayton… Oh mein geliebter Clay… Bitte vergib mir… Ich weiß nicht nur welche Pflanzen und Kräuter eine heilende Wirkung besitzen, sondern auch…welche töten können…“, beichtete Lydia und zwang sich zu einem verbitterten Lächeln. Der fesselnde Schock umklammerte wie ein eiskalter Griff Claytons Herz. Er wollte ihre Worte nicht wahrhaben und starrte wie hypnotisiert auf das Fläschchen mit der Todestinktur. Viel zu bestürzt war er, um etwas darauf zu erwidern, als hätte er die Fähigkeit zu sprechen verlernt.

„Tu dir keinen Zwang an. Umso besser, wenn der Abfall schnellstmöglich beseitigt wird. Damit tust du uns beiden einen großen Gefallen“, schnaubte Harley verächtlich und attackierte Harry noch heftiger, da dieser begann unaufmerksam zu werden und sich besorgt nach Lydia umdrehte.

„Ach mein liebes Mädchen, tu das bitte nicht! Mir deinem Opfer würdest du nicht viel mehr erreichen, als die Flucht vor deinem düsteren Schicksal. Bleibe stark, wir halten zu dir! Auf finstere Zeiten folgt auch wieder ein Lichtschimmer. Bitte verliere nicht den Mut!“, versuchte Harry sie taktvoll, von ihrem Akt der puren Verzweiflung abzuhalten.

„Ich will aber nicht länger die starke Adelstochter spielen. Die bin ich außerdem nie gewesen. Aus dieser Finsternis gibt es kein Entrinnen mehr für uns alle… Schimpft mich ruhig einen schwachen Feigling, allerdings sehe ich im Tod die einzige Erlösung. Clay, du bleibst natürlich auf ewig mein Retter. Doch müssen wir beide voneinander ablassen, damit wir nicht beide ins Verderben gezogen werden. Ich spüre, dass du im Leben noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hast. Daher versprich mir bitte, dass du dafür weiterleben wirst. Die Liebe…bleibt in unseren Herzen unsterblich und wird uns eines Tages wieder vereinen. Lebe wohl…mein Liebster…“ Stille Tränen begleiteten ihre schwermütige Abschiedsrede und sie ließ ihren Worten erschreckenderweise Taten folgen, indem sie die kleine Flasche mit zusammengekniffenen Augen an ihren Mund ansetzte.

„Lydiaaaa! Neiiiin!“, schrie Clayton ohrenbetäubend und rannte im halsbrecherischen Tempo auf sie zu. Aber noch ehe er sie erreichen konnte, hatte sie die Flüssigkeit in einem Zug ausgetrunken und runtergeschluckt. Mit zitternden Händen packte er Lydia an beiden Schultern.

„B-bitte sage mir, dass du uns alle nur täuschen wolltest und es in Wahrheit gar kein richtiges Gift war! Bitte Lydia! Mich einfach so im Stich zu lassen… Wie soll ich es ertragen, wenn du nicht mehr… Ihm blieben die Worte im Hals stecken, während er sich von jeglichen Hoffnungen verabschiedete und in ihre trüben Augen blickte. Dabei erkannte Clayton, sie meinte es zweifellos todernst.

„Clay… Danke…danke das ich die wahre Liebe kennenlernen durfte. Ich bin glücklich, selbst in diesem Moment. Weine nicht allzu lange um mich. Die Trauer ist eines der schmerzvollsten Gefühle für die Seele. Besiege all den Hass, ergreife deinen Degen und kämpfe für die Gerechtigkeit. Erschaffe eine Welt, in der wir hätten glücklich werden können… Du warst für mich schon immer, wie die schönste und reinste Blume. Eine Blume, welche selbst den kältesten Winter übersteht und sich furchtlos jedem Krieg stellt… Das Leben ist kurz und verabschieden müssen wir uns früher oder später alle voneinander… Ich…ich kriege keine Luft mehr… Clay…ich…liebe dich…“ Hustend tastete sich Lydia an ihren Hals und ihre Beine begannen kraftlos zu zittern, bis sie schließlich nicht mehr aufrecht stehen konnte und gemeinsam mit Clayton zu Boden sackte.

„L-Lydia…! Bitte sprich mit mir! So darf es nicht enden! Das lasse ich nicht zu! W-wenn du stirbst…stirbt all meine Lebensfreude mit dir…“, schluchzte er und nahm sie fest in seine Arme. Ihre Augen schlossen sich nun für immer und mit einem zarten Lächeln auf den Lippen, rollten ihr noch ein paar Tränen über die Wangen. Dieses herzzerreißende Elend beklagend, fing Clayton unaufhaltsam an zu weinen und glaubte, die gesamte Welt würde in sich zusammenbrechen. Solch einen erschütternden Schmerz des Verlustes, hatte er noch nie zuvor verspürt. Harry biss sich auf die Lippen, um seine eigenen Tränen zu unterdrücken. Selbst Harley kam nicht drumherum, die theatralische Szene etwas länger mitzuverfolgen. Diese Unachtsamkeit nutzte Claytons Vater rasch aus und schlug ihm mit einem kraftvollen Hieb den Degen aus der Hand. Anschließend verpasste er ihm einen solch heftigen Faustschlag in den Magen, dass er völlig perplex nach hinten taumelte. Da er seinen Gegner nun für eine kurze Weile ausgeschaltet hatte, wandte er sich von dem jungen Mann ab und sah zuerst nach seiner noch immer teilnahmslos am Boden kauernden Frau. Da seine beruhigenden Worte sie nicht zu erreichen vermochten, gab er vorerst auf und lief im gemächlichen Schritttempo auf Clayton und die in seinen Armen liegende Lydia zu.

„Mein Sohn… Ihr Entschluss stand bereits lange fest, du hast es selbst gehört. Keiner von uns hätte sie umstimmen oder es verhindern können. Das eigene Schicksal zu akzeptieren, verlangt oftmals sehr viel Kraft von einem ab. Sie bewies viel Mut, um sich dagegen zur Wehr zu setzen. Doch das ein solch wundervoller Mensch so früh von uns geht, ist eine wahre Tragödie. Ihre Lebensumstände und die gesamte Familiensituation, trugen sicherlich dazu bei das…“ Harry verstummte, als Clayton plötzlich mit rotgeweinten Augen ganz still wurde und sein trauernder Gesichtsausdruck, einem gefährlich rachedurstigem wich. Seine Trauer und Wut vermischten sich zu einer völlig neuartigen Emotion, die ihn unaufhaltsam machte und beinahe blendete. Noch ehe sein Vater wusste wie ihm geschah, ließ er von Lydia ab und entriss ihm seinen Degen. Daraufhin fixierte er mit Augen, die nur so voller Hass strotzten Harley, der sich mittlerweile wieder aufgerappelt hatte, jedoch noch immer unbewaffnet war. Harry begriff augenblicklich, was sein Sohn vorhatte und sah sich verzweifelt dazu gezwungen, ein weiteres Unglück zu verhindern.

„Clayton, nicht! Wenn du dir jetzt selbst die Hände schmutzig machst, bist du nicht viel besser als er! Was habe ich dir denn immer beigebracht? Bewahre deinen Stolz und deine Würde! Wer einmal tötet…wird es wieder und wieder tun…“ Als hätte Clayton die warnenden Worte seines Vaters überhaupt nicht gehört, preschte er blindlinks auf Harley zu, mit dem Degen vorne weg.

„Stirb, Harley!“, zischte er so aggressiv wie eine wilde Bestie. Doch aufgrund seines noch immer andauernden Schmerzes in der Hand und der Erschöpfung von der Kletterpartie, konnte er nicht wirklich schnell rennen. So geschah es, dass sein Vater den allmählich wieder kampfbereiten Harley, noch vor ihm erreichte und sich zwischen beide stellte, um auf diese Weise seinen Sohn abrupt stoppen zu können. In seiner blinden Tobsucht war es Clayton nicht möglich, sich zügig genug auf solch eine unerwartete Kehrwende der Situation einzustellen und stürmte weiter geradeaus. Erst viel zu spät bemerkte er, wie fatal sein unüberlegtes Handeln eigentlich war. Der Degen, mit dem er Harley niederstrecken wollte, durchbohrte nun seinen eigenen Vater, der ihn aus Gutmütigkeit vor seiner Bluttat bewahren wollte. In jenem Moment holte Clayton die Realität wieder ein und am ganzen Leib zitternd, lösten sich seine Hände von dem Degen, der beinahe bis zum Griff in seiner Brust steckte und dessen fordere Klinge blutgetränkt hinten an seinem Rücken herausragte. Der Schmerz betäubte Harry so sehr, dass er bloß sein Gesicht verzerrte, ohne auch nur einmal aufzuschreien. Und dennoch schaffte er es seinen Sohn anzulächeln. Ungläubig dreinblickend, wusste Clayton weder ein noch aus.

„Das…das kann nicht sein… Was habe ich da gerade getan…? Bitte sage mir, dass sich dies alles nur in einem schrecklichen Alptraum abspielt. Erst verliere ich Lydia und nun…töte ich meinen eigenen Vater… Warum nur… Warum hast du dich zwischen uns gestellt? Harley muss für seine Sünden bezahlen! Daran führt kein Weg vorbei!“, hinterfragte er die aufopfernde Einmischung seines Vaters und erneut kamen ihm die Tränen.

„Clay…ton…du…darfst dir nicht…die Hände schmutzig machen…und einen Menschen töten. Wenn der Hass…dein Mitgefühl vernichtet…bist du verloren… Trage deine Waffe stets mit Stolz… Die Quelle wahren Glücks ist…“ Harry schaffte es nicht mehr seinen letzten Satz zu beenden, da er seine letzten Atemzüge tat und entkräftet nach vorne zu Boden stürzte.

Clayton erstarrte regungslos und zeigte vorerst keine Reaktion, da er mit der bitteren Tatsache kämpfte, zeitgleich zwei geliebte Menschen verloren zu haben. Harley spielte noch immer den stillen Beobachter und hielt sich im Hintergrund. Nun hätte Clayton eigentlich erwartet, dass er ihn gnadenlos mit Spott und Hohn bombardieren würde, weil er seinen eigenen Vater ermordet hatte. Doch seltsamerweise, kam kein einziger unangenehmer Kommentar von ihm. Stünde er nicht vollkommen neben der Spur, so wäre er mehr als nur verblüfft darüber gewesen. Stattdessen erhaschte er kurz einen Blick, auf Harleys rätselhaft nachdenkliche Miene, dessen wahre Bedeutung er nicht zu deuten wusste. Auch wenn Clayton es kaum über sich brachte, noch länger neben seinem toten Vater zu verweilen, da er für seinen Tod selbst verantwortlich war, kniete er sich neben ihn und zog ihm vorsichtig den Degen, aus seinem mit glänzend roten Blut bedeckten Körper heraus. Im Stillen verabschiedete er sich von dem Menschen, der für ihn immer ein bester Freund und unersetzbarer Lehrmeister gewesen war. Erst jetzt bemerkte er Lydias Mutter nahe des `Schlachtfeldes`, die so kreidebleich aussah, als würde ihr jeden Moment wieder das Abendessen hochkommen. Mit zitternden Beinen und sich die Hand vor den Mund haltend, lief sie schluchzend zu ihrer leblosen Tochter und warf sich leise murmeln zu ihr auf den Boden. Nach einer Weile des Trauerns, küsste Fiona ihr Mädchen liebevoll auf die Stirn und streichelte ihr dabei über das Haar. Dann wandte sie sich ruckartig ab und eilte zu Kate, der sie aufhalf, um sich gemeinsam mit der nun blinden Frau in Sicherheit zu bringen. Einen letzten hasserfüllten Blick warf sie auf Clayton und Harry, dann verschwanden die beiden Mütter. Jetzt wo sie zwei alleine waren, wurde die Atmosphäre beinahe unangenehm ruhig und Clayton war es gleichgültig, was nun mit ihm geschehen würde.

„Beende es, na los. Töte mich auch noch… Worauf wartest du? Das wolltest du doch von Anfang an… Die Familie Fairburn auslöschen…“, forderte er monoton und hoffnungslos, nach einer längeren Zeit des Schweigens. Harley betrachtete für einen Augenblick die beiden Leichen, dann richtete er seine komplette Aufmerksamkeit, auf den geistesabwesenden Clayton.

„Für heute Nacht ist der Kampf vorbei. Es wurde genug Blut vergossen. Natürlich wäre es für mich eine Leichtigkeit, dich nun ebenfalls zu beseitigen. Aber was hätte ich davon? Ich werde dir dein Leben lassen, dir unbedeutenden Wicht. Und ich muss zugeben, dass es eine Schande wäre, einem jungen Burschen wie dich, der einen recht soliden Verstand besitzt, seiner Zukunft zu berauben. Na, überraschen dich meine Worte? Allerdings ist meine Gnade, an ein paar bescheidene Bedingungen gekoppelt…“, entschied Harley ihn am Leben zu lassen und wirkte trotz der Anstrengung des hitzigen Fechtduells völlig entspannt. Clayton funkelte ihn verächtlich an.

„Schon klar, mein Leben ist für dich so wenig wert, dass es dir die Mühe nicht wert ist, mich aus dem Weg zu räumen. Würdest du nur mal meinem Vater und Lydia etwas mehr Respekt zollen… Sie waren die aufrichtigsten Menschen, die ich je gekannt habe. Ich begreife dein grausames Handeln einfach nicht. Du hast heute nicht nur meine Familie zerstört, sondern auch deine eigene. Das ein Regelbruch allein dafür verantwortlich sein soll, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Lass mich nur laufen, von heute an bist du mein Todesfeind… Und wenn der Graf nach Hause zurückkehrt und von deiner Gräueltat erfährt, wird er sogar eigenständig mit dir abrechnen. Auch dem hohen Adel drohen schwere Konsequenzen bei… Willst du etwa mich für den heutigen Vorfall verantwortlich machen? Da du dir nicht selbst die Hände schmutzig gemacht hast und ich nun ein Mörder bin? Graf Brendon wird die Wahrheit aufdecken, er ist ein kluger Mann, der die Dinge hinterfragt“, entgegnete Clayton, den die ganze Wut und Trauer allmählich sehr ermüdete. Harley zeigte

kurz ein düsteres Lächeln und trat ein paar Schritte auf ihn zu.

„Mein Vater wird dieses Anwesen nie mehr betreten. Wir haben ihn beide beim Abendessen, zum allerletzten Mal gesehen…“, verriet er mit einem gespenstischen Tonfall, bei dem ein jeder sofort eine Gänsehaut bekam. Clayton starrte ihn abermals entsetzt an, als er begriff, was er damit auszudrücken versuchte.

„Großer Gott… Heißt das etwa… Der Brief, er stammte von dir! Du bist noch viel verdorbener als ein Teufel. Selbst die Hölle reichte nicht aus, um für deine Sünden zu büßen… Aber deine grenzenlose Gewalt, kann mich nicht mehr in die Knie zwingen. Dann sprich es aus, was sind deine Bedingungen? Ich kann sie mir schon denken…“, forderte er ihn furchtlos dazu auf zu verhandeln.

„Dir wird dein Adelstitel genommen und du verlierst jegliche Rechte, welche dir bislang zustanden. Du wirst nun als normaler Bürger dein Leben fortführen und musst selbstständig zusehen, wie du deinen Lebensunterhalt verdienst. Das Erbe der Fairburns steht dir somit nicht länger zur Verfügung. Aber deinen Studienplatz in Oxford lasse ich dir, die bezahlten Studiengebühren miteinbegriffen. Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg. Dein Wissen wird zu deinem einzigen Mittel werden, um dich gegen den machtvollen Adel durchzusetzen. Zeige mir, wie weit man es damit bringen kann. Zusätzlich ist es deine Pflicht, über den heutigen Abend Stillschweigen zu bewahren, auch ich werde kein Wort über dich verlieren. Die beiden Frauen, würden sich sowieso auch nicht trauen den Mund aufzumachen und als Zeugen schenkte man euch allen ohnehin kein Gehör. Wohlan, nun trennen sich unsere Wege, Clayton Fairburn. Bis zu jenem Tag, an dem wir uns erneut gegenübertreten werden. Ob du es bis dahin durchhältst, hängt von deinem Willen ab“, beschloss Harley besiegelnd und wartete darauf, ein bestätigendes Einverständnis zu hören. Clayton wandte ihm kurz den Rücken zu und senkte den Blick, ehe er sich wieder voller Entschlossenheit zu ihm umdrehte und ein letztes Mal direkt in dessen Augen sah.

„Dann wäre das nun mit meiner Einwilligung beschlossene Sache. Ich komme auch gut ohne die Rechte eines Adeligen zurecht, wirst schon sehen. Die getrennten Wege werden uns eines Tages wieder zusammenführen und dann werde ich stärker sein. So stark, dass ich es mit dir aufnehmen kann, egal wie mächtig du geworden bist. Ich sterbe nicht eher, bevor du ebenfalls aus dieser Welt geschieden bist. Bis dahin interessiert mich der Name Granville einen feuchten Dreck!“ Nach Claytons abschließenden Worten, verließ Harley mit einem zufriedenen Lächeln den schaurigen Schauplatz des Gefechts und flüsterte noch leise etwas, dass man nur bruchstückhaft hören konnte.

„Ich kann jenen Tag kaum erwarten…“ Mehr schnappte Clayton nicht mehr auf. Es war ihm sowieso gleichgültig, was ein Mann, der in seinen Augen bereits gestorben war, noch zu sagen hatte. Um sich richtig von seiner Liebsten zu verabschieden, kniete er sich neben Lydia und nahm ihr einen ihrer saphireblauen Ohrringe ab, dessen Blau seiner Augenfarbe zum Verwechseln ähnlichsah. Diese Schmuckstücke waren ein Geschenk von ihm an sie gewesen, der einzige Schmuck, den sie stets wertgeschätzt hatte.

„Meine liebliche Blume, heute ist dein letztes Blütenblatt gefallen. Du magst verwelkt sein, doch in meinem Herzen, bleibst du auf ewig eine wunderschöne junge Knospe, der es im Leben niemals vergönnt war, richtig zu erblühen. So wird ihre wahre Schönheit, für die Welt wohl immer ein Geheimnis bleiben… Löse dich von deiner Unvollkommenheit, befreie dich aus deiner Gefangenheit. Durchbreche dein schmerzvolles Leid und trage endlich das Kleid der wahren Gerechtigkeit…“, sprach Clayton liebevoll und schmiegte mit geschlossenen Augen, ihre eiskalte Hand an seine Wange.
 

Plötzlich herrschte bedachtes Schweigen in der obersten Kammer des Turmes, als Clayton seine tragische Erzählung beendete. Miceyla blinzelte sich ihren traumverhangenen Blick aus den Augen. Sie hatte so aufmerksam zugehört, dass es sich für sie so anfühlte, als wäre sie gerade tatsächlich in seine Vergangenheit gereist. Etliche schmerzvolle Gefühle stachen ihr mitten ins Herz. Sie wagte es nicht ihn anzublicken und sich vorzustellen, wie er sich gerade fühlen musste, nachdem er all die alptraumhaften Erinnerungen zurück ins Diesseits geholt hatte. Wortlos erhob er sich von seinem Sessel, da er es anscheinend nicht länger ertragen konnte, still sitzen zu bleiben und stellte sich vor die Balkontür. Nun traute sie sich einen Blick auf ihn zu erhaschen und betrachtete ihn, wie er wehmütig den klaren Sternenhimmel betrachtete. `Vielleicht ist es ein Fehler, sich im vornerein vorzustellen, was für einen prägenden Lebensweg ein Mensch bereits hinter sich hat, ehe man nicht die wahre Geschichte aus dessen eigenen Mund hört. Er verlor seine Geliebte und tötete versehentlich am selben Abend seinen Vater… Und das alles geschah nur wegen Harley Granville. Trotzdem stört mich etwas an der ganzen Sache… Warum ließ er Clayton am Leben? Sah oder sieht er in ihm denn gar keine Bedrohung? Schließlich sind es mittlerweile mehrere Personen, welche die Wahrheit kennen. Eine Bedingung wurde bereits gebrochen. Oder hält Harley sich einfach nur für so unantastbar, dass er glaubt, von Clayton ginge überhaupt gar keine Gefahr aus? Eventuell ist es sogar von ihm gewollt das Clay… Nein, ich sollte besser noch keine voreiligen Schlüsse ziehen. Sobald Sherlock und William dies erfahren, werden auch sie sich beide in Nullkommanichts, ihren eigenen Reim daraus machen. Clayton besaß eine glückliche Familie und diese zu verlieren, stellt mehr als nur einen schmerzvollen Verlust für ihn dar. Eine solch tiefe Lücke im Herzen, bleibt bis zum Lebensende bestehen. Das komplette Gegenteil von Alberts selbst eingeleiteten Schicksal, für den es eine Erleichterung darstellte, seine egoistischen Adelseltern los zu sein. Und wie es Claytons Mutter nun gehen mag... ` Miceyla war so sehr in Gedanken vertieft, dass ihr völlig entging, wie Clayton sich mit beiden Händen auf den Armlehnen ihres Sessels abstützte und sich etwas zu ihr herabbeugte, sodass er sie dazu zwang, nicht seinem eindringlichen Blick auszuweichen. Ein wenig erschrocken sah sie in seine tiefblauen Augen, die aus einem einzigen Fluss trostloser Emotionen bestanden. Dennoch schaffte sie es seinem Blick standzuhalten, da sich in ihren eigenen Augen, beinahe ebenbürtiges Leid widerspiegelte.

„Na, wie fühlst du dich jetzt? Du wirst irgendwann ersticken, wenn du dir ständig die Tragödien anderer aufbürdest. Dein Herz fühlt nun mal etwas intensiver… Bist du nach meiner Geschichte immer noch so erpicht darauf, es mit den gnadenlosesten Menschen aufzunehmen, an der Seite der Moriartys? Harley ist zu einem der mächtigsten Männer unseres Landes aufgestiegen. Es wird dich immer weiter in eine finstere Welt voller Schatten ziehen, aus der es nie mehr ein Entrinnen für dich gibt. Mag William mit seinen idealistischen Vorstellungen, auch noch so hell für dich strahlen, für einen Mörder existiert kein Glanz und Gloria. Wir befinden uns im Krieg, meine Teuerste. Und um das alles durchzustehen, musst du tatsächlich zu einer Soldatin werden. Denn in diesem Krieg, wird keiner von uns Ruhm oder Ehre ernten. Von der Liebe wird auch nur eine flüchtige Erinnerung übrigbleiben. Und eine verloren Liebe, ist mit keinem Schmerz der Welt zu vergleichen… Denke ab und zu mal darüber nach, was man von dir eigentlich abverlangt. Du bist niemandem zu irgendetwas verpflichtet. Blinder Gehorsam ist der größte Feind der Freiheit. Das sollte dir langsam bewusst werden. Schließlich willst du doch genau dafür kämpfen, oder liege ich damit falsch? Aber bis zum bitteren Ende, haben wir noch einen harten und mühsamen Weg vor uns. Solange tanzen wir noch alle gemeinsam auf der Bühne und spielen ein unantastbares Schauspiel. Zugegebenermaßen sehe ich die Dinge heute etwas klarer als früher. Ich weiß mittlerweile, dass Harley trotz seiner grenzenlosen Arroganz kein Mensch ist, der einfach nach Belieben oder vor Zorn eigene Familienmitglieder und dessen Angehörige ermordet, ohne das ein triftiger Grund dahintersteckt. Aber ganz egal was damals seine Beweggründe waren, er wird sterben, soviel ist sicher“, warnte er sie beharrlich und gewann wieder etwas mehr Abstand zu ihr.

„Ganz gleich wie jemand sein Leben gestalten will, die Entscheidung liegt einzig und allein bei einem selbst. Kein Kampf ist umsonst und es muss nicht immer einen ehrenvollen Grund zum Kämpfen geben. Die wahre Ehre trägt jeder in seinem Herzen. Aber gleich von einem Krieg zu sprechen, finde ich dennoch ein kleinwenig übertrieben… Vielleicht mag ich eine masochistische Veranlagung besitzen, doch ich bin nun mal einfach an Trauer und Leid gewöhnt. Daher bin ich etwas zäher und verarbeite schwierige Situationen auf meine ganz eigene Weise. Und ich wiederhole es gerne auch noch einmal, ich unterwerfe mich niemandem. Mein Wille bleibt erhalten, egal welchen Weg ich einschlage“, erwiderte Miceyla mit einem standhaften Lächeln. Clayton lächelte nun ebenfalls wieder etwas unbefangener.

„Ha, ha! Du bist schon ein sonderbares Mädchen, wenn ich das mal so sagen darf. Ach, lasse dich einfach nur nicht von deinem Weg abbringen, mein Vöglein. Solange es sich für dich richtig anfühlt. Ich bin schon ein kleines bisschen neidisch auf eure Liebe… Aufgrund der herausfordernden Umstände, formt sich eine ganz außergewöhnlich feste Bindung, die euch wie ein unzertrennbares Band verbindet. Genieße es…“, meinte er heiter und streckte sich genüsslich. `Denn die Umstände könnten jeder Zeit eine radikale Wendung nehmen. Ob nun Feindschaft oder Rivalität, William und ich werden noch öfters aufeinanderstoßen, ohne das es sich vermeiden lässt. Da ich allerdings die groben Grundstrukturen seines Plans kenne…möglicherweise…kann ich ja seinen eigenen Plan gegen ihn verwenden, um ein paar gewisse Herrschaften zum Umdenken anzuregen. Denn schließlich gibt es da auch noch Sherlock Holmes, den dritten im Bunde…`, fügte er verschwiegen in Gedanken hinzu. Miceyla erhob sich nun ebenfalls, um nach dem langen Sitzen und Zuhören wieder richtig wach zu werden.

„Ich muss dir noch einmal danken, für dein mir entgegengebrachtes Vertrauen. Heute durfte ich dich besser kennenlernen und habe endlich mal den wahren Clayton sprechen hören, der sich hinter dem Schauspieler Matador Muscari verbirgt. Mag dein wahres Ich auch wesentlich ernster und von schmerzvollen Erinnerungen zermürbt sein, so gefällt mir diese Seite von dir trotzdem sehr gut. Verwundbarkeit muss nicht immer eine Schwäche sein. Wir schaffen es diese in Stärke umzuwandeln, nicht wahr? Ich werde weise mit dem neuerrungenen Wissen über Harley Granville umgehen, das verspreche ich. Doch wer letztendlich jene Informationen in vollen Zügen ausnutzen wird, ganz ohne mein Zutun, wissen wir beide nur zu gut… Und ich hätte da noch eine mir wichtige Bitte an dich, bevor wir wieder auseinandergehen… Es geht um Amelia. Ich weiß, dass du mit allen Frauen sehr rücksichtsvoll umgehst. Aber bitte achte bei ihr ganz besonders darauf, was du sagst und tust. Die falschen Worte und Taten können ein liebendes Herz sehr verletzen…“ Überrascht von ihrem plötzlichen Anliegen, legte er etwas den Kopf schräg und blickte sie forschend an. Doch rasch kehrte sein selbstbewusstes Lächeln zurück.

„Nur keine Bange, Herzchen. Ich bin mir Amelias Gefühle sehr wohl bewusst und habe größtes Verständnis, für ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Aber das was sie sich wünscht, werde ich ihr niemals bieten können. Ich bin nicht derjenige, der dafür bestimmt ist sie glücklich zu machen. Amelia wird ihren Seelenverwandten schon noch finden. Da sind wir uns beide sicher einig, nicht? Oh, schau mal auf die Uhr, wie spät es bereits ist! Wenn du nicht zügig heimkommst, kriege ich garantiert von deinem William, ordentlich eins auf den Deckel, ha, ha! Also wie siehts aus, kommt deine Eskorte dich abholen?“, fragte Clayton nachdem er die Uhrzeit überprüft hatte und zwinkerte ihr beschwingt zu.

„Nicht das ich wüsste“, antwortete Miceyla ihm knapp.

„Aha, da verlangt man von mir auch noch, dass ich den zuvorkommenden Gentleman spiele und dafür sorge, dass du heil nach Hause kommst, ha, ha. Nichts ist mir lieber als das! Folge mir, ich zeige dir wo hier ganz in der Nähe Kutschen abfahren“, erklärte er sich freundlich dazu bereit, ihr zu jener späten Stunde Geleitschutz zu gewähren und löschte aufbruchsbereit alle Lichter im Raum. Miceyla nickte dankbar und verließ gemeinsam mit ihm seinen geheimnisumwobenen Turm. Wie sich schnell herausstellte, mussten sie doch noch ein längeres Stück zu Fuß zurücklegen, jedoch kamen sie tatsächlich, wie er es versprochen hatte, an eine Straße wo einige Kutschen abfahrbereit standen.

„So meine Liebe, Zeit Abschied zu nehmen. Aber wir werden uns ja spätestens nächstes Wochenende im Theater sehen. Nur ist es bei der Arbeit schwieriger, Ruhe für ein ausgiebigeres Gespräch zu finden. Jedoch läuft man sich garantiert auch mal bei unserer `anderen` Arbeit über den Weg… Gut mein Vöglein, ich wünsche dir eine angenehme Heimreise und bestelle William und seiner Bande herzliche Grüße von mir“, verabschiedete Clayton sich mit seiner altbekannten zwanglosen Art und wartete noch, bis der Kutscher ihr die Tür öffnete.

„Mach’s gut Clay. Ich habe sehr viel aus dem heutigen Tag mitnehmen können. Lassen wir uns davon überraschen, was das Schicksal in Zukunft noch alles für uns bereithält. Gute Nacht…“ Nach ihren letzten Abschiedsworten, nahm sie aufgewühlt und ermüdet zugleich in der Kutsche Platz. Sie seufzte laut, als diese losfuhr und schloss für einen Moment die Augen. `Hach… Ich fürchte, dass ich heute Nacht nicht schlafen werde, nach Claytons bewegender Geschichte…` Erschrocken riss Miceyla wieder die Augen auf. Wegen ihrer Grübeleien und der schläfrig machenden Dunkelheit, war sie nachlässig geworden. Denn sie bemerkte erst jetzt, dass sich noch eine weitere Person in der Kutsche befand und direkt rechts neben ihr saß. Ihr Herz begann zu rasen und sie blieb regungslos sitzen.

„Eine wunderbar sternklare Nacht haben wir heute, finden Sie nicht auch, Mrs Moriarty? Wenn der schützende Nebel sich lichtet, gibt es selbst für den wachsamsten Verbrecher keine Versteckmöglichkeit mehr. Ich hoffe es ist Ihnen genehm, wenn wir zwei beide uns mal unter vier Augen unterhalten.“ Sofort erkannte Miceyla jene tiefe und autoritär klingende Stimme. `Mycroft…!`
 

Liebes Tagebuch, 30.4.1880

für die meisten Menschen ist es unheimlich schwer, mit der schmerzvollen Vergangenheit Frieden schließen zu können. Und stattdessen halten sie stur an ihren Rachegelüsten fest, um auf Teufel komm raus Genugtuung zu erhalten. Aber ist es denn nicht eine Verschwendung der eigenen Lebensqualität, seine gesamte Energie in etwas zu stecken, das wie ich immer sage, die Natur von ganz allein regelt? Schließlich sterben all die Menschen, gegen die man einen Groll hegt, ohnehin irgendwann. Claytons Vater muss ein sehr weiser und lebenserfahrener Mann gewesen sein. Ich hätte ihn nur zu gern kennengelernt. Es ist immer eine einmalige Bereicherung, sich mit einer solch klugen Persönlichkeit unterhalten zu können. Clayton wird so manche Charaktereigenschaft von ihm geerbt haben. Jedoch ist es bedauerlich, dass er seit jenem Vorfall, nicht mehr nach den Wertvorstellungen seines Vaters weiterleben konnte. Allerdings hat sich natürlich nicht alles in Claytons Leben zum Schlechten gewendet. Im Gegenteil, er ist für viele Menschen zu einem großen Vorbild geworden. Und das Blut eines Adeligen, welches durch seine Adern fließt, wird ihm auf ewig erhalten bleiben. Aber ob William sein weiteres Vorgehen tatsächlich ändert, da eine undurchschaubare Person namens Harley Granville, an oberster Spitze des Regiments steht, kann ich noch nicht mit Gewissheit sagen. Uns allen und auch Sherlock, kommen sicherlich noch weitere Störenfriede in die Quere, bei denen wir alle Hände voll zu tun haben werden. Für mich gibt es in der nächsten Zeit ebenfalls genug ablenkende Beschäftigungen. Und ich bin unendlich stolz, im Theater arbeiten und eine eigene Pension für heimlose Katzen gründen zu dürfen. Und das ich eine verstorben geglaubte Freundin zurückgewonnen habe, zähle ich nun zu den wundersamsten und unvergesslichsten Ereignissen in meinem Leben. Ein Geschenk der gnädigen Seite des Schicksals, welches Amelia und mich zu ganz besonderen Weggefährtinnen macht. Und ja… Nicht zuletzt beschäftigt mich jene unumgängliche Konfrontation mit Sherlocks älterem Bruder Mycroft, der selbst ganz oben bei der Regierung mitmischt. Seltsamerweise hat sich das Ganze, zu einem recht ungewöhnlichen Gespräch entwickelt… Nichtsdestotrotz ist es äußerst wichtig, dass ich mir immer wieder aufs Neue Mut zuspreche und die Tatsache akzeptiere, dass es kein Zurück mehr gibt. Ich bin eine Moriarty und trage somit selbst eine bedeutsame Verantwortung. Dies heißt, dass ich eigenständig lernen muss, schwierige Entscheidungen zu treffen und ich mittels des harmonischen Bandes, das zwischen William und mir besteht, die jeweiligen Schritte im Voraus plane, wie er es tut. Gelingt uns eine solch beispiellose Kooperation, könnten wir dadurch unbesiegbar werden…
 

Verlorene Liebe
 

Eisige Kälte durchströmt mein Herz,

es ist kein Vergleich zu jedem bisherigen Schmerz.

Was gäbe ich um einen Funken Frieden,

Zeit das die Sorgen ausblieben.
 

Die Welt um mich herum ist in dichtem Nebel gehüllt,

Dunkelheit ist es, die einen tiefen Abgrund vor mir füllt.

Düstere Augen starren mich an,

die Hoffnung kehrt zurück, doch wann?
 

Euer Hass hat mich genug verletzt,

seht zu das ihr euch gegenseitig schätzt.

Die Liebe ist wie ein flüchtiger Traum,

an eine Rettung glaube ich kaum.
 

Vielleicht wird das Schicksal mir zur Hilfe eilen,

denn in der Einsamkeit mag ich nicht länger verweilen.

Du hältst mich warm in stiller Nacht

Und fliegst mit mir zu den Sternen ganz sacht.

Kampf zweier Herzen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kampf zweier Herzen (Ohne Adult)

Es fühlte sich für Miceyla wahrlich so an, als sei sie blindlinks in eine Falle getappt. Wieder einmal verspürte sie das beklemmende Gefühl, nicht aus einer fahrenden Kutsche fliehen zu können. `Mycroft ist nicht unser Feind, aber als einen Freund kann man ihn jetzt auch nicht wirklich bezeichnen… Ich vermute, dass er als ein Geschäftspartner von Albert, noch vor Sherlock die wahre Identität des Meisterverbrechers erfährt. Doch das ist jetzt alles erstmal nebensächlich. Was mich viel mehr interessiert ist, woher wusste er wo ich mich an diesem Abend aufhalte und welche Kutsche ich nehmen würde? Was wenn meine Wahl auf eine andere gefallen wäre? Hat er mir hinterherspioniert…? Kein Wunder, dass ein Mann wie er es bis an die Spitze der Regierung geschafft hat. Jetzt wird das erste Mal von mir ernsthaft verlangt, dass ich mich souverän und taktvoll verhalte, damit Williams gezieltes Vorgehen nicht gefährdet wird. Jedoch… Könnte ich ein Aufeinandertreffen mit Mycroft, nicht ebenso als Chance betrachten, anstatt eines Rückschlags?`, dachte Miceyla rasch zusammenfassend und beruhigte sich allmählich, denn ihre spürbare Nervosität, würde sie nur umso mehr verdächtig machen. Mycroft schenkte ihr ein kühles Lächeln, hinter dem sie eigenartiger Weise, eine aufrichtige Sympathie verborgen vermutete.

„Ähm… Guten Abend, Mr Holmes. Welch ungewöhnliche Begegnung. Da haben Sie es doch glatt geschafft, mich zu überrumpeln, ha, ha“, begrüßte Miceyla ihn mit leichtem Unbehagen und versuchte die angespannte Atmosphäre ein wenig aufzulockern.

„Bitte meine Werteste, entspannen Sie sich. Ich bin nicht hier um Sie zu überfallen. Aber es ist mir durchaus gelungen, einen auflauernden Geist zu spielen. Jetzt sind Sie wenigstens wieder hellwach, ha, ha. Doch nun erst mal genug der Scherze. Die Kutsche wird einen großzügigen Umweg fahren, ehe wir meinem Zielort erreichen, an dem ich aussteigen werde. Bis dahin haben wir knapp eine Stunde Zeit, für eine gründliche Unterredung. Ich denke Sie sind wie ich der Meinung, dass wir uns gewisse Einzelheiten sparen können und direkt zu meinem eigentlichen Themenschwerpunkt kommen. Auch wenn wir bisher nur flüchtig das Vergnügen hatten, uns miteinander bekannt zu machen, weiß ich durchaus, aus welchem Holz Sie geschnitzt sind. Halten Sie sich mir gegenüber also nicht mit offensiven Fragen zurück. Daher dürfen Sie sich auch nicht daran stören, wenn ich ebenfalls weniger schonende Argumentationen mit ins Spiel bringe“, schilderte Mycroft sachlich. Schüchtern nickte Sie einverstanden, eine andere Wahl hatte sie ohnehin nicht, als sich auf eine direkte Konversation mit ihm einzulassen. `Es kommt mir so vor, als wolle er mit mir ein Wortgefecht spielen, bei dem wir uns gegenseitig Informationen entlocken… Na dann mal los…`, bereitete Miceyla sich mental vor.

„Zu allererst mag ich Ihnen meine Glückwünsche aussprechen, dass Sie eine Anstellung in Londons berühmtesten Theater erhalten haben. Sie werden beim Publikum für reichlich positiven Gesprächsbedarf sorgen. Und somit gelangen wir auch gleich zu dem charismatischen Direktor jenes Theaters, Clayton Fairburn, mit dem Sie bis vor kurzem noch ein beschauliches Rendezvous hatten. Er mag in der Öffentlichkeit als erfolgreicher Geschäftsmann vertreten sein, der die Menschen aller sozialen Schichten neutral behandelt. Doch das Gemunkel über seine kriminellen Überfälle, wird sowohl bei Scotland Yard, als auch in meinen näheren Kreisen immer lauter. Er kann der Naivität der mittelständischen Polizisten danken, dass man Clayton Fairburn und Matador Muscari, für zwei unterschiedliche Personen hält. Auch Irene Adler, die eifrig bei dessen Verbrechen mitwirkt, katapultiert sich immer mehr in Richtung Gefängnis. Wie ich sehe, steht Ihnen schon jetzt die Frage ins Gesicht geschrieben: `Denken Sie, das es sich bei Clayton um den Meisterverbrecher handelt?´ Nun, dies kann ich sogleich beantworten. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er nicht jene berüchtigte Person repräsentiert. Woher meine Überzeugung stammt, ist vorerst mal nebensächlich. So, jetzt sind Sie an der Reihe. Umso offener Sie sich mir gegenüber zeigen, desto weniger muss ich unangenehm nachhaken“, begann Mycroft mit authentischer Stimme. Miceyla fühlte sich von seiner dominanten Präsenz, nicht mehr allzu sehr eingeschüchtert, wie es noch zu Beginn der Fall gewesen war. Er schaffte es sogar ein Schmunzeln in ihr hervorzulocken, da sie an seine fürsorgliche und neckende Art gegenüber seinem jüngeren Bruder dachte.

„Nun, das überrascht mich nicht. Aber für Sherlock hingegen wäre es eine Erleichterung, wenn Clayton es wäre. Es würde einiges vereinfachen, obwohl es gerade die komplizierten Fälle sind, welche er stets leidenschaftlich zu lösen versucht. Ziemlich widersprüchlich, nicht wahr…? Besorgniserregend finde ich, dass er sich zu sehr in die Sache rund um den Meisterverbrecher hineinsteigert. Welches Ausmaß seine grenzenlose Sturheit zu verrichten vermag, daran wage ich kaum zu denken… Verzeihen Sie, falls ich gerade zu viel von Ihrem Bruder spreche, das geht schließlich von unserer Zeit ab. Erlauben Sie mir dann, eine ganz direkte Frage zu stellen? Sie sind doch gewiss mit dem derzeitigen Premierminister Harley Granville vertraut und werden des Öfteren mit ihm zusammenarbeiten. Was halten Sie von ihm, den Menschen, der sich hinter seiner einflussreichen Person verbirgt?“ Miceyla brauchte einiges an Überwindung, um Mycroft genau die Frage zu stellen, dessen Antwort sie mehr als alles andere interessierte. Im Wissen und in der Wahrheit schlummerte die Gefahr und dennoch wollte sie sich diese einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen. Solange sie dadurch anderen helfen konnte, war ihr die eigene Sicherheit eher unbedeutend. Miceyla musste etwas verwirrt lächeln, als er plötzlich nach ihrer Frage begann leise zu kichern. Doch es dauerte nicht lange, da blickte er sie wieder mit bitterernster Miene an. `Auweia… War meine neugieriges Ausfragen über Harley, eventuell doch ein wenig zu gewagt…?`, überlegte sie verunsichert. Allerdings war es für Reue längst zu spät.

„Ach, der gute alte Harley. Wir haben uns zusammen in der Vergangenheit, so manch einem unlösbaren Problem gestellt. Dank seinen geschickten Führungsfähigkeiten ist es ihm gelungen, dass der Handel in London so prächtig floriert, wie dies sonst kein anderes Regierungsoberhaupt vollbracht hätte. Für mich ist er ein nicht mehr wegzudenkender Freund, im Laufe der Jahre geworden. Aber es ist belanglos, sich die Meinungen über eine bestimmte Person anzuhören. Es sollte für einen deutlich erstrebenswerter sein, sich selbst ein eigenes Bild über sie zu machen. Das ist schließlich genau die Methode, der Sie sich bedienen, oder etwa nicht?“, erwiderte Mycroft völlig unbeeindruckt von ihrer neugierigen Frage. Miceyla beobachtete ganz genau seine Gesichtszüge beim Sprechen. So eindringlich tat sie dies, dass es sie beinahe in einen tranceartigen Zustand versetzte. Dank seiner ausstrahlenden

Gelassenheit, fühlte sie sich auch glücklicherweise nicht unter Druck gesetzt, ihm schnellstmöglich zu antworten.

„Sie…Sie lügen… Das Harley ein Freund von Ihnen sei und Sie ihn wertschätzen, war eine Lüge. Ich weiß nicht wieso…doch Ihre Ausdrucksweise hat es mir verraten. Harley als Mensch können Sie nicht ausstehen. Aber Sie akzeptieren ihn, da er seiner Arbeit mit viel Gründlichkeit nachgeht“, berichtigte sie Mycroft offen und ehrlich, woraufhin er begeistert die Augenbrauen hochzog und kurz laut lachte.

„Ha, ha, ha! Tadellos mein Fräulein! Dies ist einer der Gründe, warum mein kleiner Bruder so gut mit Ihnen auskommt. Ich habe allerdings nicht vor, das Thema Harley Granville noch weiter zu vertiefen. Männer in seiner Position, haben häufig die ein oder andere Leiche im Keller. Leider ist es nun mal so, dass gerade jene Menschen, welche für Recht und Ordnung in der Gesellschaft sorgen sollen, sich ungerechter und menschenunwürdiger Mittel bedienen. Würde man all diese Personen vor Gericht führen, hätte das eine komplette Umstrukturierung unseres Systems zur Folge und Chaos bräche aus. Nur ist es ein merkliches Problem, dass Menschen mit viel Macht, die ihre Schandtaten perfekt zu verschleiern wissen, andere Gutmütige dazu bringen für sie gerade zu stehen und zur Waffe zu greifen. Und solch einen aufbrausenden Tumult veranstaltet der Meisterverbrecher. Zusätzlich nimmt die Grausamkeit seiner Taten ein immer größeres Ausmaß. Es ist schon Ironie, dass ihn das gemeine Volk als Helden der Gerechtigkeit bezeichnet. Und nun, Mrs Moriarty, hätten Sie die Chance seinen Namen auszusprechen. Das Sie immer weiter einen Pfad des Verderbens beschreiten, sehe ich Ihnen sofort an. Und dann haben Sie auch noch in eine Adelsfamilie eingeheiratet, die ich mal als etwas `untypisch` bezeichne.“ Miceyla schluckte schwer, Mycroft trieb sie in ihrem Gespräch immer mehr in eine ausweglose Sackgasse. Doch keineswegs durfte sie ihre bis dato anhaltende Selbstbeherrschung verlieren und ließ sich keinerlei Stimmungsschwankungen anmerken.

„Also scheinen Sie entweder der festen Überzeugung zu sein, dass ich gemeinsame Sache mit dem Meisterverbrecher mache oder Sie wollen mich abermals mit einem geschickten Bluff testen. Ich hätte nichts davon zu lügen, da die Wahrheit immer einen Weg findet um ans Licht zu kommen. Und dennoch werden Sie seinen Namen nicht aus meinem Mund hören, ganz gleich ob ich ihn nun kenne oder nicht. Sie könnten mir drohen und ähnliches antun, ich würde weiterhin schweigen. Nicht ich werde diejenige sein, welche zwischen Ihnen beiden vermittelt. Gedulden Sie sich bis zu dem Tag, an dem Sie eine persönliche Konfrontation mit ihm erhalten“, antwortete Miceyla mit überzeugender Selbstsicherheit und hielt seinem forschenden Blick, ohne auch nur einmal wegzublicken stand.

„Ich habe auch gar nichts anderes erwartet, als solch eine Antwort. Sie sind eine bemerkenswerte junge Frau, die Stärke und Stolz besitzt. Sollten Sie `ihn` tatsächlich kennen und an seinen ausgeklügelten Verbrechen mitbeteiligt sein, so dürfen Sie sich selbst zu dem Begriff eines Meisterverbrechers einordnen und ich hätte folglich meine Auflösung. Sie müssen wissen, es ist nicht mal im entferntesten Sinne meine Absicht, Sie zu verhören. Eher liegt es mir Nahe, Ihnen meine Hilfsbereitschaft anzubieten. Es macht mich wahrlich glücklich zu sehen, welch starke Freundschaft zwischen Ihnen und Sherlock entstanden ist. Und niemand weiß jenes Vertrauensverhältnis mehr zu schätzen, als Sie selbst. Doch nicht mehr lange und unser Sherly wird vor Ungeduld, Ihnen meine gerade eben gestellte Frage noch einmal stellen. Was werden Sie dann tun? Ihn anlügen selbstverständlich, um den bröckelnden Frieden noch ein Weilchen länger aufrecht erhalten zu können. Was ihm völlig bewusst sein wird und doch hofft er die Wahrheit nicht von Ihnen zu hören, weil folglich für alle klar wäre, welche Konsequenzen dies mit sich ziehen würde. Doch wie es letztendlich um Ihre Freundschaft mit ihm bestellt sein wird, hängt von mehreren Faktoren ab. Noch hört sich das zwar alles nach Spekulation an, aber Sie sollten bereits jetzt abwägen, was für eine Wahl Sie treffen wollen. Irgendwann wird selbst Sherlock Sie nicht mehr vor Gefahren bewahren können, sobald die Verbrechen des Meisterverbrechers zu sehr ausarten. Doch da wo Sherly die Hände gebunden sind, öffnen sich mir wesentlich weitreichendere Möglichkeiten. Ein Wort bedarf es nur Ihrerseits und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihnen zu helfen. Dieses Angebot wollte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Denn ich könnte bald die einzige Person sein, welche Sie vor dem Galgen bewahrt. Harte Worte, ich weiß. Nun habe ich es letztendlich doch geschafft, dass Ihre willensstarke Fassade zu bröckeln beginnt und Ihr Gesicht ganz bleich wird. Meine Zusammenarbeit mit Oberstleutnant Moriarty, werde ich künftig fortführen. So mysteriös er mir auch manchmal vorkommen mag. Und überlegen Sie stets gut, wie man eigentlich Gerechtigkeit und Grausamkeit definieren sollte… So, die Zeit ist wie im Fluge vergangen. Hier an der Kreuzung werde ich aussteigen““, sprach Mycroft ausführlich über seine Absichten und blickte zum Fenster hinaus, als die Kutsche zum Stehen kam.

„Verzeihen Sie Mr Holmes, dass ich Sie ohne eine Antwort gehen lassen muss. Aber momentan fällt es mir noch etwas schwer, rational über Probleme nachzudenken, die in Wirklichkeit vielleicht gar keine richtigen Probleme sind und über deren Lösung zu entscheiden. Ich lasse mich von der Stimme meines Herzens leiten. Ob nun Verstand, Intuition oder Beobachtungsgabe, unser Herz sieht und fühlt immer noch am meisten. Dennoch…danke, dass Sie mir so ehrlich Ihre Unterstützung angeboten haben. Ich selbst fühle mich jedoch sicher in meinem Umfeld und auch auf Sherlocks Sicherheit, werde ich stets ein wachsames Auge haben“, sprach Miceyla ihm aufrichtig ihren Dank aus, denn sie hatte wahrhaftig nicht den Eindruck, dass es ihm nur allein darum ginge, die wahre Identität des Meisterverbrechers aus ihr herauszuquetschen. Mycroft stieg mit eleganten Schritten aus der Kutsche und setzte sich seinen Hut auf. Anschließend wandte er sich ihr noch ein letztes Mal zum Abschied zu.

„Überdenken Sie mein Angebot. Sie dürfen unsere Unterredung, gerne als freundschaftlich gesinnte Geste der Familie Holmes auffassen. Und merken Sie sich, dass ich Ihnen gegenüber einen anderen Standpunkt vertrete, als ich dies bei den Moriarty-Brüdern tue. Mit meinem Angebot können Sie verfahren wie Sie wollen. Es annehmen, es verweigern oder aber sich denken: `Ich benötige weder Rat noch Hilfe und dieses Gespräch hat niemals stattgefunden…` Gute Nacht, Mrs Moriarty…“, verabschiedete er sich und hatte dabei einen solch düsteren Gesichtsausdruck, dass Miceyla eine Gänsehaut bekam. Doch das Wohlwollen, welches sich in seiner Stimme verbarg, löste in ihr ein eigenartiges Gefühl aus. In Gedanken assoziierte sie dieses mit dem Gefühl, eines sich um seine Tochter sorgenden Vaters.

„Gute Nacht, Mr Holmes…“, kam ein etwas kleinlauter Abschied von ihr und er schloss die Tür zu, woraufhin die Kutsche sich sofort wieder in Bewegung setzte und Mycroft im Dunkeln der Nacht hinter sich ließ. Während Miceyla nun endlich zum Moriarty-Anwesen aufbrach, starrte sie ausdruckslos hinaus. Erst Claytons desaströse Vergangenheit und nun eine vorwarnende Konfrontation mit dem Mann, der für die Umsetzung von Williams Plänen am gefährlichsten werden könnte. Und für einen Moment fühlte es sich für sie so an, als laste das Schicksal der gesamten Welt auf ihren Schultern. Nachdem die Kutsche vor dem Eingangstor des Anwesens hielt, schlurfte sie kraftlos den Weg zur Tür entlang. Und als wäre es zeitlich abgesprochen gewesen, öffnete ihr Louis direkt die Tür.

„Willkommen zurück. Du warst länger unterwegs, als wir es erwartet hatten. Gab es einen Zwischenfall?... Miceyla…?“, fragte er sie in einem ungewohnt ruhigen Ton und blickte sie fragwürdig an, während sie mit leicht hängendem Kopf an ihm vorbeilief.

„Verzeih Louis… Es war ein langer und anstrengender Tag. Ich kann jetzt nicht gleich etwas darauf erwidern…“, entschuldigte sie sich mit schläfriger Stimme und hob ein wenig den Blick, als Albert mit besorgter Miene im Eingangsbereich auf sie zulief, dicht gefolgt von William.

„Miceyla… Du siehst schrecklich blass aus. Ruhe dich bitte erst einmal aus, alles andere kann bis morgen warten“, meinte Albert besänftigend und strich ihr sanft über den Kopf.

„Schön dich wieder hier zu haben, meine Liebe. Du hast mit deinen Auskundschaftungen Erfolg gehabt, auch wenn dies sehr belastend für dich gewesen sein muss. Doch im Anschluss wurdest du ganz ohne jegliches Vorwissen, von jemandem gestört, der deine Zuversicht ins Wankeln gebracht hat, nicht wahr? Bedenke mein Liebling, was ich einst zu dir gesagt habe. Bringt uns eine kleine Hürde oder ein Rückschlag gleich dazu aufzugeben oder innezuhalten? Nein, niemals, da wir einander haben. Blindes Vertrauen und eine unerschütterliche Verbundenheit, schürt eine unauslöschliche Flamme, welche zur Grundlage unseres eisernen Willens wird. Und wir, die Familie Moriarty, werden alles bis zum bitteren Ende durchstehen“, sprach William beharrlich von ihren gemeinsamen, idealistischen Zielen und zeigte jenes Lächeln, welches gleichzeitig liebevoll als auch melancholisch war. Miceyla liebte es unheimlich, obwohl sie dabei einen stechenden Schmerz im Herzen verspürte. Wehmütig blickte sie um sich und stellte fest, dass sie zusammen mit William, Albert und Louis in einer Runde stand und jeder von ihnen denselben entschlossenen Gesichtsausdruck hatte.

„Es tut gut wieder hier zu sein. Denn hier ist der Ort wo ich hingehöre. Und hier sind die Menschen, zu denen ich gehöre und mit mir ein gemeinsames Schicksal teilen“, verkündete sie lächelnd und legte sich mit geschlossenen Augen eine Hand auf das Herz.

Nachdem Miceyla ein kurzes Bad genommen hatte, ließ sie sich erschöpft auf dem Bett nieder und ließ noch einmal die Ereignisse des Tages Revue passieren. Dabei blickte sie in die flackernde Flamme der Kerze, welche auf ihrem Nachttisch stand. Leise öffnete sich die Zimmertür und William setzte sich neben sie auf die Bettkante. Zärtlich nahm er ihre Hand und Miceyla blickte in seine rubinroten Augen, die so ausdrucksstark glühten, dass sie sich im Geiste vorstellte, wie sie jegliches bedrohliche Feuer absorbierten.

„Hast du den Tee getrunken, den dir Louis gemacht hat, Liebes? Er wird dir beim Einschlafen helfen. Denn du musst eine Menge neuer Informationen verarbeiten. Das geschieht nur mithilfe eines erholsamen Schlafes. Unser Geist und Verstand sind nun mal an lebensnotwendige Grundbedürfnisse gefesselt und zu keinen Wundern fähig. Für mich sind Pausen zwischen komplizierten Gedankengängen ebenso wichtig, wie für dich. Ich gebe dir gern so viel von meiner Ruhe ab, die du benötigst um die Hektik der Schnelllebigkeit zu vertreiben“, meinte er mit einer unbeschreiblichen Güte in seiner Stimme.

„Ich danke dir. Doch gib Acht, dass du mir nicht zu viel deiner wertvollen Gelassenheit schenkst. Denn du benötigst sie von uns allen am dringlichsten. Ich weiß, dass ich die Ereignisse des heutigen Tages, für eine Nacht ruhen lassen soll… Jedoch… Ich fürchte das…also…“, suchte Miceyla vergeblich die geeigneten Worte, um ihm von ihrer kritischen Begegnung mit Mycroft zu berichten. William lächelte verständnisvoll und legte sich dicht neben sie auf das Bett. Sie konnte ihr heftiges Herzklopfen nicht unterdrücken, als sein Gesicht plötzlich so nah war und seine angenehme Körperwärme, all die Kälte ihrer Sorgen vertrieb.

„Mein Liebling, fürchtest du dich davor, dass Mycroft Holmes von seiner Macht Gebrauch machen könnte, um uns Moriartys zu vernichten? Du kannst doch selbst die Absichten der Menschen sehr gut einschätzen. Liegt es nicht nahe, dass Mycroft mehr als nur eine einfache Freundschaft sieht, welche sich zwischen dir und Sherlock entwickelt hat? Und als ein verantwortungsbewusster großer Bruder, für eure unbeschwerte Zukunft kämpfen will? Jeder versucht Großes im Leben zu verrichten, doch letztendlich sind es die Blutbande der Familie, die das menschliche Herz schwach werden lassen. Es ist wie ein unlöschbarer Fluch, der dich von der Geburt bis zum Tod, wie ein dunkler Schatten begleitet“, begann William etwas ausschweifend und sogleich war sie nach seinen Worten überrascht und verwirrt zugleich.

„Du…du weißt das ich auf Mycroft gestoßen bin? Es sollte mich aber eigentlich nicht wundern… Mir ist klar, dass du direkt seine Schwachstellen ins Visier nimmst. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass er andere Seiten aufziehen wird, um dich und deine Pläne zu stürzen. Noch bist du für ihn ebenso wie für Sherlock, wie ein identitätsloses Phantom, über das sich die Bürger etliche Mythen erzählen. Doch sobald dieses Phantom Gesicht und Namen erhält, beginnt ein Rennen gegen die Zeit. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass wir jenes Rennen gewinnen können. Und dafür werde ich bereit sein alles zu geben und meine Grenzen auszuweiten. Zu unseren Feinden zählen weder Mycroft oder Sherlock noch Clayton. Zwischen ihnen und uns wird es eher ein rivalisiertes Kräftemessen geben. Unser wahrer Feind jedoch ist das Klassensystem im Allgemeinen. Verhelfen wir unserem Land zu neuem Glanz und erschaffen eine Welt, in der jeder ein gleichberechtigtes Leben führen kann, mein Liebster…“, flüsterte Miceyla sanft und ihre Augenlieder begannen plötzlich ganz schwer zu werden. Der schlafanregende Tee von Louis, schien allmählich seine Wirkung zu entfalten und sie fiel langsam aber sicher in einen geruhsamen Schlaf.

„Genau und nun schlaf, meine schöne Winterrose. Unser gemeinsamer Traum wird uns immer miteinander verbinden, egal wie sehr auch das Umfeld an unserem Glück zu rütteln versucht. Und egal, auf welche Weise wir unser Ende finden werden…“, hauchte William besiegelnd und gab Miceyla einen zärtlichen Kuss auf die Lippen, um ihr eine unbeschwerliche Reise in das Land der Träume zu wünschen.
 

Es war der vierte Mai und der Tag, bevor Miceyla zusammen mit William das Anwesen von Harleys Verwaltungsassistenten und gleichzeitig engsten Vertrauten, inspizieren würde. Zusätzlich war dies eine unerlässliche Gelegenheit, um mehr über die Schattenseite der Regierung herauszufinden. Die gesamte Truppe hatte sich zur Abwechslung, noch einmal in dem geheimen Kellerraum versammelt, wodurch die Zusammenkunft, zusätzlich an einem ordentlichen Stoß Ernsthaftigkeit gewann. In den letzten Tagen hatte Moran ihr Training um einiges intensiviert und auch William opferte fast seine gesamte freie Zeit, damit er sie im Fechten unterweisen konnte. Daher hatte Miceyla nun einen Ruhetag zur Regeneration. Ihr ging nicht aus dem Kopf, dass Albert sie nach jedem anstrengenden Tag, beim Abendessen führsorglich umsorgte und seine beinahe schuldig aussehende Miene, hinter einem warmherzigen Lächeln verbarg. Sie sah ihn mehr und mehr wie einen richtigen großen Bruder. Ein Glück, für das sie unendlich dankbar war.

„Vorerst möchte ich noch einmal anmerken, dass wir dich nicht dazu nötigen, uns Claytons dir anvertraute Vergangenheit zu erzählen, Miceyla. Wir können uns alle ausmalen, was sich damals zwischen ihm und Harley abgespielt haben muss. Deshalb bedarf es nicht deiner detailgetreuen Erläuterung. Es sei denn…“, begann William gelassen und gab ihr mit einem leicht verruchten Lächeln zu verstehen, sich nun selbst dazu äußern zu dürfen.

„Ich habe seine gesamte Geschichte schriftlich festgehalten. Mit all den Zitaten eines Zeugen, der die Wahrheit kennt. Möglicherweise tat ich dies, damit die Erinnerung an Claytons und Lydias verlorene Liebe nicht in Vergessenheit gerät. Aber mir ist auch klar, dass er kein großes Geheimnis, um die Gräueltaten von Harley macht. Tief im Herzen wünscht er sich sogar, dass Leid alter Wunden mit anderen zu teilen. Dennoch bürdet er sich im Alleingang alles auf und ist bereit, für seine Rache das eigene Leben zu opfern… Und vorher bemüht er sich darum, so viele unglückliche Menschen, insbesondere junge Mädchen, zum Lächeln zu bringen wie er nur kann“, erläuterte Miceyla betrübt.

„Dich bewegen die gutherzigen Taten von Personen, die in unserer festgefahrenen Gesellschaft herausstechen. Nur bist du dir selbst im Klaren darüber, weshalb sich seine querstellenden Pläne, ganz erheblich von den unseren unterscheiden. Was nach seinem Ableben in Zukunft mit diesem Land geschieht, interessiert ihn recht wenig. Da kann er nicht einmal mit seinen Rettungen der Mädchen jemandem etwas vormachen. Er lebt für seine Rache, die ihm am Ende noch nicht mal seine Schuldgefühle nehmen wird. Wir hingegen streben danach, unser Land von der Ungerechtigkeit zu befreien, in dem der Großteil der Bevölkerung ein elendiges Leben fristet“, beschrieb William zügig ihre Unterschiede und kurz tauschten alle bestätigende Blicke miteinander aus.

„Genau Will, du triffst den Nagel auf den Kopf! Durch gesetzesbrechende Verbrechen, schaffen wir Ordnung im vereinigten Königreich und sind dazu bereit, uns für unser Land zu opfern. Dies ist der Leitweg wahrer Patrioten“, kommentierte Moran bestätigend Williams idealistischen Visionen.

„Ich bin beeindruckt Oberst, hinter deiner rauen Fassade, verbirgt sich ja ein richtiger Dramatiker. Wir wollen mehr solcher rührenden Reden hören!“, neckte ihn Albert sogleich schmunzelnd.

„Wills Ziele haben Moran so sehr mitreißen lassen, dass aus ihm ein besessener Fanatiker geworden ist“, fügte Fred lächelnd hinzu.

„Unser weichherziger Ex-Soldat, wie er leibt und lebt“, meinte Louis und schloss sich der belustigten Runde an.

„Tja Meister, das wäre dann eine erneute deftige Niederlage für dich. Da kannst du unmöglich gegen ankommen, ha, ha“, sagte Miceyla noch abschließend und boxte ihm spielerisch gegen den Arm.

„Urgh…! Geht mir bloß nicht mit eurer dämlichen Schikane auf die Nerven, sonst setzt es was!“, konterte Moran und versuchte dabei so bedrohlich zu klingen wie er nur konnte, auch wenn ihm ein jeder anmerkte, dass er selbst amüsiert war.

„Nun Moran, du wirst dich bald schon wieder austoben können. Bis dahin bitte ich, dass du dich manierlich unter Kontrolle behältst. Jetzt kommen wir aber noch mal auf Scott Widley zu sprechen. Der Plan für morgen steht, ihr kennt ihn alle. Wir werden es so einfädeln, dass am morgigen Tag kaum Bedienstete in dessen Anwesen beschäftigt sein werden, damit Miceyla und ich eine relative freie Bahn haben. Als erstes versuchen wir eines seiner wichtigsten Dokumente zu entwenden, um ihn leichter bestechen zu können. Da Scott dem Premierminister Harley treu ergeben ist und ihm geradewegs in den Tod folgen würde, wird es eine Herausforderung ihn zum Reden zu bringen. Jedoch weiß ich bereits jetzt, wie ich an die Informationen gelange, die ich benötige. Und gewiss endet es schließlich damit, dass wir Scott Widley töten. Seine Strafe ist längst überfällig. Eigentlich wäre er ebenfalls Claytons Opfer gewesen. Doch ist er für ihn allein ein zu riskanter Gegner, daher hält er sich vorerst bei ihm zurück. Wir haben es dahingegen mit unserer Organisation um einiges leichter. Dennoch müssen wir für alle außerplanmäßigen Eventualitäten gewappnet sein“, wiederholte William noch einmal grob ihr Vorgehen, schien aber ihrer Infiltrierungsmission recht entspannt entgegen zu sehen.

„Richtig… Du hast ja erzählt, dass Scott Eigentümer einer Fabrik, in einem Bezirk nahe Whitechapel ist und dort heimlose Waisenkinder arbeiten ließ. Und sobald diese aufgrund der verwerflichen Arbeitsbedingungen verstorben waren, hatte er die Kinder einfach durch neue ersetzt… Ein menschenverachtenderes Handeln kann man sich gar nicht vorstellen. Diese Person verdient kein Leben auf unserer schönen Welt. Mit seiner Hinrichtung bin ich voll und ganz einverstanden. Trotzdem wird mir etwas bange zumute, wenn ich an morgen denke… Denn wir kommen Harley dadurch ein ganzes Stück näher. Aber ich werde mich so gut es nur geht, an deine wohldurchdachte Führung halten, Will“, meinte Miceyla daraufhin bedachtsam.

„Hm… Ich hatte schon mehrmals das Vergnügen, bei wichtigen Militärkonferenzen, ein kurzes Tür- und Angelgespräch mit Harley zu führen. Er ist ein Mann, der seine Emotionen sehr gut in jeder Situation unter Kontrolle behält und bei dem nur schwer abzuwägen ist, ob er nun lügt oder die Wahrheit spricht. Ich glaube Sherlock und Will wären die einzigen, welche seine wahren Absichten deuten könnten. Jedoch… Vielleicht findest auch du noch mehr über Harley heraus, wenn du ihn persönlich treffen würdest, meine liebe Eisblume“, sprach Albert leicht grübelnd und seine leuchtend grünen Augen, ruhten für eine kurze Weile auf Miceyla, während seine Lippen sich zu einem geheimnisumwobenen Lächeln formten.

„Hach… Ich hoffe solch ein Treffen lässt sich noch eine Weile aufschieben. Seitdem ich mich euch anschloss, habe ich wirklich die ungewöhnlichsten Begegnungen. Was ich aber keineswegs bereue. Mein Leben ist aufregend und abwechslungsreich zugleich geworden. Dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass meine routinierten Aufzeichnungen, zu wahren Abenteuergeschichten werden. Es würde mich sogar nicht wundern, eines Tages die Königin persönlich zu treffen. Übrigens wäre es für mich wünschenswert, wenn ein jeder von euch sich dazu aufraffen könnte, meine Verschriftlichung von Claytons Vergangenheit zu lesen. Am besten allein im Stillen ohne jegliche Ablenkungen, damit die bittere Geschichte ihre volle Wirkung entfalten kann. Dies machte mich sehr glücklich“, bat Miceyla appellierend.

„He, he, versteckt sich da etwa ein hartnäckiger Befehl, hinter deinen weichherzigen Worten? Heißt also ich muss einen ganzen Roman lesen. Überfliegen kann ich das wohl kaum, weil ich jetzt schon weiß, dass du mich penetrant darüber ausfragen wirst und nachprüfst, ob ich die Story auch brav inhaliert habe. Wie auch immer, viel Glück euch beiden bei der morgigen Mission. Aber für Will wird das sicher ein Spaziergang und außerdem sind wir ja immer da, um euch den Rücken freizuhalten“, meinte Moran, der jeden mit Gefahren verbundenen Auftrag, als reine Routine betrachtete.

„Miceyla, ich hätte da noch ein persönliches Anliegen an dich. Wenn du die Güte besäßest, kurz mit mir hinaus zu gehen…“, bat Albert, da die abendliche Versammlung allmählich auf ihr Ende zusteuerte.

„Selbstverständlich, lass mich nur wissen worum es sich handelt und ich werde deiner Bitte unverzüglich nachkommen“, willigte Miceyla sogleich ein und folgte ihm, aus dem in dämmriges Licht gehüllten Kellerraum hinaus. Während sie die Treppe hinaufliefen, begann Albert bereits nähere Details, über sein scheinbar wichtiges Anliegen preiszugeben.

„Es gab mal einen alleinstehenden, gutherzigen älteren Herrn, der die Freundschaft von uns Moriartys genoss und ein beachtliches Vermögen besaß. Er selbst lebte in Bescheidenheit und erzählte, wann immer wir ihn trafen, dass er noch vor seinem Tod, sein gesamtes Geld an Schulen und Waisenhäuser spenden wolle, denen es an finanziellen Mitteln fehlte. Der Mann liebte Kinder über alles, obwohl ihm nie das Glück zuteil geworden war, eigene zu haben. Trotz seiner Altersschwäche, war er noch überdurchschnittlich geistig fit im Kopf und teilte unsere Ideale. Bedauerlicherweise war es ihm nicht vergönnt, einen natürlichen Tod zu sterben, da gewiefte Gauner seinem wohlbehüteten Vermögen auf die Schliche gekommen waren und ihn grausam ermordeten. Doch der alte Mann war klug und keineswegs unvorsichtig gewesen. Er hatte von seiner Erburkunde eine Fälschung angefertigt, welche die Diebe bei ihrem vermeintlichen Triumph an sich rissen. Wir wollten zur damaligen Zeit das Original bergen. Was wir allerdings nicht ahnen konnten war, dass noch ein weiterer gerissener Querkopf, hinter dem Dokument her war. Und bei diesem Jemand, handelte es sich um keinen geringeren als Clayton Fairburn. Tatsächlich hatte er es noch vor uns geschafft, die Erburkunde, welche in einem Versteck verborgen lag, das eigentlich nur uns bekannt war, in Händen zu halten. Jedoch hatte unser alter Freund doppelte Sicherheitsmaßnahmen ergriffen und auch noch mal das Original gesichert, dass nur mit einem dazugehörigen Code einen Wert hat. Diesen kennen wir ebenfalls. Clayton ärgerte sich zwar, aber es war zu heikel für ihn ein solch wertvolles und geschütztes Dokument zu behalten, wodurch er ins Schussfeuer der Polizei oder gar der Regierung geraten könnte. Und somit händigte er es anonym der Obrigkeit aus, wo es zwar sicher aufbewahrt wird, jedoch ohne jeglichen Verwendungszweck verstaubt. Eine Schande, wenn man bedenkt, wie vielen in Armut lebenden Menschen, mit dem Geld geholfen wäre. Dem stimmst du bestimmt zu, nicht wahr meine verträumte Eisblume?“, erzählte Albert ihr ausführlich von seinem ehemaligen, wohltätigen Freund. Beide waren mittlerweile ein ganzes Stück durch das Anwesen spaziert und beim friedvoll begrünten Wintergarten angelangt. Die Düfte unterschiedlicher Blumen- und Pflanzenarten vermischten sich miteinander und verliehen der Atmosphäre des gepflegten Gartens, ein noch exotischeres Flair. Sobald man die Augen schloss, glaubte man sich an einem weitentfernten, tropischen Ort zu befinden. Und inmitten dieses kleinen Paradises, kamen die zwei zum Stehen.

„Ich verstehe… Und kurz gesagt ist es nun dein Wunsch, dass ich deiner Bitte nachgehe, jene Erburkunde wieder aus dem Besitz der Regierung zu entwenden, damit das Geld einen sinnvollen Zweck erhält. Ich schließe aus deiner kurzen Erzählung, in Verbindung mit unserer gerade abgehaltenen Besprechung, dass ihr euch sehr sicher seid, dass sich die echte Erburkunde in dem Archiv des Verwaltungsassistenten Scott Widley befindet. Roger! Ich sehe dies als eine wichtige mir aufgetragene Mission des M16 und werde sie pflichtbewusst annehmen! Damit hätten Will und ich für morgen eine klar strukturierte Arbeitsaufteilung. Ich werde dich nicht enttäuschen, Bruderherz…“, versprach Miceyla aufrichtig und genoss das kribbelnde Gefühl des Stolzes, eine solch verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen zu dürfen.

„Danke Schwesterherz… Wir verstehen uns wahrlich so gut, dass wir einander nicht viel erklären müssen. Ich kann gar nicht oft genug wiederholen, wie unsagbar glücklich es mich macht, dich hier bei uns zu haben. Du bist wie eine strahlende Sonne, die in unserer düsteren Welt der Verbrechen, auf einen dahinterliegenden, idyllisch farbenfrohen Horizont leuchtet. Auch wenn die wärmenden Strahlen, deine innere Kälte nicht zu vertreiben vermag, werde ich dich so lange in meinen Armen halten, bis das klirrende Eis sich endlich von deinem sensiblen Herzen löst. Bleibe solange tapfer und ich…nein `wir`, werden aus dir eine unaufhaltsame Soldatin machen. Und das Feuer von Williams Kraft, wird dir auf diesem Weg viel Mut spenden. Es ist unmöglich etwas gewaltsam auseinanderzubringen, dass füreinander bestimmt ist…“, sprach Albert sanft mit einem wehmütigen Glanz in den Augen und legte ihr zärtlich eine Hand auf die Schulter. Seine Worte bewegten Miceyla so sehr, dass ihr Herz aufgeregt zu schlagen begann.

„Wir alle sind auf besondere Art und Weise miteinander verbunden, da wir ein Schicksal teilen. Dies gilt auch für dich und mich… Wir werden uns immer nah sein. Und wenn wir nicht wagen etwas direkt auszusprechen, lassen wir eben unsere Briefe für uns sprechen…“, hauchte sie lieblich und fragte sich ein wenig durcheinander, ob es noch jemandem außer ihr gelang, Alberts sonst so stolzes und erhabenes Antlitz ins Wankeln zu bringen.

Verborgen neben der geöffneten Tür des Wintergartens stand William und lauschte unbemerkt ihrer Unterhaltung. Nachdenklich senkte er seinen Blick, doch schon nach kurzer Zeit, formten sich seine Lippen zu einem zarten Lächeln und er schritt gemächlich davon.
 

Einige Tage zuvor im Parlamentsgebäude von London.

Ein im akkuraten Anzug gekleideter Mann, ließ nach unterzeichnen einiger Dokumente, seine Arbeit für eine Weile ruhen und erhob sich würdevoll von seinem Platz vor einem großen Schreibtisch und lief anschließend in dem geräumigen Raum, zu einem blankgeputzten Wandschrank. Dort nahm er eine längliche hölzerne Schachtel, mit dem Wappen der Familie Granville darauf heraus. Er stellte sie auf den Tisch und nahm sorgsam den Deckel ab. Kurz betrachtete er einen sich darin befindlichen, silbern glänzenden Degen, ehe er diesen mit einem selbstsicheren Handgriff in die Höhe hielt. Der Mann fixierte die Waffe so eindringlich mit seinen saphirblauen Augen, dass man meinte er würde mit ihr verschmelzen. Genau im selben Moment klopfte es dreimal laut an der Tür, doch er reagierte nicht darauf.

„Ich komme herein, Sir…“, kündigte sich ein weiterer Mann mittleren Alters an und trat ruhigen Schrittes in die Mitte des Raumes.

„Was geschieht, wenn eine Nation dem Rest der Welt den Krieg erklärt? Ist es ein törichtes Unterfangen, dass die eigene Niederlage heraufbeschwört? Denn sind die Chancen auf einen Sieg dabei nicht gleich Null? Oder ist es die empörte und wütende Welt, die den Kriegsantrag jener Nation belächelnd annimmt und am Ende zum wahren Verlierer wird? Schließlich sagt man doch, wer für einen Triumph Opfer in Kauf nimmt, ist ein Tor. Derjenige, der den Kampf meidet ist der wahre Sieger, wobei er jegliche Opfer vermeidet. Was man als tapfer oder feige betrachtet, ist rein subjektiv. Dies ist nicht die meine Sichtweise, sondern galt einem Mann, den ich einst sehr respektiert habe. Doch sage mir Scott, unsere Fortschritte schreiten von Tag zu Tag immer zügiger voran. Nur wie sollen wir diese vor dem Rest der Welt schützen? Arbeiten wir Tag und Nacht pausenlos, damit die Faulen unseren Erfolg rauben?“, begann der Mann in einer gleichbleibend ruhigen Stimmlage und drehte sich schwungvoll zu dem hereingetretenen Scott herum, woraufhin er seinen Degen auf ihn richtete.

„Nun Harley mein alter Freund, es gäbe sicherlich mehrere Antworten auf deine Frage. Aber bei jeder von ihnen, käme wohl eine gewisse Form der Gewalt drin vor…“, erwiderte er ohne Umschweife und war kein bisschen von der dominanten Geste seines Vorgesetzten einschüchtern. Ganz im Gegenteil sogar, denn er genoss das einmalige Privileg, ihm auf Augenhöhe begegnen zu dürfen. Und obwohl Harley ein paar Jahre älter war, sah er wesentlich jünger aus als Scott.

„So ist es… Schau dich nur um, wie verwöhnt die Menschheit geworden ist. Die Reichen werden noch reicher und die Armen werden immer ärmer. Geld scheffeln bis zum abwinken, lautet das Motto unserer Gesellschaft. Und wer profitiert von unserem Wirtschaftswachstum? Garantiert nicht nur unsere eigenen Landsmänner… Wenn so viele Menschen in einem eigentlich wohlhabenden Land Hunger leiden, läuft etwas gehörig schief. Sogar ich besitze nicht die Macht, die ungleiche Verteilung der Rechte in der Bevölkerung, von heute auf morgen aus der Welt zu schaffen. Selbst in der Zeit meines Amtes hat sich wenig getan. Das letzte Wort werden immer die Königin und der Hochadel haben, welcher such um sie herum versammelt hat. Und wie durchbrechen wir nun diesen endlosen, gottverdammten Kreislauf? Ganz simpel Scott, ein Krieg muss her, der das Volk wachrüttelt. Unsere gut ausgebildeten Soldatentruppen, rosten allmählich bei ihren ganzen eintönigen Trockenübungen. Und deren Auslandsaufenthalte halten sich auch in Grenzen. Um etwas Neues gewinnen zu können, muss eben erst einmal einiges verloren gehen. Ich mag nicht zu viel von meinen Visionen verraten, denn die Wände haben Ohren, wie man so schön sagt… Jedoch gibt es da eine aufsehenerregende Person, die meinen Plan, einen glorreichen Krieg zu beginnen, zunichtemachen könnte. Nämlich der Meisterverbrecher. Seine Opfer sind hauptsächlich Adelige, die selbst bereits irgendwelche Schandtaten verrichtet haben. Noch ist es zwar recht unscheinbar, aber die Leute werden zum Umdenken angeregt. Da er selbst einen schleichenden Aufstand zu planen scheint, werden wir uns früher oder später in die Haare kriegen. Und deshalb, Scott mein werter Freund, erbitte ich das du mir und deinem Land, einen allerletzten ehrenvollen Dienst erweist…“, sprach Harley vorausblickend und sah ihn mit einem furchtlosen Grinsen an.

„Gewiss, du bist für mich immer wie ein einzig wahrer König gewesen und ich bin dankbar, dass du meine Unterstützung stets als sehr bedeutsam angesehen hast. Damit du deine beispiellosen Ziele durchsetzen kannst, werde ich mich mit großer Freude dafür aufopfern. Dank dir hatte ich ein erfülltes Leben und bin bereit, es mit einer heldenhaften Tat enden zu lassen, Graf Harley Granville“, willigte Scott selbstlos ein und verneigte sich etwas vor dem Premierminister. Mit einem zufriedenen Lächeln legte Harley den scharfen Degen zurück und strich noch einmal mit den Fingern über die Klinge.

„Danke Scott, du weißt wahrlich, was bedingungslose Treue bedeutet. Die letzten Jahre unserer reibungslosen Zusammenarbeit, werden mir immer in Erinnerung bleiben. Wohlan, lass uns den Startschuss abfeuern, möge der Bessere und Gnadenloseste gewinnen…“, verkündete Harley und blickte zielsicher aus dem Fenster in die Stadt hinaus. `Zeige mir, wie viel schauspielerisches Talent in dir steckt, mein lieber Clayton. Überdenke gut deinen nächsten Zug. Denn die Gegneranzahl ist dabei sich zu vervielfachen…`, fügte er dabei

noch still in Gedanken hinzu.
 

Zur selben Zeit unmittelbar vor dem Parlamentsgebäude.

„Was halten Sie hiervon, Holmes?“ Sherlock kniete am Boden vor einigen zertrümmerten Kisten, welche zuvor durch eine Explosion zerstört worden waren. Inmitten dieses Schauplatzes der Zerstörung, lag ein Mann regungslos von Holzsplittern übersät, welcher der Explosion zum Opfer gefallen war. Während John gründlich den Zustand der Leiche untersuchte, galt Sherlocks volle Aufmerksamkeit, viel mehr dem Inhalt der zerstörten Kisten und er nahm sich alle Zeit der Welt, ehe er Lestrade eine zufriedenstellende Antwort gab.

„Das es sich hierbei um einen Selbstmordattentat handelt, steht außer Frage. Doch schauen Sie mal genau, was sich in den Kisten befand. Jede Menge Waffen und Munition. Das war eine Lieferung an das Militär. Jetzt ist nur fraglich, wer dafür gesorgt hat, dass diese sich hier vor das Parlamentsgebäude verirrte und aus welchen Gründen. Na mein guter Lestrade, schon irgendwelche Vermutungen, welche uns auf eine heiße Spur führen? Enttäuschen Sie mich jetzt bloß nicht!“, forderte Sherlock Lestrade dazu auf, selbst seine grauen Zellen anzustrengen und sah ihn mit einem herausfordernden Blick an.

„Hach… Ist es denn wirklich nötig, mich immer wieder auf die Probe zu stellen und müssen Sie dabei stets Ihre unnötigen Spielchen mit mir treiben…? Nur weil Sie sich dadurch herrlich daran ergötzen können, Ihre Überlegenheit in Sachen Schlussfolgern unter Beweis zu stellen… Langsam wird es nervtötend langweilig, ständig dieselbe Leier über mich ergehen zu lassen. Sie brauchen mich jetzt gar nicht so amüsiert anzusehen, Holmes! Ja, ich habe heute einen schlechten Tag. Auch meine Wenigkeit hat einen Vorgesetzten bei Scotland Yard, der mir die Hölle heiß macht, wenn ich nicht vernünftig meiner Arbeit nachgehe. Wie dem auch sei… Sie wollten von mir wissen, wer für diesen Akt der Unruhestiftung, der beinahe schon auf einen vorwarnenden Anschlag auf das Parlament hindeutet, verantwortlich sein könnte. Es gibt immer wieder in der Stadt Aufstandsmacher, die meinen sich gegen die ungerechte Politik aufzulehnen. Sie alle treffen sich an einem Ort. Und zwar dem Knast. Wenn uns der gütige Doktor Watson, mehr über die Identität des verstorbenen Mannes verraten kann, welcher lediglich als Lockvogel diente, erhalten wir sicher weitere Hinweise. Aber möglicherweise ist dies auch ein erneutes Lebenszeichen des Meisterverbrechers, um uns mitzuteilen, dass sein nächstes Opfer ein Mitglied des Parlaments ist. Na, was halten Sie von meiner Vermutung? Die ist doch klasse, loben Sie mich doch wenigstens einmal dafür, he, he!“ antwortete Lestrade prahlend und schien von seiner Aussage sehr überzeugt zu sein. Sherlock erhob sich, seufzte gelengweilt und zündete sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an.

„Leider falsch geraten, Inspektor. Knapp daneben ist auch vorbei. Und beleidigen Sie bitte nicht, die ach so `edlen Taten` des Herrn Meisterverbrechers. Glauben Sie wirklich, er würde sich auf solch stümperhafte Weise ankündigen? Es ist zwar auch etwas untypisch für `ihn`, so aggressiv an die Öffentlichkeit vorzupreschen, dennoch tippe ich auf jenen Meisterdieb und Entführer. Sie wissen wen ich damit meine. Herrjemine, das wird ja alles immer verzwickter mit diesen werten Herrschaften. Ziehen Sie sich warm an Inspektor, uns steht ein stürmischer Sommer bevor… John, wie siehts aus, hast du ein paar neue Infos für uns, um Lestrade zu überzeugen?“, wendete Sherlock sich mit unbeeindruckter Miene an seinen Kameraden.

„Moment mal?! Sprechen Sie da etwa von…? Herr Gott noch mal, wer von beiden ist denn jetzt der gefährlichere Verbrecher?“, blaffte Lestrade verdrießlich. John lief mit trübem Blick zu ihnen herüber und ließ sich nicht von dem bestürzten Tumult, der neugierigen Menschenmenge um in herum aus der Ruhe bringen, bei der die Polizei alle Mühe hatte sie zurückzudrängen.

„Nun… Der Mann hat etliche relativ frische Schürfwunden an Armen und Beinen, die nicht

von der Explosion stammen. Für mich sieht es so danach aus, als hätte man ihn gefoltert und zu dieser Tat gezwungen oder er war in einen schweren Kampf verwickelt. Doch das es sich bei dem Mann ebenfalls um einen schmutzigen Langfinger handelt, kann ein jeder mit bloßem Auge erkennen. Dafür braucht es keine weitreichenderen Analysen. Tja, viel mehr kann ich zu diesem Vorfall auch nicht sagen. Es gab keine weiteren Opfer, sobald hier aufgeräumt wurde, ist die Sache schnell wieder vergessen“, teilte John ihnen mit, der von gemischten Gefühlen geplagt wurde.

„Genau John, darin liegt der Knackpunkt… Es wurden mit Absicht keine weiteren Menschen verletzt. Das soll eine Botschaft an eine ganz bestimmte Person darstellen…“, murmelte Sherlock gedankenversunken vor sich hin.

„Der Mut mancher Tölpel ist doch immer wieder erstaunlich, die sich wagen am helllichten Tag, einen solch amateurhaften Tumult zu veranstalten. Und dann auch noch vor einem der bedeutendsten Gebäuden von ganz London. Wenn das hier nicht meine in Auftrag gegebene Bestellung an das Militär gewesen ist… Eine Schande für die aufwendig hergestellten Waffen. Jedoch lässt sich ein kleiner Verlust mit links wieder ausgleichen. Oder was meinen Sie, Mr Holmes?“ Mit musterndem Blick sah Sherlock zu dem herbeischreitenden Harley und beobachtete ihn aufmerksam, wie dieser sich bückte und eine der beschädigten Waffen in die Hand nahm. Kurz darauf trafen sich ihre Blicke, wobei Sherlock unzählig viele Gedankengänge zur selben Zeit durch den Kopf schossen.

„H-herr Premierminister! Bitte bleiben Sie von hier fern! Wir können noch nicht mit Sicherheit abwägen, ob die Gefahr gebannt ist. Eventuell befindet sich noch explosives Material in der Nähe“, warnte ein herbeigerannter Polizist, der sich sichtlich unbehaglich dabei fühlte, Harley direkt anzusprechen. Dieser verfiel daraufhin in schallendes Gelächter und sah den Polizisten, der seine Warnung nur gut gemeint hatte, mit einem missbilligenden Blick an, der nur so vor Überheblichkeit und Verachtung strotzte.

„Du willst mich gestandenen Soldaten, mit diesem unbeholfenen Auftreten, vor einer vermeintlichen Bedrohung warnen? Rührend mein werter Hüter des Gesetzes. Wo waren wir stehen geblieben, Mr Holmes? Interessieren Sie sich für Waffen dieser Art? Sie blicken ja wie gebannt darauf. Hatten Sie etwa schon einmal das einmalige Glück, ein solches Unikat in Händen zu halten?“, wandte Harley sich wieder unbekümmert Sherlock zu, während der Polizist eingeschüchtert zur Seite trat.

„Das hatte ich in der Tat… Ich will Sie ja wirklich nicht bevormunden, aber die Explosion hier an Ort und Stelle, sollten Sie nicht so einfach auf die leichte Schulter nehmen. Es lauern Gegner in den Schatten, die finden gezielt bei Ihnen Schwachpunkte, auch wenn Sie selbst davon überzeugt sind, jene perfekt zu verbergen…“, warnte Sherlock kühl, völlig unbeeindruckt von der Wichtigkeit seiner Persönlichkeit. Harley grinste nur still vor sich hin und richtete die beschädigte Waffe auf ihn. John riss entsetzt bei der Szene die Augen weit auf, während Lestrade entnervt seufzte, da bei der Lösung des Falls so viel Zeit vergeudet wurde.

„`Ich fürchte keinen Gegner, der sich wie ein Feigling hinter meinem Rücken versteckt und hervorgesprungen kommt, wenn die Beute unachtsam ist. Die Kunst des wahren Räubers besteht darin, seine Feinde mittels ihrer eigenen Waffen zu schlagen und hervorzulocken. Und wenn alle Gegner besiegt am Boden liegen, hat man den höchsten Gipfel der Macht erreicht.`Würde das jetzt nicht Ihr Bruder sagen, huh?“, sprach Harley mit bannbrechendem Selbstbewusstsein.

„Das sind eher die Worte eines Machthabers, der seine Ziele auf unfairem Wege erreicht. Ich mische mich nicht in den kalten Krieg ein, welchen Sie mit Mycroft führen. Jeder hat hier seinen eigenen Platz in der Stadt. Dies gilt auch für meine Wenigkeit. Meinen Lebenssinn habe ich dem Aufdecken, scheinbar unlösbarer Verbrechen verschrieben. Es existiert kein perfektes Verbrechen. Nur unfähige Detektive gibt es. Ich werde ausnahmslos jeden Verbrecher drankriegen, egal ob es sich bei diesem um einen Geisteskranken oder ein Genie handelt“, verkündete Sherlock eisern und richtete mit einem kaltblütigen Blick, seine eigene Pistole auf ihn. Jeder der stehengebliebenen Passanten und alle Polizisten, hielten schockiert den Atem an. Harley kniff unerschrocken die Augen zusammen und grinste schelmisch.

„Sie besitzen ordentlich Mumm in den Knochen, Ihre Waffe in aller Öffentlichkeit auf den Premierminister zu richten, Herr Meisterdetektiv. Das wird ein paar interessante Schlagzeilen geben, die zur Abwechslung einmal lesenswert sind.“ Nach Harleys sarkastischen Worten, wandte Sherlock sich abrupt vom Ort der Explosion ab, nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, welche er auf den Boden warf und trat sie anschließend aus. Kurz darauf lief er mit einer unbeteiligten Körperhaltung davon. Ganz zum Ärgernis von Lestrade, der ihm zähneknirschend nachblickte, aber sich jegliche Mühe ersparte, ihn zurückzuhalten.

„Sherlock! Dein Verhalten ist mal wieder über die Maße unhöflich! Und den Fall haben wir jetzt auch noch nicht wirklich gelöst“, rief John empört und schämte sich in Gegenwart von Harley, in Grund und Boden für seinen Freund. Dennoch blieb ihm nichts anderes übrig, als ihm nachzueilen und warf noch rasch entschuldigende Blicke zu Harley und Lestrade.
 

Es war eine finstere Nacht. Eine dichte Wolkenfront, bedeckte den mit funkelnden Sternen bestückten Himmel. Die nächtliche kühle Brise wehte Miceyla unangenehm ins Gesicht, während sie gemeinsam mit William, das letzte Stück zum Anwesen von Scott Widley zu Fuß zurücklegten. In ihre schwarzen Mäntel gehüllt, verschmolzen beide mit der Dunkelheit der Nacht und glichen zwei geräuschlosen Schatten.

„Wir haben Glück, dass sich seine Residenz weit von den benachbarten Grundstücken befindet und damit am südlichsten Rand von Westminster. Du wirst sehen, deine gesamte Anspannung wird sich in Luft auflösen, sobald wir sein Anwesen betreten. Umso näher die Gefahr, desto stärker wird dein Mut. Vertraue auf diesen unablässigen Schutzmechanismus, den nicht viele Menschen besitzen. Zudem werde ich stets in deiner Nähe sein“, beruhigte William sie mit sanfter Stimme und umschloss dabei zärtlich ihre Hand mit der seinen.

„Ich weiß… Vertrauen wird für mich immer überlebenswichtiger. Doch ich kann nicht verhindern, dass die Furcht vor der Ernsthaftigkeit unserer Aufträge, mir durch Mark und Bein geht… Auch wenn es dir natürlich bewusst ist, mag ich uns beide noch mal daran erinnern uns vorzusehen. Scott ist die vertrauteste Person von Harley. Mit ihm ist sicherlich nicht gut Kirschen essen. Und eine Sache beschäftigt mich… Wenn Albert beim Militär so häufig mit Harley konfrontiert wird, in welcher Beziehung steht er dann zum Kriegsministerium? Als Premierminister hat er doch genug andere Verpflichtungen zu erfüllen, anstatt sich mit dem Werdegang der Soldaten auseinanderzusetzen. Dies sollte die Aufgabe von… Sag mir nicht das er…?!“, hakte Miceyla neugierig nach und hielt inne, als sie selbst allerhand mögliche Antworten auf ihre Frage durchging.

„Doch meine Liebe, deine unausgesprochene Vermutung entspricht der Wahrheit. Harley ist ein General und steht momentan an der höchsten Spitze beim Militär. Zudem gilt er in England als der beste Fechter. Einzig die Königin ist ihm noch höhergestellt. Und das gibt mir zu denken…“, bestätigte William und kniff kurz die Augen argwöhnisch zusammen, als blickte er einem unheilvollen Ereignis entgegen.

„Du meine Güte… Und derart wichtige Informationen verschweigt man mir einfach. Meine Unwissenheit wird mir noch einmal zum Verhängnis, wenn ich nicht ständig alles hinterfrage…“, meinte sie und schaute beleidigt zu Boden. William neben ihr konnte sich nicht zurückhalten und lachte, wobei er sie allerdings entschuldigend anblickte.

„Ich verschwieg es dir, um diesen vorzüglichen Gesichtsausdruck sehen zu können, ha, ha! Vergib mir, doch ich hatte vermutet, dass Clayton dich über Harleys Kariere aufgeklärt hat. Da siehst du mal, wie rasch es zu Missverständnissen kommt, wenn nicht alles zur rechten Zeit kommuniziert wird.“ Ein belustigtes Lächeln vertrieb ihre düstere Miene und sie genoss die letzten ruhigen Augenblicke, in denen sie mit ihm Hand in Hand zu ihrem Auftragsort laufen konnte.

„Auch du kannst nicht hellsehen, das beruhigt mich dann doch ein klein wenig. Denn sonst würde dir so manch eine aufregende Überraschung im Leben entgehen. Dann lass uns gleich mal dem werten Scott präsentieren, was das Zusammenspiel der Moriartys alles zu bieten hat“, sprach Miceyla enthusiastisch und bereitete sich seelisch und moralisch auf das im Ungewissen liegende Abenteuer vor. William wurde schweigsamer und begann auch sein Tempo zu drosseln, was ihr sogleich verriet, dass sie sich ihrem Zielort näherten. Und tatsächlich kam ein eindrucksvolles Anwesen zum Vorschein, bei dem hinter einigen der Fenster Licht brannte. Sie stellte sich vor, wie prachtvoll der großflächige Vorgarten bei Tag aussehen musste.

„Wir werden die Stelle auf der linken Seite des Zaunes nutzen, um hinüberzuklettern. Genau wie es uns Fred beschrieben hat. Und da wir dank seiner Hilfe, einen passenden Schlüssel haben anfertigen können, gelangen wir an der hinteren Gartentür hinein. Dann schleichen wir uns so unbemerkt wie nur möglich in sein Archiv. Auch wenn wir erreicht haben, dass sich zurzeit kaum Personal hier aufhält, werden wir dennoch auf manch einen seiner hartnäckigen Mitstreiter stoßen. Sollte sich eine direkte Konfrontation nicht vermeiden lassen, sind wir gezwungen diese auszuschalten. Darum kümmere ich mich, sei ganz beruhigt. Ich brauche dir sicher nicht zu sagen, dass es sich dabei um keine gewöhnlichen Bediensteten handelt. Wie es danach weitergeht, hängt von Scott ab… Bereit, mein Liebling?“, erläuterte William kurz und bündig noch einmal ihre Vorgehensweise. Sein gütiger Blick ruhte unterdessen auf ihr und seine Gelassenheit übertrug sich auf sie.

„Ich bin bereit, zu allem. Selbst in die abgrundtiefste Finsternis würde ich dir folgen, da ich weiß, dass das wärmende Licht der Liebe und Hoffnung uns immer wieder hindurchführen wird“, bestätigte sie nickend. `Bleibe niemals stehen und blicke nicht zurück. Schreite stets voran. Das Glück und die Träume liegen vor uns und lassen sich nicht im Verlorenem finden. Kämpfen wir, mein Liebster. Nach jeder Schlacht und jedem Krieg kehrt der Frieden zurück. Denn die Menschen sind auf ganz natürliche Weise dazu gezwungen, sich den Gesetzen der Natur zu beigen…`, dachte sie noch unbeirrt, um den Mut und ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Nach einer recht glimpflich verlaufenen Kletterpartie, huschten die zwei durch den Garten in den hinteren Bereich, wo William ohne zu zögern die Tür zur Höhle des Löwen aufschloss. Miceyla ließ ihn vorangehen und ihre Nervosität wich der Bewunderung für sein selbstsicheres Voranschreiten, als fühlte er sich in dem fremden Anwesen heimisch. Sie eilten eine Treppe zum zweiten Stockwerk empor, wobei William seine im Gehstock versteckte Klinge bereithielt und sie einen von Herders geräuschdämpfenden Revolver mit der rechten Hand umklammerte.

„Auf diesem Flur muss sich hinter einer der Türen das Archiv befinden, nach dem wir suchen. Hier werden in einigen Räumen wichtige Dokumente der Regierung gelagert, daher ist es unabdingbar, unsere Suche taktvoll und systematisch anzugehen“, flüsterte William geruhsam und prüfte beim durchlaufen des breiten Flurs jede einzelne Tür. An einer leicht geöffneten Tür blieb er stehen und lugte vorsichtig hinein.

„Ich werde mich dort drinnen kurz umsehen. Warte du bitte derweil hier draußen und bleibe wachsam“, bat er lächelnd und verschwand im Innern des dunklen Raumes.

„Ist gut, ich warte solange“, sagte Miceyla nickend und sogleich überwältigte sie das unbehagliche Gefühl, für einen Augenblick allein sein zu müssen und vernahm in dem wie ausgestorben wirkenden Anwesen, nur das Pochen ihres hektisch schlagenden Herzens. Der lange Flur war zwar schwach beleuchtet, jedoch blickte man zu beiden Seiten in das unergründlich schwarze Nichts, was dem für sie unbekannten Terrain, ein noch gruseligeres Ambiente verlieh. Sie lehnte sich neben der geöffneten Tür gegen die Wand und behielt ihr Umfeld im Auge. Es blieb still, während eine Minute nach der nächsten verstrich. Aber für ihren Geschmack war es zu ruhig. Miceyla ließ das unangenehme Gefühl nicht los, dass man sie beide hier erwartete, obwohl von ihrem geheimen Eindringen theoretisch niemand wissen konnte. Um sich zu beruhigen, beobachtete sie die ebenso schweigsam brennenden Kerzen des Kronleuchters über ihr. Sie zuckte verschreckt zusammen, als die Flammen der Kerzen plötzlich hektisch hin und her zu flackern begannen, obwohl es absolut windstill war, da alle Fenster geschlossen sein mussten. `Ich habe nicht mal den Hauch eines Luftzugs verspürt. Wie kann das also sein…? Spukt es hier schon wieder, wie damals in dem Schloss? Mir wäre wesentlich wohler zumute, wenn es sich auch hier um jenes Gespenst handeln würde, was natürlich unmöglich sein kann, ha, ha… Besser ich sehe mal nach Will…`, dachte sie und als sie dann doch von der Angst übermannt wurde, wollte sie sich lieber zu William in Sicherheit flüchten. Jedoch machte sie dadurch den fatalen Fehler und wandte kurz ihrer düsteren Umgebung des Flurs den Rücken zu… Es war nur eine kleine und flüchtige Bewegung von ihr, doch diese reichte aus um sie völlig ungeschützt und unaufmerksam darzubieten. In dem Moment als sie einen Schritt in Richtung der Tür zu machen versuchte, packte sie eine kräftige Hand von hinten energisch am Arm, während sich eine zweite Hand unsanft auf ihren Mund presste, sodass ihr die Chance verwehrt blieb losschreien zu können. Miceyla wehrte sich mit aller Kraft und bemühte sich vergeblich, aus dem unnachgiebigen Griff der unbekannten Person zu entfliehen. Sie konnte nicht verhindern, dass man ihr den Revolver abnahm und sie aggressiv mit sich riss. Trotz ihrer unbändigen Angst gab sie ein wenig nach und gab vorerst jegliche Fluchtversuche auf, da der unnötige Kraftaufwand sie nur erschöpfen und eventuell sogar verletzen würde. Der böswillige Mann schleppte sie ein Stück weit entfernt in einen Raum und verschloss die Tür. Er löste zwar die Hand von ihrem Mund, doch stattdessen hielt er ihr ein scharfes Messer direkt an den Hals.

„Ein Mucks von dir und ich schlitz dir die Kehle auf!“, zischte der Mann vorwarnend. Miceyla konzentrierte sich darauf seine Drohung auszublenden und sich trotz seines kräftigen Griffes zu entspannen und den Körper zu lockern. Dabei gelang es ihr sogar ganz gleichmäßig zu atmen und sie erinnerte sich an das, was Moran ihr beigebracht hatte. `Ich war schon mal in einer ganz ähnlichen Situation. Daher schaffe ich es auch dieses Mal, obwohl ich auf mich allein gestellt bin! Zeit die Theorie in der Praxis anzuwenden und den ganzen verdorbenen Männern zu beweisen, dass ich kein kleines wehrloses Mädchen bin!`, fasste sie in Gedanken neuen Mut und war zu allem bereit. Der Mann benutzte konstant dieselbe Kraft seines Griffes, ohne sie verstärken zu müssen, da sie sich nicht mehr wehrte. Miceyla nutzte dies aus und biss ihm ganz unangekündigt, so fest wie sie nur konnte in sein Handgelenk. Dies hatte zur Folge, dass er aufgrund des überraschenden Schmerzes, das Messer aus der Hand fallen ließ und seinen Griff lockerte. Dadurch gelang es ihr beinahe mühelos, sich von ihm loszureißen und einen großzügigen Sicherheitsabstand zu gewinnen.

„Du elendes Miststück! Das wird dir noch leidtun!“, schimpfte der unberechenbare Mann und funkelte sie dabei verärgert an. Nun hatte Miceyla freie Sicht auf seine gesamte Statur und konnte ihn trotz des dämmrigen Lichts einmal ganz genau betrachten. Er besaß einen stämmigen Körperbau und ungewöhnlich breite Schultern. Seine in Falten gelegte Stirn, ließ ihn älter wirken als er eigentlich war und er trug die ganz gewöhnliche Kleidung, eines in einem Adelshaus angestellten Bediensteten. Doch sie konnte ganz klar erkennen, dass zu seinem Aufgabengebiet nicht nur das Servieren von Tee und Bettenmachen gehörte…

„Ein wahrlich taktvoller Zug, mich von meinem Kameraden zu trennen. Widley scheint ja große Freude daran zu finden, Henker wie Sie einzustellen. Es war ein fataler Fehler, sich uns in den Weg zu stellen. Bevor Sie weitere böswillige Absichten verfolgen können, beende ich es lieber. Verabschieden Sie sich von dem Leben eines Sünders!“, drohte Miceyla mit unangefochtener Überzeugungskraft und holte unbeirrt einen zweiten Revolver unter ihrem langen Umhang hervor. Hemmungslos richtete sie die entsicherte Waffe auf ihn und legte abschussbereit einen Finger auf den Abzug. Nach außen hin ließ Miceyla sich kein Zaudern anmerken, doch innerlich wurde sie von einer Welle der Gewissensbisse durchflutet. Allein der Anblick von der Schusswaffe in ihrer Hand, welche einen in sekundenschnelle den Tod bescheren konnte, lähmte sie. Ich kann mich nicht immer nur auf Will verlassen. Und ich muss mich stets dazu ermahnen, dass wenn ich in der gnadenlosen Welt der Verbrecher überleben will, mich früher oder später an das Töten gewöhnen muss…, erinnerte sie sich hartnäckig an jene bittere Realität. Zu ihrem Erstaunen machte der Mann sich nicht über ihre Drohung lustig und zuckte sogar für den Bruchteil einer Sekunde etwas aufgeschreckt. Scheinbar wirkte sie sehr authentisch. Er bemühte sich nicht darum, nach seinem am Boden liegenden Messer zu greifen und lächelte sie stattdessen herausfordernd an.

„Nur zu, ich kann mir weitaus Schlimmeres vorstellen, als von einem solch furchtlosen Fräulein ins Jenseits befördert zu werden. Doch bevor du abdrückst, wärst du da noch so freundlich und verrätst mir deinen Namen? Denn durch die Hand einer namenlosen Schönheit, mag ich nun auch wieder nicht sterben…“, forderte er mit einem verschwiegenen Funkeln in seinen dunklen Augen, aus denen sie ablesen konnte, dass sie an den Anblick des Todes gewöhnt waren.

„Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, werde ich Ihnen diesen letzten Wunsch erfüllen. Miceyla Moriarty lautet er. Ein Name, der für Veränderung und Zerstörung gleichermaßen steht. Am Ende…wird uns alle dasselbe Schicksal ereilen…“, verriet sie mit leichter Verbitterung in der Stimme und machte Andeutungen, dass sie dazu bereit war jeden Moment

abzudrücken. Sein zufriedenes Grinsen irritierte Miceyla und fand sie äußerst respektlos, als schienen ihre Worte alles gewesen zu sein, was er noch hören wollte. Schweißperlen liefen ihr langsam den Rücken hinunter. Es war unmöglich für sie, noch länger Zeit zu schinden. Nun musste die von jetzt auf gleich eine Wahl treffen…

„Es ist genau wie sie gesagt hat… Und als kleines Abschiedsgeschenk, wird der Meisterverbrecher höchstpersönlich dir einen ewigen Schlaf bescheren…“ Miceyla war mindestens genauso verdutzt wie ihr Widersacher, als plötzlich William wie ein mysteriöser Schatten, welchen das Unheil und die Erlösung zugleich umgab, in dem eigentlich verschlossenen Raum hinter dem Mann auftauchte. Diesem stand das pure Entsetzen ins Gesicht geschrieben und er bekam nicht mal die Chance sich nach seinem neuen Gegner umzudrehen, da William ihm mit einem schwungvollen Hieb seiner Klinge die Kehle aufschlitzte, wie er es bei Miceyla vorgehabt hatte. Sie vermied instinktiv den Anblick der brutalen Szene mitansehen zu müssen, als der unbekannte Mann einen raschen Tod starb und wie ein großer schwerer Sack regungslos zu Boden sackte, wobei das viele Blut welches aus seinem Hals strömte, sich rings um ihn über den Teppichboden ergoss. Der Schreck war somit beendet und die Wahl einer unumkehrbaren Entscheidung wurde ihr abgenommen.

„Meine Liebe, ich sagte doch, dass ich mich um die unangenehmen Dinge kümmere. Bitte quäle dich nicht unnötig. Wir wissen alle wie tapfer du sein kannst, sonst würde ich dich gar nicht mit zu gefährlichen Missionen nehmen. Du musst niemandem etwas beweisen. Und so ganz nebenbei, hat man uns hier sehr warmherzig in Empfang genommen… Ich werde von nun an nicht mehr von deiner Seite weichen, wie ich es dir im Voraus versprochen hatte. Ach, deinen fallengelassenen Revolver habe ich auch aufgehoben“, beschwichtigte William sie, der nach seiner Tötungsaktion, keinerlei Veränderung seines ruhigen Gemüts zeigte. Miceyla sackte frustriert zu Boden, ließ ihre Schusswaffe los und konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. So elend fühlte sie sich mal wieder, als hätte sie eine wichtige Schlacht verloren.

„Miceyla…“, hauchte er leise und blickte sie mit trüben Augen an. Sie begriff nicht ganz weshalb William so sehr darauf bestand, dass sie ausschließlich Schusswaffen bei sich tragen sollte, wo sie diese doch so sehr verabscheute und es sie eine gewaltige Überwindung kostete abzudrücken. Weshalb durfte sie nicht wie er einen Degen oder eine ähnliche Stichwaffe bei sich tragen, mit der sie sich viel wohler fühlen würde? Welchen Nutzen hatte den sonst, das ganze intensive Fechttraining? Oder lag es daran, dass ihr das Töten mit solch einer Waffe leichter fallen würde und er sie somit davor bewahren wollte? Ihre Überlegungen waren völlig überflüssig. Es spielte keine Rolle, mit welcher Waffe man einen Menschen tötete. Die Schuldgefühle und der Mord an sich, blieben stets ein und dasselbe. Und sie fragte sich, ob Sherlock ebenso unbeirrt wie William voranschreiten könnte, wenn er ein Leben auf dem Gewissen hätte. Aber vielleicht hatte er das bereits und sie wusste nur nichts davon. Schließlich war es selbst für sie oftmals eine Herausforderung, seine Verschlossenheit zu durchbrechen. Und dennoch bewunderte Miceyla die tugendhafte Unerschrockenheit, welche William beim niederstrecken seiner Feinde zeigte. Wie ein stolzer Krieger, der den Mut besaß, es alleine mit einer ganzen Armee aufzunehmen und sich ungeachtet dessen, immer blind auf seine Verbündeten verließ. Und trotzdem verspürte sie weiterhin dabei das prickelnde Gefühl der Ehrfurcht, was sich aber in keiner Weise negativ für sie anfühlte. Denn im Stillen wünschte sie sich, eines Tages genauso stark wie er zu sein und ihre Emotionen ebenso perfekt unter Kontrolle zu haben. Sie musste sich sputen, wenn sie dieses Ziel erreichen wollte. Denn niemand wusste, wie viel Zeit ihr noch dafür blieb… Aufgrund der Tränen sah Miceyla verschwommen, wie William sich neben sie auf den Boden kniete und sie sanft an sich drückte.

„Mein Liebling, unterdrücke deine Tränen nicht. Sie geben deinen Augen ein noch schöneres Funkeln. Wenn wir nicht bereit sind zu töten, können wir die Grausamkeit auf dieser Welt niemals durchbrechen. Du bist bereits sehr stark und niemandem ein Klotz am Bein, nur weil du zögerst. Bedenke auch das es einen bedeutsamen Unterschied macht, ob du töten musst um einen geliebten Menschen zu beschützen oder um dein eigenes Leben zu retten. Diesen wirst du noch früh genug in der Realität erfahren. Lass den Kopf nicht hängen und geh nicht so hart mit dir selbst ins Gericht. Habe Geduld, nichts muss erzwungen werden, sonst wird alles nur noch wesentlich unangenehmer. Aber nun zurück zu unserer Mission. Ich bin in einem seiner Archive fündig geworden. Du hast hier auch noch etwas zu erledigen, nicht wahr? Wir freuen uns sehr darüber, dieses besondere Anliegen deiner Verantwortung zu überlassen. Daher sollten wir uns der Sache direkt annehmen, ehe wir Scott begrüßen gehen. Doch wie du bereits auf unsanfte Weise bemerken musstest, hat man unser Eindringen anscheinend vorausgesehen, was ich recht interessant finde. Ich vermute allerdings, dass der werte Herr hier die einzige arrangierte Person war, welche uns in die Quere kam. Das alles wirkt sehr verdächtig. Dennoch lässt sich dies gleichzeitig von uns zu einer unterhaltsamen Vorstellung umwandeln. Daher nur Mut, meine Liebe“, tröstete William Miceyla liebevoll, wobei sie beinahe schon ein schlechtes Gewissen bekam, bei dem endlosen Verständnis und der Geduld, welche er ihr entgegenbrachte. Und trotzdem schenkte sie ihm ein Lächeln der aufrichtigen Entschlossenheit, was verriet, dass sie sich niemals so leicht unterkriegen ließe.

„Du hast vollkommen recht. Weiter geht’s! Dann begeben wir uns mal auf die Suche nach der verschollenen Erburkunde. Nur… Was hast du mit diesem Mann vor, willst du seine Leiche hier einfach so zurücklassen? Ein wenig auffällig ist es schon, auch wenn wir keine Spuren hinterlassen, die auf uns zurückzuführen sind. Oder schwebt dir etwa vor, dass gesamte Anwesen in Brand zu setzen, sobald wir hier fertig sind?“, erkundigte Miceyla sich besorgt, mit Blick auf den am Boden liegenden Mann, wobei es sie sofort fröstelte.

„Aber nein, ein solch dramatisches Ende habe ich dieses Mal nicht geplant. An Punkten wo die Auffälligkeit mit der Unauffälligkeit einhergeht, bleibt die Wahrheit oft auf ewig im Verborgenen… Nun komm meine Liebe, du musstest diesen grausigen Anblick lange genug ertragen. Doch solltest du deswegen Alpträume haben, so werde ich dich die ganze Nacht fest in Armen halten“, versprach William einfühlsam, erhob sich gemeinsam mit ihr und nahm ihre Hand, woraufhin er zügig mit ihr den Raum verließ.

„Wir haben noch jede Menge Zeit, also nehmen wir uns direkt das größte Archiv des Hauses vor.“ Mit diesen gelassenen Worten, führte er sie in einen großen Saal, bei dem die Decke sich leicht nach außen wölbte. William entflammte einige der an den Wänden befestigten Kerzen und Miceyla war sogleich überwältigt von den unzähligen, prall gefüllten Regalen. Und ihr erster Gedanke war, dass sich die Suche nach einer einzelnen Erburkunde, als ungemein schwierig gestalten würde. Vergleichbar mit der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

„Na, haut es dich um? Hier werden Dokumente gelagert, bei denen man uns sofort besteinigen würde, sollten wir auch nur mal kurz einen Blick darauf werfen. Das Scott ein derart verantwortungsvolles Amt bekleidet, kommt nicht von ungefähr. Er ist ein Viscount und gehört ebenfalls dem Adel an. Doch wo wirst du nun dein Objekt der Begierde finden? Es

ist weitaus simpler, als es der erste Blick vermuten lässt“, fragte er sie erprobend und lehnte

sich lächelnd mit ineinander verschränkten Armen, gegen eines der Regale. Miceyla durchforstete konzentriert mit ihren scharfen Augen den gesamten Raum und dachte angestrengt nach. William würde sicherlich in Windeseile die richtige Erburkunde finden, daher wollte sie sich nicht blamieren.

„Also… Die meisten Ordner sind zwar nach Jahren geordnet und die älteren Dokumente befinden sich weiter hinten als die aktuelleren, da sie kaum noch einen sinnvollen Gebrauch haben. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass Scott ein ganz eigentümliches Ordnungssystem entwickelt hat, bei dem nur er den Überblick behält. Deshalb fände ich es schlau die Daten zu ignorieren und eher in der Kategorie `Aussortiertes` nachzuschauen, wo ganz `versehentlich` ein wichtiges Dokument dazwischen gerutscht ist, von dem niemand mehr etwas wissen darf“, stellte Miceyla ihre eigene logische Theorie auf und stöberte bereits in den ersten Ordnern.

„Dein Denkansatz geht auf jeden Fall schon einmal in die richtige Richtung. Da wir zu zweit sind, erleichtert das die Suche noch mal zusätzlich. Ich gebe dir auch ein paar hilfreiche Tipps, wie du originale Dokumente von gefälschten unterscheidest.“ Und somit waren beide mit dem Aufstöbern der Erburkunde beschäftigt, wobei Miceyla sich nicht wirklich darauf konzentrieren konnte, was sie selbst ärgerte. `Na komm schon! Fokussiere dich auf deine Aufgabe. Alle weiteren Ereignisse sind noch nicht einsehbar. Doch ich frage mich, welches Dokument William wohl entwendet hat… Was auch immer es sein mag, nützlich wird es für uns garantiert sein. Dennoch spielen wir mit dem Feuer und katapultieren uns geradewegs in das Netz der Regierung…` Während ihre Gedanken immer konfuser wurden, ertappte sie sich dabei wie sie William verträumt beobachtete, anstatt ihrer eigenen Suche nachzugehen. Er spürte sogleich ihren brennenden Blick auf sich ruhen und seine feurig roten Augen wanderten ohne Umschweife zu ihr, während er am gegenüberliegenden Regal stand.

„Da sind sie schon wieder, die sich sorgenden Zweifel in den schönsten Augen, welche ich jemals gesehen habe… Immer öfter habe ich den Eindruck, dass du für uns alle mitleidest. Sage mir meine Liebste, verspürst du Reue? Bereust du es, eine Moriarty geworden zu sein? Oder etwa…mich geheiratet zu haben…?“, sprach William mit einer plötzlich solch tristen und kühlen Stimme, dass Miceyla meinte den Boden unter ihren Füßen zu verlieren. Langsam lief er auf sie zu, wobei er ohne Unterbrechung mit ihr Blickkontakt hielt.

„W-wie kommst du auf einmal auf so etwas? Du kennst mich und meine Persönlichkeit besser als jeder andere und weißt, dass wenn ich einmal eine Entscheidung getroffen habe, diese endgültig ist. Ich werde dich auf ewig lieben, egal wie viel ich leiden muss. Auch du wirst dir wohl im Geheimen wünschen, dass ich meinen Weg in ein normales Leben zurückfinde und ich somit vor einem unglücklichen Ende bewahrt werde. Aber das wird niemals passieren, gleichgültig was du sagst oder tust. Unsere Pfade werden uns immer wieder zueinander führen. Dies ist auch dein eigener Wille. Widersetze dich ihm nicht so hartnäckig. Ich mag es ebenso wenig, dich leiden zu sehen…“, sagte sie gefühlvoll und versuchte das Zittern in ihrer Stimme so gut es nur ging zu unterdrücken. Es war für sie klar, dass es keinen Platz für Reue geben durfte. Sonst würde alles was sie sich beide erschaffen hatten, in sich zusammenbrechen. Nur das einzige was sie jemals bereuen würde war, Sherlock anlügen zu müssen. Es schien wohl alles darauf hinauszulaufen, dass sie sich zwischen Liebe und Freundschaft entscheiden musste. Bisher wusste sie genau, was am Ende stärker sein würde…

„Ich hege keine Zweifel gegenüber deinem Willen und deiner Entschlossenheit. Hin und wieder kommt mir nur mal in den Sinn, dass du in den Armen unseres Bruders glücklicher wärst als bei mir… Du magst es Schicksal nennen, dass wir nun einen gemeinsamen Lebensweg teilen. Jedoch habe ich dir gleichzeitig damit eine Wahl aufgezwungen. Ich schenkte dir eine neue freie Zukunft, von der letztendlich nur Träume und Erinnerungen übrig bleiben werden… Du magst es nicht hören, doch deine aufrichtige Liebe verdiene ich kaum. Dies hindert mich aber nicht daran, dass ich dir jeden Tag aufs Neue sagen werde, dass ich dich bedingungslos liebe und mir niemand anderen an meiner Seite wünsche. In meinem Herzen ist ausschließlich Platz für dich, meine geliebte Winterrose…“, sprach William Worte der Ehrlichkeit und schmiegte seine Wange seitlich gegen ihren Kopf. Miceyla schloss die Augen und umklammerte ihn zärtlich mit den Armen.

„Unsere Herzen…sie kämpfen… Sie liefern sich ein Gefecht und wandern zwischen Gefühl und Vernunft hin und her. Sie weigern sich der Beständigkeit nachzugeben. Doch weißt du was der wahre Wunsch unserer blutenden Herzen ist? Leben… Sie wünschen sich zu leben, mein lieber Will. In einer unzertrennlichen Verbundenheit, ohne Trauer und Verluste, auf ewig… Verblendet eifern unsere Herzen diesem unwirklich erscheinenden Traum nach. Aber zum Trost dürfen sie jeden einzelnen Moment in Zweisamkeit genießen und wertschätzen. Auch wenn es uns nicht möglich ist, jene wertvollen Momente festzuhalten, so werden daraus dennoch einzigartige Erinnerungen, die nur für uns beide bestimmt sind. Du verdienst all meine Liebe und noch unendlich viel mehr. Mein Herz hat dich gewählt und sonst niemanden. Keine manipulierende Wahl hätte daran etwas ändern können, oder wird es jemals. Lassen wir uns nicht von dem tobenden Sturm beirren, der uns umgibt und unaufhörlich heimsucht. Auch du ringst darum, eine schwere Entscheidung treffen zu müssen. Vor mir kannst du nichts verbergen, mein Liebster. Jedoch werde ich besser vorerst besonnen schweigen und meine Neugierde zügeln. Denn ich vertraue dir. Nenn meine eiserne Sturheit ruhig töricht, doch ich akzeptiere alles… Auch wenn ich aufgrund von Verrat…durch deine Hand sterben würde…“, entgegnete Miceyla ihm, von seinem lieblichen Duft betört.

„Solche Worte zerschmettern mein Herz… Vorher beende ich mein eigenes Leben, ehe ich dir etwas antue. Und trotzdem akzeptiere ich deine selbstlose Treue mir gegenüber. Es ist wahr, dass du gewisse Vorhaben von mir ins Wanken bringst. Sollten sich deine Gefühle jemals ändern… Dann werde auch ich dickköpfig sein und jedem demonstrieren, dass du nur zu mir gehörst…“, flüsterte William beharrlich und blickte dabei direkt in ihre schimmernd grünen Augen.

„Von welchen Vorhaben spricht du? Ich verliere allmählich den Überblick…“ Er gab Miceyla keine Antwort auf ihre Frage, sondern bedeckte stattdessen ihren Mund mit seinen geschmeidigen Lippen, als Zeichen dafür, dass weitere Worte überflüssig waren. Sie erwiderte sanft seinen leidenschaftlichen Kuss, den sie mehr als alles andere herbeigesehnt hatte. Eine angenehme Wärme durchschoss ihren Körper, während sie dicht an dicht bei ihm stand und genoss das besondere Gefühl, welches sich wie ein langsamer Zeitstopp anfühlte und sie alles um sich herum vergessen ließ. William drückte sie mit seinen Armen fest und dennoch liebevoll an sich, um seinen soeben gesprochenen Worten Ausdruck zu verleihen. Keiner außer ihm vermochte die Leere ihres Herzens mit solch prächtigen Farben zu füllen. Er ließ ein wahres Kunstwerk in ihrer Seele entstehen und beide schenkten sich gegenseitig eine vorantreibende Inspiration, welche die Macht besaß, all ihre unendlichen Vorstellungen Realität werden zu lassen.

„Ich befürchte, dass die Erburkunde wohl für alle Ewigkeit an dieses Archiv gefesselt sein wird…“, meinte sie missmutig. William erwiderte vorerst nichts und schenkte ihr nur ein mysteriöses Lächeln. Kurz darauf stand er wieder voller Tatendrang auf und zog sich seinen Umhang erneut über. Noch immer etwas ausgelaugt, wollte sie seiner Geste des Aufbruchs folgen und stützte sich dafür auf einem der Kommodengriffe ab, um sich schwerfällig hochzuhieven.

„Hoppla!“, rief sie wachgerüttelt, als sie den Griff plötzlich lose in der Hand hatte.

„Wusste gar nicht, dass ich eine solch zerstörerische Kraft besitze, ha, ha!“, kommentierte sie ihr kleines Missgeschick scherzhaft. Da fiel ihr beim näheren betrachten des Griffes auf, dass sich darin ein kleiner Schlüssel befand.

„Oh, schau an! Was für ein seltsamer Zufall. Wollen wir doch mal sehen, ob er sich nicht für uns als nützlich erweisen kann…“, meinte Miceyla mit neuer Zuversicht und zwinkerte William dabei motiviert zu.

„Siehst du, für jedes Rätsel gibt es eine passende Lösung. Manchmal müssen wir lange danach suchen und manchmal erhalten wir sie von ganz alleine auf Umwegen“, teilte er ihre Freude über den unvorhergesehenen Fund und schob die Kommode etwas zur Seite. Miceyla hockte sich auf den Boden und entdeckte dort ein kaum sichtbares Schlüsselloch.

„Ein Geheimversteck im Boden. In erster Linie mag dies einen sicheren Ort für ein Versteck darstellen, doch nicht für uns. Da hätte Scott sich schon etwas Aufwendigeres einfallen lassen müssen.“ Mit diesen Worten öffnete sie den kleinen Schacht im Fußboden und nahm eine versiegelte Mappe heraus. Gaz ungeniert öffnete sie das Siegel und sah über die verbotene Tat hinweg, welche sie gerade beging. Hoffnungsvoll prüfte sie einen Stapel von losen Papierdokumenten und stoppte bei einem leicht zerknitterten Blatt, auf dem sich der golden-rote Stempel eines hervorstechenden Adelswappen befand.

„Könnte das…die richtige Erburkunde sein…?“, erkundigte Miceyla sich bei William, doch ihre Intuition flüsterte ihr längst zu, dass die Suche nun ein erfolgreiches Ende gefunden hatte.

„Kein Zweifel… Hierbei handelt es sich um das Original unseres ehemaligen Freundes. Nun darf auch er endlich in Frieden ruhen… Stecke die Urkunde in einen schützenden Umschlag und verwahre sie gut, bis wir wieder zu Hause sind“, bat William mit Rückblick an den letzten Willen seines verstorbenen Freundes.

„Gut, das wäre dann hiermit erledigt.“ `Ich kann es bereits jetzt kaum erwarten, Alberts überglückliches Gesicht zu sehen…`, dachte Miceyla erwartungsfreudig und nachdem sie das Kuvert eingesteckt hatte, zog sie sich ebenfalls wieder ihren Umhang an.

„Wunderbar, begeben wir uns nun in Richtung unseres Hauptanliegens“, verkündete er startklar. Sie nickte aufbruchsbereit, auch wenn ihre Sinne sich noch leicht benebelt anfühlten. Beide verließen das Archiv und machten sich auf den Weg ins Erdgeschoss, wo sie nach kurzer Zeit feststellten, dass dort alle Räumlichkeiten menschenleer waren. William deutete schweigend mit seiner Hand auf eine Treppe, die zum Keller hinabführte und lief zielstrebig darauf zu. Miceyla folgte ihm mit einem mulmigen Gefühl und hoffte, dass man sie in keine geplante Falle lockte. Doch diese Tatsache mussten sie wohl oder übel in Kauf nehmen, wenn sie ihr Ziel noch in der Nacht erreichen wollten. Die zwei gelangten an einen beleuchteten Raum, in dem ein Mann seelenruhig in einem Schaukelstuhl saß, bei dem es sich um Scott Widley handeln musste, welcher genüsslich eine Zigarre rauchte und ein Glas Whiskey trank. An den Wänden befanden sich einige Portraits von verstorbenen Königen und Generälen, die einst im vereinigten Königreich regiert hatten. Die Bilder waren ordentlich in zeitlicher Reihenfolge nebeneinander aufgehängt worden und an letzter Stelle befand sich allerdings ein hervorstechendes Portrait eines Mannes, der noch unter den Lebenden weilte. Es war jener Mann, den sie bislang nur von zwiegespaltenen Erzählungen kannte, ohne ihn jemals persönlich begegnet zu sein. Harley Granville. `Aber müsste an seiner Statt, nicht korrekter Weise ein Bild von Königin Victoria hängen…?` Dieser Gedanken ließ ihr keine Ruhe. Der Frieden in ihrer Gedankenwelt wurde jäh unterbrochen, als Scott laut in die Hände klatschte und William und sie mit einem amüsierten Lächeln empfing.

„Hereinspaziert die Herrschaften! Ich bewundere wirklich Ihre aufwendige Mühe, hier unbemerkt einzudringen, doch wäre dies gar nicht von Nöten gewesen. Denn ich habe extra die Vordertür offengelassen. Ich wartete hier so ungeduldig wie ein kleines Kind. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie erpicht ich darauf bin, endlich das Gesicht des Meisterverbrechers mit eigenen Augen zu sehen… Nun muss ich dem Gesicht nur noch einen Namen zuordnen“, sprach Scott vergnüglich und erhob sich, nachdem er einen großzügigen Schluck von seinem Whiskeyglas genommen hatte. Die dunklen Ringe unter seinen Augen verrieten ihr sogleich, wie überarbeitet er war und gerade unter Einfluss des Alkohols einen schauspielerischen Akt spielte, den er aber selbst nicht wirklich gutzuheißen schien. `Er hat uns tatsächlich erwartet, als wäre unser geheimer Plan ans Licht gekommen und spricht direkt vom Meisterverbrecher. Ist das ein Bluff oder ist dies ein weiteres Puzzleteil von Williams Gesamtplan? Denn das würde ja bedeuten, dass Harley vermutet oder gar wüsste wer…` Die Tatsache schockierte sie zwar, doch als sie Williams selbstbewusstes Grinsen sah, dämmerte es ihr langsam, worauf das alles in Wahrheit hinauslaufen sollte…

„Unser Eindringen zu solch später Stunde ist nicht ganz anstandsgemäß. Doch wie ich sehe, haben auch sie alles auf eine Karte gesetzt. Ist es nun beachtenswert oder töricht, wie ein abhängiger Sklave seinem Herrn aufs Wort zu gehorchen und das eigene Leben zu verkaufen? Noch ist es für Sie nicht zu spät die Seiten zu wechseln. Denn wir wollen dieses Land zu einem Ort der Gleichberechtigung machen, anstatt es komplett zu zerstören“, kam ein friedvoller Einwand von William, bei dem er genau wusste, damit bei Scott auf taube Ohren zu stoßen. Jener kniff gereizt die Augenbrauen zusammen und torkelte angetrunken ein paar Schritte nach vorne.

„Halten Sie mich nicht zum Narren! Es mag stimmen, dass in diesem Land jene herrschen, welche Geld, Macht und Verstand besitzen. Und der mittellosen Arbeiterklasse bleibt nichts anderes übrig, als sich der Oberschicht zu unterwerfen, in Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch wissen Sie was? Die werte Obrigkeit ist ebenso an schmutzige Fesseln gebunden und merkt es bloß aufgrund derer Verblödung durch Ansehen und Rang gar nicht mehr. Denn wir alle tanzen nach der Pfeife der Königin und einem Regierungssystem, das bereits so fest in unserer Gesellschaft verankert ist, dass ein paar Querdenker allein nichts bewegen können. Und Sie wollen dem Premierminister einen Akt der bevorstehenden Zerstörung vorwerfen? Sie selbst mit Ihren ganzen Verbrechen und Morden an Adeligen zerstören am allermeisten. Ihr lieber Bruder der Oberstleutnant, hat sich bereits so sehr in das Regierungsgeschehen miteingemischt, dass wir natürlich eifrig nachgeforscht haben, was seine beiden jüngeren Brüder so treiben. Ein wahrlich vorbildlicher junger Mathematiker sind Sie, William James Moriarty. Ich sage es geradewegs heraus, was Ihnen vorschwebt und sparen Sie sich den Vorwand, mich oder Harley zu erpressen. Denn ehe Sie sich versehen, werden Sie derjenige sein der erpresst wird… Wie dem auch sei, was Sie anstreben ist eine erzwungene Kooperation mit der Spitze der Regierung, um Ihre desaströsen Pläne abzusegnen und an Handlungsfreiheit zu gewinnen. Wagen Sie es ruhig, da Sie ja ohnehin so anmaßend sind mich bloßstellen zu wollen. Sie haben richtig gehört, behalten Sie daher einfach Ihre ergaunerten Dokumente und alles was Sie gegen mich in der Hand haben. Meine Zeit ist um. Hiermit gestehe ich meine begangene Kindermisshandlungen und illegale Kinderarbeit in Fabriken. Zufrieden? Ich werde Sie nicht länger zu Wort kommen lassen, um weitere gewinnbringende Fakten zu erhalten. Es endet hier und jetzt. Möge der wahre König den Thron besteigen… Und noch etwas zum Abschluss… Harley wird Ihren Willen brechen, genauso wie er es bei dem Fairburn-Burschen getan hat… Gehaben Sie sich wohl, Meister aller Verbrechen…“, redete er voller Inbrunst drauf los, ohne William eine Gelegenheit zu geben, selbst etwas zu entgegnen und betrachtete Miceyla kurz mit einem bedrohlichen Lächeln, was sie erschaudern ließ. Scotts offensives Verhalten überraschte William keineswegs und dennoch riss er plötzlich entsetzt die Augen weit auf und ergriff energisch ihre Hand.

„Miceyla! Raus hier, schnell!“, rief er warnend und zeitgleich sah sie schockiert mit an, wie Scott sich seines Jacketts entledigte und etliche Handgranaten zum Vorschein kamen, die er mithilfe eines Gürtels umgelegt hatte. Dieser grinste ein letztes Mal unerschrocken und entzündete mi einer entschlossenen Handbewegung, die gefährlichen kleinen Bomben. Unterdessen war William bereits längst mit Miceyla aus dem Kellerraum geflüchtet und anstatt die Treppe hinauf zu nehmen, stieg er zusammen mit ihr in ein tiefer gelegenes Gewölbe hinab.

„Hierein!“, meinte er als sie eine rettende Kammer entdeckten und verschloss hinter ihnen eine schwere Eisentür, die danach aussah, als ob sie einen geeigneten Schutz bot. Im selben Moment gab es eine ohrenbetäubende Explosion, bei der Miceyla sich instinktiv die Ohren zuhielt und ihre Augen zukniff, da der laute Knall kaum ertragbar war. William hielt sie fest in seinem Armen und beide konnten von Glück sagen, dass sie noch einmal unbeschadet davongekommen waren. Der Lärm verklang so rasch wieder wie er begonnen hatte und eine Totenstille blieb zurück.

„Scott hat sich selbst in die Luft gejagt, um sich eitel aus der Affäre zu ziehen. Wenn er tatsächlich dazu bereit war, für Harley einen solch ehrenvollen Tot zu sterben, musste er ja regelrecht besessen von ihm gewesen sein…“, sprach Miceyla leicht verächtlich, als sie sich allmählich wieder von dem Schrecken erholte. William hatte ganz flüchtig einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, dem sie aufgrund des dämmrigen Lichts, kein konkretes Gefühl zuordnen konnte.

„Ich ging davon aus, dass wir ein Abschiedsgeschenk in diesem Ausmaß von ihm erhalten werden… Aber nun komm, wir möchten beide hier unten nicht noch länger verweilen. Gehen wir auf direktem Wege hinaus und blicke bitte nicht in den Raum, in dem die Explosion stattgefunden hat“, bat William ruhig, als die Gefahr gebannt war und öffnete die knarzende Eisentür, wobei ihnen sofort ein unangenehmer Gestank nach glühender Hitze und Schwefel entgegenwehte. Ohne auch nur einmal Halt zu machen, verließen die beiden den nun demolierten Keller und traten aus dem Anwesen ganz bequem durch den Vorderausgang. Die kühle Nachtluft fühlte sich plötzlich für Miceyla seltsam verändert an, als zu dem Zeitpunkt, wo sie noch nicht das Grundstück von Scott betreten hatten. Während sie die frische Luft einatmete, fragte sie sich, ob ihre Infiltrierungsmission wirklich so erfolgreich vonstatten lief, wie William es sich erhoffte…
 

Ein Stück von dem Anwesen entfernt, stand regungslos Harley und betrachtete mit nostalgischem Blick die große Residenz, über welcher nun der düstere Schatten des Todes schwebte.

„Leb wohl mein Freund und hab Dank. Ich werde dafür sorgen, dass dein Opfer nicht umsonst gewesen ist…“, sprach er aufrichtige Abschiedsworte, während der Knall der Explosion, noch immer unnachgiebig in seinen Ohren wiederhalte.
 

Mittlerweile hatten William und Miceyla sich so weit von dem Anwesen entfernt, dass es von den riesigen Tannen in dessen Umgebung verschluckt wurde. Da legte er plötzlich eine kurze Rast ein und blieb stehen.

„Miceyla… Ich mag dir nur schon mal jetzt mitteilen, in Zukunft eine noch größere Vorsicht walten zu lassen. Bislang bereitete es uns keinerlei nennenswerte Probleme, alles bis ins kleinste Detail abzuwägen. Doch um unseren eigentlichen Plan, den Vorstellungen gemäß in die Tat umzusetzen, kommen wir nicht drumherum, uns der momentanen Regierungsspitze zu stellen. Dies ist mit etlichen Risiken verbunden. Eines davon wäre zum Beispiel, dass wir einem Mann gegenübertreten werden, der mächtig genug ist um einen Krieg in die Welt zu setzen oder gar…die Königin zu stürzen… Darum bitte ich dich so gut es nur geht zu vermeiden, an verlassenen Orten oder in der Nacht alleine umher zu wandeln. Es gibt nicht viele, denen du außer uns vertrauen kannst. Sherlock und Doktor Watson zählen dazu, im Zweifelsfall noch Clayton. Unser Name gewinnt immer mehr an Aufmerksamkeit. Und auf Dauer werden nicht nur wir es sein, die andere in einen Hinterhalt locken… Lass daher Vorsicht zu deiner besten Verteidigung werden“, legte er ihr ernst ans Herz und sie hörte dabei eine ungewöhnliche Besorgnis in seinen Worten heraus. `Fürchtet Will etwa um einen ausbrechenden Krieg, der alles für uns zunichtemachen könnte…? Aber das er Clayton als eine vertrauenswürdige Umgangsperson, zumindest für mich betrachtet, macht mich insgeheim sehr glücklich…`, dachte Miceyla mit gemischten Gefühlen und wollte ihm gerade antworten, dass sie seine Sorge ebenfalls sehr ernst nahm, doch da erschien plötzlich auf einer durch Straßenlaternen beleuchteten Lichtung eine Kutsche, aus der Albert und Louis heraustraten. Miceyla rannte freudestrahlend auf die beiden zu. Bei ihnen angelangt entdeckte sie auch noch Fred und Moran, welche die Rolle des Kutschenführers übernahmen.

„Hier ist eure kostenlose Eskorte. Ohne das ihr sie hättet rufen müssen ist sie herbeigeeilt, um euch einen bequemen Heimweg zu ermöglichen. Miceyla, Will, mir fällt ein Stein vom Herzen, dass keinem von euch etwas zugestoßen ist. Zumindest was euer äußeres Erscheinungsbild betrifft…“, begrüßte Albert sie warmherzig und musterte Miceyla intensiv mit einem seltsamen Blick.

„Ihr seid alle hergekommen, um uns abzuholen! Ich danke euch vielmals. Unser Aufenthalt im Anwesen von Scott, ist zugegebenermaßen ein wenig holprig verlaufen. Doch uns geht es gut, nicht wahr Will?“, berichtete Miceyla und blickte dabei zu William, der lächelnd neben ihr zum Stehen kam.

„Das ist richtig. Die Einzelheiten können wir euch auf dem Heimweg erzählen. Und auch ich habe zu danken, obwohl natürlich alles vorher abgesprochen war“, stimmte er ihr geruhsam zu und betrat als Erster die Kutsche.

„Man hat die Explosion sogar ganz schwach bis hierhergehört. Fred und ich konnten vor Unruhe kaum stillsitzen bleiben. Ist doch so, oder Kamerad?“, meinte Moran, dem die Erleichterung deutlich anzusehen war und klopfte Fred einmal kräftig auf den Rücken. Dieser nickte nur stumm und lächelte Miceyla zaghaft an. Albert half ihr daraufhin in die Kutsche und stieg zusammen mit Louis nach ihr ein.

„Ich hoffe du bist fündig geworden, Will. Es läuft alles darauf hinaus, dass wir Harley bald im Nacken sitzen haben. Zudem sind wir nicht die einzigen, die das fördern. Man denke nur an jenen Vorfall auf dem Platz vor dem Parlamentsgebäude, welcher bei der Presse für Furore gesorgt hat. Es gilt die Kontrolle über alle zukünftigen Planungen zu bewahren. Doch was das angeht bin ich zuversichtlich. Denn wenn dies einem gelingt, dann dir Bruderherz“, sprach Louis wohlwollend, der William ein beispielloses Vertrauen entgegenbrachte.

„Oh! Ich hätte es ja glatt vergessen, dabei bin ich vorhin noch so ungeduldig gewesen, gleich von den guten Neuigkeiten zu berichten, ha, ha. Auch ich habe gefunden, wonach ich fleißig gesucht hatte“, erzählte sie aufgeregt und holte stolz den Umschlag mit dem Originaldokument der Erburkunde hervor. Lächelnd überreichte Miceyla das unersetzbare Papier Albert, der gegenüber von ihr saß. Sorgsam öffnete er den Umschlag und auch seine Lippen formten sich sofort zu einem Lächeln, als er das bedeutsame Blatt auseinanderfaltete.

„Nichts geht verloren, mein alter Freund. Gute Taten geraten niemals in Vergessenheit. Dafür existieren Menschen wie wir, welche die Erinnerung daran am Leben erhalten…“, sprach er voller Melancholie und Miceyla erkannte aufs Neue, dass sie tatsächlich noch existierten. Menschen, die ohne Lohn und Dank anderen in Not halfen. Wenn es nur etwas mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft geben würde, bekämen die Menschen eine ganz andere Sichtweise auf ihre Probleme. Schließlich konnte Ungeahntes möglich gemacht werden, wenn man dazu bereit war, mit Fachleuten unterschiedlicher Klassen zusammenzuarbeiten. Durch einen wertschätzenden Austausch, entstand auch zusätzlich neues Wissen, welches sich ein jeder aneignete.

„Wirklich positive Neuigkeiten, dass die abhanden gekommene Erburkunde wieder aufgetaucht ist. Dafür muss ich dir aufrichtig danken, Miceyla“, unterbrach Louis ihre abschweifenden Gedanken und unterstrich seine ehrliche Wertschätzung für ihr engagiertes Handeln, mit einem gütigen Lächeln. Sie freute sich umso mehr über ihren Erfolg, als Louis ihr dankte. Schließlich wäre die Suche für William allein nur eine Kleinigkeit gewesen. Nach längerem betrachten des Dokuments, gab Albert es wieder Miceyla zurück, was sie ein wenig verwirrte und ihn schmunzeln ließ.

„Behalte die Erburkunde. Ich lasse sie in deiner Obhut. Ob nun wir oder du sie für einen guten Zweck einsetzen, spielt keine Rolle. Ich vertraue dir voll und ganz, dass du einen sinnvollen Nutzen für das Geld finden wirst. Und das Schreiben, damit die Erburkunde seinen vollen Wert erhält, werde ich dir auch noch geben“, teilte er ihr freudig mit. Stolz nickte Miceyla und wollte sein ihr entgegengebrachtes Vertrauen nicht enttäuschen.

„Das werde ich ganz bestimmt. Ich freue mich schon jetzt, auf die ganzen strahlenden Gesichter der Menschen, denen ich damit ein besseres Leben ermöglichen kann.“

Die Berichterstattung von William während der weiteren Kutschfahrt, hielt sich in einem kleinen Rahmen, da alle der Meinung waren, mit konkreteren Vertiefungen zu warten, bis er und Miceyla sich etwas erholen konnten. Jedoch sollte es ihnen nicht vergönnt sein, nach der aufbrausenden Nacht zur Ruhe zu kommen… Langsam aber sicher brach ein neuer Tag an, mit einem Morgen, der neue Hoffnung auf Sonnenschein nach einer dunklen Nacht machte. Zartes Vogelgezwitscher kündigte das Erwachen der Welt an und die Kutsche fuhr gemächlich das letzte Stück der Landstraße entlang.

„Sag mir das ich zu viel getrunken und Wahnvorstellungen habe… Da vor dem Tor steht doch nicht etwa…“, murmelte Moran und verlangsamte in seiner eigenen Verwirrung das Tempo der Pferde.

„Nein. Ich sehe ihn auch“, bestätigte Fred sogleich und wurde leicht nervös.

„Hach… Endlich zu Hause! Da heute nichts Wichtiges ansteht, werde ich den ganzen Tag im Bett verbringen und… Was ist los, Will?“, fragte Miceyla verwundert William, der zuerst aus der Kutsche gestiegen war und wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen blieb. Doch als sie neugierig hinter ihm hinaussprang, erkannte sie weshalb und wusste vor lähmender Müdigkeit nicht, wie sie mit einer unangekündigten, kritischen Situation umgehen sollte, auf die keiner von ihnen eingestellt war.

„Ihnen ist es wohl niemals zu spät oder zu früh, um sich ohne vorherige Anmeldung, selbst für einen Besuch einzuladen, Sherlock Holmes“, begrüßte William ihren überraschenden Gast mit einem kühlen Lächeln.

„Sherlock…“, flüsterte Miceyla heiser seinen Namen und versuchte den rätselhaften Ausdruck in seinen Augen zu ergründen, als sich ihre Blicke trafen. Das Gefühl der Beklemmung, welches sich auf einmal in ihrem Herzen auszubreiten begann, verriet ihr schon jetzt, dass ihr aller Schicksal bald eine drastische Wendung nehmen sollte…
 

Liebes Tagebuch, 6.5.1880

wir bezeichnen uns alle als gesonderte, unabhängige Individuen. Und doch sind wir alle Teil eines verknüpften Geflechts, bei dem es keiner vermeiden kann, einmal auf die Hilfe eines anderen angewiesen zu sein. Ein gegenseitiges Ausnutzen der Mitmenschen, bestimmt das Tempo und den Erfolg in unserem Leben. Mit Güte allein bleibt man in der ungnädigen Welt dort draußen eine einsame Seele, die es schwer hat sich durchzusetzen und an Respekt zu gewinnen. Darum muss ein Mensch wie Harley Granville, ein gewisses Maß an Autorität und Hartherzigkeit besitzen, um seiner Führungsposition gerecht zu werden. Aber gibt es nicht ein tristes Sinnbild ab, wenn der König ausschließlich mit Gefühlskälte und Strenge regiert? Übertragt sich dies nicht dann automatisch auch auf sein Volk? Ich versuche oft zu verstehen, was in einem solchen Menschen vor sich geht, der eine derart große Verantwortung trägt. Missbraucht er seine eigene Macht oder stellt er die Bürger über sein Eigenwohl? Doch die Wahrheit darüber offenbart sich mir wohl erst, wenn ich dessen ungekünsteltes Wesen von Angesicht zu Angesicht kennenlernen kann. Und dann ist Harley auch noch der oberste aller Soldaten, ein General… Beschämt mich das nun nach Claytons Geschichte über ihn oder macht das seine rätselhaften Beweggründe nur umso interessanter? Jedenfalls hat er nun einen treuen Gefolgsmann verloren. Ich mag mir nicht zu sehr den Kopf darüber zerbrechen, was uns in naher Zukunft erwarten wird. Sonst werden meine Vorstellungen mehr als bloß furchteinflößend… Und zudem sollte ich meine Aufmerksamkeit jetzt auf etwas viel Greifbareres richten. Ich habe das Gefühl mich mit Sherlock in ein Abenteuer zu stürzen, bei dem keiner voraussehen kann, wie es enden wird… Werde ich den Mut besitzen, diese wagehalsige Reise anzutreten, ganz ohne den Schutz meiner geliebten Familie Moriarty? Wie entscheide ich mich? Oder besser gesagt, wie entscheiden wir uns, Will…?
 

Kampf zweier Herzen
 

Es war eine ganz besondere Nacht,

in der du hast über mich gewacht.

Im dichten Nebel schwebtest du dahin,

doch worin liegt der wahre Sinn?
 

Die Erinnerungen formen unser Leben,

niemand kann sie uns jemals nehmen.

Dein Versprechen wiegte wahrlich schwer,

ich sei einsam nimmermehr.
 

All die Trauer nun von mir wich,

die Zeit stand still für dich und mich.

Der Kampf tobt weiter in unseren Herzen,

wollen sie denn ewig siegen, die Schmerzen?
 

Doch der Tag wird kommen,

ohne das du es hast vernommen,

an dem du vor mir wirst stehen

und ich dich kann für immer sehen.

Lebloses Herz

Es gab ihn, den Klang der Stille. Sie vergriff sich an den allgegenwärtigen Tönen des Lebens. Kein Atemzug war dabei mehr zu hören, geschweige denn das Pochen eines flehenden Herzens. Die unumkehrbare Stille durchbrach den Fluss der Zeit und verharrte in einer Gegenwart, die es weder erlaubte in die Vergangenheit, noch in die Zukunft zu blicken. Auf jedem Schlachtfeld kehrte früher oder später Frieden ein. Spätestens dann, wenn der Tod die brüllenden Kriegsschreie verstummen ließ. Plötzlich schwindet er dahin, der Sinn der Gerechtigkeit. Wille und Reue streiten sich um die Vorherrschaft. Das einzige was am Ende eines jeden verzweifelten Gefechts übrig blieb, war ein lebloses Herz. Keine Eile oder Warten würde es mehr zum Schlagen bringen…

„Ich…ich habe einen Menschen getötet…“
 

Sherlocks ernste Miene wich einem lässigen Grinsen. Jedoch erkannte Miceyla sofort seine Müdigkeit, welche sich dahinter verbarg. Er musste stundenlang wachgelegen und sich bis aufs äußerste den Kopf über etwas zerbrochen haben. Mittlerweile hatten sich Albert und Louis zu ihr und William gesellt, während sich Moran und Fred weiterhin bei der Kutsche im Hintergrund hielten. Was mochte ihre Ankunft bei Tagesanbruch vor dem Anwesen, wohl bei Sherlock für einen signifikanten Eindruck hinterlassen? Selbst für einen Normalsterblichen wäre es zu verdächtig, dass eine komplette Adelsfamilie die ganze Nacht auf Achse gewesen war. Doch ein Meisterdetektiv kam mittels kleinster Hinweise, auf beängstigend realitätsgetreue Schlussfolgerungen. Und das in einer bannbrechenden Geschwindigkeit. Ein ganz natürliches Verhalten war nun ausschlaggebend, damit sie alle kein unglückliches Debakel erlitten.

„Ich hoffe, Sie stehen sich hier noch nicht allzu lange die Beine in den Bauch. Gehen wir doch hinein und setzen uns gemütlich bei einer Tasse Tee zusammen. Denn ich denke, dass wir alle Durst haben und uns erst mal in Ruhe auf den neuen Tag einstimmen wollen“, bot William Sherlock völlig unverfroren die Gastfreundschaft der Moriartys an, woraufhin man Louis klar und deutlich ansah, wie er sich einen unzufriedenen Widerspruch verkneifen musste.

„Freut mich zu hören, dass wir so spontan zu einer gemeinsamen Übereinkunft finden. Ist zwar nicht die feine englische Art, unangekündigt vor einem solch vornehmen Hause aufzukreuzen, doch mein versprochener Besuch war bereits besiegelt. Und wer von uns weiß denn schon, ob es so etwas wie ein nächstes Mal geben wird…“, erwiderte Sherlock daraufhin vollkommen unkonventionell und ließ ihre Ankunft bei Morgengrauen einfach links liegen, ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren. `Es hat in vielerlei Hinsicht einen positiven Effekt, dass William und Sherlock beide vom Wesen her markante Exzentriker sind, die sich auf einer Wellenlänge befinden. Jetzt bin ich aber mal gespannt, was ihm so Gewichtiges auf dem Herzen liegt, dass er uns extra in aller Früh aufsucht`, dachte Miceyla und fühlte sich bei der ruhigen Atmosphäre schon ein wenig entspannter. Und wenigstens hatten sie bereits in der Kutsche ihre verschleiernden Umhänge abgelegt.

„Ich heiße Sie auch noch mal recht herzlich bei uns willkommen, Mr Holmes. Nun ist es ja bereits eine Weile her, seitdem wir das letzte Mal das Vergnügen miteinander hatten. Treten Sie ein und machen Sie es sich bequem“, begrüßte Alber ihren Gast offiziell, während er vorauslief und die Tür zum Anwesen aufschloss.

„Dann werde ich den Tee für uns vorbereiten…“, verkündete Louis, der zuvor noch Moran und Fred etwas leise zugeflüstert hatte. Sherlock warf einen prüfenden Blick auf die zwei `Bediensteten` und betrat jedoch kurz darauf mit einem gütigen Lächeln, zum Dank für die entgegenkommende Gastfreundschaft das Anwesen. Es war das wohl seltsamste Gefühl, das Miceyla je verspürt hatte, gemeinsam mit Sherlock ihr neues Zuhause zu betreten. Sollte er nun auch nur den kleinsten Hinweis vorfinden, würde sich ihm von jetzt auf gleich alles offenbaren. Doch glücklicherweise überließ William nichts dem Zufall, sodass sie in ihrem Anwesen zu jeder Zeit unangekündigte Gäste empfangen konnten. Und wie es keiner von ihnen anders erwartet hätte, musterte Sherlock jeden einzelnen Winkel vom Boden bis hin zu der Decke und verhielt sich als wäre er in einer Kunstausstellung. Im Gegensatz zu Louis, der entnervt ein finsteres Gesicht machte, musste Miceyla leise kichern.

„Mir gefällt wie Sie dieses Anwesen eingerichtet haben. Es besitzt sowohl etwas Schlichtes, als auch die markanten Vorzüge eines stattlichen Adelshauses. Und die Mischung aus beidem hebt die Einzigartigkeit des Anwesens hervor“, kommentierte er während seiner kleinen Erkundungstour. Jedoch entging ihm nicht, wie man ihn von allen Seiten einkesselte, um zu verhindern das sein Entdeckerdrang zu sehr ausartete. Im Wohnzimmer des Erdgeschosses ließen sie sich zusammen auf den Sofas und Sessel nieder und warteten darauf, bis Louis den Tee brachte und sich der Runde anschloss. Moran und Fred waren bei ihrem Gespräch nicht dabei.

„Ich wollte ja eigentlich meinen ersten Besuch bei Ihnen nutzen, um mich einmal richtig über gemeinsame Interessen austauschen zu können, Liam. Aus gegebenem Anlass, können wir jedoch leider nicht ganz so ungezwungen miteinander plaudern. Um es direkt auf den Punkt zu bringen, sitze ich momentan an einem Fall, der sich sowohl im Untergrund, als auch in der Obrigkeit gleichermaßen abspielt und zu einem unvorstellbar ausartenden Ausmaß in der Öffentlichkeit führen könnte. Es ist eine Angelegenheit, die für meine Wenigkeit allein nur schwer bewältigbar wäre. Und auf die Unterstützung meines Bruders, kann und will ich mich nicht verlassen. Daher wende ich mich vertraulich an Sie. Das unser werter Premierminister Harley Granville einen geheimen Komplott plant, dürfte Ihrem scharfen Verstand nicht entgangen sein. Er ist drauf und dran ein Zerwürfnis ins Rollen zu bringen, für welches das Wort Verbrechen nicht mehr ausreichend ist. Nun haben mich meine stundenlangen Recherchen und Spurensuchen zu einem Mann geführt, der als einziger noch lebender Mensch, über die Vergangenheit der Familie Granville Bescheid weiß und die Wahrheit über gewisse Intrigen innerhalb der Regierung, jeden Tag mit sich herumschleppt. Ich bin davon überzeugt, dass Harley sich seiner Existenz bewusst ist. Warum er diesen Mann jedoch am Leben lässt, kann ich noch nicht ergründen. Hinzu kommt, dass der Mann im Besitz eines Briefes von Harley Vater ist, welcher sowohl mächtig genug ist ihm seines Amtes zu entheben, als auch seinen Zielen den nötigen Antrieb zu verleihen. Jener unlogische Wiederspruch, macht den Inhalt des Briefes nur umso gefährlicher. Bis dato waren das die nötigsten, grundlegenden Fakten meines neuen angehenden Falls, der mehr Fingerspitzengefühl abverlangt als alle bisherigen“, schilderte Sherlock kurz und sachlich und brachte durch seine unerschütterliche Miene, die Motivation sich dieser wagehalsigen Sache anzunehmen zum Ausdruck.

„Dann gehe ich wohl richtig der Annahme, dass du jenen Mann nachstellen willst, du und John versteht sich. Und dafür benötigst du eine verlässliche Rückendeckung, falls etwas schiefläuft“, folgerte Miceyla deren Interesse geweckt wurde und sofort bei geheimen Informationen über Harleys lückenhafte Vergangenheit hellhörig wurde. William hörte seinen Schilderungen aufmerksam und mit Einsatz seines gesamten Scharfsinns zu. Dabei verzog er keine Miene und setzte die gerade erhaltenen Informationen, zu einer ganz eigenen Schlussfolgerung zusammen.

„Auch auf Johns Hilfe kann ich dieses Mal nicht zählen. Der ist nämlich auf Abwege geraten…“, berichtete Sherlock und verschränkte leicht beleidigt die Arme ineinander.

„Auf Abwege geraten? Was soll das denn bitteschön heißen? Ich kann mir keinen aufrichtigeren Menschen als John vorstellen“, platzte es daraufhin verwirrt aus Miceyla. Doch sie erhielt keine weiteren Erklärungen seinerseits.

„Nun hält Sie wohl nichts mehr davon ab, dem Mann welcher im Besitz der wohl kostbarsten Informationen über Graf Granville ist, ein Bein zu stellen. Und wohin soll die Reise gehen, wenn ich fragen darf? Denn in Ihrer oder unserer Nachbarschaft, scheint er sicherlich nicht auffindbar zu sein…“, hakte William mit vorrausschauendem Denken nach und nahm mit würdevoller Haltung, einen Schluck seines dampfenden Tees.

„Der Weg zu ihm führt mich in meine alte Heimat… Schottland… Greenock, um den Zielort etwas genauer einzugrenzen“, verriet Sherlock mit Augen, in denen sich die pure Nostalgie wiederspiegelte.

„Schottland?!“, wiederholte Albert und war sichtlich verblüfft darüber.

„Und nun? Was Sie gedenken wollen zu tun, ist mir durchaus bewusst, doch allmählich sollten Sie den wahren Grund verraten, weshalb Sie uns mit Ihrem unerwarteten Besuch beeren“, forderte William höflich, der seine Ungeduld mit einer unvergleichbaren Gelassenheit überspielte. Sherlock lehnte sich auf dem Sofa etwas nach vorn und sein unergründlicher Blick ruhte für eine Weile auf Miceyla, die gegenüber von ihm zwischen William und Albert saß. `Du verlangst doch nicht etwa von mir, dass ich…?!`, dachte sie wie erschlagen, als sich ihre Blicke trafen. Kurz darauf sprach er ihre Vermutung laut aus.

„Ich hätte gerne, dass Miceyla mich begleitet. Sie ist mittlerweile bestens gerüstet, für einen solch aufwendigen Fall. Was ja größtenteils Ihrem disziplinierten Schulungsprogramm zu verdanken ist. Während sie hier in London, den Spagat zwischen der Bühne und ihrer Schriftstellerkariere macht und nicht zuletzt sich an die ganzen adeligen Etiketten halten muss, rosten ihre feinfühligen Sinne. Und um dies zu verhindern, braucht sie auch mal Abwechslung und etwas frischen Wind in ihrem Alltag. Soll nicht heißen, dass ich Ihrem Leben Eintönigkeit vorschreibe, ganz im Gegenteil. Doch… Wenn man über aufregende Abenteuer schreiben will, sollte man sie wenigstens einmal vorher selbst erlebt haben. Schließlich soll die fesselnde Euphorie darüber, sich auch auf die unwissenden Leser übertragen, nicht wahr Mia?“, sprach er stichhaltig und zwinkerte sie lächelnd an.

„Ich bin ganz klar dagegen“, antwortete ihm Albert daraufhin eisern, jedoch war Sherlock selbstverständlich von einer derart verneinenden Reaktion, weder überrascht noch ließ er sich von der Autorität des Grafen einschüchtern.

„Miceyla hat gerade erst ihr eigenes Unternehmen gegründet und benötigt Zeit für den Aufbau und die Einarbeitung der Mitarbeiter. Sie wird hier in London gebraucht und zudem ist diese Reise ausgesprochen gefährlich und keiner von uns kann für ihre Sicherheit garantieren, während wir hier weiter unserem alltäglichen Leben nachgehen müssen. Und finden Sie es nicht etwas dreist, alleine mit einer verheirateten Ehefrau durchbrechen zu wollen? Sie sollten ab und zu mal darüber nachdenken, wann Sie zu sehr über die Stränge schlagen, Herr Meisterdetektiv“, fuhr Alber unbeirrt fort und bekam düstere Vorahnungen bei dem Gedanken, Miceyla in Sherlocks Obhut zu geben. Nicht weil er ihm misstraute, sondern weil er sich dadurch nicht mehr selbst von ihrem Wohlergehen überzeugen konnte. Für einige Minuten herrschte eine andächtige Stille. Sherlock sah von weiteren Überzeugungen ab, die er anscheinend nicht für nötig hielt, denn er wirkte so tiefenentspannt, als hätte er bereits sein Ziel erreicht. Auch Miceyla schwieg, sie wagte nicht ihre Meinung dazu zu äußern, geschweige denn eine voreilige Entscheidung zu treffen. William, der für eine Weile in sich kehrte und in aller Ruhe nachdachte, blickte Sherlock nun nachdrücklich mit seinen rubinroten Augen an.

„Was haben Sie geplant, wie viel Zeit der aufwendige Fall etwa in Anspruch nehmen soll?“

Albert sah bestürzt zu seinem Bruder und ahnte bei seinen Worten, dass er bereits einen Entschluss gefällt hatte. `Will…bitte sieh davon ab… Du magst ihren Willen stählern wollen, doch die Flamme deiner eigenen Entschlossenheit, wird dir am Ende nur selber unendliche Qualen bescheren…`, dachte er betrübt und würde dennoch niemals an dem zielorientierten Leidensweg zweifeln, den sie alle gemeinsam teilten.

„Zwei, höchstens drei Wochen, um die Geschichte in aller Gründlichkeit über die Bühne zu bringen. In vier Tagen würden wir aufbrechen. Wenn Wahrheit und Lüge geschickt kombiniert und eingesetzt werden, kann dadurch eine ganze Nation zum Umdenken angeregt oder sogar ein ganzer Krieg verhindert werden…“, beantwortete Sherlock Williams Frage und stellte gewieft dessen eigene Interessen in den Vordergrund, um ihm seinen neuen angehenden Fall weiter schmackhaft zu machen.

„Gut… Mehr Informationen benötige ich nicht. Wir werden Ihnen morgen unsere Entscheidung mitteilen. Ich bedanke mich für Ihren Besuch und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag, den Sie hoffentlich produktiv zu nutzen wissen“, beendete William plötzlich völlig abrupt ihre frühmorgendliche Unterredung und Miceyla sah verwirrt mit an, wie sich alle von ihren Plätzen erhoben. `Sind wir jetzt etwa zu einer Einigung gekommen? Können wir nun wirklich einfach so wieder auseinandergehen? Schließlich geht es hier auch um mich!`, dachte sie entrüstet und hoffte, noch kurz ein paar Worte mit Sherlock allein wechseln zu können, ehe er verschwand. Denn es verbarg sich weitaus mehr in der ganzen Angelegenheit, so viel konnte sie trotz ihrer Müdigkeit herausfiltern.

„Ebenso. Sie sind alle schwer beschäftigte Leute, daher mag ich nicht länger Ihre wertvolle Zeit stehlen.“ Mit diesen abschließenden Worten, lief er lässig aus dem Raum in Richtung der Eingangstür, ohne sich noch einmal nach einem von ihnen umzublicken. Kopflos eilte Miceyla ihm nach und holte ihn bei der Tür ein.

„Sherlock! Du kannst jetzt nicht einfach gehen! Trefft eine wichtige Entscheidung ohne mich, als wäre ich Luft… Und was willst du tun, wenn du die verhängnisvolle Wahrheit in Händen hältst? Existiert sie überhaupt! Es könnte sich dabei bloß um weitere Lügen handeln“, hielt sie ihn unzufrieden zurück und spürte, wie sie aufgrund ihrer Erschöpfung langsam die Beherrschung verlor. Sherlock blieb stehen und drehte sich lächelnd zu ihr herum.

„Das stellt doch gar kein Problem dar. Denn ich werde die Lügen schlicht und ergreifend zu meiner Wahrheit machen…“ Ihr schmerzte das Herz, als er sie selbst zitierte und war nicht länger imstande, in sein unschuldig wirkendes Gesicht zu blicken.

„Miceyla!“ Albert kam herbei und zog sie sanft in seine Arme, um ihr tobendes Gefühlschaos etwas zu beschwichtigen.

„Komm, meine Liebe. Es wird Zeit, dass du dich ausruhst…“, flüsterte er einfühlsam.

„Vorher will ich aber noch mit Sherlock reden und zwar allein!“, entgegnete sie trotzig.

„Nein, nicht jetzt. In deinem aufgewühlten Zustand, ist das keine allzu gute Idee“, beschloss Albert weiter in einem ruhigen Ton.

„Mia, sei schön artig und verhalte dich so anständig, wie es sich für eine wohlerzogene Adelsdame gehört“, meinte Sherlock sarkastisch und verbarg seinen eigenen Ärger, dass es keine Gelegenheit mehr gab, um unter vier Augen mit ihr sprechen zu können. Frustriert ballte Miceyla die Fäuste zusammen und befreite sich aus Alberts Umarmung. Daraufhin rannte sie blindlinks die Treppe hinauf und vermied es noch einmal zurückzublicken.

„Miceyla…“, rief Albert ihr bekümmert nach und tauschte anschließend mi Sherlock Blicke aus, in denen sich etliche zwiegespaltene Gefühle miteinander vermischten.

„Ich werde Sie noch hinausbegleiten“, meinte William, der die Szene schweigend beobachtet hatte und zeigte zur Besänftigung der angespannten Stimmung, ein gütiges Lächeln. Wortlos lief er neben Sherlock den Weg zum Eingangstor entlang. Erst als sie dieses erreicht hatten, begannen sie ein Gespräch.

„Na wenigstens erhalte ich das Recht, mit Ihnen alleine sprechen zu dürfen“, sprach Sherlock murmelnd und zündete sich gelassen eine Zigarette an.

„Sie sind wahrhaftig ein überzeugender Schwindler. Eine glanzvolle Geschichte haben Sie sich da ausgedacht“, hob William mit einem schelmischen Grinsen an.

„In jeder Lüge steckt auch immer ein Funken Wahrheit. Wir wissen beide, wie es um Miceylas Sicherheit bestellt ist. Ihr Leben schwebt in größter Gefahr. Sie können Mycroft und Clayton dafür danken, die mir ein paar vorwarnende Informationen haben zukommen lassen. Fragwürdig ist nur, warum man es gerade auf eine unschuldige junge Dame wie sie abgesehen hat. Entweder Ihre Familie führt mit der Regierung, aufgrund Ihrer unterschiedlichen Einstellungen einen kalten Krieg. Oder aber ein gewisser Jemand versucht mit ihrem Tod, seinen größten Feind bloßzustellen. Den Meisterverbrecher…“, offenbarte Sherlock mehr von der eigentlichen Wahrheit.

„Und das man ihn noch vor Ihnen schnappt, passt Ihnen so gar nicht, ohne die wahren Absichten hinter seinen Verbrechen offenzulegen. Denn sonst würde er bloß als Schrecken in einer Legende verblassen. Und wieder einmal stellen Sie meine eigene Person auf die Probe. Eines versichere ich Ihnen aber, Miceylas Leben stelle ich über mein eigenes. Sie darf dem Kampf um die soziale Gerechtigkeit nicht zum Opfer fallen, eher er endet“, versicherte William ihm mit einer unnachahmlichen Beharrlichkeit. Sherlock blickte ihn kurz schweigend an und sah danach hinauf zum bewölkten Himmel, während ihm ein kühler Morgenwind in das Gesicht blies.

„Anders sollte es auch gar nicht sein. Ansonsten würde ich Ihre Liebe zu ihr infrage stellen. Halten Sie weiter an Ihren noblen Idealen fest, wenn es um Miceyla geht. Der Meisterverbrecher würde genauso handeln… Und übrigens existiert tatsächlich ein Fall, den ich in Schottland lösen will. Ich reise also nicht zum reinen Vergnügen dort hin“, verriet Sherlock noch und beide liefen ein Stück die Landstraße in Richtung Zentrallondon entlang, wo man etwas weiter entfernt eine kleine Droschke stehen sah, mit der er hergekommen war.

„Das habe ich mir gedacht. Es ist gut, wenn Miceyla sich einige Zeit außerhalb des

Geschehens von London aufhält. Unterdessen können wir die schändlichen Machenschaften hinter unserem Rücken aufdecken, dem entgegenwirken und die nächsten Schritte planen. Ich vertraue Ihnen somit Miceyla an. Auch…falls mir oder meinen Brüdern mal etwas zustoßen sollte. Und wenn Harley sich tatsächlich als der größte Bösewicht in unserem Land entpuppen sollte, haben wir einen gemeinsamen Feind“, sprach William beschließend, als sie bei der Droschke ankamen. Sherlock blickte ihn für einen Moment etwas misstrauisch an, jedoch konnte er sich wenige Sekunden später kein breites Grinsen verkneifen.

„Sie haben Glück, dass ich Sie gut leiden kann. Gibt nicht viele, die ich als angenehme Zeitgenossen bezeichnen kann. Und prima, dass die Entscheidung schon heute gefallen ist und ich nicht bis morgen warten muss“, meinte er noch zum Abschied, während er in die Droschke stieg und dem Kutscher mit einem Handzeichen zu verstehen gab, dass er losfahren durfte. William hatte es nicht eilig zum Anwesen zurückzukehren und beobachtete das Gefährt gedankenversunken, bis es nicht mehr zu sehen war.
 

Blinzelnd öffnete Miceyla die Augen und rieb sich ihren schmerzenden Kopf. Sie hatte bis zum Abend geschlafen und wäre am liebsten weiter im Bett liegengeblieben, wenn sie von ihrem hungrigen Magen nicht geweckt worden wäre. Mit schläfrigem Lächeln streichelte sie Luna und Lucy, die sich beide zu ihr gekuschelt hatten. Seufzend erhob sie sich von dem Bett und ließ die beiden Katzen in Ruhe weiterschlummern. Sie betrat ihr Ankleidezimmer und zog sich ein bequemes neues Kleid an. Als sie einen Blick in den Spiegel warf, bekam sie noch schlechtere Laune, sobald sie ihren grimmigen Gesichtsausdruck sah. `Reiß dich zusammen! Ich muss heute noch reinen Tisch machen, was die Sache mit der Reise nach Schottland betrifft`, zwang sich Miceyla dazu einen kühlen Kopf zu bewahren und holte einmal tief Luft. Nachdem sie sich noch ordentlich die Haare gekämmt hatte, verließ sie das Zimmer und lief gemächlich, den in einem besinnlichen Licht der Abenddämmerung getauchten Flur des Anwesens entlang. Die bittersüßen Klänge eines Klavierspiels schmeichelten ihren Ohren, als sie von Oberhalb das erste Stockwerk erreichte und sofort zog es sie in Richtung Alberts Arbeitszimmers.

„Eine starke Seele, die niemals den Mut verliert. Sie verteidigt das Schöne, Lebenswerte und ein Jeder bewundert ihre aufrichtige Eleganz. Und dennoch ist der kämpfenden Seele nach schreien zumute. Es verlangt sie danach, dass Hässliche, Ungerechte auf der Welt zu zerstören. Ein unaufhaltsamer Blutdurst, überschattet von der schmerzvollen Sehnsucht nach Liebe…“, erzählte sie leise eine passende Geschichte zu der lieblichen Melodie seines Klavierstücks und trat langsamen Schrittes näher an ihn heran.

„Ich muss mich für mein stures Verhalten von heute Morgen entschuldigen… Ich habe etwas überreagiert…“, gestand sie gedrückt und versuchte mit einem Blick in sein ausgeglichenes Gesicht zu ergründen, was ihm gerade durch den Kopf ging.

„Meine liebe Eisblume, nicht du solltest diejenige sein, die sich für den gestrigen Aufruhr entschuldigen muss… Was sind wir doch für garstige Unholde, welche ihr gesamtes Umfeld in Gefahr bringen und dich dabei mit verbundenen Augen, auf einen halsbrecherischen Drahtseilakt führen. Und trotz allen Leids, hältst du fest unsere Hand umklammert und beschreitest den Pfad stolzer und ehrenvoller als jeder Soldat den ich kenne…“, erwiderte Albert mit einem verruchten Lächeln auf den Lippen, welches verriet, dass seine eigene Würde mächtig genug war, um jede Sorge verschwinden zu lassen. `Wenn Sherlock tatsächlich an unserer statt zu deinem Retter werden sollte, wäre das wahrhaftig eine Schmach…`, dachte Albert noch verschwiegen mit verborgener Frustration.

„Nicht doch… Wer spricht denn davon, dass ihr mich blind ins Verderben führt? Ihr seid es gewesen, die mir erst richtig die Augen geöffnet haben und mir stetig neuen Mut zusprechen. Außerdem führt ihr mit mir ein Vertrauensverhältnis, welches ich bisher noch nie in meinem Leben zu irgendjemand hatte und das so stark ist, dass es jegliche Furcht überwinden kann. Ich werde erhobenen Hauptes Seite an Seite mit euch allen voranschreiten. Egal wo und bei wem ich mich auch befinden mag. Du weißt, wem meine Treue gilt…“, wiederholte sie noch einmal lächelnd die Manifestation ihrer Entschlossenheit. Albert stoppte sein Klavierspiel und erhob sich von seinem Hocker.

„Das du mit Sherlock eine Reise ins Ungewisse antrittst, gefällt mir dennoch ganz und gar nicht. Sicher, uns umgibt die Gefahr und die Lage wird sich zuspitzen. Doch jemand der etwas mit aller Kraft zu beschützen versucht, wird am Ende nur verlieren, was ihm lieb und teuer ist…“, sprach er melancholisch und strich ihr dabei sanft über das Haar.

„Ich kann deine Sorgen sehr gut nachvollziehen. Auch in mir tun sich etliche gemischte Gefühle auf. Aber du weißt, selbst wenn wir uns einmal für längere Zeit nicht sehen können, meine Briefe werden dich immer erreichen. Ich werde dich stets wissen lassen, wie es mir geht. Vertrauen wir einander, umso mehr wir über alles nachdenken, desto komplizierter sehen wir die Begebenheiten, mein lieber Bruder…“, meinte sie feinfühlig und nahm zur Unterstreichung ihrer Worte etwas gehemmt seine Hand.

„Natürlich, liebe Schwester… Jeden einzelnen deiner Briefe werde ich beantworten, auf das dein Kummer für alle Zeit verschwinden möge. Ich vertraue darauf, dass du nach jeder Reise, wieder mit einem freudigen Lächeln nach Hause zurückkehrst und ich dich in meine Arme schließen kann. Das gleiche darfst du selbstverständlich ebenfalls von mir erwarten. Wir sind füreinander da und werden uns bis zum bitteren Ende niemals im Stich lassen. Das Band unserer Familie ist stärker als alles andere…“, sagte er in einer Mischung aus Gefasstheit und Sinnlichkeit und drückte sie zärtlich an sich. Mehr brauchte es nicht, um ihr trübseliges Herz zu trösten. Miceyla schloss die Augen und genoss die Geborgenheit und Wärme, die von ihm ausging. Dabei versuchte sie dem Moment einem treffenden Gefühl zuzuordnen. War es bedingungslose Geschwisterliebe? Die Liebe innerhalb einer Familienbande, welche bislang eigentlich nur in ihren Vorstellungen existiert hatte? Jedoch floss nun mal nicht dasselbe Blut durch ihre Adern. Und zudem war es nicht die Liebe einer Schwester, welche er begehrte… Diese Tatsache konnte sie unmöglich ausblenden.

„Komm, du bist sicher hungrig und wir müssen auch noch einiges besprechen. Aber falls dir nicht wohl ist, verschieben wir das besser auf morgen“, meinte Albert ruhig und löste sich wieder von ihr. Lächelnd schüttelte sie daraufhin den Kopf.

„Nein, lass es uns direkt erledigen. Keiner von uns hält viel von Aufschiebungen, ganz besonders Will. Doch es stimmt, ich kippe gleich um, wenn ich nicht langsam mal etwas Gescheites zu Essen bekomme, ha, ha“ Somit lief Miceyla lachend voraus und verließ sein Arbeitszimmer. Albert rührte sich vorerst nicht von der Stelle und blickte ihr sehnsuchtsvoll hinterher. `Immer weiter entfernst du dich von mir. Verblasst, wie ein zart schimmernder Stern bei Morgengrauen direkt vor Augen… Drum kämpfe ich um eine ewige Nacht, in der unsere Träume wahr werden, meine geliebte Eisblume…` Mit diesem geheimen Gedanken, folgte er ihr hinunter in den Speisesaal.

„Aha, schau an! Da kommt ja unsere Langschläferin. Setz dich, kannst froh sein, dass ich dir noch was übrig gelassen hab, ha, ha“, meinte Moran lautstark, als er Miceyla erblickte und frech grinste.

„Hach… Bei dir braucht man Nerven wie Drahtseil. Moran, ich kenne keinen solch gefräßigen Vielfraß, der für zehn Mann mitisst…“, seufzte Louis mit einem angewiderten Blick, auf den ehemaligen Soldaten.

„Es ist reichlich da, keiner muss hungern. Aber bei den Portionen, die du vertilgst, darf ich bei dir auch doppelt und dreifachen Arbeitseinsatz verlangen“, kommentierte William die Debatte mit einem teuflischen Lächeln. Nach dieser sarkastischen Zurechtweisung, kratzte Moran sich leise pfeifend am Hinterkopf und blickte unbeteiligt in die Luft. Fred saß ebenfalls mit am Tisch und aß manierlich sein Abendmahl. Miceyla nahm mit Albert Platz und nachdem ihr Hunger einigermaßen gestillt war, sah sie William unvermittelt direkt in die Augen, welcher gegenüber von ihr saß, um ihm zu signalisieren, dass ihre Besprechungsrunde beginnen konnte.

„Heute Morgen haben wir alle einen leisen Vorgeschmack davon erhalten, wie gefährlich nah Sherlock der wahren Identität des Meisterverbrechers ist. Seine Zeit als Held im Rampenlicht, der uns, dass Böse, den Feind aller Klassen der Gesellschaft stellt, wird noch kommen. Wir schüren Hass beim Adel und den normalen Bürgern gleichermaßen. Nur so erreichen wir, dass beide Seiten sich zur Unterstützung die Hände reichen. Ewig können wir nicht die edlen Retter im Namen der Gleichberechtigung spielen. Wer hart durchgreift, muss auch mit unbarmherzigen Konsequenzen rechnen. Dies nur noch mal am Rande, für alle hier anwesenden…“, eröffnete William mit einem erinnernden Hinweis die Besprechung.

„Richtig… Und ich kann soweit zwischen den Zeilen lesen, dass Sherlock mich nicht aus einer Laune heraus mit nach Schottland schleppen will… Ihr braucht es mir nicht vorzuenthalten. Sprecht es ruhig aus. Man hat es auf mich abgesehen… Als das schwächste Glied in unseren Reihen, gebe ich ein bequemes Zielobjekt ab. Das erschüttert mich keineswegs, ich trage es mit Fassung. Sherlock malt sich in seiner Fantasie aus, was alles passieren könnte und erarbeitet sich im Voraus zig Lösungen, um für jede erdenkliche Eskapade gerüstet zu sein. Du wolltest es zuerst aus meinem Mund hören und herausfinden, wie geschärft meine Wahrnehmung für mein Umfeld ist, trotz des zunehmenden Trubels. Und ich versichere dir, von mir wird Sherlock nicht erfahren, wer der Meisterverbrecher ist, auch wenn wir mehr Zeit für vertrauliche Gespräche hätten…“, fasste Miceyla den Mut auszusprechen, welche Gefahr sich vermutlich langsam an sie heranzuschleichen drohte.

„Mein Liebling, bitte, es bedarf keinerlei Rechtfertigungen deinerseits. Die Entscheidung steht dir frei, mit Sherlock zu reisen oder hier bei uns zu bleiben. Auch ich kann momentan nur spekulieren, was man für ein geplantes Unheil über uns bringen will. Doch wer versucht uns mit gezogenem Schwert anzugreifen, wird in einer tiefen Fallgrube landen. Sicherheitshalber rate ich aber zu der Reise nach Schottland, da wartet bestimmt ein spannender Fall auf euch beide. Noch ist es dir erlaubt, sorglos Zeit mit dem quirligen Detektiv zu verbringen. Koste es aus… Der größte Teil deiner wertvollen Zeit gebührt uns, mache dir da keine Sorgen. Veränderungen sind der Grundstein eines idealen Systems der Geleichberechtigung. Du musstest dich bereits mit einigen Veränderungen anfreunden. Doch du wächst daran. Wer seine Chancen verspielt, dem entgeht die Möglichkeit ruhmreicher Entdeckungen, die sonst auf ewig verborgen hinter Schloss und Riegel blieben“, ermutigte William sie, der Reise mit mehr Selbstvertrauen entgegenzublicken. Miceyla setzte sich kerzengerade auf ihrem Stuhl hin, packte sich mit der rechten Hand auf ihr Herz und sah mit ihren funkelnd grünen Augen, in denen sich eine ernste Entschlossenheit widerspiegelte, einmal kurz in jedes ihrer Gesichter.

„Dann verkünde ich hiermit, mich Sherlock anzuschließen und nach Schottland zu reisen. Als eine Moriarty und ich werde wachsamer denn je sein. Und falls…“ Sie musste ihre Ansprache abrupt unterbrechen, da sie überhaupt nicht abwägen konnte, was sie tun sollte, wenn sie in Bredouille geriet und die Brüder für sie unerreichbar waren.

„Eben, es reicht nicht sich nur auf Sherlocks Geleitschutz zu verlassen. Falls ihm etwas zustoße, bist du ganz auf dich allein, in einer dir unbekannten Gegend gestellt. Wir werden wohl Fred für eine Weile ebenfalls hier in London entbehren müssen und ihn als unser wachsames Auge mit nach Schottland schicken. Keiner kann uns im Ernstfall so zügig Informationen übermitteln wie er. Fred, ich hoffe du bist mit diesem neuen Auftrag einverstanden“, beschloss William, um auf der sicheren Seite zu sein.

„Selbstverständlich. Ich würde mir auch zu große Sorgen machen, wenn Miceyla mit Sherlock allein reisen würde. Und ich werde sicherlich einiges bei der Gelegenheit herausfinden können“, willigte Fred sofort ein und schien sich in Gedanken bereits auf seine wichtige Mission vorzubereiten.

„Ach und Miceyla. Ich erklärte mich gerne dazu bereit, mich in deiner Abwesenheit um die Organisation des Katzenheimes zu kümmern. Verwaltungsangelegenheiten sind schließlich mein Spezialgebiet“, stellte Louis sich bereitwillig zur Verfügung und schien sich bereits auf seine neue Aufgabe zu freuen, denn er lächelte so voller Vorfreude wie ein kleiner Junge.

„Danke Louis, deine Hilfsbereitschaft weiß ich sehr zu schätzen. Bei dir ist das Haus in guten Händen und ich freue mich schon auf die Fortschritte, wenn ich wieder da bin“, dankte Miceyla ihm aufrichtig für seine Güte und war erleichtert, dass sie sich darüber keine Gedanken mehr zu machen brauchte.

„Du wirst wohl auch in nächster Zeit alle Hände voll zu tun haben, nicht wahr Albert?“, meinte Moran mit einem musternden Blick auf seinen Sitznachbarn, der ungewöhnlich schweigsam während der ganzen Unterhaltung war und auch wenig Appetit zu haben schien. `Ja… Es wird nicht leicht werden für Albert. Zwar hält er eine einflussreiche Position inne, doch ist er beim Militär und bei Regierungsangelegenheiten immer noch Harley untergeordnet und muss dessen Befehlen Folge leisten. Hätte Albert die Courage abzulehnen, wenn man ihn auf einen gefahrvollen Einsatz schickte, der im Gegenzug seinem militärischen Werdegang zugutekäme? Würde das überhaupt sein Stolz zulassen?`, überlegte Miceyla voller Besorgnis und sie wich verlegen seinem Blickkontakt aus, da sie befürchtete, dass er ihre Gedanken erraten könnte. Albert jedoch lächelte nur friedfertig und trank mit der Ruhe weg, genüsslich einen Schluck aus seinem glänzenden Rotweinglas.

„Frieden ist ein Geschenk, das man sich ausschließlich durch harte Arbeit verdienen kann. Als gestandener Soldat, kämpft man sich tagtäglich durch die härtesten Turbolenzen. Nur wer Durchhaltevermögen und Schläue beweist, erreicht im Zentrum des Sturms jenen Frieden und eine wohlverdiente Anerkennung. Abgesehen von wenigen Kameraden, die Freud und Leid mit dir teilen, ist die gesamte Welt dein Feind. So ist das nun mal. Und ein tadelloser Edelmann, dessen Ehre nicht beschmutzt ist, existiert lediglich in Mythen und Legenden“, sprach Albert, begleitet mit dezentem Hochmut. Und bei dem unberechenbaren Funkeln in seinen smaragdgrünen Augen, bekam Miceyla plötzlich eine Gänsehaut, da es beinahe das von Williams Augen übertraf.

„Ha, ha! Worte voller Willkür und ohne Gnade. Frauen fühlen sich zu düsteren und geheimnisvollen Männern hingezogen, das kann ich euch sagen!“, meinte Moran prahlend, woraufhin Louis und Miceyla ihm feindselige Blicke zuwarfen, allerdings amüsiert von dessen Unbekümmertheit mit ihm lachen mussten.

„Lasst uns anstoßen, treue Kameraden und Verbündete! Wie war das noch mal mit unserem Motto, Wirbelwind?“, sprach Moran feierlich einen Toast aus und hielt mit einem grinsenden Blick auf Miceyla sein Bierglas in die Höhe.

„Sag nicht, dass du es schon wieder vergessen hast. Dann muss ich wohl deinem alten Löcherhirn ein wenig auf die Sprünge helfen… `Vertreiben wir all das Böse…“, begann Miceyla neckend und hielt ihr eigenes Glas lächelnd hoch.

„…Und verhelfen der Welt zu rechter Größe!“, sprachen kurz darauf alle gleichzeitig und stießen schwungvoll ihre Gläser gegeneinander.

Während des restlichen Abends, plauderten sie nur noch vergnüglich über weniger ernste Themen und es herrschte eine lockere, ungezwungene Stimmung. Zwar war es bereits sehr spät, doch da Miceyla am Tag geschlafen hatte, war ihre Müdigkeit beinahe komplett verflogen und neue Energie kehrte in ihr zurück. Nachdenklich lief sie auf den Balkon hinaus und blickte hinauf zum dunklen Nachthimmel, bei dem sich all die leuchtenden Sterne, hinter einer dichten Wolkenfront verbargen.

„Du sagtest Zeit sei ein entscheidender Faktor, bei der Durchsetzung unseres Unterfangens. Jedoch, wer zu lange wartet und den Dingen ihren natürlichen Lauf lässt, wird von der Zeit überlistet und verliert sie letztendlich. Darum lass mich dir beweisen, dass sich selbst die Zeit überlisten lässt. Das Leben ist ein Spiel zwischen Gewinn und Verlust. Daher sollten Gesetze und Regeln für alle gleichermaßen gelten. Keiner sollte bevorzugt oder vernachlässigt werden. Und ich werde jegliche Gefahr, von der du bedroht wirst, restlos auslöschen. Unter keinen Umständen lasse ich zu, dass dir Leid wiederfährt, mein Liebling“, versicherte William ihr liebevoll, der sich zu ihr auf den Balkon gesellte und von hinten seine Arme zärtlich um sie legte und sich an sie schmiegte.

„Will, mein Liebster… Es ist sehr heimtückisch, den Fluss der Zeit beeinflussen zu wollen. Die Ruhe vor dem Sturm wäre für mich noch unerträglicher, hätte ich euch alle nicht an meiner Seite. Mit euch zu lachen spendet mir Trost und Wärme. Ich wünsche mir, mit Sherlock zusammen Abenteuer erleben zu dürfen, mich unbekümmert in die Freiheit zu stürzen. Gleichzeitig wünsche ich mir aber auch die wertvolle Zeit, welche ich unterdessen mit euch verbringen könnte, nicht zu verlieren. Es wäre gelogen, wenn ich behauptete keine Angst vor Harley Granville zu haben. Doch am meisten fürchte ich mich davor, dass tatsächlich in naher Zukunft ein Krieg ausbricht…“, vertraute sie ihm offenherzig an und genoss dabei die Wohltat, sich gegen ihn zu lehnen und seine beruhigende Wärme zu spüren. William, der wie immer vollstes Verständnis für ihre Bedenken hatte, schwieg für eine Weile, ehe er wieder langsam von Miceyla abließ und ihr mit einem Lächeln bedeutete ihm hinein zu folgen.

„Ich möchte dir schon jetzt etwas geben, dass dich auf deiner Reise begleiten und beschützen soll.“ Neugierig worum es sich dabei handelte könnte, lief sie mit ihm ins Schlafzimmer, wo er bereits auf einer großen Kommode, einen länglichen Gegenstand abgelegt hatte, der in einem dunkelblauen Samttuch eingewickelt war. Er öffnete das Tuch an einer kupferfarbenen Schnur und zog einen silbern glänzenden Degen daraus hervor. Während sie vor Erstaunen die Augen weit aufriss, hielt er ihr den Degen entgegen, damit sie sich die majestätische Waffe näher betrachten konnte. Sogleich entdeckte sie das Familienwappen der Moriartys, welches im Griff eingraviert worden war.

„Du hast genug Übungsstunden hinter dir, um eine echte Klinge bei dir zu tragen und dich im Ernstfall verteidigen zu können. Und ein Degen ist wesentlich handlicher als dein keltisches Schwert. Du wolltest es heimlich mitschleppen, stimmts?“, meinte William grinsend und legte den Kopf etwas schräg. Miceyla errötete vor Verlegenheit, dass sie mal wieder von ihm ertappt worden war.

„Ähm… Ich hätte es eher als eine Art Glücksbringer gesehen… Aber vergessen wir das! Du machst nun endlich den Schritt und überreichst mir eine Stichwaffe, die ich ebenso wie Schusswaffen einsetzen soll. Das gibt mir schon etwas zu denken…“, sprach sie ehrfürchtig und konnte dennoch nicht wiederstehen, den Degen einmal selbst in die Hand zu nehmen und aus nächster Nähe zu betrachten.

„Das soll nun nicht bedeuten, dass du die Schusswaffen komplett damit ersetzen sollst. Du entwickelst dich dank Morans Training, mehr und mehr zu einer herausragenden Schützin. Doch du hast zu viele Hemmungen, wenn du eine Pistole in Händen hältst. Und diese könnten dich im Zweifelsfall das Leben kosten. Daher musst du jenes Risiko überwinden und eine Waffe deines Vertrauens bei dir tragen. Den alten Degen der Familie Moriarty, darfst du nun dein Eigen nennen. Sieh ihn als einen Teil von mir an, der immer bei dir sein und dich beschützen wird…“, sagte William leicht wehmütig und strich ihr mit einem Blick, der sie am liebsten nicht gehen lassen würde, sanft über die Wange. `Treffe deine eigenen Entscheidungen, meine geliebte Winterrose. Du kannst frei sein, wenn du nur den richtigen Weg wählst. Es steht mir nicht zu dich zu fesseln und an ein düsteres Schicksal zu binden. Jedoch sind unsere Herzen längst unzertrennlich miteinander verbunden. Ich glaube dabei versagt sogar jegliche Vernunft. Allerdings...sind sogar die stärksten Gefühle manipulierbar… Denn sonst zerstören wir uns nur beide…`, dachte William besonnen und dennoch melancholisch.

„Danke für den Degen und dein Vertrauen. Nun weiß ich, dass ich der Reise nach Schottland voller Zuversicht entgegenblicken kann“, dankte sie ihm und schöpfte mit der Waffe in ihrer Hand neuen, erwartungsfreudigen Mut.

Am nächsten Tag hatte Miceyla den Eindruck, dass die Zeit schneller als gewöhnlich verflog. Es gab einiges zu erledigen. Allem voran musste sie Clayton mitteilen, dass sie für eine Weile abwesend war und nicht im Theater auftreten konnte.

„Ihr reist also nach Schottland… Welch Ironie, der tollkühne Gegenspieler befreit das Vöglein für begrenzte Zeit aus seinem Käfig. Doch Obacht meine Teuerste, in der Wildnis dort draußen lauern heimtückische Gefahren, bei denen dein Liebster nicht imstande ist, seine schützenden Hände über dich zu halten… Nichtsdestotrotz muss ich anmerken, dass Schottland ein sehr schönes Land ist. Ein Ort voller Tradition und märchenhafter Natur. Dort ist die Welt noch in Ordnung, weit weg von der Hektik Londons. Zumindest teilweise trifft dies zu. Räuber und böse Schurken, wirst du in jedem Winkel dieser Welt antreffen. Lange Rede kurzer Sinn… Das Ableben von Scott Widley ist auf euren Mist gewachsen, dies ist sonnenklar. Macht weiter so und Harley wird euer kleines Imperium dem Erdboden gleichmachen. Es kümmert mich recht wenig, solange meine Rache dabei nicht zu kurz kommt. Und trauriger Weise muss ich hinzufügen, dass du bei Sherlock keinen verlässlichen Schutz vorfinden wirst. Bei dem Kampf den wir kämpfen, haben wir zu jeder Stunde eine geladene Knarre im Rücken. Harte Worte, schmerzhaft und doch entsprechen sie der bitteren Realität, welcher wir nicht entfliehen können. Das Leben ist eine einzige Hetzerei, nur um es früher oder später mit dem Tod abzuschließen. Ach, da hörst du es wieder mein liebes Vöglein, ich alter Dramatiker! Bevor einer von uns vorzeitig den Löffel abgibt, sollten wir alle ein fantabuloses Stück aufführen. Die Vorstellung aller Vorstellungen, etwas das die Welt noch nie zuvor gesehen hat. Dieses aus unseren Träumen entsprungene Arrangement, müssen wir uns noch erfüllen! Doch gut Ding will Weile haben, he, he…“, sprach Clayton leicht vergnüglich, leicht schwermütig, als Miceyla sich alleine mit ihm in einer der Umkleidekabinen des Theaters befand.

„Ha, ha, man kann bei dir nur darüber Rätselraten, ob du nun ein Optimist oder ein Pessimist bist. Aber die Mischung aus beidem passt perfekt zu deiner wandelbaren Gestalt. Ich weiß…das du viel zu eigensinnig bist, um mit William jemals ein Bündnis einzugehen. Nur bitte ich dich inständig darum, nicht mehr zu zerstören als notwendig. Dein Herz mag ein Scherbenhaufen sein, aber wir alle tragen tiefe Wunden in uns. Und manche davon können dennoch in naher oder ferner Zukunft geheilt werden. Aber weil jemand ein unglückliches Dasein fristet und sein Leben am liebsten beenden würde, heißt das nicht, dass auf denjenigen keine glücklicheren Zeiten warten und er die Meinung vom Wert des Lebens von Grund auf ändert. Eine rein rhetorische Spekulation… Denke immer an Amelia, ihr soll auch das Glück wahrer Liebe zuteilwerden“, erinnerte Miceyla Clayton bemüht freundlich daran, seine Dramaturgie nicht zu sehr ausarten zu lassen. Kurz blickte er lächelnd zu Boden und lief etwas entspannt im Raum umher, als würde er spazieren gehen.

„Man sagt jeder sei für sein eigenes Glück verantwortlich. Jedoch ist es in Wirklichkeit viel mehr von den Menschen abhängig, die uns umgeben. Das wissen wir zwei beide am besten. Wie dem auch sein…Dein werter Will schickt sicherlich einen adretten Spitzel mit nach Schottland, um die Lage dort rund um die Uhr auszukundschaften. Dann spiele ich mal den stupiden Nachmacher und ahme es ihm nach. Ist ja nicht so, als würde mich die ganze Sache nichts angehen. Und schon mal darüber nachgedacht, dass die Gefahr euch auch auf eurer Reise folgt? Aber gut, den Feind aus der Reserve locken und dann zuschnappen ist ebenfalls eine Option. Und als Sahnehäuptchen obendrein, mag ich dich schon einmal darauf hinweisen, dass euer friedvoller Haussegen bald gewaltig schief hängen wird. Denn bei euch sind nicht alle einer Meinung. Besonders was dein Bündnis mit dem aufrichtigen Detektiv angeht… Doch Schluss mit dieser alten Laier! Du besitzt eine besondere Gabe, darum nutze sie auch. Mehr ist dem nicht hinzuzufügen, Eine angenehme Reise wünsche ich und kehre in einem Stück wieder zurück. Du und dein Engelstimmchen werden hier noch gebraucht. Adieu!“, kamen seine abschließenden Abschiedsworte, gefolgt von einer tiefen Verbeugung.

„`Lass uns kühn zu den Waffen greifen. Brechen wir auf in der Abenddämmerung und stürmen die feindliche Basis. Laben wir uns an der Verzweiflung des Feindes und lehren wir sie jene Angst, welche sie uns zuvor gelehrt haben. Wir werden in die Geschichte eingehen als gefürchtete Helden, ohne Namen, doch mit Stolz und Ehre. Wir wollten bloß unsere Träume leben und die Freiheit spüren, wird alles sein, was sie von uns zur Verteidigung zu hören bekommen.` Dieses Zitat aus einem deiner Stücke, ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben und wird mich auf meiner Reise begleiten. Bis bald, Clay“, verabschiedete Miceyla sich lächelnd und war trotz seiner angesprochenen Zweifel, voll zuversichtlichem Selbstvertrauen. Clayton ließ ihre Worte unkommentiert, setzte sich elegant seinen Zylinder auf und verließ die Umkleidekabine mit einem geheimnisvollen Lächeln.

Wieder daheim im Anwesen, legte Miceyla sich auf das Sofa im Wohnzimmer und dachte daran, dass sie bereits in zwei Tagen mit Sherlock nach Schottland reisen würde. Noch am Abend wollte sie schon mal alles Nötige zusammenpacken. Und am morgigen Tag, stünde ihr noch eine allerletzte vorbereitende Trainingseinheit mit Moran bevor. Sie musste sich eingestehen, dass der Gedanke, Fred als indirekte Ansprechperson in ihrer Nähe zu haben, sie unheimlich beruhigte.

„Oh! Du bist ja schon wieder zurück. Erzähl mal wie Clayton reagiert hat. Er wird jetzt bestimmt im stillen Kämmerlein seine Pläne umstrukturieren, da wir nun ebenfalls mit Harley zu schaffen haben“, erkundigte William sich nach ihrem Gespräch, als er gemeinsam mit Louis das Wohnzimmer betrat. Miceyla blieb die Gelegenheit verwehrt, ihm eine ausführlichere Antwort darauf zu geben, da sich plötzlich die Eingangstür des Anwesens öffnete. Sie blieb weiterhin entspannt auf dem Sofa liegen, weil sie damit rechnete, dass Albert etwas früher nach Hause kam. Jedoch betrat er das Anwesen nicht alleine…

„Einen schönen Nachmittag den Herrschaften. Da komme ich ja gerade richtig zur Teezeit. Da mir heute keine Verpflichtungen mehr bevorstehen, habe ich mich zur Abwechslung einmal einladen lassen. Ich denke niemand wird hier etwas dagegen haben.“ Sofort richtete Miceyla sich blitzschnell auf, als sie die markante Stimme von Mycroft erkannte und wäre in dem Moment am liebsten im Erdboden versunken. Es war ihr unheimlich unangenehm, ihm bereits so kurz nach ihrer Konfrontation wieder gegenüberzutreten. Und das auch noch im Anwesen zusammen mit den drei Brüdern. `Erst Sherlock und nun sein Bruder… Die beiden ähneln sich doch in manchen Bereichen ganz schön. Aber Mycroft ist imstande, mein Verhalten in einer mir vertrauten Umgebung, noch wesentlich akribischer zu analysieren als Sherlock…`, dachte sie mit einem unbehaglichen Gefühl.

„Wir waren heute ohnehin geschäftlich verabredet, daher war ich seinem Vorschlag nicht abgeneigt, auf eine Tasse Tee noch kurz bei uns vorbeizukommen“, erklärte Albert zuvorkommend die Situation von Mycrofts spontanen Besuch, wobei sie ganz genau seine Unzufriedenheit darüber, hinter seiner wohltäterhaften Miene erkennen konnte.

„Es freut mich, Sie hier bei uns begrüßen zu dürfen, Mr Holmes. Machen Sie es sich bequem. Ein Mann in Ihrer Position, gönnt sich schließlich nur selten ausgiebige Pausen“, hieß William ihren Gast offenherzig willkommen und bedeute ihm mit einer eleganten Handbewegung Platz zu nehmen.

„Wohl wahr, es wäre sehr anmaßend, mich so häufig auf die faule Haut zu legen wie mein kleiner Bruder, ha, ha. Aber es gibt nun mal Leute, die hohe Ansprüche an ihren inspirierenden Ansporn haben. Stimmen Sie mir da zu, Mrs Moriarty?“, begann Mycroft sogleich ungekünstelt ein Gespräch und wandte sich mit einem kühlen Lächeln an Miceyla. Sie zögerte damit zu lange, ihm eine passende Antwort zu geben, deshalb schwieg sie nur und lächelte vornehm zurück. Innerlich stritt sie dabei mit sich selbst, weshalb sie sich in der Gegenwart dieses Mannes, wie ein kleines Mauerblümchen verhielt. Denn warum fiel es ihr so leicht, sogar mit einem rauen Gesellen wie Moran, einen lockeren Umgang zu pflegen?

„Ich darf doch William zu Ihnen sagen? Sie haben einen ausgezeichneten Ruf als Professor

in der Fakultät für Mathematik. Man hört nur Gutes über Sie und keine einzige Klage. Und Lady Miceyla, Ihr eigener Erfolg kann sich ebenfalls sehen lassen. Für eine junge Adelsdame, haben Sie bereits Ihr Talent in vielerlei Bereichen unter Beweis gestellt. Und Ihre größte Hingabe und Leidenschaft gebührt dem Schreiben. Sie nutzen die Macht der Wörter, um Ihre eigenen Vorstellungen Gestalt annehmen zu lassen und zu Papier zu bringen. Es dient gleichzeitig der Flucht vor der grausamen Wirklichkeit, als auch der direkten Auseinandersetzung mit ihr. Wer viel schreibt so wie Sie, sieht die Welt und alle Menschen mit ganz anderen Augen, tiefgründiger, detailreicher. Es steckt praktisch eine kleine Detektivin in Ihnen, die unauffällige Dinge in ihrem Alltag beobachtet, welche für jene festgefahrene Gesellschaft verborgen bleiben. Es geht nicht bloß darum, dass die Leser begreifen müssen, was man mit seinen Worten auszudrücken versucht. Nein, man verschenkt einen winzigen Teil des eigenen Vorstellungsvermögens und gibt ihn an andere weiter. Und das Resultat dadurch sind neugeborene Ideen. Was ich damit sagen will ist, wer den ersten Schritt wagt bewegt sein Umfeld und hat sogar die Kraft es zu verändern. Und Sie Lady Miceyla, haben genau die richtige Familie gefunden, um solch weitreichende Möglichkeiten ergreifen zu können. Das war kein Zufall, ähnlich denkende Menschen ziehen sich an“, beschrieb Mycroft ohne einmal zu unterbrechen ihren träumerischen Eifer und sie konnte nicht verhindern verblüfft dreinzublicken. Er war in der Lage, das Wesen seines Gegenübers so peinlich genau zu beschreiben, als hätte er vorher alles auswendig gelernt. Und im Gegensatz zu Sherlock schien er Wohlwollen dafür zu empfinden, dass sie in die einflussreiche Familie Moriarty eingeheiratet hatte. Was im Wiederspruch zu ihrem nächtlichen Gespräch in der Kutsche stand. Oder aber er wollte dabei verborgen ausdrücken: `Nicht nur bei William, auch an Sherlocks Seite, hättest du deine Fertigkeiten in vollen Zügen ausleben können.` ´Was für ein Unsinn, Mycroft weiß doch selbst am besten, wie unnahbar sein Bruder ist`, dachte Miceyla leicht amüsiert. Aber was ihr ganz scharf ins Augenmerk stieß war, dass sein Interesse dem Anschein nach nur ihr galt und er William, Albert und Louis beinahe vollständig außen vorließ, als wären sie gar nicht da.

„Was halten Sie von einer kleinen Partie Schach?“, schlug Mycroft dann ganz urplötzlich vor, während er seinen frisch zubereiteten Tee genoss und sich pudelwohl zu fühlen schien.

„Schach?! Mit mir? Ähm… Dagegen wäre ich zwar nicht, aber ich gebe für Sie nicht gerade einen fordernden Gegner ab. Es wird für Sie sicher langweilig, wenn der Gewinner bereits im Voraus feststeht“, erwiderte Miceyla bescheiden und blickte ihn perplex an. `Ein Schachduell zwischen ihm und William wäre weitaus unterhaltsamer, ha, ha`, dachte sie und versuchte sich diese Szene der beiden beim Schach spielen bildlich vorzustellen.

„Iwo mein Fräulein. Es existiert kein vergleichbareres Spiel, bei dem man die Charakterzüge seines Gegenübers so gut kennenlernen kann wie beim Schach“, meinte Mycroft daraufhin unterstreichend, ohne locker lassen zu wollen.

„Sehen Sie sich vor, Miceyla hat einen unserer Bediensteten bereits des Öfteren beim Schach gequält und er musste einige Niederlagen einkassieren“, warnte ihn William lächelnd und warf ihr einen belustigten Blick zu. `Ha, ha, du meinst Moran. Naja, ich habe es tatsächlich einmal geschafft ihn schachmatt zu setzen. Aber er ist wirklich ein nicht zu unterschätzender Gegner`, dachte Miceyla amüsiert und dachte an jene Herausforderung zurück, während William ein Schachbrett zwischen ihr und Mycroft auf dem Tisch platzierte.

„Wohlan, der erste Zug gebührt Ihnen“, eröffnete Mycroft mit einem gelassenen Lächeln ihr kleines Duell und ließ sie beginnen. Es war ihr bewusst, dass längere Überlegungen vor ihren jeweiligen Spielzügen völlig überflüssig waren, denn er würde aus allem einen Vorteil ziehen. Da halfen ihr auch die spärlichen Tricks nichts, welche sie von William gelernt hatte. Sie bemühte sich trotzdem, ihr vorausschauendes Denken so gut wie nur möglich einzusetzen, um eine souveräne Figur beim Spielen abzugeben. Mycroft kommentierte keinen ihrer Züge und verschwendete selbst keine Zeit für längere Denkpausen und betrachtete stets ruhig das große hölzerne Schachbrett, mit den filigranen Figuren. Auch sie konzentrierte sich voll und ganz auf das Spiel und ließ sich nicht ablenken. Wenn sie darauf geachtet hätte, ob Albert oder William ihr mittels schweigenden Gesten Hinweise geben wollten, um zu zeigen das sie auf der richtigen Fährte war, wäre sie nur aus dem Konzept gebracht worden. Mycrofts Mimik, welche die ganze Zeit über unverändert blieb, verriet ihr kaum was er wohl gerade denken mochte. Zusätzlich hatte sie nicht den Eindruck, dass er sie schonen wollte und ihr Spiel dadurch extra in die Länge zu ziehen.

„Schachmatt“, rief Mycroft nach einer Weile triumphierend. Lächelnd beäugte Miceyla ihre unumgängliche Niederlage.

„Sie haben sich tapfer geschlagen und ein paar geschickte Züge angewendet, die jedoch noch ausbaufähig sind. Der Wille ist da, aber große Unsicherheit stellt sich ihm in den Weg. Mit langen Überlegungen und Zögern, verlieren Sie in einer echten Schlacht schnell Ihren Kopf. Mut gepaart mit Verstand, bildet die Voraussetzung, um den Sieg für sich zu beanspruchen. Man muss bereit sein für sein Ziel alles zu opfern. Freunde, Heimat und Besitz, bis am Ende nur noch das eigene nackte Leben übrigbleibt. Hat der König einen größeren Wert als der Bauer? Keineswegs. Ein kleiner Wicht, der geschützt werden muss und uneingeschränkt herumkommandieren kann, behält nur solange seinen Wert bis er fällt. Schlägt der Bauer den König, ist er ihm gerechterweise höhergestellt. Doch gerecht ist weder das Spiel noch die wirkliche Welt. Die Moral von der Geschichte, mit Ihrer gütigen und liebreizenden Art, wird man Sie nur immer wieder auf Anfang zurückschupsen. Lassen Sie Ihrem Feind gegenüber keine Gnade walten, er tut es ebenso wenig bei Ihnen. Und ich bedanke mich noch mal für die unterhaltsame Partie Schach. Zudem ist Nachahmung keine Schande, dadurch können durchaus ganz eigene Taktiken entwickelt werden“, erzählte Mycroft nach Beendigung des Spiels.

„Ich bedanke mich ebenfalls für Ihre Herausforderung. In Ihren Worten wohnt viel Wahres inne. Und sein Bestes zu geben reicht wohl manchmal einfach nicht aus, wenn einem die anderen haushoch überlegen sind. Dann wäre es tatsächlich ratsam, ungezügelte Maßnahmen zu entwickeln. Doch ich glaube noch immer daran, dass ein starker Wille alleinzig mit Güte angetrieben werden kann und ohne bösartige Absichten auskommt. Wer dem Bösen verfällt, hat schlichtweg einen schwachen Willen“, erwiderte Miceyla mit kühnem Lächeln und hielt gekonnt seinem unbeirrten Augenkontakt stand. Mycroft nahm schmunzelnd einen Schluck von seinem Tee. Nun durfte sie sich etwas mehr entspannen, da endlich ein Gespräch geführt wurde, bei dem die Moriarty-Brüder miteinbezogen wurden. Dabei blieben jene Themen aus, die Mycroft hätten interessieren müssen. Sherlock war da doch wesentlich offensiver und kein bisschen zimperlich. Dennoch war die Scharfsinnigkeit der beiden gleichermaßen gefährlich.

„Dann begebe ich mich langsam mal wieder in die heimischen Gefilde zurück und bedanke mich recht herzlich für Ihre Gastfreundschaft. Albert, wir sehen uns im Ministerium. Louis und William, wir werden sicherlich auch noch öfters voneinander hören“, verkündete Mycroft schließlich seinen Aufbruch und schenkte der Runde ein dankbares Lächeln.

„Nichts zu danken. Ein solch kultivierter Gesprächspartner wie Sie, ist nur spärlich zu finden. Bis demnächst, Mr Homes“, verabschiedete William sich knapp und sie schüttelten sich beide freundschaftlich die Hände. Anschließend lief Mycroft gemächlich, zu der Hinterseite des Sofas auf dem Miceyla saß und beugte sich etwas zu ihr hinab.

„Es war eine kluge Entscheidung, mit Sherlock nach Schottland zu reisen…“, flüsterte er dicht neben ihrem Ohr, wobei sie schüchtern erstarrte. Sie konnte genau heraushören, was er ihr damit zu sagen versuchte. `Mein Angebot steht noch, vergessen Sie das nicht…` Es schrie förmlich danach. Albert begleitete ihren Gast noch hinaus und sobald sie die Tür zufallen hörte, warf sie sich wieder auf das Sofa und vergrub ihr Gesicht in einem Kissen.

„Aaaaah! Dieser Kerl hat mich so sehr ins Visier genommen, dass ich wohl keine Möglichkeit mehr habe, um mich vor ihm verstecken zu können“, nuschelte sie sich ihren Frust von der Seele.

„Nun, Mycroft hat augenscheinlich einen Narren an dir gefressen. Ich rate dir nur dich vorzusehen, dass du dich nicht verplapperst“, meinte Louis höhnisch und begann den Tisch abzuräumen.

„Für wen hältst du mich… Dummkopf…“, entgegnete sie so leise, dass er es nicht hören konnte. Miceyla erhob sich wieder, da sie sich wunderte, warum von William keine Äußerung kam, jetzt wo Mycroft fort war. Sie betrachtete ihn forschend, wie er schweigend am Fenster stand und hinausblickte. Ein unbehagliches Gefühl begann sich in ihr auszubreiten. Er dachte über etwas nach, dass Miceyla noch nicht zu ergründen vermochte…
 

Harley schritt zielstrebig durch einen langen dunklen Gang und schloss die knarzende Tür zu einem Verließ auf. In dem finsteren Kerker, in welchem niemals auch nur ein einziger Sonnenstrahl hereinschien, befand sich ein Mann an rostenden Ketten gefesselt. Etliche blutige Wunden durch Foltertorturen zierten seinen Körper. Unmittelbar vor diesem stehend, zückte Harley seinen Degen, setzte seine Klinge direkt unter dessen Kinn an und zwang ihn so seinen Kopf zu heben.

„Na, wie gefällt es dir hier? Es könnte keinen besseren Ort geben, der die Verdorbenheit deines Herzens wiederspiegelt. Du hast für `ihn` die Drecksarbeit erledigt, stimmts?“, hakte Harley mit zusammengekniffenen Augen nach und hielt die Klinge so hartnäckig unter sein Kinn gedrückt, dass ihm langsam das Blut die Kehle hinunterfloss.

„He, he… Ihr noblen Gesellen habt es bequem, erkauft euch Gunst und Vorrechte. Was weiß einer von der verwöhnten Adelsbrut schon, wie es ist für einen mickrigen Hungerslohn zu schuften. Jemand der überleben will, nimmt jeden Job an. Sei es ein Auftragsmord oder Drogenhandel, wen kümmerts? Jagen oder gejagt werden, keiner kann diesen ewigen Leidensweg durchbrechen. Nun hats eben mich erwischt und die Belohnung hab ich mir durch die Lappen gehen lassen, was solls. Freundchen, merk dir eins, es gibt mehr von meiner Sorte…“, zischte der Mann und blickte Harley durch schmale Augenschlitze an.

„Nicht mehr lange…“ Nach dessen unbeeindruckter Antwort, schnitt er ihm ohne großen Krafteinsatz, mit einem gekonnten Schnitt seines Degens die Kehle durch und beendete in sekundenschnelle das Leben des Mannes.

„Und wenn es mein letzter Wille sein wird, dass ich euch alle restlos auslösche…“, sprach er noch leise zu sich selbst und sah wie hypnotisiert dabei zu, wie dunkelrote Bluttropfen von seiner Klinge tropften.

„Sir, Ihre Kutsche steht bereit. Und ich werde hier dann alles bereinigen, für den nächsten Neuzugang…“, meldete sich ein herbeilaufender junger Mann zu Wort, der eine enganliegende Militäruniform trug.

„Danke für deinen Aufwand. Und ich bitte dich noch, einen außerplanmäßigen Abstecher von mir miteinzuplanen“, teilte Harley seinem Untergebenen ruhigen Gemüts mit.

„Wie Sie wünschen. Wohin gedenken Sie aufzubrechen?“, fragte dieser gehorsam.

„Schottland, einen alten Freund besuchen…“
 

„Halt die Ohren steif, Wirbelwind. Scheue dich nicht davor, mir eine Nachricht zukommen zu lassen, falls dir jemand wehtut. Denjenigen werde ich dann ordentlich den Hintern versohlen!“ Miceyla stand am Morgen ihrer ersten großen Reise, aufbruchsbereit an der Eingangstür des Anwesens, während Moran ihr noch einmal zum Abschied kräftig den Kopf tätschelte.

„Ha, ha! Ich kann mir gut vorstellen, dass du in Nullkommanichts ganz Schottland unsicher machen würdest, wenn es darauf ankäme. Und so lange werde ich nun auch wieder nicht fort sein. Wird schon schief gehen, Meister! Wir sind da doch beide guter Dinge, nicht wahr?“, meinte sie und die beiden boxten sich spielerisch gegen den Arm.

„Es ist bestimmt ganz wohltuend, wenn sich hier mal keine zwei Raufbolde zur selben Zeit aufhalten. Aber ich wünsche dir von Herzen eine sichere Fahrt und hoffe, dass du und Holmes euch in Schottland keinen Ärger einhandelt. Und du weißt ja, damit du dich richtig auf deine Reise konzentrieren kannst, werde ich mich mit Leib und Seele dem Katzenhaus widmen. Denn ich habe stets beobachtet, wie viel Liebe du bereits in dein junges Projekt gesteckt hast“, versicherte Louis ihr abermals so aufrichtig, dass es wahrhaftig ihr Herz berührte. Am liebsten hätte sie sich eingeredet, dass er sie nun endlich als vollwertigen Teil der Familie Moriarty anerkannt hatte und sie ihn Bruder nennen konnte. Jedoch war dem nicht so. Viel eher respektiert er ihre Fertigkeiten und die Bereitschaft, ihr Unterfangen aufopferungsvoll zu unterstützen. Doch Miceyla war schon froh darüber, dass die anfänglichen Streitigkeiten sich gelegt hatten und sie problemlos miteinander auskamen. Die Macht der Gewohnheit, regelte tatsächlich fast von alleine die meisten Probleme.

„Noch mal vielen Dank, Louis. Aber bitte überarbeite dich nicht, denn du hast bereits genug zu tun.“ Miceyla blickte zu Albert, um sich als nächstes von ihm zu verabschieden. Er hatte wie immer sein gültiges Lächeln aufgesetzt. Doch es war ihr bewusst, dass es ganz und gar nicht seiner inneren Gefühlsregung entsprach.

„Du würdest am liebsten deine Sachen packen und mit mir reisen. Ich sehe es dir an. Aber es hat auch etwas Gutes an sich, dass wir alle wie immer sehr beschäftigt sein werden. Dies verschleiert unseren Kummer und die Zeit verflüchtigt sich,“ sprach sie in einer liebreizenden Tonlage. `Ach meine liebe Eisblume, wenn dem nur so wäre… Viel eher zähle ich die Sekunden, bis du wieder hier bei uns bist. Denn Zeit ist unser kostbarstes Gut und gleichzeitig unser größtes Opfer…`, dachte Albert beklommen, während er langsamen Schrittes auf sie zulief.

„Genau, lass uns positiv bleiben. Zudem ist es nicht verkehrt, auch mal für eine etwas längere Zeit aus der Stadt rauszukommen und einen anderen Teil dieser Welt kennenzulernen. Das wird deine Inspiration um einiges bereichern. Ich wünsche dir viel Glück und pass gut auf dich auf. Bis bald, meine Liebe.“ Nach seinen liebevollen Abschiedsworten, drückte Albert Miceyla kurz an sich. Nicht zu lange, um kein Gefühl eines schmerzvollen Abschieds aufkommen zu lassen.

„Ich verabschiede mich auch vorerst von dir. Denn ich kann noch nicht abwägen, ob es die

Begebenheiten in Schottland zulassen, dass wir uns barrierefrei treffen können“, sagte Fred anschließend und sein sonst so ernster Gesichtsausdruck, wich flüchtig einem gütigen Lächeln.

„Nun denn, brechen wir auf, Liebling. Du hast heute einen ereignisreichen Tag vor dir", durchbrach William schließlich die Abschiedsatmosphäre und setzte sich seinen schwarzen Zylinder auf. Er begleitete Miceyla noch in die Baker Street, wo sie von dort aus gemeinsamen mit Sherlock zum Bahnhof aufbrechen würde.

„Ich bin bereit, Will. Also dann, haltet die Stellung alle miteinander. Ihr werdet sehen, kaum bin ich hier die Tür raus, werde ich durch sie auch schon wieder hereintreten!“, verabschiedete Miceyla sich ein letztes Mal mit einem selbstbewussten Lächeln und lief zusammen mit William den Weg zum Eingangstor entlang, wo bereits eine Kutsche auf sie wartete.

„Wenn ich deine Nervosität auch nur irgendwie um einen Bruchteil verringern kann, solange ich noch die Möglichkeit dazu habe, teile es mir bitte mit. Du und Sherlock seid das optimale Team. Vertraue darauf und vor allem, vertraue ihm. Schottland wird dir gefallen, sehr sogar", sprach William einfühlsam als sie in der fahrenden Kutsche saßen und nahm dabei zärtlich ihre Hand.

„Ach Will, es ist für mich undenkbar, mit einem guten Gewissen von hier fortzugehen. Was wenn Sherlock mich für immer dort festhalten will, um mich vor den mir drohenden Gefahren zu schützen? Was wenn ich nie mehr zurückkehre oder keiner von euch mehr hier sein wird…? Das klingt alles schrecklich konfus, ich weiß… Ich sollte besser den Kopf noch etwas von meinen Sorgen befreien und…vertrauen…“, schüttete sie ihm ihr Herz aus und lehnte sich zur Beruhigung gegen seine Schulter.

„Meine Liebe, Sherlock ist sich vollends darüber im Klaren, dass eine Flucht ohne Konsequenzen nicht möglich ist. Zwar sind seine Methoden äußerst kreativ, doch auch ihm sind Grenzen gesetzt. Wir werden zu jeder Zeit auf dich warten und in Verbindung bleiben. Schließlich sind wir eine Gemeinschaft und noch viel mehr…eine Familie.“ Die Sanftheit welche in seinen Worten lag, vermochte Miceyla ein wenig zu trösten und sie genoss die letzten ruhigen Minuten mit ihm in Zweisamkeit. So schnell wie noch nie ging die Fahrt in die Innenstadt vorüber und beinahe zeitgleich als sie aus der Kutsche stiegen, öffnete sich die Haustür bei der 221B und Emily stand freudig winkend auf der Schwelle.

„Ich grüße euch, Lord William und Miceyla. Tretet ein, ich habe extra noch eine Kleinigkeit zu Essen vorbereitet, damit du und Sherlock mir nicht während der langen Fahrt umkippt. Natürlich gebe ich euch auch etwas für unterwegs zur Verpflegung mit. Man weiß ja nie, ob das Essen in den Zügen genießbar ist… Ach ja und wir haben einen Gast, der sich gerne mit dir bekannt machen möchte“, begrüßte Emily sie beide herzlich und lief wieder fröhlich hinein.

„Ha, ha, ich kann mir denken, dass es sich bei der `Kleinigkeit` um ein ganzes Festmahl handelt“, meinte Miceyla lachend und war neugierig, wer wohl der Gast sein mochte.

„Vielen Dank Mrs Hudson. Doch ihr Aufwand wäre nicht von Nöten gewesen, da wir bereits vorgesorgt haben. Dennoch weiß ich Ihre Freude am Kochen sehr zu schätzen. Aber ich entschuldige mich trotzdem für den stressigen Morgen, den Sie hatten. Nach zwei Stunden des Vorbereiten, merkten Sie das Ihnen noch notwendige Zutaten fehlten und eilten rasch zum Markt. Und nun sind Sie erleichtert, alles rechtzeitig geschafft zu haben‘, plauderte William vergnügliche und amüsierte sich köstlich über Emilys verdutzten Gesichtsausdruck.

„W-woher wissen Sie das?! Du lieber Himmel, da haben Sie mich aber eiskalt erwischt, ha, ha, ha… Ich werd nicht mehr…“, meinte sie daraufhin etwas verlegen.

„Ich glaub`s ja nicht, es existiert tatsächlich ein zweiter Sherlock! Bei Mycroft war ich über seine Scharfsinnigkeit ja nicht wirklich verwundert, da die beiden miteinander verwandt sind. Du musst wahrhaftig einen turbulenten Alltag haben. Ich weiß nicht ob ich dich darum beneiden sollte, he, he“, flüsterte Emily Miceyla neckend zu.

„Nun, ergeht es uns beiden da nicht ganz ähnlich? Und wer mag schon Langeweile, he, he…“, erwiderte sie und beide mussten leise kichern. William, der sich ein Stück hinter ihnen befand, betrachtete die gut miteinander befreundeten jungen Frauen, mit einem warmherzigen Lächeln. Bereits als Miceyla die Treppe hinauflief, vernahm sie den wohltuenden Geruch von frisch gebackenem Gebäck und süßem Tee.

„Ach was freue ich mich dich wiederzusehen, Miceyla! Ich glaube wir haben heute nicht genug Zeit zur Verfügung, um uns in Ruhe über alle Neuigkeiten austauschen zu können. Aber ich möchte dir unbedingt jemanden vorstellen…“, begann John sogleich überschwänglich und sie erfreute sich direkt wieder an seiner erfrischend jugendlichen Art. Nur er und eine junge hübsche Frau befanden sich im Wohnzimmer, an einem mit reichlichen Köstlichkeiten gedeckten Tisch. Sherlock schien sich mal wieder vor dem `großen` Menschenauflauf drücken zu wollen.

„Sie müssen Miceyla Moriarty sein. Es ist mir eine große Freude, dass wir miteinander bekannt gemacht werden. Ich bin Mary Morstan. Mein Verlobter hat mir bereits eine Menge über Sie und Ihr schriftstellerisches Talent erzählt. Und Sie und Sherlock scheint eine gute Freundschaft zu verbinden. Ihren Mann kennenzulernen ist mir ebenfalls ein Vergnügen“, stellte die junge Frau sich höflich vor und erhob sich dafür zeitgleich mit John. Sie hatte leicht gelocktes, dunkelblondes Haar und gütige blaugrüne Augen. Ihr schlichtes, dennoch ordentlich aussehendes rotbraunes Kleid verriet, dass sie Bescheidenheit besaß und trotzdem Wert auf ein akkurates Äußeres legte. `Na wer hätte das gedacht. Nun verstehe ich das auch mit dem `er ist auf Abwege geraten`, ha ha. Kein Wunder das sich Sherlock wie eine Miesmuschel verhält. Aber die beiden passen unglaublich gut zueinander. Das John eine Frau gefunden hat, die ähnliche sanfte Charakterzüge besitzt und gebildet ist wie er selbst, freut mich ungemein`, dachte Miceyla und brachte ihr Wohlwollen für Johns neues Glück, mit einem strahlenden Lächeln zum Ausdruck.

„Die Freude ist ganz meinerseits, Miss Morstan. Und wenn mich nicht alles täuscht, steht bald eine feierliche Hochzeit bevor. John, ich kann dir gar nicht genug Glückwünsche aussprechen“, sprach Miceyla freudig.

„Ich danke dir… Und ja, wir haben uns erst vor kurzem verlobt. Eine neue aufregende Zeit beginnt nun. Da spreche ich dir sicherlich aus der Seele. Mit der Hochzeit werden wir warten, bis ihr zwei wieder aus Schottland zurückgekehrt seid“, verriet John erwartungsfreudig und das junge Paar blickte sich liebevoll an.

„Eine wahrlich glücksverheißende Kundgebung. Ich wünsche Ihnen beiden nur das Beste und eine entspannte Zukunft in Zweisamkeit. Nun verabschiede ich mich aber wieder. Verzeihen Sie mir, dass ich nicht noch zum Frühstück bleibe. Miceyla meine Liebe, Zeit für

einen kurzen und bündigen Abschied. Wir sehen uns schon bald wieder.“ Das William plötzlich Reißaus nehmen und mit einer halbherzig Abschiedsfloskel, unbequemen Herzschmerz verhindern wollte, überrumpelt sie doch ein wenig.

„Will, magst du denn nicht wenigstens noch Sherlock begrüßen gehen? Ihr unterhaltet euch doch stets so gerne“, bemühte Miceyla sich etwas unbeholfen darum, sein Gehen ein klein wenig hinauszuzögern. Sein zaghaftes Kopfschütteln, ließ ihre kurz aufflackernde Hoffnung jäh erlöschen.

„Nicht an diesem Morgen, so kurz vor eurer Fahrt. Dein Gepäck steht unten neben der Eingangstür, der Kutscher hat es hineingetragen. Hab eine angenehme Reise, mein Liebling, ich werde immer an dich denken…“, verneinte er einfühlsam ihren Vorschlag und nach einem flüchtigen Kuss auf ihre Stirn, machte er höflich in die Runde lächelnd kehrt. Nun ließ er Miceyla an Ort und Stelle stehen. Keine längere Umarmung, keine letzten sanften Worte. All dies blieb aus und ein eisiger Schmerz, verstärkte den Kummer in ihrem Herzen. Wie von selbst wanderte ihr Blick zu Sherlocks geschlossener Zimmertür.

„Er ist in seinem Zimmer, nehme ich an…“, sprach Miceyla leise und etwas monoton.

„Ja… Er wollte vor der Reise noch einmal alleine sein und teilte mir ausdrücklich mit, dass er niemanden solange sehen will“, antwortete John und schämte sich für das unsoziale Verhalten seines mürrischen Mitbewohners. Gemächlich schritt Miceyla auf Sherlocks Zimmer zu.

„Gehe dort lieber nicht rein… Ich mag dich nur vor seinem unkontrollierbar launischen Gehabe bewahren“, warnte John sie, ehe sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzte.

„Ich bin aber nicht niemand…“, erwiderte Miceyla standhaft, ohne auch nur kurz stehen zu bleiben. Bereits als sie die Türklinke herunterdrückte, vernahm sie gedämpft die sanft gedrosselten Klänge seiner Violine. Geräuschlos schlich sie in sein Zimmer und schloss wieder direkt hinter sich die Tür zu. Einen Moment lang stand sie einfach nur so da und beobachtete ihn, wie an jenem Abend beim Geige spielen. Er ließ sich nicht von ihr stören, jedoch war ihm ihr heimliches Lächeln garantiert nicht entgangen. `Sherlock und seine geliebte Violine… Die wohl einzige wahre Liebe in seinem Leben…`, dachte Miceyla und musste trotz der sinnlichen Musik etwas schmunzeln. Ohne Hast beendete er sein selbstkreiertes Stück und blickte Miceyla nun mit einem kecken Grinsen an.

„Da ist ja unsere abenteuerlustige Pazifistin. Mogelt sich einfach unerlaubt hinein und hütet ihre klammheimlichen Gedanken“, begrüßte Sherlock sie bester Laune und das Strahlen in seinen dunkelblauen Augen verriet, wie sehr er sich über ihr Erscheinen freute.

„Und wie ich sehe, konnte sich der gewitzte Verfechter der Gerechtigkeit dazu aufraffen, hier einmal die Bude zu entrümpeln und auf Hochglanz zu bringen. Mein Lob für diesen revolutionären Schritt! John und Emely haben bestimmt mit feuchten Augen, feierlich eine Flasche Champagner geöffnet“, neckte Miceyla ihn zur Begrüßung ebenfalls grinsend und sie erfreute sich daran, dass sie beide denselben verspielten Humor besaßen, wobei sich ihr hartnäckiger Kummer etwas verflüchtigte.

„Ich kann meine beiden Sorgenkinder, doch nicht einfach im Chaos zurücklassen. Und ehe mir hier jemand an meine wertvollen Utensilien Hand anlegt, habe ich alles sicher und unauffindbar für jene Unbefugte verstaut. Wie siehts aus? Hast du deine sieben Sachen beisammen und bist bereit, die rauen Highlands zu erobern? Mir ist nicht danach, mich hier noch länger beim Kaffeekränzchen zu Tode zu langweilen. Es ist sicher in unserem beider Sinne, wenn wir am Abend ankämen“, sagte Sherlock anschließend recht ungeduldig und verstaute seine Geige in einem handlichen Koffer, von welcher er sich scheinbar auch nicht auf ihrer Reise trennen konnte.

„Auch dir steigt die dicke Luft zu Kopf und es treibt dich aus der lärmenden Stadt hinaus, um endlich wieder durchatmen zu können und eventuell eine geistreiche Lösung für gewisse Probleme zu finden. Und… Von nun an wird John, bei euren Fällen häufiger kürzertreten und Rücksicht auf Mary nehmen. Das Leben ändert sich. Wir sind nicht immer imstande, unser Umfeld zu beeinflussen und dafür zu sorgen, dass alles beim Alten bleibt. Du hast dich sehr an deinen verständnisvollen Mitbewohner gewöhnt und kannst ihn dir als guten Freund und Kameraden nicht mehr wegdenken. Aber er ist ja dennoch ab jetzt nicht aus der Welt und geht dir durch eine veränderte Lebenssituation nicht völlig verloren. Die Liebe ist wie ein kleines Wunder und erwischt uns manchmal ganz unvorbereitet…“, besänftigte sie ihn verträumt. Sherlock hielt kurz inne und betrachtete sie so eindringlich, ohne auch nur einmal zu blinzeln, wie eine besessene Katze. `Verloren…habe ich wohl eher dich. Ob ich den Fluss des Schicksals hätte durchbrechen können, wenn ich früher in Aktion getreten wäre? Doch noch ist das Ende aller Dinge nicht in Stein gemeißelt. Ich werde die hohe Mauer zum einstürzen bringen, welche zwischen uns gelegt wurde, auch wenn es für uns beide sehr schmerzhaft wird. Die Wahrheit ist nun mal nicht immer ein Freund des Friedens und des Glücks…`, dachte er gefasst und klopfte ihr beim hinauslaufen, als Geste zum Aufbruch auf die Schulter.

„Komm, die Highlands warten.“ Mit dem Koffer in seiner Hand, lief er durch das Wohnzimmer und an dem Tisch vorbei, an welchem das frisch verliebte Paar miteinander frühstückte. Von jenem Tisch schnappte Sherlock sich ein kleines Feuerzeug, welches John gehörte.

„Dies leihe ich mir zur Reserve aus. Man muss schließlich für den unbarmherzigen schottischen Wind gewappnet sein. Stelle sich nur mal einer vor, mir würde das Feuer ausgehen. Ein solches Dilemma sollten wir besser vermeiden“, sprach er anstelle steifer Abschiedsworte und kurz darauf war er schon die Tür hinaus.

„Hach… Meine gute Laune lasse ich mir heute nicht von deiner Wankelmütigkeit verderben. Trotzdem wünsche ich dir viel Erfolg und lebe deinen Spürsinn in vollen Zügen aus, sodass du dich auf meiner Hochzeit am Riemen reißen kannst. Aber denke auch daran, dass du Miceyla bei dir hast. Wehe ihr geschieht etwas, dann mache ich dir die Hölle heiß!“, rief John seinem Wohngenossen noch hinterher und bemühte sich darum, Miceyla ein Mut spendendes Lächeln zu schenken.

„Ts, ts, dieser alte Trottel. Kein Anstand so wie immer. Na, ich bin es ja von ihm nicht anders gewohnt. Hier, bitteschön. Ich habe euch einen Korb mit einigen Leckereien vorbereitet. Pass mir gut auf Sherlock auf… Doch gib noch viel mehr auf dich selber Acht. Ich bin bereits schon jetzt in Sorge um euch… Es ist nicht gerade ein beneidenswertes Talent, von der Gefahr magisch angezogen zu werden“, seufzte Emily kummervoll und drückte Miceyla einen randvoll gefüllten Korb in die Hand.

„Leider ist es unmöglich, der Gefahr ewig aus dem Weg zu gehen. Denn dann sucht sie einen irgendwann von alleine nachts im Schlaf heim. Manchmal braucht es Mut, um die Ungewissheit zu ergründen und seinem Ziel näher zu kommen. Eine Reise kann sehr lehrreich sein. Wer die Welt bereist, eignet sich schier unendliches Wissen an. Ein träumerischer Stubenhocker, wird niemals seinen Horizont richtig erweitern und seine Talente voll ausschöpfen können. Wenn ich wieder da bin, suchen wir uns für die Hochzeit schöne Kleider aus“, versprach Miceyla freundschaftlich und eilte zügig Sherlock hinterher, der bereits ihr Gepäck in die Kutsche getragen hatte, welche sie zum Bahnhof eskortieren sollte. Während der kurzen Kutschfahrt, war Sherlock jedoch plötzlich nicht mehr so gesprächsbereit, wie noch kurz zuvor und blieb ungewöhnlich still. Beim Bahnhof angelangt, konnten sie direkt in ihren Zug steigen, der zwanzig Minuten später abfahren würde. Die erste Etappe ihrer Reise stand nun unmittelbar bevor. Miceyla hatte mit Sherlock eine eigen Kabine für sich alleine, was ihr erlaubte, sich ungestört mit ihm zu unterhalten.

„Auf Johns Hochzeit erscheinst du also und bei meiner warst du dir zu fein dafür… Ich weiß schon, du triffst Entscheidungen stets nach Lust und Laune. Hast wohl Angst, deinen einzig wahren Freund zu verlieren“, begann Miceyla etwas aufmüpfig und versuchte erst gar nicht zu verbergen, wie beleidigt sie war. Sherlock, der gegenüber von ihr auf der Sitzbank saß, blickte sie zuerst ein wenig gleichgültig an, doch bereits nach kurzer Zeit musste er frech schmunzeln.

„Du hättest also gewollt, dass ich mich der schluchzenden Hochzeitsgesellschaft angeschlossen hätte und für John und Mrs Hudson zum feuchten Taschentuch geworden wäre? Und so ein Schreckenszenario soll ich mir gleich zwei Mal hintereinander antun? Und wer sagt das ich nicht dort gewesen bin? Vielleicht war ich einfach nur gut getarnt und der Priester selbst, welcher euch vermählt hat“, konterte er sarkastisch und schaffte es auf Anhieb, sie zum Lachen zu bringen.

„Ha, ha, ha! Und du glaubst allen Ernstes, William hätte keinen Wind davon bekommen und mir nichts gesagt? Scherzkeks! Aber sei‘s drum, wirklich verübeln kann ich es dir nicht. Denn ich verstehe dich besser, als du es möglicherweise zu vermuten wagst“, sprach sie und lächelte warmherzig. Sherlock wich kurz ebenfalls leicht lächelnd ihrem Blick aus, ehe er sie wieder gefasster ansah.

„Wem schreibst du einen höheren Stellenwert zu, der Liebe oder der Freundschaft!“, stellte er Miceyla dann eine ziemlich unerwartete Frage.

„Nun ja… Dies lässt sich nicht so leicht beantworten. Beides genießt besondere Vorzüge und eine unnachahmliche Resonanz. Doch ich finde, dass beide Komponente in engem Zusammenhang miteinander stehen. Nur kann Liebe weitaus mächtiger und unzerstörbarer sein. Wie zum Beispiel die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind oder Geschwisterliebe. Oder wenn zwei Herzen zueinander gefunden haben und beginnen im Gleichtackt zu schlagen. Mit einer einfachen Freundschaft kann die Liebe beginnen. Denn was geschieht, wenn Freundschaft zur Liebe wird…?“, beantwortete sie seine Frage mit einer Gegenfrage und versuchte ihre Meinung so ausführlich auszusprechen, wie es spontan für sie möglich war, wobei ihre Stimme immer leiser wurde. Genau in dem Moment, begann der Zug sich in Bewegung zu setzen und der Schaffner sorgte dafür, dass alle Türen geschlossen wurden.

„Dann…ist die Freundschaft schlicht und ergreifend gestorben…“, erwiderte er nach einer kurzen Minute des Schweigens und betrachtete melancholisch die winkende Menschenschar am Bahnsteig. Nun ließen sie Londons zentralen Bahnhof hinter sich und der Zug beschleunigte sein Tempo.

„So… Jetzt ist es aber allmählich an der Zeit für etwas mehr Klartext, was die ganze Geschichte mit der Reise betrifft. Findest du nicht auch? Ich würde nämlich den Sprung ins kalte Wasser, bequemer Weise gerne vermeiden. Gibt es überhaupt einen Fall, für den es sich lohnt nach Schottland zu reisen? Wie viel weißt du über jene `Bedrohung`? Welche Absichten

schweben dir dabei vor, mich aus der Stadt rauszuschleppen?“, bombardierte Miceyla ihn schonungslos mit einem Schwall an Fragen und bereitete sich mental darauf vor, endlich ein paar weiterführende Antworten zu erhalten. Sherlock schlug die Beine übereinander und zündete sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an.

„In diesem Zugabteil herrscht striktes Rauchverbot.“ Er ignorierte ihren zurechtweisenden Kommentar und begann nach einigen Zigarettenzügen, mit der Beantwortung ihrer Fragen.

„Der Fall existiert, ich habe ihn nur etwas abgewandelt. Es hat sich ein Mann nach Schottland zurückgezogen, der Anstelle von Harley Granville hätte Premierminister werden sollen. Die beiden waren hartnäckige Konkurrenten. Für mich war es nicht schwer herauszufinden, dass dieser Mann eine enge Verbindung zu unserem werten Freund Clayton Fairburn pflegt, um ihn mit allerlei Infos bezüglich Harley und der Regierung zu versorgen. Was Clayton vorhat, ist kein Geheimnis für mich. Sobald er auch nur den kleinsten Schwachpunkt gefunden hat, wird er zuschlagen und sich dafür jedes beliebige Mittel zunutze machen. Ich gehe stark davon aus, dass sich um Fairburn bereits ein ganzes Verbrechersyndikat versammelt hat, das einen folgeschweren Anschlag plant. Clayton jagt Verbrecher nicht nur und tötet sie, sondern schlägt ihnen einen nicht auszuschlagenden Handel vor. Na, geschockt? Die größte tickende Zeitbombe bleibt jedoch Harley. Im Grunde genommen bräuchte es für mich nicht erstrebenswert sein, dem Ganzen nachzueifern. Dennoch ist die ganze Geschichte, im Umkehrschluss dann doch nicht allzu uninteressant für meine Wenigkeit. Schließlich existieren da noch ein paar Aufmüpfige, die mich mehr oder minder zwanghaft mit involvieren Und was das alles so gefahrvoll für dich macht, ist das du zusammen mit Clayton in der Öffentlichkeit stehst. Du bist für kaum einen in London und schon gar nicht Harley, eine unbekannte Person mehr. Das sollte einleuchtend klingen. Nun darfst du dir gerne eigene, daraus resultierende Szenarien ausmalen“, erzählte Sherlock ihr geradewegs offen heraus was er wusste. `Für ihn ist es noch kein Fakt, dass ich die Frau des Meisterverbrechers bin. Daher erscheint es nur plausibel, meine Verbindung zu Clay als Gefahrenstufe anzusehen…`, dachte Miceyla und war ganz und gar nicht davon überrascht, wie weit Clayton gehen würde, um seinen Erzfeind Harley tot zu sehen.

„Soweit, so gut. Und was genau gedenkst du zu tun, wenn wir in Schottland sind? Was kannst du oder was können wir sinnvolles unternehmen? Willst du frontal mitmischen oder hinterrücks agieren, um eine Tragödie zu verhindern, die ganz England erschüttern würde?“, fragte sie ganz neutral nach und gab sich gefasst. Sherlock blickte abermals ruhigen Gemüts aus dem Fenster, des in hoher Geschwindigkeit fahrenden Zugs und zündete sich eine zweite Zigarette an.

„Ich werde nichts unternehmen. Zumindest plane ich keine weltbewegenden Vorhaben. Denn diese Arbeit wird der Meisterverbrecher für mich übernehmen. Ganz schlicht und simpel. Und mal schauen, an welchem Schnittpunkt wir uns über den Weg laufen werden.“ Miceyla verstand sehr gut, was er ihr mit seiner direkten Antwort zu sagen versuchte und erwiderte vorerst nichts darauf. Gedankenversunken sah sie hinaus, während der Zug sie immer weiter in den Norden brachte.
 

„Ha, ha! Seht euch das Mädel nur an! Glaubt allen Ernstes, eigenständig ein paar ausgehungerte Bettler beschützen zu können. Welch eine Närrin! Du darfst dich gerne zu ihnen gesellen und denen in den Tod folgen“, blaffte ein Mann höhnisch, der zusammen mit drei weiteren Männern, welche allesamt eine Soldatenuniform trugen, Amelia umstellt hatten. Diese verzog keine Miene und war ganz und gar nicht von dessen barschen Tonfall eingeschüchtert. Alle vier Männer richteten nun eine Pistole auf sie und machten sich bereit, das Schussfeuer zu eröffnen. Als die überheblichen Männer gleichzeitig abdrückten, wich Amelia bereits unmittelbar davor aus und entfernte sich aus der Mitte. Die Soldaten blickten verdutzt drein und ehe jene wussten wie ihnen geschah, befand sich Amelia hinter einem der Männer und rammte ihm ein frisch geschliffenes Messer in den Rücken. Keuchend sackte er nach vorne zu Boden und konnte gerade noch realisieren, dass er lebensbedrohlich verletzt worden war und in Kürze verbluten würde. Amelia hielt nicht einmal für einen Moment inne und begann die drei übriggebliebenen Soldaten zu attackieren, damit diese keine Gelegenheit bekamen, sie wieder in Beschuss zu nehmen Beinahe graziös wirbelte sie umher und streckte einen nach dem anderen binnen kürzester Zeit nieder und dies ausschließlich mithilfe ihres kurzen handlichen Dolches, dessen silberne Klinge nun blutgetränkt war. Sie tat einen langen ruhigen Atemzug und beobachtete für eine Weile wie in Trance, die am Boden liegenden, leblosen Männer.

„Deine Glückssträhne endet hier! Kannst froh sein, dass ich so gnädig bin und dich kurz und schmerzlos töten werde! Nimm das, als Vergeltung für meine Kameraden!“ Wachgerüttelt und voller Konzentration wirbelte Amelia herum. `Da ist noch einer von denen! Ich bin unaufmerksam geworden. Der Feigling hat sich einfach versteckt gehalten`, dachte sie geschockt und ehe sie reagieren konnte, schleuderte sie ein erbarmungsloser Tritt zu Boden. Mit schmerzverzehrtem Gesicht, betrachtete sie den vor Zorn rot angelaufenen Mann, wie er mit dem Finger auf dem Abzug, ein Gewehr auf sie richtete. Amelia erkannte, dass sie sich in einer ausweglosen Bredouille befand, aus der sie nur ein blankes Wunder hätte retten können. `Für einen Fehltritt muss man mit seinem Leben bezahlen… Ich war mir stets dieser Tatsache bewusst, aber was hat mich bloß so schwächeln lassen? Kämpfen wollte ich und stark sein…für Clay…` Im Glauben ihr letztes Stündlein hätte geschlagen, schloss sie die Augen und in ihren Vorstellungen erschien ein Abbild jenes Mannes, welchen sie abgöttisch liebte. Doch anstatt eines schallenden Schusses, der sie in den ewigen Schlaf befördern würde, ertönte plötzlich ein qualvoller Schrei und warme Bluttropfen spritzten ihr in das Gesicht. Ruckartig riss Amelia die Augen wieder auf und blickte von ihrem nun toten Widersacher, zu einem jungen schwarzhaarigen Mann, der wie aus dem Nichts erschienen war und wie sie mit einem glänzenden Messer bewaffnet war. Unwissend ob es sich bei ihrem Lebensretter um einen Freund oder Feind handelte, funkelte sie ihn misstrauisch an.

„Geht es dir gut? Zwar finde ich es sehr tapfer, dich alleine einer ganzen garstigen Meute zu stellen, doch ist dies etwas unverantwortlich von deinem Auftraggeber.“ Seine friedvollen Worte ließen Amelia vollkommen kalt und sie dachte überhaupt nicht daran, ihrem Retter, der scheinbar im selben Tätigkeitsgebiet zu arbeiten schien wie sie, zu danken. Stattdessen sprang sie blitzschnell auf und stürmte mit ihrem blutverschmierten Messer auf den Unbekannten zu. Nicht verwundert von ihrer Reaktion, parierte er gekonnt ihre Messerhiebe, welche eine nicht zu verkennende Durchschlagskraft besaßen. Eine Weile kämpften sie beide auf Augenhöhe miteinander, aber Amelias Kraftreserven waren beinahe aufgebraucht.

„Es gibt keinen Grund, dass wir einander bekämpfen. Ich kenne dich, du bist Amelia. Mein Name ist Fred, ich bin ein Freund von Miceyla“, bemühte Fred sich, sie schonend zu besänftigen, während er sich weiterhin mit ihr ein hitziges Gefecht lieferte. Doch alsbald sie den Namen Miceyla hörte, hielt sie abrupt inne und senkte ihre Waffe.

„Dann…dann gehörst du also zu der Gruppe, welche sich um den Meisterverbrecher versammelt hat… Er scheint wahrlich nur Mitstreiter mit den feinsten Fähigkeiten auszuwählen. Du bist talentierter, als so manch ein Elitesoldat und sogar als die meisten geübten Attentäter, denen ich bisher begegnet bin“, sprach sie anerkennend und ihr rasender Atem kam allmählich wieder zur Ruhe.

„Das kann ich nur zurückgeben. Clayton muss dich bestimmt monatelang hart trainiert haben. Wir kennen somit beide die Schattenseite des Lebens. In dieser Hinsicht sind wir uns recht ähnlich. Du wurdest ebenfalls damit beauftragt, die Lage in Schottland im Auge zu behalten, stimmts? Und dabei bist du einigen von Harleys Soldaten über den Weg gelaufen, die ihr Amt missbraucht und ihren eigenen Kopf durchgesetzt haben. Zum Glück bin ich gerade in der Näher gewesen. Wir verfolgen dasselbe Ziel, daher sollten wir einander nicht als Feind betrachten. Auch wenn unsere Auftraggeber zum Teil grundverschieden sind…“, erzählte Fred freundlich und war erleichtert, jemanden gerettet zu haben, der denselben steinigen Lebensweg wie er bestritt und noch dazu in seinem Alter war. Jedoch sprang bei Amelia der Funke für eine friedvolle Übereinkunft nicht über und sie wahrte weiterhin mit ernster Miene eine sichere Distanz.

„Mich und Miceyla verbindet ein besonderes Band. Das heißt aber nicht, das ich einer gegnerischen Verbrecherbande vertraue oder diese gar um Unterstützung bitte. Wir wandeln in zwei unterschiedlichen Welten. Es ist uns nicht vorherbestimmt, willkürlich Entscheidungen zu treffen, ohne das sie von unseren Auftraggebern abgesegnet werden. Mein Leben gehört Clayton, ich würde sterben für ihn“, sprach Amelia standhaft mit felsenfester Stimme. Für einen kurzen Augenblick sah Fred sie mit trister Miene an. Doch er wusste, dass seine Einstellung William gegenüber dieselbe war.

„Das verstehe ich und werde dir nicht länger im Weg stehen. Weder jetzt, noch bei deinem Auftrag in Schottland. Nur…was wenn Miceyla von deiner waren Tätigkeit erfährt? Du kannst es ihr nicht ewig verschweigen. Sie wird furchtbar erschüttert sein, dass ihre einst so unschuldige Freundin, sich dem Töten gewidmet hat…“, sprach er noch vorsichtig jene unangenehme Tatsache an, während Amelia bereits den Weg zum Ausgang der Residenz einschlug, in der die Soldaten herumlungerten, welche unschuldige Bürger gefangen gehalten hatten.

„Nein, sie wird nicht erschüttert sein. Denn sie ist doch längst von Mördern wie mir tagtäglich umgeben. Und ihr tragt Mitschuld daran, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis auch sie sich die Hände schmutzig macht. Dafür hasse und verachte ich euch alle. Doch auch ich bin schon lange nicht mehr mit mir selbst im Reinen…“, erwiderte Amelia noch abschließend, wobei ihre Stimme immer mehr zu einem Flüstern wurde. Fred rührte sich vorerst nicht von der Stelle und blickte ihr eine Weile etwas schwermütig nach. `Eines Tages, wünsche ich mir dich von Herzen lachen zu sehen. Glücklich und unbefangen, in der neuen Welt, die William erschaffen wird…` Mit diesem letzten stillen Zukunftswunsch, verließ er nun ebenfalls den makabren Schauplatz und brach selbst zu seinem Zielort auf.
 

„Willkommen in Schottland.“ Nach einer mehrstündigen Zugfahrt, erreichte Miceyla mit

Sherlock jenes verwegene und unabhängige Land, wobei er mit nach beiden Seiten ausgestreckten Armen vorauslief. Sie spürte schon beim verlassen des Zuges, dass sie eine besondere Atmosphäre umgab und glaubte beinahe sich am anderen Ende der Welt zu befinden, dabei grenzte ihre Heimat unmittelbar an Schottland. Sie befanden sich nun an einem beschaulichen Bahnhof und hatten noch eine etwas längere Kutschfahrt vor sich, ehe sie in Greenock ankämen. Wo Sherlock sich mit ihr einquartieren wollte. Hatte die zähe Zugfahrt sie auch ein wenig schläfrig gemacht, so war sie nun wieder hellwach und ihr Entdeckerdrang war geweckt. Es befanden sich auf beiden Seiten eines Fußgängerwegs mehrere Verkaufsstände, während die zwei durch das kleine Bahnhofsviertel liefen. Überall war ein frohes Lachen zu hören und die Leute plauderten nach Herzenslust miteinander. Man sah kaum Personen in hochwertigen Adelstrachten, denn die meisten trugen bequeme und traditionelle Kleidung. Miceyla sah man ihre Herkunft sogleich an. Dennoch blieben zu ihrer Überraschung die musternden Blicke aus. Scheinbar wurde niemand differenzierter behandelt, ungeachtet des eigenen Standes. Zumindest war es das, wie es auf den ersten Blick nach außen hin wirkte. Stille Machtkämpfe existierten sicherlich allerorts…

„Lass dir bloß nichts andrehen. Die sind hier Meister darin. Da kannst selbst du dich nicht so leicht herausreden“, warnte Sherlock sie mit frechem Grinsen und wartete nur belustigt darauf, bis sie in ein vereinnahmendes Verkaufsgespräch verwickelt wurde. Doch ehe es dazu kam, hatten sie beide auch schon die kleine Ortschaft durchquert und gelangten an eine häuserlose Landschaft, an dessen Horizont allmählich die Sonne herabsank und mit ihren goldroten Strahlen, den letzten Abschiedsgruß des Tages ankündete. Fasziniert von jenem Anblick, der ihr in der Großstadt verwehrt blieb, stellte sie ihr Gepäck ab und lief einige Schritte auf die unendlich wirkende Wiesenlandschaft hinaus, auf der frischer Lavendel blühte und unzählige Mohnblumen im erfrischenden Abendwind tanzten. Miceyla genoss die letzten wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und atmete die reine Luft ein.

„Ein malerischer Anblick, nicht wahr? Die Menschen aus der Stadt sollten viel öfter die Gelegenheit nutzen, um an solch einem naturbelassenen Ort zu reisen. Denn bei den ganzen verkrampften Schnöseln, sind durch die verpestete Luft, längst die letzten funktionierenden Hirnzellen verkümmert. Der Fortschritt richtet die Menschheit selbst zu Grunde und macht sie blind für die wahre Schönheit dieser Welt. Tja, es ist nun mal gang und gäbe, dass die Menschen ihren selbstsüchtigen Gelüsten nachhetzen. Wenigstens gibt es noch eine Handvoll Übriggebliebener, die Verstand besitzen…“, sprach Sherlock träumerisch und war ebenfalls von der märchenhaften Landschaft angetan.

„Da ist er wieder, mein unangefochtener Poet…“, meinte sie lächelnd und ihre Blicke trafen sich dabei. In dem Moment stellte sie sich vor, was es wohl für ein Gefühl sein mochte, wenn an seiner Stelle gerade William neben ihr stehen würde.

„Verzeih, dass ich nicht für die romantische Begleitung sorgen kann“, fasste er ihre Gedanken in Worte zusammen und machte kehrt, zu ihrer eingetroffenen Kutsche. `Jedenfalls sind beide gleichermaßen dazu befähigt, zu verstehen was in mir vorgeht…`, dachte Miceyla noch mit einem flüchtigen Blick auf den leuchtenden Horizont, ehe sie ihrem Reisegefährten folgte.

„Und, ist das Zimmer der vornehmen Lady genehm? Du hast ja darauf bestanden, dass du auf jeglichen Luxus verzichten möchtest, um dich dem freien schottischen Lebensstil anzupassen“, erkundigte Sherlock sich heiter, als sie sich beide in ihrer familiären Gaststätte niedergelassen hatten, in der sie nun für unbestimmte Zeit hausen würden.

„Ja, sehr sogar! Das hier ist wirklich eine niedliche kleine Raststätte und die Hausmutter, welche mich herumgeführt hat, ist unbeschreiblich führsorglich. Hier werde ich garantiert nicht so schnell Heimweh bekommen“, verkündete Miceyla und lächelte zufrieden.

„Das höre ich doch gern. Und wie siehts aus, bist du von der langen Fahrt zu sehr erschöpft und willst dich gleich aufs Ohr hauen oder bist du noch wach genug, um mit mir im beliebtesten Pub der Stadt auf Informationsjagd zu gehen?“ Miceyla wusste auf Anhieb, was er damit meinte und zeigte ein keckes Grinsen.

„Mit anderen Worten, du willst zur Feier des Tages einen heben gehen. Wo denkst du hin, bin natürlich dabei. Das hier wird schließlich kein Urlaub und ich mag etwas von Land und Leute sehen. Zudem haben wir in gewisser Weise eine Mission zu erfüllen. Also, ab geht’s!“ Da die beiden rasch zu einer Übereinkunft kamen, verließen sie gut gelaunt und motiviert zugleich das Gasthaus. Zwar war es mittlerweile später Abend, dennoch sah es überhaupt nicht danach aus, als würde sich die Stadt Greenock schlafen legen. Im Gegenteil, es herrschte reges Treiben auf den Straßen und in den Gassen, in welchen sich eine Schenke nach der nächsten befand. Die Menschen feierten, tanzten und sangen. Bei der ausgelassenen Stimmung, hatte man kaum eine Chance, nicht mitgerissen zu werden.

Auf den Dächern eines der Häuser befand sich ein Mann, dessen dunkler Umhang Gesicht und Körper beinahe unsichtbar machte. Weder Miceyla noch Sherlock hatten die leiseste Ahnung, dass sie mit Adleraugen beobachtet wurden..

„Da wären wir. Dies ist noch ein recht anständiger Schuppen. Hier musst du keine schleimige Anmache fürchten. Denn hier ist der Einlass für Frauen, nur mit männlicher Begleitung gestattet“, verriet Sherlock und ließ ihr den Vortritt. Miceyla bestaunte den herausstechenden, extravagant dekorierten Eingang des Pubs mit dem Namen: `Höhle der Mondlicht-Kriegsherren` und dachte sich dabei, dass sie sich mit Sherlock an ihrer Seite, überall auf der Welt zurechtfinden würde. Zusammen betraten sie nun das Pub und das Schicksal sollte nun seinen unliebsamen Lauf nehmen... Innen war es sehr geräumig und die Einrichtung verlieh der Schenke den mittelalterlichen Flair einer alten Ritterburg. Man glaubte sogar beim Betreten eine Zeitreise gemacht zu haben. Trotz der ausgelassenen Heiterkeit, herrschte weitgehens ein gesitteter Anstand. `Anscheinend kennen die Schotten noch gutes Benehmen und können sich im Gegensatz zu den Engländern in der Großstadt etwas zurückhalten, ha, ha`, dachte Miceyla belustigt und setzte sich mit Sherlock an einen eigenen freien Tisch, von dem man eine hervorragende Sicht auf die Bühne hatte, auf der flotte Volksmusik gespielt wurde.

„Ach je… Eigentlich müssten sich bei mir jetzt eine menge vertrauter Gefühle breit machen, die mich entspannen und meinen Geist befreien. Dem ist jedoch leider ganz und gar nicht so… Etwas ist hier faul und stinkt zum Himmel. Mia, ich hoffe du bist bewaffnet, denn uns könnte noch heute Nacht ein böser Schlag erwischen…“, sprach Sherlock mit gedämpfter Stimme und schien seine Umgebung mit einer Art dritten Auge auszukundschaften. Miceyla war sofort angespannt und in Alarmbereitschaft, Denn wenn er plötzlich solch ernste Andeutungen machte, konnte sie sich auf das Schlimmste gefasst machen.

„Sagt dir das deine Intuition? Ich gestehe, dass ich bislang nichts Ungewöhnliches habe feststellen können. Vielleicht liegt das an der Reizüberflutung eines mir unbekannten Ortes… Aber ich vertraue dir und lasse mich nicht mehr so leicht von drohender Gefahr und spontanen Situationswechsel abschrecken. Mein Handeln wird stets wohlüberlegt sein, darum bemühe ich mich.“ Sie brauchte dies ihm zwar eigentlich nicht direkt zu sagen, aber ihre Worte dienten mehr dazu, sich selbst Mut zuzusprechen. Auf einmal begann einer der Gäste laut zu singen. Anfangs war es noch ein einfaches Summen, bis daraus nach und nach ein richtiger Gesang wurde. Merkwürdig war auch, dass nun die restlichen Besucher still wurden und ihm lauschten. Nur die Musiker spielten weiter. Da schloss sich noch jemand dem Sänger an und sang lauthals mit. Und dabei blieb es nicht. Immer mehr sangen mit, bis alle Anwesenden des Pubs ein und dasselbe Lied sangen, die Bedienung miteingeschlossen.

„`Das Schicksal von uns allen liegt tief in der Dunkelheit. Alleine wandere ich durch die dunkle Nacht, bis er kommt, der Erlöser. Alleine ziehe ich durchs Land, keiner ist an meiner Seite. Wo bleibst du nur, elender Feigling? Jetzt heißt es du oder ich. Wenn kein Stern mehr am Himmel zu sehen ist, steht die Zeit still, in den eisernen Highlands. Lobt ihn, unseren Retter, unseren König!“ Miceyla bekam bei dem verschwörerischen Gesang eine Gänsehaut. Sherlock und sie waren die Einzigen, welche nicht mitsangen und wie versteinert auf ihren Plätzen saßen. Als das Lied noch einmal wiederholt wurde, begannen alle noch zusätzlich laut auf die Tische zu trommeln. Ihr stockte kurz der Atem, als jemand energisch die Tür der Bar aufstieß und gemächlich hereinschritt. Die Person war finster gekleidet und trug einen über den Boden schleifenden Umhang, dessen untere Stofffetzen in einer seltsamen Farbe beschmutzt worden waren, von der man nicht genau sagen konnte, ob es sich dabei um Lehm oder Blut handelte… Man hatte den Eindruck, ein waschechtes Phantom hätte das Pub betreten und war drauf und dran Unheil zu verbreiten. Der verdächtig aussehende Mann, preschte unangekündigt auf jene Person zu, welche zuallererst das Lied angestimmt hatte. Unmittelbar vor ihr stehend, zückte er einen mit spitzen Zacken bestückten Säbel und trennte kaltblütig den Kopf des Mannes ab. Mit einem Schlag verstummte der Gesang. Allerdings kam es zu keinerlei Panikausbrüchen oder Gekreische, wie es natürlicher Weise hätte sein müssen. Es bedurfte keines ausgeklügelten Verstandes um zu begreifen, dass dies Werk eines inszenierten Schauaktes war und Miceyla und Sherlock befanden sich als ahnungslose Opfer mittendrin. Ihr wurde furchtbar übel bei dem grausamen Anblick, der sich vor ihr erbot. Nie im Leben hätte sie damit gerechnet, dass sich gleich am ersten Abend ihrer Ankunft, eine solch schauderhafte Tat zutragen würde. Aufgrund dieser Tatsache, war sie vorerst nicht imstande, einen klaren Gedanken fassen zu können. All ihre Hoffnungen und ihr Vertrauen lagen nun auf Sherlock, welcher längst von seinem Platz aufgesprungen war und in einer angespannten Angriffsposition, seine Pistole auf den Mörder richtete.

„Sherlock Holmes, ich grüße Sie! Darf ich Sie und Ihre bezaubernde Begleiterin willkommen heißen, in der Hölle… Und lassen Sie mich Ihre Zukunft voraussagen, Sie und die Moriarty-Lady, dürfen sich heute Nacht Lebewohl sagen. Da staunen Sie was, gut geschlussfolgert von mir. Denn Sie wissen selbst, dass Sie dieses Duell nicht von jetzt auf gleich gewinnen können…“ Nach dessen eintrichternden Worten, marschierte der mysteriöse Mann beharrlich auf Miceyla und Sherlock zu. Schützend stellte er sich vor sie und drückte reflexartig ab. Die Kugel traf den Mann zwar mitten auf der Brust, aber er bewegte sich weiter, als hätte ihn nicht mal eine Feder gestreift.

„Ich hab’s ja gewusst!“, zischte Sherlock wütend und schnalzte verärgert mit der Zunge. Da er sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hatte auszuweichen, musste er kugelsichere Kleidung tragen. Die wohl einzige Option wäre gewesen, direkt auf seinen Kopf zu zielen…

„Triff mich am brennenden Hügel…“ Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken, als sie begriff, dass seine Worte an sie gerichtet waren. Kurz darauf flitzte er flink wie ein Reh hinaus und kümmerte sich nicht weiter um das blutige Massaker, das er veranstaltet hatte.

„Halt! So einfach kommst du uns nicht davon!“, rief Miceyla ihm zornig und erschüttert zugleich hinterher und nahm Hals über Kopf wagemutig dessen Verfolgung auf.

„Mia! Bist du des Wahnsinns?! Spiel diesem Psychopaten nicht in die Hände! Du tust gerade genau das was er will! Einst…hättest du nicht so unüberlegt gehandelt“, schrie Sherlock zurechtweisend und der Schock übermannte nun auch ihn. Gerade als er seiner Gefährtin folgen wollte, versperrten alle der sich im Pub befindlichen Gäste den Ausgang und erreichten das Ziel ihres trügerischen Plans. Nämlich die beiden voneinander zu trennen…

„Zur Hölle mit euch Heuchlern! Lasst mich durch! Oder ich demonstriere euch, was es bedeutet schottisches Blut in sich zu tragen…“

`Vergib mir, Sherly… Aber es ist besser so. Diese Leute sind hinter mir her. Wenn du ständig wegen mir in zusätzliche Gefahr gerätst, werden auch dir Fesseln angelegt. London braucht dich, das ganze Land braucht deine gerissene Kombinationsgabe. Und ich genauso…` Während sie volles Vertrauen darin legte, dass ihr guter Freund alleine mit der Meute in der Bar fertig werden würde, sammelte sie all ihren Mut zusammen, um der wahren Bedrohung mitten ins Auge zu sehen. Denn vom Davonlaufen hatte sie auf Dauer nicht viel, außer ein schlechtes Gewissen. `Mist, ich habe seine Spur verloren! Er will sich mit mir am brennende Hügel treffen, aber wo genau soll das sein…?` Völlig außer Atem drosselte Miceyla ihr Tempo und wagte sich langsam aus dem lebhaften Zentrum von Greenock heraus und betrat verlassenere Gefilde. `Nun finde ich es gar nicht mehr so verrückt von mir, dass ich den Degen mitgenommen habe`, dachte sie mit etwas Erleichterung und holte Williams majestätische Waffe, unter ihrem zweilagigen Kleid hervor. Mittlerweile wanderte sie ziellos durch den äußeren Rand der Stadt und kämpfte sich durch hohes Gestrüpp. Die beschützenden Lichter der Straßenlaternen, waren hinter ihr bloß noch als kleine Punkte zu erkennen. In vollkommener Dunkelheit stapfte Miceyla einen hohen Wiesenhang empor und hoffte dabei, auf ein weiterhelfendes Zeichen ihres sonst so treuen Instinktes. Oberhalb angelangt machte sie kurz Rast, um ihren momentanen Standpunkt auskundschaften zu können. Mit pochendem Herzen erschrak Miceyla, als sie auf einem breiten, vor ihr emporragenden Hügel, grelles Licht aufflackern sah. In einem großen Kreis hatte man dort hohe Fackeln aufstellen lassen, die sich alle in demselben Abstand voneinander befanden. Es sah tatsächlich so danach aus, als würde die Spitze des Hügels in Flammen stehen. Sie hatte somit jenen Treffpunkt erreicht… Nun gab es kein Zurück mehr. Doch was nützte ihr das ganze aufwendige Training, wenn sie immer jeder echten Konfrontation aus dem Weg ging. Dennoch wurde sie beinahe von der Angst innerlich zerfressen. Es war, als stünde ihr eine leibhaftige Begegnung mit dem grausamen Tod unmittelbar bevor. Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als all ihren Mut zusammen zu nehmen. Denn Zittern oder Zögern könnte ihr das Leben kosten. Nun hatte Miceyla den eindrucksvollen Hügel erklommen und schritt wachsamer denn je in die Mitte des Flammenkreises. Obwohl es hell genug war, um ihre Umgebung gut sehen zu können, konnte sie ihren Widersacher nirgends ausfindig machen.

„Wer hätte gedacht, dass wir uns mal so weit außerhalb von London treffen würden, Amethesya… Gefällt es dir, wie er dich immer nennt?“ Miceyla erschauderte und meinte einen Herzstillstand zu bekommen, als sie plötzlich eine Stimme hinter sich vernahm. Ihren Degen fest umklammert, wirbelte sie herum und blickte den vermeintlich unbekannten Mann an. Endlich hatte er nun seine Kapuze heruntergezogen und sein Gesicht zur Schau gestellt. Da war ihr plötzlich die Person gar nicht mehr so unbekannt…

„Sag mir das es nur Einbildung ist…?! Du bist nicht wirklich Yarik von der Theatergruppe. Wir…wir sind Kollegen, haben auf derselben Bühne gearbeitet und du genießt Claytons Vertrauen. Also was zur Hölle tust du hier gerade? Es gibt kaum eine größere Sünde als Verrat…“, blaffte Miceyla entsetzt und musste hinnehmen, dass sie mit ihrem eigenen Vertrauen gegenüber anderen, noch viel sensibler umgehen musste.

„Aber gewiss doch! Clayton selbst vertraute mir die ehrenvolle Aufgabe an, nach Schottland zu reisen und für ein Zerwürfnis zwischen dir und dem Detektiven zu sorgen. Und ist mir dies nicht schon meisterlich gelungen?“, konterte Yarik vergnügt und schwang seinen furchteinflößenden Säbel dabei unterstreichend durch die Luft.

„Du bist ein grottenschlechter Lügner und wenn ich das noch hinzufügen darf, ein mieser Schauspieler obendrauf. Mit Waffen umgehen, das kannst du. Daran merkt man, dass du dich einen ehemaligen Soldaten nennen darfst. Und wohin soll dein unsinniger kleiner Ausraster jetzt führen? Entweder erlaubst du dir eine peinliche Dummheit oder ein weiterer Drahtzieher hat deine Naivität für sich gewonnen. Ich will jenen Namen allerdings nicht aussprechen… Das wäre meine einzige logische Erklärung, für den sich hier gerade abspielenden Schabernack“, durchschaute sie Yarik und konnte nun, da sie ihren Angreifer persönlich kannte, die Lage ein wenig besser abschätzen. Anstatt Miceyla eine vorlaute Antwort zu geben, stellte er sich in einer bedrohlich wirkenden Angriffsposition ihr gegenüber. `Diese Entwicklung gefällt mir ganz und gar nicht… Wenn ich tatsächlich gegen einen kampferprobten Söldner kämpfen muss, stecke ich gewaltig in der Klemme…`, dachte sie und versuchte ihren drohenden Anflug von Panik krampfhaft zu unterdrücken. Be jeglichen Fluchtversuchen, würde sie ebenfalls den Kürzeren ziehen.

„Was stehst du da wie angewurzelt rum? Komm und kämpfe! Oder trägst du diesen jämmerlichen Zahnstocher nur zur Schau“, blaffte Yarik herausfordernd und da sie sich von ihm nicht provozieren ließ, preschte er selbst nun ungeduldig vor. Sein erster Säbelhieb hatte eine solche Wucht, dass sie ein ganzes Stück zurücktaumelte. Obwohl sie dessen Schlag parieren konnte, erleichterte sie dies nur spärlich. Yarik schlug mit seinem Säbel pausenlos auf ihre rechte und linke Flanke ein und wartete nur darauf, dass sie sich eine Blöße gab. Das sie mit ihrem Degen ganz klar im Nachteil war, sollte wohl ihre drohende Niederlage einläuten. Dennoch war sie hochkonzentriert und versuchte sich so gut wie es nur ging, in dem Kampf zwischen Kraft und Präzession zu schlagen. Auch als er es schaffte ihr einen Kratzer seitlich an ihrer Hüfte zu verpassen, blieb sie standhaft und wurde davon überzeugt, wie ernst es Yarik war. Hierbei handelte es sich um kein leichtes Übungsgefecht zur Bespaßung. Nein, er wollte sie wahrhaftig töten… Daher fokussierte sie sich nicht ausschließlich auf ihre Verteidigung, sondern suchte hartnäckig nach einer Chance, ihn direkt anzugreifen. Jedoch gab Yarik sich keinerlei Blöße und kämpfte so leichtfüßig, als hätte er in seinem Leben bisher nie etwas anderes gemacht. Miceyla hingegen kam langsam an ihre Grenzen, was ihre derzeitigen Fechtkünste betraf. Allerdings musste man trotz allem zugeben, dass sie sich gegen den erfahrenen Soldaten wacker schlug. Aufgrund der Eintönigkeit des Kampfes, seufzte Yarik laut und verpasste ihr einen unbarmherzigen Schlag mit der stumpfen Seite des Säbels, mitten in ihren Magen. Keuchend sackte sie auf die Knie und hustete schwer.

„Es langweilt mich, gegen ein Weichei wie dich zu kämpfen. Da ist eine Rauferei in der Bar wesentlich unterhaltsamer. `Töte, wenn du überleben willst. Waffen sind zum töten da. Kannst du dich selbst nicht ordentlich verteidigen, kannst du auch nicht das Land und deine Kameraden beschützen.` Diesen simplen Leitsatz lernt bereits jeder Rekrut. Also los, eine Chance gebe ich dir noch, Moriarty-Mädchen. Danach werde ich dich in deine ewige Nachtruhe schicken…“, verkündete Yarik selbstüberzeugt und wartete darauf, dass Miceyla sich wieder angriffsbereit machte. Leicht benommen erhob sie sich und betrachtete ihn mit einem müden und argwöhnischen Blick. Als Antwort auf seine Drohung, richtete sie erneut ihren Degen auf ihn und lockerte kurz ihre verkrampften und verschwitzten Hände. Zufrieden lächelte er auf einmal. Beinahe sanftmütig, was sie eigentlich hätte verwirren sollen, wäre sie nicht ohnehin zu durcheinander gewesen. Für einen flüchtigen Moment hatte sie den Eindruck, die Zeit wäre eingefroren und zum Stillstand gekommen. Ein letztes Mal sollten ihre beiden Klingen aufeinanderstoßen und der Ausgang ihres unausgeglichenen Gefechts würde entschieden werden. Miceyla verschwendete keinen Gedanken für ein überflüssiges Glücksgebet. Siegen und überleben, an nichts brauchte sie im Augenblick zu denken. All ihre Kraft in den finalen Angriff legend, preschte nun sie zu allererst vor und erachtete es als logisch, dass er ihre Attacke wieder mit dem Säbel parieren würde. Doch die Begebenheiten machten eine drastische Kehrtwende. Es geschah alles so schnell, dass sie den Lauf der brutalen Realität kaum mitverfolgen konnte und allmählich der finsteren Vorstellung näher kam, ihren düstersten Alptraum betreten zu haben… Yarik machte wie immer Anstalten, ihre Attacke abzublocken. Jedoch diente seine Haltung nur zur Täuschung, denn kurz bevor sie ihn erreichte, zog er seine Waffe weg und entblößte sich somit. Schutzlos und ohne Verteidigung bot er sich ihr dar und ohne die kugelsichere Kleidung, welche er für ihr Duell abgelegt hatte. Da Miceyla die Energie und den Elan ihres entschlossenen Angriffs nicht mehr bremsen konnte, rammte sie ihren Degen geradewegs in seine Brust und die geschärfte Klinge bohrte sich tödlich tief in sein Fleisch. Erstarrt, verängstigt und vollkommen ratlos, wagte sie noch nicht einmal ihre Hand von dem Degen abzulassen.

„W-wieso… I-ich verstehe das nicht… Du hast dich gerade freiwillig geopfert… Für wen, für was? Ich begreife das alles nicht mehr…“, stotterte Miceyla verzweifelt und brachte es nun doch über sich, den Degen wieder aus seiner Brust herauszuziehen. Yarik verzog kurz krampfartig das Gesicht und unterdrückte mit einer Hand auf seiner blutig triefenden Wunde einen Schmerzensschrei.

„I-ich bin…wohl doch kein so schlechter Schauspieler, was? Sag schon…fühlt es sich gut an…das Töten…? Ein Kampf ohne Opfer…ist eine Illusion… Lang…lang lebe unser König…“ Mit diesen letzten schwerfälligen Worten, sackte Yarik mit einem Lächeln auf den Lippen zu Boden und war auf der Stelle tot… Es gab ihn, den Klang der Stille. Sie vergriff sich an den allgegenwärtigen Tönen des Lebens. Kein Atemzug war dabei mehr zu hören, geschweige denn das Pochen eines flehenden Herzens. Die unumkehrbare Stille durchbrach den Fluss der Zeit und verharrte in einer Gegenwart, die es weder erlaubte in die Vergangenheit, noch in die Zukunft zu blicken. Auf jedem Schlachtfeld kehrte früher oder später Frieden ein. Spätestens dann, wenn der Tod die brüllenden Kriegsschreie verstummen ließ. Plötzlich schwindet er dahin, der Sinn der Gerechtigkeit. Wille und Reue streiten sich um die Vorherrschaft. Das einzige was am Ende eines jeden verzweifelten Gefechts übrig blieb, war ein lebloses Herz. Keine Eile oder Warten würde es mehr zum Schlagen bringen…

„Ich…ich habe einen Menschen getötet…“ Noch immer wie gelähmt, wagte Miceyla nicht darüber zu urteilen, ob sie den Kampf nun gewonnen oder verloren hatte. Sie wusste nicht, ob sie einfach zurückgehen und nach Sherlock suchen sollte. Denn weiterhin an Ort und Stelle neben Yariks Leiche zu verharren, war auch keine Lösung. Jedoch wurde ihr die Zeit für eine Entscheidung jäh genommen…

„Da ist sie! Schnappt sie euch!“

„Seht euch das an! Sie hat ihn brutal ermordet!“

„Fesselt sie!“ Kraftlos und mit einem gebrochenem Willen, wehrte sie sich nicht, als eine Handvoll bewaffneter Männer den Hügel hinaufstürmten, ihr gewaltsam den Degen entriss und ihr stramm an dem Rücken die Handgelenke fesselte. Gleichgültig darüber, was diese zwielichtigen Männer mit ihr vorhatten und wohin sie sie verschleppen wollten, ließ es einfach geschehen. Es war die Strafe, für ihre eigene Dummheit. `Ich hätte Sherlock nicht von der Seite weichen sollen… Nein…ich hätte niemals Williams Seite verlassen dürfen… Wie töricht von mir, mich aus lauter Übermut, einer solch ausartenden Gefahr zu stellen… Niemand…ausnahmslos niemand wird mich hier am Ende der Welt retten kommen…` Im Geiste hatte sie bereits aufgegeben und dennoch war Miceyla immer noch stur genug, sodass sie sich nicht von dem letzten, irgendwo in weiter Ferne liegenden Funken Hoffnung trennen konnte…

`Ihr bringt Miceyla nirgendwo hin! Nicht wenn ich es vorher verhindern kann!` In sicherer Entfernung befand sich Fred, der zu seinem eigenen Bedauern zu spät eingetroffen war, um rechtzeitig dazwischen gehen zu können.

„Das würde ich mir an deiner Stelle lieber zwei Mal überlegen. Ein toter Schutzengel nützt Miceyla recht wenig. Diese Männer gehören nicht nur einer der erfahrensten Kampftruppen an, sondern mussten zusätzlich ein spezielles Trainingsprogramm durchlaufen, um als Attentäter eingesetzt werden zu können. Sogar Clayton ist daran gescheitert, diese fähigen Leute für sich zu gewinnen und hatte daher im Sinn gehabt, alle von ihnen zu eliminieren. Das unser Kamerad Yarik sich aber ebenfalls als Übeltäter entpuppt, ist auch für mich ein Schock… Ich vermute allerdings, dass er gar nichts mit diesen Männern zu schaffen hat und einem anderen Meuchelmörder seine Dienste dargeboten hat…“, erläuterte Amelia beklommen, die sich unauffällig zu Fred gesellte und selbst von der puren Verzweiflung gepackt wurde, dass sie ihrer Freundin in Not nicht unüberlegt helfen konnte. Freds Blick ruhte weiterhin auf Miceyla und er kämpfte gegen die düsteren Vorstellungen an, was die gesetzlosen Männer wohl mit ihr vorhaben mochten.

„Leider hast du recht. Nicht einmal zu zweit hätten wir eine Chance, ohne Verluste einstecken zu müssen… Möglicherweise…wenn Sherlock Holmes hier wäre…“, erkannte Fred missmutig die Ausweglosigkeit ihrer Lage.

„Na dann renn doch los und hol ihn! Ach ja, geht wohl schlecht… Du würdest auffliegen und ihm das fehlende Puzzleteil, bei seiner Verfolgung des Meisterverbrechers, auf einem Silbertablett servieren“, blaffte Amelia vorlaut. Als sie jedoch seine trüb glänzenden Augen sah, bereute sie ihre scharfen Worte direkt.

„Verzeih… Das ist ein äußerst unpassender Zeitpunkt zum streiten… Ich werde Clayton ein Telegramm zukommen lassen. Sicherheitshalber werde ich aber zurückkehren und ihn persönlich von den jüngsten Geschehnissen in Kenntnis setzen. Meinetwegen auch euren Lord Moriarty. Denn einer von uns muss hier vor Ort bleiben und mitverfolgen, wohin Miceyla verschleppt wird“ begann Amelia hastig mit einem groben Plan. Erst jetzt blickte Fred ihr unvermittelt in das Gesicht, doch er sah alles andere als zufrieden aus.

„Ein ziemlich unglaubwürdiger Stimmungswechsel… Erst bringst du mir deine komplette Feindseligkeit entgegen und jetzt redest du auf einmal von einer Zusammenarbeit. Du würdest niemals William von dir aus warnen. Viel eher alles daransetzen, dass er schlechte Karten zum Handeln hat. Ich frage dich ganz ehrlich: Willst du Miceyla lebend befreien oder ihre Leiche fern von der eigenen Heimat hier begraben?“ Freds Klarstellung zerschmetterte ihr Herz. Er scheute sich nicht davor, die Wahrheit ungefiltert auszusprechen. Was nur dafür sorgte, dass Amelia sich noch mehr hin- und hergerissen fühlte.

„Wir retten Miceyla…und zwar lebend… Gemeinsam, aber nur vorübergehend, damit das klar ist. Sie ist sehr weise und weiß, wie sie sich in Gefangenschaft verhalten muss. Vertrauen wir darauf, dass uns noch genug Zeit bleibt. Jetzt haben wir lange genug geschwätzt. Hefte dich an die Fersen der widerwärtigen Männer, ehe sie gleich fort sind. Doch wir finden jede noch so unscheinbare Fährte wieder, selbst in der finstersten Nacht, nicht wahr…? Dies ist unsere angeborene Gabe. Ich breche nun auf nach London. Wir haben somit eine Abmachung“, beschloss Amelia und eilte geschwind davon.

„Die Abmachung steht. Ich hoffe du hältst dein Wort. Denn dann werde auch ich dich garantiert nicht enttäuschen“, rief Fred ihr zustimmend nach und sein scharfer Instinkt sagte ihm, dass er Amelia vertrauen konnte. Doch als er die Verfolgung von Miceyla und ihren Entführern aufnahm, wurde seine Miene wieder um einiges düsterer. `Mich lässt der beunruhigende Gedanke nicht los, dass William bei seinem geheimen Plan soweit gehen würde, um Miceyla extra in Gefahr zu bringen. Und Sherlock soll derjenige sein, der sie rettet. Aber was genau beabsichtigt er damit? Soll dies als Weg dienen, damit sie sich von unserem Schicksal abnabeln kann? Das Opfer der Moriartys, welches zusammen mit dem Helden die Wahrheit ans Licht bringt… Will, ich glaube bei dieser Sache, wirst du zum ersten Mal scheitern… Aber ich werde all meine Vermutungen für mich behalten und Stillschweigen bewahren. Solange erfülle ich meine Pflicht…` In Begleitung dieses schwermütigen Gedankens, machte Fred sich daran, solange über Miceyla zu wachen, bis Verstärkung eintraf.
 

Einsam und verlassen saß Sherlock auf einer Parkbank, ein gutes Stück von Greenocks Stadtmitte entfernt. Er hatte es irgendwie geschafft, sich aus dem Pub heraus zu kämpfen. Die Gäste der Bar verloren auch recht schnell das Interesse an ihm und ließen ihn freiwillig fliehen. Doch nun musste er bei Null anfangen. Ohne Hinweise die weitläufige Umgebung nach Miceyla und dem Mörder zu durchsuchen, wäre keine vernünftige Herangehensweise gewesen. `Die beiden können jedoch noch nicht über alle Berge sein. Das Miceyla hier wieder wohlbehalten bei mir auftaucht, ist unrealistisches Wunschdenken. Mia, das ist alles ein chaotisches Schlamassel… Wenn ich dir aus der Patsche helfen will, muss ich wohl bis ans Äußerste gehen. Der ganze Auftritt von dem Mann in der Bar war eine Farce. Er hat nicht die Absicht verfolgt, Mia etwas anzutun. Zumindest er selbst nicht. Aber da treiben noch andere ihr Unwesen… Niemand außer der Familie Moriarty und Clayton wussten davon, dass ich zusammen mit ihr nach Schottland reise. Das William zugelassen hat, dass es andere erfahren, die nicht in direkten Vertrauensverhältnis mit ihm stehen, ist unwahrscheinlich. Folglich muss sich in Claytons Theaterbande ein Verräter geschmuggelt haben. Aber etwas passt hier ganz und gar nicht zusammen. Da ist noch ein weiteres Rätsel im Busch…` Obwohl Sherlock sich angestrengt den Kopf zerbrach, entging ihm nicht, wie er aus einiger Entfernung beobachtet wurde.

„Zeigen Sie sich, ich habe Sie längst bemerkt.“ Nach dessen deutlicher Aufforderung, näherte sich ihm langsam ein Mann, der sich bei jedem Schritt auf einem Stock aufstützte und stark humpelte.

„Ich grüße Sie zu dieser späten Stunde, Mr Holmes. Man hat mich bereits informiert und ich denke, die anonyme Nachricht stammt von Ihnen. Dann bin ich der Mann, den Sie suchen, David Milford…“
 

Unterdessen war Amelia wieder in London angekommen. Ohne eine einzige Stunde Schlaf und ohne einen Bissen gegessen zu haben. Sie wollte nicht eher ruhen, bis sie Hilfe für Miceylas Rettung organisiert hatte. Was sie gerade durchstehen musste, war nichts im Vergleich zu ihrem Dauereinsatz. Da sie genau wusste, wann und wo Clayton zu welcher Tages- und Uhrzeit anzutreffen war, stürmte sie zum Waisenhaus und eilte geschwind in das große Büro im ersten Stockwerk.

„Clay, Miceyla wurde…“, begann Amelia außer Atem.

„Ich habe dein Telegramm erhalten, daher weiß ich es bereits… Das in Schottland alles aus dem Ruder laufen wird, davon war abzusehen. Selbst das Yarik abtrünnig geworden ist, überrascht mich nicht. Seine Untreue habe ich längst durchschaut. Ich hätte vorher einschreiten sollen, dies ist mein eigenes Verschulden. Und ich ging davon aus, dass Harley ihm einen guten Posten beim Militär versprach, wenn er im Gegenzug mich und meine Vorhaben ausspioniert. Doch warum er auf Miceyla aufgehetzt wurde, daraus kann ich mir noch keinen sinnvollen Reim machen. Ich würde es Harley Überheblichkeit zutrauen, das er allem voran anstrebt, den Meisterverbrecher mit seinen störenden Machenschaften in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Nun gut… Es mag zwar makaber klingen, doch bin ich gewillt, aus ihrer Entführung meinen eigenen Nutzen zu ziehen. Denn früher oder später wird auch Harley die Bühne betreten und in den vordersten Reihen mitmischen. Und dann gibt es nichts mehr, was mich noch aufhalten könnte… Aber jetzt genug mit den schauerlichen Ansprachen. Meine arme Amelia, Unzumutbares bürde ich dir da auf. Lass uns jedoch die Geschichte, mit Bravour zu einem ansehnlichen Ende führen. Bitte erstatte Lord William Moriarty Bericht. Er müsste in seinem Anwesen vorzufinden sein. Ich werde nachkommen und meinen Teil dazu beitragen…“, sprach Clayton ungekünstelt ehrlich, was seinen sonst so heiteren Charakter vollkommen verschleierte und es gar unnatürlich wirken ließ. Amelia wusste, dass er nur für seine Rache an Harley lebte, doch ihn so kaltherzig sprechen zu hören und mitanzusehen, wie er unnahbar mit dem Rücken zu ihr am Fenster stand, machte sie unsagbar traurig. Sie glaubte daran zu Grunde zu gehen, dass sie nicht fähig war sein wundes Herz zu heilen. Seine Liebe würde für sie auf ewig unerreichbar bleiben. Auch die ihre vermochte nicht, seine undurchdringbaren Mauern einzureißen.

„Ich werde tun, was immer du mir aufträgst. Bis zum bitteren Ende… Doch bitte ich dich abermals, die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen. Selbst wenn deine Rache erfolgreich sein würde, Erlösung wird es dir keine einbringen. Du tränkst dein Leben mehr und mehr in Leid. Dabei hast du bisher so viele Menschen glücklich gemacht, wie kein zweiter. Was für eine Ironie… Schotte dich nicht immer vom Rest der Welt ab und nimm die Gefühle anderer ohne Reue an. Jeder von uns trägt Wunden und Dunkelheit im Herzen. Irgendwann…wirst du noch die Grausamkeit deiner Feinde übertreffen und zu einem besessenen Monster werden. Aber…ich lasse nicht zu, dass ein solch abscheuliches Wesen aus dir wird. Und selbst dann…würde ich dich immer noch bedingungslos lieben…“, flehte Amelia verzweifelt und verlor für einen kurzen Augenblick ihre gefasste Selbstdisziplin. Clayton wandte sich ihr nun zu und lächelte sie mitfühlend an. Doch hinter seinem aufgesetzten Lächeln, weinte er mit ihr. Er verstand nur zu gut ihren Frust und ihre unendliche Trauer. Nur war sein eigenes Herz längst zu erkaltet, um weiter auf sie und ihre unerfüllten Sehnsüchte einzugehen. Und daher fiel es ihm nicht schwer, seinen mühsamen Pfad des Rächers weiter zu bestreiten.

„Amelia Liebes, ich gab dir Hoffnung und ein neues Leben. Wenn mein abweisendes Verhalten dich zu sehr verletzt, solltest du deine Sichtweise etwas umstrukturieren. All die positiven Dinge, welche ich um mich herum erschaffen habe, werden nicht einfach mit mir verschwinden. Jedes einzelne Mädchen hier im Waisenhaus, wird die Möglichkeit dazu haben, ein freies und selbstbestimmtes Leben führen zu dürfen. Meine eigens geschriebenen Theaterstücke, wird man auch noch in den nächsten Jahrzehnten aufführen. Vielleicht sogar in anderen Ländern. Ich bin unendlich stolz auf all das, was ich erreicht habe und hätte von einem solchen Erfolg und Glück, als kleiner Junge nicht einmal zu träumen gewagt. Und ich bin kein Tor, dass Rache in einem noch viel größerem Unglück enden kann, ist mir sonnenklar. Aber keiner außer mir darf Harley zur Strecke bringen. Sogar er selbst würde es so wollen… Lass uns jedoch nun vorerst von diesem ganzen kläglichen Geschwafel verabschieden und das Leben in all seinen Facetten genießen. Das verdienen wir beide. Und ich denke nicht, dass ich hier der Einzige bin, der sein Herz verschließt… Hopp, hopp! Wir haben ein großes Dilemma in Schottland wieder gerade zu biegen. Und dafür ist es von Nöten, dem berüchtigten Meisterverbrecher entgegenzukommen. Ich werde im Übrigen Irene ausrichten, solange hier die Stellung zu halten“, beschwichtigte Clayton geschickt Amelias aufgewühltes Gemüt und wischte ihr dabei sanft die Tränen von den Wangen.

„Ja… Ich werde stark bleiben. Und ehe Miceyla nicht aus den Fängen ihrer Entführer befreit wurde, werde ich keine Nacht mehr ruhig schlafen können.“ Ein letztes Mal blickte sie tief in seine saphirblauen Augen, dann machte sie sich im Eiltempo auf den Weg zum Moriarty-Anwesen. Claytons zuversichtliches Lächeln verschwand unmittelbar nach ihrem Aufbruch und er betrachtete kurz den Degen seines verstorbenen Vaters, mit dem Wappen der Familie Fairburn darauf eingraviert, welchen er von ihm geschenkt bekam. Für ihn galt diese Waffe als sein wertvollster Besitz und daher bewahrte er sie sicher in einer verschlossenen Vitrine auf. Doch wenn es so weit war, würde er Harley mit genau jener Waffe niederstrecken, in der die Seele seines geliebten Vaters und Vorbilds steckte. `Bei einem allerletzten Fechtduell wird sich alles entscheiden. Denn der Umgang mit dem Degen ist das Einzige, was uns jemals miteinander verbunden hat…` Diese Entschlossenheit hatte sich so fest in ihm manifestiert, dass er auch dann noch daran festhalten würde, wenn die gesamte Welt von heute auf morgen zugrunde ginge…

Amelia traf am späten Nachmittag beim Anwesen der Moriartys ein und zögerte kurz vor der Eingangstür. Sie überlegte sich in Gedanken eine vernünftige Wortwahl. Jedoch hatte sie ihre Bedenken, wie ihr plötzliches Hereinplatzen auf der Seite der Gegenspieler, wohl wirken musste. Das Einzige was sie ein wenig beruhigte war, dass dies immerhin nun Miceylas neues Zuhause war. Also konnte es sich bei dem Meisterverbrecher und seinen Verbündeten kaum um Unmenschen handeln. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, fand sie viele Parallelen zu ihrem eigenen Leben und Claytons Truppe. Gerade in dem Moment, als sie das erste Mal auf Fred traf merkte sie, dass in jedem, der in der Gesellschaft etwas bewegen will, Licht und Schatten gleichermaßen steckte. Amelias innere Vorbereitungen fanden ein jähes Ende, als die Eingangstür aufgerissen wurde, noch ehe sie die Türglocke betätigen konnte.

„Mensch Moran, du sturer Esel! Musst du uns denn wirklich immer auf der Nase herumtanzen und deinen Willen durchsetzen?! Es gibt hier feste Regeln, an die du dich gefälligst zu halten hast!“

„Hach Louis, du steifes Brett! Mach dich mal etwas locker! Ich geh jetzt in den Wald. Wenn ich schon nicht Miceyla herumscheuchen kann, will ich wenigstens das Wild jagen gehen. Huch… Unangekündigter Besuch…? Wer ist das Mädel? Ich kenne die nicht, eine Kundin von Will?“ Amelia wurde immer unbehaglicher zumute. Auch noch mitten in einen Streit geplatzt zu sein, bot nicht gerade die besten Voraussetzungen, um ein ernsthaftes Gespräch zu suchen.

„Rede nicht so zweideutig vor einer fremden Frau! Verzeihen Sie bitte unser ungehobeltes Verhalten, meine Dame. Tun sie einfach so, als hätten Sie nichts gehört und gesehen und lassen Sie uns noch mal von vorne anfangen. Also, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ bemühte Louis sich besonnen darum, Morans groben Tonfall wieder wett zu machen.

„Ich bin Amelia. Clayton Fairburn schickt mich. Es gab einen misslichen Vorfall in Schottland, daher muss ich schleunigst William Moriarty darüber informieren“, gab Amelia ohne umständliche Höflichkeitsfloskeln ihr Anliegen bekannt und hoffte, dass man ihr Gehör schenken würde. Wie auf ein Zeichen, wurden die Mienen von Louis und Moran plötzlich todernst und der nichtige Streit war vergessen.

„Bitte treten Sie ein…“, bat Louis Amelia unverzüglich das Anwesen zu betreten. Ob man Misstrauen ihr gegenüber hegte, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen.

„Steckt Miceyla tatsächlich jetzt schon in der Patsche? Welchen Heini darf ich vermöbeln?“, grummelte Moran kampflustig und ballte angespannt die Fäuste zusammen. Louis warf ihm daraufhin einen warnenden Blick zu, damit er seine Aggressivität etwas im Zaun hielt.

„Warten Sie hier bitte, ich gehe eben schnell meine beiden Brüder mit dazu holen“, meinte Louis, als er Amelia in das Wohnzimmer des Erdgeschosses geführt hatte und verschwand anschließend direkt wieder. Während sie wartete, riss Moran sich am Riemen und blieb still, ohne ihr weitere Neuigkeiten entlocken zu wollen.

„Willkommen Amelia. Miceyla hat mir bereits einige Vertraulichkeiten, über eure gemeinsame Vergangenheit erzählt. Ich schätze das Glück eurer Wiedervereinigung sehr. Und nur weil du für Clayton arbeitest heißt das nicht, dass du uns fürchten musst. Wir schenken dir zu jeder Zeit ein offenes Ohr und hören uns in Ruhe an, was du zu sagen hast. Übrigens bedanke ich mich auch für deine kurzfristige Kooperation mit Fred“, begrüßte William Amelia offenherzig, als er zusammen mit Albert und Louis hereintrat. Verwundert darüber, wie er davon wissen konnte und woher sein Vertrauen ihr gegenüber kam, packte sie erneut die Nervosität, nun das erste Mal jenem Mann gegenüberzutreten, der für den Großteil der aufsehenerregendsten Verbrechen in London verantwortlich war.

„Es freut mich all Ihre Bekanntschaft zu machen. Und ich habe zu danken. Das Sie mich hereingelassen haben, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn ich hätte wer weiß was im Schilde führen können… Sie haben bestimmt auf den ersten Blick erkannt, dass ich eine geübte Attentäterin bin… So viel dazu. Am besten ich komme direkt zur Sache, da jedem von Ihnen bewusst sein sollte, weshalb ich ohne eine Vorankündigung hier aufgekreuzt bin. Soweit ich es beurteilen kann, sind Miceyla und Sherlock Holmes in einen geplanten Hinterhalt gelockt und voneinander getrennt worden. Einer aus unserer Theatergruppe hat Clayton verraten und Miceyla zu einem Duell herausgefordert. Im Anschluss daran…ist sie von unbekannten, kampferprobten Männern entführt worden…“ Amelia musste beim Sprechen eine Pause einlegen, da ihr die Worte im Hals stecken blieben und machte sich auf erschütterte Reaktionen gefasst. Albert war der Erste, welcher verbittert dreinblickte und kurz sein Gesicht in der Hand vergrub. Williams Gesichtsausdruck war nur schwer zu deuten. Amelia grübelte darüber, ob er seine Gefühle bloß gekonnt unterdrückte oder von Natur aus eine beachtliche Selbstbeherrschung besaß.

„Was ist aus dem abtrünnigen Mann geworden?“ Amelia war regelrecht empört darüber, dass William sie zu allererst nach Yariks Verbleib ausfragte.

„Miceyla…hat ihn mit ihrem Degen ermordet…“, antwortete sie nüchtern. Und nun war es Moran, der sie fassungslos anblickte und beinahe schuldbewusst aussah.

„Früher oder später musste sie einmal diese unangenehme Tortur durchstehen. Wir können sie nicht ewig von jeglicher Gefahr abschirmen. Entweder sie kämpft sich wie ein jeder von uns, den Weg selbstständig frei oder sie wird auf Dauer zu einem nervtötendem Ballast“, kommentierte Louis etwas gefühlskalt und tat es als selbstverständlich ab, dass Miceyla damit zurechtkommen musste, einem Menschen das Leben zu nehmen. Amelia wäre ihm am liebsten vor Wut an den Hals gesprungen. Zornig vergrub sie ihre Fingernägel in dem Sofa auf dem sie saß und blickte hoffnungsvoll zu William, da sie glaubte, dass er Miceylas Empfindungen verteidigen und Schuldgefühle zeigen würde. Doch stattdessen blickte sie in sein noch immer fortbestehend entspannten Gesichtsausdruck. Und da konnte es sie auch wenig überzeugen, als er kurz mit Albert schweigsame Blicke austauchte und flüchtig mit einem leicht verbitterten Lächeln zu Boden sah.

„Was…soll das bitteschön für eine Liebe sein? Miceyla ist Ihre Frau. Während Sie hier gemütlich bei einer Tasse Tee im Warmen sitzen, wird die Ärmste gerade in ein feuchtes Drecksloch verschleppt und muss zusätzlich noch das Trauma ihres ersten Mordes verarbeiten. Und nicht nur Sie Lord William, Sie alle müssten ohne Aufforderung aufspringen und eine Rettungsaktion starten. Das sollte für Sie ein Kinderspiel sein, wo Sie doch so meisterhaft im Pläneschmieden sind. Fred ist zu jeder Zeit einsatzbereit und auch Sherlock Holmes wird alles daransetzen, Miceyla zu befreien. Die ganze Schottlandreise war von Anfang an ein riesengroßer Unfug. Denn jetzt hat das Unglück sie so richtig erwischt.“ Amelia hielt frustriert inne als sie merkte, dass ihre aufbrausenden Worte keinerlei Wirkung erzielten. `Gehörte es etwa von Anfang an zum Plan, Miceyla und Sherlock auf eine Art Probe zu stellen? Sie soll lernen mit dem Töten umzugehen und er wird getestet, wie weit er gehen würde, um ihr das Leben zu retten…` Sie konnte darüber vorerst nur spekulieren und sie war froh, als sich ein weiterer Besucher vor der Eingangstür ankündigte, da sie bei ihrer Unterredung nicht sonderlich viel zu erreichen schien.

„Es ist Clayton… Was nun, Will?“, verkündete Louis um wen es sich handelte und blickte von Minute zu Minute missgelaunter drein.

„Lass ihn bitte herein“, gab William ohne Zögern die Erlaubnis, ihn das Anwesen betrete zu lassen, wobei sein Gesichtsausdruck nun wesentlich ernster wurde.

„Die Schmierenkomödie kann beginnen…“, sprach Albert vorausblickend, doch sein sonst so sarkastischer Unterton war dabei vollkommen versiegt.

„Das kannst du laut sagen…“, fügte Moran murmelnd hinzu. Als Louis mit Clayton das Wohnzimmer betrat, wusste Amelia nicht, ob sie erleichtert sein sollte, da sie jetzt Rückendeckung bekam oder vor einen drohenden Rivalitätsstreit auf der Hut sein sollte. Clayton trug einen Zylinder, Umhang und seine schimmernde Halbmaske. Wie immer wirkte er, als wäre er vor kurzem im Theater, in die Rolle eines Phantoms geschlüpft. Jedoch machte sich keiner der gerade Anwesenden, über sein altbekanntes Auftreten lustig, da sie allesamt verinnerlicht hatten, dass dieser Mann einen nicht zu verkennenden Verstand besaß und sich für einen gewöhnlichen Straßengaukler, in unerreichbarer Höhe befand. Und das William Clayton und dessen Fähigkeiten anerkannt hatte. war Grund genug um seine Person zu würdigen.

„Ich grüße euch, Freunde der ewigen Nacht. Den Fängen der Verdammnis, können wir wohl alle nicht entrinnen. Aber die Lage ist zu ernst, um mir jetzt noch ein Späßchen zu erlauben. Das sich ein schwarzes Schaf unter meine treuen Männer gemogelt hat, bedaure ich zutiefst. Wer könnte wohl Yarik dazu angestiftet haben, eine solch grausame Gräueltat zu begehen und die aufrichtige Miceyla, vor eine dermaßen verheerende Bewährungsprobe zu stellen? Harley Granville? Über seinen Namen würden wir bestimmt dabei als erstes stolpern, wenn wir einen möglichen Tatverdächtigen auswählen müssten. Doch gerade ich weiß am besten, dass er die Sache ganz anders angehen würde. Denn schließlich bekam Miceyla eine lehrreiche Lektion geschenkt, die ihr auf ihrem weiteren Pfad der Dunkelheit stärken soll. Aber wer war es nun dann? Wenn wir alle mal unsere grauen Zellen etwas ansträngen, können wir uns sicherlich gut vorstellen, dass der wortgewandte Meisterverbrecher, für diesen makabren Akt nicht unbedingt außen vorzulassen ist…“, fiel Clayton direkt mit der Tür ins Haus und Amelia warf einen geschockten Blick auf William, der ihn durch schmale Augenschlitze selbstbewusst anfunkelte. Doch wenn sie es aus einer logischen Perspektive betrachtete und alle Sensibilitäten ausblendete, konnte sie es ihm nicht wirklich verübeln. Denn Miceyla war bereits in dem Moment zur Verbrecherin geworden, als sie sich den Moriartys angeschlossen hatte. Und um stark zu werden und um sich selbst schützen zu können, musste sie das Unangenehmste aller Dinge lernen… Er hatte nicht im Sinn, ihr damit schaden zu wollen. Im Gegenteil, seine Gedanken waren vor Sorge beinahe zerfressen um sie. Erst jetzt erkannte Amelia dies und sah sie nun, eine Liebe, die von düsteren Schatten überzogen wurde und darum kämpfte überleben zu dürfen. Es zerriss ihr das Herz und doch packte sie der Neid, dass sie einen solchen Herzschmerz mit Clayton niemals erleben würde. Denn liebende Herzen teilten sich jeden Schmerz und jedes Leid.

„Jedoch soll Ihnen verziehen werden. Daraus das Sie versuchen Harley einen Streich zu spielen, werde ich meine Vorteile ziehen. Aber Obacht mein kluger Freund, Sie sind drauf und dran ins offene Schussfeuer zu rennen… Und was hat es eigentlich mit den verdächtigen Entführern auf sich? Zu wessen Auftraggeber darf ich sie wohl einordnen…? Ist ja nicht so, dass diese mir völlig unbekannt wären… Schieben wir das erst mal beiseite. Erhoffen Sie sich nicht allzu viel von dem gutmütigen Detektiv. Um Miceyla zu retten, müssten Sie eine weitaus größere Aktion in die Wege leiten. Während Sie es sich zum Vergnügen machen, mit Harley und der Regierung einen stillen Machtkampf zu spielen, gedenke ich ihn und seine Vorherrschaft restlos auszulöschen…“ Clayton legte eine andächtige Pause ein, damit die tiefgründige Botschaft, von seinen Zuhörern in Ruhe verdaut werden konnte. Was er im Anschluss daran tat, verblüffte die gesamte Runde dann doch ganz beachtlich… Clayton nahm seine Maske ab und kniete sich direkt vor William nieder.

„Clay…“, hauchte Amelia mit heiser Stimme und ahnte, was er vorhaben mochte…

„William Moriarty, uns beiden ist Harley Granville ein Dorn im Auge. Daher ist es irrsinnig, wenn wir uns bis zu seinem Ableben, gegenseitig Steine in den Weg legen. Wir müssen handeln, denn wenn Harley Miceyla in seine Gewalt bekommt, beginnt eine Stunde der Finsternis, die all Ihre schlimmsten Alpträume übertrifft… Also halten Sie mich nicht von meiner Rache ab. Und…sollte Miceyla durch seine Hand Leid zugefügt werden, gebe ich Ihnen das Recht dazu, mich unverzüglich zu töten… Der Verlust einer Liebe ist der unerträglichste und deshalb will ich nicht für einen solchen verantwortlich gemacht werden. Diese Courage ist mir mehr als teuer. Und nun erheben Sie sich. Greifen Sie zur Waffe und befreien Sie Ihre Liebste. Weder Sherlock noch sonst einem steht dieses Recht zu. Das ist ein bescheidener Befehl von meiner Wenigkeit. Es ist eine feige Bequemlichkeit, einen schmerzvollen Verlust umgehen zu wollen. Denken Sie nicht nur an sich selbst und Ihre erzwungene Gerechtigkeit. Nehmen Sie sich, was Ihnen am Herzen liegt und lassen Sie es niemals los. Dies ist die einzige Habgierigkeit, für die ein Mensch sich nicht zu rechtfertigen braucht.“ Claytons betonende Ansprache endete und er machte keinerlei Anstalten, sich wieder erheben zu wollen. Williams rubinrote Augen, ruhten derweil mit einem sachten gedrückten Glanz auf ihm, wobei er eher durch ihn hindurch sah und versuchte, irgendwo in der Ferne Miceyla ausfindig machen zu können. Sollte er sie wieder in Armen halten, würden wohl keine Worte dieser Welt ausreichen, um ihre Tränen trocknen zu können. Entscheidungen und dessen Folgen, waren wohl auf ewig eine emotionale Herausforderung für das menschliche Herz…
 

Miceyla schlug benommen die Augen einen Spalt weit auf. Sie wollte sich an ihren vor Schmerzen pochenden Kopf fassen, doch man hatte ihre Hände mit eisernen Fesseln an die Wand gekettet. Ihre Kehle war völlig ausgetrocknet. Sie konnte nicht einschätzen, wie viele Stunden es zurücklag, seitdem sie das letzte Mal einen Schluck Wasser getrunken hatte. Ihr Durst übertraf sogar noch ihren Hunger. Generell fehlte ihr jegliche Einschätzung darüber, wo sie sich befand und wie viel Zeit verstrichen war. Doch zu ihrem eigenen Missfallen, erinnerte sie sich noch sehr gut daran, was alles seit ihrer Ankunft in Schottland geschehen war. Und nun befand Miceyla sich in einem modrigen Verlies. Und da es keine Fenster gab, konnte sie noch nicht einmal sagen, ob es gerade Tag oder Nacht war. `Will…habe ich alles vermasselt? Wäre die Mühe meiner Rettung es überhaupt wert…? Sherlock, ich kann mich nicht oft genug bei dir entschuldigen. Denn ich weiß, dass du über Leichen gehen würdest, um mich zu befreien…` Ihre derzeitige Lage und ihr stümperhaftes Handeln zu bedauern, half ihr auch nicht weiter. Meistens war es ja so, dass wenn man viel Zeit zum Nachdenken hatte, wie es bei ihr gerade der Fall war, einem entweder eine rettende Lösung einfiel oder man alles nur noch mehr dramatisierte. Sie wusste nicht weshalb, aber sie erinnerte sich an jene Unterhaltung mit Sherlock zurück, als sie gerade gemeinsam im Zugrestaurant speiste…

„Du meinst den Mann, mit der silbernen Brosche an seinem Hut, der vier Tische weiter von uns am Fenster sitzt?“ Eindringlich beobachtete Miceyla diese Person, ohne das ihr prüfender Blick auffiel.

„Japp, genau den meine ich. Also, weshalb reist der werte Herr wohl nach Schottland? Beginne mit seiner Tätigkeit, versuche sie zu ermitteln“, trug Sherlock ihr grinsend zum Test auf und wartete gespannt ab, wie weit sie dies anhand der Äußerlichkeiten ablesen konnte.

„Nun… Er ist recht ordentlich gekleidet und trägt einen maßgeschneiderten Mantel. Ich kenne die Schneiderei, welche diesen qualitativ hochwertigen Saum verwendet. Aber was bei diesem Mann ganz besonders auffällt, sind seine wie geleckt glänzenden, schwarzen Lederschuhe. Als er hereinkam und sich setzte, hat er erstmal seine Schuhe mit einem Taschentuch gesäubert und poliert. Er muss ein Schuhmacher sein, der von seinen Beruf so sehr vereinnahmt wurde, dass es für ihn zum Zwang geworden ist, auf die Pflege seines Schuhwerks zu achten. Und was den Grund seiner Reise betrifft… Eine Geschäftsreise ist es eher nicht. Da er einen Ehering trägt, ist er wohl verheiratet und hat möglicherweise Kinder. Daher ist es ungewöhnlich, als Familienvater für längere Zeit von Zuhause weg zu sein, wenn nicht gerade die Arbeit im Vordergrund steht. Könnte es die Flucht vor der eigenen Verantwortung sein? Vielleicht ist er auch zu leichtsinnig gewesen und hat Schulden gemacht. Und jetzt hofft er, anderenorts auf einen Neuanfang“, analysierte Miceyla freimütig den ihr fremden Zugpassagier, was in mehreren Spekulationen mündete. Sherlock hatte sie in Ruhe aussprechen lassen und unterbrach sie nicht dabei. Nun warf er selbst noch einmal einen scharfen Blick auf besagten Mann und ging auf ihre Annahmen ein.

„Korrekt, der Herr darf sich einen tüchtigen Schuhmacher nennen. Und deinen zaghaften Vermutungen, kann ich auch soweit zustimmen. Aber traue dich ruhig, da noch etwas mehr hineinzuinterpretieren. Vor einem erfolgreichem Leben, welches man durch den eigenen Verdienst aufgebaut hat, flüchtete man nicht einfach, wenn einem eine mittelschwere Krise ereilt. Es sei denn, man hat keine andere Wahl. Erpressung ist dabei ein entscheidender Faktor. Die manipulierende Macht der Erpressung, darf nicht heruntergespielt werden. Sie kann einen zu einer willenlosen Marionette werden lassen. Und dieser Mann kämpft gerade, ohne es sich anmerken zu lassen, den schwersten Kampf seines Lebens. Er lässt alles zurück, um seine Familie zu schützen und nicht mit ihm ins Elend zu stürzen. Vergiss dies niemals, Mia. Manchmal ist es unmöglich, dass was einem lieb und teuer ist, im friedvollen Einklang bei sich zu behalten. Manchmal, muss man seinen größten Schatz opfern und loslassen, um ihn fern von sich am Leben zu halten…“

Sherlock hatte recht, sie besaß ein scharfes Auge für die kleinsten Details. Jedoch vermischte sie die Realität zu sehr mit ihren eigenen Vorstellungen und dies verwehrte ihr den Blick auf die ganze Wahrheit. Nichtsdestotrotz hatte Miceyla mittlerweile dazugelernt. Wenn auch auf diverse harte Torturen… `Will, du wolltest mich das Töten lehren, richtig…? Schicktest du mich deshalb fort? Wenn dem so ist, hast du nicht nur das erreicht, sondern auch, dass ich ein lebloses Herz bekommen habe… Yariks totes Antlitz, werde ich so schnell nicht mehr vergessen können…` Diese bittere Feststellung, bohrte sich wie unzählige Nadelstiche tief in ihr Herz. Doch trotz ihrer elendigen Lage, flüsterte ihr die weise Stimme der Vernunft zu, dass nicht nur sie es war, die darunter zu leiden hatte. Sie zuckte jäh zusammen, als plötzlich jemand die knarzende Kerkertür aufschloss.

„Seht euch nur dieses jämmerliche Weibsstück an! Sie schreit ja nicht einmal, wie langweilig!“

„Recht haste! Da müssen wir eben etwas nachhelfen und herausfinden, ob sie noch einen Funken Leben in sich hat!“

„He, he, die Kleine hat wirklich einen tollen Körper, oder was sagt ihr? Los, entkleiden wir sie!“ Nun begann Miceylas Herz wieder vor Panik wie wild zu rasen. Sie konnte nicht zulassen, sich völlig wehrlos den Männern ausliefern zu lassen. Mit ihrer letzten Kraft, versuchte sie verzweifelt sich von den schweren Ketten loszureißen. Natürlich führte dies nur dazu, dass ihre Handgelenke vor Schmerz taub wurden.

„Nein! Aufhören! Hilfe! Irgendjemand…! Bitte…!“, schrie sie heiser und Tränen liefen ihr langsam über ihre glühenden Wangen, als die verdorbenen Männer begannen sie grob anzupacken und lustvoll grinsten, da sie ihnen genau die Reaktion schenkte, welche sie sich gewünscht hatten. Lieber sehnte sie sich einen raschen Tod herbei, als das miterleben zu müssen, was ihr unmittelbar bevorstand… Auf einmal erschien hinter ihren besessenen Entführern ein dunkler Schatten. Es war ein weiterer Mann, der mit einem langen, silbern glänzenden Degen herangepirscht kam. Geräuschlos schwang er seine elegante Waffe und schlug mühelos einem der Gesetzlosen den Schädel ab.

„William…bist du das…?“, wisperte Miceyla leise. Sie glaubte, dass es sich bei dieser perfektionierten Fechtkunst nur um ihn handeln konnte. Und sie war so benommen, dass sie nicht mal die Augen verschloss, als die Komplizen niedergestreckt wurden. Erst als die Gefahr durch ihre Entführer gebannt war erkannte sie, dass es sich keineswegs um ihren Liebsten handelte. Ihr Retter war ein großgewachsener Mann, der unter seinem dunklen Umhang eine Solldatenuniform trug, an der sich etliche funkelnde Orden befanden. Er hatte hellbraunes Haar, welches er ordentlich nach hinten gekämmt hatte. Seine tiefblauen Augen, welche sie ohne auch nur einmal zu blinzeln unbeirrt ansahen, erinnerten sie an die von Clayton. Voller Ehrfurcht und Bewunderung zugleich blickte sie diesen Mann an, der bislang kein einiges Wort gesprochen hatte und nun sorgsam ihre Fesseln löste.

„Haben Sie vielen Dank, mein Herr. Es ist wie ein Wunder… Verzeihen Sie mir, ich habe Sie zuerst mit jemandem verwechselt. Dürfte ich Ihren Namen erfahren?“, dankte Miceyla höflich ihrem unbekannten Retter, als sie endlich befreit war. Doch sie ahnte nicht, dass auf ihre vermeintlich ausweglose Lage, die Hölle folgen sollte…

„Selbstverständlich, mein Fräulein. Es war nicht meine Absicht, Sie ein weiteres Mal zu überfallen. Gewiss ist mein Name Ihnen nicht befremdlich. Ich bin Harley Granville…“
 

Liebes Tagebuch. 13.5.1880
 

es existiert weder ein sicherer Ort auf dieser Welt, noch ist eine Flucht vor der Gefahr wirklich sinnvoll. Seit meiner frühen Kindheit, habe ich nicht einmal versucht, vor meinem Unglück davonzulaufen. Zwar waren es alles negative Lektionen, die man mich lehrte, doch haben gerade diese mich abgehärtet und auf das unbarmherzige Leben vorbereitet. Doch bei all dem erfahrenem Leid, sollte es nicht egoistisch sein, wenn man sich Wärme und Geborgenheit herbeisehnt. Ob man es glaubt oder nicht, eine Steigerung des eigenen Unglücks gibt es immer. Und etwas zu schützen, um es vor Bedrohungen zu bewahren, ist keine Lösung. Ein Verlust bleibt ein Verlust. Die Reise nach Schottland, ist nur ein kleiner Teil einer noch viel größeren Reise. Eine Reise, bei der ich dem erbitterten Kampf um Gerechtigkeit beiwohne und selbst zur Verbrecherin werde. Als eine solche könnte ich sie beschreiben. Und die besitzergreifende Gefühlsgewalt, welche zwischen Liebe und Freundschaft ständig hin und herspringt, als ein ewiger Wegbegleiter. In einer Welt, in der sich jeder einzelne Mensch vom jeweils anderen unterscheidet und eine eigene Vorstellungskraft besitzt, wird es immer das Gute, als auch das Böse geben. Jetzt wo ich ein Leben auf dem Gewissen habe, ist mir noch mal ganz besonders klar geworden, dass Akzeptanz und der Blick nach vorn entscheidend ist, um nicht von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Eine positive Sichtweise, kann nur jeder für sich persönlich erschaffen. Das Zutun von anderen, spielt dabei nur eine nebensächliche Rolle. Und nun begegnete ich jenem Menschen, bei dem ich glaubte, ihn anhand etlicher Beschreibungen, zu einer gewissen Kategorie Mensch einordnen zu können. Doch es treffen Begegnung und Vorstellung aufeinander. Und nicht nur das. Wahrheit und Lüge, Liebe und Hass. Und was entsteht wohl, wenn das Gute sich mit dem Bösen vermischt? Gibst es bloß jeweils eine Seite, oder existiert dazwischen vielleicht noch eine Unscheinbare, die uns bislang verborgen geblieben ist? Manchmal, müssen wir nicht nur unsere Augen und unseren Verstand richtig öffnen, sondern auch unser Herz…
 

Lebloses Herz
 

Mein Herz getränkt mit schwarzem Blut,

mein Körper bebt vor Schmerz in der brennenden Glut.

Nirgends kann ich hin fliehen, da meine Beine sind taub,

Dunkelheit umgibt mich, da meine Augen blind sind von all dem Staub.
 

Ich kann nicht bestehen gegen deine Bosheit,

bis zum tödlichen Ende ist es nicht mehr weit.

Wer wird mich retten in meiner Not?

Das Meer verschluckt mich in seinem blutigen Rot.
 

Ach könnte ich doch entkommen durch eine kleine Lücke,

sieh wie meine Hoffnung fällt von der hohen Brücke.

Stumm geworden bin ich aufgrund der ganzen Hilferufe,

obwohl ich weiterhin wie eine leblose Hülle, hier nach wahrem Glück suche.
 

Es flüstert in mir ganz sanft und lieblich,

als wäre alles in Wahrheit friedlich.

Eines Tages trete ich dir mit demselben Blick gegenüber, mit dem du immer auf mich herabschaust,

es wird bitter für dich, auch wenn du mir dies nicht glaubst.
 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 

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Sünde eines Teufels

Miceyla vergaß, dass sie gerade gerettet worden war. Es fühlte sich keinesfalls mehr wie eine Rettung an. Eher wie der bittere Absturz in die alles verschlingende Tiefe, vor dem man sie bislang noch bewahren konnte. Zitternd kauerte sie auf dem kalten Kerkerboden und starrte mit glasigen Augen Harleys rechte Hand an, welche er ihr hinhielt, um ihr aufzuhelfen. Da sie keinerlei Anstalten machte diese zu ergreifen, zog er sie lächelnd wieder zurück.

„Ist meine Person denn wahrlich so schockierend für Sie, dass es Sie die Erleichterung Ihrer Rettung vergessen lässt? Es ist unsagbar beschämend für mich. Da muss mich jemand wohl in ein ganz schlechtes Licht gestellt haben. Wer das wohl gewesen sein könnte…? Aber Sie sind doch eine kluge junge Dame, die sich ein eigenes Urteil bilden kann. Würden Sie es nicht vorziehen, dieses sündenhafte Drecksloch schleunigst zu verlassen? Zu einer warmen Mahlzeit, um wieder zu Kräften zu kommen, sagen Sie sicherlich auch nicht nein. Vielleicht tröstet es Sie, wenn diese edle Waffe wieder zu ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückkehrt“, sprach Harley mit einer unvergleichbar beschwichtigenden Stimme, die weder Zorn noch Missgunst zu kennen schien und hielt ihr Williams, von den fiesen Männern konfiszierten Degen entgegen. Miceyla zögerte damit, die Waffe wieder an sich zu nehmen, da sie mit jener ihren ersten Mord verrichtet hatte. Dennoch erachtete sie es als ihre Pflicht, dass niemand außer ihr den Degen führen durfte und nahm ihn mit einem festen Griff Harley ab. `Nun bin ich dort angelangt, wo ich gehofft hatte niemals stehen zu müssen… Und doch war es unvermeidbar. Aber ich muss weitermachen, schließlich lebe ich für die Zukunft und nicht für die Vergangenheit. Auch wenn ich von einer Gefangenschaft in der nächsten gelandet bin, muss das nicht bedeuten das alles verloren ist. Das Harley mich bei Sherlock in Greenock absetzt und lächelnd von dannen zieht, damit darf ich wohl kaum rechnen. Wohlan Clayton, jetzt stehe ich deinem oder sogar dem Erzfeind von uns allen gegenüber. Dies wird möglicherweise meine einzige Chance, seine wahre Persönlichkeit zu ergründen.` Der Mut und ihr eiserner Wille kehrten allmählich zurück und sie erhob sich eigenständig. Dabei kämpfte sie verbissen dagegen an, sich nicht von Harley einschüchtern zu lassen.

„Sie besitzen ein starkes Herz. Einst kannte ich eine junge Frau, die mit Ihrer Stärke mithalten konnte, sie letztendlich aber dann doch verlor… Aber Sie sind bestimmt zu müde für sinnigere Gespräche, verlassen wir daher diese Leichenhalle“, beschloss Harley unbekümmert über den scharfen Blutgestank, der Miceyla mittlerweile schwer zu schaffen machte. Zumindest in der Hinsicht jenen grausigen Ort zu verlassen, konnte sie ihm zustimmen.

„Was ist mit den anderen Männern geschehen, welche sich hier noch irgendwo aufhalten mussten? Haben Sie etwa alle umgebracht? Und das Sie gerade rechtzeitig hier aufgetaucht sind, kann kein Zufall sein. Was haben Sie nun mit mir vor? Sollte ich dazu dienen, um William zu erpressen…dann…dann…“, begann Miceyla erzwungen furchtlos und geriet allerdings ins Zaudern, da sie sich wagte, einen barschen Tonfall bei einem solch mächtigen Mann zu verwenden.

„Geduld ist eine wertvolle Tugend. Verlangen Sie nicht nach Antworten, die Sie am Ende gar nicht hören wollen und nur weitere Fragen hervorbringen“, erwiderte Harley knapp und ließ sich kein bisschen von ihrem aufbrausenden Verhalten reizen. Erneut realisierte sie, dass dieser Mann weitaus mehr Lebenserfahrung besaß als sie, auch wenn er ziemlich jung wirkte. Und sie ermahnte sie dazu, in seiner Gegenwart vernünftiger zu sein und ihre Worte mit Bedacht zu wählen. Denn als Premierminister und Soldat höchsten Ranges, musste er eine überdurchschnittliche Intelligenz besitzen. Einen solchen Erfolg erreichte man nicht einfach nur durch seinen Adelsstand. Harley verließ mit ihr das unheimliche Gebäude, welches von außen wie eine alte Ruine aussah. Sie musste die Augen reflexartig zusammenkneifen, als ihr grelles Tageslicht entgegenschien. Obwohl nicht mal die Sonne schien und eine dichte Wolkenfront bei einem rauen Wind am Himmel wanderte, war es für sie im Gegensatz zu ihrer dunklen Gefängniszelle ungewohnt hell. Harley achtete darauf, dass sie dicht neben ihm ging, damit er jegliche Fluchtversuche von ihr sofort unterbinden konnte. Zudem war sie sowieso viel zu hungrig und schwach, um überhaupt an eine Flucht zu denken. Sie wusste ja nicht einmal, wo sie sich gerade genau in Schottland befanden und wie weit sie nun von Greenock entfernt war. Denn die Männer hatten sie ein gutes Stück verschleppt.

„Ein traumhaft schönes Land. Sobald ich die menschenleere Landschaft betrachte, weckt das etliche nostalgische Erinnerungen in mir. So fühlt sie sich an, die wahre Freiheit…“, kommentierte Harley mit sanfter Stimme die Umgebung und Miceyla konnte nicht wirklich sagen, ob er gerade mit sich selbst oder ihr sprach. ´Ich fühle mich momentan alles andere als frei...´, dachte sie trüb und warf ihm einen prüfenden Blick zu. Er verhielt sich sonderbar gelassen und besaß einen edelmütigen Gang. Vom Wesen und seiner Fechtkunst her, konnte er tatsächlich mit William konkurrieren. Seine Person passte so gut wie gar nicht zu dem Bild, welches sie sich anhand Claytons ausführlicher Beschreibungen über ihn gemacht hatte, was sie etwas verwirrte. Seine Geschichte war nicht gelogen, das stand außer Frage. Allerdings waren es auch nur sein Erleben und Empfinden, von dem er sprechen konnte. Die Gegenseite besaß oftmals eine völlig andere Perspektive. Dennoch war es unverkennbar, dass in diesem Mann eine böse Seite innewohnte, auch wenn sie tief verborgen in ihm schlummerte. Und sollte sein arrogantes und überhebliches Verhalten zu Tage kommen, dann bloß um seinem Rang gerecht zu werden und Eindruck zu hinterlassen. Denn Harley schien nichts mehr zu hassen, als Schikane und Unterwerfung, dies spürte sie einfach und das schon in der kurzen Zeit, seit ihrem ersten Aufeinandertreffen. Konnte es sein, dass auch er nach Gerechtigkeit strebte, auf seine eigene Art du Weise? Jedoch wurde sie im selben Moment daran erinnert, welche grausamen Taten er in seiner Vergangenheit begangen hatte. Clayton würde sie besteinigen, aufgrund ihrer milden Denkweise. Aber das er und die Moriartys ebenfalls ihre Leichen im Keller hatten, war nun mal auch eine Tatsache, die man keinesfalls ignorieren konnte. Miceyla musterte Harley so eindringlich, dass sie seinen Augenkontakt magisch anzog.

„Nanu, welch ein ehrfürchtiger Blick. Haben Sie mich etwa für einen wilden Barbar gehalten? Die Schauermärchen über mich, würde ich nur zu gerne einmal hören, ha, ha“, sprach er lachend und wollte sie kein bisschen damit aufziehen, eher seine eigene Belustigung zum Ausdruck bringen, damit es ihr leichter fiel, sich etwas von ihrer innerlichen Anspannung befreien zu können.

„Nein… Ich… Verzeihen Sie, dass ich Sie angestarrt habe… Das war unhöflich von mir…“, entschuldigte Miceyla sich rasch und blickte verlegen zu Boden.

„Ha, ha, nicht doch! Wahrscheinlich bin ich das auch, ein fieser Barbar. Und die Schauermärchen entsprechen auch alle der Wahrheit…“ Ihre Verwunderung über seine freimütigen Äußerungen, wuchs von Augenblick zu Augenblick. ´Er streitet nichts ab… Mir ist zwar ein solch unnatürlich starkes Selbstbewusstsein bekannt, aber bei ihm erscheint es mir dann doch noch mal ganz anders. Dieser Mensch ist nicht nur der sonderbarste, sondern auch der rätselhafteste Mensch, dem ich je begegnet bin und aus dem ich nicht so schnell schlau werde. Und dies dachte ich damals von Clayton… Nun darf ich wohl ein neues Geheimnis lüften. Man muss nun mal offen für Überraschungen sein, denn nicht alles richtet sich immer nach den eigenen Erwartungen…´ Sie versuchte ihre Gedanken in eine positive Richtung zu lenken und nachdem sie nach einem längeren Fußweg, endlich eine einigermaßen solide Landstraße erreicht hatten, fuhr sie ein weiteres Mal in einer Kutsche fort, ohne zu wissen wohin sie gebracht wurde. Nach etwa einer Dreiviertelstunde, hielten sie bei einer schäbigen alten Hütte, die sich fernab von einem menschenbewohnten Dorf befand. Miceyla hinterfragte immer intensiver, was Harley eigentlich in Schottland zu suchen und wie er von ihrem Aufenthaltsort erfahren hatte. ´Ob es möglicherweise mit der Person zusammenhängt, von der Sherlock sprach…?´ Diese Frage würde wohl vorerst unbeantwortet bleiben.

„Vergeben Sie den Anblick dieser heruntergekommenen Hütte. Aber ich habe Verpflegung herbestellen lassen und um sich ein, zwei Nächte auszuruhen, ist sie völlig ausreichend“, hob Harley bescheiden an und lief frohgestimmt voraus. ´Das war doch alles von Anfang an geplant… Ein ehrliches: `Hier sind wir ungestört und kein Mensch wird dich hier jemals finden`, hätte mir auch gereicht´, dachte sie seufzend, jedoch reichte es ihr fürs Erste, nicht mehr in einer kalten Gefängniszelle verhungern zu müssen. Als sie kurze Zeit später an einem verhältnismäßig reich gedeckten Holztisch saß, vergaß sie fast, mit was für einer bedeutsamen Persönlichkeit sie gerade alleine war und drohte von ihrem knurrenden Magen überwältigt zu werden.

„Langen Sie ruhig zu. Und keine Bange, das Essen ist nicht vergiftet. In dem Zimmer dort drüben befindet sich ein Bett, ruhen Sie sich also einmal richtig aus. Ein Bad gibt es auch, jedoch müssen Sie wohl mal ohne warmes Wasser auskommen. Sie genießen den Luxus der adeligen Welt. Aber das war nicht immer so, habe ich recht? Nicht das ich in dieser lausigen Umgebung, unangenehme Erinnerungen wecke… Und ich werde Sie nicht im Schlaf töten. Ich bevorzuge weniger diskrete Tötungsmethoden, wie Sie sicher schon feststellen konnten“, teilte Harley ihr mit einem dämonischem Grinsen mit, bei dem sie sogleich erschauderte. Er besaß einen düsteren Sarkasmus, der genau den wunden Punkt seines Gegenübers zu treffen vermochte. Doch war er nicht der Erste, den sie mit jener heimtückischen Gabe kennenlernte. Und sie ließ seine dezent stechenden Worte, von der eisernen Mauer abprallen, welche sie um ihr zerbrechliches Herz errichtete hatte und fing unbekümmert an zu essen. Wenn Harley sie tatsächlich töten wollte, dann auf eine Weise, welche William am meisten verletzen würde. Es verlangte ihm anscheinend nach Genugtuung. Aber sie wusste nicht genau für was und weshalb.

„So ist es gut, mit leerem Magen lässt es sich nur schwer denken und kämpfen. Im Übrigen habe ich morgen, den Besuch eines bestimmten Ortes hier in der Nähe geplant. Sie werden mich dorthin begleiten. Wir besuchen ein Grab. Dies verrate ich Ihnen schon mal, da ich kein Freund von Geheimniskrämerei bin. Seien Sie daher ganz unbesorgt, es steht Ihnen keine weitere Knechtung bevor“, verkündete Harley ein wenig ernster und begann selbst nun mit dem essen der relativ schlicht ausgefallenen Mahlzeit. ´Ein Grab…? Ich diniere hier gerade mit dem Premierminister in einer winzigen Hütte, irgendwo in der Wildnis von Schottland. Verrückter kann es eigentlich nicht mehr werden…´, dachte Miceyla und hätte beinahe sogar vor Belustigung lächeln müssen, wäre sie nicht zu erschöpft gewesen. Sie wechselten kein weiteres Wort mehr miteinander und sie zog sich direkt, als sie einigermaßen gesättigt war, in das kleine Zimmer zurück, in dem sie sich ausruhen durfte. Da sie für nichts mehr Kraft übrig hatte, ließ sie sich geradewegs auf das schmale Bett fallen. Und selbst ihre aufgewühlten Gedanken, konnten sie nicht mehr daran hindern, dass die Müdigkeit sie übermannte und ihr einen unruhigen Schlaf bescherte. Der nächste Morgen kam viel zu schnell und am liebsten hätte sie noch ein paar Tage länger durchgeschlafen. Doch ihr warnender Instinkt weckte sie und erinnerte sie hartnäckig daran, dass sie sich alles andere als in Sicherheit wägen konnte. Miceyla betrachtete für eine Weile Williams Degen, der einzige Gegenstand, welcher ihr momentan Trost spendete und sie mit ihrem weit entfernten Liebsten verband. Ein neuer Tag begann, all ihr Bedauern und ihre Reue musste sie zusammen mit der unumkehrbaren Vergangenheit begraben und sich mit neuem Mut aufraffen. Jetzt erst bekam sie die Gelegenheit, ihr mitgenommenes und verdrecktes Kleid zu betrachten, in dem sie auch noch geschlafen hatte. Ihre gesamte Wechselkleidung befand sich in der Gaststätte in Greenock. Doch da Harley nichts dem Zufall überlassen hatte, fand sie auf einem niedrigen Schränkchen ein sorgsam gefaltetes Kleid. Sie zögerte daher nicht, sich schnurstracks ihrer miefenden Kleidung zu entledigen und das neue, ihr zur Verfügung gestellte Kleid anzuprobieren. Es passte ihr wie angegossen und auch wenn es einen dunklen Grünton besaß, den sie nicht gerade häufig trug, fand sie es dennoch für ihr Abenteuer in der `Wildnis` recht treffend. Nachdem sie fertig angekleidet war und den Degen wider an einem Gürtel um ihre Taille festgebunden hatte, lugte sie vorsichtig aus dem Zimmer heraus und stellte unmittelbar danach fest, dass man sie bereits erwartete.

„Guten Morgen, Mrs Moriarty. Es freut mich zu sehen, dass Sie es trotz Ihrer jüngst widerfahrenen Unannehmlichkeiten geschafft haben, so zeitig aufzustehen. Kommen Sie und frühstücken Sie noch etwas, ehe wir aufbrechen“, begrüßte der am Esstisch sitzende Harley Miceyla höflich und strahlte dabei eine geduldige Ausgeglichenheit aus.

„Guten Morgen…“ Dies war alles, was sie ihm daraufhin erwiderte und dachte darüber nach, dass sie nicht wirklich wusste, wie sie das derzeitige Oberhaupt der Familie Granville eigentlich korrekt ansprechen sollte. Hinzu kam, dass ihm seine verdächtig wirkende Freundlichkeit ihr gegenüber, nicht ganz geheuer war. Vor allem weil sie so völlig ungekünstelt wirkte. Generell verhielt er sich nicht wie die Mehrzahl der verdorbenen Adeligen des obersten Standes. Er verhielt sich eher wie ein bodenständiger Mensch, der stets wusste welche Umgangsformen angemessen waren und mit Toleranz, wenn auch mit ein wenig Distanz, durchs Leben marschierte. Doch wo versteckte sich dabei seine teuflische Ader, von der er mehr als nur einmal Gebrauch gemacht haben musste? Wenn sie aber ehrlich war, wollte sie dies in Wirklichkeit gar nicht erst selbst herausfinden und erleben. Wie Harley es bereits am Vortag angekündigt hatte, brachen sie nach einem raschen Frühstück auf, um einen Grabbesuch zu machen. Sein persönlicher Kutscher wartete wieder gehorsam vor der ländlichen Hütte, damit er sie auf direktem Wege eskortieren konnte. Während Miceyla erneut neben ihm saß, fühlte sie sich weder unbehaglich noch entspannt. Das einzig vernünftige war momentan, schnellstmöglich aus Harleys Fängen zu entfliehen und mit Sherlock wiedervereint zu werden, gleichgültig was er mit ihr vorhaben mochte. Und sie fragte sich, wie William wohl reagieren und handeln würde, wenn er davon erfuhr, was sich gerade hier in Schottland abspielte. Selbst er konnte nicht mit Harleys direktem Eingreifen gerechnet haben, sonst hätte er sie erst gar nicht abreisen lassen. Die Kutsche hielt ungewöhnlich früh und Miceyla blickte ihn fragend an.

„Wir legen hier nur einen kleinen Zwischenstopp ein. Denn Blumen dürfen schließlich bei einem richtigen Grabbesuch nicht fehlen…“, verriet Harley ihr und legte verschwiegen seinen Zeigefinger auf seine lächelnden Lippen. Wie gebannt schaute sie ihn an. ´Bei…bei dieser Geste gleicht er Clayton beinahe aufs Haar… Er könnte wahrlich sein älterer Bruder sein. Solch ein ungewöhnlicher Zufall… Und diese beiden Menschen sind Todfeinde. Zumindest wenn man von einer Seite ausgeht…´ Begleitet von diesem bittersüßem Gedanken, folgte sie ihm den schmalen Pfad eines dich bewachsenen Hügels hinauf und lief mit gesenktem Blick wenige Schritte hinter ihm her. Es war offensichtlich, dass er sich in keiner Weise daran störte, dass sie mit ihrem Degen bewaffnet herumlief. Das eine heimliche Attacke von ihr Erfolg haben würde, war schließlich undenkbar. Unbewusst griff Miceyla in eine der Seitentaschen ihres neuen Kleides und hielt plötzlich einen kleinen Zettel in der Hand. Überrascht faltete sie ihn auseinander. Kurz hielt sie aufgeregt inne, als sie an der Handschrift erkannte, von wem die heimliche Botschaft stammte… ´Fred! Wie um alles in der Welt, hat seine Nachricht den Weg in diese Tasche gefunden…? Warum bin ich bloß darüber verwundert, es ist schließlich Fred…´ `Liebe Miceyla, mein Versagen trifft mich wahrlich tief. Ich sollte dich vor dem bedrohlichen Feuer schützen und nun habe ich dich direkt in die lodernden Flammen springen lassen. Aber das Verschulden beginnt nicht bei mir selbst… Doch meine Verbitterung soll dir nicht auch noch zur Last fallen. Ich folgte dir mühelos, bis Harley dich in `Gewahrsam` genommen hat. Seine Scharfsinnigkeit konnte sogar mich ausfindig machen, was mich um ein Haar das Leben gekostet hätte. Ich bitte dich inständig, eine Weile alleine durchzuhalten. William und Clayton werden mit vereinten Kräften für deine Rettung sorgen, dabei können wir uns auf Amelias Unterstützung verlassen. Zur Not werde ich Sherlock ohne Umwege zu dir führen und wenn ich dafür den Moriarty Plan aufs Spiel setze. Dein Leben ist weitaus kostbarer. Und ich bin davon überzeugt, dass William genauso denkt. Er findet in jeder noch so ausweglosen Situation eine rettende Lösung. Auch dieses Mal wird es keine Ausnahme sein. Bitte lasse dich unter keinen Umständen auf den Mann Harley Granville ein. Es ist kein Geheimnis, dass sein Vorhaben darin besteht dich kaltblütig zu ermorden, um William aus der Reserve zu locken. Die Zeit ist gekommen, um all das umzusetzen, was du bislang bei uns gelernt hast. Wir schaffen das, gemeinsam. Dein Fred.` Miceyla verfiel in einen tranceartigen Zustand, während sie seine geschriebenen Zeilen las, in denen Kummer, Gewissensbisse und Entschlossenheit gleichermaßen steckte. ´Oh Fred…Amelia… Das Ausmaß meines eigenwilligen Handelns, wird noch weitaus verheerender ausfallen, als ich es mir bislang vorzustellen gewagt habe… Wenn Clayton und William hier aufkreuzen und es zu einem Zusammenprall mit Harley und Sherlock kommt, könnte dies eine Kollision herbeiführen, die uns alle zugrunde richtet und jegliche Wahrheiten ans Licht bringt, welche besser noch eine Weile länger im Verborgenen schlummern sollten. Aber…dieser Mann Harley Granville… Ist es wirklich seine Absicht, dass es bereits jetzt zu einer Entscheidung der Kontrahenten kommt…? Fred, ich kann dir kein sicheres Versprechen geben, aber ich muss Gewissheit haben und mein Urteil über ihn fällen…´ Eine verzehrende Schwermut breitete sich in ihr aus, als sie die tröstende Nachricht von Fred, wieder unauffällig in der Seitentasche verschwinden ließ.

„Schauen Sie mal, ist dies keine prachtvolle Farbe? Kraftvoll und getränkt mit Anmut. In diesen Blüten spiegelt sich ein stolzer und unbeugsamer Wille wieder.“ Sachte hob Miceyla ihren gesenkten Blick und betrachtete vorerst schweigsam, einen kleinen Strauß tiefblauer Hortensien, den Harley ihr lächelnd entgegenhielt. Jeder hätte nun nachvollziehen können, wenn sie ihm zornig die Blumen aus der Hand geschlagen hätte und ihn schimpfend dazu ermahnte, nicht heuchlerisch einen auf heile Welt zu machen. Doch stattdessen nahm sie ihm vorsichtig die Blumen ab und erwiderte zaghaft sein Lächeln.

„Tendieren Sie auch dazu, Menschen mit Blumen zu vergleichen? Diese Angewohnheit kenne ich irgendwoher… Aber die Farbe ist wahrhaftig unvergleichbar schön. Ein reines und leuchtendes Blau, welches jedermann in dessen Bann zieht und…“ Sie hielt abrupt inne, als an einem der Hortensiensträucher, ein paar Blüten ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen, die ein zartes Himmelblau besaßen. Beinahe unscheinbar wuchsen sie dort und gingen zwischen den dunkelblauen Blüten unter.

„Sehen Sie nur, wahre Schönheit ist oft mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Vollkommenheit bedeutet nicht, sich der Masse anzupassen und seine ausgereiften Ambitionen nach außen scheinen zu lassen. Die Seiten des Lebens müssen schließlich erst geschrieben werden. Und all das, was in stiller Einsamkeit geschieht, wird am Ende noch stärker erstrahlen und der Umgebung den Atem rauben. Kälte kann sich urplötzlich in Wärme umwandeln, die ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit als Kraft nutzt, um den langen, gefahrvollen Weg zur Vollendung zu beschreiten. Diese einzigartige Verwandlung…bleibt lediglich Eisblumen vorenthalten…Graf Granville…“, beschrieb sie sanft das Wesen jener eisblauen Blüten. Dabei blickte sie ein wenig verunsichert zu Harley und hoffte, dass ihre Fantasien nicht allzu kindlich rüberkamen. Er folgte ihrem Blick und stellte sich neben sie.

„Eisblumen…? Und bitte, nennen Sie mich einfach nur Harley. Wen kümmert hier in der Pampa schon Rang und Namen. Diese unscheinbaren Blüten benötigen aber doppelte Kraft, wenn sie unter dem Druck der Konkurrenz nicht vergehen wollen. Denken Sie auch stets an das Feuer, welches das Eis zu jeder Zeit vernichten kann. Feuer und Eis sind zwei grundverschiedene Gegenpole, die niemals im Einklang miteinander leben können“, setzte er ihre Geschichte über die eisblauen Hortensien fort und nahm das Ganze so ernst, dass Miceyla regelrecht erstaunt darüber war.

„Wenn Sie sich da mal nicht irren…“, murmelte sie leise und blickte flüchtig in seine Augen, deren Farbe mit dem dunklen Blau seiner gepflückten Blüten konkurrierte. Sie begriff einfach nicht wie sie es fertigbrachte, mit jenem berüchtigten Mann der Familie Granville, eine solch simple Konversation zu führen. Man konnte beinahe behaupten, Harley würde eine unsichtbare Aura voll von Weltfrieden umgeben. Gleichzeitig sah sie jedoch auch den unangefochtenen Taktiker in ihm. Würde er tatsächlich einen Krieg heraufbeschwören, könnte er ganze Nationen damit zu Fall bringen. ´Ausgeglichen, konsequent und ohne Reue… Wie…ein richtiger König…´ Sie konnte sich diese treffende Assoziation nicht verkneifen. Und auch wenn es ein unheilvoller Gedankengang war, ging sie noch einen Schritt weiter und versuchte sich auszumalen, was er für Veränderungen schaffen würde, wäre er wahrhaftig König von England. Seien es nun gute oder schlechte, die Rücksicht auf Verluste, würde dabei wohl ausbleiben… Doch war es überhaupt möglich, eine glorreiche Zukunft zu erschaffen, ohne sie auf zahlreichen Opfern zu errichten? Sie brach ihre abschweifenden Vorstellungen wieder rasch ab, denn sie brauchte nicht darüber nachzudenken, welche Mittel ein einzelner Herrscher einzusetzen vermochte. Es war das Volk, welches als Einheit fungieren musste und mittels gegenseitiger Unterstützung, gemeinsame Träume und Ziele möglich machte.

„Na kommen Sie, ehe Sie noch selbst zur Blume werden. Von hier aus ist es nicht mehr sehr weit“, verkündete Harley und schlug den Weg zurück zu der wartenden Kutsche ein. Miceyla war beinahe dankbar dafür, dass er ihre wirren Gedanken unterbrochen hatte und folgte ihm ohne länger zu zögern. Nach weniger als einer Viertelstunde erreichten sie ihren Zielort. Er führte sie in ein großflächiges Tal hinab, in welchem sich ein kleiner, schimmernder See befand. Wieder ließ sie sich schweigend von ihm führen und kam schließlich unmittelbar vor einer hohen Trauerweide zum Stehen. Sobald sie hinabblickte, entdeckte sie ein alleinstehendes, schlichtes Grab, welches man an jener Stelle errichtet hatte. Harley kniete sich nieder und legte seinen Strauß blauer Hortensien vor dem steinernen Grabstein ab, auf dem weder ein Name, noch die Lebensdaten des Verstorbenen standen. Aus Höflichkeit und Respekt dem Toten gegenüber, tat sie es ihm gleich und brachte ihren Blumenstrauß, den sie noch immer in der Hand hielt, als Opfergabe dar. Nach einigen Minuten des andächtigen Schweigens, wagte Miceyla es dann doch die Stille zu durchbrechen. Dürfte ich erfahren, wer hier begraben liegt?“, erkundigte sie sich und hielt weiterhin ihren Blick auf das einsame Grab gerichtet.

„Meine Mutter. Sie war eine wunderschöne Frau. Ihre strahlenden Augen besaßen dieselbe Farbe, wie die der Hortensien…“, kam von Harley sogleich eine Antwort und er lächelte bittersüß.

„Ich vermute, dass sie keinen natürlichen Tod gestorben ist. Es geht mich zwar eigentlich nichts an…aber… Wer hat sie ermordet? Sie wissen dies bestimmt.“ Miceyla wagte sich, noch mehr über seine persönliche Hintergrundgeschichte herauszufinden, da er auch keine Anstalten zu machen schien, daraus ein großes Geheimnis zu machen.

„Mein Vater…“, erwiderte Harley knapp ohne weitere Details dazu preiszugeben und sein sanftes Gesicht, wandelte sich urplötzlich in eine solch düstere Miene um, dass sie erschauderte.

„Ihr Vater?! Laut Claytons Erzählung, soll er ein herzensguter Mensch gewesen sein. Und es muss wohl stimmen, dass Sie ihn selbst ermordet haben. Ja, ich weiß das alles von Clayton persönlich. Aber wen kümmert es schon, dass ich ein derart verhängnisvolles Wissen in mir trage. Mein Leben hängt sowieso an Messers Schneide. Er sprach die Wahrheit, doch auch Sie machen mir nicht den Eindruck, Lügengeschichten zu erzählen. Bitte, ich mag ebenso Ihren Teil der Geschichte hören. Die ganze Wahrheit könnte eventuell ein großes Unglück verhindern, wenn auch kein Vergangenes rückgängig machen“, bat Miceyla und war über ihren plötzlich so konsequenten Tonfall verwundert. Aber was hatte sie schon gerade zu

verlieren? Es sachte angehen zu lassen, wie es ihr eigentliches Vorhaben gewesen war, würde sie zu keinem zufriedenstellenden Ziel führen. Sie konnte nach ihrer direkten Offenbarung, weder Erstaunen noch Verärgerung in seinem Gesichtsausdruck vorfinden. Ein solch nachsichtiger und vorurteilsloser Mensch, war in der oberflächlichen Gesellschaft nur spärlich anzutreffen. Denn die meisten durchschnittlichen Gesellen, besaßen stets launische Charakterzüge.

„Da gibt es nichts Außergewöhnliches zu erzählen. Und ich bestätige es Ihnen gerne noch einmal. Alles was Sie aus Claytons Mund gehört haben, entspricht der Wahrheit. Aber wenn es Ihnen Genugtuung verschafft, ergänze ich gerne das ein oder andere Detail. Verderben, Hass, Neid. All diese negativen Emotionen, haben auch Sie fest im Griff. Jeder wünscht sich auf seine individuelle Art und Weise eine ideale Welt. Daher liegt es nahe, dass niemals Frieden herrschen wird in der Bevölkerung. Dies nur mal vorneweg am Rande… Meine Mutter verteidigte mich und stellte sich auf meine Seite, obwohl ich eine Sünde begangen hatte, die für einen gesitteten Adelshaushalt den Ruin bedeutete und jegliches Ansehen vernichtete. Aus diesem Grund wollte mein Vater, dass meine Mutter nicht mehr länger Teil der Familie war. Er stellte Gehorsam über den Wert der Liebe und beendete kurzerhand das Leben seiner eigenen Ehefrau. Nun sind Sie sicher erpicht darauf zu erfahren, um was für eine schändliche Sünde es sich wohl handelte. Es war weder Raub noch Verrat, sondern die zerbrechliche Liebe zwischen Bruder und Schwester. Wie wahr, ich besaß eine vier Jahre jüngere Schwester. Für mich existierte keine ebenbürtige Frau, die ihre Anmut und Schönheit hätte übertreffen können. Den Leichtsinn, welchen wir begangen hatten, entging unserem gerissenen Vater nicht und er zog uns alle augenblicklich zur Rechenschafft. Und so alteingesessen wie er nun mal war, bestrafte er die beiden Frauen härter als seinen eigenen Sohn, der ihm seine Einsichtigkeit vorgaukelte…“, erzählte Harley und wirkte bloß leicht melancholisch als Kummervoll.

„Die Liebe zwischen Bruder und Schwester… Eine verbotene Liebe… Dann hat ihr Vater also auch noch ihre kleine Schwester umgebracht. Wie grausam kann ein Vater nur sein…“, kommentierte Miceyla bedrückt seine Erzählung, als sie ein völlig anderes Bild von dessen Vater bekam und wunderte sich dennoch darüber, warum sich das Grab seiner Schwester, nicht neben dem der Mutter befand.

„Da liegen Sie falsch, sie weilt noch unter den Lebenden. Nun ist es aber wohl eher mein kleiner Bruder, von dem ich sprechen muss… Denn mein Vater ließ sie unter der Bedingung am Leben, wenn sie fortan in die Rolle eines Mannes schlüpfte und beim Militär dem Land diente. Es war für mich zugegebenermaßen ein seltsames Gefühl, sie als stattlichen Soldaten vor mir zu sehen. Ungeachtet dessen bewunderte ich sie auch dafür, wie tapfer sie tagtäglich zum Dienst antrat und sich unter den ganzen anderen jungen Männern zu behaupten wusste. Nie hab ich sie bevorzugt behandelt. Im Gegenteil, ich kehrte ihr den Rücken. Das unsere Liebe von einst erkaltet war, muss sie jedoch schwer im Herzen verletzt haben. Sie ertrug es sicher nicht länger, mich ständig sehen zu müssen und schloss sich einer Außendienstkavallerie in Südfrankreich an. Fünf Jahre habe ich sie nun nicht mehr gesehen. Weder ihre liebliche Stimme gehört, noch ihr süßes Lächeln gesehen. Doch in meinem Herzen ist sie bereits gestorben, meine geliebte Ophelia…“, schwelgte Harley in Erinnerungen und hielt dabei weiterhin den Blick auf das Grab seiner Mutter gerichtet. Miceyla musste sich selbst eingestehen, dass sie seine Geschichte sehr berührte. Er hatte bisher ein solch facettenreiches Leben geführt, dass es beinahe die malerischen Höhen und Tiefen eines Märchens besaß, dessen Ende noch ungewiss war.

„Weiß Clayton von alledem?“, fragte sie mit leiser und nachdenklicher Stimme.

„Nein, er hat all dies nie erfahren und wird es auch nie mehr. Denn das kleinste Wort das ich von mir gebe, ist pures Gift für seine Ohren.“

„Das ist wohl wahr… Dann lassen Sie mich nun die entscheidende Frage stellen. Warum sind Sie solch ein Unmensch gewesen und haben Claytons Vater und Lydia in den Tod getrieben? Sie beschworen eine Tragödie herauf, die zwei Familien zerstört hat und bei zwei Müttern ein Trauma auf Lebenszeit hinterließ“, fragte Miceyla ihn wagemutig und blickte ihn dabei unbeirrt an. Harley schwieg für eine Weile, ehe er sich ihr zuwandte und lächelte düster. Seine azurblauen Augen schauten sie jedoch leicht bedrückt an.

„Eifersucht. Der pure und verdorbene Neid trieb mich zu jener Untat. Clayton genoss das unübertreffbare Glück einer erwiderten Liebe und besaß einen führsorglichen Vater, der ihm Stolz und Anerkennung entgegenbrachte. All das, was mir verwehrt und genommen wurde. Wen kümmert es da schon, wie kümmerlich oder hochangesehen die eigene Adelsfamilie ist, wenn man nichts anderes als Unzufriedenheit kennt. Selbstsüchtig, kaltherzig, radikal, das bin ich gewesen. Merken Sie sich das gut, sobald Eifersucht von einem Besitz ergreift, wird aus einem ein besessenes Monstrum, das nicht mehr bei klarem Verstand ist und unbewusst dazu getrieben wird, widersprüchliche Dinge zu tun. Clayton, er war für mich immer wie ein kleiner Bruder. Er gab stets vor mich abgrundtief zu hassen. Doch sein wahrer Hass entstand erst dadurch, dass ich mit seiner Liebsten verlobt wurde. Vorher eiferte er mir nach, bewunderte meine begnadete Fechtkunst und ärgerte sich wie ein trotziger kleiner Junge darüber, in meinem Schatten zu stehen. Doch was seine Begabung in Naturwissenschaften anging, hätte ich ihm niemals das Wasser reichen können. Und Sie müssen wissen, dass ich immerzu Bestnoten in allen Fachbereichen hatte. Sein Können reichte jedoch noch weit über das Wissen, welches die hiesigen Eliteuniversitäten von einem verlangten, hinaus. Clayton lernte durch mein Zutun denselben Schmerz kennen, der mir zuteilwurde. Das hat mich ihm noch ein wenig näher gebracht. Und was wird es uns beiden doch für einen Seelenfrieden bescheren, wenn ich durch seine Hand sterben werde… Voraussetzung dafür ist jedoch, dass er aus dem Zwist zwischen dem Meisterverbrecher, Sherlock Holmes und mir siegreich hervorgeht und es schafft mich aufzuhalten…“, beantwortete Harley mit einem beinahe sanftmütig wirkenden Lächeln ihre Frage. Seine Ehrlichkeit verwirrte sie nun bis ins Unermessliche. Waren es wirklich seine verletzten Gefühle gewesen, die ihn zu jener schrecklichen Tat getrieben hatten? Doch er hatte dabei keinerlei Genugtuung gefunden, sondern lediglich unendliches Leid. Auch jetzt litt er noch darunter, sie konnte es ihm genau ansehen. Und sein Ziel war es, das Volk, welches stur die strikten Hierarchien des Klassensystems befolgte, wachzurütteln, wenn nötig mit Gewalt. Miceyla biss sich frustriert auf die Lippe. Seine Worte bewegten sie auf unerklärliche Weise und machten sie gleichzeitig so wütend, dass sie ihre Tränen nicht zurückhalten konnte.

„Was sind Sie denn jetzt nun, ein guter oder ein grausamer Mensch? Mir fiel es noch nie so schwer, ein Urteil über jemanden zu fällen, wie es bei Ihnen der Fall ist. Und Sie sollten es als Ihre Pflicht ansehen, all das Clayton zu sagen und welchen Respekt Sie für ihn hegen. Auch wenn damit niemals mehr etwas wiedergutgemacht werden kann. Die Endlosschleife der Ungerechtigkeit wird niemals enden, solange die Menschen sich nicht endlich gegenseitig öffnen. Die Hoffnungslosigkeit in jedermanns Herz muss verschwinden. Und dies erreicht man nicht, indem man die Menschen dazu zwingt, die Waffen miteinander zu kreuzen. Sie besitzen die Mach etwas zu verändern, also bitte tun Sie den ersten Schritt, ohne das es zu einem sinnlosen Blutvergießen kommt…Harley!“ Miceyla geriet so sehr in Rage, dass sie kurzerhand ihren Degen zückte und ihn mit einem schwungvollen Hieb attackierte. Binnen eines kurzen Augenblicks, hielt er seinen eigenen Degen in der linken Hand und wehrte ihren Angriff mit solch einer Leichtigkeit ab, dass er nicht mal seine Körperhaltung dafür ändern musste.

„Gewiss, Veränderungen werde ich schaffen, nur keine Sorge. Sie tragen Ihr Herz auf der Zunge und es mangelt Ihnen nicht an Enthusiasmus, das gefällt mir. Mit Ihnen hat der Meisterverbrecher eine gute Wahl getroffen. Das Sie in so kurzer Zeit gelernt haben, sich eine derartige Durchschlagskraft mit einer Klinge anzueignen, beeindruckt mich. Dank Ihres Mutes und Verstandes, würde aus Ihnen eine hervorragende Soldatin werden. Mit der ein oder anderen Lektion von mir, wären Sie imstande einen völlig neuen Horizont zu erreichen, was die Fechtkunst anbelangt“, sprach er anerkennend und lächelte wieder so friedvoll, als könnte er kein Wässerchen trüben.

„Da fällt mir ein… Sie haben die gesamte Gaunerbande nur mithilfe Ihres Degens besiegt, obwohl allesamt mit Revolvern bewaffnet waren. Das ist bemerkenswert. Aber ist dies nicht etwas zu riskant gewesen? Tragen Sie für den Ernstfall denn gar keine Schusswaffe bei sich?“ Diese Frage brannte ihr schon seit dem gestrigen Tage auf der Zunge und sie musste einfach eine Antwort darauf erhalten. Schließlich handelte es sich bei ihm um einen Soldaten, für den der Umgang mit jeglichen Waffenarten von essentieller Bedeutung war.

„Jeder mickrigste Räuber ist in der Lage, den Abzug einer Knarre zu drücken. Wer aber noch die alte Kriegskunst beherrscht, wird Meister aller Waffen. Ich habe das Schießen seit Kindesbeinen an bis zum Umfallen eingeübt und verfehle niemals mein Ziel. Nur… Das einzige Manko an der Sache ist… Ich verabscheue Schusswaffen bis aufs Tiefste. Allein bei dem Gedanken an das stinkende und lärmende Getöse welches sie verursachen, kriege ich die Tobsucht. Dennoch sind es nun mal die effektivsten Waffen, um seine Feinde schnell und gezielt auszuschalten. Ich machte mich lächerlich, führte ich eine Truppe auf einem Einsatz nur mit einem Degen an. Das Gelächter wäre ohrenbetäubend. Was nützt mir da schon der Titel: `Englands bester Fechter`? Nur aus Angst vor mir schweigen sie alle“, offenbarte Harley und senkte wieder mit einem selbstbewussten Gesichtsausdruck seinen Degen. Auch Miceyla zog ihre Waffe zurück und blickte ihn für längere Zeit verdutzt an. Dieser Mann stecke so voller Überraschungen, dass ihr allmählich die Worte fehlten. ´Da haben wir ja eine Gemeinsamkeit´, hätte sie am liebsten zu ihm gesagt, jedoch behielt sie diesen Satz besser für sich.

„Darf ich im Übrigen anmerken, dass in Ihren Augen dieselbe Flamme der Entschlossenheit leuchtet, wie in denen von Albert Moriarty? Man merkt auf Anhieb, dass Sie eine Familie sind. Er ist schon immer ein wahrhaft vorbildlicher Soldat gewesen. Aufopferungsvoll und edelmütig. Dafür verdient er meine Anerkennung. In Anbetracht seines rückläufigen Werdegangs, hat er sich langsam seinen Rangaufstieg zum Oberst mehr als nur verdient, oder was meinen Sie? Selbstverständlich sind auch Sie im Kriegsministerium herzlich wollkommen“, sprach er verschwiegen und legte den Kopf etwas schräg.

„Oh ja! Das wäre wirklich wundervoll! Ich werde auch nichts verraten, versprochen!“, platzte es freudig aus Miceyla. Sie war so stolz auf Albert, dass es sich für sie fast so anfühlte, als stünde ihre eigene Beförderung bevor. Ganz gleich welches Bild Harley sich über die Moriartys gemacht haben mochte, Albert schien er tatsächlich zu mögen. `Nicht einmal falsche Gefühle gaukelte er vor. Kann Ehrlichkeit zu einer Bürde werden…? Ich denke schon. Sich mit Lügen durchs Leben zu mogeln, ist oftmals der einfachere und bequemere Weg`, dachte sie und bemerkte dennoch, dass sein reiner Charme sie zu sehr dazu gebracht hatte, sich ihm gegenüber zu offenherzig und unbekümmert zu verhalten. Es wurde Zeit auf den Boden vollendeter Tatsachen zurückzukehren, sonst würde es ein böses Erwachen für sie geben…

„Nun gut… Ich möchte mich noch mal manierlich für Ihre Rettung danken. Es ist schließlich Fakt, dass ich ohne Ihre Hilfe gestern ziemlich aufgeschmissen gewesen wäre. Tausend Dank, Harley. Dieser friedvolle Ausflug wird früher oder später enden, daher beginne ich mit der Frage, woher Sie wissen wer hinter der Identität des Meisterverbrechers steckt oder ob es sich dabei noch um eine Vermutung handelt. Ich denke es liegt nahe, dass Albert dabei eine entscheidende Rolle spielt“, schlug Miceyla unwillig die Richtung zu jenem ernsten Thema ein, mit dem sie sich beide auseinandersetzen mussten, ob sie nun wollten oder nicht.

„Das ist korrekt. Albert versucht mich durch die Hintertür auszutesten. Er ist geschickt, das muss ich ihm lassen. Aber langsam wird es für mich ernüchternd. Ich werde Ihnen keinen Vorwurf machen, wenn Sie mir bestätigten das es sich bei dem Meisterverbrecher, um den jungen Professor William James Moriarty handelt“, ging er sogleich offenkundig auf ihren erzwungenen Themawechsel ein und seine vollste Aufmerksamkeit galt nun ihrer Reaktion. Miceyla schluckte schwer und musste sich arg zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren.

„Ja… Mit Ihrer Annahme liegen Sie vollkommen richtig. Mehr brauche ich dem nicht hinzuzufügen. Sie sind bisher nur ehrlich mir gegenüber gewesen. Also wieso sollte ich dann lügen oder schweigen, das wäre bloß feige. Mag auch genau das Ihre Strategie sein, es ist nicht von Belang. Aber… Da Ehrlichkeit Ihre größte Tugend ist, werden Sie mir bestimmt ebenfalls noch sagen, ob ich um mein Leben bangen muss. Kurz gesagt…werden Sie mich töten, sobald diese Idylle zu einem Ende kommt?“ Angespannt versuchte sie seinem stechenden Blickkontakt standzuhalten, während sie ihm jene erdrückende Frage stellte. Harleys Mundwinkel formten sich zu einem mysteriösen Lächeln, das Bände sprach. Im selben Moment erhielt Miceyla bereits ihre Antwort, ohne das er sie aussprechen musste…
 

William stand mit gesenktem Blick am Fenster. Dicke Regentropfen prasselten gegen die Scheiben und die Bäume bogen sich im Freien unter einem kräftigen Wind. Der Sturm ließ ihn keineswegs nervös werden und dennoch sah sogar er ihn als ein schlechtes Omen an. Am vergangenen Tag hatte er Clayton wieder abreisen lassen, ohne ihm eine zufriedenstellende Antwort mit auf den Weg zu geben. William philosophierte darüber, was sie alle von einer Kooperation mit ihm hätten. `Er wird sich wohl bis aufs Weitere ins Schweigen hüllen. Denn wenn er den Namen des Meisterverbrechers an die Öffentlichkeit trägt, weiß er das er unmittelbar danach ein toter Mann ist. Wir kennen beide die Prinzipien des jeweils anderen nur zu gut… Sherlock, enttäusche mich nicht. Auch wenn sich uns allen nun auch noch Harley Granville in den Weg stellt, sollte dies für uns kein nennenswertes Hindernis darstellen…` Ihm war bewusst, dass bald nicht nur für ihn Entscheidungen bevorstanden, die mit erheblichen Kompromissen und Verlusten verbunden waren.

„Bruder, ich habe uns einen Tee gemacht. Und es beruhigte mich sehr, wenn du

wenigstens jetzt eine Kleinigkeit zu dir nehmen würdest. Du hast heute Morgen nicht mal richtig gefrühstückt. Deine Gesundheit ist mindestens genauso wichtig, wie dein klarer Verstand. Albert habe ich auch Bescheid gegeben, doch er weigert sich sein Arbeitszimmer zu verlassen“, teilte Louis ihm sanftmütig mit und blickte seinen Bruder sorgenvoll an.

„Hab Dank, Louis. Schau uns nur an, nichts als Kummer bereiten wir dir. Aber es dauert nicht mehr lange, da sitzen wir wieder mit einem vergnügten Lächeln beisammen. Darauf gebe ich dir mein Wort. Wir sind doch alle längst an das Leid gewöhnt, das mit dem Dasein eines Verbrechers einhergeht. Und dennoch ist es für mich immer wieder auf Neue schmerzvoll, wenn einem bewusst wird, dass morgen schon alle Lichter ausgehen und alles vorbei sein könnte. Doch wir werden unseren Plan bis zum Schluss mit Bravour durchziehen. Und wenn dies bedeutet, dass wir alle Störenfriede auf dem Weg zum Ziel ausschalten müssen. Mir war es stets äußerst wichtig, die Opfer so gering wie nur möglich zu halten. Aber das es für einen mordenden Verbrecher wie mich kein gutes Ende nehmen wird, war von Anfang an besiegelt. Dies ist der hohe Preis den wir zahlen, für die Chancengleichheit unserer Gesellschaft. Ich habe sogar schon aus Miceyla eine Mörderin gemacht… Und das Louis, fühlt sich so qualvoll an, wie kein Schmerz zuvor. Jedoch tut es auf eine schaudervolle Art und Weise gut zu wissen, dass man sein Herz noch nicht vollends in den Abgründen der Verdammnis verloren hat…“, sprach William vertrauensvoll. Doch anstatt Louis‘ Kummer zu besänftigen, verstärkte er ihn nur noch mehr.

„Bruderherz… Es war unumgänglich, besonders sie selbst wäre daran niemals vorbeigekommen. Auch ich habe anerkannt, dass Miceyla sich bewährt hat. Bisher habe ich es ihr in unserem Alltag, nicht besonders leicht gemacht. Ich verspreche zukünftig etwas rücksichtsvoller mit ihr umzugehen. Und ich befürworte noch immer deine Entscheidung, welche Rolle du Sherlock und ihr zugeschrieben hast, Bisher haben uns all deine Pläne zum Erfolg geführt. Niemanden würde ich jemals mehr vertrauen als dir, Bruder“, bestärkte Louis ihn noch einmal und legte ihm aufmunternd eine Hand auf seine Schulter. William kannte seinen jüngeren Bruder nur zu gut und in ihm stiegen bei seinen gutgemeinten Worten, widersprüchlicher Weise Zweifel auf. Louis Wohlwollen galt nur ihm allein und er würde das was ihm lieb und teuer war, mit jeglichen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen.

„William! Fred ist wieder da! Es hat ihn ganz schön erwischt, das sag ich dir…“, rief ein herbeistürmender Moran aufgewühlt und rannte kurz darauf, vor Wut rot angelaufen die Treppe hinunter. Schnell war ihr brüderliches Gespräch nebensächlich und die beiden Brüder eilten in voller Alarmbereitschaft hinterher. Unten im Eingangsbereich befand sich bereits Albert und kümmerte sich um einen schwer verletzten Fred.

„Du lieber Himmel! Was für eine tiefe Schnittwunde! Ich kann mich nicht entsinnen, dass es jemals einer geschafft hatte, dir eine solch ernste Verletzung zuzufügen“, sprach Albert entsetzt und verärgert zugleich und untersuchte die blutige Wunde an seinem unteren Rücken, welche Fred notgedrungen rasch selbst versorgt hatte.

„Und das ist erst eine Warnung gewesen. Harleys Schergen verfolgten mich bis nach London zurück und sie waren nur zu zweit…“, erzählte Fred ausgelaugt, doch ihm ging zu viel durch den Kopf, um zur Ruhe zu kommen.

„Das du in dieser schlechten Verfassung hier wieder auftauchst, bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen. Ich war mir von Anfang an im Klaren darüber, dass ich sie nicht komplett ausschließen durfte. Doch wer mit dem Feuer spielt, geht nun mal zu jeder Zeit ein hohes Risiko ein. Sherlock hat Miceyla folglich nicht aus ihrer Gefangenschaft gerettet, wie es hätte sein sollen. Also ist Harley tatsächlich aufgekreuzt… Er sollte gestern auf einer wichtigen Militärkonferenz erscheinen. Albert wusste darüber seit einer Woche Bescheid. Sein Täuschungsversuch ist ihm aber nicht vollends gelungen. Nein… Er wollte sogar das es auffliegt…“, schloss William unheilvoll, als er den niedergeschlagenen Fred erreichte.

„Vergib mir Will, dass ich mit derart düsteren Nachrichten zurückkehre und Miceyla im Stich gelassen habe… Hier ist ein Brief, geschrieben von Harley persönlich. Für mich erscheint es noch immer wie ein böser Traum, dass er nun volle Macht über sie erhalten hat und über unsere weiteren Schritte bestimmen kann…“, wimmerte Fred entmutigt und schlug verbittert seine Faust auf den Boden, während sich Louis tröstend neben ihn kniete.

„Dieser Drecksack ist tatsächlich in Schottland aufgekreuzt! Doch wieso zur Hölle ausgerechnet zeitgleich mit Sherlock und Miceyla? Das ergibt alles gar keinen schlüssigen Sinn! Lauert hier noch ein weiteres Spitzel, dass sein dreckiges Maul nicht halten konnte?!...Moment mal… Was ist mit Clayton? Ich traue es ihm am ehesten zu, dass er Harley nach Schottland gelockt hat, um ihn dort kalt zu machen. Das würde ihm doch perfekt in den Kram passen!“, schimpfte Moran zornig.

„Nur keine voreiligen Schlüsse ziehen, Moran. Ich verstehe, dass es für dich logisch erscheint, Clayton bei dieser Angelegenheit zu verdächtigen. Jedoch kann ich dir mit absoluter Sicherheit sagen, dass dies seiner eigentlichen Herangehensweise widersprechen würde. Denke nur mal genau nach. Er sucht ein offenes Duell mit Harley und will mit aller Kraft dafür sorgen, dass sein Tod für ganz London zum Skandal wird und nicht in irgendwelchen Hinterwäldern als ein Unglück abgetan wird. Zudem habe ich schonmal verdeutlicht, dass er kein Interesse daran hat, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. Daher wird er Miceyla und Sherlock ganz ihrem eigenen Schicksal überlassen, ohne einzuschreiten. Er spielt den stillen Beobachter, präsentiert die versteckte Wahrheit als Schauspiel auf der Bühne und verfolgt eigennützige Ziele. Aber seine Rolle als Wohltäter ist aufrichtig. Man bedenke nur, mit wieviel Elan er sich um das Waisenhaus kümmert. Er versucht sich selbst und der Welt zu beweisen, dass gute Taten keine Verschwendung sind und niemals in Vergessenheit geraten. Ja, Clayton Fairburn ist nichtsdestotrotz ein Verbrecher, aber dies sind wir alle, Moran“, hob William dessen falsche Anschuldigungen rasch wieder auf und nahm den Brief entgegen.

„Fein, fein… Ich habe nichts gesagt, vergiss es einfach wieder…“, grummelte Moran etwas beleidigt und sah noch immer nicht wirklich überzeugt aus. Für einen flüchtigen Moment tauschte er Blickkontakt mit Albert aus und öffnete anschließend sorgsam das Kuvert und begann die Zeilen des Grauens, geschrieben von Harley Granville, zu lesen.

`Seien Sie gegrüßt, werter Herr Mathematiker. Hier in Schottland lässt es sich aushalten. Ich kann mich nicht mal über das Wetter beschweren. Wie sieht es bei Ihnen aus? Haben sicher nasse Füße in London. Sie gestatten mir doch sicher, ein wenig Zeit mit Ihrem teuren Herzblatt zu verbringen. Der begabte Detektiv hat die gute Dame einfach hängen lassen. Er hat wahrlich kein Händchen für Frauen. Wissen Sie was? Heute ist Ihr Glückstag! Denn ich verrate Ihnen ein Geheimnis. In meinem Büro im Parlamentsgebäude befindet sich ein Safe und darin liegt die Aufzeichnung von einer geheimen Revolte der Arbeiterklasse, die versucht ihre Rechte zu erkämpfen und dem Adel den Krieg erklärt. Im Kleingedruckten steht noch der Name Moriarty darunter. Was geschieht wohl, wenn dieses Schreiben an die Öffentlichkeit gelangt? Wer wird den Kürzeren ziehen…? Und was passiert mit den Moriartys, die der niederen Klasse Rückendeckung geben…? Es wird nicht nur Chaos ausbrechen. Nein mein werter Lord. Ihr geliebtes Land wird sich im Krieg befinden. Jetzt nur nicht ins Schwitzen geraten. Schließlich sind Sie der berüchtigte Meister der Verbrechen. Natürlich nur wenn ich richtig geraten habe… Also fühlen Sie sich so frei, brechen Sie in mein Büro ein und stehlen Sie das Dokument. Wird bestimmt ein Leichtes für Sie, da ich ja abwesend bin. Und was nicht existiert, kann ich folglich auch nicht veröffentlichen. Gleichgültig ob es sich dabei um ein Original oder eine Fälschung handelt. Somit werde ich Ihnen weiterhin Freiraum, bei Ihren obszönen Machenschaften lassen und ein Auge zudrücken. Klingt doch alles Vielversprechend, oder etwa nicht? Ach ja… Ich muss wohl noch erwähnen, dass während Sie so fleißig das verheerende Schreiben stehlen, Ihre liebste Miceyla am morgigen Tage, ihren letzten Sonnuntergang erleben wird. Natürlich obliegt die Wahl Ihnen, wo sich ihr Grab befinden soll. Sehen Sie nur wie großzügig ich bin. Also, worauf warten Sie noch? Über solch ein kleines Opfer, werden Sie ganz bestimmt hinwegsehen. Suchen Sie sich einfach eine neue Frau. Ich könnte Ihnen persönlich, einige aus den vornehmsten Kreisen vorstellen. Wohlan, die Kriegserklärung wartet! Ich gebe Ihnen dreißig Stunden. Hach, was wird Ihre geliebte `Eisblume` bitterliche Tränen weinen, wenn sie erfährt, dass ihrem Liebsten ein einfaches Blatt Papier mit seinem Namen darauf bedeutsamer ist, als die Frau welche er vorgab, mehr als alles andere auf der Welt zu lieben. Ich werde ihr in ihren letzten Stunden Trost spenden, dies noch als Versprechen zum Abschluss… Harley Granville.` William stand während er den höhnenden Brief las, regungslos wie eine Statue auf der Stelle. Im Anschluss daran fixierte er den Brief noch für längere Zeit mit seinen rubinroten Augen, die das Papier in seiner Hand am liebsten zu Asche verbrannt hätten. Er hielt Louis den Brief entgegen, ohne ihn dabei anzublicken. Dieser verstand die Geste seines Bruders und las das Schreiben noch mal für alle laut und deutlich vor. Aufgrund seines Entsetzens, musste er öfters beim Lesen zwischendurch eine kurze Pause einlegen, um seinen Schreck über das gerade Gelesene zu verdauen.

„Will… Uns steht eine Katastrophe bevor…wenn…“, warnte Louis heiser und blickte William verzweifelt an.

„Dieser elende Bastard! Glaubt der ernsthaft, wir würden sein verdorbenes kleines Spielchen mitspielen?! Wir machen Harley ganz einfach kalt, dann ist Miceyla in Sicherheit und seine Schriftstücke verlieren an Wirksamkeit. Außerdem ist das Ganze garantiert nur eine clever eingefädelte Finte, oder William?“, brüllte Moran angriffslustig und bemühte sich dennoch darum, nicht vollends aus der Haut zu fahren. Noch ehe William seine Meinung kundtun konnte, meldete sich Albert zu Wort.

„Ich denke nicht, dass es sich dabei nur um einen aufwendigen Bluff handelt. Du und ich kennen den General persönlich. Er meint es ernst und will uns testen. Wir müssen dafür sorgen, dass sein gefälschtes Dokument vernichtet wird. Sonst bekommen wir große Schwierigkeiten und können unser weiteres Vorgehen nicht weiter planmäßig umsetzen, da es einen Aufstand geben wird. Gleichzeitig hat aber auch Miceylas Rettung oberste Priorität. Will mein Guter, nun ist es an dir, eine Entscheidung zu treffen und einen Plan zu entwickeln, der uns alle sicher aus dieser brenzligen Zwickmühle herausführt. Du weißt, wir unterstützen dich wo wir nur können.“ Mit diesen selbstbewussten Worten, lächelte er William Mut machend an und wirkte trotz der verzwickten Lage so gefasst wie eh und je.

„Danke Albert für dein Vertrauen. Als allererstes möchte ich betonen, dass wir Miceyla befreien werden, auch wenn wir dabei den Moriarty-Plan aufs Spiel setzen. Wir sind eine Einheit und dabei wird es bis zum Ende bleiben. Und sind wir unfähig eine einzelne Person zu beschützen, können wir auch kein ganzes Land verändern. In diesem Punkt sind wir uns alle einig, nicht wahr?“, begann William beharrlich und sogleich nickten seine Verbündeten unaufgefordert. Besonders Fred fiel ein Stein vom Herzen und lächelte zaghaft.

„Gut. Es ist selbstredend Harleys Herausforderung rational anzugehen. Seht es als Generalprobe für unseren eigentlichen Plan. Nun heißt es vollen Einsatz zeigen, ohne sich dabei von zweifelnden Gefühlen leiten zu lassen. Ich selbst gebe es zwar auch nur ungern zu… Aber dieses Mal sind wir auf Claytons Hilfsbereitschaft angewiesen. Louis, ich bitte dich ihn und Amelia noch einmal unverzüglich herzuholen. Du darfst jedoch gleich im Voraus deutlich machen, dass er bei einer kurzweiligen Zusammenarbeit, seine eigenen Prioritäten zurückzustellen hat und das beherzigt was ich ihm sage. An einen Attentat auf Harley darf und soll er erst gar nicht denken“, fuhr William weiter mit der Erstellung eines Plans fort.

„In Ordnung, Bruder. Ich werde mich direkt auf den Weg machen“, befolgte Louis sofort dessen Bitte, ohne seine Beweggründe dabei zu hinterfragen. Sein blindes Vertrauen ihm gegenüber siegte über jegliche Zweifel. Sogar Moran zeigte sich nun wenig überrascht.

„Fein… Dir scheint es auch ernst zu sein, dass wir Hand in Hand mit diesem Clown zusammenarbeiten und das es nicht rein auf einer Ausnutzung beruhen soll. Aber welchen Part soll er denn bitteschön spielen? Du weißt ganz genau, dass wenn er auf Harley trifft, die Fetzen fliegen werden. Und wie sollen wir seinen und Miceylas Aufenthaltsort bestimmen? Fred musste notgedrungen die Überwachung abbrechen. Wir haben außerdem nicht die nötige Zeit, um ganz Schottland zu durchforsten. Und sie werden sich wohl kaum noch in der Nähe

von Greenock aufhalten“, konfrontierte er die Gruppe mit diversen Problematiken, während Louis aufbruchsbereit im Regenmantel, geschwind die Tür hinausmarschierte.

„Ich erläutere den weiteren Plan, sobald Clayton hier eingetroffen ist. Und was den Aufenthaltsort betrifft, den wird Sherlock für uns ausfindig machen. Oder glaubst du, er dreht gerade seelenruhig Däumchen?“, erwiderte William und lächelte den unruhigen Moran entspannt an.

„Verstehe ich nicht… Wie willst du denn auf die Schnelle mit Holmes Kontakt aufnehmen und dabei auch noch anonym bleiben…? Die Macht deiner Gedanken, kommt mir manchmal vor wie ein reines Hexenwerk…“, sprach dieser murmelnd und rieb sich grübelnd die Stirn.

„Lass mich bitte ebenfalls bei Miceylas Rettung helfen!“, rief Fred voller Aufregung und versuchte sich vergeblich vom Boden zu erheben.

„Kommt überhaut nicht in Frage. Du kannst dich ja nicht einmal mehr auf den Beinen halten. Und zudem hast du bereits genug für Miceyla und uns alle getan. Jetzt wirst du artig das Bett hüten, damit du bei zukünftigen Aufträgen wieder fit bist. Geschwächt wirst du nur zum Opfer deiner Feinde. Ich bitte Miss Moneypenny, ein Auge auf dich zu haben“, ermahnte Albert ihn streng, dennoch führsorglich.

„Höre bitte auf Albert, Fred. Ich danke dir für dein aufopferungsvolles Engagement. Überlass alles weitere uns und ich verspreche dir, dass wir nur gemeinsam mit Miceyla wieder hierher zurückkehren werden“, schloss William sich sanftmütig Albert an und jener brachte den verletzten Jungen, mit seiner Unterstützung auf dessen Zimmer.

„Habe verstanden, Will… Vergib meine Unvernunft. Ich werde mich ausruhen und euch vertrauen…“, zeigte Fred sich einsichtig und lief mit Alberts Hilfe davon. Kurze Zeit später saß William gemeinsam mit Albert und Moran im Wohnzimmer beisammen und wartete ungeduldig mit ihnen darauf, dass sie vollzählig waren, um den Plan fortzuführen. Der

tobende Sturm hatte sich noch immer nicht gelegt, was das Warten noch unerträglicher machte. Nach ungefähr einer Stunde, kehrte Louis schließlich mit Clayton und Amelia im Schlepptau zurück.

„Ah, endlich im Trockenen! Schön so schnell wieder hier zu wein. Fühlt sich an, als wäre es erst gestern gewesen. Ha, ha, war es ja auch! Amelia, schau nur wie beliebt wir geworden sind!... Doch keinem ist wohl momentan nach Freudentänzen zumute. Wohlan, dann befassen wir uns direkt mal mit der schmierigen Materie. Der liebe Louis gab mir Harleys Brief zu lesen. Glückwunsch mein kluger Lord, Sie wurden in eine Sackgasse getrieben. Ich hab’s Ihnen ja gleich zu Beginn gesagt. Er wird Ihr Herz so sehr foltern, bis Sie psychisch an Ihre Grenzen kommen. Und dagegen sind nicht einmal Sie immun. Aber was hilft jetzt noch all das Predigen. Ich lasse mich nur ungern demütigen, jedoch gebiete ich Ihnen das Recht, den Takt bei diesem Stück zu bestimmen, um ein tragisches Fiasko zu verhindern. Auch eine kleine Nebenrolle hat ihre Vorzüge…“, fiel Clayton gleich mit der Tür ins Haus, machte es sich auf einem der Sofas bequem und schlug lässig die Beine übereinander. Amelia nahm ein wenig angespannt neben ihm Platz.

„Danke für Ihre rücksichtsvolle Stellungnahme. Sie begreifen schnell, daher werde ich alles nur einmal erklären. Wir müssen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Miceyla befreien und das Dokument vernichten, ehe es ein Dritter zu Gesicht bekommt. Harley wird sie sicher nicht unbeaufsichtigt darauf warten lassen, dass wir sie abholen kommen und gemütlich mit ihr die Heimreise antreten. Er rechnet damit das wir antanzen werden und wird uns deshalb ihre Rettung unsagbar erschweren. Deshalb brauche ich Albert, Louis und Moran als erfahrene Kämpfer bei mir. Sie ahnen bestimmt bereits, dass ich Ihnen aufgrund der komplizierten Umstände, keinen Auftritt in Schottland geben kann. Für alle Beteiligten ist es vorerst besser, wenn es erstmal keine direkte Konfrontation zwischen Ihnen beiden gibt. Nicht das Sie denken, ich wolle Ihre persönlichen Ziele vereiteln. Wir erreichen beide das was wir wollen, ohne uns dabei in die Quere zu kommen. Also erteile ich Ihnen die verantwortungsvolle Aufgabe, das frei erfundenen Schreiben aus Harleys Büro zu entwenden. Demnach dürfen Sie dem nachgehen, worin Sie mit aller Wahrscheinlichkeit noch geübter sind als ich, dem Stehlen. Sie kennen Harley am besten und können am schnellsten herausfinden, wo er etwas Wichtiges versteckt hält. Beim Infiltrieren des Parlamentsgebäudes, können Sie also getrost Ihre diebischen Fähigkeiten ausleben, erläuterte William Claytons gesonderten Auftrag und beide tauschten herausfordernde Blicke aus.

„Oho… Klingt ja beinahe, als wären Sie ohne mich so richtig aufgeschmissen. Sie sind mir vielleicht ein Komiker! Ich soll tatsächlich mein Leben riskieren, um ein verheerendes Dokument zu stehlen, auf dem sich Ihr Name befindet, nur damit Sie unbehelligt weiter den Meisterverbrecher spielen können. Sie würden ganz gewaltig in meiner Schuld stehen, mein Guter. Denn außer das ich mich unnötiger Gefahr aussetze, habe ich nichts von der Geschichte. Jeder der mich dabei erwischte, könnte behaupten ich sei der Meisterverbrecher. Aber es kam schon des Öfteren zu einer Verwechslung, was ich doch recht amüsant finde. William, ich sage es Ihnen ganz informell. Ich werde Ihre mir zugeteilte Rolle spielen. Denn ich versprach das ich nicht zulassen würde, dass Sie mein Leid durchmachen müssen. Miceyla wird gerettet und dabei kennen wir alle kein Pardon. Und wenn es in London zu einem Bürgeraufstand käme, wäre dies auch für mich ziemlich lästig. Ich wünsche mir für meine Mädchen eine sichere Zukunft“, ging er zuvorkommend auf Williams Auftrag ein.

„Freut mich, dass wir konfliktlos auf einen gleichen Nenner kommen. Aus der eigenen Courage heraus, ist es für mich selbstverständlich dafür zu sorgen, dass Sie nicht leer ausgehen, auch wenn Sie nichts als Gegenleistung von mir verlangen. Dieser Brief ist für Sie, der Inhalt sollte alte Erinnerungen bei Ihnen wachrufen. Dies ist die ehemalig gestohlene Erburkunde, welche wir letztendlich für uns sichern konnten. Was für eine Ironie, dass sie nun ihren Weg zurück zu Ihnen findet… Ich überreiche sie Ihnen im Namen von Miceyla. Denn es war ihr Wunsch, dass Sie einen Teil des Geldes erhalten, für die Instandhaltung des Waisenhauses und der schulischen Bildung der Mädchen. Damit brauchen Sie nur zur Bank zu gehen. Sie sollten wissen das es keine Schande ist, als Adeliger der enterbt wurde, mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Bleiben Sie weiterhin der kreative Querkopf der Sie sind. London braucht Menschen wie Sie. Lieber ein produktives kurzes Leben, als ein langes ohne jeglichen Sinn… Wie dem auch sei… Missbrauchen Sie ja nicht Miceylas Vertrauen. Das Geld ist für die Kinder und `nur` für die Kinder. Sollte sich herausstellen, dass Sie das Geld anderweitig ausgeben, dürfen Sie sich daran erfreuen, uns ein nettes kleines Vermögen zurückzuzahlen. Und ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie die Schulden nicht mit ins Grab nehmen. Prima, oder? Ich denke das war deutlich genug“, sprach William unterstreichend und überreichte Clayton einen Briefumschlag, mit dem Wappen der Moriartys darauf. Ihm stand die Verblüffung ins Gesicht geschrieben, als er jenen sorgsam öffnete und den Inhalt erblickte.

„Das ist ja…! Wahrhaftig! Und ich dachte schon, Sie wollen mich nur auf den Arm nehmen. Jetzt haben Sie es ja tatsächlich geschafft, mich zu Tränen zu rühren. Dafür bekommt Miceyla einen dicken Kuss von mir, wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen!“, meinte Clayton zum Dank mit einem strahlenden Lächeln.

„Ha, ha, ha… Einigen wir uns darauf, dass ich ihr den Kuss von Ihnen gebe. Kommen wir nun zu dir, Amelia. Danke das du dich dazu bereiterklärt hast, uns ebenfalls zu helfen. Ich habe hier noch einen weiteren Brief. Überbringe ihn bitte einen von Harleys Soldaten, der noch immer am Bahnhof Wache hält, wie Fred es uns mitgeteilt hat. Er wird sich darum bemühen, dass der Brief auf direktem Wege bei Miceyla eintrifft, noch ehe wir selbst in Schottland eintreffen. Doch verfolge ihn auf gar keinen Fall, um ihren Standpunkt herauszufinden, das ist viel zu gefährlich. Anschließend darfst du für Claytons Operation zur Verfügung stehen und bist von der heiklen Angelegenheit in Schottland befreit“, trug William nun der nervösen Amelia auf, welche sich erhob um seinen Brief entgegenzunehmen.

„Wie Sie wünschen, Lord Moriarty. Ich werde schnellstmöglich dafür sorgen, dass dieser Soldat den Brief erhält.“, versicherte sie mit einer kerzengeraden Körperhaltung. Albert erhob sich nun ebenfalls und trat auf sie zu.

„Und du brauchst keine Gegenwehr von dem Soldaten zu fürchten oder sich darum sorgen, dass er es verweigern könnte, den Brief anzunehmen. Erwähne einfach den Namen Moriarty und alles regelt sich wie von selbst, Ehrenwort“, fügte er noch standhaft hinzu, als hätte er Amelias Befürchtungen erraten.

„Haben Sie vielen Dank, mein Graf… Und…wie geht es Fred? Dürfte ich ihn kurz sehen…?“, erkundigte sie sich etwas zögerlich nach Freds Verfassung.

„Aber gewiss, folge mir bitte.“ Nun war es Louis, der sich von seinem Platz erhob und die junge Frau zu dem Zimmer führte, in welchem sich Fred momentan ausruhte,

„Kann ich kurz mit dir unter vier Augen sprechen?“, wandte Moran sich plötzlich mit einer verschleierten Verbissenheit an Albert.

„Einem Befehl des werten Oberst, werde ich mich wohl kaum wiedersetzen können“, meinte er daraufhin sarkastisch.

„Mann ey, klang das für dich gerade etwa wie ein Befehl? Soll ich dir eine kleine Kostprobe davon geben, wie sich ein `Befehl` bei mir anhört?“, konterte Moran neckend und grinste breit. Beide entfernten sich aus dem Wohnzimmer und ließen William und Clayton alleine zurück.

„Da ziehen sie alle von dannen, unsere treuen Gefährten. Und wir zwei bleiben verlassen im Stillen zurück. Ich glaube meinen inneren Hass mittlerweile gut unter Kontrolle zu haben. Doch das menschliche Herz ist keine Maschine, die sich allein durch Wissenschaft ergründen lässt. Vertrauen habe ich längst nicht mehr in diese verdorbene Welt. All die ganzen falschen Visagen sind mir zuwider. Aber es gibt sie, jene flüchtigen Momente im Leben, die einen auf unerklärliche Weise an Wunder glauben lassen. In diesem Sinne, mein teurer Freund des Verbrechens, werde ich nun aufbrechen. Es gilt einen Einbruch vorzubereiten, für den auch ich einen absichernden Plan benötige. Das Parlamentsgebäude hat eine grässliche Überwachung und zudem habe ich dort auch noch Hausverbot. Fantastische Voraussetzungen, nicht? Ha, ha, so klingt Jammern auf höchstem Niveau! Ich freue mich schon darauf, Ihnen eine positive Berichterstattung überbringen zu können. Matador Muscari hat sich noch nie von jemandem schnappen lassen! Auf ein baldiges Wiedersehen, ob nun als Freunde oder Feinde. Aber ich glaube, Feinde hat jeder von uns beiden mehr als genug, ha, ha“, sprach Clayton zum Abschied und hielt ihm seine Hand entgegen.

„Nicht alle Konflikte müssen zwingend mit Waffen ausgefochten werden. Sie und ich sprechen dieselbe Sprache und auch unsere jeweiligen Weltanschauungen, sind sich recht ähnlich. Das was uns voneinander unterscheidet, ist wie wir Erlebtes verarbeiten und uns mittels Vorstellungen und erlangtem Wissen, eine ideale Zukunft ausmalen. Sie haben es bereits in Ihrem Stück auf bizarre Weise zum Ausdruck gebracht, was das größte Opfer für einen bedeutet. Gefühle erblühen in Windeseile, lassen sich wiederum auch rasch auslöschen. Wer diese Regel beherzigt, wird weder Verlust noch Reue erleiden müssen. Und weil Sie genau jene Regel sich noch nicht zu Gemüte geführt haben, werden Sie gegen Harley Granville verlieren“, erwiderte William abschließend und drückte ihm mit einem kühlen Lächeln die Hand.

„Oho… Welch düstere Prophezeiung Sie mir da mit auf den Weg geben. Doch ich gebe Ihnen höflicher Weise gern Konter darauf. Weil `Sie` genau diese scheinheilige Regel befolgen, werden Sie gegen Sherlock Holmes verlieren“, konterte Clayton schlagfertig und blickte ihn mit seinen tiefblauen Augen so düster an, als wolle er ihn durch sie verfluchen. Jedoch blickte William ebenso finster zurück und drückte seine Hand noch fester.

„Was davon eintreffen wird, regelt weder der Zufall noch das Schicksal, sondern einzig und allein die Zeit…“ sprach er noch, wobei sein Blick wieder sanfter wurde. Clayton ließ nun seine Hand los, nickte lächelnd und zog sich Mantel und Zylinder an. Kurz darauf verließ er das Anwesen und der brausende Sturm verschluckte ihn wie einen dunklen Schatten. Doch allmählich ließ der Starkregen etwas nach und auch die Hoffnung, kehrte langsam in all die schweren Gemüter zurück.

Unterdessen führten Moran und Albert ebenfalls ein Gespräch allein zu zweit.

„Du bist mir zu gelassen, viel zu gelassen, Albert. Ich kenne dich und dein Verhalten, wenn es um Miceyla geht. Und ich bin alles andere als ein Hinterwäldler. Ich erkenne sofort, wenn ein Mann ernsthafte Gefühle für eine Frau hegt. Das ist für mich ganz einfach von belanglosen Liebeleien zu unterscheiden. Glaub mir oder glaub mir nicht. Jedenfalls bist du der Erste, welcher nicht die Füße still halten kann und losstürmt, sobald Miceyla auch nur der Hauch einer Gefahr umgibt. Und jetzt wo sie an der Schwelle zum Tod steht, schaffst du es noch seelenruhig hier weiter auszuharren. Das stinkt gewaltig zum Himmel. Kann es sein, dass dein Vertrauensverhältnis zu Harley stärker ist, als es der Anschein vermuten lässt? Oder erpresst ihr euch gegenseitig? Die Treue zu William sollte dein oberstes Gebot sein. Wir sitzen alle im selben Boot. Daher gefällt es mir gar nicht, wenn einer von uns aus der Reihe tanzt. Ich weiß, dir gewährt dein hoher Posten eine bequeme Handlungsfähigkeit und ich denke nicht, dass ich dir in Sachen Militärstrategien noch eine Lektion erteilen könnte. Erinnere dich an die Worte deines Bruders: `Vereinnahmende Gefühle können dich schnell fehlleiten`. Aber wenn mich nichts täuscht, habt ihr euch beide längst darüber ausgetauscht und ich werde mal wieder außenvorgelassen. So, das reicht mit meiner Predigt fürs Erste. Kommt ja nicht gerade häufig vor, dass ich die Nerven aufbringe, dir offen und ehrlich meine Meinung zu sagen. Nur was ich wissen will, ist Miceyla nun in ernster Gefahr und stellt Harley Granville ein Problem für die Umsetzung von Williams Plan dar oder nicht? Das macht mich noch irre, ewig im Dunklen zu tappen! Wenn du die Antworten darauf kennst, dann teil dein Wissen auch mit mir. Ich habe die Faxen dicke. Und verschone mich mit deinem verhöhnendem Sarkasmus, sonst gehe ich echt noch an die Decke!“, forderte Moran launisch, um sich etwas mehr Klarheit darüber zu verschaffen, wie die momentane Lage einzuschätzen war. Albert ließ dessen emotionale Rede vorerst unbeantwortet und lief in seinem Arbeitszimmer zu dem glänzend schwarzen Flügel, auf welchen er mit sehnsuchtsvollem Blick eine Hand legte.

„Ich musste mich noch nie im Leben mit dem Gedanken auseinandersetzen, etwas nicht erreichen oder besitzen zu können und verdrängte derartige Vorstellungen stets. Meinen Status als Adeliger habe voll ausgeschöpft und William ein imaginäres Reich erschaffen, von dessen Thron aus er freie Handlungsfähigkeit hat. Mein Leben richtet sich einzig und allein nach ihm und seinen Plänen. Selbstlos brachte ich ihm jedes erdenkliche Opfer dar. Und dann, ohne das es einer hätte vorhersehen können, marschierte ein Mensch in unser Leben, der unsere Ansichten teilt und sich nichts mehr wünscht, als für alle Zeit jeden Tag zusammen mit uns lachen zu können. Kurz gesagt, einfach zu leben… Doch wir wissen beide, dass dies nur ein flüchtiger Traum bleibt. Für die Zukunft anderer opfern wir unsere eigene. William schenkte Miceyla einen Bruchteil jenen Traums. Aber du wirst nachvollziehen können, dass der Gedanke daran, dass ihre wunderschönen sanften Augen, irgendwann den bitteren Abgrund des Traums erblicken müssen, mir das Herz zerreißt. Und bei solch einem Moment, schleicht sich dann doch die wage Vorstellung ein, wie es wäre eine lange sorgenfreie Zukunft mit einem Menschen zu haben, mit dessen Herz man auf einer Wellenlänge ist. Dies kommt der Reue gefährlich nah. Doch Moran mein Freund, der Ausgang von dem was wir begonnen haben, ist längst besiegelt. Falls du noch immer meine Entschlossenheit anzweifelst, solltest du wissen, dass William einen Plan verfolgt, der Miceyla die Freiheit schenken könnte. Nur bin ich an dieser Stelle derjenige, welcher dagegen Zweifel hegt. Und ironischer Weise vermute ich, dass nicht ich, sondern er selbst diesen Plan sabotieren wird… Doch gehen wir jetzt nicht zu sehr ins Detail. Du weißt schließlich wovon ich spreche… Und um es noch mal klarzustellen, wir lassen dich nicht außenvor, Moran. Bei uns ist jeder dazu aufgefordert, seinen Beitrag zu leisten. Dennoch muss sich keiner ein Bein ausreißen, um sich dazugehörig zu fühlen. Wir alle haben Stärken, die uns zu einer vereinten Kraft verhelfen. Und deine Worte klingen fast nach einem Vorwurf, nur weil ich mit Gefühlen zu kämpfen habe und dir nicht jede kleinste Information, zusammen mit der Morgenpost überbringe. Ich lobe es, dass du mit deiner Vergangenheit abgeschlossen hast, seitdem du zu uns gekommen bist. Aber bedenke, dass sich vergangene Fehler schnell wiederholen. Zudem habe ich das Recht, dich freundlich darum zu bitten, deine vorlaute Zunge etwas zu zügeln und nicht die Wahrheit, aus den verletzlichen Punkten deines Gegenübers heraus zu prügeln. Du bist nicht gerade der sensibelste Mensch, doch gewöhne dir ein wenig mehr Geduld an. Ich bin kein Freund von Befehlen und einem unangebrachten Umgangston. Jedoch musst du auch mich und meine Verantwortung verstehen. Fehler und Versagen kann ich mir nicht leisten. Da ich dir keine klaren Antworten auf deine Fragen geben kann, wirst du wohl enttäuscht sein. Doch es steht fest, dass Harley es ernst meint. Wir haben Zeit, Miceyla innerhalb der uns gegebenen Frist zu retten. Er benutzt stets faire Regeln und bricht niemals sein Wort. Diesen noblen Charakterzug muss man ihm lassen. Und was heißt dies konkret für uns? Das unsere Chancen mehr als gut stehen. Du denkst ich sei gelassen… Clayton ist nicht der einzige mit schauspielerischem Talent… Unsere Zeit läuft, lass uns noch rasch die nötigsten Vorbereitungen treffen und uns für den Aufbruch bereit machen“, gab Albert ihm schließlich eine ausführliche Antwort und schloss einen Tresor mit etlichen Waffen darin auf.

„Danke Albert, das reicht mir schon mal für den Anfang. Mein aufdringliches Verhalten ist schnell nervtötend, ich weiß. Aber ich bin einfach nicht der Typ, der stillschweigend alles in sich hineinfrisst. Ab und zu muss man seinem Frust auch mal Luft machen, wenigstens du akzeptierst das. Schade das ich nicht Sherlocks Gabe besitze. Dann würde ich meine Antworten auf ganz anderem Wege erhalten, ha, ha! Gut, gut, ab ans Werk!“ Mit diesen munteren Worten verließ Moran Alberts Arbeitszimmer, um eigene Vorkehrungen zu treffen. `Ein Glück besitzt du nicht Sherlocks Gabe…`, dachte Albert während er neue Munition in eine seiner Pistolen tat.

Langsam schritt Amelia auf Freds Bett zu und betrachtete mit sorgenvollem Blick, wie er mit hastigem Atem und Schweißperlen auf der Stirn dalag.

„Fred…bist du wach…? Ich will dich nicht stören… Aber ich wollte dich kurz sehen, ehe ich wieder aufbrechen muss. Denn das nächste Mal wenn wir uns begegnen werden, wird es bestimmt wieder in einem Kampf sein. Denn darin besteht der Sinn in unserem Leben. Doch wir kämpfen beide für eine gerechte Sache. Keiner von uns darf frühzeitig aufgeben. Und ich bete dafür, dass deine Wunden schnell heilen mögen. Du hast mich gerettet und mir vertraut, obwohl ich selbst so gemein zu dir war. Verzeih…“, sprach Amelia leise und da sie nicht wusste, was sie noch sagen sollte, wollte sie wieder kehrtmachen. Doch genau in dem Moment öffnete Fred etwas die Augen und blickte schläfrig zu ihr.

„Amelia…warte… Viel Glück euch allen. Gemeinsam werdet ihr es schaffen. Und wünschst du dir denn nicht, dass dich jemand auf die Weise ansieht, wie du Clayton ansiehst? Dein Herz kann von all dem Kummer befreit werden, wenn du es nur zulässt. Das ist ein Versprechen…“ Nachdem Fred geendet hatte, schloss er auch schon wieder seine Augen und lächelte friedlich. Amelia starrte ihn kurz gleichzeitig empört und verlegen an. Dabei redete sie sich ein, dass er Fieber hätte und daher wirres Zeug redete. Und so verließ sie sein Zimmer und brach zu ihrer Mission auf, den Brief an den Soldaten weiterzugeben.
 

„Und wissen Sie, wie das mit meinem Bein zustande kam?“

„Ihr Pferd ist bei einer Treibjagd in Panik geraten und hat Sie abgeworfen. Jedoch sind Sie mit Ihrem rechten Fuß im Steigbügel hängen geblieben und das Pferd hat sie in rasender Geschwindigkeit, noch ein gutes Stück hinter sich hergezogen. Sie hatten Glück, dass Sie dabei nicht umkamen, doch nun sind Sie lebenslänglich ein Krüppel und mussten Ihre Arbeit beim Militär an den Nagel hängen. So, jetzt ist Schluss! Ich habe genug Ihrer dämlichen Fragen beantwortet und ich bin keine Zirkusattraktion. Unter normalen Umständen bin ich immer für einen solchen Plausch zu haben, aber gerade ist jede Minute sehr kostbar.“ Sherlock saß zusammen mit David Milford im Gasthaus von Greenock und kam nicht drumherum, seinen Schwall von Fragen zu beantworten, ehe dieser offen für ein ernsteres Gespräch war.

„Ha, ha, ha! Bravo Mr Holmes, bravo! Sie sind wirklich ein gerissenes Schlitzohr! Nun gut, ich hatte meinen Spaß. Das jetzt die Rettung Ihrer Gefährtin für Sie oberste Priorität hat, ist äußerst bedauerlich, wo ich doch eine heiße Spur kenne, die Sie geradewegs zum Meisterverbrecher führen könnte…“, sprach David verschwiegen.

„Erstaunlich, über was Sie nicht alles Bescheid wissen. Und vermutlich bin ich jetzt einer der Wenigen welcher weiß, dass Sie in Wahrheit ein enger Vertrauter von Harley sind, anstatt ein Konkurrent. Während Sie hier in Schottland friedfertig vor sich hinleben, besitzen Sie gleichzeitig die Macht, Harley aufzuhalten und zu verhindern das ein Krieg in England ausbricht, mit den Information über die Sie verfügen. Aber alles der Reihe nach. Für Harley sind die Menschen nichts weiter als Bauern auf einem Schachbrett. Er spielt mit deren Leben. Und da ich nun durch Sie erfahren habe, dass er ausgerechnet Miceyla in seiner Gewalt hat, werde ich alles stehen und liegen lassen und dafür sorgen, dass sie befreit wird. Da können Sie mich noch so viel mit Ihrem Geschwafel aus der Reserve locken. Ich habe es satt, selbst nur eine Spielfigur in jedermanns Plan zu sein. Wie ich zum Ziel gelange, bestimme ich mithilfe meiner eigenen Regeln. Reden Sie nur ruhig weiter, wie ich danach handeln werde, habe ich bereits entschieden. Und das war jetzt Ihr letztes Glas Whiskey. Ich brauche Sie noch ein paar Minuten bei klarem Verstand“, verlangte Sherlock sturköpfig und fixierte David eindringlich mit zusammengekniffenen Augen.

„Hach… Sie können ja ein richtiger Spielverderber sein. Aber gut, Sie sollen bekommen, wonach Sie verlangen. Zum einen nenne ich Ihnen den Ort, an dem sich Harley gerade mit der Kleinen aufhält und zum anderen die Information, dass in seinem Büro im Parlamentsgebäude ein Dokument versteckt ist, welches die vermeintliche Wahrheit über den Meisterverbrecher beinhaltet. Und im Laufe des morgigen Tages, wird er sich dort persönlich hereinschleichen, um jenes Schriftstück zu vernichten, während Harley noch abwesend ist. Das ist Ihre Chance, Sherlock Holmes, um den Meisterverbrecher zu schnappen und gleichzeitig einen handfesten Beweis über ihn in Händen zu halten. Sie werden dadurch zu einer außerordentlichen Berühmtheit, dies versichere ich Ihnen! Nun haben Sie die Wahl, Ihre Kameradin retten oder den skrupellosesten Verbrecher von ganz London, ach…von der ganzen Welt fassen! Ich an Ihrer Stelle würde da gar nicht lange überlegen“, verriet David ihm mit einem leicht angetrunkenen Grinsen. Sherlock lehnte sich tiefenentspannt an der Stuhllehne an und zündete sich erst in Ruhe eine Zigarette an, ehe er auf Davids folgenschwere Wahl einging.

„War es das von Ihrer Seite? Dann endet unsere spontane Verabredung wohl jetzt. Und um Ihrer unstillbaren Neugier entgegenzuwirken, ich werde weder das eine, noch das andere tun. Es gibt genug fähige Akteure in meinem Umfeld. Welche Indizien haben Sie außerdem dafür, dass Sie so selbstüberzeugt behaupten können, dass es der `echte` Meisterverbrecher sein wird, der im Parlamentsgebäude erscheint? Sie wissen rein gar nichts über ihn. Und Harley können Sie nicht mal im entferntesten Sinne das Wasser reichen. Also kommen Sie bitte von Ihrem hohen Ross runter und stoppen Ihre Überheblichkeit, bevor Sie mit Informationen um sich werfen, die ein ganzes Land ruinieren könnten. Ich benötige sie nicht um den Weg zu beschreiten, welchen ich gewählt habe. Das ist meine eigene Entscheidung. Versuchen Sie erst gar nicht mich zu verstehen, es sind schon etliche vor Ihnen daran gescheitert. Es genügt mir völlig, wenn ein, zwei Menschen existieren, die mit meinem Verstand mithalten können. Meine Welt ist einsam, doch werden Sie jene Welt niemals auf die Weise sehen können, wie ich sie sehe. Das wollte ich nur noch schnell loswerden. Danke, David Milford, jetzt habe ich meine Motivation wiedergefunden! Genießen Sie noch Ihren Whisky und leben Sie wohl.“
 

„…Und so brach er auf, lief fort, einer ungewissen Zukunft entgegen. Flucht, ja es war eine Flucht vor den eigenen Gefühlen, welche sein Herz kontrollierten. Eine unbändige Macht, sie drang tiefer ein als jeder Pistolenschuss. Es gab keine Rettung, kein Entkommen. Aus purer Feigheit zog er los in einen Kampf, um Konflikte mit Gewalt zu lösen, bei denen sein Verstand versagt hatte. Noch ein letztes Mal seine Waffe in Händen halten, mit dem letzten Kuss seiner Liebsten auf den Lippen…“ Harley saß auf einem klapprigen Schemel und las, als hätte er alle Zeit der Welt, aus Miceylas Notizbuch vor, welches sie trotz der turbulenten Entführungsgeschichte, hatte bei sich behalten können. Nun war sie abermals gefesselt und ihre Hoffnung war getrübter als je zuvor.

„Vergnügen Sie sich nur weiter mit meinen Texten. Sie scheinen ja Gefallen daran gefunden zu haben. Ich stelle Sie gerne als meinen persönlichen Lektor ein…“, murmelte sie mit trockenem Sarkasmus und verzog dabei keine Miene.

„In der Tat, meine Werteste! Nichts geht über ein düsteres Drama. Die Freude und das Glück sterben immer am Ende. Ich kann Ihrem Schreibstil entnehmen, dass sie nicht an Märchen glauben. Und trotzdem gaukeln Sie sich in Ihrer Fantasie vor, eines leben zu können. Sie besitzen eine naive Seele und sind gleichzeitig eine gestandene Realistin. Dies muss sogar meine Wenigkeit als ungemein reizvoll einstufen…“, begann Harley schmunzelnd und kniete sich dicht vor Miceyla auf den Boden nieder.

„Doch weißt du was, meine Teure? Die Liebe ist eine gewaltige Lüge, sie betrügt und verrät uns. Sie lässt ein beständiges schwarzes Loch in uns zurück, das selbst dem härtesten Krieger, den Boden unter den Füßen entreißt. Liebe und Verlust gehen Hand in Hand miteinander. Besser ich bewahre dich vor dieser grausamen Erfahrung. Denn ein traumloser, ewiger Schlaf, ist die größte Erlösung für eine blutendes Herz… Beginnen wir mit deinen stillen Wünschen, nehme Abschied von ihnen…“, sprach Harley eindringlich und strich mit seinem linken Zeigefinger, von ihrem Hals bis zu ihrem wild pochendem Herzen hinab. Die Intensivität seiner Stimmlage, vereinnahmte sie auf unerklärliche Weise und raubte ihr wahrhaftig den Glauben an das Gute. Vielleicht wäre ihr starker Wille noch dagegen angekommen, doch als Harley aufstand und ihr Buch in die Flamme einer flackernden Kerze hielt, starb der allerletzte Funke Mut in ihr. Tränen rollten Miceyla langsam über ihre Wangen, als sie dabei zusah, wie das kleine ihr treue Buch, in Flammen aufging. Es waren zwar nur Ansammlungen von Ideen und Vorstellungen, die sie zu jeder Zeit hätte neuformulieren können und brauchte dem daher nicht nachtrauern. Aber es ging um die Geste des Verlustes, welche Harley gerade inszenierte.

„Auch mir tut es fürchterlich weh. Ich fühle Ihren Schmerz. Und bevor Sie mich einen Teufel schimpfen, gebe ich Ihnen noch einen letzten Brief, der seinen Weg hierher gefunden hat…“ Harley lockerte etwas ihre Fesseln, damit sie den Brief lesen konnte. Miceyla unterdrückte bittere Tränen, als sie direkt an der Handschrift erkannte, von wem er stammte.

`Ich werde kommen und dir die helfende Hand hinhalten.

Ich werde dich hören, wenn du um Hilfe schreist.

Ich werde dich trösten, wenn du traurig bist.

Ich werde dir deinen Schmerz nehmen, wenn du leidest.

Ich werde dich aufmuntern, wenn du die Hoffnung verloren hast.

Ich werde dein Lächeln erwidern, wenn du gesiegt hast.

Ich werde an deiner Seite sein, wenn du vor einer schweren Aufgabe stehst.

Ich werde dir folgen, auf einem unsicheren Pfad.

Ich werde auf dich warten, wenn du dein Ziel erreicht hast.

Ich werde dich verstehen, wenn du von deinen Sorgen erzählst.

Ich werde dir glauben, wenn du die Wahrheit sprichst.

Ich werde dich aufhalten, wenn du eine Dummheit begehst.

Ich werde dich verteidigen, wenn du verspottet wirst.

Ich werde mit dir lachen, wenn du Unsinn machst.

Ich werde dich retten, wenn du in einen Abgrund fällst.

Ich werde mit dir fortlaufen, wenn du flüchtest.

Ich werde mit dir weinen, wenn die Welt sich gegen dich verschworen hat.

Ich werde nach dir suchen, wenn du entführt wurdest.

Dein dich auf ewig liebender William.`

Letztendlich schaffte sie es doch nicht, ihre Tränen noch länger zurückzuhalten, als sie fertiggelesen hatte und lächelte dennoch verbittert dabei. `Oh mein geliebter Will… Kann die Liebe jeden Kampf und jeden Schmerz überwinden,,,? Lass mich bitte einfach nur daran glauben. Wer durchhält, wird am Ende belohnt werden. Wir verbannen die Ungerechtigkeit aus der Welt und aus den Herzen der Menschen…`, dachte sie gefasst und fühlte sich durch dessen mutmachende Zeilen bestärkt. Dabei rüstete sie sich innerlich dafür, den nächsten spottenden Kommentar von Harley zu überstehen.

„Liebliche Worte, kurzweilig betäuben sie den Kummer. Doch dein Retter wird nicht kommen, da er ein Dokument vernichten muss, ehe es der Öffentlichkeit präsentiert wird, um seinen Ruf als selbstloser Adeliger zu wahren. Und die Eisblume, wird in den Flammen der Verdammnis qualvoll verenden… Nun entferne ich mich. Etwas flüstert mir zu, dass London wieder nach meiner Anwesenheit verlangt. In weniger als fünf Stunden, wird dein wertvolles Büchlein nicht das einzige sein, das eine hitzige Begegnung mit dem Höllenfeuer bekommt…“, prophezeite Harley mit einem düsteren Grinsen, entriss ihr den Brief und hielt ihn ebenfalls in die Flamme der Kerze.
 

William trat noch vor allen anderen Passagieren aus dem Zug und warf als erstes einen raschen Blick auf seine Taschenuhr. Noch exakt vier Stunden und zwanzig Minuten blieben ihm, ehe die Sonne untergehen würde. Albert, Louis und Moran traten zu ihm auf den Bahnsteig.

„Jetzt haben wir doch glatt denselben Zug wie Harleys Handlanger genommen und plötzlich war er wie vom Erdboden verschluckt. Ob der Kerl uns bemerkt hat?“, grübelte Moran, während er die fremde Umgebung prüfte.

„Das hat er mit Sicherheit, aber nun brauchen wir ihn nicht mehr. Ich habe die gesamte Karte von Greenock und dessen Umgebung im Kopf. Es führt nur eine Landstraße in die Stadt und aus der Stadt heraus, auf der die Kutschen am zügigsten fahren. Wer es eilig hat und Umwege vermeiden will, wählt also folglich diesen Weg. Wir werden ebenfalls ein Stück die Straße entlangfahren. Wie besprochen teilen wir uns auf. Es sollten nur Louis und ich sein, die auf Sherlock treffen, da wir eine Begegnung mit ihm kaum vermeiden können. Albert und Moran, ihr haltet euch etwas im Hintergrund und schaltet jegliche Feinde aus, die uns in die Quere kommen. Für Diskretion ist diesmal keine Zeit. Harley will mit uns Krieg spielen, also präsentieren wir ihm unsere Antwort und stellen unter Beweis, dass wir vor keiner Herausforderung zurückschrecken. Doch mit aller Wahrscheinlichkeit, werden wir ihn selbst hier vor Ort nicht mehr zu Gesicht bekommen…“, beschrieb William ihre weiteren Schritte, als die Gruppe unter sich war.

„Du glaubst doch nicht etwa, dass dieser freche Wichtigtuer wieder nach London abgedampft ist?! Was wenn er dort eintrifft, noch ehe Clayton aus dem Parlamentsgebäude raus ist? Dieser Mann ist ebenfalls nicht zimperlich, was die Durchsetzung von heimtückischen Plänen angeht…“, brummte Moran launisch und warf abermals prüfende Blicke um sich.

„Uns bleibt nichts anderes übrig, als Clayton und seinem Geschick zu vertrauen. Er ist kein Tölpel, sonst hätten wir ihn erst gar nicht, für eine Mission schwierigen Grades ausgewählt. Zudem besitzt er genügend Selbstbeherrschung, um Harley nicht gleich an die Gurgel zu gehen, sobald sich eine Gelegenheit dafür ergibt. Solltest dir mal eine Scheibe von ihm abschneiden, mein tobsüchtiger Scharfschütze. Komm, beweise mir, dass der Soldat in dir noch nicht ausgerottet wurde“, neckte Albert ihn genüsslich, um dessen verkrampfte Stimmung etwas zu lockern und gab ihm einen kräftigen Klaps auf den Rücken.

„Klasse… Und ausgerechnet wir beide, sind Partner bei diesem wichtigen Auftrag… Ich kündige dann schon mal an, dass ich mir mindestens die nächsten drei Abende freinehmen und ordentlich einen draufmachen werde. Anders ist dieses ganze Trauerspiel ja nicht zu ertragen.“ Moran verdrehte seufzend die Augen, während er den Gurt seiner Gewehrtasche strammer zog und allein vorausmarschierte.

„Wann du dir freinehmen darfst, entscheidet immer noch Will, du räudiges Etwas! Und denke daran, dass es kaum einen Angestellten in einem Adelshaushalt gibt, der so gut verdient wie du“, rief Louis Moran zurechtweisend nach und setzte sich ebenfalls in Bewegung. William und Albert tauschten trotz ihrer eigenen Anspannung lächelnde Blicke aus und folgten ihnen schnellen Schrittes.

Das hohe Gras am Wegesrand tanzte in einem seichten Wind und eine warme Maisonne, ließ die üppigen Heiden in den kräftigsten Farben erstrahlen.

„Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine solch reine Luft eingeatmet zu haben. Und es duftet sehr angenehm nach frischen Gräsern. Wahrlich eine Wohltat für Seele und Körper“, sprach Louis mit einem entspannten Gesichtsausdruck und genoss die friedliche Atmosphäre der naturbelassenen Landschaft.

„Dem kann ich nur zustimmen. Durham ist im Gegensatz zu Schottland nur ein kleines, überschaubares Fleckchen Natur. Dieser Ort lässt einen die Schnelllebigkeit der Großstadt vergessen. All den Lärm, den Dunst und den Gestank. Man bekommt fast den Eindruck, die Zeit wäre zum Stillstand gekommen…“, erwiderte William sanft und lächelte melancholisch. Nach einer kurzen Kutschfahrt, bat er den Kutscher Halt zu machen, um mit seinem Bruder zu Fuß weiterzugehen, während Albert und Moran etwas zeitverzögert nach ihnen aufgebrochen waren. Um weder im ordentlichen Anzug aufzufallen, noch in schwarzer Tracht verdächtig zu wirken, trugen William und Louis ganz gewöhnliche, alltagstaugliche Kleidung. In der Ferne konnten beide eine Gestalt ausmachen, die wie ein verirrter Reisender auf einem großen Felsbrocken am Wegesrand saß. Doch beim näheren herantreten war ihnen auf Anhieb klar, dass diese Person sich alles andere als verirrt und viel eher auf ihre Ankunft gewartet hatte…

„Gut, das du mich nicht lange hast warten lassen. Die Zeit drängt. Du weißt, ich wäre Hals über Kopf jedes Risiko eingegangen, um Miceyla zu beschützen. Doch wissen wir beide, dass dabei etwas ganz gewaltig verkehrt wäre. Denn du solltest sie befreien, Liam und nicht ich. Mit der Reise nach Schottland, müssen wir uns alle einen kleinen Fehltritt eingestehen. Wer vor Gefahr flieht, rennt geradewegs in sie hinein…“, grüßte Sherlock die zwei Ankömmlinge ohne eigene Erklärungen oder nachzuhaken, auf welchem Wege William von den misslichen Ausschreitungen erfahren hatte. Zwischen beiden bedurfte es keinerlei ausführliche Worte, um sich gegenseitig alles zu erklären.

„Die Welt ist wesentlich überschaubarer, wenn man sein Wissen zur richtigen Zeit und am richtigen Ort einsetzt. Wir sehen und begreifen viel. Doch auch unserem Weitblick, entgeht manchmal die verborgene Wahrheit. Es gibt immer verschiedene Lösungswege, aber das Endergebnis bleibt stets ein und dasselbe… Führen Sie uns nun bitte zu Miceyla, Mr Holmes. Und vermeiden wir Komplikationen, indem wir zusammenarbeiten“, sprach William mit entschlossener Stimme, während Louis schweigsam neben seinem Bruder stand und mit einem aufgesetzt neutralen Gesichtsausdruck, Sherlock genaustens beobachtete.

„Die Lage ist zu ernst, um einen Wettbewerb daraus zu machen. Und dennoch konkurrieren wir beide wohl überall miteinander. Harley hat sich mit Miceyla in eine Art unterirdische Festung zurückgezogen, in der einst Sklaven untertage Schwerstarbeit verrichtet haben. Auch dieses Land hat seine Schattenseiten. Die Regierung Englands, würde am liebsten die Wirtschaft der ganzen Welt beherrschen. Doch es existieren noch Menschen, die nicht klein beigeben und ihre Unabhängigkeit zu verteidigen wissen. Folgen Sie mir und ich hoffe Sie sind gut zu Fuß, denn keine Kutsche kann den Weg dorthin passieren…“, verriet Sherlock mit Blick auf den weitentfernten Horizont. William ließ sich bereitwillig von ihm führen, während Louis ganz und gar nicht damit einverstanden war, sich ausgerechnet auf ihn verlassen zu müssen. `Warum muss der Kerl es so aussehen lassen, als hätte er mit Will eine geplante Verabredung?! Und ich bin für ihn wohl nichts weiter als eine unbedeutsame Person, bei der es nicht wert ist, ihr Aufmerksamkeit zu schenken. Wills Sympathie für diesen exzentrischen Detektiv, legt einen dunklen Schleier über unser zielgerichtetes Vorhaben. Er braucht nicht so etwas wie einen Seelenverwandten, wo er doch mich und Albert hat. In meinen Augen, ist seine Einmischung die größte Gefahr für uns alle. Besser er verschwindet frühzeitig aus unserem Leben. Am besten…gemeinsam mit Miceyla… Genau hier und jetzt, fern von London, dass wäre die beste Gelegenheit dafür…`, dachte Louis boshaft und hielt seinen Blick starr auf Sherlock gerichtet. Mehr als alles andere auf der Welt, wollte er seinen Bruder beschützen und ihm stets zur Seite stehen. Seit er denken konnte, waren sie beide füreinander da gewesen. Doch das Leuchten von Williams Augen, wenn er mit Sherlock oder Miceyla sprach, gab Louis das Gefühl, man wolle sie beide voneinander trennen. Und das in einer Zeit, in der sie mehr denn je aufeinander angewiesen waren. Dennoch bemühte er sich darum seine Fassung zu wahren. Schließlich war die momentane Lage zu ungewiss und seine abdriftenden Gedanken, könnten alle in noch größere Schwierigkeiten bringen. Plötzlich wurden die drei Wanderer daran erinnert, dass die Zeit an jenem friedlichen Ort keineswegs stillstand. Denn die strahlende Sonne, sank langsam aber sicher zum Horizont hinab und sie erhöhten ihr Schritttempo, ohne eine Pause einzulegen.

„Nicht mehr weit und wir erreichen… Vorsicht!“ Sherlock brach mitten im Satz ab und richtete eine Pistole auf ein hohes Dickicht zu seiner rechten Seite, aus der zwei mit Gewehren bewaffneten Männer herausgestürmt kamen. Auch William hielt seine Waffe schussbereit in der Hand, wartete jedoch damit ab, den Abzug zu betätigen. Wie aus dem Nichts, wurden den zwei angriffslustigen Männern, auf einmal die Gewehre aus den Händen geschossen. Doch weder durch einen Schuss von Sherlock, noch aufgrund einem der beiden Brüder. Und es war nicht mal das Geräusch eines Schusses zu hören. `Wer hat da gerade geschossen…? Derjenige muss aus einer beachtlichen Entfernung gezielt haben. Wo könnte er sich versteckt halten… Das Gehölz über dem Tal käme als einzige Option in Frage. Ein solch präziser Schuss, kann nur von einem erfahrenen Scharfschützen stammen. Ich habe noch vor Liam reagiert… Um einen simplen Leibwächter, handelt es sich wohl kaum…` Während Sherlock versuchte, sich unbeeindruckt einen logischen Reim aus dem Ganzen zu machen, beobachtete er weiter die Reaktionen der Brüder, anstatt den verwirrten Männern Beachtung zu schenken.

„Sie ziehen doch sicher ebenfalls vor, unsinniges Töten zu vermeiden“, meinte William nur lächelnd und erwähnte erst gar nicht die ungewöhnlichen Schüsse.

„Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund“, erwiderte Sherlock mit einem kurzen Grinsen und visierte nun wieder die verdutzten Männer an. William und er nutzten deren konfusen Zustand, um die zwei mittels eines kräftigen Fausthiebs, bewusstlos außer Gefecht zu setzen.

„Kurz und schmerzlos. Der Eingang des Bergwerks ist bereits in Sicht. Ich werde vorausgehen und die Gegend nach einem weiteren Empfangskomitee auskundschaften…“, meldete Louis sich bereitwillig zu Wort und lief hoch erhobenen Hauptes voraus.

„Ihr Bruder besitzt eine markant distanzierte Verschlossenheit. Achten Sie daher darauf, dass er seine Sorgen nicht zu sehr in sich hineinfrisst. Dies kann zu einem üblen Gefühlsausbruch führen. Und da kann ich aus eigener Erfahrung sprechen… Nun denn, ich habe Sie zu Ihrem Zielort geführt, den Rest schaffen Sie auch alleine. Haben ja fähige Mitstreiter im Schlepptau… Wie ich mein Versagen als Miceylas Geleitschutz wiedergutmache, regle ich auf meine Weise und richte mich da nicht nach den Vorschriften anderer. Sie hat im Gasthaus noch Gepäck zum abholen. Je nach Lust und Laune halte ich mich dort ein Weilchen auf, um auf den nächsten Zug zu warten… Sie wissen, was ich damit ausdrücken will. Und übrigens hatte ich beinahe einen weiteren Indiz dafür, um Sie als den Meisterverbrecher verdächtigen zu können. Doch ich verrate Ihnen etwas. Ein Vöglein hat mir gezwitschert, dass er während wir hier gerade plaudern, ein Unheil bringendes Dokument aus Harleys Büro stiehlt, damit seine perfekten Pläne nicht durchkreuzt werden… Die Zufälle und Täuschungen überschneiden sich immer häufiger. Sie erwägen doch auch sicher, reinen Tisch zu machen. Die Maskerade wird früher oder später ihr abruptes Ende finden“, erzählte Sherlock gespielt unwissend und zückte ein Päckchen mit noch drei verbliebenen Zigaretten darin.

„Was Sie nicht sagen… Er hat wahrlich alle Hände voll zu tun, um die Perfektion seiner Handlungen zu wahren. Richten Sie Ihr Augenmerk nicht zu sehr auf seine Person. Sie könnten dabei gefährlich aus dem Gleichgewicht geraten. Ich kenne keinen talentierteren Meisterdetektiven, als Sie. Deshalb kann ich mit überzeugter Gewissheit sagen, dass Sie ihn schnappen und die Wahrheit seiner Beweggründe offenlegen werden. Bleiben Sie nur dran und seien Sie nicht wählerisch, was die Art Ihrer Methoden angeht… Für mich ist dies sehenswerter, als jedes eingeübte Theaterstück. Wohlan, ich muss meiner tapferen Frau zur Hilfe eilen“, erwiderte William lächelnd, mit ebenfalls vorgegaukelter Unwissenheit und machte sich daran Louis zu folgen.

„Und Liam… Geben Sie Miceyla einen Grund, der sie unweigerlich davor schützt, sich in Gefahr zu stürzen und Sie nicht ständig dazu zwingt, die schützende Hand über sie halten zu müssen. Sie besitzen ein unermessliches Einfallsreichtum, daher sind Tipps meinerseits überflüssig. Viel Erfolg und bewahren Sie weiterhin Ihre Contenance, werter Mathematiker. Man sieht sich in London…“ Winkend machte Sherlock nach seinen abschließenden Worten kehrt, ohne nochmal zu ihm zurückzublicken. William hingegen blieb kurz überrascht stehen und seine rubinroten Augen, ruhten eine Weile auf den sich entfernenden Sherlock. `Einen Grund… Ja, darüber habe ich längst nachgedacht…`
 

Miceyla liefen dicke Schweißperlen die Stirn hinab und aufgrund einer glühenden Hitze, fiel ihr das Atmen immer schwerer. Man hatte um sie herum in einem Halbkreis unzählige Fidibusse auf dem Boden verteilt und ein grelles Feuer entfacht. Nun brannte es vor ihr lichterloh und auch wenn die Flammen sie noch nicht erreichen konnten, übermannte sie eine unbändige Panik vor einem grausamen Tod und traumatische Bilder von dem Unglück in Harefield, schossen ihr durch den Kopf. `A-amelia…du konntest dem Höllenfeuer standhalten und hast überlebt… Doch ich…bin an einer Wand gefesselt und den Flammen schutzlos ausgeliefert… Harley du Monster…es ist unendlich grausam, deine Opfer sich ihren größten Ängsten stellen zu lassen. Aber bin ich dieses ganze Schlamassel nicht selber schuld? Mein Leben hat endlich einen Wert und einen tiefgründigen Sinn bekommen. Ich darf es nicht einfach so wegwerfen. Es gibt Menschen die mich noch brauchen. Bevor ich das Leben von anderen beschütze, muss ich mich erstmal um mein eigenes kümmern. Der Tod…ereilt einen noch früh genug und dann…gibt es tatsächlich kein Zurück mehr…` Mit glasigen Augen starrte Miceyla in das lodernde Feuer und ließ in Gedanken ihr eigenes Handeln und die jüngsten Geschehnisse Revue passieren. Sie meinte schon zu spüren, wie die Fänge des Todes sie zu sich reißen wollten und glaubte Halluzinationen zu bekommen, als eine dunkle Gestalt durch die Flammen auf sie zugesprungen kam, ohne dabei Feier zu fangen. Klirrend fielen kurze Zeit darauf, die schweren Eisenketten von ihren Hand- und Fußgelenken zu Boden. Von Schwindel gepackt kippte sie nach vorn, doch sie wurde von schützenden Armen abgefangen, welche sie so fest umklammerten, dass ihr fast die Luft zum atmen genommen wurde, was sie wiederum daran erinnerte, dass sie noch am Leben war.

„Meine liebste Miceyla… Niemals könnte ich von dir verlangen, mir hierfür zu vergeben. Doch ich halte mein Wort und gegebene Versprechen. Kein Feuer dieser Welt ist mächtig genug, um mich davon abzuhalten, dich vor ihm zu beschützen. Dein Schmerz ist auch der meine. Im Diesseits, im Jenseits, jetzt und für alle Ewigkeit…“ Die liebevolle Stimme und ein wild pochendes Herz beruhigten Miceyla so ungemein, dass ihr nun Tränen der Erleichterung über die Wangen liefen und ihr die Kraft schenkten, ihren Retter ebenfalls zu umarmen.

„Es ist nun endlich kein Traum mehr… Du bist wirklich gekommen um mich zu retten, mein geliebter Will… Ich brauche dir weder zu vergeben, noch Groll gegen dich zu hegen. Die stärksten und tapfersten Soldaten, mussten erst durch die Hölle gehen, um als Helden wiederkehren zu können. Dies ist unsere Geschichte, mit all ihrem Freud und Leid in Vollendung… Ein von uns geschaffenes Meisterstück…“, flüsterte Miceyla mit geschlossenen Augen und wie durch ein Wunder, fühlte die sie umgebene Hitze, sich wesentlich weniger bedrohlich an. William lockerte seine Umklammerung etwas, damit er sie richtig betrachten konnte. Auch sie blickte ihrem Liebsten, mit einem freudig schlagenden Herzen an. Binnen eines kurzen Wimpernschlages, trafen ihre Lippen aufeinander und sie versuchte diesen einmaligen Moment, in ihre Erinnerungen einzuprägen. Ein Augenblick des inneren Friedens, während einen die Gefahr umgab. Fast wie ein tobender Krieg, mit einem im Zentrum herrschenden Weltfrieden.

„Wollt ihr beiden hier drin gegrillt werden?! Raus hier, aber dalli! Für die fröhliche Wiedervereinigung ist später noch genug Zeit!“, brüllte Moran von der anderen Seite der Flammenwand. William erhob sich zusammen mit Miceyla und blickte sie pflichtbewusst an.

„Halte bitte noch etwas länger durch und sammle ein letztes Mal all deine Konzentration und Kraftreserven, bis wir hier raus sind. Das Feuer ist nicht die einzige Bedrohung, mit der wir zu kämpfen haben… Denn Harley hat diesen Ort nicht unbewacht verlassen. Und hoffen wir, dass Albert und Louis, den Weg für unsere Flucht größtenteils freiräumen konnten“, bat er mit ernster Miene und sie nahm als Antwort daraufhin ihren Degen fest in die Hand.

„Habe verstanden! Ich bleibe wachsam. Eine so starke Gemeinschaft wie wir, kann niemand aufhalten!“ William lächelte nach ihren entschlossenen Worten und beide gaben sich mit einem Nicken zu verstehen, das sie bereit waren. Moran hatte ihnen in der Zwischenzeit, eine kurzweilige Schneise in den knisternden Flammen geschaffen, sodass William und Miceyla in sekundenschnelle unbeschadet hindurchhuschen konnten. Zu dritt stürmten sie den felsigen Hauptgang des Bergwerks Richtung Ausgang entlang. Gleichzeitig hielten sie Augen und Ohren für einen Überraschungsangriff offen. Trotz aller Wachsamkeit wurde das Trio überrumpelt, als ein Mann unmittelbar vor Moran von oberhalb herabgesprungen kam und ihn mit einer langen Spitzhacke attackierte. Mehr verärgert als erschreckt, erlaubte es ihm die kurze Distanz nicht, mit seinem Gewehr auf den Angreifer zu zielen.

„Moran!“, schrie Miceyla panisch und wollte ihm instinktiv zu Hilfe eilen und verpasste dem stämmigen Mann, mit ihrem Degen eine schmerzvolle Wunde am rechten Arm, ehe die gefährlich spitze Hacke Moran treffen konnte. Ohne zu zögern wollte sie ihm mit einem weiteren Degenhieb den Rest geben, auch wenn ihre Hände dabei zu zittern begannen. Doch William kam ihr zuvor und beendete mit einem treffsicherem Kopfschuss das Leben des zwielichtigen Mannes.

„Danke ihr beiden. Ausnahmsweise darf sich meine harte Rechte auch mal etwas ausruhen, he, he“, meinte Moran und blickte Miceyla mit einem Gesichtsausdruck an, in dem sich Stolz und Schuldgefühle gleichermaßen widerspiegelten.

„Weiter geht’s! Noch haben wir den Ausgang nicht erreicht. Und Liebling, deine Fechtkunst kann sich sehen lassen“, lobte William sie und seine Miene glich flüchtig der von Moran. Nach der kurzen Unterbrechung, kam es zu keinen weiteren Komplikationen und sie gelangten bereits nach wenigen Minuten, problemlos zum Ausgang der Mine. Mittlerweile war die Sonne komplett untergegangen und Miceyla genoss die kühle Brise der hereinbrechenden Nacht, um sich nach dem Flammenbad etwas abkühlen zu können.

„Wie es scheint, haben die letzten verbliebenen Störenfriede das Weite gesucht. Ich denke nicht, dass wir weitere Überfälle fürchten müssen. Die Lage hat sich schneller entspannt als gedacht, vorerst… Aber es tut gut zu sehen, dass du die ganzen Strapazen weitgehend unbeschadet überstanden hast, Miceyla“, empfing Louis die drei und sie ignorierte sogleich seine gespielte Besorgnis, welche sie direkt durchschaute. `Die Masche zieht bei mir nicht mehr… Du hättest einen Freudentanz veranstaltet, wenn ich hier ums Leben gekommen wäre…`, dachte sie gleichgültig und schwenkte ihren Blick langsam zu Albert. War er erleichtert, sie gesund und munter zu sehen? Unterdrückte er seine Angst um sie? Wollte er seine wahren Gefühle, aus Stolz vor den anderen nicht zeigen? Miceyla konnte darüber nur rätseln und brachte es nicht über sich, seinem Blickkontakt, trotz der sie umgebenen Dunkelheit, noch länger standzuhalten. `Bitte schweige mich nicht an… Sage etwas… Das du dich freust mich wiederzusehen… Irgendetwas… Ich sehe dir doch an, dass du mir unendlich viel zu sagen hast… Du hattest damit zu kämpfen, mich gehen zu lassen. Doch allmählich dämmert es mir, dass du die Gewissheit besaßest, dass mir niemals etwas zustoßen würde. Und dies kann nur bedeuten das…`, dachte sie bedrückt und nahm sich vor, ihn in einem günstigen Moment zur Rede zu stellen. Sie vermisste es insgeheim, seine gefühlvoll geschriebenen Briefe zu lesen. Verbittert senkte sie den Blick. Nun war die Truppe wieder vereint, doch ihr glückliches Lächeln blieb aus. Es gab zu viele Intrigen und Ungereimtheiten, welche jegliche Gelassenheit zunichtemachten.

„Verzage nicht, meine liebe Miceyla. Du hast hier in Schottland mehr Mut und Stärke bewiesen, als es von dir bisher in London abverlangt wurde. Wir hätten dich niemals im Stich gelassen, denn du weißt, außerplanmäßige Vorkommnisse biegen wir zu unserem Vorteil zurecht. Doch da du dieses Mal von uns allen am meisten Leid durchmachen musstest, werde ich nicht eher ruhen, bis der entstandene Schaden behoben wurde. Ich bestehe darauf und lasse nicht zu, dass Stärke zu deiner Bürde wird. Taten sind gewichtiger als Worte. Und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um dein gütiges Lächeln zu beschützen…meine liebe Eisblume… Bitte nimm meine Worte fürs Erste an. Sie sollen weder eine Entschuldigung, noch eine Erklärung für alles sein“, sprach Albert bemüht sachlich und ließ dennoch zaghaft seine wahren Gefühle durchsickern. Tatsächlich verhalfen ihr seine sorgsam gewählten Worte, zu einem flüchtigen Lächeln und zur Akzeptanz, dass sie nach dem turbulenten Abenteuer, erstmal zu ihrem mehr oder weniger geordneten Alltag zurückfinden musste, um wieder einen klaren Blick auf die komplizierten Gegebenheiten zu bekommen.

„Danke Albert… Ich muss mich nach all dem wieder neu sammeln. Aber ich glaube, nicht nur mir geht es da so… Schade das ich dieses wunderschöne Land, auf solch eine korrupte Art kennen gelernt habe. Gerne wäre ich noch ein Weilchen länger geblieben… Doch…wie geht es eigentlich Fred und Amelia? Ich mache mir schon die ganze Zeit über furchtbare Sorgen“, sprach Miceyla beunruhigt und faltete hoffend die Hände vor der Brust zusammen.

„Fred hat sich eine recht schwere Verletzung zugezogen. Aber mit genug Bettruhe und ärztlicher Behandlung, ist er wieder rasch über dem Berg. Es ist nichts Lebensbedrohliches, habe daher keine Angst um ihn. Amelia geht es gut, sie unterstützt nun Clayton, mit dem wir erfolgreich verhandeln konnten, dass er die Infiltrierung des Parlamentsgebäudes übernimmt und das für uns tückische Dokument unschädlich macht“, berichtete William von dem Stand der Dinge und schien selbst über die ganze Entwicklung, alles andere als zufrieden zu sein.

„Das dachte ich mir fast… Und Harley lacht sich gerade ins Fäustchen, während er unterwegs nach London ist… Wir müssen ebenfalls schleunigst zurück und…“ Ein lautes Wiehern unterbrach Miceyla und sie entdeckte in einiger Entfernung, zwei friedlich grasende Pferde.

„Sie gehörten zwei der Söldner. Pferde sind nun mal die sinnvollste Methode, um am schnellsten die unwegsame Prärie zu durchqueren“, meinte Louis mit Blick auf die beiden nun herrenlosen Tiere.

„Zwei von uns können also schon mal vorreiten. Miceyla, ich schlage vor das du vorgehst. Ich kann dir jetzt nicht auch noch einen meilenweiten Fußweg zumuten. Du kämpfst ja sogar dagegen an, nicht vor Erschöpfung umzukippen. Und zudem…wartet Sherlock in Greenock auf dich…“, verriet William, wobei seine Stimme immer leiser wurde. Plötzlich riss sie die Augen weit auf und wirkte hellwach. `Sherlock…` Dabei verspürte sie das eigenartige Gefühl der Enttäuschung, dass er selbst nicht bei ihrer Rettung erschienen war. Obwohl sie vermutetet, dass er William unterstützt haben musste.

„Ich werde mich gleich auf den Weg machen…“, verkündete sie ungeduldig und lief auf die bereits gesattelten Pferde zu.

„Wenn du magst begleite ich dich“, bot Albert sich als ihre Begleitung an. Sie ahnte das er vorhatte, ein Gespräch unter vier Augen mit ihr zu suchen. Doch da sie sich so kurzfristig noch nicht bereit dazu fühlte, ging sie erst gar nicht näher auf sein nur gut gemeintes Angebot ein und blickte stattdessen Moran mit einem breiten Grinsen an.

„Na Meister, Lust auf einen wilden nächtlichen Ritt, mitten durch das verwegene Schottland?“

„Wie könnte ich da nur nein sagen. Auf dem Rücken eines Pferdes, im bannbrechenden Galopp davonzureiten, kommt dem Gefühl der Freiheit ein ganzes Stück näher. Sollte dir bekannt vorkommen, he, he. Du wählst also den schwarzen Hengst, huh? Der passt zu dir! Dann nehme ich die braune Stute“, freute sich Moran sichtlich über einen entspannten Abschluss der Mission und verstand auch, dass sie es vorzog, eine `neutrale` Person als ihren Geleitschutz bei sich zu haben, bis sie ihre aufgewühlten Gedanken wieder geordnet hatte.

„Gib mir gut auf Miceyla Acht, Moran. Aber das brauche ich dir ja nicht mehr zu sagen… Wir treffen uns später am Bahnhof. Sollten in Greenock weitere Probleme auftreten, dann…“, begann William, doch Miceyla, die bereits auf ihrem Pferd saß und von oben zu ihm herabsah, unterbrach ihn und führte seinen Satz fort.

„…Dann werde ich diesen Problemen demonstrativ aus dem Weg gehen und einen großen Bogen darum machen. Wir tun was wir können und geben zu jeder Zeit unser Bestes. Doch wenn wir uns den Sorgen eines jeden Bürgers annehmen, kommen wir nie vom Fleck. Denkanstöße und Ratschläge sind rasch verteilt. Aber die Menschen müssen eigenständig Lösungsansätze finden und daran wachsen. Dies ist der erste Schritt, welcher aus fast jeder Krise führt. Und Will, nur weil du mich das Töten gelehrt hast, werde ich es nicht zur Gewohnheit machen. Doch wie du mir einmal sagtest, um mein Leben und das anderer zu beschützen, führt manchmal kein anderer Weg daran vorbei. Ich bin gespannt, ob du mein blutendes Herz heilen kannst. Denn wenn du es nicht kannst, so kann es niemand…“, sprach Miceyla ermüdet und wollte nichtsdestotrotz, ein paar entschlossene Worte direkt an William richten, ehe sie mit Moran aufbrach. Ohne eine Antwort seinerseits abzuwarten, galoppierte sie Seite an Seite mit Moran davon.

„Sieh nur Bruderherz, der unberechenbare Wille, den du so sehr an ihr liebst, wird mit jedem Augenblick stärker. Du behauptest zwar, ich würde sie zu sehr in Watte packen wollen, aber auch in dir nagt das schlechte Gewissen, gerade nach dem heutigen Tage… Du weißt doch, wir sehr wir beide uns ähneln. Sonst…hätten wir uns schließlich niemals in dieselbe Frau verliebt…“, sprach Albert wehmütig, welcher direkt neben William stand und ihm die letzten Worte nur noch zuflüsterte. `So ist es… Meine geliebte Winterrose, du wirst so stark werden, dass du selbst mich nicht mehr brauchen wirst…`

Die Pferde schienen genau zu wissen, wohin sie ihre Reiter bringen mussten und so verließen Miceyla und Moran sich weitestgehend auf den fein ausgeprägten Orientierungssinn der klugen Tiere.

„Wir…wir sind da!“, rief sie aufgeregt und schenkte ihren schmerzenden Gliedern, nach dem Ritt in hohem Tempo keinerlei Beachtung.

„Dann werde ich mal ein wenig untertauchen und auf dich warten. Ich bin stets zur Stelle, sollte es Schwierigkeiten geben. Und keine Bange, ich suche nicht das nächste Pub auf. Also Abmarsch, regle mit dem Detektiv, was auch immer es zu regeln gibt“, versprach Moran, als sie im gemächlichen Trab Greenock erreichten.

„Ich danke dir.“ Eilig sprang Miceyla vom Pferd und sprintete geschwind in Richtung der Gaststätte. Die Angst er könnte bereits abgereist sein, trieb sie unermüdlich trotz ihrer beißenden Erschöpfung voran. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde jeden Moment aus ihrer bebenden Brust springen, als sie endlich vor dem ländlichen Gasthaus ankam, in dem noch in einigen der Zimmer helles Licht brannte. Im Innern des Hauses, begann sich ihr Herz noch zusätzlich zu verkrampfen, da sie die lieblichen Klänge von Sherlocks Geigenspiel vernahm. Sie lächelte bitter darüber, dass solch harmonische Musik, gleichzeitig einen unerklärlichen Schmerz in der Seele auslösen konnten. Dasselbe galt für Alberts Klavierspiel. Jene Instrumente spielten wahrlich die Melodie der Seele. Sherlock befand sich in ihrem Zimmer, anstatt in seinem eigenen, wo ihr Gepäck noch immer so ordentlich dastand, wie sie es bei ihrer Ankunft dort abgestellt hatte.

„Wir haben uns beide ganz schön verspätet. In vielerlei Hinsicht… Was hältst du davon, wenn wir den `Schottland-Fall` offiziell als gescheitert anerkennen? Akzeptieren wir, dass wir uns in London heimischer fühlen und daher Heimvorteil haben. Es ist alles nur eine Frage der Sichtweise, um mit einer Niederlage fertig zu werden. Doch du kannst einiges an gesammelter Erfahrung mit nach Hause nehmen. Seien es auch zum größten Teil negative. Stärke beweist du erst dann, wenn du nicht zulässt, dass sich das Böse in deinem Herzen manifestiert. Sage mir, was ist das für ein Gefühl, mit den eigenen Händen getötet zu haben? Es zerreißt dich innerlich und wird dir in so manch einer Nacht den Schlaf rauben…“, kam eine dezent barsche Begrüßung seitens Sherlock, wobei er sein Geigenspiel abrupt beendete. Doch ein Blick in seine müden Augen verriet ihr, dass er mit herausfordernden Schuldgefühlen und Sorgen zu kämpfen hatte. Miceyla schluckte voller Unbehagen und da sein Scharfsinn wieder einmal allem voraus war, fiel ihr es unsagbar schwer, die geeigneten Worte zu finden.

„Ich…Sherlock…ich…“, stammelte sie nur von einer emotionalen Gefühlswelle gepackt und versuchte sich dennoch zusammenzureißen, nicht vor ihm in Tränen auszubrechen.

„Ist schon gut… Das war mehr ein Tadel an mich selbst, kennst mich doch. Hättest du den Mann nicht ermordet, wärst du jetzt vermutlich selber tot. Und egal ob du meinen Weg oder den eines Verbrechers folgst, es läuft alles auf dasselbe Resultat hinaus… Was geschehen ist, ist geschehen. Wie ich immer sage, solange du nach vorn blickst und dir selber treu bleibst, bist du mental in einem gesunden Gleichgewicht.“ Sherlocks Stimme bekam auf einmal einen beruhigenden Nachklang. Und um seiner Erleichterung Ausdruck zu verleihen, dass ihre Entführung noch einmal glimpflich ausgegangen war und um sie zu trösten, drückte er sie sanft an sich. Für einen kurzen Moment schloss Miceyla die Augen und genoss die friedliche Idylle.

„Wir sind wohl beide etwas deprimiert darüber, dass nicht allzu viel aus unserem gemeinsamen Abenteuer in Schottland geworden ist. Doch ich bewahre mir die Vorstellung, wie es hätte sein können. Träumen ist manchmal noch schöner, als die Wirklichkeit zu erleben…“, flüsterte sie lächelnd und wäre am liebsten auf der Stelle eingeschlafen, um jene Träume erleben zu dürfen. Aber Sherlock löste sich schneller als gedacht von ihr, nicht nur um sie wachzuhalten, sondern auch damit er selbst nicht die Zeit vergaß.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass du dir nun ein näheres Bild davon machen konntest, was Harley Granville für ein Mensch ist. Der Mann stellt sogar für meine Wenigkeit, eine nicht zu verkennende Herausforderung dar. Allerdings sollten wir dieses Thema nicht hier und jetzt zu sehr vertiefen. Viel wichtiger… Schau mal, was ich gefunden habe. Achte mal zukünftig darauf, was du an öffentlich zugängliche Orte rumliegen lässt… Und ich habe alles gelesen…“ Mit diesen Worten hielt er ein handliches Buch, mit einem golden-lilafarbenen Einband in die Höhe. `M-mein Tagebuch…! D-das…das wird lediglich ein Test sein… Er hat ganz bestimmt nicht mal einen Blick hinein geworfen. Wenn ich mir jetzt auch nur einen Funken Nervosität anmerken lasse, ist alles aus und vorbei… Bleibe gelassen… Zwar handelt es sich dabei nur um eine Fortführung meiner alten Bücher, doch das darin Geschriebene reicht aus, um ihm die komplette Wahrheit zu offenbaren. Wie dumm und leichtsinnig von mir, es einfach so bei meinem Gepäck unbeaufsichtigt gelassen zu haben. Mittlerweile müsste es für mich längst zur Routine geworden sein, an jedes kleinste Detail zu denken. Dies ist unerlässlich, denn sonst…zerbricht die wohl wertvollste Freundschaft meines Lebens viel zu frühzeitig…`, dachte Miceyla und kämpfte darum, ihren Schock unbemerkt hinunterzuschlucken.

„Du liebst es, andere in eine emotionale Bredouille zu bringen. Deine Methode der Analyse, könnte man auch als psychische Folter bezeichnen. Da kannst du dich mit William zusammentun, aber das weißt du ja. Und du hast kein einziges Wort davon gelesen. Bei dem Einbruch in meine alte Wohnung, hast du auch meine Privatsphäre akzeptiert. Warum sollte es also heute anders sein? Ich vertraue dir und du mir. Wenn wir uns etwas Wichtiges zu sagen haben, findet sich mit Sicherheit der passende Zeitpunkt und der richtige Ort dafür.“ Miceyla schaffte es wacker, sich vor Sherlock gefühlsneutral zu behaupten und schnappte sich ihr Tagebuch. `Du würdest mich niemals anlügen wollen… Darum frage ich dich, handelt es sich bei William James Moriarty um den Meisterverbrecher?`, richtete er die entscheidende Frage in Gedanken an sie und bei einem langen Moment des Schweigens, ruhte sein eindringlicher, dennoch sanftmütiger Blick auf ihr. Obwohl er der Wahrheit nachjagte, hemmte es ihn so sehr Miceyla jene Frage zu stellen, dass er sich fast dafür grämte.

„Hast du schon mal darüber nachgedacht, es zu veröffentlichen? Nicht gleich morgen, sondern wenn du der Meinung bist, einen umfangreichen Lebensabschnitt hinter dir zu haben. Ein jeder kann etliche Geschichten erfinden, doch dein wahres Leben ist am lesenswertesten. Soll nicht heißen, dass du deshalb deine ausgedachten Erzählungen abbrechen sollst, sie sind sehr außergewöhnlich und besitzen viel Tiefe. Doch welche junge Frau wagt es schon, ihre Sichtweise von einem kriminellen London, welches von einem strengen Klassensystem beherrscht wird, mit der Welt zu teilen? Glaube mir, dadurch wird eine Welle durch die Bevölkerung wandern, die nach und nach jeden mitreißt, selbst die Obrigkeit. Und bei der heldenhaften Autorin handelt es sich um eine Adelige, die zuerst an ihre Mitmenschen denkt, anstatt sich selbst. Kannst es dir ja einfach mal durch den Kopf gehen lassen“, teilte er seinen spontanen Einfall mit ihr und lächelte sie mit einem Augenzwinkern an. `Mein Tagebuch veröffentlichen… Was für eine verrückte Idee. Aber er hat damit nicht ganz Unrecht. Was wird schon noch von mir übrig bleiben, sobald ich eines Tages nicht mehr existieren sollte. Doch wenn jeder mein turbulentes Leben lesen könnte, bleibe ich in den Herzen der Menschen unsterblich…` Miceyla war so sehr in Gedanken vertieft, dass sie verschreckt zusammenzuckte, als Sherlock einmal laut in die Hände klatschte.

„Der Zug wartet! Alles bereit machen zur Abreise! Jetzt müssen wir erstmal dem lieben Schottland Lebewohl sagen. Doch wer weiß, ob und wann wir uns abermals hierher verirren… Ich trage dir noch dein Gepäck nach unten, dann werden wir beide ebenfalls vorerst voneinander Abschied nehmen, bis das Rad des Schicksals sich in London weiter zu drehen beginnt.“, läutete Sherlock munter ihren Aufbruch ein. Sie verkniff sich ihm vorzuschlagen, gemeinsam zum Bahnhof aufzubrechen, da sie ohnehin denselben Zug nehmen würden. Zwar war sie ein wenig über ihre stetig wachsende Distanz voneinander enttäuscht, aber sie wollte sich auch nicht wie ein trotziges Kind aufführen und vernünftig bleiben.

„Deine Rasselbande ist dich ja brav abholen gekommen, daher ist meine Aufgabe als dein Geleitschutz wieder einmal beendet. Jedoch… Beim nächsten Mal werde ich meinen Job besser machen. Das ist ein Versprechen, präge es dir gut ein, Mia.“ Um seine betonenden Worte noch mal zu unterstreichen, blickte er mit seinen glänzend dunkelblauen Augen tief in die ihren und kam ihrem Gesicht dabei kurz so nahe, dass sich ihre beiden Nasenspitzen beinahe berührten. In dem überraschenden Moment, schoss eine für sie undeutbare Gefühlswelle durch ihren Körper, die ihr jedoch auch neue Kraft und Mut schenkte…
 

„Lächerlich… Hauptsache du kannst dich daran ergötzen, dich über mich lustig zu machen,,,“ Clayton war dank seiner hart antrainierten Fertigkeiten, vollkommen unbemerkt in das riesige und gut bewachte Parlamentsgebäude eingedrungen. Dennoch ärgerte er sich darüber, dass er jenes Dokument, viel zu einfach aus einem Tresor in Harleys Büro hatte entwenden können. `Du rechnetest damit, dass ich diesen riskanten Part übernehmen würde. Bei dem Schreiben könnte tatsächlich niemand genau sagen, ob das darin geschriebene der Wahrheit entspricht oder bloß frei erfunden ist, um einen Bürgeraufstand heraufzubeschwören. Aha…! Und das ich ein Komplize der Moriartys sein soll, steht noch dick unterstrichen mit dabei. Mich durch den Dreck von anderen zu ziehen…da krieg ich echt einen Würgereiz… Ich als Einzelkämpfer, erschaffe auf meiner eignen Bühne meisterliche Verbrechen. Ihr werdet schon sehen, die Marionetten in diesem Stück seid ihr und nicht ich…` Clayton richtete sich von Groll und Missgunst gepackt, zu seiner vollen Größe auf. Er verbrannte das Dokument über den brennenden Kerzen eines Kerzenständers und blickte wie in Trance die flackernden Flammen an. Knarzend öffnete sich die Bürotür und anstatt an eine Flucht zu denken oder eine Waffe zu zücken, starrte er die hereingetretene Person im dämmrigen Licht unverwandt an.

„Ich grüße dich, kleiner Bruder. Auch heute noch liebst du das Versteckspiel und fürchtest dabei nicht die Klinge im Nacken. Und ich muss dich beglückwünschen, du führst das erfolgreichste Theater von ganz London. Doch was würde dein Vater wohl dazu sagen, dass du deine Kariere als Physiker hingeschmissen und die Laufbahn eines herumalbernden Schauspielers gewählt hast?“ Niemand anderes als Harley war hereingetreten und warf ihm augenblicklich giftige Worte an den Kopf. In Clayton begann die Wut sogleich nur so zu brodeln und er war drauf und dran, sich in der Gegenwart des von ihm meistgehassten Mannes selbst zu vergessen. Er atmete trotzdem ruhig und behielt den starken Willen, sich nicht von ihm provozieren zu lassen.

„Mein Vater…hat immer gewollt das ich glücklich werde. Er wäre stolz auf mich gewesen, egal welchen Weg ich gewählt hätte…“, konterte er beharrlich und funkelte Harley hasserfüllt an.

„Glücklich? Danach siehst du mir aber nicht gerade aus. Clay, du bist wahrlich zart besaitet, trauerst deiner verlorenen Vater- und Jugendliebe noch immer nach. Es wird wohl erst mit meinem oder deinem Tod enden… Und nun sind wir allein, das müsste dir doch ganz gelegen kommen“, sprach Harley mit einem aufgesetzten Lächeln und breitete seine Arme nach beiden Seiten hin aus. Die Geste hatte beinahe etwas von einer kapitulierenden Beute, welche sich freiwillig dem Raubtier darbot. Jedoch mit listigen Hintergedanken. Clayton zeigte daraufhin aber nur ein kühles Grinsen und tastete mit der rechten Hand lässig auf seinen Degen.

„Sehr verlockend und zuvorkommend. Doch ich bin kein Narr, Harley. Es wird nicht nur nach deinen Karten gespielt. Und ich erkenne eine Falle, wenn man mir eine stellt, insbesondere deine eigene… Zudem wird es nicht irgendein Degen sein, welcher dich durchbohrt, sondern der Degen meines Vaters. Dies wird dann auch der letzte Einsatz jener Waffe sein. Solange darf sie noch gut verwahrt schlummern… So, ich habe erledigt weswegen ich herkam, dann verflüchtige ich mich wieder“, verkündete er mit einer bewundernswerten Selbstbeherrschung und schritt seelenruhig an Harley vorbei, welcher keinerlei Anstalten machte ihn aufzuhalten und regungslos auf der Stelle verharrte. Mit dem Rücken zu ihm gewandt, blieb Clayton allerdings noch einmal kurz stehen.

„Und mal so nebenbei… Das du nicht mit deinen eigenen Händen tötest, sondern andere dazu bringst es selbst zu tun, ist bloß eine weitaus brutalere Art des Mordens. Wenn dir tatsächlich vorschwebt einen Krieg herbeizuführen, bei dem du genüsslich dabei zusiehst, wie die Menschen sich gegenseitig abschlachten, brauche ich keinen einzigen Finger krumm zu machen, um dich aufzuhalten. Denn sieh dich vor, die Moriarty lauern in den Schatten, während du glaubst mit ihnen bloß zu spielen. Und für uns beide wird der Tag kommen, an dem wir unser allerletztes Duell ausfechten werden…“, fügte er abschließend hinzu und entfernte sich nun, dabei blickte er kein einziges Mal mehr zu seinem größten Feind zurück. Auch Harley hielt seinen Blick geradeaus gerichtet und zeigte ein gutmütiges Lächeln.

„Mögest du an jenem Tag so stark geworden sein, dass du es schaffst mich zu übertreffen…“

War Clayton in Harleys Gegenwart gelassen und selbstbeherrscht gewesen, so drohte nun in ihm ein Sturm auszubrechen. Zähneknirschend und nur halb bei Sinnen, entfernte er sich schnellen Schrittes vom Parlamentsgebäude.

„Clay…! Da bist du ja endlich! Ich war schon kurz davor einzuschreiten. Hat Harley…“ Amelia stieß in einer Seitengasse auf ihn und stellte voller Erleichterung fest, dass er unverwundet war. Geistesabwesend betrachtete Clayton sie flüchtig und lief dennoch geradewegs an ihr vorbei.

„Was suchst du hier?! Lass mich einfach in Ruhe… Geh zurück zum Waisenhaus. Das ist nur zu deinem Besten“, blaffte er und besaß keinerlei Nerven mehr für eine längere Konversation.

„Bitte… Es ist nicht gut, wenn du genau jetzt alleine bist und dich im stillem Kämmerlein verkriechst… Dies fördert nur finstere Gedanken. Ich weiß…wie du dich im Moment fühlst…“, gab Amelia nicht so leicht klein bei und sprach weiter einfühlsam auf ihn ein. Plötzlich blieb Clayton stehen und seine sonst so gutherzigen Augen, blickten ihr mit einer solchen Düsternis entgegen, dass sie erschauderte.

„Ich habe gesagt du sollst verschwinden! Du weißt rein gar nichts! Und ich habe niemals um dein Mitgefühl gebeten!“ Nach seinen gereizten Worten marschierte er unbeirrt weiter. Amelia bekam das unangenehme Gefühl, der Boden würde ihr unter den Füßen entrissen werden, wodurch sie jeglichen Halt verlor. Es war nicht nur sein unfreundlicher Tonfall, der ihr das Herz zerriss, sondern zu sehen wie er in stiller Einsamkeit litt und sich die Dunkelheit immer weiter in ihm auszubreiten begann, bedeutete für sie mehr Schmerz als alles andere. Und hinzu kam ihre unverändert starke Zuneigung ihm gegenüber, die ihr Herz fest im Griff hatte. Mit müden Beinen sackte Amelia zu Boden, hielt sich eine Hand vor die Augen und weinte bitterlich.
 

Der Zug erreichte endlich den Bahnhof von London und Miceyla musste sich eingestehen, dass sie froh war wieder im vertrauten Umfeld zu sein, als sie mit William und den anderen auf den Bahnsteig trat. Der ihr wohlbekannte Lärm und Geruch vermittelte ihr den Eindruck, ein unsichtbarer Schutzwall würde sie umgeben. Auch ein so schönes Land wie Schottland, besaß seine Tücken und konnte erbarmungslos sein. Diese Lektion hatte sie nun gelernt. Miceylas Körper meldete ihr, sich nach den ganzen Strapazen einmal richtig auszuruhen, wo sie nicht mal während der langen Zugfahrt Schlaf gefunden hatte. Doch sie musste vorher noch etwas für ihren Seelenfrieden erledigen, um Gewissheit zu haben. Denn nicht zu wissen, wie eine ungeplante Konfrontation zwischen Clayton und Harley ausgegangen war, da sie jetzt über beide Seiten Bescheid wusste, ließ ihr keine Ruhe.

„Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Nur zu gut verstehe ich, dass dich die ganze Sache nun umso mehr beschäftigt. Rede am besten direkt mit Clayton. Noch ist er emotional angegriffen und lässt sein wahres Wesen durchscheinen. Morgen kann er bereits wieder seine perfekte Maske aufgesetzt haben“, zeigte William sich überraschend verständnisvoll, der wie immer mit Leichtigkeit ihre Gedanken erraten konnte.

„Vielen Dank, Will.“ Miceyla war erleichtert, dass ihrem Vorhaben nichts im Wege stand.

„Na fein, zu einem weiteren kleinen Abstecher, kann ich mich auch noch aufraffen“, meinte Moran daraufhin geduldig, der sich ohne Aufforderung dazu bereiterklärte, sie abermals zu begleiten.

„Nein Moran. Miceyla, du darfst unter der Bedingung Clayton aufsuchen, wenn `ich` dich dorthin begleite“, wiedersprach ihm Albert mit einem dezent überheblichen Tonfall und sie konnte nicht verhindern, bei seinem leicht verruchten Lächeln eine Gänsehaut zu bekommen. `Ich verstehe ja… Wenn ich mich schon so demonstrativ darum bemühe, alles auf Anhieb zu erledigen, muss es auch wirklich `alles` sein…`, dachte Miceyla verlegen und seufzte, dass sie nun zu keiner sinnvollen Ausrede mehr ausweichen konnte, um ein Gespräch mit Albert unter vier Augen, noch etwas länger hinauszögern zu können. Miceyla wollte zwar selbst Antworten, doch falls diese mit ihren Vermutungen übereinstimmten, wollte sie erst mal nichts davon wissen, was nicht gerade ihre Probleme löste. Sie wollte zuerst ihr Glück beim Waisenhaus versuchen, ob Clayton sich dort aufhielt. Während der Kutschfahrt verlor Albert jedoch noch kein einziges Wort über Harley und ihre Entführung. Er schien zu wollen, dass Miceyla zuerst mit Clayton alles ausdiskutierte, ehe er selbst unangenehme Themen zur Sprache brachte. Sie schämte sich beinahe dafür, dass er zu jeder Zeit eine beispielhafte Rücksicht auf sie nahm. Trotzdem ermahnte sie sich dazu, sich nicht zu sehr von seiner charmanten Art umschmeicheln zu lassen. Nur zu gut wusste sie um die verführerische Gefahr Bescheid, welche ihnen auflauerte, sollte sie schwach werden. Zügig verließ Miceyla bei ihrer Ankunft die Kutsche. In weniger als einer Stunde würde es dämmern und eine weitere durchwachte Nacht lag hinter ihr. Als sie Amelia zusammengekauert auf den Stufen zum Waisenhaus entdeckte, eilte sie geschwind zu ihr.

„Amelia! Du siehst todunglücklich aus… Ich vermute Clayton hat seinen Frust an dir ausgelassen. Dafür bekommt er von mir ordentlich eins auf den Deckel! Er bezeichnet sich selbst als einen Verfechter der Frauenrechte, doch wenn es drauf ankommt, verletzt er sie nur. Dieser miese Heuchler… Das Herz eines liebenden Mädchens ist am sensibelsten, dessen müsste gerade er sich bewusst sein. Hach… Aber ich danke dir für deine offenherzige Hilfsbereitschaft und Kooperation mit uns. Und es stört mich nicht im geringsten, dass du die Dunkelheit kennst, wie Fred dies tut. Keiner muss sich für den Weg, welchen er gewählt hat rechtfertigen“, sprach Miceyla tröstend und nahm daraufhin ihre jüngere Freundin sanft in den Arm. `Ich schließe daraus, dass Clayton sich momentan nicht im Waisenhaus aufhält. Das Theater ist auch nicht gerade der geeignetste Zufluchtsort, wenn man alles und jedem aus dem Weg gehen will. Dann bleibt nur noch ein Ort übrig, an dem er sich verkrochen haben könnte…`, überlegte sie dabei im Stillen.

„Ach Miceyla… Ich bin mein Jämmerliches Dasein doch selber schuld. Manchmal würde ich mir am liebsten mein Herz aus der Brust reißen. Doch ich schwor mir am Leben zu bleiben, egal wie viele Qualen ich ertragen muss. Aus Dank…für Claytons Rettung an jenem Tag. Und so nehme auch ich nun etlichen das Leben, um es anderen zu schenken, die es wirklich verdient haben. Wir beide sind unter schwierigen Lebensbedingungen aufgewachsen, aber das macht uns ganz besonders stark, nicht wahr? Ich bitte dich…versuche Claytons brodelnden Rachedurst etwas zu beschwichtigen, denn ich bin zu zaghaft wenn es um ihn geht“, bat Amelia glücklich darüber, dass Miceyla wohlbehalten zurückgekehrt war und bemühte sich um ein zaghaftes Lächeln.

„Du kannst dich auf mich verlassen! Wir halten schließlich zusammen, egal wie rebellisch die Welt um uns herum ist. Lege dich aber bitte jetzt erstmal etwas schlafen. Du weißt doch, Schlaf ist die beste Medizin gegen jeglichen Kummer“, versprach Miceyla und blickte mit einem zuversichtlichen Gesichtsausdruck, in ihre wunderschön rehbraunen Augen.

„Danke, tausend Dank. Und…ach, nicht so wichtig. Viel Glück und hoffentlich sehen wir uns bald wieder, wenn sich alles einigermaßen beruhigt hat“, dankte Amelia ihr voller Güte und schien noch etwas sagen zu wollen, behielt es allerdings dann doch für sich. Nachdem Miceyla sich von Amelia verabschiedet hatte, lief sie zu dem an der Kutsche wartenden Albert zurück.

„Scheint mir, als wären wir noch ein Weilchen länger unterwegs. Magst du nicht doch lieber eine kleine Pause einlegen und durch einen erholsamen Schlaf neue Kraft und Tatendrang sammeln, wie du es deiner Freundin geraten hast?“, hob er lächelnd mit leicht schiefgelegtem Kopf an, der anscheinend mit einem Ohr ihrer Unterhaltung gelauscht hatte.

„Schlafen…kann ich noch lange genug wenn ich tot bin…“, erwiderte Miceyla kühl und stieg noch vor ihm in die Kutsche. Albert blickte kurz etwas erstaunt drein, doch kurz darauf formten sich seine Lippen zu einem dämonischen Lächeln.

„Gewiss… Das werden wir alle…“ Miceyla teilte dem Kutscher ihren neuen Zielort mit. Und obwohl sie kaum noch Kraft in den Beinen besaß, legten sie noch ein gutes Stück zu Fuß zurück. Ihr Herz begann aufgeregt zu pochen, als sie beide dann endlich vor Claytons Turm standen. `Er ist hier, das kann ich spüren…`, dachte sie und blickte entschlossen hinauf zur Turmspitze.

„Ich werde hier unten warten. Zwanzig Minuten sollten genügen, ansonsten komme ich rauf. Und sollte Clayton erneut handgreiflich werden, geht es dem Suppenkasper an den Kragen. Er ist schon einmal zu weit gegangen. Ein weiteres Mal toleriere ich das nicht ohne gerechte Konsequenzen“, versicherte Albert ihr halb als sarkastischer Scherz, halb ernsthaft.

„Danke für deine Unterstützung! Aber vorher knöpfe ich mir unseren gerissenen Langfinger einmal selbst vor. Bis gleich.“ Zielstrebig lief sie auf die Eingangstür zu, welche nicht einmal abgeschlossen war. `Tja mein Guter, da brauchst du dich auch nicht zu wundern, wenn man dir die Bude einrennt…`, dachte sie amüsiert, um ein wenig ihre innere Anspannung zu lockern und stieg die lange Wendeltreppe bis ganz nach oben empor. Oberhalb angelangt, betrat sie sein eigens errichtetes Wissenschaftssammelsurium, welches aus etlichen alten Fachbüchern und skurril aussehenden Gerätschaften bestand. Clayton stand an der geöffneten Balkontür angelehnt und blickte zum tristen, wolkenverhangenen Himmel hinauf, als würde er dort nach Sternen suchen.

„Sieh an, wer da aus dem schmutzigen Abgrund hinausgekrabbelt kommt. Ein Vogel dem man die Flügel ausgerissen hat, wird niemals mehr fliegen und sich in die Lüfte erheben können. Gib es also auf…“, begrüßte er sie kühl mit einer Metapher und schien ebenfalls das Blut, welches nun an ihren Händen klebte, vor seinem geistigen Auge zu sehen. Miceyla erwiderte nichts auf seine zweideutigen Worte, sondern schritt stattdessen hastig auf ihn zu und verpasste ihm mit ihrer rechten Hand eine heftige Ohrfeige, um ihrer Wut Luft zu machen. Ohne ihr auszuweichen, ließ Clayton es geschehen und lächelte sie mit ausgezehrter Miene an.

„Das hat gut getan, nur mehr davon“, meinte dieser ironisch.

„Oh ja, das hat es in der Tat, du alter Masochist! Das war für die gedemütigte Amelia. Wenn du dich nicht anständig bei ihr entschuldigst, setze ich beim nächsten Mal nicht nur meine Hand ein…“, warnte sie ihn beharrlich.

„Und? Was gibt es so Dringliches, dass du mich nach deiner Rückkehr, direkt als erstes in London aufsuchst? Meine Mission war erfolgreich, das Dokument existiert nicht mehr. Und Harley wird sich aus Bequemlichkeit nicht die Mühe gemacht haben, ein Duplikat anzufertigen, also darfst du deine Bedenken ruhig abschütteln. Denke außerdem nicht daran, auch nur ein Wort über Harley zu verlieren. Von dir will ich nichts über ihn hören. Spar dir zu glauben, dass deine ach so guten Menschenkenntnisse, während der kurzen Zeit die du mit ihm verbracht hattest, etwas genützt haben. Derjenige der seine wahre Natur kennt, bin einzig und allein ich. Er ist ein Monster, mehr habe ich zu diesem Ungetüm nicht zu sagen. Na los, krieche wieder rasch in dein behagliches Nest zurück. Die Dornen werden dich noch früh genug durchbohren…“, versuchte Clayton sie auf unliebsame Art abzuschütteln und schien wahrhaftig kurz davor zu sein, die Fassung zu verlieren. Miceyla ließ sich kein bisschen von seinem kratzbürstigen Verhalten in die Flucht schlagen und verdrehte nur lächelnd die Augen. Er benahm sich wie ein sturer Junge, der aufgrund seines Stolzes alles abstritt und sogar die Wahrheit nicht akzeptieren würde, selbst wenn es ihm die Vernunft befahl.

„Rachegedanken und traumatische Erlebnisse, nisten sich im Herzen ein wie ein blutsaugender Parasit. Davon kann ich ein Liedchen singen… Ja, Harley ist ein Monster, das werde ich garantiert nicht abstreiten. Aber du und ich sind es ebenfalls, bloß auf eine andere Art. Wäre es denn wirklich so dramatisch, bevor du ihm den Kopf abschlägst, dir einmal seine komplette Geschichte anzuhören? Ja, es macht seine schrecklichen Taten nicht ungeschehen. Und ja, du wirst auf Teufel komm raus an deinem Rachefeldzug festhalten. Aber Harley spricht stets die Wahrheit und ist ein Feind von Lügen. Zudem steckt in ihm mehr Menschlichkeit, als in etlichen verdorbenen Adeligen, die du links liegen und am Leben lässt. Du würdest mich jetzt sicher am liebsten, für meine gerade gemachte Aussage erwürgen. Doch wenn ich es nicht mal ausspreche, wird es niemand jemals tun“, sprach Miceyla mutig und behielt dennoch das Fingerspitzengefühl, um seine verletzte Seele nicht allzu sehr zu kränken. Clayton biss verärgert die Zähne zusammen und schlug mit seiner geballten Faust, dicht neben ihrem Gesicht gegen die Wand.

„Wage es nicht…mir Harleys gekünstelte Gutherzigkeit aufschwatzen zu wollen… Dieser Mann hat mir rein gar nichts mehr zu sagen. All die Jahre des Schweigens waren aussagekräftig genug. Und freue dich nicht zu sehr darüber, mit dem Leben davongekommen zu sein. Harley war es die Mühe nicht wert…da du und William…sowieso ohne sein Zutun krepieren werdet!“, blaffte er voller negativer Emotionen gepackt und schien sie mit seinem finsteren Blick, in die Verbannung schicken zu wollen. Miceyla war über seinen ausartenden Wutausbruch geschockt, sie erkannte ihn kaum wieder. Oder besser gesagt war sein Verhalten, ohne aufgesetzte Schauspielkünste ungewohnt. Doch sie merkte auf Anhieb, dass sich dahinter noch so viel mehr verbarg, als bloßer Hass und Zorn. Sie entdeckte darunter auch Enttäuschung und Selbstzweifel. Clayton ließ seinen Arm wieder sinken und blickte kurz mit einem Hauch deprimierter Niedergeschlagenheit zu Boden.

„Harley…hat deine Willenskraft auf die Probe gestellt…und getestet, wie stark das Band zwischen dir und William ist. Er…hat dich und deinen Charakter anerkannt. Aus diesem Grund bist du jetzt noch am Leben. Wenn…Lydia nur die Hälfte deiner Stärke besessen hätte, dann wäre sie vermutlich jetzt ebenfalls noch unter den Lebenden. Er hat es geschafft sie und mich zu brechen. Doch du und William habt ihn auf Granit beißen lassen und seid nun möglicherweise aus dem Schneider. Dafür…hasse und bewundere ich euch beide gleichermaßen. Ha, ha, mir ist wahrlich selbst nicht mehr zu helfen, ich gebe es ja zu“, sprach Clayton zunehmend einsichtig und ließ seinen Blick wieder hinausschweifen. Miceyla schüttelte verständnisvoll den Kopf.

„Unsinn, Lydia ist sehr stark gewesen. Es gehört eine Menge Mut dazu, sich vor seinem Geliebten und der eigenen Mutter zu opfern. Ihr wart jung und hattet kaum die Chance, den strengen Regeln der Erwachsenen etwas entgegenzusetzen. Und genau dieses Übel werden wir bekämpfen, die Unterdrückung der Schwächeren. Auch ich werde mir als Frau von keinem Mann vorschreiben lassen, was ich darf und was nicht. Die Welt mit all ihren Möglichkeiten, sollte für jeden gleichermaßen zugänglich sein. Dazu gehört auch die eigene Entscheidung, mit demjenigen zusammen zu sein, den man wirklich liebt und der barrierefreie Zugang zu jeglicher Art von Bildung, gleichgültig ob man aus ärmlichen Verhältnissen oder einer Adelsfamilie mit gutem Ruf stammt. Eine perfekte Gerechtigkeit wird es niemals geben, aber zumindest das Klassensystem wie es seit geraumer Zeit existiert zu zerstören, wird den Weg in eine unabhängige Zukunft ebnen. Diese Einstellung habe ich mir nicht aufschwatzen lassen, es ist mein persönlicher Entschluss, das Ziel dieses Plans zu erreichen und dabei mitzuwirken. Leid und Trauer bleiben dabei nicht aus, doch die Hoffnung, Freundschaft und nicht zuletzt die Liebe, stellen sich dem entgegen“, wiederholte Miceyla voller Stolz ihre eigenen Ideale. Clayton lächelte als Antwort auf ihre kühnen Worte und fuhr sich nachdenklich mit der Hand durch die Haare.

„Ihr seid mir schon welche, eine gerechte Welt erschaffen wollen, von der mit aller Wahrscheinlichkeit niemand von uns mehr etwas mitbekommen wird, ist entweder der blanke Wahnsinn oder unübertreffbar ehrenhaft. Aber weißt du Herzchen, ich respektiere dich und Williams Truppe. Und das dieser Respekt auf Gegenseitigkeit beruht, ist wohl kein Geheimnis. Gib nur darauf acht, dass du auf deiner steinigen Reise, nicht dein eigenes Herz belügst. Es gibt schwere Schritte, die kannst nur du allein gehen und niemand sonst. Und ich entschuldige mich aufrichtig bei dir, für meinen ungehaltenen Tonfall. Amelia hat selbstverständlich ebenfalls ein paar wiedergutmachende Worte verdient. Jetzt aber Abmarsch heim, sonst fällst du mir hier noch vor Erschöpfung um und dann werde ich von deinem reizenden Begleiter massakriert. Wir sehen uns im Theater, meine Liebe. Dort präsentieren wir dem Publikum weiterhin ein Stück mit aufgesetzter Maske, welches der Sünde eines Teufels gleicht…“ Claytons versöhnende Ansprache, besegelte das Ende ihrer kleinen Auseinandersetzung und Miceyla lächelte ihn zufrieden an.

„So ist es, die Bühne wird immer unser Schlachtfeld bleiben. Dann lass uns der Sünde gerecht werden, auf das unsere Feinde vor uns auf die Knie fallen und wir das Schwert der Gerechtigkeit über sie richten lassen. Die Hoffnung schlummert in unseren Träumen, drum dürfen wir sie zu keiner Zeit ignorieren.“ Plötzlich fühlte sich ihr Herz um einiges leichter an und sie stieg mit einem guten Gefühl die Treppe des Turms hinab. Die eigenen Probleme und Sorgen direkt auszudiskutieren, fühlte sich erleichternd und richtig an. Miceyla verließ Claytons Zuhause und trat ins Freie. Kurz innehaltend, atmete sie die erfrischend frühmorgendliche Luft ein und blickte zu dem wartenden Albert, dessen warmherzig smaragdgrün funkelnde Augen, sogleich sanft auf ihr ruhten. `Nun denn… Die nächsten Fragen warten darauf beantwortet zu werden…`, dachte sie in dem Moment, als sich ihre Blicke trafen und begab sich gemeinsam mit ihm zurück zur Kutsche. Er hakte nicht einmal nach, wie ihr Gespräch mit Clayton verlaufen war und konnte sich dies scheinbar, anhand ihrer ausgeglichenen Gemütslage erschließen. Nun war es wohl an ihr, das unerträgliche Schweigen zu brechen.

„Gehe ich recht der Annahme, dass du und Harley einen `Pakt` geschlossen habt, der dir die Gewissheit darüber gewährt, dass mir in dessen Gegenwart nichts zustößt, sofern die nötigen Voraussetzungen erfüllt sind? Ich bin nicht blind, Albert. Selbst wenn William dies wahrscheinlich gebilligt hat und eine Kooperation mit ihm aus eigennützigem Interessen sogar befürworten würde, bereitet mir das dennoch große Sorgen. Verrennst du dich da nicht in etwas und machst dich abhängig? Er ist dein Vorgesetzter. Du wirst dich nicht widersetzen können, sollte er etwas von dir verlangen, sonst ginge es auch uns allen an den Kragen…“, stieg Miceyla ohne Umschweife direkt in jenes Kernthema ein, welches nun im zentralen Mittelpunkt stand. Albert, welcher auf der Sitzbank neben ihr saß, richtete seinen Blick auf sie und lächelte gutmütig.

„Deine Scharfsinnigkeit ist wieder um ein gutes Stück ausgereifter geworden. Wäre da nur nicht deine ausbremsende Unsicherheit, die dich stets ein wenig blockiert. Doch gerade das finde ich unsagbar liebenswert an dir… Wir alle stehen hinter William und seinen Plänen. Aber jeder geht auf eigene Faust Risiken ein, die er ausfechten und bewältigen muss. Wie Individuen, die miteinander vernetzt sind. Das ich Harley nicht traue und ihn für einen zwielichtigen Menschen halte, wahr wohl ganz dezent gelogen. Ich sehe unglaublich viel von mir selbst in seiner Person. Besonders…seitdem ich dich kennenlernte. Manchmal öffnen einem neue Bekanntschaften die Augen. Klar, wir nutzen uns gegenseitig aus, doch solltest du wissen, dass wenn wir unsere Chancen bei ihm nicht verspielen, er die Bereitschaft und Macht besitzt, dir und mir trotz unserer ganzen verrichten Schandtaten, die Freiheit zu schenken. Natürlich widerstrebt uns beiden der Gedanke daran, aufgrund der bedingungslosen Treue zu Will…“, sprach Albert bemüht ehrlich und blickte sie mit einer solch sehnsuchtsvollen Miene an, dass sie sich fragte, worin sein wahres Streben nun wirklich bestand. `Da ist Harley nicht der Einzige… Mycroft erzählte ebenfalls etwas von Hilfe und Beistand, jedoch nur mir gegenüber. Ich finde allerdings, dass Mycroft in dieser Hinsicht eine vertrauenswürdigere Person darstellt. Schlage ich mich damit nicht automatisch auf die Seite von Sherlock…? Wenn es darauf ankäme, würde ich…` Sie kam nicht dazu, ihren Gedankengang zu Ende zu führen, da Albert direkt fortfuhr.

„Doch da dir nicht viel an deinem oder meinem persönlichen Glück liegt, müssen wir uns weiterhin in unseren Träumen verstecken. Denn das du dein eigenes Opfer bereitwillig akzeptieren würdest, hast du nun mehr als einmal überzeugend bewiesen. Mein Schutz scheint dir auch recht wenig zu bedeuten. Ich tat das alles ausschließlich für dich, was in deinen Augen lediglich überstürztes Handeln sein musste. Also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als zur Waffe zu greifen, wenn Harley mich an die Front schickt…“ Plötzlich bekamen seine Worte ein negatives Sinnbild und Miceyla wollte empört lautstark protestieren. Doch Albert legte zärtlich, dennoch nachdrücklich seine Hand auf ihren Mund und hinderte sie so daran. `Was redest du da bloß?! So emotional kenne ich dich kaum. Mit anderen Worten willst du behaupten, mir läge nicht viel an dir. Was für ein Unfug! Sind wir nicht eine Familie geworden, Bruder und Schwester? Ich würde niemals zulassen, dass du für Harley in den Kampf ziehst! Mit allen Mitteln werde ich dies verhindern!`, dachte Miceyla verzweifelt und aufgrund ihrer Müdigkeit, schaffte sie es nicht ihre Tränen zurückzuhalten.

„Ich schwor mir dein Lächeln zu beschützen und stattdessen bringe ich dich zum Weinen. Dabei habe ich ebenfalls versagt… Doch meine liebe Eisblume, eines wird sich unter keinen Umständen ändern. Denn ich werde niemals aufhören dich zu lieben, selbst wenn die Melodie unserer Herzen längst verstummt ist…“, flüstere er und drückte sachte seine Lippen auf seine Hand, welche sich noch immer auf ihren eigenen Lippen befand.

Endlich kamen sie beim Moriarty-Anwesen an und Miceyla betrat schweigend mit Albert an ihrer Seite, nach einer gefühlten Ewigkeit wieder ihr trautes Heim. Gleichgültig darüber, wohin Albert lief, schleppte sie sich mit ihren letzten Kraftreserven, die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Nichts anderes als schlafen hatte sie nach ihrer lange und anstrengenden Reise im Sinn, auch wenn gerade ein neuer Tag anbrach. Erschöpft drückte sie die Türklinke hinunter und sie sollte von einer weiteren Überraschung nicht verschont bleiben…

„Willkommen daheim, Liebling. Ruhe dich aus, solange du möchtest. Der nächsten Zeit, können wir etwas entspannter entgegenblicken, davon bin ich überzeugt. Die Wogen glätten sich für eine Weile. Darum habe ich eine Frage an dich, mit der ich besser nicht noch länger warte, sonst wird es dafür zu spät sein.“ William begrüßte sie warmherzig und sie freute sich schon darauf, nach ihren ganzen durchlebten Beschwernissen, endlich wieder Zeit mit ihm allein verbringen zu können. Langsam schritt er auf sie zu und nahm liebevoll ihre Hand.

„Wünschst du dir eigentlich Kinder?“
 

Liebes Tagebuch, 23.5.1880
 

ich werde all die gesammelten Eindrücke und Erfahrungen, welche ich in Schottland gesammelt habe, wie meine bisherigen einmaligen Erlebnisse, niemals mehr vergessen. Ich kann nur immer wieder betonen, jene besonderen Momente, ob sie nun gut oder schlecht waren, in das Herz zu schließen. Wer glaubt alles und jeden in seinem Leben gesehen und kennengelernt zu haben, irrt sich gewaltig. Es gibt unzählig viele Orte zu entdecken und etliche grundverschiedene Persönlichkeiten, die darauf warten getroffen zu werden. Unzufriedenheit und Eitelkeit entsteht häufig, wenn man keine Veränderungen in seinem eintönigen Alltag zulässt. Meistens liegt darin die Angst vor möglichen Verlusten zugrunde… Aber nichts bleibt auf Ewig bestehen, denn auch das Gestern und Heute schwindet mit jedem Tag und wir verlieren ein weiteres Stück Lebenszeit. Darum sollte jeder so leben dürfen, wie er es für richtig hält. Doch in der Realität, sieht das alles noch mal ganz anders aus, dessen bin ich mir bitterlicher Weise bewusst… Auch ich flüchte mich in Träumereien, die mich nur daran hindern, mein Leben in vollen Zügen zu genießen. Vielleicht beruhigt sich die Lage nach meiner Begegnung mit Harley, ja tatsächlich vorübergehend etwas. Mag es auch mal wieder nur die Ruhe vor einem aufkommenden Sturm sein, für eine ordentliche Verschnaufpause reicht es allemal. Aber sollten wir als Kameraden und Familie, nicht durch das ganze Elend fester zusammengewachsen sein? Denn ich habe den verunsichernden Eindruck, die Begebenheiten verkomplizieren sich eher. Ich muss ein Auge auf Albert haben. Und auch zukünftige Treffen mit Sherlock, werden nicht gerade einfacher. Doch bei alledem fällt mir nichtsdestotrotz auf, dass William und ich uns stets auf einer Wellenlänge befinden, egal welcher Sturm gerade um uns herum tobt. Unsere Verbindung scheint nichts und niemand auseinanderreißen zu können. Dies ist ein Zeichen, welches ich zu keiner Zeit außer Acht lassen sollte…
 

Sünde eines Teufels
 

Dein Gemüt so sanft und aufrichtig

Ich sah deinen reinen Willen, doch was war dir wirklich wichtig?

Willst du das dich die Teufel einen gefallenen Engel nennen?

Du wirst auf den pechschwarzen Abgrund zu rennen.
 

Überlegenheit führt nicht immer zu einem Ziel.

Auch das kluge Denken hilft nicht immer viel.

Am Ende sind es deine Gefühle, die dich ins Gewissen beißen

und dir deine funkelnde Krone entreißen.
 

Hast du meine Briefe denn jemals gelesen?

Es schmerzt, jedoch ist es die Wahrheit gewesen.

All die Verbündeten welche dir folgen wollten

Und meine falschen Freunde, die mich hintergehen sollten.
 

Akzeptiere auch mal die fremde Meinung,

für das Leben ist dies die wahre Eignung.

Lege all deine Waffen nieder

und begleite mich in die Tiefen der Hölle nie wieder.

Manchmal

„Eifersucht kann der Ursprung allem Übel sein. Was sind dadurch in der Vergangenheit, nicht schon ganze Nationen zugrunde gegangen… Wenn die eigenen Gefühle einen innerlich zerfressen und nicht auskommuniziert werden, wird dies zum Problem der gesamten Menschheit. Wer glaubt einen reinen Geist zu besitzen und immun gegen jene negative Emotion zu sein, ist ein Narr. Wird sie erst einmal geweckt, verschwindet sie so schnell nicht mehr. Manchmal wird dadurch die loyalste Person, zum untreuen Verräter. Und manchmal, kann Eifersucht das Feuer in einem Krieg schüren und gleichzeitig den Frieden in einem Konflikt einläuten…“
 

„Nochmal! Lege mehr Kraft in deinen Angriff und vergesse dennoch nicht auf deine Körperhaltung zu achten, sonst gerätst du rasch aus dem Gleichgewicht.“ Die Stammtruppe des Theaters, hatte eine weitere Probe hinter sich gebracht und Miceyla konnte im Anschluss daran Clayton dazu überreden, ihr eine kleine Übungsstunde im Fechten zu geben. Sie war seit jeher von seiner Geschicklichkeit mit dem Degen und seiner Reaktionsfähigkeit schwer beeindruckt gewesen. Etliche Parallelen zu Williams Fechtkunst fand sie dabei. Doch es gab auch ganz feine Differenzen. William war bei seinen Unterrichtseinheiten wesentlich energischer und gönnte ihr zwischendrin kaum Atempausen. Er war nun mal darum bedacht, dass sie in kürzester Zeit schnell Fortschritte erzielte. Töten und das eigene Leben verteidigen, war dabei die verborgene Divise. Clayton hingegen, fokussierte sich eher darauf, Miceyla in aller Ruhe spezielle Techniken beizubringen, die ihr sogar bei einem überlegenen Gegner etwas nützen konnten. `Auch Sherlock hat seine ganz eigene Art, mit dem Degen zu kämpfen. Obwohl solch eine Waffe selten bei ihm zum Einsatz kommt. Vielleicht übt er ja öfters heimlich alleine als man denkt…`, dachte Miceyla und ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen.

„Erwischt! Wer unaufmerksam wird, darf keine Gnade erwarten!“, rief Clayton triumphierend und schlug ihr ruckartig die Übungswaffe aus der Hand. Aus ihren Gedanken gerissen, musste sie sich überrumpelt ihre Niederlage eingestehen.

„Das kommt davon, wenn man in jeder freien Minute an den Geliebten denkt. Oje…das wird dich noch mal das Leben kosten, mein Vöglein. Ich wollte dein hübsches Stimmchen, noch eine Weile länger für mich beanspruchen“, neckte Clayton Miceyla amüsiert und grinste frech.

„Hey! Ich habe nicht…! Und für dich singe ich garantiert nicht! Das Publikum soll sich an meinem Gesang erfreuen, nicht du!“, konterte sie empört und drückte energisch seine Waffe mit der Hand weg, die er noch immer an ihren Hals gerichtete hielt.

„Tja Mädchen, für Träumereien ist in der groben Welt der Verbrecher kein Platz. Du musst darauf achten, dass du deine Gefühle beherrschst und nicht sie dich. Ich sehe bereits jetzt, wie du in dem See deiner Tränen untergehen wirst“, hänselte Irene sie hochnäsig und beäugte sie mit ihren himmelblauen Augen herabwürdigend. Sie und Amelia waren die einzigen übrig gebliebenen Personen im Theater und hatten bei ihrem spontanen Fechtduell, von der Zuschauertribüne aus zugesehen. Miceyla warf Irene einen missachtenden Blick zu und zeigte ihr bloß die kalte Schulter. `Wir sind gleichalt… Behandle mich nicht ständig wie ein unerfahrenes Kind! Für jemanden der mit den Gefühlen anderer spielt, wird niemals die wahre Liebe zuteilwerden…`

„Oha… Na beste Freundinnen werdet ihr zwei Hübschen nicht mehr. Irene, Neid ist ein hässliches Accessoire, lege es besser rasch wieder ab. Du hast schließlich einen Ruf zu verlieren. Und Miceyla, ich hab zwar heute viel an dir rumgemeckert, aber deine körperliche Ausdauer und die Entschlossenheit den Degen zu führen, haben sich grandios weiterentwickelt. Deine Hand umklammert den Griff der Waffe nicht nur, sie verschmilzt förmlich mit ihr. Du musst einen tüchtigen Lehrmeister haben“, sprach Clayton mit einem Augenzwinkern und klopfte ihr lobend auf die Schulter. Ein wärmendes Gefühl des Stolzes durchströmte Miceyla und sie lächelte ihn dankbar an.

„Wie bitte?! Ich soll neidisch auf eine Göre sein, die noch grün hinter den Ohren ist? Pah! Clay, du erzählst mal wieder unsinniges Geschwätz“, warf Irene überheblich ein, woraufhin Miceyla mit verdrehten Augen so tat, als hätte sie dies überhört.

„Meine Güte… Zankt euch ruhig weiter. Doch ich gehe jetzt nach Hause. Ich versprach den Mädchen heute Abend noch etwas vorzulesen und im Gegensatz zu manch anderen, halte ich meine Versprechen“, meldete Amelia sich etwas ermattet zu Wort und stand kurz darauf von ihrem Sitzplatz auf.

„Vorbildlich meine Liebe! Miceyla, die Kinder freuen sich natürlich auch darüber, wenn du ihnen noch mal von deinen Geschichten vorließt. Komm uns besuchen, wann immer du magst. Besonders die Jüngeren himmeln dich an wie eine Heldin“, sprach Clayton bestärkend.

„Wie wahr. Und leuchtende Kinderaugen sind das schönste auf der Welt“, fügte Amelia lächelnd hinzu.

„Das macht mich wirklich sehr glücklich zu hören…“, meinte Miceyla ein wenig verlegen. `Mir bedeutet es wirklich viel, in den Augen der Kinder etwas Besonderes zu sein. Sie sehen dabei nur das Gute und blenden jegliches Böse aus. Eine beneidenswerte Unschuld,,, Doch jeder Held, besitzt auch eine dunkle Seite. Und wenn diese zum Vorschein kommt, erlischt das Leuchten und die Anhänger kehren ihm den Rücken. Triumph ist letztendlich nur ein Pfad der puren Einsamkeit…`, dachte sie wehmütig und kurz wechselte sie mit Clayton innige Blicke, woraufhin sie sich rasch wieder von ihm abwandte, da sie sich ins Gedächtnis rief, wie gefährlich genau seine Fähigkeit `in die Herzen der Menschen zu blicken` war.

„Da fällt mir ein… Sollen wir uns nicht allmählich schon mal, für ein glorreiches Finale vorbereiten? Mir schwebt dafür ein alles übertreffendes Bühnenstück vor, das die Menschen bis zu ihrem Tod nicht mehr vergessen werde und Geschichte schreiben wird! Fällt jemandem bereits ein geeigneter Titel ein? Kreative Vorschläge nehme ich gerne entgegen!“, kam es plötzlich von Clayton und alle drei jungen Frauen, richteten ihre Aufmerksamkeit auf ihn.

„Dann…sollte es aber auch so authentisch wie nur möglich sein. Denn die Vergangenheit hat mich gelehrt, dass die splitternackte Realität die Menschen mehr bewegt, als alles frei Erfundene. Wie wäre es dann also mit… `Verbrechen zwischen Gut und Böse`?“, schlug Miceyla als Erste nach einer kurzen Schweigeminute vor. Clayton musterte sie mit einem leicht dämonischem Grinsen und seine Erwartungen schienen erfüllt zu sein.

„Vortrefflich, Amethesya… Dies wird ein wahres Glanzstück! Meine werten Freunde, wir sind für das Schauspiel geboren worden. Mit jedem Untergang, beginnt auch eine neue Ära. Wir kämpfen für Freiheit und Unabhängigkeit! Jeder der sich mit uns anlegt, ist ein Feind der Gerechtigkeit. Was bringen Vorschriften und Gesetze, wenn dabei der eigene Wille in Ketten liegt? Wer dagegen verstößt, zeigt bloß den Mut Veränderungen schaffen zu wollen. Auf das unsere Verbrechen niemals gebannt werden…“ Miceyla bekam bei seiner impulsiven Rede eine Gänsehaut. Er vermochte seine Zuhörer mittels seiner charismatischen Präsenz und Stimme zu vereinnahmen wie kein Zweiter. `Dieses Zeitalter hat etliche einzigartige Persönlichkeiten hervorgebracht, die viel mehr Aufmerksamkeit verdienen…`, dachte Miceyla und bei der Vorstellung, dass sie bereits in sehr naher Zukunft ein finales Theaterstück aufführen würden, welches den allerletzten Akt in ihrer aller Verbrecherlaufbahnen einläuten sollte, wurde ihr doch ziemlich flau im Magen. Gemächlich lief sie in die Umkleidekabine. Dort wollte sie sich gerade umziehen, da lugte Amelia verstohlen an der Tür hinein.

„Darf ich reinkommen?“

„Aber selbstverständlich. Bedrückt dich etwas? Mir entgeht nicht, wenn du über deine Sorgen grübelst, dies sehe ich dir sofort an. Du kannst dich mir jederzeit anvertrauen, wie du weißt“, sprach Miceyla ruhig und winkte sie mit einem freundschaftlichen Lächeln herein.

„Danke… Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein gutes Gefühl es ist, dass ich dir blind vertrauen kann, da wir keine Geheimnisse voreinander haben. Bei Irene habe ich dann doch ab und zu Hemmungen, um mit ihr über gewisse Themen zu reden. Kann sein das es daran liegt, dass sie mir in jeglicher Hinsicht weit voraus ist. Und du bist für sie zu einer hartnäckigen Konkurrentin geworden. Das tut ihrem selbstüberzeugtem Ego sicher mal gut. Aber du musst wissen, dass sie in der Vergangenheit immer sehr fürsorglich mir gegenüber war. Sie hat mich vor anderen verteidigt und mir wertvolle Ratschläge gegeben, auch was unsere gesetzeswidrige Arbeit betraf… Fast wie eine große Schwester“, sprach Amelia sanft, damit Miceylas schlechter Eindruck von Irene sich etwas verflüchtigte.

„Ja… Ihr liebevoller Umgang dir gegenüber sticht sehr hervor. Sie hat dir sicherlich in schweren Zeiten viel Kraft und Rückendeckung gegeben. Dafür bin ich ihr dankbar, auch wenn dies nichts daran ändert, dass ich sie nicht leiden kann“, erwiderte sie ehrlich.

„Über Irene wollte ich eigentlich gar nicht reden… Ich hatte vor mich zu erkundigen, ob Fred sich langsam wieder von seinen schweren Verletzungen erholt. Es sind zwar erst sechs Tage vergangen und doch hoffe ich, dass er sich aufgrund seiner guten Körperkondition rasch regeneriert. Denn das schlechte Gewissen lässt mich nicht los, dass ich ihn an jenem Tag alleine in Schottland zurückließ und nicht darüber nachdachte, dass er sich ohne jegliche Unterstützung Harley stellen könnte… Doch hätten wir die Rollen getauscht, wäre es nicht anders verlaufen. Es sieht mir nicht ähnlich, mir solange über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Verzeih, wenn ich damit wieder unangenehme Erinnerungen, an die Ereignisse dort bei dir wachrufe“, vertraute Amelia sich ihr mit entschuldigender Miene an. Miceyla setzte sich, ehe sie darauf antwortete auf eine Bank und bedeutete Amelia mit einer Handgeste, neben ihr Platz zu nehmen. Erst als sie beide es sich bequem gemacht hatten, führte Miceyla ihr Gespräch fort.

„Sorge dich nicht darum, negative Erinnerungen wachzurufen, sie sind tagtäglich in unseren Köpfen präsent. Das Gestern zu vergessen ist unmöglich, weiterzuleben ist die einzige Lösung welche uns bleibt. Du und Fred verbindet gewissermaßen ein Schicksal. Verdränge deine Gedanken an den bitteren Vorfall in Schottland nicht krampfhaft. Darüber nachzudenken hilft dir dabei, das Ganze besser zu verarbeiten. Und es wird dich sehr freuen zu hören, dass Fred gestern das erste Mal wieder auf den Beinen war. Er ist taffer und zäher als andere jungen Männer in seinem Alter. Was er nicht zuletzt seinem besonderen Training zu verdanken hat. Auch er hat sich bei mir nach dir erkundigt und bestellt dir beste Grüße“, erzählte Miceyla freudestrahlend und war beinahe über Amelias ungewöhnliches Interesse, an einer Person die sie nur flüchtig kannte, erstaunt, da sie selbst bei jedem abgesehen von Clayton unnahbar auftrat. `Wie gern würde ich dir jetzt vorschlagen, uns einfach mal besuchen zu kommen und dich persönlich mit Fred auszutauschen. Aber dann beharrtest du nur wieder auf deine sture Distanz. Es lässt sich wohl nicht ändern, dass wir uns in zwei unterschiedlichen Welten abgeschottet haben. Aber du hast nun einen Menschen gefunden, der dich wertschätzt und ehrlich mit dir umgeht. Dein Herz spürt dies, auch wenn dein Verstand sich dagegen sträubt. Doch sagte ich dir all jene Tatsachen jetzt ganz offen heraus, wärst du darüber bloß wütend. Wenn du endlich dein Glück fändest, wäre ich selber auch glücklich darüber. Löse dich von einer unglücklichen Liebe, welche dir nur Kummer einbringt und deine Lebensfreude raubt. Doch ich bin mir noch immer sicher, dass die Zeit alle Probleme auf ganz natürliche Weise lösen wird. So lass uns Geduld haben. Nur…was würdest du tun, wenn Clayton von jetzt auf gleich nicht mehr da wäre? Wenn er sterben würde…? Die Welt bräche für dich zusammen, denn noch bist du zu sehr von ihm abhängig…` In ihren eigenen Überlegungen vertieft, überhörte sie beinahe, wie Amelia ihr bereits antwortete.

„Wie wunderbar, ihm geht es also besser! Das war es, was ich hören wollte. Danke Miceyla, ich mag dich nicht länger aufhalten und wünsche dir noch einen schönen Abend.“ Kurz darauf stürmte Amelia beschwingt aus der Umkleidekabine und beendete abrupt ihre Unterhaltung. Leicht verdutzt blickte Miceyla ihr nach und musste dennoch bittersüß lächeln. `Du fürchtest dich davor, ich könnte meine Gedanken laut aussprechen… Es ist in Ordnung, lerne dir selbst zu vergeben und lasse von dem Streben ab, es allen Recht machen zu wollen. Sogar die tiefsten Wunden im Herzen heilen, auch wenn sie sich niemals komplett schließen…` Fertig umgezogen, verließ Miceyla das Theater durch den Hintereingang. Dort stand Moran versteckt in den Schatten an einer Mauer angelehnt und rauchte seelenruhig eine Zigarette. Seit der schockierenden Erfahrung ihrer Entführung, hatte William ohne Wenn und Aber beschlossen, sie nicht mehr ohne Begleitschutz, alleine durch London herumwandeln zu lassen und schon gar nicht bei Nacht. Darum wurde sie nun nach ihren spätabendlichen Auftritten nach Hause eskortiert.

„Hast dir ja heute ganz schön Zeit gelassen. Das mit der Pünktlichkeit nimmst du auch nicht mehr so genau, huh?“, kam sogleich eine neckende Begrüßung von ihm.

„Tja Meister, ich hab mir erlaubt, mit Clay eine kurze Fechtrunde einzulegen. Du und Will dürft auch mal etwas entlastet werden. Dein Training ist hart, aber ich bin nun längst daran gewöhnt. Das ich in so kurzer Zeit solch große Fortschritte gemacht habe, verdanke ich größtenteils dir. Daher muss ich dir dafür ein bescheidenes Lob aussprechen. Dies nur so am Rande… Und ich hätte nichts dagegen, wenn wir in der nächsten Zeit ein klein wenig mehr mit Schusswaffen übern würden“, sprach Miceyla vertraulich und erkannte, dass sie sich allmählich ihren Ängsten stellen musste, anstatt ihnen für immer aus dem Weg zu gehen. Moran blickte sie an und zog etwas ungläubig die Augenbrauen hoch, während sie gemeinsam ohne Eile durch die Straßen von London schlenderten.

„Meinst du das ernst? Ich wäre zwar der Letzte, welcher dagegen etwas einzusetzen hätte, aber du brauchst dich selbst nicht dazu zu zwingen. Keiner erwartet dies von dir. Doch Eigeninitiative hat noch niemandem geschadet. Das sagt gerade der Richtige, nicht wahr? Ha, ha! Danke übrigens für das nette Lob. Wenn ich dich trainiere, weiß ich wenigstens woran ich bin“, meinte Moran hinterher mit einem breiten Grinsen.

„Dir ist doch bestimmt ebenfalls nicht danach, auf direktem Wege Heim zu gehen, oder? Und ich habe gerade recht gut Laune. Was hältst du also davon, wenn wir noch irgendwo für eine Weile einkehren. Ein ordentliches Abendmahl, können wir uns dabei auch direkt erlauben“, schlug Miceyla spontan vor und knuffte ihn sorglos gegen die Seite.

„Ui, wie kommt das? Na dann, auf geht’s! Und Louis wird zur Abwechslung mal von einem Nervenzusammenbruch verschont, wenn ich gesättigt ankomme und er für keine halbe Kolonie kochen muss, ha, ha!“, stimmte er ihr sogleich munter zu und beide schlugen eine neue Richtung ein. Ihr kam dies ganz gelegen, da im Moriarty-Anwesen sich eine schwer beschreibbare Atmosphäre eingeschlichen hatte, die ihr ungeheuerlich auf den Magen schlug. Es begann alles mehr oder weniger in jenem Moment, als William sie mit einer unvorhergesehenen Frage überrumpelte…

„Ähm… Kinder?! W-wo kommt das denn so plötzlich her? Deine Fragen haben immer einen ernsten Hintergrund, daher erwartest du auch eine ernsthafte Antwort von mir… Also…für mich war es stets nur ein Traum, eines Tages eine eigene Familie zu gründen. Aber durch die ganzen holprigen Umstände, wird es wohl oder übel ein Traum bleiben. Ich liebe Kinder…doch wir können nicht selber welche haben. Der Weg welchen wir wählten, lässt es nicht zu. Ein Kind muss im Schutz einer Familie aufwachsen und von Eltern behütet werden, die es an eine glückliche Zukunft heranführen. Und nun frage ich dich…sind wir überhaupt dazu imstande? Bedenke nur, mit was für einer großen Bürde unser Kind geboren werden würde. Sicher bietet das Dasein als Adeliger die besten Voraussetzungen, um einem Kind alles zu geben, was immer es sich wünscht. Doch…wir sind der Kern des Verbrechens und wandeln mit dem Messer im Rücken durchs Leben. Das wir dabei möglicherweise sterben …kann auf lange Sicht hin nicht verhindert werden… Und was sagst du zu der Vorstellung, dass unser Kind wie du und Louis als Waisenkind aufwachsen würde…? Nein…ich könnte diesen Schmerz nicht ertragen, der Gedanke zerreißt mir das Herz…“, antwortete sie ihm mit einem unsicheren Unterton und spürte, wie sie bei diesem sensiblen Thema, von einer emotionalen Gefühlswelle gepackt wurde. Und in Kombination mit Williams immer sanfter werdenden Lächeln, drohte sie beinahe vor Schwindel umzukippen. Er kam dem entgegen und führte sie liebevoll an der Hand zum Bett, damit sie sich nebeneinandersetzen konnten.

„Ich höre aus deinen Worten, wieder die unbeirrte Realistin heraus. Und wer gleich mit negativen Vorstellungen beginnt, kann nur schwer enttäuscht werden wie du weißt. Diese goldene Regel haben wir uns wohl beide einverleibt. Aber jetzt höre dir auch meine Stellungnahme dazu an. Albert, Louis und ich haben uns seit Anbeginn darum bemüht, trotz aller Bescheidenheit, uns gegenseitig die größten Herzenswünsche zu erfüllen. Glück ist immer nur vorübergehend, doch wer im Leben nicht seine wertvolle Zeit voll ausschöpft, ist bereits tot. Ich brauche dir nicht die Hoffnung einzureden, dass wir ein glimpfliches Ende erhalten werden. Aber es existiert keine Familie auf der Welt, ob nun arm oder reich, welche für den hundertprozentigen Schutz von sich oder den ihrer Kinder sorgen kann. Du glaubst doch selber daran, dass die Natur und Zeit ihre eigenen Wege findet. Beweise mir aufs Neue, meine Liebe, dass du mittlerweile an größerem Vertrauen zu dir und deinem Umfeld gewonnen hast. Niemals ließe ich zu, dass unserem Kind etwas zustoße oder um eine ungewisse Zukunft bangen müsste, du ebenfalls nicht. Habe ich dich bislang schon einmal enttäuscht? Du scheinst immer noch im Irrglauben zu sein, ich stelle den Moriarty-Plan über alles andere. Doch allein bei deiner Rettungsaktion in Schottland, haben wir alles auf eine Karte gesetzt. Du, Albert und Louis steht an erster Stelle und ich bin immer für euch da…wir alle sind füreinander da, selbst wenn wir scheitern würden. Beweisen wir damit der Welt nicht schon, was bedingungslose Liebe bedeutet?“, entgegnete William ihr liebevoll, dennoch beharrlich mit überzeugender Stimme. Miceyla lehnte sich nachdenklich gegen ihn und schloss die Augen.

„Vertrauen…habe Vertrauen in dich und deine Mitmenschen… Es wäre so unsagbar schön. Ein solches Wunder würde uns alle sehr glücklich machen…“, flüsterte sie noch, wobei die Müdigkeit sie allmählich vollends übermannte…

Moran öffnete die Tür zu einem gut besuchten Pub und sie setzten sich gemeinsam an einen freien Tisch. Miceyla ignorierte die aufdringlichen Blicke der jungen Frauen, welche Moran galten und gab direkt eine Bestellung auf. Plötzlich spitzte sie die Ohren, als das Gespräch zweier Männer am Tisch hinter ihnen, ihr Interesse weckte. Auch Moran konzentrierte sich darauf, obwohl er nach außen hin so tat, dass er seine Aufmerksamkeit den angetrunkenen Frauen schenken würde.

„Dich hat man also auch über den Tisch gezogen, was? Hab ja gleich gesagt, dass Harefield ein Drecksloch ist!“

„Du sagst es! Keine zehn Pferde bringen mich dazu, noch mal dieses elende Kaff zu betreten! Ich bin pleite bis auf das letzte Hemd und meine verbliebenden Schulden, muss ich angeblich mit meinem Leben bezahlen. Pah, dieser hässliche Fettsack hat die Taschen voller Geld, alles andere interessiert den einen feuchten Dreck. Als ob er da einen einzigen Ausreißer nachjagen würde! Hier in London wird der Mistkerl mich nicht finden. Ich suche mir einfach einen neuen Job unter falschem Namen und das wars!“

„Pass nur auf, dass du deinen alten Schädel nicht verlierst, Kumpel. Die Ganoven jagen dir schneller eine Kugel ins Hirn, als das du Bier sagen kannst, ha, ha, ha!“ Nach der Unterhaltung trank der Mann, welcher scheinbar Opfer eines gierigen Geldeintreibers geworden war, seinen Krug mit einem Schluck aus und verließ die Bar. Miceylas Blick traf sich mit dem von Moran und beide wussten, ohne das einer der beiden es aussprechen musste, worauf die gerade aufgeschnappte Geschichte zurückzuführen war.

„Harefield, huh… Was sollen wir tun, ihn verfolgen und uns der Sache annehmen oder das gerade Gehörte ignorieren und keine weitere Zeit dafür verschwenden? Du entscheidest…“, gab Moran ihr großzügig den Vortritt, eine Entscheidung zu treffen, da sie gerade mit ihrem Geburtsort konfrontiert wurde. Ruhigen Gemüts blickte Miceyla ihm weiterhin unberührt in die Augen.

„Wir nehmen unverzüglich die Verfolgung des Mannes auf. Etwas sagt mir, dass er gerade sein letztes Bier getrunken hat. Lebend nutzt er uns mehr… Der Graf von Harefield beauftragt Attentäter, die für ihn sogar Opfer am anderen Ende der Welt ausschalten würden. Ja…ich habe mich kundig gemacht… Die strikte Hierarchie, hat Harefield noch immer fest im Griff…“, entschied sie entschlossen, bemühte sich dennoch ihre Stimme gedämpft zu halten.

„Dann ist es beschlossene Sache. Dies ist nun dein persönlicher Fall, doch ich folge dir ins Herz der Hölle, bis wir das Übel im Kern erstickt haben…“, versprach Moran mit einem übertrieben ernsten Gesichtsausdruck.

„Schon gut, du musst nicht gleich Will zitieren, ha, ha. Los, wir müssen uns sputen…“ Nachdem sie beide noch rasch ihre Bezahlung auf den Tisch gelegt hatten, lief Miceyla voraus und stellte erleichtert fest, dass sich der Mann noch in Blickweite befand. Unauffällig nahmen sie dessen Verfolgung auf. Ihr stockte der Atem, als wie aus dem Nichts eine dunkle Gestalt hinter ihm erschien. Miceyla und Moran warfen sich nickende Blicke zu und liefen nun schneller. Jedoch fand ihre Verfolgungsjagd ein jähes Ende, als zwei in pechschwarz gekleidete Männer ihnen den Weg versperrten und sie von einem sichtnehmenden Nebel umhüllt wurden.

„Das…das ist Schlafgas! Miceyla, atme das bloß nicht…“, schrie Moran lauthals eine Warnung aus und wurde Zeuge dessen, wie entsetzlich zügig sich die Wirkung des Gases entfaltete. Denn er sackte gegen seinen Willen auf die Knie und nahm seine Umgebung nur noch verschwommen wahr. Miceyla rannte trotzdem blindlinks geradeaus weiter und hielt dabei krampfhaft die Luft an. Erst als sie einen sicheren Abstand zu der dichten Nebelwolke gewonnen hatte, blickte sie hektisch zurück.

„Moran!“, rief sie panisch und wartete vergebens auf eine Reaktion von ihm. Zu ihm umzukehren wurde ihr ebenfalls verwehrt, da nun sie es war, die verfolgt wurde…

„Moran…! Moran…!“ Blinzelnd öffnete Moran die Augen, als er von einer vertrauten Stimme zurück ins Diesseits gerufen wurde.

„Urgh… Peinlich, dass mich so ein bisschen müffelnde Luft umgehauen hat. Ich danke dem Schicksal, dass du gerade in der Nähe warst. Und noch im Dienst, wie ich sehe… Eile Miceyla zur Hilfe, sie wird in die Enge getrieben. Dauert noch einen kurzen Augenblick, bis ich wieder auf den Beinen bin.“

„Das brauchst du mir nicht zweimal zu sagen. Die Unholde dürfen sich schonmal darauf gefasst machen, dem Jenseits zu begegnen, noch ehe sie ihr etwas antun können…“

Miceyla hechtete nach Atem ringend durch dunkle Gassen. Auch wenn sie wusste, dass ihre beiden Verfolger sie jeden Moment einholen würden, konzentrierte sie sich noch immer auf den in Gefahr schwebenden Mann aus dem Pub, der erst jetzt entsetzt erkannte, dass jemand nach seinem Leben trachtete und verängstigt mit dem Rücken an einer Hauswand stand.

„N-nein… L-lass mich in Frieden! Ich habe nichts falsch gemacht!“ Nun war dessen düsterer Verfolger kurz davor, ihm mit einem geschärften Messer zum Schweigen zu bringen. Miceyla zückte einen Dolch, die einzige Waffe welche sie gerade griffbereit hatte und stelle sich noch rechtszeitig vor den wimmernden Mann.

„Hm… Was bringt dich dazu, eine Made wie den zu beschützen? Kann es sein…? In wessen Auftrag handelst du?“ Unerschrocken blickte sie in das Gesicht des Attentäters und erkannte, dass es sich dabei um einen noch relativ jungen Mann handelte, der aufgrund seiner schlanken Statur, auf kurzer Distanz überdurchschnittlich schnell rennen konnte.

„Ich bin die `Hüterin der Gerechtigkeit`. Mehr braucht ein Handlanger des Bösen nicht zu wissen“, verkündete sie standhaft und richtete ohne mit der Wimper zu zucken ihren Dolch auf ihn.

„So, so… Dieser Blick… Du siehst darin also mehr, als ein paar zeitvertreibende Kinkerlitzchen. Dann sollst du bekommen wonach du verlangst…“ Ehe sie wusste wie ihr geschah, hatte der Mann ihr den Dolch, mit solch einer Wucht aus der Hand geschlagen, dass es sie in einem benebelten Bewusstseinszustand zurückließ. Und noch bevor sie wieder reagieren konnte, hatte er sein hilfloses Opfer hinter ihr erstochen.

„Nein! Wie kann man sich nur derart herabsetzen und für irgendwelche Machthaber die Drecksarbeit erledigen?! Hass schürt nur noch größeren Hass. Dieser Teufelskreislauf muss endlich unterbrochen werden!“, zischte Miceyla vor Wut und Trauer gepackt. Unbekümmert wandte der Mann sich ihr wieder zu. Mittlerweile hatten sich seine Verbündeten zu ihm gesellt und sie umstellt.

„Was soll die Aufregung? Bist du nicht dasselbe wie ich? Wir sind alles wilde Bestien, uns lüstet es nach Vergeltung und Selbstzufriedenheit. Ich mache nur meine Arbeit, dafür werde ich bezahlt und kann dadurch ein sorgenfreies Leben führen. Es war ein fataler Fehler, dich in fremde Angelegenheiten einzumischen. Daher muss ich dich nun ebenfalls zum Schweigen bringen. Bei einer solchen Schönheit wie dir, verspüre ich fast so etwas wie Reue. Fühle dich geehrt. Sei beruhigt, ich lasse dich nicht leiden und mache es kurz und schmerzlos…“ Ein kribbelndes Zittern durchfuhr Miceyla und sie biss verzweifelt die Zähne aufeinander. Sie ärgerte sich darüber, dass sie sich schon viel zu sehr daran gewöhnt hatte, dem Tod gegenüberzutreten, obwohl sie nichts mehr fürchtete. Es ließ sich einfach nicht vermeiden, es würde immer auf dieselbe Situation hinauslaufen.

„Ich…ich werde nicht sterben… Mein Wille hat mich in all den schweren Zeiten am Leben gehalten. Durchhalten… Ich muss stark bleiben!“, sprach sie mutmachende Worte an sich selbst laut aus. Der sich bedrohlich vor ihr aufbauende Mann, kam nicht mal dazu seine Messer umklammernde Hand in ihre Richtung zu schwingen, da dessen Aufmerksamkeit auf einen seiner Kameraden fiel, der geräuschlos von hinten attackiert wurde und leblos zu Boden stürzte. Unmittelbar nach jener unterbrechenden Szene, stellte sich jemand dicht neben Miceyla und zog sie schützend an sich.

„Albert!“ Mit vor Erleichterung und Freude glänzenden Augen, blickte sie zu ihm auf. Vor lauter Aufregung entging ihr, wie sie beim Anblick, ihn in seiner Militäruniform zu sehen, leicht errötete.

„Guten Abend, achten Sie doch bitte darauf, dass Ihnen das Messer kein weiteres Mal aus der Hand rutscht. Wir haben nun Verluste auf beiden Seiten zu verzeichnen. Wären wir damit nicht quitt? Ist es nicht auch in Ihrem Interesse, zusätzliche lästige Komplikationen zu vermeiden und in einem friedlichen Waffenstillstand auseinanderzugehen? Wir schweigen über den Vorfall und umgehen unnötige Drohungen. Na, was sagen Sie? Oder kann Ihr verdorbener Verstand, so etwas wie Fairness nicht mehr herausfiltern?“, verhandelte Albert sarkastisch und lächelte ihren Widersacher selbstbewusst an.

„Oho… Du hast sogar Freunde beim Militär. Scheinst mir ja eine ganz wichtige Persönlichkeit zu sein. Aber…in was für einem Verhältnis steht ihr beide denn wirklich zueinander?“, fragte dieser herausfordernd und sein gefallener Verbündeter ließ ihn völlig kalt. Miceyla und Albert blickten sich für einen kurzen Moment schweigend in die Augen, wobei sie glaubte, jeder in ihrer unmittelbaren Umgebung, müsste ihren wild klopfenden Herzschlag vernehmen können. Nach ihrem flüchtigen, intensiven Blickaustausch, schmiegte er sich dicht an sie und nahm ihre Hand zärtlich in die seine.

„Wir beide…sind nur Bruder und Schwester…“, sprachen beide gleichzeitig und hatten dabei sogar beinahe denselben Gesichtsausdruck, sodass sie sich in jenem Augenblick ähnlicher als sonst sahen. Der bewaffnete Mann kniff verärgert die Augenbrauen zusammen und richtete erneut sein Messer auf sie.

„Tss! Das wollte ich garantiert nicht hören! Unnötige Informationen landen bei mir auf dem Schafott. Schön, ihr wollt mir scheinbar nicht verraten, in welche dreckigen Machenschaften ihr verwickelt seid. Nur den Namen, für den Grabstein des Geschwisterpaares, wüsste ich nur zu gern…“ Albert richtete warnend seine entsicherte Pistole auf ihn und seine Miene wirkte auf einmal wesentlich düsterer.

„Moriarty…“ Alsbald er den Namen preisgegeben hatte, senkte der Attentäter sein Messer und gab seinem fast unscheinbaren Kamerad, mit seiner Hand ein Zeichen zum Rückzug.

„Moriarty… Dann sehen wir uns in Harefield, sofern euch der Sinn nach einer Revanche steht…“ Mit diesen unheilverheißenden Worten, machten er und sein Mitstreiter sich aus dem Staub und verschwanden binnen eines kurzen Wimpernschlags. Seufzend hob sie ihren Dolch vom Boden auf und lehnte sich anschließend gegen die Hauswand an, da die Gefahr nun gebannt war.

„Danke, mein edler Retter. Wie kann ich dir nur jemals für deine heldenhafte Rettung danken?“, meinte sie lächelnd und spürte wie ihr innerlich angespannter Krampf, sich langsam durch Erleichterung löste.

„Nun…wie wäre es denn mit einem Kuss?“, erwiderte Albert sogleich grinsend und beugte sich so plötzlich ohne Vorwarnung zu ihrem Gesicht hinab, dass sie nicht anders konnte, als verunsichert auf der Stelle zu verharren und sich dabei in seinen funkelnd smaragdgrünen Augen zu verlieren.

„Was hab ich alles verpasst? Oh Mann, Miceyla, wie hast du es eigentlich geschafft, nichts von dem Schlafgas einzuatmen? Du warst genauso überrumpelt wie ich!“ Albert und sie wurden jäh unterbrochen, als ein leicht torkelnder Moran auftauchte und sie glaubte einen Herzstillstand zu bekommen, als er ihr seine Hand auf die Schulter legte. Albert hingegen nahm wieder seine würdevolle Haltung ein und blickte so gelassen drein wie eh und je. `W-was ist bloß los mit mir?! Warum lasse ich zu, dass mich deine verführerischen Spielchen derart durcheinanderbringen? Aber…ist das wirklich nur ein Spiel…? Wenn das so weiter geht, werden wir beide dadurch nur noch mehr verletzt… Ich sehe es dir doch an, nach außen hin gibst du dich stolz und stark, doch eigentlich leidet deine Seele…`, dachte Miceyla geknickt und bemühte sich einen klaren Gedanken zu bewahren.

„Ich vermute, ihr zwei habt bereits unter euch ausgemacht, dass die Bereinigung dieses Falls nun uns obliegt. Dann werden wir auch zu Ende führen, was wir begonnen haben. Erstatten wir William Bericht. Uns erwartet ein unterhaltsames Rendezvous in Harefield“, sprach Albert vorausschauend und zwinkerte Moran lächelnd zu.

„Verzeiht… Das Schlamassel haben wir mal wieder meinem eigenmächtigen Handeln zu verdanken. Aber dafür sind wir schließlich da, um die Rechte der wehrlosen Bürger zu verteidigen. Jedoch…sollen wir den Tatort jetzt wirklich einfach verlassen, ohne jegliche Spuren zu beseitigen? Die beiden Leichen, könnten bei gewissen Personen zu falschen Schlussfolgerungen führen…“, verwies Miceyla besorgt auf die zwei in einer Blutlache liegenden Männer.

„Scotland Yard darf ruhig auch mal seinen Grips anstrengen. Fehlschlüsse haben auch etwas Gutes, denn es gibt ja glücklicherweise einen berüchtigten Detektiv, der nicht davor zurückschreckt die Nadel im Hauhaufen zu suchen, um die Wahrheit ans Licht zubringen. Oder fürchtest du, unser Weg und der von Holmes könnten sich mal wieder überschneiden? Na komm meine Liebe, fahren wir nach Hause.“ Albert legte ablenkend einen Arm um Miceyla und führte sie von dem Ort des Verbrechens weg. Moran folgte ihnen noch immer leicht benommen. `Sherlock… Es wird nicht mehr lange dauern, dann erfährt er von der Identität des Meisterverbrechers. Etliche Veränderungen wird dies mit sich ziehen… Wir werden uns auf eine andere Art und Weise begegnen. Wie John und Emily darauf reagieren, mag ich mir auch noch nicht vorstellen. Die Wahrheit kann Menschen verfremden…`, dachte sie betrübt, während sie in der Kutsche fuhren.

„Sieh an, hat ja nicht lange gedauert, bis ihr euch in neue Schwierigkeiten stürzt. Ich hoffe eine spannende Geschichte zu hören, bei der es sich lohnt das Ende umzuschreiben. Aber erst mal willkommen daheim“, begrüßte William die drei Ankömmlinge mit einem strahlenden Lächeln und konnte anhand eines kurzen Blickes auf ihr äußeres Erscheinungsbild ablesen, dass es einen spätabendlichen Vorfall gegeben haben musste.

„Albert und Moran können ja schon mal anfangen zu erzählen, ich bin gleich wieder da…“ Geschwind lief Miceyla an William vorbei die Treppe hinauf und drückte sich unbewusst vor einem unbehaglichen Gespräch, bei dem es wieder nur um Harefield ging und in ihr traumatische Erinnerungen wachrufen würde. Mit einem leicht kummervollen Blick sah er ihr nach und wusste, dass wenn sie etwas sehr beschäftigte, sie verbissen versuchte sich abzulenken, um schmerzvollen Gefühlen aus dem Weg zu gehen, was ihr aber nie wirklich gelang… Vor Freds geschlossener Zimmertür stehend, klopfte sie dreimal an.

„Ja?“ Nachdem sie seine zaghafte Stimme gehört hatte, trat sie herein und wurde gleich mit einem freundlichen Lächeln begrüßt.

„Hallo Miceyla, schön dich zu sehen. Du siehst wieder viel fröhlicher aus, das stimmt auch mich heiter. Der Vorfall in Schottland war für uns alle eine Bewährungsprobe. Ganz besonders für William… Sein Verstand und Herz sind nicht im Reinen miteinander. Die Menschen aus dem Hintergrund heraus zu beobachten, ist schließlich so etwas wie meine verborgene Gabe. Wir alle wandeln durch Dunkelheit, doch er ist dabei in einen finsteren Abgrund hinabzusteigen, in dem ihn keiner von uns mehr erreichen kann. Doch ich glaube daran, dass dein Licht ihn vor jeglicher Finsternis bewahren wird. Eure Liebe siegt mit Sicherheit am Ende und wird das Böse bezwingen. Auch ein solch rational denkender Mensch wie William, erkennt dies früher oder später. An diesen Glauben klammere ich mich. Mein Antrieb, die Hoffnung niemals aufzugeben und an eurer Seite bis zum bitteren Ende zu kämpfen“, sprach Fred ergriffen und bemühte sich ihr ein erzwungenes Lächeln zu schenken. Seine gefühlvollen Worte trieben ihr Tränen in die Augen. Er war ein sehr schweigsamer Junge, doch sie wusste, dass er ein besonders mitfühlendes Herz besaß. Miceyla setzte sich zu ihm auf das Bett und fuhr ihm sachte mit der Hand durch sein Haar.

„Fred… Ich werde für Will an jedem trüben Tag eine strahlende Sonne und in jeder sternenlosen Nacht ein funkelnder Mond sein. Ich bin so unendlich dankbar, dass ich euch alle in mein Herz schließen durfte und Teil einer Gemeinschaft sein darf, die sich gegenseitig Kraft und Mut spendet, auch wenn es ab und an zu Unstimmigkeiten kommt. Ich liebe euch alle, ihr seid zu meiner wahren Familie geworden… Eigentlich bin ich zu dir gekommen, weil ich dir freudige Nachrichten übermitteln wollte. Amelia bestellt dir ihre besten Grüße. Und ich habe ihr von dir erzählt, dass es Berg auf geht und du dich bald wieder bester Gesundheit erfreuen kannst. Du hättest ihr überglückliches Gesicht sehen sollen“, berichtete Miceyla ihm, woraufhin Freds Augen vor Freude zu leuchten begannen und er nicht anders konnte, als sie aus Dankbarkeit zu umarmen.

„Amelia… Sie ist so wunderschön wenn sie lächelt… Sie hat wahren Schmerz kennengelernt, genau wie du. Und doch seid ihr beide stark geworden. Danke…ich danke dir Miceyla… Mögen Amelia und ich uns jetzt auch noch fern sein, eines Tages werden wir in einer Welt leben, in der uns keine Mauern mehr voneinander trennen. Lass uns daran glauben…“, flüsterte er fest entschlossen. Miceyla erwiderte seine Umarmung, doch in ihr taten sich erneut pessimistische Zweifel auf. `Es wäre alles zu schön um wahr zu sein… Was werde ich wohl vorfinden, wenn die Mauern zwischen Sherlock und mir einzustürzen beginnen…? Bestimmt nur eine unüberwindbare brennende Schlucht…`, dachte sie trüb und erinnerte sich dennoch hartnäckig daran, dass wahre Freundschaft jeden Kampf überstehen konnte und mit der Kraft der Liebe gleichzusetzen war.

„Ja…so wird es sein…mit Sicherheit… Wer derart viele Opfer bringt und verbissener als jeder andere kämpft, wie wir es tun, muss irgendwann dafür belohnt werden. Mag unsere Sünde des Verbrechens auch niemals beglichen werden können…“, gab sie ihm mit sanfter Stimme eine zögerliche Antwort und schloss für einen kurzen Moment die Augen.

„Ich muss jetzt wieder nach unten… Es wartet noch eine lästige Besprechungsrunde auf mich. Aber ich habe mich fest dazu entschlossen, mich meiner albtraumhaften Vergangenheit zu stellen. Nun ist es an der Zeit, auch Harefield von den Fesseln des Klassensystems zu befreien“, teilte Miceyla Fred mit gemischten Gefühlen mit und löste sich seufzend von ihm.

„Ich komme mit dir und werde ebenfalls an der Besprechung teilnehmen! Die nächsten Aufträge stehen wir wieder gemeinsam durch! Ich enttäusche niemanden mehr oder lasse einen von euch im Stich!“, teilte er ihr hastig voller Inbrunst mit. Miceyla öffnete schon den Mund um ihm zu wiedersprechen und ihn dazu ermutigen, sich vorerst noch auszuruhen. Doch sie erkannte, dass es ihn nur kränken und das stolze Gefühl gebraucht zu werden verletzen würde. Solange sie gegenseitig aufeinander Acht gaben, war alles in Ordnung. Und so reichte sie Fred mit einem zustimmenden Lächeln ihre Hand, um ihm von seinem Bett aufzuhelfen.

„Nanu? Wo sind denn alle hin? Sag bloß, die haben sich in den Keller verkrümelt… Mich lässt die leise Befürchtung nicht los, dass aus diesem Fall ein ganzer Feldzug gemacht wird. Besonders Moran ist Feuer und Flamme, der Obrigkeit von Harefield den Garaus zu machen… Und nicht nur er…“, murmelte Miceyla vor sich hin, als sie ein dunkles und verlassenes Wohnzimmer vorfanden.

„Dann lass uns dort nachsehen gehen. Sicher mag dir William damit nur demonstrieren, wie ernst er deine Auseinandersetzung mit Harefield nimmt“, meinte Fred aufmunternd und stupste sie aufmunternd gegen den Arm. Lächelnd lief sie mit ihm die Kellertreppe hinab und wie sie es vermutet hatte, wartete ein heiteres Empfangskomitee, in ihrem geheimen Besprechungsraum auf sie beide.

„Aha, da sind die zwei Nachzügler ja! Damit wären wir vollzählig, wer sagts denn! Legen wir los!“, sprach Moran enthusiastisch, als Miceyla und Fred den in dämmriges Licht getauchten Raum betraten.

„Unsere Besprechungen dienen nicht zu deiner persönlichen Unterhaltung. Zudem kannst du auch außerhalb unserer Treffen saufen und futtern. Dem vornehmen Herrn, ist wohl jeglicher Sinn für Rücksichtnahme dezent entglitten“, kommentierte Louis Morans schlechtes Benehmen wie immer streng. Doch waren seine negativen Charakterzüge für ihn allmählich zur Gewohnheit geworden und er hatte sich angewöhnt, mit mehr Humor darauf zu reagieren.

„Setzt dich, meine Liebe. Wir haben uns bisher nur über die groben Fakten ausgetauscht“, verriet ihr Albert mit gutmütiger Miene und bat sie mit einer freundlichen Geste, neben ihm Platz zu nehmen. Nun war ihr Blick voll und ganz auf William gerichtet, der so tiefenentspannt und mit solch einem liebevollem Lächeln dastand, dass seine innere Ruhe und Ausgeglichenheit sich wieder auf sie übertrug, als sich ihre Blicke trafen.

„Miceyla, du hast dich dafür entschieden, Harefield endlich von der Ungerechtigkeit zu befreien, welche wie fast überall Orts ihr Unwesen treibt. Dies wird sicherlich auch dazu beitragen, einen Teil deines erlebten Leids niederzubrennen. Feuer mit Feuer zu bekämpfen, verschafft einem manchmal eine klarere Sicht. Wir nehmen uns der Sache als Gruppe an und ich lasse dich eigenständig bestimmen, mit welchen Prinzipien und welcher Art von Härte wir bei dem Fall vorgehen sollen, um unser Ziel zu erreichen“, begann William zum Einstieg ungezwungen und wartete eine wohlüberlegte Äußerung ihrerseits ab.

„Dann lasst uns mal ganz spartanisch sein und das Übel im Kern ersticken. Sprich wir finden heraus, welcher wohlhabende Egomane in Harefield der Strippenzieher, bei all den dortigen Untaten ist und beseitigen ihn, inklusive dessen Anhänger. Auf eine für uns übliche `diskrete` Weise versteht sich… Du würdest es letztendlich nicht anders machen. Verhandlungen, Erpressungen und andere ähnliche stümperhafte Schritte, sind nun mal keine Lösungen mit überzeugenden Erfolgsaussichten. Ein von Grund auf böser Mensch, lässt sich durch nichts ändern und wird sein Umfeld immer wieder aufs Neue täuschen. Doch sobald ein solcher Mensch verschwindet, führt dies dazu, dass etliche Unschuldige endlich zu ihrem unbeschwerten Lächeln zurückfinden können. Eine Wahrheit, der auch ich mir schmerzlich bewusst werden musste… Ein Verbrechen, welches Erniedrigung unterbindet… So lautet meine sachliche und gut verständliche Meinung dazu. Alleine könnte ich niemals etwas an der Situation in Harefield ändern. Doch dies bin ich jetzt nun mal nicht mehr, daher sollte die Chance am Schopfe gepackt und ein Schritt nach vorn gemacht werden“, schilderte sie offen vor den anderen ihre konkreten Vorstellungen, bei der Planung ihrer Herangehensweise und konnte es dennoch nicht über sich bringen, das Wort `Mord` in den Mund zu nehmen. Nichtsdestotrotz lag diesmal kein Funken Selbstzweifel in ihrer Stimme und die Gesichter um sie herum, schienen allesamt mehr als nur zufrieden, über ihre unkomplizierte Wortwahl zu sein.

„Wohlan, unsere Zielobjekte zu ermitteln ist schnell erledigt. Wenn wir wieder gemeinsam ein perfektes Verbrechen inszenieren, würde dies als eine weitere Tat des Meisterverbrechers an die Öffentlichkeit gelangen. Es sei denn…du ziehst lieber in Betracht, mit Sherlocks Hilfe der Düsternis in Harefield, auf humane Art Herr zu werden. So oder so wird er sich nach unserem Eingreifen dahinterklemmen. Wir müssen alle bedenken, dass er von deiner Verbindung zu Harefield selbstverständlich im Bilde ist. Es dauert nicht mehr lange, bis er sein letztes fehlendes Puzzleteil erhält. Selbst unser größtes Geschick, wird dagegen dann nicht mehr standhalten können. Sei gewarnt, die unangenehmen Fragen werden nicht ausbleiben… Ich mag nur vermeiden, dass du wieder zwischen die Fronten gerätst“, erinnerte William sie sorgsam an die möglichen Folgen, welche die Befreiung von Harefield mit sich ziehen würde. In seinen Worten lag lediglich die blanke Logik und dennoch machte sich in Miceyla eine unangenehme Frustration breit.

„Gewiss… Das hast du alles wieder faktisch optimal beschrieben. Doch darfst du dir die Umständlichkeit, von dem was du zum Ausdruck bringen willst, gerne ersparen. Sag…es einfach geradewegs heraus, dass du mich vorzugsweise lieber wieder mit Sherlock fortschicken willst. Mögen wir auch ein verlässliches Team abgeben, aber damit ist trotzdem niemandem geholfen. Die Reise nach Schottland, war ja nun wirklich mehr als nur ein bitterer Schlag ins Gesicht. Soll sich etwa ein derartiges Fiasko wiederholen? Dient das alles dazu, um die durchsickernde Wahrheit noch länger unterdrücken zu können? Oder...willst du mich auf schleichendem Wege verstoßen und von dem Moriarty-Plan ausschließen? Sollte ich mit dieser Annahme recht haben…werde ich dafür sorgen, dass mein Vertrauensverhältnis zu Sherlock, dir nicht länger von Nutzen sein wird! Ich bin dir gegenüber stets loyal und kämpfe dennoch damit eine Freundschaft aufrechtzuerhalten, die ebenso auf Ehrlichkeit aufgebaut ist. Wenn mein ganzes Leben zu einer einzigen Lüge wird, verlieren all die aufrichtigen Werte an Bedeutung und der Sinn zum Weiterkämpfen wird mir geraubt… Lege dir mit deinem überragenden strategischen Denken, dein Umfeld so zurecht, wie es dir gerade in den Sinn kommt. Aber was mich betrifft…ich bin keine Schachfigur, die du nach Belieben versetzen kannst. Du bist dir dessen nur zu gut bewusst, welche Gefühle du durch dein Handeln in anderen auslöst. Doch wie steht es mit dir selbst? Wie sieht es in deinem Herzen aus? Leide nicht noch mehr, als du es ohnehin nicht schon tust. Wenn ich nicht da wäre…wer würde dann deine Hand halten , sobald die Dunkelheit dich zu verschlingen droht…? Du wirst merken, wie unerträglich sich diese Kälte anfühlt… Keiner von uns mag ein solches Elend alleine durchleben. Schicke mich ruhig fort und doch werde ich bleiben, hier bei dir…für immer. Auch wenn dies bedeutet, dass ich dafür all meine Freunde und sogar mein eigenes Leben opfere. Du weißt, welcher Verlust der weitaus schmerzvollere wäre… Und ich frage dich erneut…was…was muss ich denn noch alles tun, um dir meine Entschlossenheit zu demonstrieren?“ Miceyla spürte selbst, wie sie sich immer mehr emotional in die Sache hineinsteigerte. Sie wusste, dass sie es mit ihrer Ausdrucksweise etwas übertrieben hatte und dennoch sah sie es nicht ein sich dabei zu stoppen. Schließlich war sie gerade von ihren vertrauten Kameraden umgeben und nicht von irgendwelchen Fremden. Wahrscheinlich war es auch die Angst, dieses unersetzliche Gemeinschaftsgefühl von jetzt auf gleich zu verlieren. Sie versuchte sich wieder ein wenig zu beherrschen und atmete ruhig ein und wieder aus. Die Gruppe hatte aufmerksam zugehört, ohne sie bei ihrer impulsiven Rede zu unterbrechen. Noch immer herrschte Schweigen und als sie Williams wehmütigen Blick begegnete, hielt sie es nicht mehr länger aus.

„Entschuldigt mich bitte…“, sprach sie heiser und verließ hastig den Kellerraum.

„Miceyla!“ Fred wollte ihr besorgt nacheilen, doch Moran hinderte ihn mit einer kopfschüttelnden Geste daran, woraufhin er sich noch zusätzlich verärgert fühlte, was selten bei ihm vorkam.

„Ich sagte ja immer, dass Miceyla zu wankelmütig ist. Aber ich gestehe, dass ihre Willensstärke einen anerkennenden Respekt verdient. Wäre sie nicht hier bei uns, würde etwas fehlen… Sie ist zu einer von uns geworden…“, meldete Louis sich als erstes behutsam zu Wort. William blickte seinen Bruder etwas überrascht an.

„Louis…“, hauchte dieser leise.

„Das solltest du mal in ihrem Beisein sagen, dafür brauchst du dich nicht zu schämen. Was glaubst du, wie sehr sie sich über deine gutherzigen Worte freuen würde. Nur nicht so schüchtern, mein Lieber. Und Will, wir werden jeden Tag erneut Zeuge, dass Miceyla ein unbeugsames Herz besitzt. Ist es nicht weitaus schöner, die verborgene Flamme endlich

barrierefrei zum Leuchten zu bringen, als sie ständig einzudämmen? Selbst der längste Winter verabschiedet sich irgendwann und macht Platz für einen lebensfrohen Sommer“, kommentierte Albert den zögerlichen Einwand von Louis. Anschließend wandte er sich an William mit einem schmunzelnden Lächeln und fand scheinbar Gefallen an Miceylas herrischer Art, gegenüber ihrem eigenen Ehemann. William lehnte sich nach einem langen Seufzer gegen die Wand an und das zaghafte Lächeln, welches seine Lippen umspielte verriet, dass er einsichtig war und nachgab.

„Einen Menschen retten zu wollen, der nicht gerettet werden will, ist eine knifflige Herausforderung, die mit aufbürdenden Qualen für alle Beteiligten verbunden ist. Dann soll es so sein. Ich werde mich darum bemühen, bis zu einem gewissen Grad etwas nachsichtiger zu sein. Die Zeit wird kommen und Miceyla muss eigenständig eine Wahl treffen, unabhängig von äußeren Einflüssen. Nie habe ich vorgehabt, sie zu bevormunden und sie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Viel eher will ich ein stützender Wegweiser für sie sein. Aber…wenn sie so standhaft ist und Freiheit gegen Gefangenschaft eintauscht, muss sie mir auch beweisen, ob sie bereit ist für dir Liebe eine Freundschaft zu opfern und woran ihr Herz mehr hängt…“, sprach William mit sanfter Stimme und die etwas misslungene Besprechung war vorerst beendet.

Miceyla stand nachdenklich auf dem Balkon und stützte sich dabei mit beiden Armen auf dem breiten Geländer ab. Das endlose Grübeln half ihr auch nicht weiter. Es war wie eine unsichtbare Blockade, die sie davon abhielt, einfach nur dem natürlichen Lauf des Lebens zu folgen… Ihr Herz machte einen freudigen Sprung, als sie hinter sich Schritte vernahm und kurz darauf William zu ihr auf den Balkon trat. Gerade wollte sie nicht alleine sein, obwohl sie gerade eben aus der Runde geflohen war und lief lieber vor ihren negativen Gedanken und der Erinnerung an die bedrückende Einsamkeit davon.

„Ach Will, es tut mir ja so leid. Du wünschst dir nur das Beste für mich und ich halte stur an meinen Idealen fest…“, begann sie leise und lächelte verbittert.

„Nicht doch, mein Liebling. Möglicherweise bin ich etwas taktlos gewesen, denn die jüngst erlebten Auswirkungen der Schottlandreise, sind besonders für dich noch zu präsent. Und wir haben dieselben Ideale und daher auch die gleiche Denkweise. Ich bitte dich darum, dass du es beibehältst, deine Meinung offen vor andern auszusprechen. Dies ist ein Merkmal der Stärke, welches dich einzigartig macht. Schon bei unserem ersten Treffen, habe ich dich dafür sehr bewundert. Du gehörst zu uns und wir gehen die Reise gemeinsam. Niemand wird hier fortgeschickt. Aber bedenke, dass jeder Weg auch unerwartete Abzweigungen mit sich bringt. Das Leben und die Zukunft lassen sich nicht immer im Voraus planen. Auch ich habe nicht die Macht dazu. Der Reiz eines Abenteuers mit Gefahr und Ungewissheit, ist doch für uns alle verlockend, oder nicht? Und zweifelsfrei werden nur wir intern uns um die Angelegenheit in Harefield kümmern, ganz ohne das Mitwirken von anderen `Verbrecherjägern`“, versprach William mit einem verschwiegenen Augenzwinkern und zog sie aufmunternd in seine Arme.

„Ha, ha! Nur lässt es sich kaum vermeiden, diesen anderen `Verbrecherjägern` ständig über den Weg zu laufen. Die Unterwelt ist dafür viel zu eng miteinander vernetzt. Wir müssen nicht nur Sherlocks Scharfsinn im Hinterkopf behalten, auch der Konflikt zwischen Clayton und Harley, wird sich schon sehr bald gefährlich zuspitzen… Womöglich ist Clayton zu noch korrupteren Methoden fähig als wir, um seine Rache zu bekommen… Aber immer der Reihe nach. Und auch wenn alles Schlag auf Schlag kommen sollte, ich werde gemeinsam mit euch kämpfen und ein jeder dem die Gerechtigkeit geraubt wurde, wird unsere Taten anerkennen und sich uns anschließen. Es darf nicht nur Hass existieren, auch uns gegenüber nicht… Solange du bei mir bist, habe ich die Kraft und den Mut eine Waffe zu führen. Ich danke dir für jede einzelne Lektion, welche du mich bisher gelehrt hast. All das neuerlangte Wissen und die Erfahrungen, haben aus mir einen neuen Menschen gemacht. Doch du bist ja selbst Zeuge dieser positiven Entwicklung. Dafür liebe ich dich und jedes einzelne Geschenk, das du mir gemacht hast. Was nicht nur mir, sondern auch noch vielen anderen, ungerecht behandelten Menschen helfen wird“, erwiderte sie mit lieblicher Stimme und genoss dabei seine beruhigende Wärme.

„Danke…das ich einem so wundervollen Menschen wir dir begegnen durfte und du dich dafür entschieden hast, an meiner Seite zu sein. Ich kann das nicht oft genug wiederholen und werde dich jeden Tag daran erinnern, wie viel du mir bedeutest. Ich liebe dich, Miceyla…“ Nach seinem gutmütigen Geständnis, suchte er ihren Blickkontakt und seine schimmernd roten Augen betrachteten sie sehnsuchtsvoll, beinahe schon demütig. Keiner der beiden konnte dem Verlangen, eines leidenschaftlichen Kusses noch länger nachgeben. Wann immer ihre Lippen aufeinandertrafen, bekam Miceyla das unbeschreibliche Gefühl, ihre Herzen würden miteinander verschmelzen und die Zeit zum Stillstand bringen. `Ich werde auf ewig bei dir bleiben und dich vor der Dunkelheit beschützen, so wie du stets bei mir bleiben und die strahlende Flamme sein wirst, die mich vor jedem Übel bewahren wird. Wie Feuer und Eis vereinen wir uns zu einer unantastbaren Einheit…`, dachte sie rührselig und schloss dabei entspannt die Augen.
 

„Das ist doch alles ein wenig komplizierter und aufwendiger, als ich es mir vorgestellt hatte. Wer soll denn bei dem ganzen Papierkram den Überblick behalten? Jetzt haben wir uns noch zusätzliches Chaos eingehandelt…“ Seufzend saß Miceyla am nächsten Morgen, gemeinsam mit Louis an einem Schreibtisch im Archiv des Anwesens und sortierte einen riesigen Stapel Dokumente.

„Wie immer höre ich nur Beschwerden. Wer ein Unternehmen gründet, muss sich eben auch vernünftig um die Finanzen kümmern. Aber das wir so viel zu tun haben, ist ein guter Indiz dafür, wie gut die Pension für heimatlose Katzen floriert. Auch unsere Angestellten, nehmen jeden Tag engagiert ihre Arbeit auf. Alles läuft reibungslos, sodass es nichts zu bemängeln gibt“, sprach Louis mit zufriedener Miene.

„Oh ja, ich bin richtig stolz auf uns alle! Tagtäglich kommen die unterschiedlichsten Besucher. Kinder, Menschen der Arbeiterklasse und auch Adelige. Ein Herz für unschuldige Tiere, kann tatsächlich die Leute zusammenführen und plötzlich entstehen Gespräche auf Augenhöhe. Danke, das du mir so fleißig zur Seite stehst, obwohl du selbst schon genug um die Ohren hast“, stimmte Miceyla ihm lächelnd zu und machte sich wieder um einiges motivierter an den Papierkram. Ohne es zugeben zu wollen, freute Louis sich darüber, dass sie seine bedingungslose Hilfsbereitschaft wertschätzte.

„Auch ich habe dir zu danken. Du besitzt ein herausstechendes Einfallsreichtum. Wäre eine Schande, wenn wir dir nicht die nötigen Mittel zur Verfügung stellen würden, um deine Ideen in die Tat umzusetzen. Wir sind eine Familie und helfen einander. Meinen Brüdern habe ich so viel zu verdanken, daher möchte ich ihnen ebenso viel wieder zurückgeben. Es…wäre egoistisch von mir zu behaupten, ich täte das alles nur für Will und Albert, wo du jeden einzelnen von uns zu unterstützen versuchst und mit Respekt behandelst. Mich eingeschlossen, obwohl ich dir gegenüber immer rigoros bin… Daher fühle ich mich aufrichtiger Weise dazu verpflichtet, dir etwas mehr Anerkennung entgegenzubringen. Du bestreitest denselben leidvollen Pfad wie wir alle. Vielleicht…habe ich versucht diese Tatsache zu verdrängen, doch das ist falsch… Denke jetzt nicht, ich würde dir plötzlich blindes Vertrauen entgegenbringen! Wenn du und Sherlock Wills Plan ins wanken bringen solltet, werde ich…“ Louis stoppte mitten im Satz und wich unbeteiligt ihrem Blickkontakt aus. `Er spricht von Familie… Gehöre ich denn nun endlich für ihn mit dazu…?`, dachte

Miceyla und durchlöcherte ihn mit ihren vor Überraschung geweiteten Augen.

„Ich verstehe wie du dich fühlst… Leibliche Geschwister habe ich selbst keine. Nur herzlose Eltern, die mir nie ein Gefühl von Liebe und Geborgenheit vermitteln konnten. Jemand wie ich hat nicht das Recht dazu, dir deinen wertvollsten Besitz wegzunehmen. Ich werde immer hinter euch gehen und zurückstecken müssen, mit dem stillen Wunsch, ein richtiger Teil von euch zu werden, der unmittelbar neben euch steht… Hört sich das für dich nicht beruhigend an?“, schweifte Miceyla nun doch wieder ins Negative ab, obwohl seine anfänglichen Worte, sie für einen flüchtigen Moment glücklich gestimmt hatten. Auf einmal fiel sein Blick wieder reflexartig auf sie und sein unnahbarer Gesichtsausdruck, verwandelte sich in ein schuldbewusstes Antlitz. Er schien ihr wiedersprechen und ihr seine wahren Gefühle mitteilen zu wollen. Dennoch brachte er kein einziges Wort heraus.

„Entschuldige mich bitte, ich hab noch etwas anderes zu erledigen. Da es sehr dringlich ist, kann ich es nicht länger aufschieben. Ich gehe dir später wieder zur Hand. Und…gönne dir auch ruhig mal eine kurze Pause. Wer viel arbeitet, braucht eine anständige Erholungsphase. Was wir alle viel öfter berücksichtigen sollten. Denn…wir brauchen dich noch… Also sieh zu das du gesund bleibst.“ Miceyla musste im Verborgenen darüber lächeln, dass Louis sich mit einer an den Haaren herbeigezogenen Ausrede, aus der Affäre ziehen wollte und seine führsorglichen Worte aus Verlegenheit, in einen halbherzigen Monolog umwandelte. `Auch er versteht mich, aber wehrt sich aus Eigenschutz es zuzugeben. Doch wenn er alles und jeden als vermeintliche Bedrohung ansieht, wird bald die gesamte Welt zu seinem Feind. Und die Angst, das zu verlieren was ihm lieb und teuer ist, verwandelt sich schleichend in eine selbstsüchtige Eifersucht…` Jene unheilverheißende Vorstellung begleitete sie, während sie noch einige Dokumente durcharbeitete. Im Anschluss daran verließ sie das Archiv. Mittlerweile war es später Nachmittag geworden und langsam wurde sie hungrig. Der Gedanke an die bevorstehenden Sommermonate stimmte sie heiter, trotz der ganzen ungewissen Begebenheiten. Es blieb länger hell, draußen waren die Bäume und Wiesen üppig begrünt, überall wuchsen die farbenfrohsten Blumen und die kräftige Sonne vertrieb jeglichen Unmut im Herzen. Zumindest solange man sich nicht im Zentrum von London aufhielt, wo es einem so vorkam, als würde dort ewige Nacht herrschen und die giftigen Abgase der Fabriken einem die Lunge zuschnüren. Und besonders freute Miceyla sich darauf, bald mit William wieder in das ländliche Durham zu fahren. Aber zuvor würde sie wohl erst unfreiwillig, dem ebenfalls ländlichem Harefield einen Besuch abstatten. Zwar hatten sie noch keinen festen Termin für ihr Unterfangen festgelegt, jedoch war es im Sinne aller, die Geschichte zu einem einigermaßen friedlichen Ende zu bringen. In Gedanken versunken, sah sie mit einem traumverhangenem Blick aus dem Fenster. `Es könnte alles so friedlich sein… Und wir tragen auch noch dazu bei, dass in dieser Stadt Unruhe entsteht. Ob es wohl einen anderen Verlauf der Dinge gäbe, wenn Will nicht derart radikal durchgreifen würde…?` Seufzend wandte Miceyla sich wieder vom Fenster ab und erschrak mit stockendem Atem, als plötzlich Albert unmittelbar vor ihr stand, den sie überhaupt nicht hatte herbeilaufen hören.

„W-willkommen daheim. Heute schon so früh wieder hier. Du grinst irgendwie verdächtig, ha, ha. Gibt es etwas interessantes zu berichten?“, begrüßte sie ihn mit freundlichem Lächeln und dennoch stand ihr die Überrumpelung ins Gesicht geschrieben.

„Ich liebe diesen Gesichtsausdruck… Unwissend was als nächstes geschieht, mit einem in Wallung geratenen Herzschlag… Ha, ha, ha! Verzeih, ich kann mich nicht zügeln, dich ein wenig zu ärgern. Und ich habe wahrhaftig etwas Freudiges zu berichten. Dir gebührt die Ehre es als Erste zu erfahren. Nächste Woche ist die Zeremonie meiner Rangerhöhung beim Militär, mit anschließender Feier“, verkündete Albert und es erfüllte ihn mit Stolz, sie noch vor allen anderen einzuweihen. Auf einmal war ihre Nervosität wie weggeblasen und sie lächelte so strahlend vor Aufregung, als stünde ihre eigene Beförderung bevor. `Doch ob es sich wohl tatsächlich, um eine aufrichtige Sympathie gegenüber Albert handelt…? Ich kann dem Ganzen noch nicht richtig trauen…`, grübelte Miceyla kurz mit suspekter Miene, doch ihre Freude für Albert, siegte über ihrem Misstrauen.

„Ach was freue ich mich! Du hast dir deine Rangerhöhung mehr als nur verdient. Das ist die Belohnung für deine harte Arbeit. In dieser Hinsicht handelt Harley sehr gerecht. Jedoch steigt damit deine Verantwortung und er hat einen Grund mehr, dich in seine Unterfangen miteinzubinden…“, gratulierte sie ihm beschwingt.

„Zweifle bitte nicht, meine Liebe. Alles bleibt wie gehabt. Ich lasse mir von niemandem außer Will etwas vorschreiben, selbst wenn ich dadurch den höchsten Verrat begehe. So lautet mein eiserner Schwur… Und ich habe da einen kleinen Wunsch… Würdest du nicht nur auf der Feier anwesend sein, sondern mich auch zu der Zeremonie im Kriegsministerium begleiten? Du hast die Erlaubnis von Harley Granville höchstpersönlich“, verriet Albert ihr noch mit verruchtem Lächeln. Miceyla blickte ihn erstaunt an und hatte dennoch längst keine nennenswerten Hemmungen mehr, von wichtigen Persönlichkeiten umgeben zu sein,

„Deinen Wunsch erfülle ich dir natürlich liebend gern. Aber etwas flüstert mir, dass der werte Herr General regelrecht von mir erwartet, dass ich dort erscheinen soll. Auch er scheint einen Narren an mir gefressen zu haben, ha, ha… Ich hege großen Respekt vor seiner Person, aber längst keine Furcht mehr. Und ich kann zugegebenermaßen nicht wiederstehen, mich für einen Vormittag selbst wie eine Soldatin fühlen zu dürfen, he, he. Das wird wohl zu den letzten ausgelassenen Ereignissen zählen, ehe wir Harefield aufmischen…“, kam sie seinem Wunsch entgegen und konnte dennoch nicht verhindern, an alles was ihnen danach bevorstand zu denken.

„Dieses Mal lässt dich keiner im Stich. Und du bist doch bereits eine Soldatin und zwar die anmutigste und tapferste der ich je begegnet bin. Moran würde mir da jetzt bestimmt ohne Zögern zustimmen“, ermutigte Albert sie mit sanfter Stimme und strich ihr zärtlich mit der Hand über ihr Haar. Miceyla lächelte verlegen, während eine angenehme Wärme durch ihren Körper strömte. `Ja… Ich kann im Herzen eine Heldin sein, eine Kriegerin für die Gerechtigkeit. Meine Gedanken und Vorstellungen, ebnen mir den Pfad in die richtige Richtung. Sie gehören nur mir allein und keiner kann sie mir jemals nehmen…`

Am nächsten Tag ging jeder seinen alltäglichen Verpflichtungen nach. Und als Miceyla am Morgen in der Katzenpension nach dem Rechten gesehen hatte, erledigte sie in der Stadt anschließend noch kleinere Besorgungen. Da sie gerade in der Gegend war, trugen sie ihre Beine, ob sie es wollte oder nicht, in die Baker Street.

„Miceyla, wie schön dich zu sehen! Komm nur rein, ich mache uns direkt einen Tee“, begrüßte Emily sie so überschwänglich wie eh und je. `Wirst du auch dann noch meine Freundin bleiben, wenn du erfahren hast, wer ich in Wirklichkeit bin…?` Dieser bittere Gedanke begleitete sie beim Eintreten und dennoch erwiderte sie die freundliche Begrüßung, mit einem gütigen Lächeln.

„…Und ob Sherlock letztendlich jenen Mann aufsuchen konnte, von dem er sprach, hat er selbst mir bislang nicht verraten.“ Die beiden jungen Frauen saßen zusammen bei einer Tasse Tee am Küchentisch und um Emilys unstillbarer Neugierde entgegenzukommen, erzählte Miceyla ihr ausführlich von der abenteuerlichen Schottlandreise. Jedoch ließ sie das ein oder andere Detail geschickter Weise weg.

„So, so… John hatte Sherlock hier bei seiner Ankunft, erstmal eine ordentliche Standpauke gehalten. Merkwürdig fand ich nur, wie ungewöhnlich einsichtig er sich daraufhin zeigte… Und der größere Streit, welchen ich erwartete, blieb ebenfalls aus. John ist gerade nicht da, schließlich steckt er mitten in seinen Hochzeitsvorbereitungen. Ein Grund mehr für Sherlock Miesepeter zu spielen. Aber er scheint mal wieder gerade etwas auszuhecken. Ich kenne ihn und sein sprunghaftes Verhalten in und auswendig. Das ist für mich einfach zu verdächtig… Aha, wenn man vom Teufel spricht…“ Miceyla bekam nicht die Gelegenheit ´, auf Emilys Berichterstattung zu antworten, da ein scheuer Sherlock an der geöffneten Küchentür vorbeihuschte und in Richtung Haustür marschierte.

„Ich bin mal für eine Weile unterwegs. Auf geht’s, Mia!“, verkündete dieser knapp, ohne auch nur kurz einen Blick, auf die beiden am Tisch sitzenden Damen zu werfen. Mit einem vor Freude klopfenden Herzen, schoss Miceyla in die Höhe und eilte ihm hinterher. Es war als hätte er vor seinem Aufbruch auf sie gewartet und `nur` auf sie. Diese Tatsache machte sie insgeheim sehr glücklich.

„Ts, ts! Und genau das meine ich mit sprunghaft! Heckt erst tagelang im stillen Kämmerlein irgendeinen Unfug aus, verschwindet anschließend im Nirgendwo und bringt nicht bloß den Erfolg gelöster Fälle mit nach Hause, sondern einen weiteren Haufen an Ärger. Mittlerweile gilt das schon für euch beide! Aber ach, es ist sinnlos meine kostbaren Nerven überzustrapazieren… Das Verbrechernest namens London, braucht solche gewieften Draufgänger wie euch“, meckerte Emily launisch, doch am Ende ihrer Worte, blickte sie den beiden mit einem liebevollen Lächeln nach.

„Was wäre wohl, wenn von heut auf morgen jegliche Probleme aus der Stadt verschwinden würden?“, fragte Sherlock, während er sie eiligen Schrittes die Straße hinunterführte.

„Nun… Du hättest folglich nichts mehr zu tun, jedoch wäre dadurch der Frieden vorübergehend wieder hergestellt. Angst und Zweifel verschwinden ebenfalls aus den Herzen der Menschen. Aber dieses Szenario wäre äußerst unrealistisch. Beseitigt man ein Problem, entsteht woanders ein neues. Also kann es keine stimmige Antwort auf die Frage geben. Das Leben konfrontiert uns täglich mit Problemen. Doch die Lösung von kniffligen Schwierigkeiten anderer, verschafft uns Genugtuung, nicht? Deine Frage wird bestimmt noch eine weitere versteckte Bedeutung beinhalten, doch im großen und ganzen ist meine Antwort ausreichend.“ Erst jetzt musterte Sherlock Miceyla ausgiebig und zeigte ein warmherziges Lächeln.

„Und weißt du was ebenfalls vollkommen ausreichend ist? Eine Person in seinem Leben zu haben, mit der man sich ohne groß diskutieren zu müssen versteht… Doch nun mag ich dein blindes Vertrauen mir gegenüber auch brav belohnen und dir verraten, was das Motiv meines kleinen Ausflugs ist. Das die hinterlistigen Strippenzieher im Verborgenen meinen, mich nach belieben für ihre grausamen Fälle zu missbrauchen und mich als Vermittlung mit dem gemeinen Volk und der Oberschicht gleichermaßen ausnutzen, mir gewaltig gegen den Strich geht, sind keine berauschenden Neuigkeiten. Daher bin zur Abwechslung ich einmal derjenige, welcher ihnen ein Bein stellt und mit unbedachten `Problemen` konfrontiert, bei deren ach so astreinen Vergehen. Jeder hat im Grunde genommen seine eigene Vorstellung, was für ihn legitim ist und was nicht. Doch Gesetze und Richtlinien existieren nicht umsonst… Wie dem auch sei, ich werde unserem sagenumwobenen Matador Muscari, gleich ordentlich ins Handwerk pfuschen und mir einen Beweis abholen, dass es sich bei ihm nicht um den Meisterverbrecher handelt. Denn allmählich wird das ganze Gemunkel um ihn immer lauter. Damit will ich ihm weder einen Gefallen tun, noch habe ich böswillige Absichten dabei. Er gibt zwar vor, einen protzigen Eindruck hinterlassen zu wollen, doch letztendlich sind ihm Ruf und die eigene Person beinahe gleichgültig. Zwar besitzt er einen überragenden Verstand, aber Perfektion ist nicht gerade sein zweiter Name. Er nimmt die Dinge wie sie kommen und hat stets einen guten Einfall parat. Deshalb hat ein solches Genie wie er, in seiner Verbrecherlaufbahn unendliche Handlungsfreiheit“, erzählte Sherlock ihr nun ausführlicher und beide setzten ihren Weg in einer Droschke fort.

„Clayton?! Bedeutet das etwa du hast vor, ihm radikal bei einem seiner Übergriffen dazwischenzufunken?!... Deine Worte für ihn, hören sich mal wieder fast schon lobpreisend an. Aber ich weiß, dass nur ein Gesetzesbrecher mit Verstand, dein Interesse weckt und in dir die Faszination wachruft, dich an einen schier unlösbaren Fall dahinterzuklemmen. Clayton ist im Theater ein anderer Mensch, als bei seinen Schandtaten. Er spielt den aufrichtigen Retter und Verfechter der Frauenrechte, doch sein wahres Herz ist gebrochen und dürstet nach Rache. Allerdings erzähle ich dir da ja nichts neues… Was auch immer du vorhast, ich werde neutral bleiben. Je nachdem zumindest. Denn bei Clayton musst du mit einer sturen Kontroverse rechnen“, reagierte Miceyla mit einer ehrlichen Antwort auf Sherlocks überraschendes Vorhaben.

„He, he, wenn was schief geht, hab ich ja dann dich als Schlichterin dabei. Nun gut, durch Zufall erfuhr ich, dass ein erfolgreicher Unternehmer, dreckige Geschäfte eingegangen ist, um seinen Umsatz zu verdreifachen. Und wie es nicht anders hätte enden können, fand man den Mann eines morgens, übel zugerichtet in seinem eigenen Keller. Wer auf ungerechte Weise schnell Gewinn macht, überlebt in unserer Wettbewerb-Gesellschaft nicht lange. Die Konkurrenz sucht dich selbst in deinem tiefsten Schlaf heim… So, und die Frau des Mannes ist ebenfalls bereits verstorben. Zurückgeblieben sind seine beiden kleinen Töchter, welche heute zur illegalen Kinderarbeit freigegeben werden. Ein anderes Schicksal erwartet die Waisenkinder, eines gescheiterten Kaufmanns nicht. Und ich werde dafür sorgen, dass die Täter hinter Gittern landen und dort mit ihrer gerechten Strafe konfrontiert werden, ohne das unnötiges Blut vergossen wird. Dadurch werde ich es Clayton nicht so einfach machen, die Kinder mit in sein Waisenhaus zu nehmen“, fuhr Sherlock mit seinem ausgefeilten Plan fort. In Miceyla machten sich derweil gemischte Gefühle breit.

„Es ist schön und gut, Blutvergießen verhindern zu wollen, da bin ich ganz auf deiner Seite. Aber Clayton bietet den Mädchen im Waisenhaus ein besseres Leben und die Chance, auf eine glückliche Zukunft hinarbeiten zu können“, wagte Miceyla einen dezenten Widerspruch.

„So? Im Waisenhaus mag eine eingekesselte Welt existieren. Aber haben die Kinder dort wirklich, das ultimative glückliche Leben? Ich würde mich da eher wie in einem Bienenstock fühlen. Vielleicht ein extremer Vergleich, jedoch…denke einfach mal an dich selbst. Kinder hegen einen simplen Wunsch, den die Natur für sie vorherbestimmt hat“, konterte Sherlock augenblicklich und tippte dabei mit dem Zeigefinger gegen ihre Schulter. Im selben Moment seiner Berührung, erhielt sie einen Gedankenblitz.

„Natürlich, ich verstehe was du meinst! Denn ich wurde von liebevollen Adoptiveltern aufgenommen, welche ich ganz für mich allein hatte und für die ich stets an erster Stelle kam. In einem Waisenhaus, wird einem nie richtig jene unersetzliche Zuwendung zuteil, weil sie dort auf alle gleichermaßen verteilt wird. Naja, jedes Kind ist anders und hat unterschiedliche Bedürfnisse. Das eigene Umfeld ist zwar für eine glückliche Zukunft nicht ganz unwichtig, doch die persönliche Einstellung beginnt im Herzen selbst und kreiert den weiteren Lebensverlauf entscheidend mit. Wie gesagt, ich begleite dich als neutrale…Assistentin, Kameradin, was auch immer dir davon mehr zusagt…“, sprach sie abschließend zaghaft. Sherlock, der direkt neben ihr saß, blickte sie für eine Weile schweigend an.

„Als gute Freundin. Das gefällt mir am besten“, teilte er ihr dann mit flüchtigem Lächeln mit und sah kurz darauf, zu dem regen Treiben auf Londons Straßen hinaus. Miceyla wandte sich ihm reflexartig wieder zu und versuchte anhand seiner Augen, mögliche

Gefühlsveränderungen ablesen zu können. Doch er hielt demonstrativ den Kopf starr zur Seite gedreht, als wollte er genau dies verhindern. Miceyla blickte mit einem prickelnden Gefühl der Freude hinab auf ihren Schoß und tastete sich mit der linken Hand ans Herz. `Auch du bist ein sehr guter Freund für mich…`, dachte sie im Stillen dabei und lächelte. Wie gerne hätte sie ihren Gedanken laut ausgesprochen, aber wie Sherlock selbst sagte, sie beide brauchten keine Worte auszutauschen, um zu wissen, was dem jeweils anderen gerade durch den Kopf ging. Da die Droschke nach einiger Zeit abrupt anhielt, mussten sie besagten Zielort wohl erreicht haben. Wie immer wenn Sherlock seine Konzentration steigerte, wurde er schweigsamer und sie folgte ihm eine gut besuchte Handelsstraße entlang, an dessen Ende sich eine riesige Fabrik befand. Es roch streng nach heißer Glut, aufgrund eines großen dampfenden Heizkessels. Die Geräusche von aufeinanderschlagendem Metall, hallten unangenehm in den Ohren wider. Hart arbeitende Männer in verdreckten Lederschürzen, brüllten sich gegenseitig Befehle zu. `Solch ein Ort ist für ein Kind die reinste Hölle… Und die Erwachsenen, rackern sich schon bei unzumutbaren Arbeitsbedingungen ab…` Bei der Vorstellung, wie ein dürres kleines Mädchen, von unfreundlichen Muskelpaketen herumgeschubst wurde, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Miceyla war froh, dass Sherlock scheinbar nicht vorhatte die Fabrikhalle zu betreten, denn er lief außen herum zu einem dahinterliegenden ruhigeren Ort. `Das müssen die beiden Mädchen sein!` Miceyla blickte zwei ordentlich gekleidete Kinder an, die dicht beieinander standen und zu drei innig debattierenden Männern emporblickten. Sie vermutete, dass die Ältere der Schwestern etwa elf Jahre und die Jüngere ungefähr acht Jahre alt sein musste.

„Die Summe für solche Rotzlöffel erscheint mir etwas happig. Entweder gehen Sie mit dem Preis runter oder Sie gehen komplett leer aus!“, sprach einer der drei ruppig und betrachtete die Mädchen missbilligend. Jene wirkten zwar verängstigt, aber blieben trotz ihrer misslichen Lage stark, weil sie einander hatten. `Unterschätzt niemals das unzertrennliche Band von Geschwistern…`, dachte Miceyla mitfühlend.

„Aber, aber, Gentleman! Das ist ein fairer Handel. Würden Sie außerdem etwas mehr Grips besitzen, wüssten Sie das man für ein menschliches Leben, überhaupt gar kein Geld verlangen dürfte. Denn materielle Güter ersetzen niemals ein schlagendes Herz…“, konterte ein anderer Mann mit einer selbstbewussten und charismatischen Stimme. Miceyla riss mit weit geöffnetem Mund die Augen weit auf, als sie die Identität des gerade gesprochenen Mannes entlarvte. `Clayton! Er hat sich als der Vormund der Mädchen getarnt! Seine Verwandlungskünste sind mir beinahe unheimlich… Von wegen die lassen ihn leer ausgehen. Die Kerle machen ihn erbarmungslos einen Kopf kürzer. Hier lauern genug Halunken in den Schatten…` Konzentriert schärfte sie all ihre Sinne und beobachtete geduldig das Geschehen, bis Sherlock einen geeigneten Moment abgepasst hatte um einzuschreiten.

„Was faselst du Mistkerl da?! Du hast uns überhaupt keine Vorschriften zu machen! Also halt die Klappe und rück die Gören raus!“, entgegnete einer der Fabrikarbeiter hitzköpfig und machte merklich sichtbar, dass er nicht davor zurückschreckte Gewalt einzusetzen. `Wenn die wüssten… Bei Clayton würde ich lieber Reißaus nehmen, anstatt einen Kampf heraufzubeschwören`, dachte Miceyla mit einem Hauch Ironie. Da Sherlock der Meinung zu sein schien, nun endlich mitzumischen, ehe ein heftiger Konflikt vom Zaun brach, setzte auch sie sich in Bewegung und trat gemeinsam mit ihm ins Sichtfeld der drei Streithähne.

„Hiermit beende ich feierlich diese grottenschlechte Vorstellung! Sie beide begleiten mich jetzt schön artig zu Scotland Yard. Dort hat man bereits eine herrlich kühle Zelle für Sie reserviert. Die Hitze der Fabrik, brauchen Sie dann nicht mehr zu fürchten“, platzte Sherlock mit einer lässigen Körperhaltung in die Szene. Abgesehen von Clayton, wurden sie beide von den Arbeitern perplex und argwöhnisch zugleich beäugt.

„Aus welchem Loch ist denn nun dieser dämliche Detektiv gekrochen?! Der scheint wohl Doppelgänger zu haben!“

„Na und? Welche Beweise haben Sie schon gegen uns in der Hand? Noch ist der Handel mit den Mädchen nicht besiegelt!“ Die selbstüberzeugten Konter der Fabrikarbeiter, entlockten bei Sherlock nur ein breites Grinsen.

„Meine Beweise erhalte ich in weniger als vierzig Sekunden. Ein amateurhafter Scharfschütze, welcher sich auf dem Dach versteckt hält, wird auf die beiden Mädchen zielen und der Grund des illegalen Handels, verschwindet auf wortwörtliche Weise. Ich muss wohl nicht anmerken, dass der vornehme Herr hier die Kinder jedoch beschützen wird, dadurch ist dennoch keiner von Ihnen aus dem Schneider. Mit diesem fatalen Patzer. katapultieren Sie sich direkt in den Knast. Es gibt auch noch einigermaßen fähige Leute bei Scotland Yard, ob man es glaubt oder nicht. Drum fahret fort, werte Herrschaften.“ Sherlocks Prognose sollte eigentlich dazu führen, dass zumindest einer der Arbeiter ins Wanken geriet. Aber ihre Mienen veränderten sich nicht mal minimal. Plötzlich begann Clayton leise zu kichern und zeigte ein düsteres Lächeln.

„Bravo, Mr Meisterdetektiv! Ihr vorausschauendes Denken ist nahezu perfekt. Doch reicht dies leider nicht aus… Zu glauben die Zukunft, welche sich vor Ihrem geistigen Auge befindet, sei bereits in Stein gemeißelt, ist fatal. Sie haben eine harte Nuss zu knacken, wenn Sie versuchen wollen, meine Tricks zu durchschauen. Ich bin enttäuscht mein Guter, wenn Sie schon bei mir scheitern, wird der Meisterverbrecher auf ewig unerreichbar für Sie bleiben.“ Mit diesen beichtenden Worten, wechselten er und die Fabrikarbeiter amüsierte Blicke aus. In Sherlock und Miceyla machte sich die höchste Alarmbereitschaft breit. Für den Bruchteil einer Sekunde, zeigte sogar er einen überrumpelten Gesichtsausdruck. Doch es beeindruckte sie, wie rasch er sich auf den Tatsachenwechsel einstellte.

„Sherlock! Dieser ganze Handel ist bloß inszeniert gewesen! Die Kerle stecken mit Clayton unter einer Decke! Clay, muss das denn wirklich sein? Nur um dir bei ihm einen Scherz zu erlauben und ihn herauszufordern? Ich dachte du beschützt unschuldige Mädchen und missbrauchst sie nicht zu deinem Vergnügen! Ach…ich sollte dich und deine groteske Art eigentlich mittlerweile gut genug kennen…“, rief Miceyla empört, da sie nun keinen Grund mehr hatte sich zurückhalten zu müssen. Noch ehe Clayton seine geballte Schadenfreude weiter an ihnen auslassen konnte, zog Sherlock sie mit entsetzter Miene ruckartig von der Stelle weg wo sie gerade stand.

„Miceyla, pass auf!“ Zeitgleich zu seiner Warnung ertönte ein lauter Schuss und die Kugel traf den Boden unmittelbar neben ihren Füßen. Trotz ihres Schockzustandes, suchte sie hastig die Dächer ab und entdeckte schließlich jenen Scharfschützen. `Ich muss mich jetzt zusammenreißen und tun was getan werden muss! Denn ich kann nicht zulassen, dass ein weiteres Unglück geschieht. Dies werde ich mit allen Mitteln verhindern!` Mit erzwungenem Mut, zückte sie eine bei sich tragende Pistole, wobei ihre Hand zu zittern begann und zielte auf den Scharfschützen. Miceyla wusste, dass wenn sie auch nur einen Moment länger zögerte den Abzug zu drücken, er sich rasch aus der Schusslinie zurückziehen würde Ohnehin erwies es sich als unsagbar schwierig, aus der Entfernung auf besagte Stelle am Dach zu zielen. Doch bei Morans Schießtraining, hatte sie bereits aus viel größere Distanz geschossen und weitaus herausforderndere Hürden überwunden. Während sich ihre Gedanken überschlugen, zuckte ihr ganzer Körper, als ein weiterer Schuss ertönte. Und alles was sie vor sich sah, war Sherlocks Rücken. Ihr Blick wanderte langsam wieder hinauf zum Dach, wo der Scharfschütze leblos zusammensackte.

„Es gibt Menschen, die werden immer hinter dir stehen, auch wenn du Fehler machst und nicht mehr weiter weißt. Sie werden dich beschützen und dir aufhelfen, solltest du nicht von alleine wieder aufstehen können. Und vor allen Dingen, teilen sie deine Bürde und bewahren dich vor einer fahrlässigen Tat, wie zum Beispiel diesen Mann zu töten. So ein Mensch bin ich für dich und werde es, solange wir unter den Lebenden wandeln, auch bleiben. Und um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Denn man wird dies nach einem routinemäßigen Verhör, als schlichte Notwehr abstempeln“, sprach Sherlock beschwichtigend und blickte mit einem zuversichtlichem Lächeln, nach hinten über die Schulter zu ihr. Miceyla hörte bei seinen Worten, das Versprechen einer unerschütterlichen Freundschaft heraus und hielt kurz den rechten Arm vor ihre Augen, um ihre Tränen zu verbergen, welche langsam über ihre Wangen rollten.

„Danke… Ich danke dir, Sherlock…“, flüsterte sie gefühlvoll und steckte ihre Waffe zurück.

„Und wieder einmal rettet der kühne Held, seine ihm teure Edeldame! Wahrlich rührend, wie gemacht für ein dramatisches Bühnenstück! Fein, fein, ihr habt eure Rollen alle plangemäß gespielt und da ich Sie gut leiden kann, Mr Holmes, belohne ich Sie für Ihren tollkühnen Einsatz. Ich muss ja schließlich dafür sorgen, dass Miceyla und ich auch weiterhin gut miteinander auskommen, ha, ha. Unsere Arbeit im Theater darf nicht darunter leiden. Also, Zeit für den wahren Handel! Meine Herren, ich bedanke mich herzlich für Ihre Kooperation und entlasse Sie hiermit offiziell. Und nun werden Sie beide dem Befehl des umsichtigen Detektiven brav Folge leisten. Bestellen Sie Scotland Yard die besten Grüße von mir! Und im Gegenzug, schenke ich den zwei wohlerzogenen Mädchen hier, ein neues Zuhause bei mir im Waisenhaus. Na, was sagen Sie dazu Sherlock? Damit wären wir doch alle mehr als zufrieden!“, schlug Clayton nach dem ganzen Tumult, auf eigene Faust eine friedliche Lösung zur Schlichtung der Auseinandersetzung vor. Glaubten die beiden Fabrikarbeiter bis vor kurzem noch, mit ihrem `Handelspartner` auf einer Seite zu stehen, wurden ihre Gesichter nun schlagartig panisch und verärgert zugleich, da sie hinterlistig übers Ohr gehauen worden waren.

„Hey! Du elender Halunke, was fällt dir ein?! Hast wohl Schiss, selbst im Knast zu landen!

„Hätte mir von Anfang an klar sein müssen, von jemandem hintergangen zu werden, der selbst Dreck am stecken hat! Mieser Schwindler und Betrüger! Einmal Gauner, immer Gauner!“ Miceyla musste bei den überrumpelten Beschimpfungen der Fieslinge schmunzeln und auch Sherlock grinste ohne Zurückhaltung.

„Es stimmt mich heiter, dass Vernunft und Besinnung ab und zu doch noch bei Ihnen Einzug halten, werter Herr Physiker. Die Entscheidung den Männern, trotz ihrer begangenen Gräueltaten, kein Haar zu krümmen und den Mädchen auch ohne `Rache` ein besseres Leben bieten zu wollen, ist letztendlich der klügste Weg, den Sie für sich selber und alle Beteiligten wählen können. Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, löst auf Dauer keine Probleme. Es lässt die Narben nur noch größer werden und unangenehme Erinnerungen, verschwinden dadurch erst recht nicht. Ich will niemandem eine Predigt halten, bin ja selbst nicht gerade das beste Vorbild… Gut! Ich bin mit dem Handel einverstanden, also lassen Sie uns zur Tat schreiten!“ Noch ehe die beiden tief in der Patsche sitzenden Männer, auch nur an eine Flucht denken konnten, hatten Sherlock und Clayton ihre Handgelenke am Rücken zusammengebunden und endlich war ihr vergeblicher Wille zum Wiederstand gebrochen worden. Etwas zögerlich schritt Miceyla auf Sherlock zu.

„Soll…soll ich dich zu Scotland Yard begleiten? Ich meine…du brauchst eine zuverlässige Zeugin, die dich vor weiteren Schwierigkeiten bewahrt…“, bot sie ihm ihre Unterstützung bei seiner bevorstehenden Rechtfertigung an.

„Nicht nötig, Mia. Ich habe die Angelegenheit fix geregelt, kennst mich doch. Gegen meine überzeugenden Thesen, ist so gut wie jeder machtlos. Außerdem legt Lestrade meistens ein gutes Wort für mich ein. Das du heute dabei gewesen bist, hat mir schon sehr geholfen, dafür danke ich dir. Jetzt darfst du dich aber erstmal von dem Schreck erholen. Begleite am besten zusammen mit Clayton, die beiden Mädchen zu ihrem neuen Zuhause. Deine fürsorgliche Art trägt sicherlich dazu bei, dass sie sich dort im Nu wohlfühlen werden. Und halt bis zu unserem nächsten Treffen die Ohren steif, meine tapfere Kriegerin der Gerechtigkeit“, schlug er stattdessen vor und klopfte ihr lächelnd auf die Schulter.

„In Ordnung… Lass auch du dich nicht unterkriegen! Keiner von uns muss einen Kampf allein ausfechten. Ich bin immer für dich da, solltest du mich brauchen!“, versprach Miceyla noch hastig, während Sherlock bereits mit seinen Geiseln davonschritt. Auch wenn er sich nicht mehr zu ihr umdrehte, spürte sie das er noch immer lächeln musste und auch ihre Lippen formten sich nach dem Abschied, mit Vorfreude auf das nächste gemeinsame Abenteuer, zu einem glücklichen Lächeln. Plötzlich traf sich ihr Blick mit dem von Clayton und sie fand bei ihm einen undefinierbaren Gesichtsausdruck vor. Ob er sich nun über ihr mädchenhaftes Geplänkel lustig machte oder er ihre und Sherlocks außergewöhnliche Zuneigung füreinander rührend fand, darüber konnte sie nur rätseln…
 

Etliche Soldaten aller Ränge, hatten sich parallel gegenüber in zwei Reihen aufgestellt. Jeder einzelne von ihnen trug seine akkurate Uniform, während eine feierliche Stimmung in der Luft lag. Die gewaltige Versammlungshalle des Kriegsministeriums, wirkte noch imposanter als sonst. Die Kronleuchter an der Decke funkelten und Fenster und Böden waren blitzeblank poliert. Der lange bordeauxrote Teppich, zeigte keine einzige Falte. Die Halle mitsamt seiner Parade, glich einer atemberaubenden Szenerie in perfektionierter Vollendung, die ihresgleichen suchte. Und Miceyla gebührte die besondere Ehre, jenem bedeutsamen Anlass beiwohnen zu dürfen. Sie trug ein langes, enganliegendes Kleid in dunkellila und eine ordentliche Hochsteckfrisur, bei der ihr Miss Moneypenny wieder geholfen hatte, wofür sie sehr dankbar gewesen war. Nun war es ihr endlich erlaubt, im Gegensatz zu damals auf dem Schiff, eine Zeremonie des Militärs genießen zu dürfen. Mit stolzem Lächeln blickte sie zu Albert, der ganz vorne abseits der restlichen Soldaten stand und geduldig wartete. Sein warmherziger Blick ruhte für eine Weile auf ihr und es schien ihn mit überschwänglichem Glück zu erfüllen, dass sie gerade anwesend war. Kurz musste sie an Moran denken und fragte sich, ob es ihn nicht manchmal doch noch in sein altes Soldatenleben zurückzog, auch wenn er mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hatte. Doch mochte er sich gerade auch nicht, unter all den anderen Mitgliedern des Militärs befinden, für sie war und blieb Moran mit seinen unantastbaren Fertigkeiten, auf ewig eine wahre Legende unter all den lebenden Soldaten. Umso dankbarer war Miceyla dafür, diesen erfahrenen Menschen ihren Lehrmeister nennen zu dürfen. Jeder einzelne nahm wie in einer Kettenreaktion, eine kerzengerade Haltung ein, als Harley Granville in Begleitung zwei seiner engsten Vertrauten, die geräumige Halle betrat und marschierte gemächlich in der Mitte über den Teppich, zum anderen Ende in Alberts Richtung. Als er an Miceyla vorbeischritt, blickte er kurz zu ihr und zeigte ein unbefangenes Lächeln und sie lächelte selbstbewusst zurück. Mochten auch gerade all die negativen Emotionen in ihr hochkommen, bei der Erinnerung an all das, was er ihr in Schottland angetan hatte, so ließ sie sich dennoch nichts davon anmerken. Claytons Worte entsprachen der Wahrheit, seine Bewährungsprobe hatte sie mit Bravour bestanden, nun konnte dieser Mann sie nicht mehr verletzen. Harley kam ein Stück vor Albert zum Stehen und nahm von einem der Soldaten einen funkelnden Orden entgegen, welcher sich auf einem Samtkissen befand. Jenes hart erarbeitete Symbol, würde Albert nun einen Rang beim Militär aufsteigen lassen und er durfte sich zukünftig Oberst nennen. Wohlwollend blickte Harley seinen jüngeren Militärkameraden an. In seinem Gesichtsausdruck befand sich etwas Freundschaftliches, beinahe Brüderliches.

„Seinem Land mit aufopferungsvoller Loyalität und Gewissenhaftigkeit zu dienen, ist die größte Tugend welche ein jeder Soldat, der mir untergeben ist beherzigen muss. Ein charakterstarker Mann, dem es in keiner Notlage an Hilfsbereitschaft mangelt, der ehrlich mit sich selbst und seinem Umfeld umgeht und die eigenen Ambitionen klar vor Augen hat. Ein solcher Mensch steht gerade vor mir, sein Name lautet `Albert Moriarty`. Ihnen ist nicht nur die meine Gunst zuteil geworden, sondern ebenfalls die vieler anderer, hochangesehenen Persönlichkeiten. Jeder der mich kennt weiß, dass ich keine Titel aus Sympathie vergebe. Wer mit Leistung und Engagement glänzt, ohne damit prahlen zu wollen, verdient meine Anerkennung. Das gesamte Militär und ich, verlassen sich auch weiterhin auf Sie und ich hoffe, dass Sie viele Ihrer Einheiten zum Sieg führen werden. Aber vor allem…beschützen Sie stets das, was für Sie den größten Stellenwert hat, selbst wenn es Ihnen das Leben kosten sollte. So vermeiden Sie Reue und können hocherhobenen Hauptes voranschreiten. Weitere Worte meinerseits sind nicht von Nöten. Einen solch edelmütigen Soldaten, möchte niemand beim Militär missen, drum erhoffe ich mir, dass noch viele Jahre des Erfolgs vor Ihnen liegen, Oberst Moriarty.“ Nach Harleys rühmender Rede, steckte er die güldene Brosche an Alberts Uniform, was nun seine Rangerhöhung vollends besiegelte. Die regungslose Soldatenmeute erwachte jetzt endlich zum Leben und klatschte jubelnd voller Begeisterung Beifall. Freudestrahlend schloss Miceyla sich der heiteren Runde an und wäre am liebsten Albert zur Beglückwünschung um den Hals gefallen. Dies musste sie sich wohl für später aufheben. Kurz bekam sie eine Gänsehaut, als die tobende Menge urplötzlich nach nur einem Handzeichen von Harley verstummte.

„Miceyla Moriarty, erweisen sie mir die Güte, sich für einen Augenblick neben ihren Bruder zu gesellen?“ Miceyla meinte, sich bei dessen überrumpelnder Aufforderung verhört zu haben und blieb vorerst an Ort und Stelle stehen. Als sie jedoch ihre Gedanken geordnet hatte, zögerte sie nicht länger, da die neugierigen Blicke aller Soldaten auf sie gerichtet waren und schritt mit elegantem Gang nach vorne. Ihre Nervosität verflog, sobald sie dicht neben Albert stand, dessen Nähe für sie wie ein Schutzwall gegen jegliche Ängste wirkte.

„Zwar schwärmt Albert des Öfteren, was für eine tapfere junge Dame in Ihnen steckt und das Sie ein Händchen für diverse Waffen besitzen, doch auch meine Wenigkeit, durfte mit eigenen Augen Zeuge davon werden, dass Sie ein Kämpferherz besitzen. Darum biete ich Ihnen an, ein offizielles Mitglied des Militärs zu werden. Dadurch erhielten Sie zugriff zu etlichen Privilegien, wie zum Beispiel in den meisten Räumlichkeiten ein und auszugehen, die neusten Waffen auszutesten und sich Trainingseinheiten anzuschließen. Keine Sorge, Sie sind nicht dazu verpflichtet an die Front zu ziehen. Aber Sie dürfen sich als eine echte Soldatin bezeichnen. Nur Mut für ein neues Wagnis, Talent darf nicht verschwendet werden. Beweisen Sie, wozu eine Frau mit starkem Willen imstande ist.“ Harleys ehrlich gemeintes Angebot, verblüffte Miceyla nun vollends. Ein mulmiges Gefühl, mischte sich gleichzeitig in ihr mit Stolz und einer kindlichen Aufregung. Flüchtig blickte sie zu Albert auf, der mit sanftmütigem Lächeln nickte, als Zeichen, dass sie mit gutem Gewissen jenes großzügige Angebot annehmen konnte und dem nichts im Wege stand. Entschlossen wandte sie sich wieder Harley zu und wusste, dass sie eine solch Chance kein zweites Mal erhalten würde.

„Jawohl! Ich fühle mich dazu bereit, bei den Repräsentanten für die Sicherheit dieses Landes mitzumischen und bei der Entwicklung der Stadt und der Gesellschaft mitzuwirken! Ich danke Ihnen, Mr Granville, dass Sie mich dafür ausgewählt haben und meine Person für fähig genug halten, um dem Militär beizutreten“, gab sie ihm mit selbstbewusster Stimme ihre Antwort und eine Welle neuer, unbändiger Stärke durchströmte sie.

„Das freut mich zu hören, Mrs Moriarty. Wohlan, dann gebührt Ihnen beiden heute dieser

feierliche Anlass. Drum ist es Ihnen am heutigen Tage ausnahmsweise erlaubt, all Ihre bindenden Verpflichtungen zu vergessen und ausgelassen zu feiern“, beendete Harley zufrieden die Ernennungszeremonie und legte sowohl Albert als auch Miceyla, jeweils eine Hand auf die Schulter. In jenem Moment, ergriff ein weiteres merkwürdiges Gefühl von ihr Besitz und sie bekam den Eindruck, als würden gerade nur sie drei in der Versammlungshalle existieren. Alle anderen Personen verschwanden und waren für sie unerreichbar. Und bei Harleys gütigem Gesichtsausdruck, vergaß sie sogar wieder beinahe, welche machtvolle Persönlichkeit er eigentlich war. Etwas flüsterte in ihren Vorstellungen, dass er gerade einfach nur für Albert und sie wie ein großer Bruder sein wollte, der stolz auf ihren bisherigen Werdegang war und über sie beide auch weiterhin wachen durfte. Wie konnte sich bei alldem, was er in der Vergangenheit schreckliches getan hatte, in seinen saphirblauen Augen nur eine solche Ehrlich- und Aufrichtigkeit widerspiegeln? Miceyla war nun gewillt, ein neues Urteil über ihn zu fällen. `Manchmal…geht das Gute eben Hand in Hand mit dem Bösen. Bei mir und William ist dies nicht anders. Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden, lassen sich nicht immer mit lieben Worten und Waffenstillstand erkämpfen. Wer die Ungerechtigkeit bezwingen will, macht sich auf dieser Welt schnell Feinde. Ob nun Sherlock, Clayton, Harley oder wir, keiner von uns besitzt mehr eine blütenweiße Weste und dennoch sind wir alles nur eines nicht, schlechte Menschen…` Ihre Gedanken in eine positive Richtung zu lenken, hatte eine beruhigende Wirkung auf sie und gab ihr den Mut, neue Wege gemeinsam mit den Menschen in ihrem Umfeld zu gehen.

„Damit ist es jetzt wohl Zeit für die nächste Etappe, ehe wir uns den Feierlichkeiten hingeben“, verkündete Albert mit geheimnisvollem Lächeln, woraufhin Miceyla ihm einen fragwürdigen Blick zuwarf. `Nächste Etappe…?` Plötzlich wurde das Eingangstor der Halle geöffnet und ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen. Eine malerische Frau im eindrucksvollem Kleid und einer mit funkelnden Diamanten bestückten Krone, lief edelmütigen Schrittes über den Teppich. In ihrer Begleitung, befanden sich vier Leibwächter in auffällig hervorgehobenen Uniformen und mit Waffen bestückt. `Die Königin! Sie ist extra zum Militär gekommen, um Albert zu seiner Beförderung zu gratulieren. Aber ob sie dies aus persönlichem Interesse tut oder weil es schlichtweg zur gesitteten Etikette gehört, würde mich schon ein wenig interessieren…`, dachte sie trotz dem ehrwürdigen Auftreten der Königin neugierig. Ausnahmslos jeder Soldat ging vor der Königin auf die Knie. Miceyla zögerte ebenfalls nicht, einen eleganten Knicks vor ihr zu machen. Harley distanzierte sich etwas und war der Einzige, welche keine respektvolle Reaktion zeigte und seine aufrechte Körperhaltung warte. Auch wenn es für jeden der Anwesenden verborgen blieb, entging Miceyla nicht das verachtende Funkeln in dessen Augen, als er die Königin betrachtete, was nur ein weiteres ungutes Vorzeichen sein konnte. Doch gerade hatte sie keine freie Zeit zur Verfügung, um weiter darüber nachzudenken.

„Ich wusste bereits sehr früh, dass Sie mich niemals enttäuschen werden, Graf Moriarty. Sie sind ein erhabenes Vorbild, für die fleißigen Männer meines Landes. Bewahren Sie sich die Courage, auch mit Ihrem neuen Posten für Recht und Ordnung zu sorgen. In letzter Zeit erreichen mich vermehrt die Berichte, von grotesken Unruhen in der Stadt. Seien Sie doch bitte so frei und nutzen Ihre Privilegen, um dagegen etwas zu unternehmen. Keiner möchte in einer gespaltenen Gesellschaft leben“, sprach die Königin mit einem dominantem Unterton, als sie unmittelbar vor Albert und Miceyla stand. `Unsere Gesellschaft ist längst gespalten…`, dachte sie beiläufig und fragte sich, ob ihr das Wohlergehen des Volkes überhaupt annähernd am Herzen lag. Jedoch zeugte ihr Erscheinen beim Militär, schon von Loyalität zu den Männern, welche unter Einsatz ihres Lebens Land und Leute verteidigten.

„Ich fühle mich geehrt, solche rühmenden Worte zu hören, eure Majestät. Und ich werde mich züchtig darum bemühen, euren Erwartungen gerecht zu werden“, erwiderte Albert voller Aufrichtigkeit und zeigte ein bescheidenes Lächeln. Plötzlich fiel der Blick der Königin auf Miceyla und jene musterte sie mit einem mütterlichen Leuchten in den Augen.

„Und Sie mein junges Fräulein, müssen die Gattin von Lord William Moriarty sein. Sie besitzen ein schriftstellerisches Talent, das sogar seinen Weg zu mir gefunden hat. Und auch in anderen Bereichen, bringen Sie Ihr persönliches Engagement mit ein. Eine starke Frau, braucht sich hinter den prahlenden Männern nicht zu verstecken. Halten Sie stets ihr Kinn hocherhoben und treten Sie vor, selbst wenn man Sie mit Worten und Taten zurückdrängt. Leben Sie ein Leben in Würde und lächeln Sie über die eigenen Fehler und Schwächen. Mehr braucht es nicht und die Welt liegt Ihnen zu Füßen. Geben Sie all Ihre gesammelten Weisheiten, später an Ihre Kinder weiter und aus Ihnen wird eine fabelhafte Mutter.“ Miceyla konnte nicht anders, als bei dem vertraulichen Rat der Königin verlegen zu erröten und stellte sich mit einem wohligen Gefühl im Herzen vor, wie unsagbar besänftigend es für eine Tochter sein musste, Worte der bedingungslosen Güte der eigenen Mutter zu hören.

„Gewiss, eure Majestät. Ich scheue mich nicht davor, jenen stolzen Weg, der sich vor mir erstreckt, zu bestreiten. Und was auch immer die Zukunft für mich bereithalten wird, ich werde dem mit Mut und Entschlossenheit gegenübertreten!“ Nach Miceylas aufrichtiger Erwiderung, zeigte die Königin ein herzliches Lächeln und Albert neben ihr musste im Verborgenen schmunzeln.

Nachdem die routinegemäße Militärzeremonie einen entspannten Ausklang gefunden hatte, machten sich alle für die Feier am Abend zurecht, welche nur in Zusammenkunft der höheren Kreise stattfand. Die Zeit verging bis dahin wie im Flug und Miceyla erinnerte sich an jenen märchenhaften Ball, in einer verschneiten Februarnacht, als sie in einem wunderschön roséfarbenen Ballkleid an der Seite von William, Albert und Louis die geschmückte Festhalle betrat. Sie hatte es sogar geschaffte, Moran dazu zu überreden, sie als Bediensteter zu begleiten. Ihr überzeugendes Argument war es gewesen, dass es auf der Feier wieder ein pompöses Puffet, mit Spezialitäten aus aller Welt gab. Auch William sprach ihm gut zu, dass er sich keine Gedanken darüber zu machen bräuchte, erkannt zu werden. Nur eine Person gab es, die Moran wohl auf sein ehemaliges Soldatenleben ansprechen würde…

„Graf Moriarty! ...Oder sollte ich wohl besser `Oberst` sagen? Hi, hi! Ich gratuliere Ihnen recht herzlich!

„Kommt es mir nur so vor, oder sehen Sie heute Abend in Ihrem Anzug, noch vornehmer aus als sonst?“

„Oh Graf Moriarty, Sie sind heute das wahre Glanzstück des Festes und der strahlende Mittelpunkt dieser Abendgesellschaft!“ Plötzlich wurde Albert von aufgeregt durcheinanderplaudernden, jungen Adelsdamen umringt und schaffte es noch nicht einmal mehr, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Frauen himmelten ihn beinahe in einem solch übertriebenen Ausmaß an, als wäre er göttlicher Abstammung. Doch an jenes Prozedere waren sie allesamt gewöhnt. Denn das Albert bei diversen Anlässen, einen Schwarm junger Frauen anzog, war Gang und Gebe. `Klar, er ist gutaussehend und unangefochten charismatisch. Da ist es nur allzu natürlich, dass er sich vor Verehrerinnen kaum retten kann. Stellt sich nur die Frage, ob die Damen ihn auch dann noch anhimmeln würden, wenn er nicht von Adel wäre…`, dachte Miceyla mit einem seltsamen Gefühl, während sie die Adelsfrauen beobachtete, welche alle nur die teuersten Kleider und den wertvollsten

Schmuck trugen. Lächelnd unterhielt Albert sich unbefangen mit ihnen. Doch kurz sah er in Miceylas Richtung hinüber, woraufhin sie rasch seinem Blick auswich, um es für ihn so aussehen zu lassen, als hegte sie Dessinteresse gegenüber seiner Beliebtheit bei Frauen. Einst war es bei William ganz ähnlich gewesen, doch seitdem sie verheiratet waren, hatte er beinahe immer Ruhe vor jeglichen weiblichen Plagegeistern, was sie zugegebenermaßen erleichterte.

„Jubel, Trubel, Heiterkeit! Dann will ich mich auch mal genüsslich amüsieren gehen!… Louis?! Verfolgst du mich etwa?“

„Irgendwer muss doch ein Auge darauf haben, dass du uns hier keinen Ärger verursachst oder mal wieder Frauen abschleppst! Die eigene Erfahrung lehrt einen zur Vorsicht…“

„He! Ich glaube deine sogenannten Erfahrungen, hast du dir bloß selbst zusammengedichtet! Ich bin noch harmlos. Wer von uns ist hier in Wahrheit das eigentliche Ärgernis? Denk mal scharf nach!“ Belustigt hörte Miceyla Morans und Louis‘ Gezanke mit an, ehe sich beide wieder mit unauffälligeren Posen unter die Gäste mischten.

„Wollen wir uns auch mal ein wenig umsehen gehen? Vielleicht schnappen wir sogar ein paar interessante Gerüchte auf. Oder was meinst du, Liebling?“, schlug William ablenkend vor und nahm liebevoll ihre Hand. Augenblicklich galt ihre Aufmerksamkeit einzig und allein ihm.

„Aber klar doch! Wozu sind wir schließlich hier? Stürzen wir uns ins Gefecht!“, bestätigte sie mit verschwiegenem Lächeln und nachdem sich beide einen Moment lang verträumt angeblickt hatten, liefen sie gemeinsam in die lebhafte Festhalle hinein. Dennoch konnte sie nur schwerlich verhindern, bei dem Gedanken eine Gänsehaut zu bekommen, dass Alberts intensiver Blick an ihrem Rücken haften musste. `Albert ist frei und kann sich so viel auf die Schwärmereien der Frauen einlassen, wie es ihm beliebt. Deshalb sollte ich mich nicht daran stören und schon gar keine…Eifersucht empfinden… Und dennoch…er hat es ja sogar selbst mit provoziert. Vielleicht war es seine volle Absicht, mein Herz ins Wanken zu bringen und mich abrupt glauben zu lassen, er hätte es aufgegeben Interesse an mir zu zeigen, um zu testen, wie ich darauf reagiere… Ich durchschaue dies sofort. Wieso nur… Gefühle dienen nicht als Missbrauch für ein Spiel… Ich bin glücklich mit William und Albert und ich sind glücklich als Bruder und Schwester, Doch was verbirgt sich bloß in unseren Briefen…? Für einen Fremden, wären sie von Liebesbriefen mit versteckten Sehnsüchten kaum zu unterscheiden. Mittlerweile füllen sie ein ganzes Schubladenfach… Es hat beinahe den Anschein, als lebten wir mittels der geschriebenen Zeilen einen Traum…`seinen` Traum…`, dachte sie mit einem Hauch Melancholie. Nachdenklich ließ Miceyla ihren Blick durch die überfüllte Festhalle schweifen. Jedoch gab es keine wirklich interessanten Entdeckungen zu machen. Aber sie sollte auch mal die entspannten Momente der Normalität genießen dürfen, wo sie nicht von verdächtigen Ereignissen umgeben war. Doch als sie schließlich Harley unter den Gästen ausfindig machte, hielt sie hellwach inne. `Das er ebenfalls hier ist, sollte mich nicht wirklich verwundern… Jedoch…er nähert sich Moran…!` Wie gebannt verfolgte sie die Szene, wie Harley unbekümmert Moran ansprach, welcher sich am Büffet zu schaffen machte und vergaß beinahe im Normaltakt weiter zu atmen. Zu gerne wäre sie näher herangetreten, um mitanhören zu können, worüber die zwei miteinander sprachen. Allerdings wollte sie tunlichst das Fettnäpfchen vermeiden, sich von Harley erwischen zu lassen. Miceyla war beinahe darüber verwundert, wie gelassen Moran in dessen Gegenwart blieb und erkannte sogar aus der Entfernung anhand ihrer Gesichtszüge, dass beide fast so etwas wie eine kameradschaftliche Unterhaltung führten. `Ob Harley wohl seine Überzeugungskünste dafür verwendet, um Moran zurück in den Militärdienst zu holen? Nichtsdestotrotz halte ich dies für ziemlich unwahrscheinlich. Er wird als gefallener Soldat angesehen und ein Toter, kehrt niemals in das Reich der Lebenden zurück…`, dachte Miceyla etwas bedrückt und musst sich eingestehen, dass es am Vernünftigsten war jene Tatsache zu akzeptieren und sie ihrer Neugierde nachgeben musste, den Inhalt jeden einzelnen Gesprächs zu erfahren. Es erinnerte sie daran wie Sherlock sich immer fühlte, wenn er durch eine mit unermesslichen Informationen und Wissen beladene Gedankenwelt irrte. `Lasse nicht zu, dass die Probleme und Sorgen anderer zu deiner Bürde werden…`Solange sie diesen Satz nicht vergessen würde, hatte sie noch die Chance, ihr eigenes Leid von dem anderer Menschen zu differenzieren. Mit einem wehmütigem Lächeln, wandte sie den Blick wieder von Harley und Moran ab und gönnte den beiden Zeit für ein Gespräch unter Soldaten. Ein kleines Orchester spielte eine wundervoll rhythmische Musik, welche die ersten Paare auf die Tanzfläche lockte. Ein zaghafter Anstupser von William gegen ihre Schulter, ließ sie schüchtern zu ihm aufblicken.

„Nicht schlecht, was die Konkurrenz zu bieten hat. Aber…ich hörte von einem legendären Tanzpaar, das alle anderen Tänzer vor Erstaunen zum Stillstand gebracht und den Zuschauern eine ganz neue Art von Einklang, zwischen Melodie und Tanz präsentiert hat. Sollen wir jene Legende wiedererwecken, meine bezaubernde Winterrose? Dürfte ich die schönste Dame der Feier, dafür zum Tanz auffordern?“, sprach William mit einem verführerischem Lächeln und hielt ihr einladend seine Hand entgegen.

„Da hat wohl jemand wieder meine Gedanken gelesen… Nichts wünsche ich mir mehr, als mit dir zusammen erneut über die Tanzfläche zu schweben, mein Liebster…“ Mit einem Gefühl freudiger Erregung, ließ sie sich von ihm in die Mitte der Halle führen. Das unbeschreibliche Gefühl jenen magischen Moments, welcher nur ihnen beiden gebührte, floss durch ihren gesamten Körper und ihre Seele löste sich von jeglicher Anspannung, als hätte sie Flügel erhalten. Doch all ihre beschwingenden Empfindungen, verblassten plötzlich auf unsanfte Weise, als Albert es ihnen gleichtat und eine der ihm fremden jungen Frauen zum Tanz aufforderte. Natürlich war es eine Schönheit und sie musste überglücklich sein, von ihm ausgewählt worden zu sein. Das dies für ihn selbst völlig gleichgültig war, würde die ahnungslose Frau wohl nie erfahren. So wie sie dort nun mit ihren jeweiligen Tanzpartnern dastanden und auf den baldigen Musikwechsel warteten, konnte Miceyla nichts gegen die Anziehungskraft von Alberts intensiven Blick tun, der sie von Kopf bis Fuß zu vereinnahmen versuchte. Das Glühen in seinen smaragdgrünen Augen, ließ eine brodelnde Hitze in ihr aufsteigen und sie spürte, wie sich eine verwirrende Hilflosigkeit in ihr Herz einschlich. Es war kein Geheimnis, dass Albert seine Frustration, Miceyla nicht als Tanzpartnerin haben zu können, mit einem Akt des Trotzes betäuben wollte. Das Orchester begann ein neues Stück zu spielen, welches für ihren Geschmack viel zu dramatisch war. Die Paare begannen allesamt zeitgleich im Takt der Musik zu tanzen. Miceyla versuchte sich innerlich etwas zu entspannen und auf ihre Schritte zu konzentrieren. Doch ihr Blick wanderte unentwegt zu Albert und so musste sie sich auf Williams Führung verlassen, was zum Glück für beide kein Problem darstellte. Dieser merkte auf Anhieb, was sie so durcheinanderbrachte und blickte sie bloß als Reaktion darauf, hemmungslos verrucht an. Er erhöhte ohne Vorankündigung das Tempo seiner Schritte und seine Hand auf ihrem Rücken, zog sie ruckartig näher an sich heran, sodass sie gezwungen wurde, sich der Intensivität seines leidenschaftlichen Tanzes anzupassen. Albert ließ sich davon keineswegs beeindrucken und ahmte Williams Bewegungen sogleich perfekt nach. Dies schien seine Tanzpartnerin, die sich soeben noch mit unschuldiger Freude auf einen Tanz mit ihm eingelassen hatte, zu verwirren und wirkte etwas überfordert bei der Bemühung, mit seinem Tempo schrittzuhalten. Doch Albert nahm auf die überrumpelte Frau keine Rücksicht und suchte nur erneut mit herausforderndem Lächeln Miceyla Blickkontakt, welche in vollkommenem Einklang mit William tanzte. Sogar während ihres hitzigen Tanzes, fand sie die Zeit seinen Blick zu erwidern und lächelte ihn ebenso kühn und unerschrocken an. Sie konnte nicht anders, als das sachte Gefühl der Verführung zu genießen, welches sich den langen Weg mitten in ihr Herz bahnte. Albert wollte sie vor der unbarmherzigen Verbrecherwelt beschützen, wie eine zerbrechliche Blume vor einem tobenden Sturm. Und dennoch reizte es ihn mitzuerleben, wie ihr Kämpferwille immer weiterwuchs und sie nicht davor zurückschreckte, den unsicheren Pfad eines Soldaten zu bestreiten. All das was sie von anderen gewöhnlichen Frauen abhob, war für ihn zu verlockend, um es nicht bewundern zu können. `Komm, kämpfe mein tapferer Soldat. Ich weiß du wirst unnachgiebig bleiben, auch wenn mein Herz bereits jemand anderem gehört. Doch deine Liebe hat mein Herz längst berührt, die Liebe eines unersetzlichen Bruders…`, dachte Miceyla standhaft, um ihrem zum Überlaufen drohenden Gefühlschaos, ein abruptes Ende zu bereiten und widmete sich nun voll und ganz ihrem Tanz mit William. Allerdings machte dieser all ihre Bemühungen zunichte, eine mentale Stärke zu wahren, als er mit bittersüßem Lächeln schwungvoll von ihr abließ. Da ihr nun so urplötzlich die Führung, bei jenem schwierigen Tanz geraubt wurde, drohte sie von Schwindel gepackt das Gleichgewicht zu verlieren. Jedoch fand sie sich noch rechtzeitig, in den Armen eines neuen Tanzpartners wieder, welcher niemand anderes außer Albert war. Auch er hatte seine Tanzpartnerin mitten im Tanz stehen gelassen. Vollkommen übermannt von der unvorhergesehenen Situation, blickte sie ihn etwas unbeholfen, mit wild klopfendem Herzen an. `Ich werde dich zu jeder Zeit auffangen und immer dein schützendes Schild sein. Lass mich zu deinem Zufluchtsort in jeglicher Not werden. Ich schicke dich weder fort, noch musst du mir deine wahre Natur verbergen. An meiner Seite halte ich stets einen Platz für dich bereit. Dein und mein Schicksal sind ein und dasselbe. So lass mich dir dein Herz stehlen, mag es auch nur für einen flüchtigen Moment geschehen…meine geliebte Eisblume…`
 

`Wir sind die Himmelszelt-Helden! Wir fürchten keine Gefahr und helfen uns gegenseitig!` Miceyla fand es beinahe beängstigend, wie realistisch sie sich Finns Stimme vorstellen konnte, als sie wie in Trance einen schmalen Landweg entlangschlenderte, der direkt nach Harefield führte. Zwar würde eine gewisse Last von ihren Schultern genommen werden, sobald sie die Ungerechtigkeiten dort besiegt hatten, dennoch brauchte niemand die Tatsache schönzureden, dass es sich dabei schlichtweg um einen Rachefeldzug handelte.

„Eine äußerst schöne Gegend. Die Bauern können sich hier garantiert nicht über die Ernte beschweren“, sprach Albert geruhsam, während er seinen Blick über die weitflächigen Felder schweifen ließ.

„Nur machen sie, wie wir es leider nicht anders kennen, kaum Profit und werden gnadenlos ausgebeutet. Harte Arbeit für wenig Lohn. Und der Gewinn der geldeintreibenden Oberschicht, wächst beinahe exponentiell. Dieser Teufelskreislauf macht die Arbeiterklasse immer ärmer und lässt die Adeligen regelrecht in ihrem Geld schwimmen. Wenn keiner wagt dagegen etwas zu unternehmen, kann und wird sich von alleine auch nichts ändern. Gerechtigkeit ist kein Sinnbild unserer Gedanken, sie existiert und kann zum normalen Bestandteil unseres alltäglichen Lebens werden, wenn wir alle gemeinsam mitanpacken“, erläuterte William ebenso entspannt und blickte mit einem entschlossenen Leuchten in den Augen geradeaus. Das er die Thematik auf solch sachliche Art und Weise beschrieb, vermochte Miceyla momentan mehr als alles andere zu beruhigen. Es war noch früher Tag, doch bereits jetzt spürte sie, die sich anbahnende Hitze der kräftigen Maisonne auf ihrer Haut. Sie hatten sich aufgeteilt, während Louis, Moran und Fred Harefield auf der Ostseite erreichen würden, passierten Miceyla, William und Albert ihren Geburtsort auf der Westseite.

„Wir nutzen den restlichen Tag, um die Lage in Harefield auszukundschaften und werden rasch feststellen, ob uns dort bereits mögliche Spione in den Schatten auflauern. Bei Einbruch der Dunkelheit schlagen wir dann zu und erledigen die Angelegenheit weitestgehend `feinsäuberlich`. In diesem Dorf wird sich bestimmt ein verlässlicher Bürgermeister finden, welcher zukünftig für Ordnung auf diplomatische Weise sorgt“, schilderte William nun mit gütigem Lächeln ihren Plan, der sich zu ihrer Erleichterung in einem schlichten Rahmen hielt und nicht wie andere ihrer utopischen Vorhaben, zu kompliziert ausartete. Als sie den Dorfrand erreichten, stellte sich für Miceyla schnell heraus, dass sich an ihrer alten Heimat kaum etwas verändert hatte, was ihr beinahe das unangenehme Gefühl, einer Zeitreise in ihre stürmische Vergangenheit bescherte. Die drei Ankömmlinge, wurden von vielen der Bewohner freundlich begrüßt und niemand musterte sie sonderlich auffallend. Auf den ersten Blick wirkte das alltägliche Leben dort friedlich, doch beim genaueren Hinsehen erkannte sie sofort die trüben, überarbeiteten Augen der Menschen, die fast willenlos ihren Tätigkeiten nachgingen und von einer unsichtbaren Angst angetrieben schienen, die nach ihrem Leben trachtete. In einer versteckten Seitengasse, trafen sie mit Louis, Moran und Fred zusammen.

„Keine Spur weit und breit von den verdächtigen Attentätern… Die wollen uns garantiert mit ihrem versprochenem `Rendezvous`, ins kalte Wasser springen lassen! Diese elenden Drecksäcke! Oder habt ihr etwas Verdächtiges bemerkt? Ich mache mir Sorgen, dass die Kerle es besonders auf dich abgesehen haben, Miceyla, nach unserer misslichen Konfrontation von neulich… Wandere hier ja nicht ohne einen von uns umher, auch wenn die Umgebung dir vertrauter ist als uns. Versprich mir das!“, grummelte Moran ernst, doch die Besorgnis in seiner Stimme, blieb ihr nicht verborgen.

„Nein, kein Lebenszeichen von unseren Herausforderern in Spe. Und keine Bange, ich mag mir schließlich ein weiteres Trauma ersparen…“, erwiderte Miceyla mit einem etwas fröstelnden Unterton.

„Jene angeheuerten Mörder, besitzen keine Fähigkeiten, welche wir nicht besitzen. Darum werden wir den Schrecken ein Ende bereiten, noch ehe er begonnen hat. Moran und ich werden später die Infiltrierung, von dem Anwesen des selbsternannten Herrschers übernehmen und ihm im günstigen Moment den Garaus machen. Fred hält uns unterdessen den Rücken frei und Albert sorgt dafür, dass in der Zeit im Dorf keine weiteren Scharmützel entstehen, welche uns bei einer Flucht Probleme bereiten könnten. Miceyla und Louis, ihr bleibt bitte immer zusammen und stellt euch den Attentätern entgegen, sollten sie uns wirklich wie versprochen überfallen und nicht das Anwesen bewachen. Und seid nicht zimperlich, was die Gegenwehr angeht. Diese Leute haben, wie die meisten unserer bisherigen Widersacher, so vielen Menschen das Leben genommen, dass sie selbst ihre Opfer schon gar nicht mehr zählen. Also mein Liebling, ein schlechtes Gewissen ist reine Verschwendung“, erklärte William ihre einzelnen Aufgaben, um einen reibungslosen Ablauf zu ermöglichen und betonte noch einmal an Miceyla gewandt, dass sie im Ernstfall ihre Gewissensbisse ablegen musste. Dabei legte er ihr lächelnd mit einem liebevollen Blick, in dem Vertrauen und Zuversicht lag, seine Hand auf die Schulter. Kein bisschen verunsichert, nickte sie kühn zur Bestätigung. Sie wurde als Teil der Gruppe akzeptiert und würde wie ein jeder von ihnen, ihren Teil dazu beitragen, dass die Mission ein erfolgreiches Ende fand. Das er sie dabei nicht schonte und ihr eine bedeutsame Aufgabe übertrug, machte sie unendlich stolz. Längst war das kein Test mehr, sondern der Beweis, dass sie alle ein eingespieltes Team waren. Und ihr war bewusst, dass eine Waffe nicht nur Symbol des Mutes und der Stärke war, sondern auch zu seiner sinngerechten Verwendung eingesetzt werden musste. Wer davor zurückschreckte, sollte es von vornerein bleiben lassen und nicht zur Waffe greifen.

„Am morgigen Tage, wird Harefield einer friedlicheren Zukunft entgegenblicken können. Der Schleier der Ungerechtigkeit, welcher seit Anbeginn über diesem Dorf liegt, verschwindet und der Wind einer bannbrechenden Freiheit, wird durch die Kleinstadt wehen. Zeit die Vergangenheit zu begraben. Ich danke euch allen für eure Unterstützung… Also! Vertreiben wir all das Böse…“, begann Miceyla zum Auftakt der Befreiung von Harefield, welche sie mehr oder weniger eigenständig in die Wege geleitet hatte und ballte mit entschlossenem Blick, die linke Hand vor ihrer Brust zu einer Faust.

„…Und verhelfen der Welt zu rechter Größe!“ Als die Gruppe zeitgleich ihr gemeinsames Motto aussprach, spürte Miceyla erneut das unzertrennliche Band ihrer Gemeinschaft, welches ihr den Glauben vermittelte, jedes noch so schwierige Ziel erreichen zu können.

„Gut ihr Lieben, ich mache dann noch mal einen kleinen Rundgang durch das Dorf und werde selbst den kleinsten Kieselstein inspizieren, sollte er mir verdächtig vorkommen…“, meinte Albert scherzhaft und blickte kurz mit einem dezent düsteren Lächeln zu Miceyla, ehe er sich als Erster von der Gruppe trennte. `Jetzt ist nicht der passende Augenblick, um irgendeinen unnötigen Schabernack zu treiben… Aber Albert glänzt stets bei seiner Arbeit mit einer beispiellosen Professionalität und wenn es darauf ankommt, ist er wohl der Vernünftigste von uns allen. Und trotzdem lässt mich das beißende Gefühl nicht los, dass er etwas im Schilde führt, das nicht zum Plan gehört… Argh! Und die Gewissheit, dass meine Intuition mich niemals belügt, macht alles nur noch schlimmer!`, dachte Miceyla etwas unbehaglich und musste der Versuchung widerstehen, ihm nachspionieren zu wollen. Nur flüchtig ließ sie ihren nachdenklichen Blick hinter ihm herwandern.

„Gib bitte auf dich Acht, Miceyla. Solltet ihr in Schwierigkeiten geraten, finde ich einen Weg um euch zu helfen.“ Freds besorgter Einwand, bevor sie sich für ihre einzelnen Posten erneut aufteilten, lenkte sie von ihren kopfzerbrechenden Grübeleien ab.

„Danke Fred, aber konzentriere dich bitte mit all deinen Sinnen darauf, dass Will und Moran niemand ins Handwerk pfuscht. Auch du kannst nicht überall gleichzeitig sein und ich möchte nicht, dass du auf Kosten anderer, erneut Opfer eines Unfalls wirst. Ich habe Louis bei mir, also vertrauen wir einander, nicht wahr?“, sprach Miceyla mit einer Überzeugungskraft, welche Fred erleichtert lächeln ließ und blickte zu Louis, in der Hoffnung er würde ihr in dieser Hinsicht zustimmen.

„Dem kann ich mich nur anschließen. Zu zweit werden wir schon mit ein paar Meuchelmördern fertig, sollten die Ärger machen. Wohlan Bruderherz, wir sind alle bereit“, beendete Louis zufrieden ihre knappe Missionsbesprechung, woraufhin Miceyla noch motivierter wurde als zuvor.

„Freut mich, dass jeder mit dem weiteren Verlauf einverstanden ist. Dann teilen wir uns nun wie besprochen auf, um nicht verdächtig zu wirken. Gutes Gelingen!“, verkündete William lächelnd und blickte Miceyla noch einmal zum Abschied an, als wollte ein Teil von ihm bei ihr bleiben, um sie zu beschützen.

„Prima! Auf dem Weg hierher, sind mir ein paar vorzügliche Lokale ins Auge gestochen, in denen wir ordentlich zu Mittag essen können! Auf geht’s, Will! Mit leerem Magen, lässt sich nur schwerlich ein fetter Adeliger umlegen, ha, ha, ha!“, sprach Moran genüsslich und gab William einen kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter.

„Fein, wenn dein immerwährendes Loch im Magen endlich mal gefüllt ist, können davon vielleicht sogar die Gastgeber profitieren. Hast doch ein üppiges Gehalt, daher darfst du natürlich auch alles bezahlen“, neckte William ihn daraufhin und schlenderte mit ihm davon. Als die beiden sich ein gutes Stück von den anderen entfernt hatten, blickte er Moran nun mit einem wesentlich ernsteren Gesichtsausdruck an.

„Ich muss mit dir etwas Wichtiges unter vier Augen besprechen…“

Fred war ebenfalls bereits aufgebrochen und nun blieb Miceyla nur noch mit Louis allein zurück.

„Dann lass uns auch mal einen kleinen Rundgang durch das beschauliche Städtchen machen, Und habe nicht allzu viele Bedenken, es wird bestimmt alles glattlaufen. Sei nicht zu streng mit dir, sollte deine beschwerliche Vergangenheit, dich hier doch erneut heimsuchen. Ich kämpfe an deiner Seite, verlasse dich also ruhig auf mich. Mut hast du bisher genug bewiesen und ich weiß, dass du wenn es darauf ankommt, über deinen eigenen Schatten springen kannst“, meinte Louis überraschend aufmunternd mit freundlicher Miene. Miceyla lächelte behaglich, dass wenigstens während einer für sie herausfordernden Mission, die Stimmung zwischen ihnen nicht ganz so angespannt war wie sonst. Während sie zu zweit durch Harefield spazierten, merkte sie gleich, dass die Kleinstadt in all den Jahren noch weiter ausgebaut worden und nun wesentlich dichter besiedelt war als früher. Miceyla stand dieser Veränderung mit gemischten Gefühlen gegenüber. Zum einen hieß sie es gut, dass der Fortschritt jedes noch so kleine Dorf erreichte. Zum anderen stimmte es sie ein wenig traurig, dass dabei sehr viel alte Tradition zunichte gemacht und die Wertschätzung der Bescheidenheit mit Füßen getreten wurde. Einige Stunden vergingen und der späte Nachmittag kündigte sich an. Das der gesamte Tag so ruhig und ganz ohne Vorkommnisse verlaufen war, machte Miceyla allmählich nervös. Aber es blieb natürlich wie immer bei der logischen Tatsache, dass die Feinde erst aus ihren Verstecken hervorgesprungen kamen, wenn es dunkel werden und sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen würden. Gerade verließ Miceyla mit Louis eine Gaststätte, in der sie sich mit ein paar der Einwohner unterhalten hatten und nun wollten sie ein weiteres Mal die Umgebung überprüfen gehen.

„Miceyla! Das gibt es ja nicht, du bist auch hier in Harefield! Wir ziehen wohl beide die Zufälle magisch an, ha, ha!“ Wie vom Blitz getroffen, erstarrte Miceyla bei der ihr vertrauten Stimme hinter sich und tauschte mit Louis hastig Blicke aus, in denen sich die höchste Alarmbereitschaft widerspiegelte. Sie schämte sich unendlich dafür, dass sie auf die unvorhergesehene Begegnung mit einem guten Freund, mit solch einer verschreckten Verhaltensweise reagierte. Etwas zögerlich drehten Miceyla und Louis sich herum und sie bemühte sich zwanghaft, ein natürliches Lächeln aufzusetzen.

„John! Was für eine Überraschung. Damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet, dass wir uns hier begegnen. Was führt dich nach Harefield und bist du alleine hier?“, fragte sie ihn freundlich zur Begrüßung und hoffte dabei, dass ihn Louis‘ finsteres Gesicht nicht allzu sehr erschreckte. Doch der junge Arzt strahlte so überglücklich und unbekümmert wie ein Honigkuchenpferd.

„Nun ja… Das hat mit Mary zu tun. Ich bin ihrer Bitte nachgegangen, den Gesundheitszustand eines Bekannten von ihr zu überprüfen, der hier lebt und an einer schweren Herzschwäche leidet. Soll nicht heißen, dass der Arzt von Harefield unfähig sei, aber der Mann lässt sich nur widerwillig von jemandem behandeln. Doch da er Mary blind vertraut, hat er sich von mir, ohne einen Aufstand zu machen, untersuchen lassen. Und ja, ich bin alleine nach Harefield gekommen. Wie steht es mit dir? Ach ja! Ihr macht sicher gerade einen kleinen Ausflug in deinem Geburtsort, hast ja mal davon erzählt. Ist auch wirklich schön hier. Vielleicht sollte ich mit Mary, eines Tages ebenfalls aufs Land ziehen…“, erzählte John verträumt und stellte während der Unterhaltung, kurz seine vollgepackte Arzttasche ab. `Gut… Er ist alleine hier. Hätte er Sherlock im Schlepptau, müssten wir uns mal wieder mit einem nervtötendem Problem herumschlagen…`, dachte Louis kritisch mit zusammengekniffenen Augen. `Glücklicherweise ist John beschwingt von seiner Hochzeitsvorfreude. Manchmal macht Liebe tatsächlich blind… Er würde nun nichts als verdächtig ansehen, selbst wenn es sich unmittelbar vor seiner Nase befände… John besitzt zwar ein helles Köpfchen, aber im Gegensatz zu Sherlocks schier übersinnlicher Kombinationsgabe, brauchen wir uns bei ihm nicht auf Teufel komm raus vorzusehen.` Als Miceyla in Gedanken die Wogen, bei der für sie überrumpelnden Situation geglättet hatte, wollte sie ihre Unterhaltung fortführen. Doch ehe es dazu kommen konnte, huschte eine Person rasend schnell wie ein dunkler Schatten an ihnen vorbei. Verwirrt blickte das Trio dem seltsamen Mann hinterher und Miceyla fuhr jäh zusammen, als John einen entsetzten Schrei von sich gab.

„Aaahhh! Meine Arzttasche wurde gestohlen! Wenn die darin befindlichen Medikamente falsch verwendet werden, sind Leben in Gefahr!“, rief John panisch und stürmte ohne weiter nachzudenken hinter dem Dieb her. Miceyla und Louis blickten sich beide einsatzbereit an. `Wir haben unsere feigen Attentäter gefunden!`, dachten beide zeitgleich und nahmen ebenfalls im hohen Tempo die Verfolgung auf. Erstaunt erkannte sie dabei, wie schnell John auch ohne seinen Stock rennen konnte. `Er besitzt eine beachtliche Kondition. Dies beweist nur, dass er selbst mal ein Soldat war.` Sie verfolgten den flüchtenden Dieb, bis zu einer großen Scheune etwas abseits des Dorfes, in welcher er und John schließlich verschwanden.

„Warte!“ Louis packte sie energisch am Arm, um sie daran zu hindern, ihnen hinein zu folgen. Verärgert blickte sie ihn an.

„Worauf sollen wir bitteschön warten?! Mir ist sonnenklar, dass uns eine Falle gestellt wurde. Und der unschuldige John, wird gerade dafür missbraucht. Wenn du glaubst, dass ich tatenlos dabei zusehe, wie er sich einen sinnlosen Kampf mit den Mördern liefert, täuschst du dich aber gewaltig!“, konterte sie ungeduldig und befreite ihren Arm aus seinem aufhaltenden Griff.

„Ist ja gut Mensch! Du brauchst deswegen nicht gleich so bissig zu werden. Versuchen wir uns erstmal unauffällig, einen Überblick darüber zu verschaffen, wie viele von den Kerlen dort drin sind, ehe wir uns Hals über Kopf in ein Gefecht stürzen. Erst denken, dann handeln!“, tadelte Louis streng und lief achtsam zusammen mit ihr in Richtung der Scheune. `Tu nicht so scheinheilig… Du suchst doch nur nach einem Vorwand, um Zeit zu schinden. Denn wenn John auf unglückliche Weise hier sein Leben ließe, käme dir das gerade gelegen. Traurig ist das, einfach nur traurig…`, dachte Miceyla verbittert und befolgte dennoch widerwillig seine Aufforderung, die Lage abzuwägen. Seitlich an der Scheunenwand stehend, lugten sie vorsichtig in das Innere. Dort stand der hilflos wirkende John, umzingelt von fünf bewaffneten Männern, bei denen sie wusste, dass jeder von ihnen kampferprobt und skrupellos war.

„Das sind zu viele von denen! John schafft das nicht alleine, wir müssen ihm helfen! Bitte gib dir einen Ruck!“, bettelte Miceyla verzweifelt, doch Louis blieb unbeeindruckt und verzog keine Miene.

„Worin liegt das Problem? Die Männer gefährden gerade nicht unseren Plan und scheinen uns sogar in Ruhe zu lassen, wenn wir sie ignorieren. Will es denn immer noch nicht in deinen Schädel, dass jeder Kampf seine Opfer fordert?“, blaffte Louis kühl und beobachtete beinahe voller Genugtuung, was sich gerade dort in der Scheune abspielte. Seine Kaltherzigkeit zerriss Miceyla das Herz und sie blickte ihn argwöhnisch an.

„Das kann jetzt nicht dein Ernst sein! Wir haben einen Auftrag zu erfüllen! Was würde Will nun sagen? Für dich dreht sich alles nur um deinen heiligen Bruder. Wäre er in Gefahr, würdest du augenblicklich alles stehen und liegen lassen. Sei nicht so blind, Louis, du besitzt viel mehr außer William… Na schön… Was du nun vorhast, ist mir gleichgültig, aber ich lasse John unter keinen Umständen im Stich!“, konterte sie mit ihrer knallharten Meinung und zückte eine Pistole und einen Dolch, um sich kampfbereit zu machen. Das Louis ihr schon gar nicht mehr antwortete, machte sie nur noch wütender und mit zusammengebissenen Zähnen, stürmte sie in die Scheune zu John.

„Miceyla! Da haben wir uns vielleicht ein Schlamassel eingebrockt… Unholde existieren aber auch wirklich überall. Ach, wäre doch Sherlock hier, er wüsste jetzt garantiert eine passende Lösung. Wir sind nun mal in der Unterzahl…“, sprach John klagend, während sie Rücken an Rücken standen, von ihren Feinden umzingelt. Doch sie hörte in seiner Stimme keineswegs Verunsicherung heraus, viel eher den Mut, einen Kampf im Namen der Gerechtigkeit zu kämpfen. Und das er sie als fähige Gefechtspartnerin ansah, die er nicht nur beschützen wollte, tröstete sie ein wenig. Wie könnte Miceyla bloß, einer solch wertvollen Freundschaft den Rücken kehren?

„Wir können uns nicht immer nur auf Sherlock verlassen. Glauben wir an uns, dann können wir es schaffen! Ich kämpfe an deiner Seite, wenn nötig bis zum bitteren Tod. Mary soll doch schließlich eine glückliche Braut werden“, erwiderte sie leicht verzagt, leicht aufmunternd.

„Miceyla… Keiner von uns beiden, wird hier sein Leben lassen müssen! Unser Ende…“, begann John mit einem unnachgiebigen Funkeln in den Augen.

„…Bestimmen und schreiben wir selbst!“, sprachen die zwei gleichzeitig und umklammerten ihre Waffen noch fester. Miceyla blickte in das grinsende Gesicht eines der Männer, bei dem es sich um den Anführer der Truppe handeln musste und erkannte sofort ihren Widersacher von jenem Abend in London. Noch immer schien die Zeit still zu stehen und jeder wartete darauf, dass jemand das Gefecht eröffnen würde. Kurz erhascht sie einen Blick auf das Scheunenfenster, von wo aus Louis noch immer in aller Seelenruhe das Drama mitverfolgte. Und genau in diesem Moment wurde ihr schmerzlich bewusst, dass er nun sie und John zusammen, in ihr eigenes Unglück stürzen lassen konnte, ohne dabei selbst einen Finger krumm machen zu müssen. Wut und Trauer begannen ein unstillbares Feuer in zu entfachen und sie unterdrückte die Tränen, welche ihre bitterliche Erkenntnis beklagen wollten. In jenem Augenblick begrub sie all ihre bisherigen Bemühungen, jemals mit Louis ein freundschaftliches Verhältnis haben zu können. `Du bist ein grausames Monster, Louis. Ich…hasse dich für das, was du John und mir gerade antust! Ich hasse dich abgrundtief!` Ohne noch länger darauf zu warten, dass ihre Gegner den ersten Schritt machten, zielte sie mit ihrer Pistole auf den Anführer und drückte gnadenlos ab. Dieser wich natürlich gekonnt aus und nun mussten John und sie sich darauf gefasst machen, dass sie von allen fünf Männern gleichzeitig angegriffen wurden. Das jene ausschließlich mit Stichwaffen bewaffnet waren, konnten sie beide nicht wirklich zu ihrem Vorteil nutzen, da allesamt Meister im Nahkampf sein mussten. Auch Johns erster Schuss ging ins Leere, welcher daraufhin leise fluchte. Es brauchte nicht mal einen Wimpernschlag und schon attackierte der erbarmungslose Anführer, Miceyla mit einem kraftvollen Messerhieb. Mit viel Mühe gelang es ihr seinen ersten Angriff zu parieren und sie konnte sich wieder nur auf die Strategie, Technik gegen Kraft verlassen. Während sie selbst sich momentan, lediglich mit nur einem Gegner herumschlagen musste, hatte John alle Hände voll damit zu tun, die restlichen vier Widersacher auf Distanz zu halten. Gekonnt duckte Miceyla sich unter einem weiteren Hieb weg und sprang zur Seite. Die wenigen sicheren Sekunden nutzte sie, um einem der Männer, welcher mit dem Rücken zu ihr stand, zielgenau in den Hinterkopf zu schießen. Nachdem dieser plump auf den staubigen Scheunenboden gestürzt war, wandte sie sich wieder mit einem eisigen Blick an den Anführer.

„Wenn ihr mit unfairen Mitteln kämpft, können wir das auch!“, sprach sie finster und blickte dabei unbeirrt in die Augen ihres Gegners, welche nur so vor Mordlust glühten.

„Danke Miceyla!“ Nun war es auch John gelungen, einen weiteren Übeltäter in die ewigen Jagdgründe zu befördern und ein zaghaftes Leuchten der Hoffnung begann aufzuflammen. `Wir sind nicht wie diese schrecklichen Männer… Wir töten nicht aus Hass und Selbstgier, sondern um uns zu verteidigen und das zu beschützen, was uns lieb und teuer ist…`, erinnerte Miceyla sich trotz ihres Panikzustandes daran, nicht von einer tollwütigen Kampflust besessen zu werden, damit sie einer alles vernichtenden Reue entgegenwirken konnte. Plötzlich traf ihr nächster Dolchhieb ins Leere und entsetzt reagierte sie zu spät, als der Anführer direkt hinter ihr stand und sie ihm ihren ungeschützten Rücken darbot. Ein heftiger Fußtritt schleuderte Miceyla zu Boden und sie hatte nicht einmal mehr die Kraft für einen Schmerzensschrei. Zitternd blickte sie zu ihrem Gegner auf, welcher noch immer wie bei Beginn des Kampfes, völlig unverwundet war, während sie sich schon einige Schnittwunden zugezogen hatte, die glücklicherweise nicht sonderlich tief waren und dennoch fürchterlich pochten. Der Mann beugte sich über sie und drückte sie unsanft gegen den Boden. Zu allem Übel spürte sie jetzt auch noch, seine geschärfte Messerklinge dich neben ihrer Kehle.

„Miceyla!“ John schrie verzweifelt bei dem grausamen Blick ihren Namen, erhielt aber keine Gelegenheit ihr zur Hilfe zu eilen, da seine eigenen Gegner ihn zu sehr auf Schach hielten.

„Ihr fühlt euch grenzenlos überlegen und glaubt, uns am Schlafittchen gepackt zu haben. Doch für jemanden, der seine eigenen Kameraden nicht wertschätzt, hege ich nichts als Missbilligung und Verachtung. Ich werde nicht um Gnade flehen… Denn wir werden beide hier sterben…“, sprach Miceyla tapfer und schaffte es, ihre Hand mit dem Dolch an seinen Bauch zu bewegen. Der Anführer kicherte leise als Antwort darauf und ließ schließlich von ihr ab.

„Wir ziehen uns zurück… Bewahre dir deinen unberechenbaren Willen. In der düsteren Verbrecherwelt, ist dies nämlich dein kostbarstes Juwel“, sprach er abschließend und sein Gesichtsausdruck bekam beinahe gutmütige Züge. Da Miceyla sich wieder frei bewegen konnte, richtete sie sich etwas schwerfällig auf.

„Du willst also erneut einen Rückzieher machen? Nun, die Entscheidung obliegt dir, ob ihr von uns getötet werdet oder von unseren Kameraden, welche euch auflauern, sobald ihr die Scheune verlassen habt…“, meinte Miceyla vorwarnend und war dennoch für das erleichternde Gefühl dankbar, dass John und sie den Kampf ohne ernsthafte Verletzungen überstanden hatten.

„Danke für die Warnung, aber das ist nun mal der Preis, den jeder Mensch zahlen muss, der seine Hände mit Blut befleckt hat. Dasselbe gilt für dich, `Meisterverbrecherin`…“ Mit jenen düsteren Abschiedsworten, welche nur noch in einem Flüsterton endeten, verschwand er mit seinen beiden übriggebliebenen Kameraden. Hastig vergewisserte Miceyla sich nervös, ob John die Worte auch ja nicht gehört hatte. Dieser entdeckte mit glücklichem Lächeln, seine gestohlene Arzttasche und überprüfte bereits, ob der Inhalt noch vollständig war. Erleichtert seufzte sie, wenigstens darüber brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Und nun konnte sie nicht anders, als beim Anblick der beiden, in der Scheune liegenden Leichen, bittere Tränen zu weinen und spürte, wie sehr der nervenauftreibende Kampf sie erschöpft hatte. John eilte sogleich leicht humpelnd zu ihr und drückte sie tröstend an sich. Auch ihm war die Müdigkeit nach dem Gefecht anzusehen.

„Ich weiß ganz genau, wie du dich gerade fühlst. Doch lasse dich nicht von der Schuld, einen Menschen getötet zu haben, erdrücken. Wir haben aus purer Notwehr gehandelt. Jeder könnte dies bezeugen. Lass mich deine Wunden noch versorgen, dann wirst du sehen, dass alles wieder gut wird. Auch ich habe mit dem Schlimmsten gerechnet, aber das Glück war uns heute hold“, sprach er sanft und begann ihre oberflächlichen Messerschnitte an den Armen zu begutachten. `Du irrst dich leider… Das Töten ist traurigerweise für mich zur Gewohnheit geworden. Ginge es mir nur darum… Aber das Louis ohne Reue dabei zugesehen hat, wie wir beide mit unserem möglichen Tod konfrontiert werden, erschüttert mich so sehr, dass ich schon gar nicht mehr sagen kann, was ich nun mehr fühle, Hass oder Trauer…`, dachte Miceyla trübselig, während sie John geduldig ihre Wunden säubern ließ.

„Ach, da fällt mir ein, wo ist eigentlich Louis geblieben…? Vor lauter Aufregung, ist mir seine Abwesenheit völlig entgangen…“ Miceyla zuckte verschreckt, als er jenen Namen aussprach, der nun wie Gift in ihren Ohren klang.

„Er…hat die Umgebung außerhalb der Scheune kontrolliert, ob für die Männer Unterstützung im Anmarsch sein könnte und wollte William zur Hilfe holen, der mit uns hier ist…“, log sie und blickte abwesend zu Boden. Im Augenblick besaß sie noch keine konkrete Vorstellung davon, wie ihr zukünftiger Umgang mit Louis aussehen sollte.

„Na dann bin ich ja beruhigt. Gehen wir erstmal wieder nach draußen an die frische Luft. Hier drinnen wird mir die Luft zunehmend unangenehmer… Ich warte solange gemeinsam mit dir, bis ich dich in Williams Obhut übergeben kann“, antwortete er daraufhin mit einem zufriedenen Lächeln und ließ ihr beim verlassen der alten Scheune den Vortritt.

„Oh… Nein das brauchst du wirklich nicht zu tun. Ich kenne mich hier bestens aus und weiß, wo ich William finden werde. Danke John, du hast dir heute schon genug zugemutet. Du musst außerdem deinen Zug kriegen, stimmts? Dein prüfender Blick auf deine Uhr hat mir dies verraten. Und mache dir um die Fieslinge keine Sorgen, die haben Besseres zu tun, als uns erneut zu ärgern“, lehnte sie seine Begleitung geschickt mit selbstsicherem Lächeln ab, ohne dabei nervös zu wirken. Die Sonne war zwar bereits untergegangen, doch noch immer lag die Hitze, des ungewöhnlich heißen Maitages in der Luft.

„Na gut, hast ja recht… Aber ich begleite dich auf jeden Fall wieder in das Dorf zurück, bis wir wieder unter Menschen sind.“ Gemeinsam liefen die beiden in das Dorf zurück und gedankenversunken beobachtete sie eine Gruppe kleiner Kinder, die noch immer im Freien spielen wollten, aber von den Eltern lautstark nach Hause geschickt wurden. Nachdem Miceyla sich von John verabschiedet hatte, wartete sie bis er außer Sichtweite war und rannte danach auf direktem Wege aus dem Dorf hinaus. Nun war genau das eingetroffen, was alle vermeiden wollten, nämlich das sie alleine durch Harefield irrte. Doch Furcht vor möglichen Gefahren, verspürte sie nicht im geringsten. Und im Augenblick wollte sie alles daransetzen, um ihrem gefühllosen Stiefbruder aus dem Weg zu gehen. Erst jetzt bemerkte Miceyla mit stockendem Atem, wohin sie ihre ziellose Flucht eigentlich gebracht hatte… Sie befand sich in unmittelbarer Entfernung zu jenem Haus, in dem sie ihre traumatische Kindheit verbracht hatte. Für ihr seelisches Wohlbefinden wäre es wohl besser gewesen, wenn sie abrupt kehrt gemacht hätte. Doch eine merkwürdige Neugierde hinderte sie daran. `Das Haus sieht noch genauso heruntergekommen aus, wie vor über einem Jahrzehnt, wenn nicht sogar noch mehr… Ob hier wohl noch jemand lebt…? Aber da es meiner Mutter schon immer finanziell sehr schlecht ging, wird sie garantiert nicht weggezogen sein…`, dachte sie mit einer fröstelnden Gänsehaut und glaubte, in ihrem Frust vollends den Verstand verloren zu haben, da sie eine derart verehrende Dummheit beging… Vorsichtig stieß sie mit einer Hand die geöffnete Haustür auf, welche leise knarzte. Bei ihrem Blick in das düstere Innere, wehte ihr sogleich eine modrige Luft entgegen, die alptraumhafte Erinnerungen in ihr wachrief. Doch sie besaß längst nicht mehr das gebrechliche Herz eines wehrlosen Mädchens, sondern das einer mutigen Kriegerin, welche ihre Augen nicht vor Tod und Leid verschloss. Geräuschlos trat sie herein und hielt dennoch als Vorsichtsmaßnahme ihren Dolch griffbereit. `In der Küche brennt Licht… Also ist tatsächlich jemand hier…` Ihr hämmerndes Herz hinterließ einen krampfartigen Schmerz in ihrer Brust und dennoch ignorierte sie dieses unangenehme Gefühl. Während Miceyla durch das schäbige Haus schlich, glaubte sie selbst

zum Poltergeist zu werden. In ihrer Fantasie hatte sie sich bereits alle möglichen Szenarien ausgemalt, mit welchen sie nun konfrontiert werden könnte. Aber als sie vorsichtig die leicht geöffnete Küchentür aufstieß, war der dortige Anblick so desaströs, dass es zu betäubend wirkte, um die Fassung zu verlieren, Auf dem Boden lag eine gebrechliche Frau, leblos in einer glänzend dunkelroten Blutlache, welche Miceyla augenblicklich als ihre Mutter erkannte. Direkt daneben stand der Täter, des soeben verrichteten Mordes und blickte mit einem blutverschmierten Messer in der Hand, sein Opfer mit einer solchen Genugtuung an, als hätte er gerade seinen schlimmsten Erzfeind niedergestreckt. `Albert… Dem Teufel sind alle Mittel recht, um seinem Hass die freie Entfaltung zu gewähren, die es braucht, damit eine gewaltsam erzwungene Gerechtigkeit erschaffen wird, Dies ist der finstere Weg der Moriartys. Auch ich kann diesen blutigen Pfad niemals mehr verlassen, bis irgendwann der Boden unter meinen Füßen zu bröckeln beginnt und ein pechschwarzer Abgrund mich auf ewig verschluckt…`, dachte sie wie erstarrt, ohne ihr eigenes Schicksal beklagen zu wollen und war selbst in jenem Moment erstaunt darüber, wie robust sie geworden war, dass sogar der Anblick ihrer toten Mutter, sie nicht mehr zu schockieren vermochte. Doch dies war nur ein Zeichen dafür, dass Miceyla von ihr niemals Gefühle der Geborgenheit und Liebe zu spüren bekommen hatte.

„Miceyla meine Liebe, ich hätte nicht erwartet, dass du heute Abend hier auftauchst. Doch umso besser, du darfst Zeuge des größten Geschenks werden, welches ich dir jemals machen konnte… Die Vergeltung für deine grausame Kindheit, soll deinem verwundeten Herzen Frieden bringen. Ich habe es nur für dich getan. Auch wenn du darin einen egoistischen Akt meinerseits siehst, so bitte verurteile zumindest nicht, meine aufrichtige Zuneigung dir gegenüber, die dir bloß das Glück gewähren möchte, welches dir zusteht“, rechtfertigte er seine Schandtat mit sanftmütigen Worten und ließ das Messer aus seiner Hand fallen, welches klirrend direkt neben der Leiche zu Boden fiel. Ohne der toten Frau noch einmal Beachtung zu schenken, lief er gemächlich, zu der wie versteinert wirkenden Miceyla und blieb dicht vor ihr stehen. Sein bittersüßes Lächeln verriet ihr, dass seine Tat, die Erinnerungen an den Mord seiner eigenen Mutter in ihm wachrief. `Ich bin umgeben von Monstern… Todesengel, die ihre Reinheit abgelegt haben und vom Himmel in die Hölle herabgestiegen sind, um dort mit dem Schwert der Gerechtigkeit, über alle dort herumlungernden Sündiger zu richten… Und ich befinde mich mittendrin, werde mitgerissen von einer reißenden Strömung, bei der es aussichtslos ist, dagegen anzukämpfen. Wer wird uns am Ende noch als Helden anerkennen…? Und dennoch… Es ist die Verwirklichung unserer Träume, welche uns jeden Tag aufs Neue antreibt. Und für dieses edle Ziel, müssen wir uns niemals rechtfertigen… Auch das wärmende Gemeinschaftsgefühl, wird eines Tages von mir Abschied nehmen, darum darf ich mich selbst nicht unterkriegen lassen. So lautet die wohl härteste Bewährungsprobe meines Lebens…`, dachte Miceyla und spürte eine Entschlossenheit in sich aufflammen, die stärker war als je zuvor.

„Ich bin zutiefst darüber schockiert, was für eine überflüssige Tat, du während unserer Mission in Harefield verrichtet hast. Aber ich verurteile dich nicht für deinen starken Gerechtigkeitssinn und dein grenzenloses Einfühlungsvermögen mir gegenüber, was mir beweist, dass du aus Liebe zu mir, jedes noch so große Opfer bringen würdest… Nun werde ich sie wirklich begraben, meine triste Vergangenheit, ohne dabei weitere Tränen zu vergießen. Denn der See aus meinen bisher vergossenen Tränen, ist längst randvoll. Bleibe bitte bis zum Schluss mein geliebter großer Bruder, der mir Halt gibt, sich meine Sorgen anhört und mir jeden Brief beantwortet. So wird auch deine geliebte kleine Schwester, dir stets treu bleiben…“, sprach Miceyla mit felsenfester Stimme und schaffte es aber nur, ihre Lippen zu einem müden, kläglichen Lächeln zu bewegen.

„Genau das war es, was ich mir gewünscht habe von dir zu hören… Ich mag dich nicht leiden sehen, auch wenn sogar ich nicht dazu befähigt bin, jegliches Leid von dir fernzuhalten. Lache, meine bezaubernde Eisblume. Kein Lachen ist so schön und rein wie das Deine. Und vergiss nicht, all die durchlebte Trauer macht dich noch stärker und schöner… Ein Glück bist du nicht meine blutsverwandte kleine Schwester. Denn so ist es mir erlaubt, dir nicht nur ein treuer großer Bruder zu sein, sondern kann dir auch all die unvergleichbar tiefgründigen Gefühle entgegenbringen, welche ein Mann nun mal für die Frau die er liebt empfindet…“ Während Albert mit einer unsagbar zärtlichen Stimme sprach, beugte er sich langsam zu ihrem Gesicht hinab. Miceyla glaubte, dass nun wieder jene Geste folgen würde, bei der er seinen Finger auf ihre Lippen legte und ihn anschließend mit den seinen küsste. Daher stellte sie sich bereits darauf ein und hielt es für überflüssig, eine verwunderte Reaktion zu zeigen. Doch als sie seine weichen Lippen, tatsächlich auf den ihren vernahm, wusste sie weder was für neuartige Emotionen sie in dem Moment empfand, noch wie sie sich verhalten sollte. Sie war zu überrumpelt und ließ es einfach geschehen. Trotzdem besaß Miceyla nicht den Mut seinen Kuss zu erwidern, auch wenn er sie so liebevoll und sinnlich küsste, damit sie nicht das Gefühl bekam, überfallen zu werden. Nicht lange brauchte es, da löste Albert sich wieder von ihren Lippen und sie schmiegte leicht verwirrt ihren Kopf an seine Brust, um ihm nicht ins Gesicht blicken zu müssen. Während seine Hand zärtlich über ihren Rücken streichelte, schloss sie kurz die Augen und verglich den gerade erlebten Kuss, mit einem von Williams Küssen. Dabei erkannte sie sofort, dass sie bei Albert nicht wirklich jenes glühende, berauschende Gefühl empfand, welches sie bei William verspürte. `Verzeih mir, mein großer Bruder… Aber meine beflügelnde Liebe, welche ich William geschenkt habe, werde ich dir niemals geben können… Jedoch… Der Moment war gerade vielleicht einfach nur unpassend für einen Kuss…` Ehe Miceyla sich zu sehr in ihren Gedanken verlor, wagte sie ihm wieder mit schüchternem Blick in das Gesicht zu sehen. Während er nur melancholisch lächelte, verharrten sie beide für eine Weile schweigsam miteinander. Doch die Ereignisse des turbulenten Tages in Harefield, tobten zu sehr in ihrem Kopf, um eine friedliche Idylle genießen zu können. Und als sie nicht verhindern konnte, noch ein letztes Mal flüchtig die Leiche ihrer Mutter zu betrachten, wusste sie das es höchste Zeit war, diesen schrecklichen Ort zu verlassen. Und aufgrund ihrer starken Sehnsucht nach William, begann sich ihr Herz immer mehr zu verkrampfen.

„Albert… Ich habe da noch eine Bitte… Um die heutige Mission auf perfekte Weise ausklingen zu lassen, wie es für uns Moriartys würdig ist, sollten wir, ehe wir dem Dorf Lebe wohl sagen, dieses Haus noch niederbrennen. Lass uns all das Übel ohne Überreste vernichten. In den lodernden Flammen, wird die Finsternis restlos verschwinden. Was übrig bleibt ist eine neue Hoffnung, die den Weg in eine lange Zukunft ebnet…“, sprach Miceyla nun wieder wesentlich gefasster und sein dezent hochmütiges Lächeln war der Beweis, dass er nur darauf gewartet hatte, dass sie dies sagen würde.

„Dein Wunsch ist mir Befehl, meine Liebe. Du brauchst dich nicht vor dem zerstörerischem Feuer zu fürchten. Überwinde deine Ängste und es kann zu deinem nicht mehr wegzudenkenden Retter werden. Nun wirst du niemals mehr dazu gezwungen, hierher zurückzukehren, denn dein Zuhause ist bei uns…“, verkündete Albert gutmütig, nicht nur um den Abschluss ihres Auftrags einzuläuten, sondern auch zum endgültigen Abschieds Miceylas Vergangenheit. So entfernten sich die zwei Seite an Seite von dem alten Haus, welches nun hinter ihnen in grellen, knisternden Flammen aufging. Sobald der nächsten Morgen hereinbrach, würde es komplett niedergebrannt sein…

„Miceyla!“ Wachgerüttelt, als jemand aus der Ferne ihren Namen rief, lief sie unruhig umher, während sie mit Albert am vereinbarten Treffpunkt, etwas abseits des Dorfes Harefield wartete. Fred rannte vorneweg, ein Stück hinter ihm folgte William mit Moran und Louis bildete das Schlusslicht.

„Dir geht es gut, welch ein Glück! Ich habe geahnt, dass wir die Attentäter besser nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten… Im Anwesen des Grafen, ist keiner von denen leider mehr aufgetaucht. Folglich sind die Auftragsmörder immer noch auf freiem Fuß. Ich hätte ihre Fährte aufgenommen, aber Will war dagegen…“, begann Fred aufgeregt zu erzählen und musterte mit Schuldgefühlen, die weißen Verbände an ihren Handgelenken.

„Wir haben alle getan was wir konnten. Deshalb mache dir bitte keine allzu großen Vorwürfe. Ich bin ebenfalls froh, dass es dir gut geht, Fred“, meinte Miceyla beschwichtigend, doch ihr zweifelnder Gesichtsausdruck, als die Gruppe wieder vereint war, wirkte alles andere als beruhigend.

„Genau Fred, wir haben unser Ziel erreicht und mussten auf keinen Ausweichplan zurückgreifen. Daher war unsere Mission ein voller Erfolg. Ich darf euch allen feierlich ein Lob aussprechen!“, bestätigte William mit stolzem Lächeln, dass der Auftrag in seinen Augen glimpflich vonstattenging, Miceyla wollte ungeduldig zu ihm eilen, doch ein wütend aussehender Moran stapfte auf sie zu und baute sich in seiner vollen Größe vor ihr auf.

„Was sollte der Mist, Miceyla?! Hatte ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt als ich sagte, dass du Harefield nicht auf eigene Faust durchforsten sollst? Wieso hast du dich von Louis getrennt? Er will sich selbst dazu nicht äußern, pah! Was soll das ganze kindische Gehabe?! Begreift ihr denn nicht, dass euer Leben am seidenen Faden hängt, wenn ihr solch einen dämlichen Zirkus veranstaltet?!“ Stillschweigend hörte Miceyla sich Morans Standpauke an und anstatt zu schmollen, blickte sie ihn verständnisvoll an. `Wie würde er sich wohl verhalten wenn er wüsste, dass Louis mich meinem Schicksal überlassen hat…? Ich kann die Wahrheit nicht vor allen laut aussprechen, dies würde nur zu einer verheerenden Spaltung, innerhalb unserer Gruppe führen. Früher oder später wird es sowieso ans Licht kommen, falls William nicht längst darüber im Bilde ist… Welche Seite er dann wohl verteidigt? Habe ich überhaupt gegen das unzertrennliche Band zweier Brüder eine Chance…?`, dachte sie geknickt und hatte im Augenblick keine zufriedenstellende Antwort für Moran parat. Dieser seufzte nachgebend und tätschelte mit einer sanfteren Miene ihren Kopf.

„Ich kann es gar nicht leiden, wenn du mir so einen Schrecken einjagst, das weißt du doch! Sehen wir zu, dass wir beim nächsten Mal wieder Missionspartner sind,“ Seine Worte spendeten ihr ein wenig Trost, doch als sie der Anziehungskraft, von Louis‘ schaurigem Blick nicht nachgeben konnte und ihm direkt in die Augen sah, meinte sie unzählige Messerstiche würden ihr Herz durchbohren. Derart schmerzhafte Folgen, hatte nun ihre Konfrontation mit ihm. Der Gruppe entging nicht, die angespannte Stimmung zwischen ihnen beiden und eine unerträgliche Stille verstärkte ihr unbehagliches Gefühl nur noch mehr. Fred blickte voller Sorge erst zu Louis, dann wieder zu Miceyla. Die rätselhaften Blicke, welche Albert und William miteinander austauschten, waren für sie mal wieder nicht wirklich zu deuten. Sie hielt das alles nicht mehr länger aus und flüchtete sich in Williams schützende Arme, woraufhin er sie mit wehmütigem Lächeln an sich drückte. Noch ehe er schlichtende Worte sprechen konnte, die sie momentan nicht besänftigen würden, kam sie ihm zuvor.

„Du…hättest mich besser mit Sherlock zusammen nach Harefield schicken sollen…“ Nach ihrer Aussage, in der sich die Frustration über den langen Tag in ihrem Heimatdorf widerspiegelte, blickte William erstaunlicher Weise verdrießlich drein, was sie etwas

irritierte. Schließlich ist es seiner eigenen Absicht entsprungen, sie beide als Duo für schwierige Fälle einzusetzen. Doch im Augenblick war sie zu erschöpft, um weitere Details darin hineinzuinterpretieren… Eigentlich war es Miceylas Wunsch gewesen, Harefield so schnell wie möglich zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Aber was würde sie wohl dort erwarten? Für Miceyla war es sicherlich nicht möglich, sowohl mit Louis, als auch mit Albert umzugehen, als sei nichts geschehen. Sie wollten alle gemeinsam die Ungerechtigkeit des Klassensystems aus der Welt verbannen und schlugen sich dabei dennoch, mit der Problematik zwischenmenschlicher Beziehungen herum. Über die Ironie welche sich dabei verbarg, sollte sie eigentlich schmunzeln können.

Während der Heimfahrt, berichtete William nur noch, dass Harefield nun in guten Händen sei und an den darauffolgenden zwei Tagen, pendelte sich der für Miceylas Verhältnisse gewöhnliche Alltag wieder ein. Das jeder nach wie vor sehr beschäftigt war, hatte wie immer seine Vorteile. Und im Gegensatz zu ihren Befürchtungen, fiel es ihr in keiner Weise schwer, mit Albert weiterhin einen normalen Umgang zu pflegen. Doch es war für jeden absehbar, dass die Geschichte zwischen Miceyla und Louis ein böses Ende nehmen sollte… Sie fand es zwar albern, bittere Angst vor einer Situation zu haben, bei der sie mit ihm alleine wäre, aber nichtsdestotrotz war es besser, sich mental dafür zu wappnen. Und bereits am dritten Tag nach ihrer Mission in Harefield spürte sie, dass ihr jene brenzlige Konfrontation, von Angesicht zu Angesicht mit Louis, kurz bevorstand. Alle waren außer Haus und Louis kam nicht drumherum, etliche liegengebliebene Verwaltungsaufgaben zu erledigen. Miceyla nutzte die Gelegenheit, um den ganzen Abend im Theater zu verbringen. Jedoch war sie gezwungen früher zu gehen als sonst, da sie keinen Begleitschutz erhalten würde. Daher konnte sie einfach nur hoffen, dass William oder Albert bereits im Anwesen war oder Louis zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt war, um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Natürlich musste sie der neugierigen Amelia, noch die komplette Geschichte ihres Aufenthalts in Harefield erzählen. Eigentlich konnte sie mit ihr jegliche Geheimnisse teilen, doch selbst vor ihr verschwieg sie die ganze Wahrheit. Und der Reim, welchen sich Sherlock nun aus Johns Berichterstattung machte, schenkte ihm bestimmt ein weiteres fehlendes Puzzleteil… Das Ticken der Zeit wurde immer lauter und der Anfang vom Ende rückte bedrohlich näher… Doch sich ewig über alles zu sorgen, war Gift für die Lebensfreude und deshalb schloss Miceyla mutig die Tür des Anwesens auf und schritt unbeirrt die Treppe zum Schlafzimmer empor. Wenn sie einfach etwas zeitiger zu Bett ging und vorgab zu schlafen, würde sie schon in Ruhe gelassen werden. Jedoch wurde Miceyla die Chance, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen jäh geraubt, als Louis wie ein Geist auf dem Flur des ersten Stockwerks erschien und ihr demonstrativ den Weg versperrte. Kurz zuckte sie etwas verschreckt zusammen und beharrte dennoch darauf das es irrsinnig war, sich vor seiner Präsenz zu fürchten.

„Ich bin müde Louis, lass mich bitte einfach durch. Außerdem will ich dich nicht von deiner wichtigen Arbeit abhalten. Lass mich nicht der Grund sein, weshalb du nicht fertig wirst“, meinte sie mit einem belanglosen Unterton. Doch Louis rührte sich keinen Millimeter von der Stelle und seine Augen bekamen einen bösartigen Glanz, der mit der Glut eines glühenden Feuers vergleichbar war.

„Du bist längst der Grund, warum keiner von uns mehr vernünftig mit seiner Arbeit vorankommt. Und wenn Willams Pläne, aufgrund seiner Rücksichtnahme dir gegenüber ins Stocken gerät, trägst du die Schuld daran. Aber ich kann nicht zulassen, dass du das zerstörst, was wir uns in all den Jahren härt erkämpft haben. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn du uns Moriartys den Rücken gekehrt und dich Sherlocks Detektivarbeit angeschlossen hättest. Dies wäre London sicher zugutegekommen und war anfangs sogar im Sine meines klugen Bruders Will. Stell dir vor… Jedoch scheint mir, dass er die Absicht seines Vorhabens nochmal zu überdenken versucht. Dann muss eben ich derjenige sein, der zur Tat schreitet. Ich bin dazu verpflichtet, meinen Bruder so gut es nur geht zu unterstützen. Meine Hände sind längst mit Blut befleckt, da kommt es auf ein weiteres Opfer nun auch nicht mehr an. William, Albert und ich verzeihen uns gegenseitig jedes Vergehen. Ich persönlich habe nichts gegen dich, aber die Umstände machen es unmöglich, dir einen Platz in unserem Leben zu gewähren…“, sprach Louis unheilvoll und um seinem Entschluss Ausdruck zu verleihen, zückte er ein glänzendes Messer, welches Miceyla ungläubig beäugte.

„Louis… Deinem Hass mir gegenüber sind wirklich keine Grenzen gesetzt. Du steigerst dich da ganz schön hinein. Du überschätzt dein Treueverhältnis zu Will und Albert. Glaubst du, wenn du mich hier mitten im Anwesen ermordest, wird alles wieder so sein wie vor meinem Einzug und ich gerate in Vergessenheit? Nur zu, du wirst erfahren was geschieht, sobald du dein egoistisches Werk vollbracht hast. Du hättest vielleicht längst mal mit deinen Brüdern, über deine Ängste und Sorgen sprechen sollen, anstatt alles in dich hineinzufressen und dem Wahnsinn zu verfallen. Wahrscheinlich grämt es dich auch, dass du schwächer bist als die beiden und dein Beitrag nicht mit unserem ebenbürtig ist. Es gibt nichts schmerzhafteres, als die bittere Wahrheit. Und nur Menschen mit einem anständigen Verstand können sie vertragen, doch den scheinst du ja nicht zu besitzen!“, warf sie ihm in ihrer Wut und Verzweiflung provozierende Worte an den Kopf, wobei ihre Stimme immer lauter wurde. Louis begann nun vor Zorn innerlich zu beben und war kurz davor zu explodieren.

„Du…du Ungetüm in Form eines blendenden Weibsstück! Ich will dein grässliches Antlitz hier niemals mehr erblicken! Ich zerstückle dich so lange, bis deine Leiche nicht mehr zu identifizieren ist!“, schrie Louis und setzte seinen Wutanfall fort, indem er mit seinem Messer vorneweg auf sie zustürmte. Im selben Moment öffnete sich die Eingangstür und William, Albert und Moran, welche allesamt gleichzeitig das Anwesen betraten, verfolgten mit entsetzten Blicken, die erschütternde Szene oberhalb der Treppe.

„Miceyla… Louis…“, sprach William in einem Flüsterton, ohne sich einen Funken Panik anmerken zu lassen und hielt Albert zurück, der hinaufstürmen und dazwischengehen wollte.

„Diesen Streit müssen die beiden alleine ausfechten, sonst wird er nie zu einem Ende kommen“, rechtfertigte William sich, doch Albert schien dafür nur teilweise Verständnis zu empfinden.

„Oha… Bei den zwei fliegen nun endgültig die Fetzen…“, murmelte Moran und wartete ebenfalls darauf einzugreifen, um ein Familiendrama zu verhindern. Miceyla und Louis schenkten den dreien keinerlei Beachtung und führten ihre Auseinandersetzung ohne Ablenkung fort. Sie machte keine Anstalten, seinem direkten Messerangriff auszuweichen und hoffte ihren sinnlosen Zwist, noch im allerletzten Augenblick mit Vernunft stoppen zu können.

„Hast…hast du jemals darüber nachgedacht, dass Sherlock und ich vielleicht die einzigen sind, welche William retten könnten?“ Bei ihrer unerwarteten Aussage hielt Louis abrupt inne, als die Messerspitze sie um ein Haar unterhalb des Halses berührt hätte. Ihre Worte schienen dieselbe Wirkung, wie ein mächtiger Fluch auf Louis zu haben, denn er blickte ihr, unschlüssig darüber was er als nächstes tun oder sagen sollte, direkt in die Augen. Das er sich so leicht beeinflussen ließ war der Beweis, dass es ihn selbst in Wirklichkeit missfallen hätte, den Familienfrieden mit einer Schandtat zu zerstören. Dennoch war Miceyla nach wie vor aufgewühlt und ertrug all die Intrigen um sich herum nicht länger.

„Mordet…mordet so viel ihr wollt! Am Ende vernichtet ihr euch damit nur selbst! Bei der verzweifelten Suche nach Gerechtigkeit, kommt niemand an ein zufriedenstellendes Ziel, weil sie nicht erzwungen werden kann und nie wirklich existieren wird! Macht nur weiter ihr Heuchler, denn bei Sherlocks scharfsinnigen Verstand, seid selbst ihr machtlos! Und wenn ich hier scheinbar unerwünscht bin, verschwinde ich am besten einfach!“, schrie Miceyla von etlichen negativen Emotionen gepackt, dabei stürmte sie die Treppe hinunter und verließ kurzerhand das Anwesen. Auf dem Weg schenkte sie keinem der drei Beachtung und wollte gerade nur so weit wie möglich weg.

„Miceyla!... Wenn sie um diese Uhrzeit ziellos und unaufmerksam durch die Gegend irrt, ist sie in Gefahr, daher folge ich ihr“, meinte Albert besorgt, doch diesmal war es Moran der ihn aufhielt.

„Das lass mal lieber bleiben! Ihr habt es euch doch alle selber eingebrockt, dass die Ärmste nicht mehr weiß wo ihr der Kopf steht. Ich wiederhole es gerne immer wieder. Gerade du solltest auch mal dein Verhalten ihr gegenüber reflektieren, `werter großer Bruder`. Oh Mann, ständig dieselbe Laier, welche mich dazu zwingt, hier den `vernünftigen Erwachsenen` spielen zu müssen. Am besten redet mit Miceyla mal eine `neutrale Person`, die sie wieder aufbaut. Sprich, `ich` folge ihr“, konterte Moran und warf Louis noch einen kritischen Blick zu, ehe er ebenfalls aus dem Anwesen rannte. Albert seufzte nur, als William ihm flüchtig mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck hinterher sah. Louis stand noch immer oberhalb der Treppe und starrte wie in Trance zu Boden. Allmählich kühlte seine brennende Wut wieder ab und er begann Abscheu sich selbst gegenüber zu empfinden, für das was er hatte tun wollen. Weder sanft noch argwöhnisch, betrachtete William seinen jüngeren Bruder.

„Weißt du Bruderherz, Miceyla und Louis sind sich unheimlich ähnlich. Nicht nur weil beide äußerst eifersüchtige Menschen sind. Die Einsamkeit hat nun mal Eifersucht zur Folge. Wer zuerst mit der eigenen Person im Reinen ist, kann auch die verwirrenden Gefühle seines Gegenübers nachvollziehen. Wenn die zwei ihren Konflikt eigenständig schlichten, wird ihr Vertrauen zueinander grenzenlos ansteigen. Und nicht bloß die zwei sind es, welche etwas miteinander regeln sollten, stimmts?“, sprach William mit einem Augenzwinkern an Albert gewandt, der daraufhin seinen eigenen Unmut, hinter einem gütigen Lächeln verbarg. William schritt nun gemächlich die Treppe empor und lief, ohne Louis eines Blickes zu würdigen, an ihm vorbei.

„Heute bist du selbst zum Abbild jener Verdorbenheit geworden, die wir alle abgrundtief verabscheuen. All deine negativen Gefühle haben von dir Besitz ergriffen. Wenn du auch nur einmal zulässt, dass sie dich kontrollieren, kann selbst ich dich nicht mehr von ihnen befreien, Und das zwei herzensgute Seelen, wie Miceyla und du sich bekriegen, enttäuscht mich nicht nur, sondern macht mich auch sehr traurig…“, erinnerte William ihn noch verdrießlich und ermahnend zugleich. Nun brach für Louis vollends die Welt zusammen, als sein Bruder das erste Mal, mit solch einer verletzenden Kälte zu ihm sprach und zu spät begriff, was für einen fatalen Fehler er begonnen hatte…

Miceyla wollte sich an einen Ort flüchten, an dem sie ihre Ruhe hatte und so schnell niemand finden würde. Daher traf ihre Wahl, auf die kleine Hütte bei ihrem Trainingsplatz im Wald. Wehmütig betrachtete sie das Türschild, auf dem `Himmelszelt-Helden` stand und verkroch sich in die hinterste Ecke der dunklen Hütte. Zusammengekauert dachte sie in ihrem elendigen Zustand darüber nach, wie es nach ihrer heftigen Auseinandersetzung mit Louis weitergehen sollte. Das Verhalten eines jeden aus ihrer verbündeten Gemeinschaft war letztendlich entscheidend, um einander verzeihen zu können. Doch war dies überhaupt möglich? Wenn nicht, blieben all ihre gemeinsamen Ideale, auf ewig nichts weiter als eine utopische Illusion. Aber noch ehe sie tiefer in ihrer düsteren Gedankenwelt versinken konnte, öffnete sich leise quietschend die Holztür. `Nein! Lasst mich alle in Ruhe! Ich habe momentan nicht die passenden Worte für Will oder Albert parat…`, dachte Miceyla verschreckt. Allerdings machte sich in ihr eine seltsame Erleichterung breit, als sie Moran erkannte.

„Hey, ist in diesem Zufluchtsort noch Platz für einen einsamen Wanderer, der sich im Wald verirrt hat?“, begrüßte er sie mir einem seiner spielerischen Scherze zur Aufmunterung, der bei ihr sofort Anklang fand.

„Nun… Für ein Mitglied der Himmelszelt-Helden, ist hier immer ein Platz reserviert. Wir halten schließlich zusammen!“, erteilte sie ihm schmunzelnd die Erlaubnis einzutreten.

„Hört, hört, ich gehöre jetzt also offiziell zu jener besonderen Truppe. Ich fühle mich geehrt!“, meinte Moran während er hereintrat und sich neben Miceyla auf den Boden gesellte. Kurz herrschte Schweigen, da auch er es ernst nahm, auf eine angemessene Wortwahl zu achten und erinnerte sich kurz an sein Gespräch mit William in Harefield.

„Nehme es mir bitte nicht übel, aber nach einem derart stürmischen Streit, ist es nicht gut alleine zu sein. Ich kenne dich, du grübelst solange, bis du weder ein noch aus weißt. Wie du nun am eigenen Leib erfahren hast, existiert die perfekte Familie nicht. Kommt eben schon mal vor, dass der Familiensegen schief hängt. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig gleich einen Weltuntergang bedeuten. Louis‘ Verhalten war gewaltig daneben, aber… Eifersucht kann der Ursprung allem Übel sein. Was sind dadurch in der Vergangenheit, nicht schon ganze Nationen zugrunde gegangen… Wenn die eigenen Gefühle einen innerlich zerfressen und nicht auskommuniziert werden, wird dies zum Problem der gesamten Menschheit. Wer glaubt einen reinen Geist zu besitzen und immun gegen jene negative Emotion zu sein, ist ein Narr. Wird sie erst einmal geweckt, verschwindet sie so schnell nicht mehr. Manchmal wird dadurch die loyalste Person, zum untreuen Verräter. Und manchmal, kann Eifersucht das Feuer in einem Krieg schüren und gleichzeitig den Frieden in einem Konflikt einläuten… So lautet die Moral von der Geschichte… Tja, was soll ich zu der ganzen Tragödie noch sagen. Stell dir vor, der Kasper Clayton hätte das alles mitbekommen. Du würdest die Szene direkt am nächsten Tag auf der Bühne zu sehen bekommen. Hier gibt es einige, die sich zu leicht von so etwas inspirieren lassen…“, sprach Moran ungewohnt einfühlsam, was ihr aber gerade sehr gut tat.

„He, he… Du kannst ja ab und zu richtig väterlich sein. Wer hätte das gedacht… Danke, Moran…“, sprach Miceyla sanft und lächelte ihn dankbar an.

„Na hör mal! So alt bin ich jetzt nun wirklich nicht, dass du in mir eine Vaterrolle sehen könntest! Wie soll ich mich dabei denn fühlen?! Wenn schon, dann doch lieber einen großen Bruder“, erwiderte Moran und wirkte fast etwas verlegen, als er sich mit der Hand durch seine schwarzen Haare fuhr.

„Ha, ha! Ich denke zwei Brüder die mich auf Trapp halten reichen mir. Du bist und bleibst für immer mein Meister!“, sprach sie mit einem breiten Grinsen und ein kleiner Teil ihres Unmutes war bereits verflogen.

„Das wollte ich hören! Und du bleibst mein unbeugsamer Wirbelwind, der mit mir durch dick und dünn geht! Übrigens bin ich mächtig stolz auf dich. Du gehörst jetzt zum Militär, gut gemacht, Kamerad! Wenn es jemanden gibt, der an seiner Soldatenehre festhält, dann Harley. Soll was heißen, wenn sogar ich das sage… Aber lass uns nicht vom Thema abschweifen. Schau nur, jetzt hast du dir bei deiner hektischen Flucht durch den Wald, dein schönes Kleid ruiniert“, bemerkte Miran ablenkend und deutete mit dem Zeigefinger auf ihr leicht zerrissenes Kleid.

„Ist nicht weiter schlimm. Materielle Dinge sind schließlich ersetzbar, nicht wahr? Du…mir ist noch nicht danach zumute, direkt wieder in das Anwesen zurückzukehren. Hättest du etwas dagegen, die Nacht für eine extra Trainingseinheit zu nutzen? Ich finde es auch unglaublich, wie unbemerkt du dich von draußen an die Hütte herangepirscht hast. Ich habe nicht das leiseste Geräusch gehört, bevor du die Tür öffnetest. Und du weißt wie scharf mein Gehör ist“, sprach Miceyla beeindruckt und entschied sich dafür, noch etwas Zeit außerhalb des Anwesens zu verbringen, bis sie wieder neue mentale Stärke gesammelt hatte.

„Na aber klar doch! Für ein spontanes Training bin ich immer zu haben. Und das unbemerkte Heranschleichen, ist nun mal mein Spezialgebiet. Vor mir ist kein Feind sicher, he, he!“

Der nächste Morgen kam natürlich viel zu schnell und obwohl Miceyla nach ihrem Training ausgepowert genug gewesen war, um noch ein paar Stunden in der kleinen Waldhütte zu schlafen, fühlte sie sich alles andere als erholt und bereit, einer erneuten Konfrontation mit Louis ins Gesicht zu blicken. Doch all das verunsicherte Zögern half ihr nicht weiter, wenn sie mit ihm weiterhin friedlich unter einem Dach leben wollte. Zum Glück hinderte Moran sie daran, einen erneuten Rückzieher zu machen und plädierte dafür früh genug aufzubrechen. Im Anwesen sprintete Miceyla als erstes nach oben in das Badezimmer, um sich zu waschen und neu einzukleiden. Denn sie wollte nicht wie ein wildes Waldungeheuer herumgeistern. Der Gedanke das Sonntag war und alle gemeinsam Zeit für eine Versöhnung nutzen konnten, beruhigte sie etwas. Und da sie sich so schnell wie möglich ein harmonisches Zusammenleben, mit den Menschen die ihr unheimlich ans Herz gewachsen waren herbeisehnte, lief sie als sie fertig war gleich wieder hinunter. Im Wohnzimmer wurde Miceyla direkt von William und Albert in Empfang genommen. Beide lächelten sie so liebevoll und besänftigend an, dass sie verlegen ihren Blicken auswich.

„Guten Morgen, mein Liebling. Draußen im Garten wartet jemand auf dich, der gerne mit dir sprechen möchte“, begrüßte William sie herzlich und legte ermutigend einen Arm um sie.

„Danach frühstücken wir alle zusammen. Es gibt auch deinen Lieblingserdbeerkuchen. Aber redet nur in Ruhe miteinander, ich werde solange den heiligen Kuchen, mit vereinter Kraft vor unserem gierigen Moran beschützen, versprochen“, fügte Albert noch gutmütig hinzu und sein kleiner Scherz, entlockte Miceyla ein zaghaftes Lächeln. Jene vertraute behagliche Wärme, begann sogleich wieder ihr Herz zu umhüllen, als sie von diesen zwei liebevollen Menschen umgeben war. Auch Louis gehörte für sie mit dazu und nach allem was sie gemeinsam durchgestanden hatten, wünschte sie sich nichts mehr, als endlich einen anhaltenden Frieden mit ihm zu schließen. Bei dem was in Zukunft noch auf sie zukommen würde, war für Streitigkeiten kein Platz. Bestärkt von Williams und Alberts warmherziger Güte, lief Miceyla langsam hinaus, in den von der warmen Maisonne belichteten Garten. Dort kümmerte sich Louis, gedankenversunken um die farbenfrohe Blumenpracht. Als sie in seinen Blickwinkel trat und er sie entdeckte, ließ er augenblicklich seine Arbeit ruhen und sein bleiches Gesicht wirkte geknickt und verzagt. Ein Stück vor dem Blumenbeet, in welchem Louis stand, blieb sie stehen und wartete ein wenig nervös darauf, dass er ein Gespräch beginnen würde.

„Miceyla… Du bist wieder hergekommen, obwohl ich alles darangesetzt habe, um dich von hier zu vertreiben… Wenn du uns an Sherlock verraten und an diesem Morgen, dass gesamte Militär des britischen Empires vor der Tür gestanden hätte, wäre meine egoistische Dummheit wohl gerecht bestraft worden… Ich bin nicht viel besser als die Menschen, welche dir bisher in deinem Leben Leid zugefügt haben. Somit akzeptiere ich als Strafe deinen Hass für meine Untaten und verwehre mir selbst das Recht, dich um Vergebung zu bitten. Aber ich bitte dich, meinen ehrlich gemeinten Worten Glauben zu schenken. Und ich werde an mit arbeiten und mich ändern, dafür ist es nie zu spät, schließlich streben wir alle eine positive Veränderung an. Das tue ich nicht bloß für William, sondern um meiner selbst willen. Denn um einer bedingungslosen Nächstenliebe nachzukommen, muss zu allererst so etwas wie Selbstliebe und Eigenverantwortung vorhanden sein. Das ich mich die meiste Zeit über, selbst nicht richtig leiden konnte, ist mir jetzt bewusst geworden. Meine Unterstützung ist ein wertvoller Bestandteil, von Williams meisterlichen Plänen. An dieser Stelle muss ich mich auch mal aufrichtig für deine tatkräftige Mitwirkung danken. Für jeden von uns hast du gleichviel getan, ohne dabei etwas oder jemanden zu bevorzugen. Du bist wahrlich ein Vorbild für eine ausgeglichene Gerechtigkeit… Und es stimmt… Ganz besonders für William bist du ein strahlendes Licht, das ihm Kraft auf seiner schweren Reise schenkt und das Gefühl vermittelt, dankbar für ein Leben auf dieser Welt zu sein. Daher ist es mein Wunsch, dass unsere Reise nicht vorzeitig, durch eine irrsinnige Unterbrechung ihr verfrühtes Ende findet, sondern das wir uns noch sehr lange, als zusammenhaltende Familie Moriarty unterstützen und auf Augenhöhe unseren weiteren Lebensweg bestreiten. Ich hoffe du akzeptierst meine Bitte und bist ebenfalls dazu bereit, einen Neuanfang mit mir zu wagen. Und…falls ich irgendetwas dafür tun kann, um meine Schuld gegenüber John zu begleichen, so lasse es mich bitte wissen. Ich bin bereit alles zu tun, solange es sich im Rahmen des Möglichen hält…“ Louis‘ unverstellte Entschuldigung, raubte ihr beinahe den Atem und sie konnte mit absoluter Sicherheit sagen, dass er dies gerade nicht für William tat, sondern seine Worte der puren Einsichtigkeit entsprangen und ihr gewidmet waren. Es kam nicht oft vor, dass Louis sich so offenherzig und gütig zeigte, da er seine sanfte Seite, immerzu hinter einer unnahbaren Fassade versteckte. Und aus diesem Grund rührte es Miceyla zu Tränen, auch wenn sie beide nach wie vor weit davon entfernt waren, sich wie Bruder und Schwester fühlen zu können. Dennoch schien es ein hoffnungsvoller Schritt, in die richtige Richtung zu sein.

„Ich…ich danke dir aus tiefstem Herzen, Louis. Deine beschwichtigenden Worte, sind wie eine heilende Medizin für meine verwundete Seele. Auch ich bin nicht gerade nett zu dir gewesen… Ich hasse dich nicht, denn du bist mir sehr wichtig. Wir haben zusammen bereits so viele schöne Momente erlebt und gemeinsam gelacht. Wie könnten wir all das ganz plötzlich vergessen? Klar, wir haben es nicht immer leicht, aber besonders in schwierigen Zeiten müssen wir füreinander da sein, sonst verliert einer von uns ganz leicht den Halt unter seinen Füßen. Lass uns deshalb nach vorne blicken. Du weißt doch, dass die Gutherzigen das Böse bezwingen müssen!“, sprach sie freundlich und konnte endlich wieder unbeschwert lächeln.

„Natürlich, dies werde ich garantiert niemals vergessen“, erwiderte Louis und wirkte nun ebenfalls so erleichtert wie Miceyla. Kurz blickte sie in die glücklichen Gesichter von William, Albert, Moran und sogar Fred, die allesamt ihre Versöhnung vom Wohnzimmer aus beobachtet hatten. In dem Moment erkannte sie, dass ihre Mission in Harefield, den Familienfrieden zwar vorübergehend zerstört, doch sie alle im Endeffekt noch enger zusammengeschweißt hatte. `Hast du das mal wieder vorausgesehen, Will? Und mich daher ganz bewusst mit Louis in Harefield allein gelassen…? Auch wenn die Geschichte noch mal gut ausgegangen ist, war das ganz schön riskant… Mein sensibles Herz wird sich wohl niemals daran gewöhnen können… Du bist und bleibst mein grausamer Verfechter der Gerechtigkeit…`, dachte sie mit einem leisen Seufzen und lief mit Louis Seite an Seite, zu dem einladend gedeckten Frühstückstisch.
 

„Manchmal…fällt es mir unsagbar schwer, meine Gedanken in Worte zu fassen. Wie soll ich mich der Welt mitteilen, wenn meine Gefühle im Herzen eingeschlossen und meine Lippen versiegelt sind…?“ Miceyla stand in einem prachtvollen Kleid auf der hell erleuchteten Bühne und spielte ihre Rolle wie immer überzeugend und authentisch. Doch an jenem Abend fühlte sie sich gar nicht gut. Ihre Haut glühte, als hätte sie Fieber und ihr war furchtbar übel. Das enge Korsett unter ihrem Kleid begünstigte dies noch. Das Publikum glaubte, die längere Pause sei Teil des Stücks und bemerkte daher nicht, dass sie längst mit ihrem Text hätte fortfahren müssen. Doch allmählich wurde ihr so schwindelig, dass es ihr die Kraft zu sprechen raubte. Urplötzlich sah sie dann alles nur noch schwarz und sackte mitten auf der Bühne ohnmächtig zusammen. Ein bestürztes Raunen ging durch die Zuschauermenge, die langsam Wind davon bekam, dass etwas nicht stimmte. Clayton hechtete geschwind die seitliche Treppe der Bühne hinauf und eilte zu der am Boden liegenden Miceyla.

„Lasst den Vorhang runter! Wir brechen das Stück ab! Die Tänzer sollen sich bereit machen als Lückenfüller!“, rief er eindringlich und trug sie behutsam in seinen Armen von der Bühne zur Umkleidekabine, wo es ruhiger war.

„Um Himmels willen! Was fehlt Miceyla, Clay? Sie ist schrecklich blass! Die Moriarty-Brüder sind schuld, sie muten ihr viel zu viel zu! Ist doch kein Wunder, wenn ein solch zartes Wesen wie sie krank wird!“, schimpfte eine herbeilaufende Amelia besorgt und verärgert zugleich. Dabei begann sie direkt Miceylas verschwitztes Gesicht, mit einem Taschentuch trocken zu tupfen.

„Aber, aber Liebes! Verteufle nicht immer gleich die Menschen, welche sich tagtäglich aufopferungsvoll um unser lebensfrohes Singvöglein kümmern. Doch es stimmt natürlich, dass die eigene Gesundheit den höchsten Stellenwert hat und für sie Sorge getragen werden muss. Ich als Laie kann nicht die sichere Diagnose stellen, ob sie bloß erschöpft oder ernsthaft krank ist. Dafür brauchen wir einen Fachmann. Hole bitte jemanden vom Hause Moriarty, der sie hier abholen kommt und einen Arzt bestellt“, trug Clayton Amelia mit klarsichtiger Vernunft auf, welche sich direkt ohne zu widersprechen auf den Weg machte.
 

Stimmen, etliche Stimmen vernahm Miceyla um sich herum. Doch in ihrem Halbschlaf schnappte sie nur einzelne Wortfetzen auf, die für sie keinen geordneten Sinn ergaben. Als es endlich ruhiger wurde, rief die angenehme Stille, sie aus ihrem traumlosen Schlummer zurück ins Diesseits.

„Wo…wo bin ich…?“ Mit schläfrigem Blick, erkannte sie sofort die vertraute Umgebung ihres Schlafzimmers und entdeckte einen sanftmütig lächelnden William, der neben ihr auf dem Bett saß und ihre Hand hielt.

„Alles ist in Ordnung, mein Liebling. Fühlst du dich jetzt schon ein klein wenig besser? Trinke erst mal ein Glas Wasser. Du hast uns allen zuerst einen ordentlichen Schrecken eingejagt, als uns die Nachricht erreichte, dass du auf der Bühne zusammengebrochen bist. Und Amelias Vorwürfe, hätten uns am liebsten in die Verbannung geschickt, ha, ha! Aber ich kann dich beruhigen, du bist kerngesund und nicht krank“, versicherte William ihr und wirkte dabei so ungewöhnlich gut gelaunt, dass sie sich fragte ob dies bloß Einbildung, aufgrund ihrer kurzzeitigen Bewusstlosigkeit war.

„Ich mag dir ja wirklich gerne glauben, jedoch fühle ich mich nach wie vor elend und mir ist so schlecht, als hätte ich etwas Verdorbenes gegessen…“, beschrieb Miceyla missmutig ihr Unwohlsein, was Williams Lächeln nur noch mehr verstärkte und ein glänzendes Funkeln, leuchtete in seinen klaren roten Augen.

„Diese Symptome sind völlig normal und gehen vorüber. Wir beide werden Eltern, meine Liebe…“, verriet er ihr nun mit führsorglicher Stimme und küsste sie zärtlich auf die Wange. Ungläubig riss Miceyla weit die Augen auf und als sie endlich begriff, dass ein beglückender Grund hinter ihren Beschwerden steckte, rollten ihr Freudentränen das Gesicht hinab. Von Glücksgefühlen gepackt setzte sie sich im Bett auf und fiel William in die Arme.

„Ein Traum wird gerade wahr… Ich bin überglücklich, Will… Dies ist die Belohnung für unseren harten Lebensweg. Lass uns daher unser kleines Wunder, mit allem was wir haben beschützen…“, sprach Miceyla beschwingt und löste sich von all den zweifelnden Gefühlen, die sie zu Beginn bei dem Thema Kinder gehabt hatte.

„Gewiss meine Liebe, ich werde stets dafür sorgen, für euch beide da zu sein. Dieses Geschenk wird die Moral von uns allen bereichern“, hauchte William leise, der ihre überschwängliche Freude teilte. Ungeduldig löste Miceyla sich aus ihre Umarmung und blickte ihn mit leuchtenden Augen erwartungsvoll an.

„Ich ruhe mich jetzt noch etwas aus. Darf ich die freudige Nachricht, dann morgen meinen Freunden erzählen gehen?“, bat sie und wäre am liebsten losgestürmt, um ihr Glück mit der ganzen Welt zu teilen. Flüchtig verdüsterte sich seine Miene, dass ein Besuch bei Sherlock das Erste war, woran sie nun dachte. Doch rasch lächelte er wieder so sanft und liebevoll wie zuvor.

„Das kann ich dir wohl kaum verwehren. Also gut, aber nur wenn du dich morgen wirklich fit genug fühlst, um ausgehen zu können. Für die nächsten Monate, steht dein Wohlbefinden mehr denn je im Vordergrund. Und da ich mir nur das Beste für dich und unser Kind wünsche, habe ich mir auch schon etwas überlegt, um dich zukünftig gut genug zu schützen… Aber das sage ich dir morgen, wenn du von deinem Besuch zurückbist. Versuche jetzt trotz deiner Vorfreude zu schlafen, mein Liebling. Du brauchst viel Schlaf, damit du Kraft schöpfen kannst, für das was auf dich zukommen wird…“

Am nächsten Tag fühlte Miceyla sich wieder ausgeruhter, auch wenn sie noch immer ein leichtes Gefühl von Übelkeit verspürte. Doch ihre innerliche Freude vermochte dies zu überschatten. Gut gelaunt machte sie sich fertig und zog eines ihrer Lieblingskleider an. Sie lächelte ihr Spiegelbild an, während sie ihre langen braunen Haare kämmte und fühlte sich wieder wie ein junges Mädchen, das keine Sorgen kannte. Als sie ihre Schmuckschatulle öffnete und Alberts aquamarinblaue Kette erblickte, wurde ihr aber schmerzlich bewusst, dass es ihr leider nicht erlaubt war, sich wie ein naives Kind fühlen zu dürfen. Ihre Verantwortung trug mit dazu bei, die Gesellschaft von der Ungerechtigkeit zu befreien. Doch dies war nun die Probe um zu beweisen, wie viel sie bisher an physischer und mentaler Stärke gewonnen hatte. Mittlerweile war es schon Ende Juni und da die Menschen den Großteil des Tages jetzt im Freien verbrachten, wirkte London nun wesentlich lebendiger, als in den grauen Wintermonaten. Als Miceyla fertig zurechtgemacht war und das Zimmer verließ, begegnete sie auf dem Flur Albert, der sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck ansah. Er wirkte beinahe etwas distanziert und betrübt, was äußerst untypisch für ihn war und ihr gar nicht gefiel. Auch wenn Veränderungen bevorstanden, wünschte sie sich das die Menschen um sie herum, ihre liebenswürdigen Charaktereigenschaften behielten.

„Guten Morgen, meine Schöne. Es tut gut dich wieder munter zu sehen. Ich kann es kaum erwarten, dein und Williams Kind kennenlernen zu dürfen. Ob nun Junge oder Mädchen, es wird eure Güte und Begabungen erben und zum Stolz der Familie Moriarty heranwachsen. Du wirst mit Sicherheit eine hingebungsvolle Mutter, meine liebe Eisblume…“, begrüßte er sie mit wehmutsvollem Lächeln und Miceyla spürte dabei mal wieder, wie eng Freud und Leid miteinander verwoben waren.

„Werde…ich auch noch den ganzen Sommer über eine Eisblume bleiben?“, fragte Miceyla ihn in einem leisen Flüsterton und lächelte sanft.

„Nun… Ich fürchte selbst die glühendste Hitze, vermag nicht deine makellos funkelnden Eiskristalle zum Schmelzen zu bringen, die sogar dem unaufhaltbarsten Feuer trotzen. Sie spiegeln dein unantastbares Herz wider, das zwar standhaft und tapfer ist, jedoch beschützt werden muss, damit es nicht aus heiterem Himmel zerbricht. Ich bleibe auf ewig dein dich beschützender Soldat, vergiss das nicht, meine geliebte Eisblume…“ Als Albert Miceyla seine Antwort gab und ihr mit einer Hand zärtlich über die Wange strich, bekam sie eine Gänsehaut. Seine Worte bedeuteten ihm viel mehr, als nu ein simples Versprechen. Es war ein Gelübde, welches ihre ewig andauernde Verbindung innerhalb der Familie besiegelte. Schweigsam liefen die beiden anschließend hinunter in den Speisesaal, wo Moran ihr stürmisch entgegengelaufen kam und einen Arm um sie legte.

„Ich gratuliere, Wirbelwind! Jetzt kannst du endlich mal von deinen weiblichen Fähigkeiten Gebrauch machen, ehe sie bei dem ganzen herumwühlen im Dreck draußen vollends verloren gehen. Aus dir wäre sonst noch irgendwann ein halber Kerl geworden, ha, ha, ha!“, sprach er scherzhaft und krümmte sich vor Lachen.

„Ja, ja, mach dich ruhig über mich lustig! Aber um in der Verbrecherwelt überleben zu können, musste ich mir nun mal `männliche Fertigkeiten` aneignen. Sollte dir bekannt vorkommen…“, konterte Miceyla schlagfertig, dabei ließ sie sich nicht von ihm ärgern,

sondern musste selbst darüber schmunzeln, da er irgendwie recht hatte.

„Moran du altes Großmaul, bei dir sind wirklich Hopfen und Malz verloren! Ich glaube das ich den Tag nicht mehr erleben werde, an dem du endlich anständige Manieren haben wirst… Ich freue mich natürlich für dich und Will. Zu erfahren das man ein Kind erwartet, muss sich großartig anfühlen“, beglückwünschte Louis sie, der ihr ein freundliches Lächeln schenkte, in dem kein Funken Hass mehr lag.

„Egal wie viel Chaos hier auch herrschen mag, ich werde immer auf dich aufpassen und dafür sorgen, dass dir nichts zustößt, damit du ohne Komplikationen und mit einem guten Gewissen, ein Kind zur Welt bringen kannst“, versprach Fred ihr freudestrahlend und sie errötete gerührt. Miceyla genoss es so umsorgt zu werden, dennoch hoffte sie, ihren Kameraden zukünftig kein Klotz am Bein zu sein.

„Danke, Louis, danke Fred…“, sprach Miceyla lächelnd, während die beiden Katzen Luna und Lucy, sich schnurrend an ihre Beine schmiegten, als freuten sie sich ebenfalls.

„Ich darf euch beide aber daran erinnern, dass ihr eure abenteuerlichen Trainingseinheiten, bis auf weiteres einstellen müsst. Also Moran, jetzt darfst du dich mal von deiner rücksichtsvollen Seite zeigen“, merkte William zwischen all den feierlichen Gesichtern gewissenhaft an, was natürlich für Moran und Miceyla selbstverständlich war. Jedoch verbarg dich hinter ihrem Glück auch eine düstere Schattenseite, der sie sich mehr und mehr bewusst wurde… `Richtig… Ich werde auch bei den brenzligeren Missionen, von nun an nicht mitmischen dürfen… Dies ist jetzt das Opfer, welches ich für ein Kind bringen muss. Hoffentlich verpasse ich in den nächsten Monaten nichts Bedeutungsvolles und kann wieder einsatzbereit sein, wenn es ernst wird…`, hoffte sie im Stillen und versuchte der Angelegenheit optimistisch entgegen zu blicken.

Am Vormittag fuhr Miceyla dann mit der Kutsche in die Innenstadt und als sie in der Baker Street ausstieg dachte sie daran, dass auch bei Sherlock zu Hause Veränderungen bevorstanden… Die Haustür war bereits geöffnet und am Straßenrand stand eine Kutsche, vollgeladen mit Koffern. John hatte Mary mittlerweile geheiratet und kam heute scheinbar seine restlichen Sachen abholen. Da das junge Ehepaar von nun an zusammenlebte, würden die meisten Tage für Sherlock wieder einsamer werden. Sogar ihm wird das gesellige Beisammensein, mit einem guten Freund gefallen haben und ihre spontanen Abenteuer vermissen. Gerade bei aufwändigeren Fällen, waren die beiden ein unangefochtenes Duo.

„Oh! Na heute haben wir aber noch mal volles Haus hier! Wie schön dich zu sehen, Miceyla! Lass uns gleich zusammen raufgehen und das endlose Gezanke der zwei unterbrechen, he, he“, grüßte Emily sie grinsend und lief vor ihr die Treppe hinauf.

„Ich freue mich auch sehr dich zu sehen. Und das ich einen Zeitpunkt erwischt habe, bei dem wir alle hier sind, macht mich ganz besonders froh. Aber ich denke das wir weiterhin dafür sorgen werden, dass unsere Treffen stattfinden, ganz gleich welchen Pfad jeder einzelne von uns einschlagen mag…“, sprach Miceyla leicht bedrückt und oben im Wohnzimmer strahlte ein fleißig packender John sofort, als er sie mit Emily hereintreten sah.

„Hallo Miceyla! Ach das ist ja wunderbar, dann bleibe ich noch eine Weile und wir können alle bei einer Tasse Tee etwas plaudern- Sherlock, eine gute Freundin ist gerade zu Besuch gekommen, magst du sie nicht ebenfalls begrüßen kommen?“, rief John seinen Kameraden herbei, mit dem von nun an die Wohngemeinschaft mit ihm beendet sein sollte.

„Hallo John. Du darfst Sherlock nicht so drängen, dies hat nur den negativen Effekt zur Folge, dass er sich ganz verkrümelt, ha, ha“, meinte Miceyla belustigt und Emily musste neben ihr zustimmend kichern.

„Hach…wie recht du doch hast. Sherlock gehört zur Gattung der Nachtschattengewächse, die so menschenscheu sind, dass sie mit ihren giftigen Chemikalien alle auf Distanz halten“, witzelte John amüsiert und schloss einen gefüllten Koffer.

„Ich werde meine giftigen Chemikalien gleich dafür einsetzen, um dein hochgeschätztes Hab und Gut wegzuätzen. Das gibt ein herrliches Gejammer! Wer zuletzt lacht, lacht am besten mein Guter! Grüße dich Mia. Was gibt’s Neues im Hause Moriarty? Unsere gesamte Aufmerksamkeit gilt nun dir. Teile uns deine Kundgebung mit, wir sind ganz Ohr“, sprach ein aus seinem Zimmer hervorgekrochener Sherlock und grinste frech. Ohne das Miceyla sich noch über seine verblüffende Scharfsinnigkeit wundern zu brauchte, nahmen sie alle vier am Tisch Platz.

„Ihr seid natürlich immer die Ersten, mit denen ich besondere Neuigkeiten teile. Denn es gibt nichts Schöneres, als sein Glück mit den besten Freunden teilen zu dürfen. Aber ich mag euch nicht länger auf die Folter spannen… Ich erwarte ein Kind. Kaum zu glauben, dass ich bald selbst eine Mutter sein werde. Mir kommt das alles noch etwas surreal vor. Doch blicke ich dem voller Vorfreude entgegen“, erzählte Miceyla lächelnd und legte dabei liebevoll ihre Hände auf den Bauch.

„Ach Miceyla, wie wundervoll! Du schaffst es immer, uns mit einer Überraschung den Tag zu versüßen! Dann wird es hier ja bald noch lebhafter, he, he! Und ich werde dich selbstverständlich mit Rat und Tat, bei deiner besonderen Reise begleiten. Eine Schwangerschaft ist aufregend, aber auch nicht ganz einfach. Deshalb kann ich als Frau, deine Gefühle und Bedürfnisse während dieser Zeit besser nachempfinden, als jeder Mann“, sprach Emily sogleich führsorglich und nahm Miceyla freundschaftlich in die Arme.

„Oh ja, dies sind wahrlich freudige Neuigkeiten! Wie unsagbar stolz Lord William sein muss, da er bald Vater wird. Ihr werdet gewiss ein kluges und talentiertes Kind bekommen, welches natürlich auch deine Schönheit erbt… Ich sehe es schon vor mir! Ha, ha, ich muss aufpassen, dass ich nicht neidisch werde… Doch du kannst selbstredend auch auf meine Unterstützung zählen. Denn als Arzt kann ich nämlich zu jeder Zeit überprüfen, ob es dir und dem Kind gut geht“, versprach John ihr ebenfalls seine bedingungslose Hilfsbereitschaft.

„Ich danke euch… Freunde wie ihr es seid, sind das schönste Geschenk, welches mir dieses Leben machen konnte“, dankte Miceyla den beiden rührselig und blickte nun ein wenig zögerlich, zu dem noch immer schweigenden Sherlock. Das John und Emily ihre Freude teilten, war ihr zweifelsohne klar. Doch bei Sherlock macht sie sich darauf gefasst, dass er ihr wieder einmal sein Beileid wünschte.

„Glückwunsch, Mia. Du wirst mit Abstand die fabelhafteste Mutter, der ich je begegnet bin. Aber das bist du auch jetzt schon.“ `Du `würdest` eine fabelhafte Mutter werden. Die Entscheidung musst du selbst treffen, was für dich mehr Priorität hat. Eine Wahl gibt es immer. Doch ganz gleich wie sie ausfällt, Reue bleibt stets ein unliebsamer Begleiter…`, fügte Sherlock zwiegespalten in Gedanken, nach seiner ehrlich gemeinten Beglückwünschung hinzu und lächelte zaghaft. Miceyla konnte nicht anders, als nach seinen knappen Worten perplex dreinzublicken. Doch diese wenigen Worte der Freundlichkeit, bedeuteten ihr im Augenblick mehr als alles andere auf der Welt. Dabei genoss sie das unbeschreibliche Gefühl, als sie beide sich einfach nur mit einem stillen Lächeln, für einen kostbaren kurzen Moment anblickten.

„Danke, Sherly…“

Am Nachmittag, nachdem Miceyla noch kurz in der Katzenpension vorbeigeschaut hatte, kehrte sie wieder ins Anwesen zurück. Schon beim Eintreten verspürte sie ein flaumiges Gefühl im Magen, was nicht an ihrer Übelkeit lag... Sie wusste das William ihr etwas mitteilen würde, dass einen radikalen Wandel in ihrem gemeinschaftlichen Leben bedeuten sollte… Sie fand ihn oben auf dem Balkon und beobachtete ihn einen Moment lang, wie er dort gelassen dastand und verträumt in die Ferne blickte. Für sie war es immer wieder verblüffend wenn sie daran dachte, wie viel Verantwortung auf den Schultern dieser ruhigen, gutmütigen Person lasteten. Und dennoch wusste Miceyla nur zu gut darüber Bescheid, welches lodernde Feuer unaufhörlich in ihm brannte…

„Ich bin wieder da, Will“, sprach sie lächelnd und trat zu ihm auf den Balkon.

„Hallo meine Liebe. Jetzt hast du deine Freunde, sicher auch mit unserer überraschenden Neuigkeit beglückt. Aber mal etwas anderes… Unser Tanz neulich auf der Feier, hat uns doch beiden gleichermaßen gefallen, oder? Vielleicht fändest du jedoch Albert als Tanzpartner aufregender. Oder…möglicherweise sogar Sherlock…“, begann William mit dezent ernster Miene. Miceyla blickte ihn vorerst etwas verwirrt an und dachte rasch darüber nach, worauf er hinauswollte.

„Ein Tanz mit dir ist mit keinem anderen zu vergleichen. Ich habe dabei stets das Gefühl, wir befänden und währenddessen in einem anderen Universum… Und…ich habe tatsächlich schonmal mit Sherlock getanzt. Das war abends in einem Pub und zu jener Zeit wusste ich noch nicht, dass du der Meisterverbrecher bist… Es war ein schrecklich hektischer Tanz, passend zu einer schnellen Musik, ha, ha. Zwar muss ich zugeben, dass Sherlock ein ziemlich guter Tänzer ist, aber die Eleganz und Ekstase, war bei dem Tanz mit ihm in keiner Weise vorhanden. Jenes berauschende Gefühl erhalte ich nur bei unseren Tänzen“, erzählte sie schließlich offenherzig und konnte sich dennoch kein Schmunzeln verkneifen, bei der Erinnerung an ihren damaligen Tanz mit Sherlock.

„Du bist eine miserable Lügnerin, Miceyla…“, erwiderte William daraufhin so kühl und monoton, dass es ihr eiskalt den Rücken hinablief und sie wagte nicht dem etwas entgegenzusetzen.

„Du wirst bis zu der Geburt unseres Kindes in Durham leben. Das heißt `wir beide` werden gemeinsam dort hinziehen und nicht wie bisher, nur tageweise in der Kleinstadt verweilen. Wir bleiben in Durham und kehren dem Leben in London solange den Rücken“, teilte er ihr anschließend beharrlich sein Vorhaben mit. Dies kam so plötzlich und unerwartet, dass für Miceyla nun wahrhaftig eine Welt zusammenbrach.

„Das…das ist doch absurd. Du kannst das nicht wirklich von mir verlangen. Ich arbeite im Theater und muss mich um die Organisation im Katzenhaus kümmern. Und nicht nur das… Heißt das du willst mir indirekt verbieten, meine Freunde treffen zu können? Und Albert, Louis, Moran und Fred werde ich folglich auch nicht mehr häufig sehen… Für dich stellt das Ganze kein großes Problem dar, da du an der Universität in Durham unterrichten kannst und nicht an London gebunden bist. Das alles…wäre ein radikaler Einschnitt in unser bisheriges Leben und würde unsere Gemeinschaft spalten. Ich möchte das nicht…Will…“, äußerte Miceyla sich ehrlich dazu und versuchte leicht gekränkt, seinem eisernen Blick standzuhalten.

„Mein Entschluss ist endgültig und ich werde daher nicht weiter darüber diskutieren. Albert und die anderen werden uns öfters besuchen kommen, wir sehen uns alle nur eben nicht mehr täglich. Miss Moneypenny wird in der Zeit deine Ansprechpartnerin des Vertrauens sein, da ich mir eine Frau in deiner Nähe wünsche, die auf dich Acht gibt und gute Nahkampferfahrungen für den Ernstfall besitzt. Eine Woche sollte uns beiden reichen, um zu packen und alle nötigen Vorbereitungen zu treffen. Sieh den Umzug nach Durham als eine längere Pause, um darüber nachzudenken, wie es danach weitergehen soll. Im Bezug auf die Verantwortung gegenüber einem Kind und deine Einsätze bei geplanten Verbrechen. Wenn du dann wirklich weißt was du willst, werde ich jede deiner Entscheidungen akzeptieren, ohne Kompromisse und Widerworte. Wir sollten beide diese friedliche Zeit weise nutzen, denn es wird garantiert die letzte sein… Mehr kann ich nicht für dich und mich tun. Wie du siehst, entspringt dies nur meinem guten Willen und ich habe dabei keinerlei böse Absichten“, erläuterte William die Sache nun wesentlich sanftmütiger und lächelte sie wehmütig an. `Ich

verstehe dich und deine gutgemeinten Absichten… Eigentlich sollte ich mich darüber freuen können, dass wir fast wie ein ganz gewöhnliches Ehepaar zusammenleben werden. Aber vielleicht ist der Gedanke daran, für mich einfach nur ein wenig befremdlich, eigentlich für uns beide… Denn jeden Tag sind wir von vielen Menschen umgeben und es ist immer eine Menge los. Auch du benötigst einmal richtig Zeit, um barrierefrei nachdenken zu können, mein Liebster… Schließlich sind deine Gedanken beinahe pausenlos, mit der Ausarbeitung deiner komplizierten Pläne beschäftigt und sind gefangen. Deshalb verdienst du ganz besonders das Gefühl der Freiheit. Leid und Sorgen kennen wir nämlich zur Genüge. Und vor allem schwirren um uns herum genug Probleme, die unsere Liebe auf eine harte Probe stellen. Da wird es gut tun, davon mal etwas Abstand nehmen zu dürfen. Aber…etwas merkwürdig finde ich deinen Sinneswandel schon… Du wirst doch wohl nicht etwa…eifersüchtig auf Sherlock sein…? ` Während Miceyla versuchte, sich mental mit seinem Entschluss anzufreunden, schlang sie liebevoll ihre Arme um ihn, woraufhin er sie ebenfalls zärtlich an sich drückte.

„Ich liebe dich, Will… Und nur dich…“, hauchte sie leise und schloss im Schutz seiner Geborgenheit die Augen.

„Ich liebe dich auch, meine zauberhafte Winterrose…“
 

Und schließlich kam der Tag ihrer Abreise. Miceyla hatte so gut es ging, die sentimentalen Abschiede gemieden. Amelia wäre am liebsten mit ihr nach Durham gereist und sogar Clayton war griesgrämig gewesen. Was aber vor allem daran lag, dass er nun Verluste machen würde, da ihre Auftritte im Theater, sich beim Publikum großer Beliebtheit erfreuten. Emily und John waren auch anfangs etwas aufgelöst gewesen, als sie von der weniger erfreuliche Neuigkeit erfuhren. Daher hatte sie den genauen Zeitpunkt ihrer Abreise geheim gehalten, um eine Weltuntergansszene am Bahnhof zu verhindern. Immerhin war es ihr als kleiner Trost erlaubt, die Katzen Luna und Lucy mit nach Durham zu nehmen. Ein Schaffner trug Williams und ihr Gepäck in das Zugabteil. Ihre restlichen Sachen, würde Moran ein paar Tage später vorbeibringen. Albert musste wohl von allen am meisten darunter leiden, dass sie beide spontan umzogen und vorübergehend nicht mehr gemeinsam unter einem Dach wohnten. Sicher lief dies darauf hinaus, dass er trotz seinem hochrangigen Posten, sie öfters als vorgesehen besuchen kam. Doch es war nicht nur Albert, den Miceylas plötzliche Abreise aus London beschäftigte… Da William noch etwas mit einem der Schaffner beredete und es noch einige Minuten bis zur Abfahrt waren, lief sie um die Zeit zu überbrücken, durch das lebhafte Zugabteil. Dabei bemühte sie sich darum, das wilde Durcheinandergerede der vielen Menschen auszublenden, damit sie ihre wirren Gedanken etwas ordnen konnte. `Sherlock… Was mag dir jetzt gerade wohl durch den Kopf gehen…? Wie denkst du über Williams und meine Abreise…?` Die Türen wurden bereits geschlossen und die Leute begangen draußen winkend Abschiedsgrüße zu rufen. Als Miceyla an einer der geschlossenen Türen vorbeilief und durch das Fenster hinausblicken wollte, blieb sie stocksteif auf der Stelle stehen. Niemand anderes als Sherlock stand draußen unmittelbar vor der Tür und beide blickten sich auf Anhieb direkt in die Augen. Von seinem intensiven Blick gefesselt, bei dem nur sie dazu befähigt war, all seine versteckten Emotionen ablesen zu können, lief sie dicht an die Tür und legte ihre rechte Hand auf die glatte Glasscheibe. Nicht lange brauchte es, da hatte Sherlock seine Hand von außen auf die ihre gelegt. Am liebsten hätte Miceyla die Tür aufgebrochen, damit sie beide nichts und niemand mehr voneinander trennte. Doch da dies für sie nicht möglich war, blieb ihr nichts anderes übrig, als lediglich einen stillen Hilferuf aus ihrer leidenden Seele zu entfesseln. Doch nicht einmal den durfte sie laut aussprechen und musste in ihren Gedanken eingesperrt bleiben. `William Moriarty ist der Meisterverbrecher… Rette ihn… Rette uns beide, ehe es zu spät ist…` Die Schaffner gaben sich draußen untereinander Zeichen, dass der Zug abfahrbereit war und einer von ihnen zerrte Sherlock unsanft von der Tür weg. Kurz darauf verließ der Zug im langsamen Tempo den Bahnhof und Sherlock verschwand aus ihrem Sichtfeld. Ein Gefühl der überwältigenden Trauer ließ Miceyla zu Boden sacken und sie begann bitterlich zu weinen…
 

Liebes Tagebuch, 5.7.1880
 

unsere Familie erhält bald Zuwachs. Es kommt einem magischen Wunder gleich, dass ich dies trotz all der turbulenten Umstände noch erleben darf. Ich bin bereits jetzt so aufgeregt, dass es mur schwerfällt, gesittet meinen Alltagstätigkeiten nachzugehen. Eigentlich müsste die Zeit bis zu der Geburt wie im Flug vergehen. Doch mir werden solange einige ablenkende Beschäftigungen fehlen. Jetzt bemerke ich erst, wie intensiv ich bisher für andere gelebt habe. Und nun muss ich seit langem lernen, mich wieder mehr mit mir selbst zu beschäftigen. Vielleicht gehört auch diese Tatsache zu Williams Absichten… Es ist wieder einmal so viel passiert, dass ich nicht hinterherkomme, alles schriftlich festzuhalten. Doch kein Sturm oder Krieg wird mich davon abhalten können, meine abenteuerlichen Erlebnisse, für die Nachwelt in einem Tagebuch zu verewigen. Und deshalb werde ich meiner güldenen Füllerfeder, bis zum bitteren Ende treu bleiben und jedes groteske und beschwingende Erlebnis zu Papier bringen…
 

Manchmal
 

Manchmal habe ich so viel zu sagen,

doch mir fehlen jegliche Worte.

Manchmal kenne ich den richtigen Weg,

doch mir fehlt der Mut, zu durchschreiten die dazugehörige Pforte.

Noch immer bin ich in deiner Obhut,

seit jenem Tag, an dem mich dein süßes Lächeln zu dir einlud.
 

Manchmal würde ich die Dinge gerne umschreiben,

doch kenne ich dafür nicht den ersten Schritt.

Manchmal wünsche ich mich selbst ändern zu können,

doch hindert mich die Vergangenheit unter der ich litt.

Nie habe ich deine stützende Hand losgelassen,

du warst derjenige, der einen Sinneswandel bekam

und meinte er müsse sich mit etwas Neuem befassen.
 

Ich will nicht meine gesammelten Erfahrungen verlieren,

lass es uns mit einer zweiten Chance probieren.

Dein warmes Herz darfst du nicht verschließen,

denn manchmal wäre es besser, wenn alle ihren Argwohn entließen.

Mein kleines Herz aus Gold

„Vielen Dank für deine Hilfe! Mit diesen neuen Vorhängen, brauchen wir die heiße Mittagssonne nicht mehr zu fürchten. Der hochwertige Stoff ist lichtundurchlässig und noch dazu wunderschön. Dies nenne ich mal eine sinnvolle Investition!“ Miceyla und Miss Moneypenny hatten einen ganzen Vormittag damit verbracht, im beschaulichen Anwesen in Durham, neue Vorhänge an den Fenstern anzubringen, um sich für die sonnenintensiven Sommermonate zu wappnen. Denn da sie nun jeden Tag dort verbringen würde, war es auch in ihrem Sinne, alles für einen längeren Aufenthalt herzurichten. Und sie war mehr als zufrieden mit ihrer bisherigen Arbeit, sogar die Vorratskammer war bereits gefüllt. War Miceyla vor dem Umzug noch trotzig und pessimistisch gewesen, so freute sie sich mittlerweile auf das ländliche Leben und die Vorzüge eines schlichten, überschaubaren Heimes. William wusste selbst nur zu gut, dass ein simpler und entspannter Lebensstil ihrer Gesundheit zugutekam und ihr eine sicherere Schwangerschaft ermöglichte, als das unvorhergesehene Großstadtleben. Die Sehnsucht nach den Menschen und ihrem Alltag in London, würde sie dennoch oft genug ereilen…

„Gern geschehen. Lasse mich wissen, falls es noch mehr zu tun gibt. Ich scheue keine Mühen. Denn dafür bin ich schließlich hier. Und vor allem um ein Auge darauf zu haben, dass du dich nicht übernimmst. William hat mir erlaubt, ruhig streng zu sein wenn es nötig ist. Er sagte nämlich beharrlich, dass es eine Herausforderung sei, einen Sturkopf wie dich zu bändigen“, teilte Miss Moneypenny ihr daraufhin mit und unterdrückte ein amüsiertes Kichern. Miceyla lächelte verlegen und freute sich darüber, dass sie beide gut miteinander auskamen und von unnötige Formalitäten absehen konnten.

„Das hat er wirklich gesagt? Ha, ha! Ich bin doch kein wildes Tier…“ Sie hielt inne, als das Läuten der Türklingel von unterhalb zu hören war.

„Ich gehe mal nachsehen, wer uns da besuchen kommt. Denn ich habe schon eine leise Ahnung, wer unser Gast ist…“, meinte Miceyla mit einem Augenzwinkern und lief sogleich die Treppe hinunter zur Haustür. Als sie die Tür öffnete, erblickte sie einen lässig dreinblickenden Moran mit einem üppigen Gepäck.

„Guten Tag, Veteran der heiligen Armee! Aber sag mal, was sind das denn alles für Koffer? Kann mich nicht entsinnen, so viel Gepäck zurückgelassen zu haben. Und dann schleppst du auch noch eine Gewehrtasche mit dir rum… Auffälliger geht es nicht mehr…“, begrüßte Miceyla ihn mit einem skeptischen Blick.

„Na hör mal Wirbelwind, ein paar Alltagsgegenstände benötige selbst ich. Also lasst mal sehen, ob ihr mein Zimmer schon artig eingerichtet habt…“, sprach Moran gelassen und lief geradewegs vollgepackt an ihr vorbei in das Anwesen.

„Was willst du damit andeuten? Bleibst du etwas über Nacht? Ich dachte wir hätten ausgemacht, dass du nur unsere restlichen Sachen vorbeibringst. Aber dagegen habe ich nichts. Kommt darauf an was Will dazu sagt. Er ist momentan noch in der Universität“, erwiderte Miceyla etwas verwirrt und freute sich dennoch über die lebhafte Stimmung, welche Moran mitbrachte.

„Nicht bloß über Nacht. Ich bleibe, bis Albert dringende Arbeit für mich hat. Dann werde ich wieder abdampfen. Dies sind die Freiheiten eines Söldnerlebens. Nur hält sich das in meinem speziellen Fall, in einem begrenzteren Rahmen… Williams Segen habe ich bereits. Es entspringt mehr oder weniger seiner `Bitte`, dass ich nun hier bin. Aber hey, sieh es positiv, wir können gemeinsam die Zeit in diesem öden Kuhdorf totschlagen. Und außerdem kann eine Bedienstete, den Haushalt einer Adelsfamilie doch nicht ganz alleine schmeißen. Es sei denn, die werte Hausherrin wirft mich wieder raus, dann werde ich mich dem brav fügen“, enthüllte Moran daraufhin mit einem kecken Grinsen. Erstaunt blickte Miceyla ihn für eine Weile sprachlos an. `Wer hätte das gedacht… Moran gehört wohl zu einen der wenigen Männern, die Will zur Zeit noch in meine Nähe lässt. Die Geste ist zwar gutgemeint, dass er mich ein wenig aufmuntern und ablenken soll. Aber er kann dennoch nicht das ersetzen, was mir in Wirklichkeit fehlt…`, dachte sie lächelnd und wollte seine Geselligkeit trotzdem mit offenen Armen empfangen.

„Danke das du dich dafür bereiterklärt hast, hier den Alleinunterhalter zu spielen. Und Durham ist das wohl schönste `Kuhdorf` weit und breit! Hoffen wir nur, dass du uns keine zusätzliche Arbeit verursachst, sonst müssen wir noch weitere Angestellte einstellen, die für dich kochen, ja, ha!“, neckte sie ihn scherzhaft und schmunzelte belustigt.

„Wie war das?! Denkst du etwa ich sei unfähig, die Küche eigenständig in Anspruch zu nehmen? Sagt gerade die Richtige! Bei dir muss ich eher aufpassen, dass du nicht die ganze Küche abfackelst. Man munkelt nämlich, dass akute Brandgefahr besteht, sobald du eine Küche betrittst. Dafür das du dich vor Feuer fürchtest, bist du was das Kochen angeht ganz schön experimentierfreudig, ha, ha, ha!“, zog Moran Miceyla zum Spaß auf und beide mussten nun gemeinsam über ihre eigenen Macken lachen.

„Bevor hier irgendetwas abbrennt, gebe ich dir so viele anstrengende Aufgaben, dass du nachts zu müde bist, um im Dorf die Pubs aufzumischen! Gib es zu, nur dafür bist du in Wahrheit hier, du alter Schürzenjäger!“ Während sie beide ausgelassen miteinander herumalberten, näherte sich ihnen von oberhalb Miss Moneypenny, die von ihrer lautstarken Unterhaltung angelockt wurde.

„Oberst… Ist das wahr, Sie bleiben? Das freut mich wirklich sehr. Zu zweit lassen sich die anfallenden Aufgaben auch besser organisieren und ausführen. Und ein unvorhergesehener Überfall, ist auch nicht ganz ausgeschlossen… Denn wir wissen alle, dass der Name Moriarty sich in der Unterwelt und Oberschicht etliche Feinde gemacht hat…“, begrüßte sie Moran mit sichtlicher Freude.

„Ist das nicht toll, wir sind nicht nur auf dem Schlachtfeld Kollegen, sondern kämpfen uns auch durch die unerbittlichen Aufgaben eines Adelshaushaltes, ha, ha! Wir haben erst überlegt, ob Fred an meiner Statt herkommen soll. Nur ist der Bursche zugegebenermaßen bei diskreten Beschattungen, weitaus besser zu gebrauchen als meine Wenigkeit. Daher hat er wie immer alle Hände voll zu tun. Und da ich der Mann fürs Grobe bin, kann ich mir zwischendurch auch mal eine Auszeit gönnen und bleibe dennoch in Rufbereitschaft. Einen geplanten Überfall halte ich eher für unwahrscheinlich. Das wagt nur jemand, der mit Williams Verstand konkurrieren kann. Und da wir mögliche Personen, die dafür infrage kämen, an einer Hand abzählen können, bleibt für uns momentan alles recht überschaubar. Ein Krieg beginnt lange bevor er überhaupt ausbricht… Daher sollten wir unseren Fokus auf etwas ganz anderes richten. Aber ich alter Hase, brauche euch ja nichts mehr über irgendwelche alteingesessenen Kriegsstrategien erzählen. Denn ihr seid ja selbst bestens über den Sachverhalt im Bilde. Genug geplaudert ! Egal wie lange wir warten, das Gepäck wird keine Füße bekommen und selbstständig die Treppe hinauflaufen. Also frisch ans Werk!“, sprach Moran voller Selbstvertrauen und schien Gefallen daran zu finden, den Ton anzugeben. Mit einem verschwiegenen Lächeln beobachtete Miceyla, wie Moran und Miss Moneypenny, Seite an Seite die ersten Gepäckstücke hinauftrugen…
 

Die Zeit verging, das kräftige Grün der Blätter, verwandelte sich in leuchtende Gelb- und Rottöne. Auch der stürmische Herbst nahm schließlich Abschied und die Menschen bereiteten sich auf einen langen, kalten Winter vor, der die Umgebung in eine mystische Stille tauchte. Es war die erste Dezemberwoche, Miceyla stand dick angezogen im Garten, inmitten des ersten liegengebliebenen Schnees. Sie genoss den Anblick des strahlenden Weißes um sich herum und die belebend kalte Luft, welche alle unheilvollen Gedanken zu vertreiben vermochte. Lächelnd betrachtete sie die Katzen Luna und Lucy, wie sie bei ihrer ersten Begegnung mit Schnee wild herumtollten, als wären sie wieder junge Katzenkinder. Die Winterlandschaft zauberte aus Durham ein geheimes Märchendorf. Es schien als befände Miceyla sich in einer Traumwelt, in der es weder Hass noch Neid gab. Denn Williams Ideale, hatten Durham längst erreicht. Ob nun Adeliger oder gewöhnlicher Arbeiter, dort wurden keine bedeutsamen Unterschiede gemacht. Die Bewohner pflegten einen höflichen Umgang miteinander und halfen sich gegenseitig bei kleinen und größeren Problemen. Doch die friedliche Idylle, war natürlich nur eine trügerische Fassade… Und die schimmernde Traumwelt, würde früher oder später in sich zusammenbrechen. Der Adel war nach wie vor an der Macht und hatte die Unterschicht fest in seiner Gewalt. Miceyla ahnte das Harley, da er die Privilegien zum harten Durchgreifen besaß, von heut auf morgen sowohl negative als auch positive Veränderungen schaffen könnte. Doch da er selbst nach dem strengen Gesetz lebte und dem Willen der Königin untergeordnet war, würde er nicht so einfach mit Williams gesetzeswidrigen Plänen aneinandergeraten. Aber dies hieß nicht, dass eine blutige Konfrontation ausbliebe. Mit aller Wahrscheinlichkeit wird Clayton zukünftig dafür das Feuer schüren, um dies ins Rollen zu bringen. Und Sherlock brachte ihn wenn es soweit gekommen war dazu, seine Maske fallen zu lassen und sich vor seinem `Publikum` zu entblößen. Die Lügen werden aufgedeckt und niemand wird seine heldenhaften Rettungen der Mädchen mehr würdigen. Aber so bitter es auch war, es entsprang Claytons eigener Entscheidung, die Bühne der Einsamkeit zu wählen. Dies war das zukünftige Geschehen, welches Miceyla sich in ihren Vorstellungen ausgemalt hatte, Logisch wäre ein solcher Ausgang der Gegebenheiten zwar, aber ob alles tatsächlich so ablaufen sollte, stand noch in den Sternen geschrieben. Sie fand es momentan am weisesten wachsam, jedoch gleichzeitig auch geduldig zu bleiben. Das Leben hielt jeden Tag neue Überraschungen und Wunder für einen parat. Und ein solches Wunder, wuchs gerade in ihrem eigenen Körper heran. Der Tag rückte immer näher, an dem sie ihr erstes Kind in Armen halten würde. Nun hatte sie jede Menge Zeit zum Schreiben, jedoch fehlte ihr jegliche Inspiration. Die Sehnsucht nach aufregenden Abenteuern, begleitete sie durch jeden Tag und wurde beinahe zu einer chronischen Krankheit. Doch die Gefahr und den Anblick des Todes vermisste sie keineswegs. Dennoch war ihr Herz dort zu Hause, wo immer sich ihr William befand. Und würde er an die Front des Geschehens zurückkehren, so folgte sie ihm treuergeben und ohne Zögern dorthin. Da eine längere Phase mit keinerlei Aktivitäten des Meisterverbrechers zu auffällig wäre, spielten Albert und Louis diese Rolle und vertraten ihn gewissermaßen. Was nicht hieß, dass William sich komplett von den Angelegenheiten der kriminellen Unterwelt abwendete. Er arbeitete so ergiebig wie eh und je viele Nächte durch und nahm sich selbstlos, den Problemen der unterschiedlichsten Menschen an. Der Gedanke, dass sie ihm dabei die notwendige Kraft gab, um nicht das wärmende Licht in der Dunkelheit zu verlieren, spendete ihr Mut und Hoffnung. Und an Geselligkeit während William beschäftigt war, mangelte es ihr wirklich nicht. Sogar John und Emily kamen sie des Öfteren besuchen und hielten sie über die brodelnde Gerüchteküche von London auf dem Laufenden. Allerdings war kein einziges Mal Sherlock dabei gewesen und Miceyla musste sich eingestehen, dass sie dies ziemlich frustrierte. Obwohl er selbst immer darauf gebrannt hatte, eine Gelegenheit zu finden, um sich mit William unterhalten zu können, nutzte er die Chance dafür nun nicht. Sein wehmütiger Gesichtsausdruck als er vor der Zugtür stand, hatte sich so stark in ihren Erinnerungen manifestiert, dass sie in manch einer unruhigen Nacht davon träumte… Denn kein Lebenszeichen von ihm während der ganzen Zeit zu erhalten, kam für sie dem Gefühl gleich, als seien sie Lichtjahre voneinander entfernt. Und da auch Albert sie nicht mehr so häufig sah, bekam sie nicht nur mehr Briefe, sondern jeder einzelne Brief gewann zusätzlich noch an Länge und Tiefe. All das diente zur Überbrückung der Zeit, bis sie sich als vollständige Gruppe, wieder der Ungerechtigkeit des Klassensystems entgegenstellten. Miceyla wurde aus ihrer erdrückenden Gedankenwelt gerissen, als jemand von der Seite zärtlich ihre Hand nahm und sich zu ihr gesellte. Mit einem warmherzigen Lächeln, blickte sie in Williams gütige Augen, die solch eine wohlwollende Geborgenheit ausstrahlten, dass sie Miceyla wie ein mächtiger Schutzwall umgab.

„An den Anblick kann man sich gewöhnen, nicht wahr meine Liebe? Eine angenehme Kälte und Windstille. Bliebe es dabei, hätten wir einen perfekten Winter. Komm, lass uns einen kleinen Schneespaziergang machen“, schlug William vergnügt vor und lief mit ihr Hand in Hand einen schmalen Pfad am Anwesen entlang, der in ein beschauliches, nun verschneites Wäldchen führte. Nachdem es die ganze Nacht geschneit hatte, lugte jetzt die Sonne hinter den Wolken hervor und brachte den makellosen Schnee, mit ihren wärmenden Strahlen zum Glitzern. Beide erreichten eine Lichtung, auf der William kurz stehen blieb.

„Dieser Ort weckt Erinnerungen… Stimmts, mein Liebling?“, sprach William sanft und sein liebevolles Lächeln brachte sie zum erröten.

„Oh ja… Das war einer der schönsten Augenblicke in meinem bisherigen Leben, als du mir einen Heiratsantrag gemacht hast… Ich war noch nie derart überrumpelt gewesen und habe zuerst kein Wort mehr über die Lippen gebracht, ha, ha. Dieser naturbelassene Ort, ist zu jeder Jahreszeit malerisch und wunderschön… Hier ist die Welt wortwörtlich noch in Ordnung. Und jetzt rückt auch schon Weihnachten und das Ende des Jahres immer näher. Das kommende Jahr wird uns ebenfalls wieder viel Freud und Leid bescheren. Letzteres wird uns höchstwahrscheinlich am meisten heimsuchen… Aber lass uns erst mal im Hier und Jetzt leben, denn die Zukunft ereilt uns noch früh genug“, sprach Miceyla mit sachter Melancholie und versuchte mit ihrem heiteren Lächeln, all die negativen Gedanken zu vertreiben.

„Genau darüber wollte ich mit dir sprechen… Wir werden Weihnachten und den Jahreswechsel zusammen mit den anderen in London verbringen. Dies ist schon mal im Voraus mein Weihnachtsgeschenk an dich. Ich denke eine größere Freude könnte ich dir nicht machen“, überraschte William sie ganz spontan und sein gutmütiges Leuchten in den Augen verriet, dass auch er sich daran erfreute, die feierlichsten Tage des Jahres gemeinschaftlich in London zu verbringen. Überglücklich und sprachlos zugleich, brachte Miceyla ihre Dankbarkeit zum Ausdruck, indem sie ihn liebevoll umarmte.

„Danke Will, ich danke dir von ganzem Herzen. So wird das ereignisreiche Jahr, einen fröhlichen Ausklang finden. Denn wer weiß schon, wie oft wir noch in dieser Konstellation zusammenkommen werden… Doch ist dir sicher nicht entgangen, wie sehr ich Durham und die Menschen hier ins Herz geschlossen habe. In dieser Kleinstadt, leben wir wesentlich freier von den bindenden adeligen Verpflichtungen, als in London. Aber auch nur dank Albert, der tapfer dort die Stellung hält… So ist es mir vergönnt, mich mental auf meine künftige Rolle als Mutter vorzubereiten. Meine Freude ist nach wie vor riesengroß, unser eigenes Kind kennenzulernen. Und dennoch existiert in mir auch eine nicht zu unterdrückende Angst… Die Angst vor meiner eigenen Entscheidung, welche ich nach der Geburt treffen muss. Es wird die wohl schwerste meines Lebens werden… Jedoch habe ich dich stets an meiner Seite, darum wird mich der Mut niemals verlassen. Ich glaube daran, an die Kraft unserer Liebe…“, sprach Miceyla offen ihre Gefühle aus und lehnte sich sachte seitlich gegen William, während sie beide mit verträumten Blicken, auf der mit dickem Schnee bedeckten Lichtung standen und die friedliche Stille genossen.

„Sorge dich nicht, meine liebe Winterrose, dein Vertrauen wird belohnt werden. Wir finden für jedes Problem eine passende Lösung, die Vergangenheit bewies dies doch schon zur Genüge. Wie du immer sagst ist jeder Moment einmalig, darum sollten wir die Zeit schätzen, welche wir gerade haben. Denn leider wird dies nicht von Dauer sein und kann nicht annähernd das erlebte Leid ausgleichen. Aber keiner von uns muss jenen schweren Weg alleine gehen. Auch du erinnerst mich immer wieder daran. Zusammen sorgen wir dafür, dass niemand auf der Strecke bleibt und vom Weg abkommt. Ein vorherbestimmtes Schicksal haben nur diejenigen, welche nicht wagen etwas zu verändern. Die Möglichkeiten sind unendlich und führen zu etlichen neuen Ideen und Erkenntnissen. Dabei kann jeder Gleichgesinnte und Verbündete finden. Solange man nicht blind und mit verschlossenem Herzen durchs Leben läuft, ist dies keine große Kunst. Und vergiss bitte niemals, ich bin nicht nur dein schützendes Schild, sondern auch dein Schwert, welches jegliche Gefahren um dich herum vernichtet. Du bist stark geworden, dennoch ist es keine Schande sich beschützen zu lassen. Auch wenn ich wünschte, unnötigen Gefechten aus dem Weg zu gehen, bleibt es dennoch am effizientesten, den verdorbenen Adel auszulöschen und die unterdrückte Arbeiterklasse endlich aus deren Gewalt zu befreien. Jeder der einen hohen Posten innehält, sollte verantwortungsvoll mit den dadurch verbundenen Privilegien umgehen. Auch die Angehörigen der Menschen, denen wir das Leben nehmen trauern, diese schmerzvolle Tatsache vergesse ich ebenfalls nicht, ich verspreche es. Du findest deine Bestimmung, sobald du unser Kind in Armen hältst…unsere Bestimmung… Danke meine Liebste… Du bist das hellste Licht in meiner Welt, die in eine finstere Dunkelheit gehüllt ist und bist selbst ein reines Wunder…“, schüttete er ihr ungewohnt rührselig sein Herz aus und küsste sie mit um sie geschlungenen Armen so leidenschaftlich auf die Lippen, als hätte er angst sie zu verlieren. Sogar seine Zerbrechlichkeit schimmerte von Zeit zu Zeit hindurch. `Du bist eine Moriarty und gehörst zu mir… Als Dank für deine Treue, wache ich über dein Leben. Bei mir bist du sicher und ich werde stets dafür sorgen, dass du glücklich bist. Daher brauchst du von niemandem gerettet zu werden… Auch nicht von Sherlock…`
 

Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, lief Miceyla durch London und erkundete die Stadt, bei der eine freudige Weihnachtsstimmung in der Luft lag. Alles war festlich geschmückt und die Menschen liefen eifrig von Geschäft zu Geschäft, um Geschenke einzukaufen. Sie selbst hatte ebenfalls einige Erledigungen abgearbeitet. Beim Verlag hatte sie bereits vorbeigeschaut und ihre angehäuften Manuskripte abgegeben. Die Mädchen des Waisenhauses, waren mit überschwänglicher Freude auf sie zugestürmt und daher blieb sie direkt für eine Weile dort, um ihnen ein wenig vorzulesen. Jedes Mal wenn sie das Waisenhaus betrat, fühlte sie sich mit jedem der Mädchen, auf eine besondere Art und Weise verbunden. Denn sie wurden alle ohne Ausnahme aus schwierigen Verhältnissen gerettet und hatten bereits die unangenehme Bekanntschaft mit Schmerz und Leid gemacht. Und nun durften sie alle die wahre Lebensfreude erfahren und das Glück auskosten, zu gebildeten jungen Frauen heranzuwachsen, die lernten sich in der von Männern dominierten Welt durchzusetzen zu können, Miceyla war stolz darauf, ein Vorbild für die Kinder sein zu dürfen, welches bewies das es sich lohnte, für die eigenen Träume zu kämpfen und niemals aufzugeben. Und daher war es umso wichtiger, den Kindern eine sichere und gerechte Welt zu hinterlassen. Nachdenklich lief sie nun durch die Innenstadt und überlegte dabei hin und hergerissen, ob sie nun Sherlock nach all der Zeit wieder einen Besuch abstatten sollte oder nicht. Eigentlich gab es keinen vernünftigen Grund zum Zögern und sie brauchte keinerlei Hemmungen zu haben. Schließlich war es kein Geheimnis, dass sie ihn unheimlich vermisste. Miceyla sehnte sich nach ihren tiefgründigen Gesprächen, dem gemeinsamen lösen von schwierigen Fällen und danach, Fieslinge zusammen auf gewiefte Weise übers Ohr zu hauen. Und dennoch vermied sie es sogar, sich in der Nähe der Baker Street aufzuhalten. Sie war nun mal selbst eine Verbrecherin, jene Tatsache würde auf ewig zwischen ihnen stehen. Es half auch nicht damit zu prahlen, dass sie im Namen der Gerechtigkeit handelte. Mit leicht getrübter Stimmung, führte sie ihr letzter Rundgang des Tages in die Katzenpension, wo sie sich von den aus der Verwahrlosung geretteten Katzen tröstete, welche nun darauf warteten, ein liebevolles Zuhause zu finden.

„Mrs Moriarty, da bittet ein vornehmer Kunde darum, von Ihnen persönlich beraten zu werden…“ Aus ihrem träumerischen Zustand gerissen, lief Miceyla neugierig zum Empfang und blickte erstaunt einen akkurat gekleideten Mann, mit ordentlich nach hinten gekämmten schwarzen Haaren an.

„Mr Holmes! Guten Tag, es freut mich Sie zu sehen. Da haben Sie aber Glück, dass Sie einen Zeitpunkt erwischt haben, bei dem ich mich gerade hier aufhalte. Aber ich kann mir denken, dass dies kein wirklicher Zufall ist, ha, ha“, begrüßte Miceyla Sherlocks älteren Bruder ganz unkonventionell und lächelte dennoch höflich.

„Die Freude ist ganz meinerseits, Sie gesund und munter zu sehen. London hat Sie vermisst und um es nicht unerwähnt zu lassen, selbstverständlich auch mein kleiner Bruder, der unnahbare Egomane…“, deutete Mycroft mit einem dezent neckendem Schmunzeln an. Da Miceyla seinem intensiven Blickkontakt nicht standhalten konnte, sah sie flüchtig hinab.

„Geht…es Sherlock gut?“, fragte sie nach einem Moment des Zögerns mit zaghafter Stimme.

„Sollten Sie dies nicht am besten selbst herausfinden? Ich dachte Ihre Freundschaft mit ihm bedeutet Ihnen sehr viel. Sogar ich sage etwas derartiges selten, aber Sie beide haben sich wahrlich gesucht und gefunden. Sherlock kennt die Menschen denen er begegnet, bereits in den ersten wenigen Sekunden des Aufeinandertreffens in- und auswendig. Dennoch lässt er selbst kaum eine Person näher an sich heran und auf der anderen Seite traut sich keiner wirklich, sich länger in seiner Gegenwart aufzuhalten. Denn wer will schon die negativen Aspekte der eigenen Biografie zu hören bekommen? Doch Sie zählen zu einer der wenigen Ausnahmen. Er mag Augen wie ein Adler und Ohren wie ein Luchs besitzen, aber wenn er vor seiner Seelenverwandten steht, ist er plötzlich blind und taub. Doch ich mische mich da nicht ein, den Verlauf eurer gemeinsamen Geschichte, kreiert ihr schließlich selbst… Aber lassen Sie mich nun zu dem Grund meines Besuchs kommen. Am Tag vor Heiligabend, ist es höchste Zeit für einen jeden tüchtigen Bürger, die letzten Präsente zu erwerben. Auch ich stelle dabei keine Ausnahme dar. Ich habe lange darüber nachgedacht, womit ich meiner Frau eine besondere Freude machen könnte. Und was wäre schöner als ein treues Haustier, welches ihr Gesellschaft leistet, in der Zeit wo ich nicht bei ihr bin. Es wird Sie überraschen, meine Frau erwartet ebenfalls ein Kind. Sie wird unser Kinde ein paar Monate nach Ihrem gebären“, verriet Mycroft ihr stolz und vertraulich zugleich die frohe Botschaft. `Ich wusste gar nicht, dass Sherlocks Bruder verheirate ist. Aber verwunderlich ist es überhaupt nicht bei seinem hohen Posten und umgänglichem Charme. Zwei Brüder wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten…`, dachte Miceyla feststellend und ein liebevolles Lächeln huschte kurz über ihre Lippen.

„Das ist eine wundervolle Neuigkeit, Mr Holmes. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau nur das Beste. Und ich finde die Idee großartig, ihr eine Katze zu schenken. Sehen Sie sich nur in Ruhe um. Sie werden bestimmt fündig. Man sagt Katzen ja einen unabhängigen Charakter nach. Aber es soll vorkommen, dass der Besitzer nicht die Katze auswählt, sondern die Katze den Besitzer, he, he“, meinte Miceyla mit belustigtem Grinsen und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich nach Belieben umzusehen.

„Da ist viel Wahres dran. Bei uns Menschen ist es nicht anders, die einen sind treue Seelen und die anderen sind unabhängige Einzelgänger… Dann lasse ich mich mal von einer der anmutigen Samtpfoten auswählen. Und bei Gelegenheit mache ich Sie mal mit meiner Frau bekannt. Sie werden sich bestimmt wunderbar mit ihr verstehen und das nicht nur weil Sie

beide werdende Mütter sind.“ Nachdem Mycroft sich eine der Katzen ausgesucht hatte, welche bei ihm und seiner Frau nun ein neues Zuhause fand, verließ Miceyla ebenfalls wieder die Pension. Da es früh dunkel wurde, wäre es am vernünftigsten gewesen, auf direktem Wege mit der Kutsche zurück in das Anwesen zu fahren. Und dennoch verspürte sie den Drang, noch ein Weilchen länger durch London zu spazieren. Am Tag vor Heiligabend wirkte die Stadt ungewohnt friedlich, weit und breit war kein aufbrausender Tumult in Sicht. Ehe sie sich versah, lief sie durch die Straße, in welcher sich ihre ehemalige Wohnung befand. `Ob Mrs Green wohl tagtäglich fleißig dabei ist, meinem armen Nachmieter zu quälen? Ha, ha! Ihr penetrantes Fluchen und Meckern höre ich bereits wieder im Geiste. Besser ich biege hier ab…` dachte Miceyla schmunzelnd und bog noch bevor sie jenes Haus erreichte, in eine Seitengasse ab, um unangenehmen Erinnerungen aus dem Weg zu gehen, die sie so schnell nicht mehr loswerden würde. Mit melancholischem Lächeln stand sie schließlich mitten auf dem Marktplatz, auf welchem sie ihre allererste Begegnung mit William, Albert und Sherlock gehabt hatte. Dies war mittlerweile beinahe ein ganzes Jahr her. Jener schicksalhafter Auftakt ihrer abenteuerlichen Reise. Es gab wohl kaum einen geeigneteren Ort, um all die vergangenen, erlebnisreichen Geschehnisse Revue passieren zu lassen. In der kurzen Zeit war derart viel passiert, dass es sich für Miceyla so anfühlte, als seien ganze Jahrzehnte vergangen. Und manchmal war es für sie kaum vorstellbar, dass sie dazu beitrug, die Zukunft von London mitzugestalten. Von Stolz und Wehmut gleichermaßen gepackt, blickte sie hinauf zu dem bereits dunklen Winterhimmel und hoffte dabei, dass sie und ihre Weggefährten, während ihrer weiteren Reise vom Glück begleitet werden mochten.

„Mir schwant Übles bei diesem Anblick… Obwohl meine quälende Langeweile endlich ihr erlösendes Ende fände, wenn die unangefochtene `Marktplatzmordheldin` einen weiteren Mord heraufbeschwören würde…“ Hellwach und mit vor Freude weit aufgerissenen Augen, drehte Miceyla sich bei der ihr vertrauten Stimme herum und blickte in Sherlocks gutmütige Augen, die mehr Wärme und Wohlwollen ausstrahlten, als sie es in Erinnerung hatte. Von einer unnahbaren Distanz, fehlte bei seinem freundlichen Antlitz jede Spur. Von Glücksgefühlen gepackt lief sie auf ihn zu und konnte ihre Freudentränen nur schwerlich verbergen.

„Sherlock… Ich bin so froh dich endlich wiedersehen zu können. Du hast natürlich Wind davon bekommen, dass ich wieder in London bin. Aber das wir uns ausgerechnet hier treffen… Nun ja… John und Emily haben sich öfters die Zeit für eine längere Zugfahrt genommen, um mich besuchen zu kommen. Aber du schienst wohl so sehr mit deiner Verbrecherjagd beschäftigt zu sein, dass du mich vollkommen vergessen hast… Ich hoffe es waren wenigstens ein paar interessante Fälle dabei, für die es sich gelohnt hat, seine Freundschaften zu vernachlässigen…“, erwähnte Miceyla etwas beleidigt und versuchte ihre kindliche Freude damit zu verschleiern. Sherlock stellte sich dicht neben sie und betrachtete mit gelangweilten Blick die Menschen, welche hektisch ihre Besorgungen unter Zeitdruck erledigten.

„Im berühmtberüchtigten Verbrechernest namens London, gibt es nur noch einfallslose Dilettanten, bei denen sich sogar Scotland Yard kein Bein ausreißen muss, um sie zu fassen. Die inszenierten Verbrechen unseres Genies der Unterwelt, sind dagegen ebenso wahre Meisterwerke, wie die Bühnenstücke von Fairburn. Um letzteren ist es ebenfalls auffällig ruhig geworden. Zwar gab es auf beiden Seiten noch ein paar Scharmützel, doch wurden daraus nicht mal aufsehenerregende Schlagzeilen in der Zeitung. Und Johns Aufmerksamkeit gilt nun etwas ganz anderem… Mit ihm kann ich also auch nicht mehr die Zeit totschlagen und bin Mrs Hudsons Gezeter alleine ausgesetzt. Du denkst also ich hätte dich vernachlässigt? `Ist ihr die Bürde einer Schwangerschaft nicht doch zu viel? Wird sie von ihren quälenden Gedanken zerfressen, während sie sich nicht mehr im Zentrum des Geschehens befindet und von ihren Freunden umgeben ist? Wäre es nicht weitaus frustrierender, sich nur kurz in Durham zu sehen, wo William alles mitbekommt, als sich vorübergehend nicht mehr zu sehen?` Jetzt kennst du einen bescheidenen Bruchteil davon, was mir durch den Kopf ging. Jene Fragen sollten dich ebenfalls beschäftigt haben. Nun darfst du gerne noch mal deine Vorwürfe überdenken, dass ich dich vernachlässigt hätte…“, erwiderte Sherlock mit betonender Stimme und beugte sich kurz so weit zu ihrem Gesicht hinab, dass sie seinem fesselnden Blickkontakt nicht ausweichen konnte.

„Ich…ich habe es ja verstanden. Aber Dankeschön, jetzt hast du mir indirekt verraten, dass du rund um die Uhr nur an mich denken musstest. Na Hauptsache, du hast dabei nicht das unbarmherzige Verbrecherimperium vernachlässigt. Denn ohne dich wäre London dem Untergang geweiht. Das Ende des Jahres ist nun doch schneller als erwartet gekommen… Die Zeit verfliegt in einem beängstigenden Tempo… Daher sollten wir sie weise nutzen. Falls du hoffst, dass ich in den vergangenen Monaten, endlich den friedlichen Einklang mit mir selbst gefunden habe, muss ich dich leider enttäuschen. Die Geburt meines ersten Kindes sollte mich mit purer Freude erfüllen. Und dennoch habe ich auch Angst… Ich möchte das dieses Kind eine glückliche Zukunft erleben darf. Doch unsere egoistische Gesellschaft, bietet dafür nicht gerade ein sicheres Grundgerüst. Auch ein Adelstitel ist kein allmächtiges Schutzschild gegen Hass und Ungerechtigkeiten. Du darfst mich gerne wieder für mein pessimistisches Denken tadeln… Dennoch werden meine Sorgen nicht dadurch vertrieben, indem ich alles schönrede..“, vertraute Miceyla sich ihm offenherzig an, da sie es für zwecklos hielt etwas vor ihm zu verbergen, bei dem er mit Leichtigkeit selbst dahinterkommen würde. Dabei hätte sie sich am liebsten gegen seine Schulter gelehnt, jedoch kämpfte sie hartnäckig gegen dieses Verlangen an. Der Tag in der Großstadt hatte sie ziemlich erschöpft. Sie war es einfach nicht mehr gewohnt, so lange auf den Beinen zu sein. Sherlock entging dies natürlich nicht und gab ihr vorerst keine Antwort auf ihre Bedenken, sondern stupste sie nur sanft mit einem gütigen Lächeln an.

„Wenn wir hier noch länger auf der Stelle verharren und ein Pläuschchen halten, sind wir bald eingefroren und mit dem Schnee verschmolzen. Liam wirft mich anstatt Brennholz in den Kamin, wenn du dir eine Erkältung holst. Ich bin doch alles immer schuld. Keine Bange, ich werde dich nicht gleich wieder nach einem kurzen Treffen abschieben. Aber gegen eine aufwärmende Umgebung, hättest du sicher ebenfalls nichts einzuwenden, nicht wahr? Also folge mir, ich lade dich zur Feier des Tages ein!“, verkündete Sherlock mit strahlendem Lächeln und selbstverständlich nahm Miceyla seine spontane Einladung freudig an.

„Ui… Heute ist es also mal nicht deine Stammkneipe. Wir haben uns ja schon in diversen beliebten Pubs getroffen, aber das du mich zur Abwechslung einmal in ein Nobelrestaurant entführst, macht mich beinahe sprachlos. Wir lange du wohl dafür sparen musst, um hier ein Gängemenü zu bezahlen… Da kriege ich ja fast ein schlechtes Gewissen, wenn ich dir dein hart erarbeitetes Geld aus den Taschen ziehe…“, neckte sie ihn freundschaftlich, als sie mit ihm vor einem der vornehmsten Restaurants von ganz London stand, in welchem sie natürlich schon mit William und Albert diniert hatte. Der festlich geschmückte Eingang mit einem davorliegenden roten Teppich, sah nun noch einladender aus, als dies ohnehin immer der Fall war.

„Unterschätze nicht mein Feingefühl für festliche Anlässe. Außerdem ist ein überfülltes Pub, in dem sich lauter betrunkene Streithähne tummeln, nicht gerade ein geeigneter Aufenthaltsort für eine Hochschwangere… Und nein, ich muss kein halbes Jahr sparen, um mir die sündhaft teuren Gerichte der Reichen leisten zu können. Aber wenn man daran denkt, was gewisse verschwenderische Herrschaften hier an Geldsummen dalassen, mit denen man eine ganze Hilfsorganisation für Arme errichten könnte, wird einem bereits beim Anblick der Gäste zu übel, um die vornehmen Speisen herunter zu bekommen- Ha, ha, das war jetzt nicht Absicht, uns die Stimmung zu verderben. Weihnachten ist die beste Gelegenheit, nicht nur um andere zu beschenken, sondern auch um Geschenke anzunehmen“, meinte Sherlock mit flüchtigem Lächeln und ließ ihr mit einer würdevollen Handbewegung den Vortritt, beim betreten des edlen Restaurants. Miceyla verstand die verborgene Bedeutung seiner Worte, jedoch empfand sie die momentane Atmosphäre zwischen ihnen beiden als ein wenig ungewohnt. Sie kannte ihn nur als sturen Freigeist, der einem kaum Zutritt in dessen chaotische Welt gewährte. Gerade allerding, verließ er sein individuelles Reich, um mit ihr auf Augenhöhe im Leben der Normalsterblichen zu wandeln. Auch wenn dies eine etwas übertriebene Metapher darstellte, war der Vergleich am passendsten, um seine stärker als sonst wirkende Rücksichtnahme und Zuvorkommenheit zu beschreiben. Lächelnd erkannte Miceyla darin die verborgenen Zeichen, welche darauf hindeuteten, wie viel sie Sherlock bedeutete. Das Restaurant war in ein angenehm dämmriges Licht getaucht. Die friedlich flackernden Kerzen auf den Tischen, waren einer weihnachtlichen Atmosphäre würdig. Ein Butler begleitete die zwei zu einem freien Tisch und nahm ihre Bestellung auf.

„`Ein kleiner Junge fragte einmal einen alten Mann: „Weshalb sind Raben eigentlich pechschwarz? Bestimmt sind sie in Wahrheit vom Teufel beschworene Kreaturen, um Menschen und Tieren Angst einzujagen!“ Daraufhin antwortete der alte Mann: „Nun mein Junge, die Natur gab jedem Geschöpf eine vorherbestimmte Farbe. Dem Menschen ist es zu verschulden, unbegründet Sündenböcke zu wählen, um ihnen des Welten Unheil zu beschuldigen. Mag das Schwarz der Raben auch als Abschreckung dienen. Unter ihrem Gefieder schlägt ein treues und gutmütiges Herz. Die Verachtung der Welt kann ihnen nichts anhaben, denn sie leben untereinander in einer Gemeinschaft, deren Stärke zum strahlenden Licht wird, welches selbst die dunkelste Nacht durchbricht. Und jetzt frage ich dich, mein Junge. Wagst du dich dem Zwang der Welt entgegenzustellen und einer vorurteilslosen Gemeinschaft beizutreten? Bedenke jedoch, das der Weg dorthin Einsamkeit und Verluste mit sich bringt. Aber es wartet ein Gewinn auf dich, der mit keinem Geld der Welt gleichzusetzen ist.“` Dies ist ein kurzer Ausschnitt aus einem recht unbekanntem Märchen. Jede Erzählung beinhaltet ja meistens eine lehrreiche Moral. Auch die Geschichte des Rabenjungens, versucht uns etwas ganz Bedeutsames mitzuteilen, das sich ganz gut auf unsere gespaltene Gesellschaft übertragen lässt. Als Autorin die wert darauf legt, dass Außergewöhnliche hervorzuheben, wird dir jenes Märchen bestimmt nicht unbekannt sein. Daher erlaube ich mir dir die bescheidene Frage zu stellen, wie das Ende auf dich wirkt“, begann Sherlock aus dem Stehgreif heraus zu erzählen und Miceyla war aufs Neue erstaunt darüber, wie gut es ihm gelang, jegliche Erzählungen und Berichte so authentisch rüberzubringen, dass sich dabei im Kopf des Zuhörers, ein bildgewaltiges Schauspiel abzuspielen begann. Zumindest war es bei ihr der Fall und sie könnte ihm stundenlang zuhören. `Ein Glück das John Sherlocks Abenteuer schriftlich festhält. Es wäre sonst wie ein Stück wertvolle Kultur, welche man den Menschen vorenthalten würde`, dachte Miceyla kurz in sich gekehrt, ehe sie auf seine Frage einging.

„Dieses Märchen ist mir in der Tat ein Begriff. Es ist eine ziemlich düstere Geschichte. Früher las man sie unartigen Kindern vor, um sie zu züchtigen. Heute wird das als Sünde angesehen. Zumindest in den gehobeneren Kreisen. Und was das Ende angeht… Der Junge wird letztendlich zum Verräter, obwohl er anstrebte bei den vertriebenen Raben zu leben. Beide Seiten verbünden sich und töten schließlich den Jungen. Damit hat er unwissentlich, eine über Jahrzehnte andauernde Feindschaft beendet. Und sein Tod war somit der Preis für den Frieden. Nun, soviel zu meiner Interpretation. In unserer Welt wird solchen Opfern nur

wenig Beachtung geschenkt. Die Menschen finden immer einen neuen Grund zum Streiten

und beschuldigen stets erst andere, bevor sie sich mit den eigenen Fehlern auseinandersetzen. Wer mit einem Heldentod in die Geschichte eingehen will, muss schon das Unvorstellbare vollbringen… Aber kommen wir noch mal auf das Märchen zurück. Der Junge hatte nur gute Absichten, stellte jedoch zu hohe Ansprüche an sich selbst und sein Umfeld. Ihm fehlte es an Gleichgesinnten. Vielleicht wäre dadurch sein Schicksal änderbar gewesen. Doch dir geht es sicherlich darum zu ergründen, wie gut sich die Geschichte, mit unserer Wirklichkeit assoziieren lässt… Meiner Meinung nach, gibt es für jede Lebenssituation eine passende Stelle aus einem Buch. Nur finde ich das ganze Vergleichen zwecklos. Es mag Schicksale geben die sich ähneln. Jedoch ist es unser Leben und es sind unsere Entscheidungen! Und wir schreiben unsere Geschichte selbst! Wenn einen alles und jeder verschmäht, muss man eben gegen den Strom schwimmen, um auf den Gipfel des Erfolgs zu kommen“, antwortete Miceyla ihm voller Inbrunst und dabei wurde ihre Stimme kurz so laut, dass sie einige der Gäste vorwurfsvoll beäugten. Verlegen blickte sie auf den Tisch hinab und senkte hastig wieder ihre Stimmlage. Allerdings begann Sherlock plötzlich lautstark zu lachen, sodass sie erneut die Aufmerksamkeit der anderen Restaurantbesucher auf sich zogen.

„Ha, ha, ha!... Das ist die Antwort, welche ich von dir erwartet habe! Du hast vollkommen recht, was kümmern uns schon erfundene oder vergangene Geschichten, wenn wir doch unseren Einfluss klug nutzen können, um unserem Leben zu einem Werdegang zu verhelfen, der sich von jeglichen, vorherbestimmten Schicksalen abhebt. Viele Erzählungen ähneln wahren Begebenheiten und dienen dazu, das Erlebte besser zu verarbeiten. Irgendwie verleitet mich Weihnachten dazu, alte Schauermärchen auszukramen… Mein Bruder würde mich nun wieder aufziehen und behaupten, das läge daran weil ich nicht genug unter Leute komme… Hach…“, sprach Sherlock vertraulich und seufzte beim Gedanken an seinen älteren Bruder.

„Apropos Mycroft… Er ist mir heute sogar bereits vor dir über den Weg gelaufen. Dabei ist mir zu Ohren gekommen, dass er verheiratet ist. Da er keinen Ehering trägt, wäre ich nicht von alleine darauf gekommen. Manchmal hat auch er die sonderbare Angewohnheit, sich in Geheimnisse zu hüllen, welche von den meisten nicht gelüftet werden können. Aber das liegt wohl in der Familie, ha, ha!“, erzählte Miceyla von ihrer überraschenden Begegnung mit Mycroft und lächelte sanft.

„So, so… Wenn er dir nicht auf die Nerven gegangen ist, bin ich ja beruhigt. Doch das eine Frau sich freiwillig an in bindet, ist mir fast schon zu paradox… Es sind nur selten Paare anzutreffen, die wie Pech und Schwefel füreinander geschaffen sind. An jenem winterlichen Ball von Lord Blanchard, durfte ich den Tanz eines solchen Paares, aus der hintersten Reihe beobachten… Und du hast doch selbst bereits die Lösung, für deine Sorgen ausgesprochen. Also lassen wir nicht zu, von einem ach so mächtigen Schicksal in die Irre geführt zu werden. Ein wahrer Künstler belächelt ebenfalls, die auf ihn einschlagenden Vorschriften, wenn er vor einer nackten Leinwand steht. Sein Werk entspringt letztendlich der Kreativität seiner freien Gedanken und der Inspiration ihm nahestehender Menschen. Und wenn dich Kummer plagt, so rede bitte darüber. Ich habe stehts ein offenes Ohr für deine Probleme und Lösungen finden sich immer gemeinsam. Dafür sind Freunde da. Selbst wenn du dir das schwerste Verbrechen hast zu Schulden kommen lassen und ganz Scotland Yard hinter dir her ist, ich werde dir helfen. Denn du besitzt ein gutes Herz, welches sich nach Frieden sehnt und für Gerechtigkeit kämpft. Die unbezwingbaren Hürden stemmen wir gemeinsam… Nun aber genug der rührseligen Reden, gleich kommt unser Essen. Und willkommen zurück in London. Nicht mehr lange und du wirst wieder zum festen Bestandteil dieser Stadt, wirst sehen. Dies ist die Wahl, welche dir niemand nehmen kann. In diesem Sinne, bon appetit!“, verkündete Sherlock feierlich, als im selben Moment ihr Essen serviert wurde. Gerührt von seinen gütigen Worten, lächelte sie ihn dankbar an. `Du sprichst von Will und mir. Dann bist du an jenem Abend, tatsächlich noch eine Weile länger geblieben… Und ich kann es dir nicht verübeln, mich dazu verleiten zu wollen, mein mögliches Wissen über den Meisterverbrecher mit dir zu teilen. Du magst mir nur helfen, ich weiß… Aber ich würde mir nie verzeihen, wenn du meinetwegen auf die Verbrecherbahn gerietest. Unsere Freundschaft ist mir kostbarer als jeder Diamant und daher will ich dir nicht die Last meiner Sünden aufbürden. Meine Einstellung wäre dir zuwider…dies ist mir klar… Doch es sollte bei einem Rabenjungen bleiben…`, dachte Miceyla nach dem Abschluss ihres tiefgründigen Gesprächs, ohne dabei in eine schwermütige Stimmung zu verfallen und begann gemeinsam mit Sherlock, dass über die Maße appetitlich aussehende Mahl einzunehmen.

„Es ist ziemlich spät geworden… Besser ich trete allmählich die Heimreise an. Denn ich mag am Abend vor Weihnachten, gewissen überführsorglichen Herrschaften, keinen unnötigen Kummer bereiten“, meinte Miceyla etwas unruhig nach dem Essen und war beinahe schon betrübt darüber, wie rasch die Zeit verflog.

„Bestell deinen `überführsorglichen Herrschaften` ruhig beste Grüße von mir. Sie werden sicherlich ein Auge zudrücken, wenn ich zur Abwechslung mal die Rolle des Aufpassers übernommen habe. Und ich werde sie auch zukünftig gewissenhaft übernehmen. Die vergangenen Fehler sind mir eine Lehre gewesen. Du hast mein Wort, dass sie sich nicht mehr wiederholen werden. So, war doch ein netter Abend und bald können wir wieder öfter um die Häuser ziehen und das ein oder andere Rätsel dabei lösen. Denn ohne das du es aussprechen musst weiß ich, wie sehr du London und den Trubel vermisst. Schließlich bleibt einem bei all der Aufregung keine Zeit für negative Grübeleien, stimmts?“, sprach Sherlock grinsend mit einem Augenzwinkern und erhob sich von seinem Platz, nachdem er bezahlt hatte.

„Auf jeden Fall! Zwar wird meine Verantwortung in nicht allzu ferner Zukunft steigen, doch für unsere gemeinsame Verbrecherjagd, werde ich immer Zeit finden“, erwiderte Miceyla euphorisch und stand nun ebenfalls auf. Das sich in ihren Worten mehr ein sehnsüchtiger Wunsch verbarg, der mit aller Wahrscheinlichkeit nicht wahr werden würde, ignorierte sie aufgrund ihres freudigen Gemütszustandes. Als sie beide aus dem Restaurant traten, umgab sie sogleich eine klirrende Kälte. Das unerwartete Treffen mit Sherlock, hatte ihr Herz jedoch so sehr gewärmt, dass sie diese kaum wahrnahm. Da entdeckte sie plötzlich zwei Häuser weiter einen aufgeregt winkenden Fred, den man in dem Schutz der Schatten nur als dunkle Silhouette erkannte. `Oha…da werde ich gleich wohl jemanden beruhigen müssen, der vor Sorge beinahe umgekommen ist… Naja, ich bin das ja selber schuld. Ich versprach zeitig wieder zurück zu sein…`, dachte Miceyla mit einem leicht beschämenden Gefühl.

„Du brauchst mich nun nicht weiter zu begleiten. Meine Eskorte ist soeben eingetroffen… Und ich bedanke mich recht herzlich für den wundervollen Abend. Mich endlich noch mal mit dir unterhalten zu können, hat mir wirklich sehr gut getan. Danke…Sherly…“, sprach sie mit liebevollem Lächeln und hoffte, dass bis zu ihrem nächsten Treffen, kein allzu großer Zeitraum lag.

„Verstehe schon… Und gern geschehen. Ich schätze unsere gemeinsamen Gespräche ebenfalls sehr. Dann also bis bald. Vielleicht…lasse ich mich auch mal zwischenzeitig in Durham blicken. Oder noch besser, ich mache direkt ein Versprechen daraus. Du darfst mir gerne ordentlich die Leviten lesen, sollte ich es nicht einhalten. Ich möchte schließlich auch zu den Ersten gehören, die euer Kind kennenlernen. Gib auf dich Acht und schone dich bis zu der Geburt. Und lasse eine Weile deine Sorgen hinter dir. Bis du wieder uneingeschränkt London unsicher machen kannst, halte ich hier solange die Stellung. Daher ist es dir vergönnt, dich mal so richtig auf die faule Haut zu legen, Mia“, versprach Sherlock aufrichtig und für einen flüchtigen Moment, verlor sie sich in seinen treuen, dunkelblauen Augen.

„Ich werde dieses Versprechen nicht vergessen, he, he. Pass auch du bitte gut auf dich auf. Die Gefahr sucht dich selbst im Schlaf heim, wie ich immer sage… Bis bald, mein gewitzter Verfechter der Gerechtigkeit…“, sprach sie noch lächelnd und lief anschließend eiligen Schrittes zu Fred.

„Miceyla! Weißt du eigentlich wie spät es ist?! William bestand darauf, dass du dich nicht gleich an deinem ersten Tag in der Stadt zu sehr verausgabst. Ich persönlich habe ja nichts dagegen, wenn du dich mit Sherlock triffst. Ihm vertraue ich mehr als Clayton. Aber wenigstens einer von uns sollte darüber vorher Bescheid wissen“, platzte es sogleich aus Fred und ihm stand die Besorgnis ins Gesicht geschrieben. `Letztendlich bin ich momentan allen ja doch nur eine Last, auch wenn das keiner so richtig zugeben mag… Ich gestehe mir ein, dass ich wohl ziemlich froh sein werde, sobald ich die lästigen Einschränkungen der Schwangerschaft endlich los bin…`, dachte Miceyla kurz etwas betrübt, jedoch zeigte sie kurz darauf ein überschattendes Grinsen.

„Ach, dabei hatte ich noch vorgehabt, dem Theater einen Besuch abzustatten. Schade das der Tag so wenig Stunden hat… Aber die Nacht ist noch jung, vielleicht sollte ich… Ha, ha, ha! War nur ein Witz!“, neckte sie ihn spielerisch, um sein besorgtes Gemüt etwas zu lockern.

„Hach…ist ja schon gut… Ich freue mich aber, dass du nach langem noch mal eine abwechslungsreiche Zeit in London hattest. Lass uns dennoch jetzt zum Anwesen zurückkehren“, meinte er nachgebend und lief prüfend um sich blickend voraus. Auch Miceyla warf rasch noch einen letzten Blick über die Schulter zu der Stelle, wo sie sich von Sherlock verabschiedet hatte. Doch er befand sich nicht mehr dort und so folgte sie schweigsam Fred, der sie zu einer Kutsche führte. `Danke Sherly, für dein Versprechen. Ich weiß, dass dies dein eigentliches Geschenk war…`
 

Mit einem funkelnden Leuchten in den Augen, blickte Miceyla zu dem prachtvoll geschmückten Weihnachtsbaum empor, welcher im Wohnzimmer des Moriarty-Anwesens stand. Es war der schönste Baum, den sie je gesehen hatte. Er strahlte einen spürbaren Frieden aus und bereicherte die weihnachtliche Atmosphäre mit umschmeichelnder Liebe und Wärme. Es kam wahrlich einem Wunder gleich, dass sie alle gemeinschaftlich feiern konnten und sich für eine Weile, von ihren fesselnden Verpflichtungen losreißen durften.

„Wäre jeden Tag Weihnachten, so hätten die Menschen einen triftigen Grund, um ihre zwecklosen Streitereien zu unterbinden. Doch es wäre zu schön um wahr zu sein. Denn es gibt genug Leute, die nichts von dem Fest halten und weiterhin andere skrupellos ausbeuten. Dabei gibt es nichts schöneres, als die glücklichen Gesichter der Armen, wenn sie bedingungslos Geschenke erhalten, für die ihnen das nötige Geld fehlt“, begann William liebevoll, der sich neben sie gesellte und gemeinsam mit ihr den Weihnachtsbaum bewunderte. Louis und Fred waren gerade von einem Rundgang durch das Armenviertel zurückgekehrt. Dort hatten sie Geschenke und Essen verteilt, vorzugsweise an arme Familien mit Kindern, um ihnen eine unerwartete Freude zu bereiten.

„Wie wahr… Sein eigenes Glück mit anderen teilen zu können, ist ein wundervolles Gefühl. Wir sollten öfters einfach mal all unsere Waffen niederlegen und uns gegenseitig die Empfindungen mitteilen, welche wir normalerweise nicht wagen auszusprechen. Nur leider wollen die meisten einem kein Gehör schenken. Zorn und Hass nähren die eigenen Überzeugungen und machen es schier unmöglich, jene undurchdringbare Mauer zu durchbrechen. Mir missfällt unser brutales Vorgehen ja selbst. Doch existierte eine schonendere Methode, so hättest du sie längst gefunden… Aber nun Schluss mit dieser alten Leier! Heute Abend sollten unsere Herzen ausschließlich mit Freude gefüllt sein. Komm, lass uns zu den anderen gehen, am Fest der Liebe darf niemand alleine sein. Beeilen wir uns lieber, ehe Moran das mühsam angerichtete Festmahl verschlungen hat, ha, ha!“, lenkte Miceyla ihr wehmütiges Gespräch in eine fröhlichere Richtung und nahm dabei zärtlich Williams Hand.

„Ha, ha, da hast du recht! Aber ich denke selbst Moran mag vermeiden, dass Weihnachten für ihn zum Tag der Peinigung wird“, sprach William lachend und lief mit ihr auf den Flur hinaus. Dabei wurden für Miceyla sogleich, die harmonischen Klänge eines ruhigen Klavierstücks hörbar und sie ließ kurz Williams los. Während dieser sich bereits auf den Weg in den Speisesaal machte, schaute sie vorher noch bei Albert in seinem Arbeitszimmer vorbei, welcher sich als einziger noch nicht der Gruppe angeschlossen hatte und die entspannte Idylle zum Klavier spielen nutzte. Erst in jenem Moment realisierte sie, wie sehr sie es in den vergangenen Monaten vermisste, seinem makellosen Klavierspiel lauschen zu können, bei dem jeder einzelne Ton dazu beitrug, eine Geschichte zu erzählen. Sie ersparte sich die Mühe des heimlichen Lauschens und lief mitten durch den Raum, bis sie unmittelbar vor dem glänzend schwarzen Flügel zum Stehen kam.

„Hätten heute nicht eigentlich all die fröhlichen Weihnachtslieder Vorrang? Oder widmest du dem Stück Eisblume, die besondere Ehre gespielt zu werden, da deren Geschichte allmählich zu einem Ende kommt? Du zählst bereits bestimmt die Minuten, bis ich sie endlich veröffentliche. Aber ich fürchte, du wirst dich noch einige Wochen gedulden müssen. Und vorher werde ich dir nicht verraten, wie die Geschichte ausgeht, selbst wenn du mich noch so sehr dazu drängst…“, sprach Miceyla verschwiegen und als ihre letzten Worte in einem Flüsterton endeten, beugte sie sich kurz mit dem Kopf dicht neben sein Ohr hinab, wie er es zuvor immer bei ihr getan hatte. Überrascht von ihrem ungewohnt vorpreschendem Verhalten, stoppte Albert abrupt sein von dramatischen Zügen begleitetes Klavierspiel und blickte ohne Umschweife mit seinen smaragdgrünen Augen in die ihren. Sein verruchtes Lächeln verriet, dass er es genoss, wie sie seinen feurigen Blickkontakt standhaft erwiderte. Nach einem fesselnden Moment des innigen Blickeaustauschs, betrachtete er nun schweigsam ihr gesamtes Erscheinungsbild und schloss anschließend kurz die Augen, als verkraftete sein plötzlich sensibel gewordenes Herz ihren Anblick nicht, der seinen würdevollen Charme zu vertreiben vermochte.

„In diesem schimmernd hellblauen Kleid, hast du dich nun vollends in eine Eisblume verwandelt… Und da stellt sich mir die Frage, willst du mich nun damit quälen oder beglücken? Zumindest erkenne ich ganz deutlich, wie sich die zerbrechlichen Eiskristalle, in robustes Eis verwandelt haben, welches selbst die stärksten Flammen nicht mehr hindurchlässt. Du bist schöner als je zuvor, meine Liebe…“, gestand Albert ihr offenherzig, wobei sich ihre Blicke erneut trafen.

„Nun ja… Es erweist sich mir als ungemein schwierig zu ergründen, mit welchem Geschenk ich dir eine Freude machen könnte… Ich weiß das jeder einzelne meiner Briefe, für dich zu deinem wertvollsten Besitz zählt. Und ebenso weiß ich, dass nur ich selbst dich wirklich glücklich machen kann. Vielleicht…mag es etwas merkwürdig klingen, wenn ich möchte das du mich als dein Geschenk ansiehst. Du hast so viel für mich getan und scheust keinerlei Mühen. Da ist es doch ganz natürlich, dass ich mich für all deine selbstlosen Taten revanchieren mag. Du denkst…ich sei für dich unerreichbar, weil ich zu William gehöre. Aber zu dir gehöre ich gleichermaßen, wir sind eine Familie. Nur die Entscheidungen des Herzens, können von niemandem manipuliert werden. Ich liebe William mehr als alles andere auf der Welt, daran gibt es nichts zu rütteln. Nur eines möchte ich dich wissen lassen. Und ich versichere dir, dass du meine Ehrlichkeit nicht anzweifeln zu brauchst… Du hättest mich an seiner Statt, mit absoluter Sicherheit genauso glücklich machen können… Zudem liebe ich es wahrhaftig, dich meinen großen Bruder nennen zu dürfen… Danke, Bruderherz, für alles…“, sprach Miceyla ergriffen und merkte, wie sie von einer emotionalen Gefühlswelle regelrecht übermannt wurde. Für einen Moment kam es sowohl Miceyla als auch Albert so vor, als wäre die Zeit zum Stillstand gekommen und er starrte sie mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck an, den sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Wahrscheinlich war es für ihn zu schön um wahr zu sein, jene Worte zu hören. Dennoch ließ sein Stolz nicht zu, sich seine ebenfalls emotionale Ergriffenheit anmerken zu lassen und vergrub sein Gesicht für eine Weile in seiner rechten Hand.

„Bitte…lass es nicht wie ein bittersüßer Abschied klingen… Das hinterlässt bei mir einen schmerzvollen Nachgeschmack, der mich das wahre Ende der Geschichte erahnen lässt. Ich hegte den naiven Glauben, dass du selbst Hemmungen dabei hättest, mir dies in einem Brief mitzuteilen. Und nun stehst du wie ein unerschütterlicher Fels in der Brandung vor mir und deine Worte beflügeln mein Herz… Meine geliebte Schwester, auch ich bin dir zu tiefem Dank verpflichtet. Ich werde nicht nur dich, sondern auch euer Kind mit all meiner Macht beschützen. Solange ich auf dieser Welt wandle sorge ich dafür, dass dir und eurem Kind kein Leid geschieht. Dieses Kind wird eine Glückliche Zukunft erleben dürfen, ohne die Sünden der Moriartys ausbaden zu müssen. Und vor keinerlei Opfern und Mühen werde ich zurückschrecken, um mein Versprechen einhalten zu können, meine liebe Eisblume…“, versprach Albert mit einer solch sanftmütigen Stimme, dass es sie in einen friedlichen Schlummer hätte versetzen können. Während er sprach, erhob er sich von seinem Klavierhocker und nahm sie zur Besiegelung seiner betonenden Worte liebevoll in die Arme. Schon lange hatte Miceyla sich nicht mehr so geborgen und beschützt gefühlt. Er schenkte ihr das Gefühl, keine ungewisse Zukunft fürchten zu müssen, damit sie frohen Mutes, der komplikationslosen Geburt ihres Kindes entgegenblicken konnte.

„Da fällt mir ein, dass ich dir natürlich auch etwas schenken möchte“, sprach Albert freudig und löste sich sachte aus ihrer Umarmung. Er lief kurz zu seinem Schreibtisch und kehrte mit einem hübschen Geschenk in den Händen zurück, welches eine weinrote Samtschleife zierte und überreichte es ihr lächelnd. Voller kindlicher Neugierde, öffnete sie sogleich die geheimnisvolle Schachtel und holte mit überwältigtem Blick eine schwere, glitzernde Schneekugel hervor. Darin befand sich ein Man im schwarzen Anzug, welcher Klavier spielte und eine Frau im langen güldenen Kleid, die daneben stand und Geige spielte.

„Diese bezaubernde Schneekugel, ist sogar noch zusätzlich eine Spieluhr. Höre und staune…“, verriet Albert lächelnd während ihre Augen immer mehr leuchteten und drehte unterhalb der Schneekugel an einem versteckten Rädchen. Kurz darauf erklang eine liebliche Melodie und die Figuren in der gläsernen Kugel begangen sich zu drehen.

„Wie wunderschön… Allein das Betrachten hat eine beruhigende Wirkung und dabei dann noch der angenehmen Musik lauschen zu können, schenkt einem ein unbeschreibliches Gefühl. Danke Albert, für dieses außergewöhnliche Geschenk. Das ist die schönste Schneekugel, die ich je gesehen habe“, dankte Miceyla ihm mit strahlendem Lächeln und betrachtete beinahe wie hypnotisiert das musizierende Paar, als wäre sie bereits dabei, sich eine eigene Geschichte für die beiden auszudenken.

„Ich freue mich, dass sie dir gefällt. Und ich finde dies ist ein gutes Symbol, um die Melodie in deinem Herzen wachzurufen, solltest du einmal aus dem Takt geraten. Denn manchmal benötigt ein jeder von uns eine kleine Stütze, damit sie nicht in Vergessenheit gerät…“, fügte Albert noch die verborgene Bedeutung seines Geschenks, mit ungewohnt verträumten Blick hinzu.

„Die Melodie des Herzens… Das beschreibst du sehr schön, ich verstehe was du meinst. Und der harmonische Einklang zwischen Klavier und Geige hat etwas Außergewöhnliches. Schade…das ich keine Geige spielen kann, sonst könnten wir beide zu den realen Abbildern der beiden Figuren werden. Die Instrumente klingen gleichermaßen einzigartig, doch im Zusammenspiel miteinander, verschmelzen die einzelnen Klänge, als brachten sie ihre Freude darüber zum Ausdruck, sich endlich gefunden zu haben… Ha, ha… Verzeih, ich fantasiere mal wieder zu viel…“, meinte Miceyla daraufhin leicht verlegen. Doch sein warmherziger Blick in den Augen verriet, dass er sie mit einer fast schwärmerischen Bewunderung vollkommen ernst nahm.

„Aber nein, meine Liebe. Ich kann dir voll und ganz folgen. Du musst nicht darüber traurig sein, keine Geige spielen zu können. Denn du trägst das Instrument, welches du am perfektesten beherrschst stets in dir, nämlich deine herausragende Stimme. Somit harmonieren wir auf dieser Ebene doch wunderbar miteinander, oder etwa nicht? Ein ganzes Publikum durfte davon bereits Zeuge werden. Wir sind alle auf unsere eigene Art etwas Besonderes. Daher brauchen wir uns nicht mit anderen zu vergleichen. Dies hindert uns nur daran, unsere wahren Talente zu entfesseln… Jetzt wird es aber höchste Zeit, wir werden sicher bereits vermisst.“ Mit diesen letzten hingebungsvollen Worten, legte er sanft einen Arm um Miceyla, damit sie gemeinsam sein Arbeitszimmer verließen, um sich nach einer kleinen Verzögerung, den anderen anschließen zu können. `Vergleichen… Gestern hatte ich noch vor Sherlock so darauf beharrt, dass vergleichen unnötig sei. Dabei erwische ich mich selbst ständig dabei, jede Kleinigkeit miteinander zu vergleichen. Ja, wir sind alle etwas Besonderes und…unverbesserlich in vielerlei Hinsicht, ha, ha`, dachte sie mit einem stillen Lächeln, während sie zusammen mit Albert die Treppe hinunterlief. Mit überraschtem Blick entdeckte sie unterhalb William, der alleine dastand und danach aussah, als hätte er auf sie beide gewartet.

„Tut uns leid, wir haben nicht vorgehabt, den Weihnachtsabend ohne euch zu verbringen… Oder bist du etwa geflüchtet, da schon der erste Streit zwischen Moran und Louis ausgebrochen ist?! Wenn das so ist werde ich ein Machtwort sprechen! Zur Not kriegt unser grober Revolverheld, für die restlichen Feiertage striktes Alkoholverbot!“, sprach Miceyla lautstark und gab sich spielerisch entrüstet.

„Ha, ha, ich denke deine Bestrafung ist überflüssig, mein Liebling. Denn die beiden verhalten sich gerade so artig, dass es fast unnatürlich wirkt. Aber…auch ich wollte dir etwas schenken, ehe wir von den Feierlichkeiten zu sehr vereinnahmt werden. Sogar unser gewissenhafter Bruder kam mir zuvor und hat einen passenden Moment abgepasst. Wie stehe ich denn da, wenn ich als letzter an der Reihe bin?“, sprach William mit gütigem Lächeln und ihr Herz machte sogleich einen wehmütigen Sprung, doch es war ein Gefühl der reinen Behaglichkeit.

„Aber Bruderherz, kommt das Beste nicht bekanntlich immer zum Schluss? Ich lasse euch zwei Hübschen dann mal allein… Nehmt euch alle Zeit der Welt. Ich halte derweil unseren tüchtigen Trunkenbold auf Trapp“, meinte Albert warmherzig mit einem Augenzwinkern und lief ohne die zwei voraus in den Speisesaal.

„Will mein Liebster, dass erste und schönste Geschenk kam doch bereits von dir. Schließlich ist es dir zu verdanken, dass wir heute alle zusammen hier in London feiern und das du dafür gesorgt hast, dass jeder für eine Weile von seinen Verpflichtungen befreit wird. Deine Güte ist wahrlich das hellste und wärmste Licht…“, wandte Miceyla sich mit sanfter Stimme an ihren Liebsten und zeigte ein Lächeln der puren Dankbarkeit.

„Mein Liebling, dass du mir für etwas dankst, das eigentlich selbstverständlich sein sollte, beschämt mich beinahe etwas… Ich weiß, dass für dich meine Liebe das wertvollste Geschenk ist. Daher wünsche ich mir, gemeinsam mit dir so viele glückliche Momente zu erschaffen, an die wir uns gerne zurückerinnern. Darum bewahre dein wunderschönes Lächeln, welches du mir jetzt gerade zeigst. Es heilt deinen Kummer und bewahrt deinen inneren Frieden. Und fürchte dich nicht davor, jemals den richtigen Weg zu verlieren. Ich bin stets an deiner Seite und führe dich, auch wenn das Ziel noch so unerreichbar erscheint. Zusammen erreichen wir jeden Ort unserer Träume. Ich werde immer bei dir sein und lasse dich niemals allein. Doch wage ich nicht daraus ein Versprechen zu machen. Denn falls ich es bräche, schwindet das bisher aufgebaute Vertrauen und Bedauern und Zweifel verdüstern die strahlenden Erinnerungen. Drum werde stark und unabhängig und vergiss dennoch nicht, es ist immer wert für Liebe und Vertrauen zu kämpfen. Das Leben mag von einem viel Mut und Verzicht abverlangen, doch ist dein Herz und dein Geist offen für Neues, wirst du erkennen wie wunderschön die Welt ist…“ Während William mit einer solch gefühlvollen Stimme sprach, dass Miceyla eine Gänsehaut bekam, legte er ihr eine goldene Kette um, an welcher sich ein funkelnder Medaillonanhänger befand, dessen Vorderseite mit dem Wappen der Moriartys verziert war. `Seine Worte…sind nicht nur an mich gerichtet, sondern auch…an unser ungeborenes Kind…` Jene unzweifelhafte Erkenntnis rührte sie zu Tränen und ihr Herz begann vor Ergriffenheit wild zu klopfen. Neugierig öffnete sie das Medaillon und fand darin das Bild in einer Miniaturform vor, welches man von ihnen beiden an ihrem Hochzeitstag gemacht hatte. Nachdem Miceyla mit bittersüßem Lächeln das Bild betrachtet hatte, das eine der schönsten Erinnerungen in ihr wachrief, nahm er sie zärtlich in die Arme, sodass sie sich für eine Weile mit geschlossenen Augen an ihn schmiegte.

„Danke Will… Auch du wünschst dir, unser Kind beim Aufwachsen in einer friedlichen Welt begleiten zu können. All dein Wissen und die Erfahrungen mit ihm zu teilen. Ein stolzes Vorbild zu werden, welches Schutz und Geborgenheit bietet. Du brauchst keine Zweifel zu haben, kein guter Vater werden zu können. Ich erkenne sofort, wenn du dir den Kopf über etwas zerbrichst. Wir bestärken uns doch immer gegenseitig, nicht wahr? Mit dem neuen Jahr, beginnt ein neuer Aufbruch für uns alle. Sobald wir unser Kind in Armen halten, wird die Flamme unseres Willens noch stärker glühen und wir werden unaufhaltsamer denn je für Gerechtigkeit kämpfen. Nun lass uns das heutige Weihnachtsfest genießen. Lass uns…das Leben feiern…“
 

Mit gedankenversunkenem Blick sah Albert aus dem Fenster. Das regnerische Wetter spiegelte sein getrübtes Gemüt wider. Sorgenvoll betrachtete Miceyla ihn und erkannte wie ernst sein Kummer sein musste, da er jegliche Mühe sparte seine Sorgen zu verbergen. Der wirtschaftliche Wachstum, war zu Beginn des neuen Jahres wieder um ein beachtliches Stück gestiegen, wovon er selbst mit seinem geheimen Unternehmen profitierte. Doch dem Militär standen stürmischere Zeiten bevor. Denn der Reichtum Englands hatte seinen Preis und Harley sorgte mit aller Macht dafür, dass er für die Außenwelt unantastbar blieb. Er wollte sein eigenes Land nur vor Ausbeutung schützen und dank seines unnachgiebigen Engagements, erreichte der wachsende Wohlstand, sogar ein paar der in Armut lebenden Menschen. Aber dadurch entstanden zunehmend Konflikte ungeahnten Ausmaßes und die Soldaten waren dazu gezwungen, mit härteren Maßnahmen durchzugreifen. Die Angst das ein Bürgerkrieg ausbrach wuchs mit jedem Tag…

„Es sieht dir gar nicht ähnlich, die Flucht zu ergreifen und dich vor deiner Verantwortung zu drücken. Ist es überhaupt rechtens, dass du dich gerade hier in Durham aufhalten kannst, Bruderherz? Auch Will bekommt den Druck zu spüren… Nicht mehr lange und er wird gezwungenermaßen wieder selbst in London aktiv werden müssen…“, wandte Miceyla sich kummervoll an Albert, da sie die bedrückende Stimmung nicht länger ertrug. Sogleich drehte er sich mit einem breiten Grinsen zu ihr herum, welches seinen sorgenvollen Gesichtsausdruck verschwinden ließ.

„Ja… Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als zu fliehen…gemeinsam mit dir, meine geliebte Eisblume… Weit fort, wo niemand uns je finden würde. Doch mein in Stein gemeißeltes Versprechen, welches ich William gab, verbietet mir dies. Für ihn bin ich bereit mein eigenes Leben zu geben. Und du hast dich freiwillig an unser Schicksal gebunden. Du wirst zur Furie, immer wenn ich dir ans Herz lege, dass wir dir die Freiheit schenken könnten… Aber die wahre Freiheit hast du erst bei uns gefunden. Auch ich habe dies mittlerweile begriffen und akzeptiert. Und es gibt keine falschen Entscheidungen, die du bereuen müsstest. Denn du wirst eine gütige und stolze Mutter und deine Liebe wird euer Kind zu jeder Zeit erreichen. Eines Tages wird das Kind die Welt auf dieselbe Weise sehen, wie du sie momentan durch deine Augen siehst, wie wir sie alle sehen…“, sprach Albert ruhig, doch der hoffnungsvolle Funken, welcher in seiner Stimme lag, wollte nicht auf sie überspringen. Er versuchte sie lediglich abzulenken. Allerdings ließ sie dies eher verzweifeln. Und als er ihr dann auch noch mit der Hand zärtlich über ihr Haar streichelte, fühlte sie sich kein bisschen mehr ernst genommen.

„Habe Zuversicht… Ich kann all diese Lügen nicht mehr hören! Denkst du, ich verkrafte die brutale Wahrheit nicht? Bin ich in deinen Augen nicht stark geworden? Wenn du nicht darüber reden willst, so schreibe mir doch bitte alles in deinen Briefen. Unser Land braucht keine Helden, die an der Front einen sinnlosen Tod sterben. Selbst wenn dir Harley die Wahl ließe, du würdest dennoch aus freiem Willen zur Waffe greifen. Ich kenne dich… Und ich schrecke nicht davor zurück, mich mit allen Mitteln dagegen aufzulehnen, sollte es dazu kommen und das hast du von mir schon zur Genüge zu hören bekommen! Will braucht dich, ich ebenso… Wenn…wenn du mich wirklich so sehr liebst, solltest du besser Vernunft wallten lassen. Ansonsten zeigst du mir nur, dass deine Gefühle mir gegenüber nie wirklich existiert haben!“ rief Miceyla verbittert mit ernster Miene und machte ein paar Schritte zurück, um sich etwas von ihm zu entfernen. Reue und Trauer standen Albert abrupt ins Gesicht geschrieben und er versuchte sich ihr wieder achtsam zu nähern. Denn seine größte Furcht, galt einer möglichen Distanz zwischen ihnen beiden.

„Miceyla, bitte, du darfst dich nicht unnötig aufregen. Ich verstehe, dass deine Nerven in den letzten Schwangerschaftswochen blank liegen. Ich würde dir selbstverständlich jeden erdenklichen Liebesbeweis erbringen. Aber du bekommst ja am eigenen Leib zu spüren, wie übel das Leben mit uns umspringen kann. Beruhige dich jetzt aber bitte wieder und setze dich einen Moment. Du erfährst von uns stets nur die absolute Wahrheit. Wir begeben uns nicht auf das schändliche Niveau des verdorbenen Adels hinab und erzählen leere Lügengeschichten. Hier in Durham herrscht ein stiller Scheinfrieden und dennoch erreichen die düsteren Unruhen dein Herz… Vergib mir…“, sprach Albert unendlich sanftmütig und betrachtete schuldbewusst ihren getrübten Blick.

„Nein… Du musst mich nicht um Vergebung bitten. Das fühlt sich falsch an, nach allem was du für mich getan hast. Vielleicht sind meine schwachen Nerven darauf zurückzuführen, dass ich mich in der letzten Zeit so unbeschreiblich schwach und hilflos fühle… Danke, das du all das trotzdem erträgst und so beispiellos geduldig und nachsichtig mit mir umgehst. Es wird bergauf gehen, sobald ich zu alter Stärker gefunden habe, da bin ich mir sicher“, fand Miceyla dank Alberts beschwichtigenden Worten, zu neuer innerer Ruhe zurück und schenkte ihm ein müdes, dennoch hoffnungsvoll wirkendes Lächeln. Erleichtert darüber, das ihr Seelenfrieden vorübergehend wiederhergestellt war, erwiderte er ihr Lächeln. Doch die friedliche Idylle sollte nur von kurzer Dauer sein, als sie von jetzt auf gleich erblasste und sich mit schmerzverzehrtem Gesicht gegen die Wand lehnte.

„Sag…sag mir bitte nicht, dass es schon so weit ist! Ausgerechnet jetzt… Will ist nicht einmal hier…“, sprach Albert schockiert und unbeholfen zugleich und gab ihr direkt ohne zu nachzudenken den nötigen Halt, um nicht kraftlos zu Boden zu stürzen.

„Tja mein Guter… Ge-gewisse Dinge lassen sich nun mal einfach nicht im Voraus planen und treffen…einen vollkommen unvorbereitet… Gib dir jetzt bloß nicht die Schuld. Ob nun ein paar Tage früher oder später, wir wussten alle das die Geburt kurz bevorsteht…“, sprach Miceyla mit dünner Stimme unter starken Schmerzen. Und da sie selbst von einer

überwältigenden Verzweiflung gepackt wurde, klammerte sie sich hilflos an Albert.

„Miss Moneypenny! Hole bitte auf schnellstem Wege William…! Und schaue vorher ob Doktor Darley zu Hause ist!“, rief er der als Hausfrau getarnte Geheimagentin zu, ohne eine Erwiderung zu erwarten. Diese eilte rasch herbei und begriff beim Anblick der Szene sofort die heikle Situation und verschwand daraufhin auch beinahe zeitgleich wieder.

„Ich renne so schnell wie mich meine Beine nur tragen können!“, versprach Miss Moneypenny noch hastig, ehe sie davon hechtete. Es war später Abend und William befand sich derzeit etwas außerhalb von Durham, um den persönlichen Auftrag eines `Klienten´ auszuführen. Daher war davon auszugehen, dass sie eine Weile unterwegs sein würde…
 

William machte einen großen Schritt zurück, um nicht in die glänzend rote Blutlache zu treten, welche sich immer weiter vor seinen Füßen auszubreiten begann. Seine flammenfarbenen Augen, fixierten den sich am Boden windenden Mann derart eindringlich, als wollte er nur mittels seines feurigen Blicks, den von unzähligen Gräueltaten besudelten Menschen in die Verbannung schicken, während dieser seine letzten Atemzüge tat.

„William! Endlich habe ich dich gefunden. Bei Miceyla haben die Wehen eingesetzt! Sie wird euer Kind, wohl noch in dieser Nacht zur Welt bringen!“ Aus seinem tranceartigen Zustand gerissen, drehte William sich ruckartig zu der aufgeregten Stimme herum. Und als er Miss Moneypennys ernste Miene sah, zeigte er flüchtig einen ängstlichen Gesichtsausdruck, als er ihre überrumpelnde Botschaft hörte. Das er ausgerechnet dann nicht bei Miceyla sein konnte, wenn sie ihn am meisten brauchte, beschämte ihn mehr als er es je zugeben würde. Doch rasch blickte er noch ein letztes Mal mit bittersüßem Lächeln, auf die mittlerweile regungslos daliegende Person.

„Verstehe… Also ist es nun soweit… Ein Leben endet, ein neues beginnt… Der natürliche Kreislauf des Lebens, kann von niemandem unterbrochen werden. Weder aufhalten, noch beschleunigen sollte man ihn. Die Zeit…regelt dies von ganz allein, nicht wahr, mein Liebling…?“, flüsterte William mehr zu sich selbst und wandte sich nun wesentlich ungeduldiger von der Leiche ab, um gemeinsam mit Miss Moneypenny nach Durham zurückzukehren…
 

Wenn Miceyla jemals in ihrem bisherigen Leben geglaubt hatte, an ihre Grenzen gestoßen zu sein und ungeahnte Kräfte in sich wachgerufen zu haben, so irrte sie sich gewaltig. Ihre Gedanken waren wie leergefegt und wurden einzig und allein von höllischen Schmerzwellen beherrscht, die ohne zur Ruhe zu kommen durch ihren Körper schossen. Nie hätte sie gewagt, sich eine Geburt derart qualvoll vorzustellen. Auch wenn ihr Verstand sie davor gewarnt hatte, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen. Doch das Gefühl von innen aufgerissen zu werden war, als würde man sie auf der Schwelle zwischen Leben und Tod hin und herreißen. Dennoch befand sich hinter all der düsteren Verzweiflung ein schwacher Lichtfunken, der darauf wartete hell zu erstrahlen, um jegliche schmerzvolle Finsternis zu vertreiben. Daher behielt Miceyla die Kraft zum Durchhalten, denn für ihr Kind sammelte sie mehr innere Stärke, als für ihren größten Feind. Und Albert der nicht von ihrer Seite wich, spendete ihr so viel Mut und Vertrauen, dass sie daran glauben durfte, dass sich das endlos wirkende Leid bald verflüchtigte. Schweißgebadet und von einer überwältigenden Erschöpfung gepackt, begann sich ihr hektischer Atem allmählich wieder zu beruhigen, als sie den schrillen Schrei ihres Kindes vernahm, welches sie unter Einsatz ihres Lebens auf die Welt gebracht hatte. Dies war das glückverheißende Zeichen, dass Miceyla und ihr Kind die anstrengende Geburt heil überstanden hatten. Albert der ihr die ganze Zeit über tapfer beigestanden hatte, tupfte mit einem Tuch sanft ihr verschwitztes Gesicht ab. Auch er sah ziemlich erschöpft aus mit seinen provisorisch hochgekrempelten Hemdärmeln und den Schweißperlen auf der Stirn. Miceyla schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln. Sie wusste um seine Angst, dass etwas hätte schief gehen können bestens Bescheid. Denn als Mithilfe einer Geburt beizuwohnen, erlebte man nicht alle Tage. Schließlich wickelte er das Kind achtsam in eine Decke, um es endlich der frisch gebackenen Mutter überreichen zu können. Sein Gesichtsausdruck war dabei so voller Stolz, als wäre er selbst gerade Vater geworden. Jener Moment war sowohl für Miceyla als auch Albert unbeschreiblich prägend und vertiefte das Band zwischen ihnen beiden nun auf eine besondere Art und Weise.

„Jetzt darfst du sie endlich in deine Arme schließen, deine kerngesunde Tochter. Geboren in einer stürmischen Zeit, in der wir die personifizierte Hoffnung auf Veränderung darstellen. Gesegnet von wundervollen Eltern, wird dieses Mädchen mit Mut und Neugierde eine aufregende Welt erkunden und den Traum von Selbstverwirklichung nicht bloß träumen, sondern ihn leben“, sprach Albert sanfter denn je und legte das kleine Mädchen, welches nun nach all der Anstrengung in einen friedlichen Schlummer gefallen war, gefühlvoll in ihre Arme. Mit Freudentränen in den Augen, betrachtete Miceyla ihre zierliche Tochter und hätte ihr Glück welches sie empfand, mit keinen Worten der Welt beschreiben können. `Ich werde dir all die Liebe schenken, die ich nie von meiner eigenen Mutter erhalten habe. Willkommen in der Familie Moriarty, in der dich alle lieben werden, mein kleines Herz aus Gold…`, begrüßte Miceyla im Stillen ihre neugeborene Tochter und schmiegte sie mit geschlossenen Augen sachte an sich. Wachgerüttelt aus ihrem beschwingenden Gemütszustand, öffnete sie wieder die Augen, als sie von unterhalb das Läuten der Türklingel hörte.

„Das wird wohl Doktor Darley sein. Ich werde ihm rasch die Tür öffnen, denn ich werde erst richtig beruhigt sein, wenn sich ein Fachmann von deiner Gesundheit und der des Kindes überzeugt hat“, meinte Albert lächelnd und lief sogleich in Richtung Tür.

„Albert…“, rief sie ihn hastig nochmal mit kaum hörbarer Stimme zurück. Dieser drehte sich daraufhin ohne Zögern mit warmherziger Miene zu ihr herum.

„Danke…“, hauchte Miceyla schließlich und bemühte sich ihm ihr schönstes Lächeln zu schenken, trotz ihrer beißenden Müdigkeit. Albert verharrte kurze Zeit auf der Stelle, ehe er schweigsam nickte und ihr Lächeln erwiderte. Sie wusste das es keiner weiteren Worte bedurfte, um sein Herz zu erwärmen, denn nur dies allein wünschte sie sich, nachdem er eine komplikationslose Geburt für sie und das Kind ermöglicht hatte. Nach einer kurzen Verzögerung lief Albert zur Eingangstür und kehrte bald darauf mit jenem in Durham ansässigen Arzt zurück, welcher sie bereits während ihrer Schwangerschaft untersucht hatte. Miceyla versuchte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, dass anstatt des Doktors nicht schon William gekommen war.

„Verzeihen Sie mir Mrs Moriarty, dass ich so spät hier eintreffe. Und auch für die verfehlte Prognose des Geburtstermins muss ich mich entschuldigen. Doch nichtsdestotrotz werde ich Sie und das Kind nun gründlich untersuchen“, sprach Doktor Darley entschuldigend und bemühte sich trotz des Hausbesuchs zu solch später Stunde, zu einem professionellen Auftreten.

„Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, Doktor. Was in der Natur seit Menschengedenken fest verankert ist, findet fast immer auf wundersame Weise seinen Weg, nicht wahr? Und zudem hatte ich einen liebevollen Aufpasser an meiner Seite, der mich stets mit Leib und Seele beschützt“, erwiderte sie daraufhin als erstes sichtbares Zeichen, dass es ihr gut ging und warf einen gutmütigen Blick zu Albert.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bleibe ich bei der Untersuchung ebenfalls dabei“, bat dieser, der noch immer einen Funken Besorgnis in sich hatte.

„Selbstverständlich! Sie verdienen meinen Respekt. Denn Sie haben wahrlich Ihren Mann gestanden und der jungen Lady bei der Geburt beigestanden. Sie sind in meinen Augen der perfekte verantwortungsvolle Bruder, Graf Moriarty. Obwohl es schon fast den Eindruck vermittelt, als seien Sie der Vater, ha, ha! Apropos…der junge Lord scheint mir gerade nicht im Hause zu sein…“, meinte Doktor Darley feststellend und lief mit seiner Arzttasche in der Hand zu ihrem Bett. Flüchtig trafen sich die Blicke von Miceyla und Albert. Wie wandelbar und mächtig Gefühle sein konnten, verblüffte wohl beide gleichermaßen. Doch meist blieb es bei einem Schweigen und die wahren Gefühle blieben unausgesprochen…

Beinahe kopflos schloss William die Eingangstür auf und warf seinen schwarzen Mantel über den Kleiderständer. Anstatt besorgt zu sein, beobachtete Miss Moneypenny sein untypisches Verhalten mit einem amüsierten Schmunzeln. Das erste Mal Vater zu werden, musste ein unbeschreiblich aufregendes Gefühl sein. Aber den einmaligen Moment der Geburt zu verpassen, musste wiederum beißende Gewissensbisse in ihm hervorrufen. Außer Atem gelangte William oberhalb der Treppe endlich an die geöffnete Schlafzimmertür, an welcher er bereits von Albert erwartet wurde.

„Es ist alles gutgegangen. Miceyla hat ein bezauberndes Mädchen auf die Welt gebracht. Doch überzeuge dich nur selbst davon…“, sprach er mit besänftigendem Lächeln und klopfte ihm auf die Schulter, um sein überhitztes Gemüt etwas abzukühlen. Denn Albert wusste nur zu gut woher er gerade kam und welchen kräftezehrenden Drahtseilakt er verrichtete.

„Ich danke dir, Bruderherz… Nun habe ich wirklich etwas gut bei dir…“, sprach William ihm seinen tiefsten Dank aus und lief zielstrebig hinein in das Zimmer. Der Arzt verließ dabei den Raum, um die junge Familie nun alleine zu lassen. Dabei sagte er noch etwas zu William, doch dieser hörte ihm nicht richtig zu. Nur `Glückwunsch` und `Alles Gute` drang zu ihm durch. Er setzte sich an die Bettkannte und weitere Tränen rollten Miceyla über die Wangen, als sie in seine Güte und Wärme verströmenden Augen sah. Sie war unendlich froh, dass er nun endlich bei ihr sein konnte, um gemeinsam ihr neues Familienmitglied zu begrüßen. Für einen kurzen Moment, beobachtete Albert von der Tür aus, mit gemischten Gefühlen die rührende Szene, bis er ebenfalls mit einem bittersüßen Lächeln kehrt machte.

„Die Geburt eines Kindes ist schon wahrhaft ein Wunder, stimmts? Es erfüllt dich sicher mit Stolz, dass dein jüngerer Bruder nun Vater ist und du dich jetzt als Onkel des Kindes bezeichnen darfst“, beglückwünschte Miss Moneypenny Albert und beide lehnten sich im Flur außerhalb des Zimmers, für einen kurzen Moment Seite an Seite gegen die Wand an.

„Ja… Erleichtert bin ich…jedoch… Ich fühle mich entkräftigend verlassen. So sehr wie du es dir nicht einmal vorzustellen wagst. Es kommt dem Gefühl gleich, als sei ich der letzte auf Erden lebende Mensch… Die Liebe…ist weder Glück noch Erfüllung, sondern ein Fluch…ein äußerst mächtiger… Ha, ha, ha! Was bin ich doch bedauernswert…“, vertraute er ihr seine geheimen Gefühle mit einem leisen Seufzen an und zog sich kurz darauf zurück um etwas allein zu sein. Miss Moneypenny blickte ihm mitfühlend nach…

Lächelnd strich William sanft mit der Hand über Miceylas Wange und legte anschließend vorsichtig einen Finger in die zierliche Hand seiner Tochter. Sein Lächeln wurde immer sanftmütiger, als er die warme und weiche Haut berührte.

„Meine Liebe, ich kann nicht in Worte fassen, wie bezaubernd unser kleines Mädchen ist… Und ich hoffe du kannst mir vergeben, dass ich nicht rechtzeitig hier gewesen bin…“, sprach William leise und Miceyla hörte sogleich die nagende Verbitterung in seinen Worten heraus und legte besänftigend ihre Hand auf Williams Hand und die ihrer Tochter.

„Was für mich zählt ist, dass du nun hier bist. Ich weiß, dass du immer zu mir zurückkehren wirst und ich werde stets geduldig auf deine Rückkehr warten. Unsere kleine Evelyn ist von nun an auch ein Teil von uns… Schließen wir sie in unser Herz, auf das wir einander nah sein mögen, sie nie zu lange warten lassen und ebenfalls immer zu ihr zurückkehren… Das starke Band unserer Familie, wird uns niemals voneinander trennen, egal wie weit wir uns von ihr entfernen…“
 

Allmählich wurde das Wetter wieder freundlicher und man entdeckte hier und da die ersten Anzeichen, dass man bald einen farbenfrohen Frühling begrüßen durfte, der die Dunkelheit des Winters zu vertreiben vermochte. Es waren bereits zwei Wochen seit Evelyns Geburt vergangen und auch Louis, Moran und Fred, hatten das kleine Mädchen lieb gewonnen. Miceyla wohnte weiterhin mit William in Durham, doch ihr Umzug zurück nach London stand kurz bevor. Denn er hatte als Zeitlimit, einen Monat bis nach der Geburt festgelegt, damit sie eine unabänderbare Entscheidung für sich und das Kind treffen konnte. Mit Evelyn in den Armen, lief Miceyla gemächlich durch das Wohnzimmer und der einzige Wunsch welchen sie dabei verspürte war, den Fluss der Zeit zu stoppen, um die gemeinsamen Augenblicke mit ihrer Tochter festhalten zu können.

„Mein Liebling, wir haben Besuch…“ So sehr in Gedanken war sie vertieft, dass sie nicht einmal etwas von Williams Anwesenheit bemerkt hatte. Jedoch verschwand ihr träumerisches Leuchten in den Augen von jetzt auf gleich, als sie in die vertrauten Gesichter von John und Emily sah. Sogleich blickte sie ihren Freunden mit hellwacher Miene entgegen.

„Miceyla! Ich konnte es kaum erwarten herzukommen! Nicht einmal richtig geschlafen habe ich. Aber dich nun putzmunter vor mir stehen zu sehen, erleichtert mein Herz! Doch lass mich mal endlich die Kleine bewundern… Ach, ich kann bereits jetzt sagen, dass sie herzallerliebst ist!“, sprach Emily zur Begrüßung überschwänglich und während sie sich mit strahlenden Augen dicht über Evelyn beugte, erkannte Miceyla mit einem Schmunzeln, dass auch sie etwas wie mütterliche Gefühle entwickelte.

„Ha, ha, erschrecke das kleine Mädchen bitte nicht gleich bei der ersten Begegnung. Auch ich grüße dich, Miceyla! Es war wahrlich schwer einen Tag zu finden, an dem wir zu dritt nach Durham fahren können. Aber voila, dass unwahrscheinlichste aller Dinge ist eingetroffen und hier sind wir nun!“, grüßte John sie ebenfalls mit einem herzlichen Lächeln. Bei seinen Worten machte Miceylas Herz einen hoffnungsvollen Sprung und sie blickte ihn wie in Trance an, als würde sie geradewegs durch ihn hindurchsehen.

„Zu dritt…?“ wiederholte sie flüsternd und umging damit eine Gegenbegrüßung ihrer Freunde. Nur flüchtig bekam sie mit wie William, der etwas abseits stand, ihr mit einem bescheidenen Lächeln zunickte und sie schließlich mit ihrem Besuch alleine ließ. Mit klopfendem Herzen starrte Miceyla auf die geöffnete Wohnzimmertür und sie hatte plötzlich das Gefühl, die Zeit würde in jenem Moment unnatürlich langsam vergehen. Dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens, lugte eine weitere Person hinter der Tür hervor und betrat etwas zögerlich den Raum.

„Sherlock…“, hauchte Miceyla leise den Namen des unerwarteten Besuchers. Und während sich ihre Blicke trafen, zeigte er ihr ein gütiges Lächeln, welches soviel bedeutete wie: `Siehst du Mia, ich stehe zu meinem Wort und halte meine Versprechen. Es gibt keinen Sturm der mächtig genug wäre, um mich davon abzuhalten…`

„Schön das du hier bist, Sherlock… Na das wird heute mal ein Treffen, welches uns allen noch sehr lange in Erinnerung bleibt. Aber setzen wir uns doch erst einmal. Und erzählt mir bitte jede einzelne Neuigkeit aus der Stadt. Von mir dürft ihr euch leider keine spannenden Geschichten, aus dem Dorfe Durham erhoffen, ha, ha. Zudem…werde auch ich bald wieder Teil des turbulenten Alltags von London werde…“, verkündete Miceyla in einer Mischung aus Wehmut und Freude. Nicht lange dauerte es und sie saßen alle gemeinschaftlich beisammen und Miss Moneypenny versorgte die Runde mit frisch gekochtem Tee. Das jedoch Evelyn den Mittelpunkt der feierlichen Zusammenkunft darstellte, war nicht wirklich verwunderlich. Während sie munter und ausgelassen miteinander plauderten, musterte Miceyla Sherlock ein wenig verblüfft. Er ließ sich voll und ganz auf ihre Unterhaltung ein, ohne dabei in Versuchung zu geraten, seine Umgebung näher inspizieren zu wollen. Schließlich war dies für ihn eine einmalige Gelegenheit. Ihm entging ihr eindringlicher Blick natürlich nicht und er sah sie mit leicht schiefgelegtem Kopf grinsend an.

„Ich bin heute hergekommen, um dich zu besuchen und aus keinem anderen Grund. Antworten finden sich schon zu gegebener Zeit. Selbst für mich ist der Begriff `Geduld` kein Fremdwort. Aber falls es dich interessiert, mir geht die Atmosphäre in diesem Anwesen sehr zu Gemüte, im positiven Sinne. Hier leben Menschen, die sich gegenseitig wertschätzen. Eine Wärme liegt in der Luft, die sogar einer vereinsamten Seele wieder Leben einhauchen könnte. So stelle ich ihn mir vor, den wahren Frieden. Dies ist der Beweis, dass Liebe noch auf dieser schäbigen Welt existiert… Und sowas hörst du aus meinem Mund, ha, ha! Kommt auch nicht alle Tage vor. Und ja, ich bin tatsächlich bei klarem Verstand“, sprach er lässig und sie wurde beinahe in Verlegenheit gebracht, da er so leicht ihre Gedanken erraten konnte.

„Ich…ich denke es wird Zeit, dass ich Evelyn schlafen lege. So viele neue Gestalten auf einmal kennenzulernen, ist sehr anstrengend. Jeder einzelne Tag ist für sie ein neues Abenteuer…“ Es stellte sich für Miceyla als eine kleine Herausforderung dar, ihre Tochter von Emily und John loszureißen, welche das kleine Mädchen nur so mit Aufmerksamkeit überhäuften. Als es ihr dann schließlich gelang, lief sie mit Evelyn in den Armen langsam aus dem Wohnzimmer hinaus und warf noch flüchtig einen Blick zu Sherlock, der ihm ihre stille Hoffnung übermittelte, einen kurzen Augenblick mit ihm allein sein zu können. Oben angekommen legte sie Evelyn, der mittlerweile vor Müdigkeit die Augen zugefallen waren, lächelnd in ihre Wiege.

„Ich hoffe ein strahlender Stern wird über sie wachen. Sie vor bösen Träumen bewahren und sie durch jede noch so ungewisse Dunkelheit führen, sollte sie sich einmal verirren. Nicht jedes Kind besitzt das Glück, in behüteter Geborgenheit aufzuwachsen. Dank dir und Liam,

stünden der Kleinen jegliche Wege offen. Doch ihren individuellen Zukunftspfad, muss sie letztendlich eines Tages selbstständig wählen. Und gehe ich recht in der Annahme, dass auch du bereits deine Entscheidung getroffen hast?“ Genau das traf ein, was Miceyla sich im Geheimen gewünscht hatte. Sherlock war ihr alleine gefolgt und lehnte sich am Eingang des Zimmers gegen die Wand an. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sein sanftes Lächeln, auch wenn sie gerade mit dem Rücken zu ihm stand und musste ebenfalls lächeln.

„Ich weiß wirklich nicht, von welcher Entscheidung du da sprichst. Jetzt wirst du mir sicher gleich sagen, ich solle es nicht abstreiten. Aber belassen wir es doch einfach dabei und leben ausnahmsweise mal nur in der Gegenwart. Mehr braucht es doch nicht um zufrieden und glücklich zu sein“, sprach sie sanft und betrachtete mit gütigem Blick ihre Tochter, welche in ihrer Wiege lag, jedoch noch nicht richtig eingeschlafen war. `Die Gegenwart…huh… Ich bin immer ehrlich zu dir gewesen. Doch zu sehen, wie du krampfhaft versuchst Lügen in Wahrheit umzuwandeln, verletzt mich beinahe etwas…`, dachte Sherlock und wirkte dabei fast ein wenig bedrückt. Dennoch bemühte er sich sein herzliches Lächeln aufrecht zu erhalten, um die friedliche Stimmung nicht zu trüben.

„Wie recht du doch hast! Wie wäre es mit einem Schlaflied für die Kleine, so ganz aus dem Stehgreif? Lass mal hören, ob deine Stimme noch nicht eingerostet ist. Das Londoner Publikum vermisst deinen beschwingenden Gesang ganz furchtbar, hat mir so ein oller Faxenmacher sagen lassen…“, deutete Sherlock mit einem schiefen Grinsen an und brachte seine Geige zum Vorschein, welche er hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte. Kurz schaute sie ihn einfach nur erstaunt an, doch dann konnte sie nicht anders als freudig zu lächeln. `Du bist mir einer Sherly… Du lässt dir die Gelegenheit entgehen, ein Vieraugengespräch mit Will zu führen und stattdessen stehst du vor mir mit deiner Geige und willst mit mir musizieren. Es ist fast wie… Ja…die Szene aus der Schneekugel… Ein Glück das Albert nicht hier ist und dies mitbekommt. Er würde sonst unter einer erdrückenden Eifersucht begraben werden…`, dachte Miceyla sich im Geheimen mit einem träumerischen Blick. Erst als sich ihr klopfendes Herz etwas beruhigt und sie all ihre Zweifel aus ihrem Gesichtsausdruck vertrieben hatte, wagte sie Blickkontakt mit ihm und bemühte sich so selbstsicher wie nur möglich zu wirken.

„Gib es zu, du hast in Wahrheit einfach nur meine Stimme vermisst! Aber…ich gestehe, dein Geigenspiel habe ich ebenfalls sehr vermisst… Dann lass uns Evelyn ein Schlaflied schenken, dessen Melodie sie auf ewig im Herzen tragen wird…“ Bereits bei den ersten Klängen seines Geigenspiels hatte sie das Gefühl, auf eine Reise geschickt zu werden. Eine unbeschreiblich angenehme Reise, auf der sie ein verborgener Schutz vor unbekannten Gefahren beschützte. Dabei existierte nur das Gute, keine Spur gab es vom Bösen. Eine reine Hoffnung, ging Hand in Hand mit Liebe und Geborgenheit. Jene beflügelnde Reise sollte kein Ziel haben, denn die Reise war das Ziel selbst. Ein immerwährendes Gefühl des Friedens und der Freiheit. Sie ließ jeden einzelnen Klang seines sanften Spiels auf sich wirken und begann ein Lied dazu zu singen, bei dem sie hoffte, all ihre Gefühle würden sich dabei auf Evelyn übertragen und ihr einen friedlichen, tiefen Schlaf bescheren.

„Mein kleiner Engel, lass mich dir heute von einer alten Legende erzählen. Einst zogen fort zwei Freunde, ihr Vertrauen zueinander wies ihnen den Weg. Sie bestaunten die farbenrohe Welt und all die Wunder denen sie begegneten. Der Wind wehte ihnen ein Abenteuer entgegen. Die Freunde waren vollen Mutes, doch fanden sie sich vor einem gespaltenen Pfad wieder und liefen getrennte Wege. Ihr letzter Abschied sollte ein Versprechen sein, welches lautete: `Mag Zeit und Raum uns auch voneinander trennen, wir kehren zurück, du zu mir und ich zu dir. Wir vergessen einander nicht. Unsere Erinnerungen bleiben unsterblich, egal wie viel Einsamkeit und Schmerz unsere Herzen auch durchleben müssen.` Nun leite sie, mein kleiner Engel, führe die Freunde wieder zueinander. Und möge auch dir das Glück zuteilwerden, den größten Reichtum des Lebens kennenzulernen, die Freundschaft und die Liebe…“
 

Alle waren versammelt. Sie saßen beieinander und warteten, teils geduldig, teils nervös. Jeder hätte wohl gedacht, sie würden beim Umzug mithelfen. Doch wer ein feines Gespür besaß, dem wäre die ungewöhnliche Atmosphäre nicht entgangen. William, Albert, Louis, Moran und Fred befanden sich gemeinsam im Wohnzimmer des Moriarty-Anwesens in Durham. Nur Miceyla war gerade nicht bei ihnen. Sie war alleine oberhalb bei Evelyn. Ihr sanfter Blick ruhte unaufhörlich auf ihrer friedlich schlafenden Tochter. Die Zeit des Wandels war nun gekommen. Denn sobald sie sich hinunter zu den anderen begab, würden alle voller Neugierde ihre Entscheidung erwarten, Die Rückkehr nach London, sollte das finale Kapitel zu dem Moriarty-Plan aufschlagen. Ein langes, stürmisches Kapitel stand ihnen bevor, in dem kein Platz für Zweifel und Reue war. Es galt nicht nur das Klassensystem zu vernichten, sondern auch einen eskalierenden Zwist zwischen Clayton, Harley und Sherlock zu einem Ende zu führen. Welche Art Ende dies sein würde und ob Sherlock im Ernstfall mit Herz oder Verstand handelte, konnte keiner mit Sicherheit sagen. Daher war es für Miceyla nicht möglich, in zwei Welten zu wandeln. Entweder sie opferte ihr Dasein ihrer Mutterrolle, um Evelyn Schutz zu gewähren oder sie griff zur Waffe und stand ihren Kameraden im Gefecht bei. Natürlich konnte sie die stille Hoffnung nicht unterdrücken, nach alledem ein gewöhnliches Familienleben fortführen zu können. Doch die Sünden der Moriartys blieben gewiss nicht unbestraft… Noch nie war Miceyla derart langsam eine Treppe hinabgestiegen. Nach jeder einzelnen Stufe legte sie eine kleine Pause ein. Dennoch kam sie schneller als gewollt an die leicht geöffnete Wohnzimmertür. Aber bei dem Gedanken, welche treuen und gutherzigen Seelen dahinter auf sie warteten, wurde ihr Herz mit Zuversicht erfüllt und sie wusste, dass jegliches Zögern überflüssig war. Der Stolz Teil dieser einmaligen Gemeinschaft zu sein, übermannte sie erneut. Als Miceyla den Raum betrat und sie von all den enthusiastischen Gesichtern angeblickt wurde, rief ihr eine leise Stimme ins Gewissen, dass man auf sie gewartet hatte und jeder einzelne von ihnen, die Gruppe erst mit ihr als vollständig erachtete.

„Meine Freunde, Kameraden, meine Familie… Mein Herzenswunsch lautet, an eurer Seite zu stehen, wenn wir unser gemeinsames Ziel erreichen. Ort und Zeitpunkt spielen dabei keine bedeutsame Rolle. Ich habe nicht nur William meine Treue geschworen, sondern schwor auch mir selbst an jenem Tag, an dem ich mich euch anschloss, den gefahrvollen Pfad von Anfang bis zum bitteren Ende mit euch zu gehen. Ich habe mir euer bedingungsloses Vertrauen verdient, daher brauche ich auch die Folgen unseres Leidenswegs nicht zu fürchten. All die schweren Tage lassen sich nicht aus den Erinnerungen der Menschen löschen. Doch die Zukunft können wir neugestalten. Erwecken wir die wahre Gerechtigkeit zum Leben. Auf das ein jeder mit einem glücklichen Lächeln am Morgen aufwachen kann… Auf das…Evelyn in einer Welt leben darf, in der das Klassensystem nur noch in Geschichtsbüchern erwähnt wird…“ verkündete Miceyla mit unerschütterlicher Stimme und sie erkannte sogleich an all den mitfühlenden Gesichtern vor ihr, dass ganz gleich wie ihre Entscheidung ausgefallen wäre, man hätte sie akzeptiert. William nickte mit liebevollem Lächeln und lief langsam auf sie zu.

„Dann ist es beschlossene Sache, meine Liebe. Miss Moneypenny wird sich um Evelyn kümmern, damit du dich konzentriert unserer gemeinsamen Aufgabe widmen kannst. Ich stehe dir stets mit Rat und Tat zur Seite und wir alle halten zusammen. Darum brauchen Sorge und Furcht nicht dein Herz zu belasten… Wohlan meine treuen Freunde, in London erwartet uns ein tobender Sturm, bei dem sich die Flammen unseres Unterfangens immer weiter auszubreiten beginnen. Und ich kann nur stets wiederholen, geht weise mit euren persönlichen Gefühlen um. Hierbei darf sich selbstverständlich wieder ein jeder angesprochen fühlen. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein ehemaliger Freund euch plötzlich als Feind gegenübersteht… Aber nur keine Hektik, wir machen alles wie gehabt. Schließlich kennen wir uns alle in- und auswendig, nicht wahr? Wir entschieden uns alle zusammen dafür zur Waffe zu greifen und darum lassen wir sie erst fallen, wenn die Gleichberechtigung im Alltag die Vorherrschaft gewonnen hat. Vertreiben wir all das Böse und verhelfen der Welt zu rechter Größe!“
 

Liebes Tagebuch, 15.4.1881
 

immer wenn mich Evelyn mit ihren kugelrunden, neugierigen Augen anblickt und mir ihr süßes Lächeln schenkt, würde ich sie am liebsten ewig in meinen Armen halten und nie mehr loslassen. Deshalb ist der Gedanke, mich auch nur für einen kurzen Moment von ihr trennen zu müssen, fast schon beängstigend… Natürlich kann William ebenfalls nicht, seinen Blick von unserem kleinen Mädchen abwenden. Er sagt Evelyn hätte dieselben Augen wie ich. Und in jenen strahlend grünen Augen, sieht er ihren Mut und ihre Güte. Alles was ich mir wünsche ist, dass sie in ihrem Leben glücklich wird, mit der Gewissheit im Herzen, dass die Familie Moriarty sie sehr liebt. Jeder Tag als junge Mutter ist für mich unsagbar aufregend. Daher sehe ich es als ein Geschenk an, dies erleben zu dürfen. Doch die geheimen Geschehen in London rufen nach mir. Es ist teilweise eine ziemlich düstere Stimme, die mir ständig zuflüstert, dass ich eine besondere Aufgabe zu erfüllen hätte und eine Bestimmung auf mich wartet. Ach wäre es nur schön, wenn sich alle Konflikte friedlich lösen ließen. Eigentlich geht uns auch der Streit, zwischen den Erzfeinden Clayton und Harley nichts an. Dies müssen die beiden wohl oder übel untereinander ausfechten. Wenn jedoch die ganze Stadt in Mitleidenschaft gezogen wird, haben wir aber folglich keine andere Wahl, als uns einzumischen. Auch um Amelia mache ich mir große Sorgen, da sie alles für den Mann tun würde, den sie unendlich liebt. Wenn dann noch zusätzlich Sherlock dazwischen geht, könnte die ganze Geschichte in einem gewaltigen Fiasko enden… Nur kann ich mir mittlerweile nicht mehr vorstellen, dass er sonderlich erschüttert sein wird, sobald ihm die Identität des Meisterverbrechers bekannt ist. Was dann allerdings aus unserer Freundschaft wird, steht noch in den Sternen. Es gäbe eventuell eine Lösung… In meinen Vorstellungen existiert eine beinahe unscheinbare Idee. Die Chancen auf Erfolg sind dabei zwar gering. Doch wenn auch nur der Hauch einer Möglichkeit besteht, sollte man es trotzdem wagen. Darum bewahre ich die Hoffnung in meinem Herzen, um all die Menschen zu retten, welche ich liebe und für die ich bereit wäre zu sterben…
 


 

Mein kleines Herz aus Gold
 

Mit deinem süßen Lächeln ranntest du mir entgegen,

ich werde dich sanft in dein Bettchen legen.

Glück werden wir uns gegenseitig bringen,

mit Frohsinn und Heiterkeit es wird beginnen.
 

Ich werde immer über dich wachen,

damit du unbeschwert kannst lachen.

Du erwärmst mein trübes Herz

und vertreibst den ganzen Schmerz.
 

Gemeinsam meistern wir den steinigen Weg des Lebens,

du wirst sehen, die Mühen sind nicht vergebens.

Du bist für mich wie ein Geschenk,

dies ist was ich wirklich denk.

Der Fluch im Spiegel

Mit glasigen Augen, beobachtete William den bleichen Vollmond am finsteren Nachthimmel. Um darüber urteilen zu können, ob die Luft sich für ihn nun warm oder kalt anfühlte, fehlten ihm jegliche Empfindungen.

„Das blasse Licht des Mondes ist wunderschön, nicht wahr? Doch bald wird auch dieses Licht für dich verschwinden und dich in einer pechschwarzen Dunkelheit zurücklassen…“ Plötzlich wurden seine Sinne wieder etwas schärfer, als er den sanften Klang einer Stimme vernahm, welche ihm das Gefühl vermittelte, sich am richtigen Ort zu befinden. Sehnsuchtsvoll blickte er das junge Mädchen an, zu welchem jene Stimme gehörte. Das helle Mondlicht schenkte ihrer Haut einen schneeweißen Schimmer. Mit ihren langen blonden Haaren und dem schlichten weißen Kleid das sie trug, sah sie aus wie ein vom Himmel gestürzter Stern, der sich in einen unschuldigen Engel verwandelt hatte.

„Ich fürchte keine ungewisse Dunkelheit, denn ich befinde mich schon zu lange in ihr. Und ich werde stets ein führendes Licht bei mir haben, solange sich ein solch strahlender Stern wie du bei mir befindet…liebste Tochter…“, sprach William sanft und schenkte Evelyn ein Lächeln, welches sie jedoch nicht erwiderte.

„Die Umstände der Gegenwart, können sich in wenigen Augenblicken schon wieder geändert haben… Du müsstest das doch am besten wissen. Ich werde verschwinden und du wirst mich nie wieder sehen. Genau wie Mutter verschwunden ist. Oder siehst du sie hier irgendwo? Hast du sie bereits etwa vergessen?! Und solch ein Scheusal soll mein Vater sein…“, erwiderte Evelyn verächtlich und wendete verbittert ihren Blick von ihm ab.

„W-wo befindet sich Miceyla?“, fragte William zögerlich und bekam es mit einer fesselnden Angst zu tun, die er noch nie zuvor verspürt hatte.

„Du willst sie sehen? Soll mir nur recht sein! Die Folgen deiner Verbrechen mögen nun endlich bestraft werden. Dein Herz wird dieselben Qualen erleiden, die du mir hinterlassen hast. Folge mir… Du hast den Abschaum der Welt in die Hölle vertrieben, jetzt ist es an der Zeit, dass du ihm dorthin folgst…“ Die Kaltherzigkeit in ihrer Stimme, brachte sein Herz bereits jetzt zum zersplittern. Doch eine leise Vorahnung flüsterte ihm zu, dass er gleich einen grausigen Anblick über sich ergehen lassen musste, der selbst seine unerschütterliche Fassung ins Wanken geraten ließe. Und dennoch zwangen Williams Beine ihn seiner Tochter zu folgen. Nach und nach erlosch das sanfte Mondlicht über ihm und verlor sich bei jedem Schritt den er tat in weiter Ferne. Ihm entging nicht, dass es seiner Tochter vor ihm nicht gelang, ihr Zittern zu unterdrücken. Er wusste das auch sie am liebsten in die Richtung des schützenden Mondlichts zurückgerannt wäre. Sein Herz verkrampfte sich dabei mitansehen zu müssen, wie tapfer sie sich gab. William vergaß kurz das gleichmäßige Atmen, als Evelyn abrupt zum Stillstand kam. Er meinte schon taub geworden zu sein, da er kein einziges Geräusch mehr vernahm und dann kam noch das Aufblitzen von Evelyns hellgrünen Augen hinzu, welche ihn argwöhnisch anfunkelten und bei dem er eine Gänsehaut bekam.

„Nun erblicke es, dein größtes Verbrechen… Du wirst kein Grab, keine Blumen vorfinden. Für den Tod gibt es keine verschönernde Zierde…“ Evelyns Stimmer hallte beinahe schmerzhaft in seinen Ohren wider und keine Finsternis der Welt, hätte für ihn jenen grausamen Anblick verschleiern können. William sah Miceylas leblosen Körper, unmittelbar vor sich auf der schmutzigen Erde liegen. Sie war bedeckt mit ihrem eigenen Blut, welches aus etlichen Wunden hervorquoll, die sie sich in einem ausweglosen Kampf zugezogen haben musste. Er erstarrte auf der Stelle und ihm gefror sein eigenes Blut in den Adern. Von Schwindel gepackt, verschwamm die gesamte Welt vor seinen Augen, nur von seiner übel zugerichteten Miceyla, konnte er nicht den Blick abwenden. Verzweiflung, Entsetzen und Bedauern ergriffen von ihm Besitz. Am liebsten hätte er sich sein wild pochendes Herz aus der Brust gerissen, um all das nicht ertragen zu müssen. Und dennoch führte kein Weg an der gerechten Strafe vorbei, die das Schicksal sich für ihn zurechtgelegt hatte.

„Meine liebste Miceyla… Versagt habe ich, dich zu beschützen… Haben wir selbst dieses düstere Ende heraufbeschworen…? Gäbe es nur einen Weg, um die Tragödie der Vergangenheit ungeschehen zu machen, ich würde…“, sprach William verbittert und kniete sich neben Miceyla. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als seinen eigenen Tod. Die einzige Flucht, vor seinem auf ewig andauernden Schmerz.

„Nun begreifst du es endlich, dass nur du allein die Schuld an Mutters Tod trägst. Du bringst der Welt nur Unheil. Ich hasse dich dafür!... Mit ihm…wäre sie viel glücklicher geworden…“ Evelyns verfluchenden Worte, ließen sein Herz vollends ausbluten und die blasse Gestalt seiner Tochter, war nun nicht viel mehr als eine unscharfe Silhouette, die immer weiter in die unerreichbare Ferne rückte. Doch an ihrer Statt erschien ganz plötzlich Sherlock, der seinen Blick gesenkt hatte und seine glasigen Augen auf Miceylas Leichnam richtete. Wut gepaart mit Trauer ergab ein gefährliches Duo, welches zerstörerische Mächte hervorrufen konnte. Dies waren Williams eigene Gefühle und er hatte daher darauf gewettet, dass Sherlock diese erwidern würde. Zum Teil traf dies auch zu, jedoch dominierte bei ihm ganz klar die Hoffnungslosigkeit.

„Alles ist eingetroffen, wie ich es vorausgesehen habe… Doch ich gestehe mir einen fatalen Fehler ein… Ich hätte dem Meisterverbrecher den Garaus machen sollen, als ich noch die Gelegenheit dazu hatte… Und wenn ich dafür für den Rest meines Lebens hinter Gittern gelandet wäre, ich hätte alles für Miceylas Leben in Kauf genommen. Nun bin ich ein Versager und Feigling genau wie er. Ihr Leben hätte gerettet werden können. Dann sind jetzt wohl die brennenden Schuldgefühle, alles was uns noch miteinander verbindet. Und ich habe mich geirrt, mein Guter. Wir haben wohl doch nicht in allen Bereichen identische Gedankengänge… Aber natürlich…es gibt tatsächlich noch eine nicht zu verkennende Kleinigkeit, welche wir teilen. Miceyla…hat mir mindestens genauso viel bedeutet wie dir. Und jener Tatsache galt deine größte Furcht…“ Es gab keinen Weg für William, um der Beharrlichkeit von Sherlocks Worten entfliehen zu können. Mit einem elendigen Gefühl war er auf der Stelle gefesselt und musste mitansehen, wie Miceylas erkalteter Körper immer mehr verblasste. Auch von Sherlock fehlte nun jede Spur. Nur die Intensivität seiner Stimme, hallte noch immer in seinen Ohren wider. Die Gewissheit Miceyla nie wieder zu sehen, ihr liebliches Lächeln zu erblicken und nie mehr in ihre wunderschönen Augen blicken zu können, hinterließ eine verzehrende Leere in ihm, die sich durch nichts und niemanden jemals erneut füllen würde. Es kam dem Gefühl, eines ewig andauernden Falls gleich. Ein endloser Sturz ins Verderben, bei dem er dazu verdammt war bei Bewusstsein zu bleiben.

„Ich opferte dir meinen ganzen Besitz, sogar mein eigenes Leben… Für dich und deine Ideale war ich bereit zu sterben. Doch nun hat meine Seele, noch vor meinem Körper ihren Tod gefunden… Du hast den Menschen geopfert, dem deine größte Liebe gelten sollte und nicht nur die deine… Jetzt ist es endgültig vorbei, ich habe alles verloren und nichts mehr übrig, was ich dir noch geben könnte. So heißt es nun Abschied nehmen… Die Familie Moriarty, ist ab dem heutigen Tage Geschichte…“ Mit verbitterter Miene blickte William in Alberts trübes Gesicht, in dem er keine Spur mehr von dessen ehemaliger Standhaftigkeit vorfand.

„Bruderherz… Jetzt wenden sich wohl alle von mir ab… Was ich allein in meinen Vorstellungen begonnen habe, werde ich scheinbar auch wieder in stiller Einsamkeit beenden müssen…“, gestand er sich missmutig ein und sah mit einem unerträglichem Krampf im Herzen dabei zu, wie all seine engsten Verbündeten, die ihm in den vergangenen Jahren mit blinder Treue zur Seite gestanden hatten, sich wie blasse Sterne bei Anbruch des Tages in Luft auflösten. Doch völlig unerwartet erschien eine weitere Person dicht neben William, deren Erscheinung im Gegensatz zu den vorherigen Gestalten gut zu erkennen war und kein wenig bleich aussah. Und seltsamer Weise war der Gesichtsausdruck dieser Person, mit keinem der Menschen zu vergleichen, welche sich zuvor von ihm abgewendet hatten. Die Lippen jener Person waren zu einem Lächeln geformt, welches weder Glück noch Schadenfreude zum Ausdruck bringen sollte. Nein, es war ein Lächeln, welches den puren Seelenfrieden darstellte und bei dem keinerlei Hass und Reue mehr vorzufinden war. William blickte verwirrt drein, denn er besaß eigentlich ein völlig anderes Bild von dem Mann, der sich soeben zu ihm gesellt hatte. Und trotz seines gebrochenen Herzens, konnte er noch immer exzellent zwischen Heuchelei und Ehrlichkeit unterscheiden.

„Mein Freund, nun stehen wir beide auf derselben Stufe. Erinnerst du dich noch an meine Worte, dass der Verlust der Liebe der grausamste Schmerz ist, den ein Mensch nur fühlen kann? Jetzt darfst du das durchleben, was ich selbst durchleben musste. Und mache dir keine großen Hoffnungen, der Schmerz wird weder jemals komplett verschwinden, noch wird es leichter werden ihn zu ertragen. Denn Gefühle haben ein vernichtendes Ausmaß gegenüber dem rationalen Denken. Wie entscheidest du dich nun? Dir stehen zwei Pfade zur Verfügung, an deren Enden jeweils die Vergangenheit und die Zukunft auf dich warten…“ William sah schweigsam hinab, unter ihm befand sich nicht viel mehr als das tiefschwarze Nichts, welches ihm jegliche Hoffnungen und Emotionen zu entreißen versuchte. Dennoch hörte er von weit entfernt eine leise Stimme zu ihm flüstern. `Verbrechen können niemals vergeben werden… Doch solange wir am Leben sind, haben wir die Möglichkeit Gutes zu tun und etwas zu ändern. Wir haben einander, darum lasse bitte nicht los…niemals…`

„Miceyla…“ Als William erkannte, zu wem jene sanfte Stimme gehörte, hob er ruckartig wieder den Kopf und erblickte am fernen Horizont einen letzten verbliebenen Stern, der mühsam darum kämpfte, sein Leuchten nicht zu verlieren. Auch in ihm wurde erneut die Flamme des Willens entfacht und in seine leblosen Augen, kehrte wieder eine eiserne Entschlossenheit zurück.

„Ich habe längst gewählt, Clayton. Für mich existiert nur der dritte Pfad, nämlich die Gegenwart. Auf diesem Pfad kann ich die Vergangenheit hinter mir lassen und die Zukunft nach meinen Vorstellungen gestalten. Und für dich wäre es ebenfalls besser, du würdest dich auf demselben Pfad wie ich befinden. Denn dein Herz ist in der Vergangenheit gefesselt und dein kopfloses Ich aus der Gegenwart, ist dabei nicht nur deine eigene, sondern auch die Zukunft deiner Mitmenschen zu sabotieren“, tat William vor Clayton seinen Entschluss kund und ermahnte ihn dabei mit seinem warnenden Unterton dazu, über seine eigenen Entscheidungen nachzudenken.

„So lautet also deine Antwort… Wir unterscheiden uns vom Wesen her doch ein klein wenig… Ich bin viel zu weit entfernt, um deinen aufrichtigen Pfad noch erreichen zu können… Und darum… Wirst du derjenige sein, der meiner schmerzenden Seele ihre langersehnte Erlösung schenkt und mich aufhält? Denn dann kann ich dich wohl als meinen einzig wahren Freund bezeichnen…“, kommentierte Clayton wenig überrascht Williams Vorsatz, während plötzlich ein stürmischer Wind aufkam und seine Gestalt hinfort riss.

„Das werde ich…mein Freund…“
 

Mit hektischem Atem erwachte William aus seinem unangenehmen Alptraum und packte sich mit der Hand auf sein unkontrolliert klopfendes Herz. Er setzte sich im Bett auf und blickte zitternd zu Miceyla, die friedlich neben ihm schlief. Zaghaft strich er mit der Hand über ihre warme Wange, als wollte er sich davon vergewissern, ob er sich tatsächlich nicht mehr in seiner Traumwelt befand und sie am Leben war. Da sie meistens einen recht leichten Schlaf

hatte und auf das leiseste Geräusch und die kleinste Berührung reagierte, öffnete sie verschlafen die Augen.

„Will…“ Trotz der Dunkelheit erkannte sie seine Angespanntheit und die Leere in seinem Blick. Beunruhigt setzte Miceyla sich ebenfalls auf und nahm besänftigend seine Hand.

„Verzeih… Ich wollte dich nicht wecken… Und dennoch beruhigt mich die Tatsache, dass dich keiner leichtfertig im Schlaf überfallen könnte, ha, ha“, sprach er ablenkend und war sichtlich erleichtert darüber, nach der unwirklichen Folter wieder wach zu sein. `Ein Alptraum…` Miceyla brauchte nicht lange, um zu ergründen was mit ihm nicht stimmte. Und sie wusste, dass Träume beim Erwachen einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen konnten und sei es auch nur für einen kurzen Moment, die Wirkung durfte man nicht unterschätzen. Ihr Herz verkrampfte sich ebenfalls dabei mitanzusehen, wie seine seelische Belastung weiter zunahm und ihm nicht einmal im Schlaf Erholung vergönnt war. William nahm sie liebevoll in die Arme und gab ihr auf diese Weise ohne Worte zu verstehen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, auch wenn ihm schmerzlich bewusst war, dass dies kaum eine Wirkung hatte. `Momentan kann ich noch aus meinen finsteren Träumen erwachen… Doch wie lange es wohl dauert, bis sie wahr werden…? Entfliehen kann der bitteren Realität ohnehin keiner von uns…darum…`

„Wie geht es Evelyn?“, erkundigte William sich plötzlich und hatte nun wieder mehr an Standhaftigkeit gewonnen.

„Sie…schläft friedlich in ihrem Bett, es fehlt ihr an nichts“, antwortete Miceyla etwas zögerlich und blickte dennoch mit sanftem Lächeln zu der Wiege, in welcher ihre Tochter schlief.

„Ich bin erleichtert dies zu hören… Jedoch wäre es besser, wenn sie mit Miss Moneypenny nach Durham zurückkehren würde. Sie ist hier nicht sicher“, erwähnte er erneut seine Bedenken, auch wenn man ganz deutlich den Widerspruch heraushörte, dass er seine Tochter am liebsten in nächster Nähe behielt, um sie eigenständig beschützen zu können. `Nein Liebster, trenne uns nicht widerwillig von unserem eigenen Kind… Wir wissen doch alle, dass kein sicherer Ort auf dieser Welt existiert… Allerdings…vielleicht kein sicherer Ort, aber dafür…` Miceyla beendete ihren Gedankengang abrupt, als William plötzlich vom Bett aufstand und sich ausgehfertig anzog.

„Wir haben drei Uhr nachts… Ich weiß ja, dass du nun keinen Schlaf mehr finden wirst… Dennoch…wohin willst du um diese Uhrzeit?“, fragte sie etwas kummervoll und zögerte mit dem Vorschlag ihn zu begleiten.

„Einen Freund besuchen… Auch dir steht es frei deine Freunde zu besuchen, wann immer du magst. In letzter Zeit hältst du dich damit eher etwas zurück, doch das ist nun wirklich nicht nötig. Ebenso wenig brauchst du dich vor ihrer Reaktion zu fürchten, sobald sie die Wahrheit erfahren haben. Sie werden dich noch besser verstehen als vorher und zu dir…zu uns allen halten. Wir streben alle dasselbe Ziel an, machen nur von unterschiedlichen Methoden Gebrauch. Rufe dir diese Tatsache stets erneut ins Gedächtnis und deine Anspannung wird sich etwas lockern. Bleibe dir treu und habe Vertrauen… Nicht nur ich bin derjenige, der dir jenen Zuspruch des Öfteren ans Herz legt… Und ich bin nicht lange weg, versprochen.“ Mit diesen Worten und einem flüchtigen Lächeln auf den Lippen, verschwand er geräuschlos wie ein Schatten die Tür hinaus. `Welcher Freund…?` Miceyla widersetzte sich der Versuchung ihm zu folgen und lächelnd erinnerte sie sich selbst daran, dass es nicht viele Menschen gab, die er mitten in der Nacht aufsuchen würde. Da auch sie nun hellwach war, lief sie zu Evelyn in ihrer Wiege und setzte beim Betrachten ihrer Tochter, ihre soeben

beendeten Überlegungen fort. `Wir finden einen sicheren Ort für dich… Fern von der Saat des Krieges, welche wir magisch anziehen. Und dieser Ort wird nicht einmal weit weg sein. Vergib mir Will, dass ich ausnahmsweise mal eine Entscheidung ohne dein Urteil treffe…`

Die Nacht war unbarmherzig kalt und der raue Wind verwehte jegliche Spuren, welche einen daran erinnern sollten, dass der Mai vor der Tür stand. Aber in den Herzen der meisten Menschen, herrschte ohnehin ein ewiger Winter… William fuhr mit einer der wenigen betriebsbereiten Kutschen ein Stück weit und setzte anschließend seinen Weg zu Fuß fort. Dabei achtete er ohne es sich anmerken zu lassen darauf, ob ihm auch keiner folgte. Schließlich war er an seinem Zielort angelangt und lief nun etwas langsamer, während er an Claytons Turm emporblickte, wo an dessen obersten Raum ein schwaches Licht flackerte. `Kluge Köpfe lassen sich nicht vorschreiben, wann sie am produktivsten sein wollen…`, dachte er im Stillen und lächelte wohlwollend. Gesittet betätigte er die Türklingel und wartete geduldig. Nach einigen Minuten des Wartens, öffnete sich die Tür einen Spalt weit und Clayton schaute ihn mit der zwiegespaltenen Skepsis an, welche William von dem jungen Physiker erwartet hatte.

„Schau an, wer hier in der Finsternis herumgeistert… Sie leben wahrlich nach dem Motto, `Der frühe Vogel fängt den Wurm`. Dann verraten Sie mir mal bitte, was Sie dazu bewogen hat, mein von der Außenwelt abgeschottetes Heim aufzusuchen? Ein nächtliches Fechtduell, scheinen Sie jedenfalls nicht im Sinn zu haben…“, erklang sogleich eine leicht schroffe Begrüßung und er grinste herausfordernd. Claytons musternder Blick ob er bewaffnet war, amüsierte ihn beinahe.

„Reicht Ihnen mein Wunsch, nach einer Begegnung mit einem Menschen, mit dem man ausgelassen fachsimpeln kann, als Grund aus?“, begründete William lächelnd seinen unangekündigten Besuch. Anstatt das Claytons Skepsis weiter wuchs, brachten ihn die Worte seines spontanen Besuchers zum Lachen und er öffnete die Tür nun ein Stück weiter.

„Ha, ha, ha! Sie besitzen mit Ihrer ungekünstelten Authentizität, jedenfalls das Zeug zum Komiker, Hut ab! Und da haben Sie ja wirklich Glück, dass Sie nicht umsonst herkommen sind und ich gerade zugegen bin. Na dann will ich mal nicht unhöflich sein und Sie eintreten lassen. Doch sollten Sie lieber davon absehen, faule Tricks zu benutzen, damit beißen Sie bei mir nur auf Granit… Aber weswegen sind Sie nun wirklich auf einen Plausch mit mir aus? Haben Sie sich Ihr kluges Köpfchen gestoßen oder zu tief ins Glas geschaut?“, ließ Clayton ihn schließlich in sein geheimnisumwobenes Heim eintreten und setzte dabei einen gespielt vorwurfsvollen Blick auf.

„Nichts dergleichen, nur schlecht geträumt…“, gab William ihm eine ehrliche Antwort und fand direkt Gefallen an der exzentrischen Innenausstattung, welche Claytons beispiellosen Freigeist widerspiegelte.

„Nun, da fühle ich mit Ihnen… Wir können der Grausamkeit des Lebens im Schlaf entfliehen, doch den Fesseln der Traumwelt kann keiner entkommen. Träume führen uns die Dunkelheit vor Augen, welche sich tief in unserem Herzen manifestiert hat und entfesseln die Angst, den Hass und die Trauer auf korrupte Weise. All jene negativen Emotionen, die wir im Alltag zu verdrängen versuchen, kommen heuchlerisch im Schlaf hervorgekrochen. Oh ja, Träume sind wie ein Spiegel unserer befleckten Seele, ein Fluch der so manch einen verzweifeln lässt. Die einzige Möglichkeit um ihn zu brechen besteht wohl darin, sich der Finsternis des Herzens in der Realität zu stellen… Ho, ho, ho! Nun aber genug von Matador Muscaris begnadeten Weisheiten! Lassen Sie uns die Treppe zum Universum emporsteigen und die physikalischen Grenzen durchbrechen, denn die Kraft unserer Vorstellungen ermöglicht es uns, jeden noch so fernen Ort zu erreichen“,…sprach Clayton mit einer Ergriffenheit, die sowohl sein schauspielerisches Talent, als auch seine wahren Gefühle zum Vorschein brachte.

„Bei Ihrem Drahtseilakt zwischen Poesie und Realismus, werden Sie wohl auf ewig konkurrenzlos bleiben…“ Beide erreichten das oberste Stockwerk und William sparte sich die Mühe, sein Interesse für Claytons seltene Fachliteratur und Gerätschaften zu verbergen.

„Darf ich mir die direkte Frage erlauben, weshalb Sie im stillen Kämmerlein herumtüfteln, wenn Ihr großer Erfindergeist den Alltag vieler Menschen erleichtern könnte? Was spricht dagegen, in die Fußstapfen Ihres Vaters zu treten? Sie brauchen sich nun wirklich keine Gedanken darüber zu machen, ihm damit eine Schande zu bereiten. Ich habe ihn zwar nie persönlich kennenlernen können, aber seine Arbeit hat die Fakultäten für Physik, beinahe in allen Universitäten des Landes vorangebracht. Jeder Student wird den Namen Ihres Vaters in der ein oder anderen Vorlesung zu hören bekommen. Daher können Sie stolz auf Ihren Familiennamen sein. Sie sind ein Adeliger dem es erlaubt ist, seinen Titel mit Würde zu tragen, obgleich man ihn Ihnen genommen hat…“, begann William sich taktvoll an Claytons verschlossenes Herz heranzutasten, ohne dabei zu aufdringlich sein zu wollen. Clayton wirkte jedenfalls weitaus redewilliger als argwöhnisch, machte es sich auf einem Sessel bequem und bedeutete seinem Besucher es ihm gleichzutun.

„Sie bemerken doch sicher, dass mein gesamtes Herzblut dem Theater gewidmet ist und ich meine Begabung für Physik nur als Mittel zum Zweck nutze. Mögen Sie dies auch als Verschwendung betrachten und behaupten, ich verstecke mich auf der Bühne nur hinter einer falschen Maske, um die Schandtaten meines wahren Ichs zu verschleiern. Aber mit meinem Theater habe ich nicht nur mir, sondern auch dem täglich dort erscheinenden Publikum ein Universum erschaffen, in welchem noch erlaubt ist zu träumen und an Wunder glauben zu dürfen. Im Theater verbreitet sich die Inspiration exponentiell, wie Sie es sicher ebenfalls sagen würden. Und dies sehe ich als das größte von mir geschaffene Meisterwerk an. Stolz bin ich dennoch allemal und schäme mich keineswegs für meinen Namen. Doch eines muss ich klarstellen, ich bin kein guter Mensch, dass Böse hat in mir unübersehbar die Oberhand gewonnen. Denn Harleys einzige Lehre war es, gefallen an Verbrechen zu finden. Mein verbliebener Trost sind die Kinder und ihre glücklichen Gesichter. Und im Gegensatz zu Ihnen habe ich es vermieden, mich an das fesselnde Band einer Familie zu binden, welches meinen Vorhaben im Weg stehen könnte. Hätte ich Ihr Glück, ich würde dem Verbrecherleben den Rücken kehren und weit fortgehen. Aber ich weiß, dass Sie größere Utopien anstreben, für die Sie schon fast Ihr ganzes Leben daraufhin gearbeitet haben…“, erwiderte Clayton gelassen, ohne seinen Gesprächspartner dabei direkt anzublicken.

„Nun… Wenn Sie sich selbst als schlechten Menschen bezeichnen, wie würden Sie dann erst die verdorbenen Schandtäter nennen, welche die schwersten Gräueltaten verrichtet haben, über die Sie richten? Gibt es dafür überhaupt noch eine Steigerung? Aber es ist sicher kein Geheimnis, dass Ihre Vorhaben, erweckt aus Ihren finsteren Gedanken, immer gnadenloser werden. Ist es daher nicht von Zeit zu Zeit angebracht, wenn einem ein guter Freund Einhalt gebietet?“ Erst in jenem Augenblick wo William zu Ende gesprochen hatte, blickte Clayton in dessen gütiges Gesicht.

„Sie nennen mich einen Freund…? Hm… Es rührt mich beinahe, dass dies kein Scherz sein soll. Aber sorgen Sie sich lieber um Ihre wahren Freunde. Ich kenne da nämlich so einen dickköpfigen Detektiv, der für Sie den Kopf herhalten würde und das nicht nur Miceyla zuliebe… Und da wir nun so vertraulich miteinander plaudern, dürfen Sie ruhig wissen, dass ich weitaus weniger egoistisch bin, als alle vielleicht denken. Ich will nicht nur Harley aus persönlichen Gründen einen Kopf kürzer sehen, sondern ihm vorrangig das Handwerk legen, da er einen Krieg plant. Nein, ich bin nicht vollkommen begriffsstutzig und erkenne, dass er sich um die Bürger Londons sorgt. Jedoch ist England für ihn das Zentrum der Welt und will erzwingen, dass die benachbarten Nationen vor seinem Regiment niederknien. Nur ein hirnloser Narr, würde einen Mann in einem gnadenlosen Krieg als Sieger auserkoren, bei dem er auf etliche Opfer herabblicken müsste. Dagegen wäre Ihre und meine erbrachte Opferanzahl wortwörtlich nichtig. Denn bei einem Krieg gibt es tausende von Toten. Da darf Harley schon mal fleißig Gräber ausheben gehen, sein eigenes inbegriffen. Eins noch vorneweg, ich werde mich nicht nach Ihnen richten. Also was auch immer Sie dagegen unternehmen wollen, ich werde mich dieser Problematik eigenständig entgegenstellen. Wenn ich Harley dabei nicht alleine zu fassen bekomme, mache ich auch nicht davor Halt, die gesamte Kavallerie an führenden Köpfen ins Jenseits zu befördern. Falls Sie mich wirklich aufhalten wollen, wünsche ich Ihnen viel Glück dabei… Und Sie brauchen nicht zimperlich zu sein, wenn die Zeit gekommen ist, dürfen Sie sich ruhig an meiner Fachliteratur bedienen. Ich kenne den Inhalt jedes einzelnen Buches ohnehin auswendig. Sie finden sicherlich für selbst das kleinste Fünkchen Wissen eine passende Verwendung, denn ich habe dafür keinen Zweck mehr. Sie können sich also nach Herzenslust hier austoben, dafür gebe ich Ihnen meinen Segen… Zeit das auf dem zähen Geschwätz endlich bannbrechende Taten folgen! Das größte Schauspiel ist unser eigenes Leben, mit all ihren Lügen und Intrigen. Perfektion ist ein reines Hirngespinst. Die Fehlschläge mit all ihren Ecken und Kanten, sind der wahre Lichtblick in einer Hölle von abgerichteten Zinnsoldaten…“ William schmunzelte über die versteckte Andeutung seines Gesprächspartners, welche ihm verriet das dieser bereits genug Gesellschaft für eine Nacht hatte. `Das hört sich für mich beinahe danach an, als überließe er mir seinen Turm wie ein hinterbliebenes Vermächtnis… Doch damit ist er bei mir an der falschen Adresse, da uns beide dasselbe Schicksal erwarten wird…` Lächelnd erhob William sich von seinem Platz, um auf unkomplizierte Weise seinen Aufbruch kundzutun.

„Nun, alles was ich Ihnen versprechen kann ist dafür zu sorgen, dass Ihre Heiligtümer nicht in falsche Hände geraten, ungeachtet dessen was Ihr `perfekt` geplanter Komplott für ein Ausmaß nehmen wird… Aber Ihr größtes Heiligtum wird wohl mit aller Wahrscheinlichkeit, vor den Augen der gesamten Welt in scharlachroten Flammen aufgehen…“
 

Alberts Füße versanken im tiefen Matsch und ein rasselnder Wind peitschte ihm unbarmherzig ins Gesicht, je näher er dem Flussufer kam. Aus einem vor wenigen Augenblicken angelegten Boot, stiegen einige sich verdächtig verhaltende Männer ans Ufer, die sich mit dem Schutz ihrer geladenen Schusswaffen geborgen fühlten. Albert blieb im Dickicht bei dunkler Umgebung für sie vollkommen unsichtbar. Mit Leichtigkeit hätte er die Männer bereits von seinem derzeitigen Standpunkt aus, zum Opfer seiner eigenen Pistole machen können. Doch er wartete wie ein geduldiges Raubtier darauf, bis seine Beute sich in vermeintlicher Sicherheit zu befinden glaubte. Und auch er selbst war nicht allein, denn auf der gegenüberliegenden Uferböschung wartete sein Soldatentrupp, welcher ebenfalls gut versteckt auf seinem Posten verharrte, auf das Zeichen, welches die gierigen Halsabschneider an einer Flucht hindern sollte. Alberts Geduld zahlte sich aus und er warf eine Rauchbombe mitten in die Gruppe, welche aus insgesamt sieben Männern bestand. Augenblicklich war wildes Fluchen zu hören und rasch breitete sich die Panik darüber aus, entdeckt worden zu sein.

„Was soll der verdammte Mist?! Pah, Rauch! Es ist ohnehin stockfinster! Welch ein hirnverbrannter Einfallspinsel!“

„Verzeihen Sie mir, dass ich Ihren Anforderungen nicht gerecht werden konnte… Wäre Ihnen eine richtige Bombe lieber gewesen? Ich habe mir erlaubt Sie zu testen und Sie sind auf ganzer Linie durchgefallen. Denn wenn eine solche Kleinigkeit bei Ihnen bereits für Verwirrung sorgt, fehlt Ihnen noch jahrelanges Training und die Erfahrung, um im Leben eines Verbrechers länger als ein paar Tage durchhalten zu können. Ein Menschenleben zu rauben und damit seine eigene Haut zu retten, kann jeder Feigling…“, erklang Alberts Stimme zynisch, während er im Schutze des Rauchs nicht ausfindig zu machen war. Nach seinem kurzen Zeichen wurde das Schussfeuer eröffnet und die verwirrten Verbrecher fielen einer nach dem anderen leblos zu Boden. Den letzten Überlebenden schlug Albert bewusstlos, um ihn später verhören zu können.

„Ausgezeichnet! Ihre Vorgehensweise ist wie immer tadellos, allein das Zuschauen ist ein Hingucker der Königsklasse. Dies bestärkt nur meine Überlegungen, Sie zukünftig öfter Einsätze im Außendienst leiten zu lassen…“ Albert wandte sich kurz, von der nun mit frischem Blut bedeckten Moorlandschaft ab und blickte in den zufriedenen Gesichtsausdruck von Harley, der ein solches Leuchten in den Augen hatte, als hätte er gerade eine spektakuläre Vorstellung auf einem Jahrmarkt gesehen.

„Ich grüße Sie, Sir Granville. Dieser kleine Einsatz war meines Erachtens nicht der Rede wert. Aber das Sie sich die Mühe gemacht haben, persönlich hier zu erscheinen, um am Erfolg der Mission teilhaben zu können, bezeugt Ihren Willen, unser Land von Grund auf verändern zu wollen… Und es ehrt mich stets die Leitung übernehmen zu dürfen, gerade wenn junge Rekruten mit dabei sind. Ich möchte dafür Sorge tragen, dass deren Menschlichkeit bewahrt wird und sie sich nicht zu kaltblütigen Kriegsmaschinen entwickeln… Denn das menschliche Herz kann zwar viel ertragen, doch es gibt noch lange nicht für jede davongetragene Wunde eine Heilung. Wir lassen die Waffen sprechen in Situationen, in denen man mit Worten nicht mehr weiterkommt und reißen die Blockade ein, welche unsere Feinde von ihrer Vernunft trennt. Ich wünsche keinem jungen Mann, die Qualen des Krieges am eigenen Leib miterleben zu müssen. Doch manchmal ist der ungemütliche Weg der jeweilige, um wertzuschätzen was Frieden und die Sicherheit der eigenen Familie bedeuten…“, begann Albert mit gemischten Gefühlen zu erzählen, doch sein selbstbewusstes Lächeln bezeugte, dass er keineswegs an seinen Idealen zweifelte. Harleys Blick ruhte friedvoll, gar fürsorglich auf Albert und er schien ihm mit großer Freude zuzuhören.

„Hätte ich einen Sohn mit Ihren Ambitionen, ich würde ihm keinerlei Vorschriften machen, wie er seinen Lebensweg zu gestalten habe. Die Entwicklung eines anderen Menschen, kann man nur fördern und nicht selbst kreieren. Ob nun der eigene Aufstieg oder Untergang, dies bleibt der Undurchsichtigkeit des Lebens überlassen… Aber wer seinen Weg einmal gewählt hat, sollte Courage zeigen und nicht zurückblicken. Albert, ich betrachte Sie als einen Freund, nicht als einen mir untergeordneten Soldaten. Und ich lasse Ihrem Bruder weiterhin freies Handlungsfeld, wie wir es in unserer Abmachung besiegelt haben. Denn ich beharre auf meiner Meinung, dass weder ein Meisterverbrecher, noch ein Meisterdetektiv die Befähigung besitzt, einen Krieg zu verhindern bei dem mehrere Nationen involviert sind… Und halten Sie sich die Erinnerung an Ihren Teil der Abmachung warm. Keiner von uns mag schließlich plötzlich in einer ungemütlichen Realität aufwachen…“, verkündete Harley teils feierlich, teils mit einem bitterernstem Unterton und wandte sich mit einer winkenden Handbewegung wieder von ihm ab, damit Albert seinen Auftrag zu Ende bringen konnte.

„Sie wünschen sich einen richtigen Bruder. Ihr sehnlichster Herzenswunsch steht Ihnen wahrlich ins Gesicht geschrieben. Aber nicht dasselbe Blut macht zwingend eine loyale Bruderschaft aus… Wenn es einen Menschen gibt, den Sie vorrangig beschützen wollen, dann muss dies keiner familiären Bande zugrunde liegen. Wir brauchen uns nicht an quälende Fesseln zu binden, die unsere eigenen Schritte behindern. Mein Bruder glaubt alle Schuld alleine schultern zu müssen, doch Sie und ich haben jeweils einen eigenen Krieg begonnen und einiges an Buße abzuarbeiten. Wir lehrten William und Clayton den Abschaum dieser Welt auszumerzen. Und nun werden sie gleichermaßen bewundert und gehasst. Jene begabten Menschen verdienen eine glorreiche Zukunft… Und mir obliegt nur eine einzige Wahl, Abmachung hin oder her. Mein Leben habe ich voll und ganz meiner Familie verschrieben. Und sollten Sie irgendetwas in die Wege leiten, was ihr in irgendeiner Weise schaden könnte, werde ich mich dafür wappnen und stets einen letzten Pistolenschuss für Sie aufsparen. Sie merken, ich halte nicht viel von dem Sprichwort `Reden ist Silber, Schweigen ist Gold`. Doch da die Freundschaft mit Ihnen, mir tatsächlich auch etwas bedeutet, möchte ich Ihnen Vertrauen schenken. Ich schätze nun mal ehrliche Menschen, die ihre Hintergedanken gleich offenbaren ohne sie verbergen zu wollen, da weiß man woran man ist… Herrje… Jetzt haben meine Männer die meiste Arbeit machen müssen. Nun muss ich Sie doch noch dafür ausschimpfen, mich unterbrochen zu haben, ha, ha! Und noch etwas… Wir sollten wohl beide aufgeben, vergangene Fehler wieder gutmachen zu wollen, sondern lieber an der Zukunft arbeiten. Ich für meinen Teil könnte mir zudem gut vorstellen, dass ein Meisterverbrecher und ein Meisterdetektiv im Duo dazu in der Lage wären, einen Krieg zu verhindern. Also Obacht…“ Nach Alberts schlagfertiger Argumentation, blieb Harley augenblickliche auf der Stelle stehen und blickte ihn verdutzt an. Es schaffte so gut wie keiner, Harley Worte an den Kopf zu werfen, die ihm die Sprache verschlugen. Jedoch fand man nicht mal einen Funken Zorn in dessen Gesichtsausdruck. Stattdessen formten sich seine Lippen zu einem stillen, wohlwollenden Lächeln. Von seiner Dominanz ausstrahlenden Persönlichkeit würde wohl niemand erwarten, dass er solch sanfte und ausgeglichene Charakterzüge besaß, die einen gereizten Gemütszustand bei ihm verhinderten. Plötzlich fand die ruhige Atmosphäre ihr jähes Ende, als aus heiterem Himmel in einiger Entfernung, auf der gegenüberliegenden Seite der Themse, eine brüllende Explosion zu hören war, welche den dunklen Nachthimmel für einen kurzen Moment erhellte. Schockiert blickte Albert in jene Richtung und ein Gefühl der unerträglichen Sorge machte sich in ihm breit. Denn bei dem Gedanken, dass seine Kameraden gerade zeitgleich einen anderen Auftrag ausführten, bekam er ein schlechtes Gewissen.

„Ich werde umgehend aufbrechen und mir ein Bild von dem verursachten Schaden machen…“, suchte Albert hastig nach einem Vorwand, um den Ort verlassen zu können. Doch wie es nicht anders sein sollte, ließ Harley ihn nicht gewähren und machte ihm einen strikten Strich durch die Rechnung.

„Sie werden sich nicht von der Stelle rühren und Ihre aktuelle Mission ordnungsgemäß fortführen. Zweigleisig zu fahren hilft weder Ihnen noch Ihrer geschätzten Familie. Gerade eben sagten Sie noch selbst, dass Sie mir vertrauen. Daher werde ich mich der Sache annehmen. Es war schließlich kein Zufall von mir, hier vorbeizukommen. Keiner von uns hat Zeit im Überfluss. Mit Geld und Macht lässt sie sich nun mal nicht erkaufen. Im Alleingang können wir die Welt nicht retten, nur gemeinsam. Wollten Sie mir jene naiven Ideale nicht beweisen? Vorauspreschende Helden können mir gestohlen bleiben…“, hielt Harley ihn beharrlich auf und ging bereits ehe er zu Ende gesprochen hatte seines Weges. Albert blieb daraufhin nichts anderes übrig, als seufzend nachzugeben, um einer zeitverschwendenden Diskussion aus dem Weg zu gehen…
 

Keuchend rannte Miceyla eine stählerne Treppe hinab, bis sie eine großflächige, unterirdische Lagerhalle erreichte. Dicht hinter ihr, sprang ebenfalls eine Person die letzten Treppenstufen hinunter und griff sie ohne eine Atempause einzulegen, mit einem funkelnd scharfen Dolch an. Sie schaffte es zwar geschickt auszuweichen, doch bemerkte nicht, wie sich bereits ein weiterer Angreifer von hinten in der Dunkelheit an sie heranschlich.

„Miceyla, Vorsicht!“ Verschreckt fuhr Miceyla bei dem hektischen Warnruf herum und bemühte sich dabei beide Männer im Auge zu behalten. Gerade noch rechtzeitig ertönte ein Schuss und der Mann hinter ihr sackte mit schmerzverzehrter Miene zu Boden. Miceyla zögerte nicht lange und wandte sich wieder ihrem ersten Gegner zu. Konzentriert wich sie dessen kraftvollen, jedoch langsamen Hieben aus und sprang mit überlegender Geschwindigkeit hinter ihn, außerhalb seines Sichtfeldes. Dabei legte sie keine Pause ein und rammte ihm mit vereinten Kräften, ihren Degen von hinten durch seinen Brustkorb. Der Mann verkrampfte augenblicklich am gesamten Körper und begann unkontrolliert zu zucken. Bereits nach wenigen Sekunden, zog sie ihren nun mit Blut getränkten Degen wieder heraus und wich etwas zurück, ehe der Mann mit seinen letzten schweren Atemzügen vor ihren Füßen zusammenbrach. Ein wenig benommen wandte Miceyla ihren Blick ab und rang darum die Fassung nicht zu verlieren. Auch wenn sie sich niemals an das Töten gewöhnen würde, waren Opfer unabdingbar um überleben zu können. Auf einmal spürte sie eine beruhigende Hand auf ihrer rechten Schulter, die sie dazu ermutigte nicht den Fokus bei ihrer Aufgabe zu verlieren und sie daran erinnerte nicht alleine zu sein.

„Alles in Ordnung? Ich denke, jetzt haben wir weitestgehend freies Handlungsfeld.“

„Ja, danke Louis. Lass uns nachsehen, wie die anderen zurechtkommen. Ich mache mir Sorgen wegen des ganzen Sprengstoffs… Ein falscher Schritt und alles könnte hier in die Luft fliegen. Und diese Sorge wird nicht nur mir ein schlechtes Gewissen einbringen…“, sprach Miceyla beunruhigt und schenkte Louis dennoch ein Lächeln der Dankbarkeit.

„Da hast du recht. Beeilen wir uns besser…“, meinte dieser daraufhin zustimmend und beide liefen geschwind weiter.

„Da seid ihr ja endlich! Hier herüber! Wir haben besagten Sprengstoff gefunden. Nun müssen wir den Kram nur noch über Williams Route zu von Herder bringen, ehe es weiteren Schmugglern oder gar dem Militär in die Hände fällt und ein falsches Spielchen damit getrieben wird. Aber leichter gesagt als getan…“ Miceyla und Louis gesellten sich zu Fred und Moran, während letzterer mit einer kritischen Handbewegung, auf einige prall gefüllte Kisten mit Sprengstoff verwies.

„Wie wahr… Mir wird übel wenn ich daran denke, dass hier an Sprengkörpern gebastelt wurde, welche einen überdimensionalen Explosionsradius besitzen… Alles zu vernichten wäre auch keine Option, da genug Menschen das Wissen besitzen um den Sprengstoff herzustellen… Dann lasst uns diese düsteren Hallen, auf die gute alte Art plündern und von hier ver…“ Miceyla kam nicht dazu ihren Satz zu beenden, da plötzlich ein grelles Licht die Lagerhalle erhellte und sie schützend einen Arm vor die Augen legte. Kurz darauf begann ein Teil der Decke einzustürzen und sie spürte nur noch wie Moran neben ihr sie mit sich riss, damit keiner von ihnen begraben wurde. Als sich die Lage nach einer kurzen Zeit etwas beruhigte, wagte Miceyla wieder ihren zitternden Körper aufzurichten.

„Die Explosion kam von Oberhalb! Aber es sollte doch niemand mehr hier sein! Wäre der brandgefährliche Inhalt der Kisten in Mitleidenschaft gezogen worden…dann…“, begann Louis mit fröstelnder Stimme und bekam ein kreidebleiches Gesicht.

„…Dann wäre von uns nicht viel mehr, als ein mickriges Häufchen Asche übrig geblieben…“, wisperte Miceyla heiser und starrte bibbernd auf den Trümmerhaufen vor ihr auf dem Boden.

„Jetzt reißt euch mal am Riemen, ihr zwei Panikmacher! Wir haben Momente erlebt, da standen die Karten weitaus schlechter für uns. Und wie oft sind wir bereits knapp dem Tode entkommen? Ihr hättet mal die erbarmungslose Kriegsfront miterleben müssen!“, tadelte Moran leicht scherzhaft und klopfte den beiden jeweils einmal kräftig auf die Schulter, um sie daran zu erinnern noch am Leben zu sein. Louis wollte erzürnt etwas erwidern, doch Fred kam ihm zuvor und blickte mit weit aufgerissenen Augen verängstigt hinauf.

„Ich höre Stimmen! Da ist Amelia!“

„Fred, warte! Du weißt nicht was uns dort oben erwartet!“, rief Louis sogleich besinnend. Doch noch ehe es einer der drei geschafft hatte, den quirligen Fred aufzuhalten, war er auch schon auf die obere Etage geflitzt…

Der übelriechende Schwefelgeruch von der Explosion, brannte unangenehm in Freds Kehle. Darum bemühte er sich konzentriert darum, so wenig wie möglich davon einzuatmen. Und sein scharfes Gehör hatte ihn nicht getäuscht. Amelia versuchte sich vergebens gegen eine Scharr Männer zu behaupten. Trotz ihrer ausgereiften Fähigkeiten war sie ganz klar unterlegen. `Diese Männer tragen Militäruniformen… Ich kann aber mit bloßem Auge erkennen, dass sie nicht der Armee von England angehören. Was geschieht hier eigentlich genau? Soll die ganze Lagerhalle, als Tarnung für eine Basis von feindlichen Truppen dienen? Und hat Clayton Amelia zur Spionage hergeschickt?... Verdammt! Ich muss ihr helfen! Will würde niemals seine Kameraden in brenzligen Situationen im Stich lassen!`, dachte er nervös und wollte Hals über Kopf lospreschen, auch wenn ihm bewusst war, in was für einer misslichen Lage er und Amelia sich befanden. Doch jemand packte ihn energisch am Arm, um ihn gegen seinen Willen, an seinem aufopferungsvollen Rettungseinsatz zu hindern. Erschrocken versuchte Fred sich loszureißen, bis er erkannte wer genau ihn festhielt.

„William?!“

„Du hast dir sicher gerade gedacht, dass der gute alte Will seine Freunde niemals im Stich lassen würde… Daher darf ich euch also mal nicht enttäuschen!“, sprach William enthusiastisch und ohne noch länger auf der Stelle zu verharren, lief er mit seinem Degen in der rechten Hand an Fred vorbei, auf die Feindesfront zu.

„D-das sind zu viele! Selbst du schaffst das niemals alleine!“, rief Fred noch verzweifelt, jedoch hatte seine Warnung keinerlei Wirkung mehr. Mittlerweile lag Amelia halb bewusstlos am Boden und war ihren Gegnern hilflos ausgeliefert. Aber noch ehe die Meute über die schutzlose junge Frau herfallen konnte, rannte William mit rasender Geschwindigkeit dazwischen und trennte dem ersten Mann einen halben Arm, mitsamt Pistole in der Hand, mit seinem Degen ab wie einen dünnen Ast. Voller Entsetzen schrie dieser auf und kämpfte mit einem unerträglichen Schmerz. Zwar hatte William nun einen Mann kampfunfähig gemacht, doch war er jetzt das Zielobjekt für die gesamte verbliebene Soldatenschar. Instinktiv wollte Fred für ihn ein unterstützendes Ablenkungsmanöver starten. Aber bei dem Anblick, wie konzentriert und mit welch einem graziösen Geschick William den feindlichen Angriffen auswich, blieb er beinahe mit ehrfürchtiger Bewunderung stehen und vermied es einzuschreiten. Und aufgrund dessen bemerkte er trotz seiner scharfen Sinne etwas verzögert, wie Miceyla, Louis und Moran bereits zu ihm aufgeschlossen waren.

„Will!“, rief Miceyla entsetzt und ohne nachzudenken zückte das Trio ihre Waffen und wollte sich an der Seite von William ins Gefecht stürzen. Doch alle drei hielten verdutzt inne als jener Soldat, welcher mit einer Pistole aus einem versteckten Winkel auf ihn zielte, von einem auf den nächsten Moment umkippte. Und sobald für die Gruppe erkennbar wurde, wer den Mann gerade niedergestreckt hatte, trauten sie allesamt ihren Augen kaum.

„Harley Granville…“, murmelte Louis ungläubig dessen Namen und wusste nicht recht, ob ihn sein plötzliches Erscheinen verunsichern oder erleichtern sollte. Doch selbst Moran senkte vorübergehend seinen Revolver und beobachtete den weiteren Verlauf des Geschehens mit kritischer Miene. Miceyla fühlte sich mit wildem Herzklopfen hin und hergerissen, allerdings zwang sie sich dazu, ebenfalls für einen Moment ruhig zu bleiben. Nun kämpften William und Harley gemeinsam gegen die unbekannte Soldatenmeute und sie schafften es, obwohl sie ganz klar in der Unterzahl waren, binnen kürzester Zeit die Oberhand zu gewinnen. Die Lagerhalle wurde zu ihrem ganz persönlichem Schlachtfeld und Miceyla hätte nicht sagen können, wer von beiden geschickter mit dem Degen umgehen konnte und dennoch besaß Harley sichtlich die meiste Erfahrung. In dem Augenblick rief sie sich die Erinnerung wach, dass Clayton es sogar geschafft hatte William zu verletzen. `Vielleicht wäre es für Clayton daher tatsächlich möglich, aufgrund seines harten Trainings und gestählten Willens, Harley in einen Duell zu besiegen…`, dachte Miceyla und bekam eine kribbelnde Gänsehaut, während sie bei dem dynamischen Gefecht zusah. Es dauerte nur wenige Minuten, bis keiner der fremden Soldaten mehr aufrecht stand und William und Harley als Sieger aus dem unausgeglichenen Kampf hervorgingen. Die darauffolgende Stille tat beinahe in den Ohren weh. Fred wäre nun am liebsten losgestürmt, um sich davon zu vergewissern, ob Amelia auch nicht ernsthaft verletzt worden war. Jedoch hielt seine Furcht vor Harley ihn davon ab. Und er meinte den Schmerz seiner mühsam verheilten Wunden erneut zu spüren, welche ihn daran erinnerten, wie unberechenbar dieser Mann sein konnte. William war sichtlich erleichtert darüber, dass der Kampf vorüber war, denn er hatte sich aufgrund der hohen Anzahl an Gegnern nicht zurückgehalten und alles gegeben. Nichts destotrotz versuchte er sich seine Erschöpfung vor Harley nicht anmerken zu lassen und beobachtete ihn und dessen Bewegungen bis ins kleinste Detail. Keiner wagte zu sprechen und als die angespannte Atmosphäre allmählich für alle Anwesenden unerträglich wurde, brachte Harley den Fluss der Zeit wie ein einschlagender Blitz wieder zum fließen und schoss im gnadenlosen Tempo auf William zu, ohne den am Boden liegenden Leichen Beachtung zu schenken. Da er Harleys unangekündigten Angriff vorausgesehen hatte und nicht auf einen friedlichen Anstoß zu ihrem gemeinsam Sieg, mit dem streitlustigen General hoffen konnte, parierte er gekonnt seinen Degenhieb. Und Harleys genussvolles Lächeln brachte seine Freude darüber zum Ausdruck, endlich einen ebenbürtigen Gegner gefunden zu haben, mit dem er die Klingen kreuzen konnte. Auch für Miceyla und ihre Freunde, stellte die Entwicklung des Geschehens keinerlei Überraschung dar. Und dennoch machten sie sich angespannt dazu bereit einzuschreiten. Sie konnte einen plötzlichen Entsetzensschrei nicht unterdrücken, als William kurz mit dem linken Fuß, auf dem blutgetränkten Boden wegrutschte. Harley mit seinem teuflischem Funkeln in den Augen, hatte auf eine solch feine Blöße seines Gegners nur gewartet und seine Degenhiebe gewannen an unbarmherziger Härte.

„Aufhören! Das reicht jetzt! Schluss mit dieser grenzenlosen Dummheit, Harley! Es wurde genug Blut vergossen! Ein Kräftemessen ist völlig sinnlos!“, schrie Miceyla in ihrer Verzweiflung und wusste das wenn es nach Harleys eigentümlichen Ehrgefühl ginge, er bis zum Tod weiterkämpfen würde, um festzustellen wer von ihnen beiden der Stärkere war. Ihr flehender Ruf stieß natürlich auf taube Ohren bei dem hitzköpfigen General. Und auch wenn William tapfer blieb und ihm mit ebenbürtigem Fechtgeschick entgegentrat, schaffte es Harley seinen Degen aus der Hand zu schlagen und wurde schicksalhafter Weise zur wehrlosen Beute. Miceyla und Moran reagierten als erstes und richteten beide zeitgleich ihre Pistolen auf Harley, dessen unliebsame Angewohnheit es war, sich vom Retter zum Berserker zu entpuppen, worüber alle mittlerweile recht gut Bescheid wussten.

„Ha, ha, ha…! Ein Duell im geschwächten Zustand ist eine unfaire Voraussetzung, dies gestehe ich mir ein. Aber selbst der stärkste Wille kann gebrochen werden, Herr Meisterverbrecher… Einen widerstandsfähigen Gegner wie Sie zu finden ist eine Rarität. Ruhig Blut, lasst uns für heute die Waffen niederlegen. Bringen Sie nur zu Ende, was Sie begonnen haben. Mein Schweigen über Ihr Verbrechen sei Ihnen gewiss. Mit der einzigen Bedingung, dass ich Fairburns Attentäterin in meine Obhut nehme. Ich werde ihr nichts antun, auch da haben Sie mein Wort“, verhandelte Harley standhaft und belächelte nur kühn, wie er ins Schussfeuer genommen wurde, als sei er unverwundbar. Fred wollte selbstverständlich lautstark Protest erheben, doch Louis ermahnte ihn mit einer deutlichen Handbewegung zu schweigen, woraufhin der Junge erzürnt gegen seine Frustration und Machtlosigkeit ankämpfte.

„Damit bin ich einverstanden. Belassen wir es bei diesem Zusammenschluss, fürs erste… Falls Sie Clayton damit provozieren wollen, unterschätzen Sie seine Intelligenz. Mehr Worte bedarf es für unsere kleinliche Konversation nicht. Wohlan, wir hören voneinander, Herr General…“, erwiderte William mit lässigem Selbstbewusstsein und dennoch beinhaltete sein Ausdruck Respekt ihm gegenüber, keineswegs Verachtung. Mit dezent dämonischem Lächeln salutierte er kurz vor Harley, hob anschließend seinen Degen vom Boden auf und machte sich endlich wieder auf den Weg zu seinen wartenden Kameraden. Miceyla lief ihm bereits entgegen und drückte verängstigt ihren Kopf gegen seine Brust und war bei dem beruhigenden Klang seines Herzschlags heilfroh, ihn wieder in einem Stück bei sich zu haben. Tröstend legte William einen Arm um sie und für einen Moment blickten sie beide sich direkt in die Augen und gaben sich auf diese Weise schweigsam zu verstehen, dass sie die Stärke besaßen, ihren Weg gemeinsam weiterzugehen. Mit zusammengebissenen Zähnen musste Fred mitansehen, wie Harley die bewusstlose Amelia unsanft vom Boden aufhob und davontrug.

„Amelia ist nun seine Gefangene. Er wird sie nicht einfach wieder frei lassen, ohne das jemand mit Gewalt gegen ihn vorgeht. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihr nichts antun wird, genau wie es bei Miceyla der Fall gewesen ist… Wenn Clayton der Einsatz zu aufwendig ist, um sie zu retten, werde ich selbst…“, platzte es sogleich wutentbrannt aus Fred, als Harley verschwunden war und sein sonst so ruhiges Gemüt löste sich in Luft auf.

„Fred mein Guter, ich kann deinen Zorn sehr gut nachempfinden. Die Optionen um Amelia mit uns zu nehmen, zugleich seinem Schweigen, waren leider gleich null. Vertraue unserem Meisterdieb. Wir werden ihn über die Lage in Kenntnis setzen und er wird alles stehen und liegen lassen um sie zu befreien. Für ihn ist dies Routine, auch wenn Clayton dafür an seinem größten Erzfeind vorbei muss. Es bedarf nur etwas Diskretion und zudem hat Harley nicht alle Zeit der Welt, um seine Gefangenen rund um die Uhr persönlich zu bewachen. Auch Clayton besitzt seinen Stolz und wie käme es da, wenn wir ihm bei jedem brenzligen Einsatz zuvorkämen? Bereit ihn zu unterstützen, werden wir dennoch zu jeder Zeit sein. Außerdem haben wir jemanden auf unserer Seite, der einen nicht zu verkennenden Draht zu Harley besitzt, vergiss das bitte nicht…“, beschwichtigte William ihn mit überzeugenden Argumenten. Fred hatte zwar noch immer einen missmutigen Gesichtsausdruck, jedoch gab er sich fürs erste geschlagen und blickte abwesend zu Boden. Moran tätschelte ihm aufmunternd den Kopf und die Gruppe kam nun endlich dazu ihr begonnenes Werk zu beenden.
 

„Ich danke Ihnen, Mr Holmes! Jetzt wo die Lügen des Schwindlers aufgedeckt sind, kann ich wieder ruhig schlafen und meiner Arbeit nachgehen. Es gibt wahrlich nichts ungerechteres, als wenn der eigenen Ehrlichkeit mit Verachtung entgegengetreten wird. Ich werde auch anderen in Frage kommenden Klienten, eine Empfehlung für Sie aussprechen. In diesem Sinne, einen angenehmen Abend noch!“

„Ebenso…“ Sherlock blickte mit leicht schiefgelegtem Kopf, einem über die Maße höflich wirkenden jungen Mann nach, der wegen Betrugs fälschlicher Weise beschuldigt worden war und um ein Haar seine Arbeitsstelle verloren hätte. `Du wirst es wohl nicht sehr weit bringen. Wer sogar zu faul ist, seine überteuerten Lederstiefel zu putzen, dem fehlt es an Disziplin. Welch eine Verschwendung… Und dann auch noch die Arbeit auf andere abwälzen. Wäre dir dein Posten wirklich wichtig, dann hättest du das Schreiben für den Gerichtsprozess selbst verfasst und eingereicht. Die Söhne aus reichen Familien meinen wohl, Bildung und Anerkennung mit ihrem dicken Geldbeutel erkaufen zu können. Den Aufruhr will ich erleben, wenn jeder plötzlich seinen hohen Stand in der Gesellschaft verlieren würde und alle auf gleicher Stufe stünden, he, he. Enttäusche mich nicht, Meisterbrecher. Uns läuft die Zeit davon, wir sollten uns sputen, ehe ein Krieg diese vor sich hinvegetierende Stadt in ihren Grundmauern erschüttern lässt…` Begleitet von diesem stillen Gedanken, blickte Sherlock dem adretten jungen Mann nach, bis er in eine Seitenstraße abbog und nicht mehr zu sehen war. Mit grübelnder Miene zündete er sich eine Zigarette an und schlenderte selbst davon. Da es ohnehin ein sehr trüber Tag gewesen war und der Himmel lückenlos mit Wolken bedeckt war, fiel es kaum jemanden auf, dass die Sonne bereits am untergehen war. Sein Weg führte ihn vorbei am Regierungsviertel und er beobachtete unauffällig einige Mitglieder des Parlaments und lauschte ihren Gesprächen, während diese ihren Heimweg antraten. Dabei entdeckte Sherlock plötzlich eine ihm wohlbekannte Person, die beinahe unscheinbar in einiger Entfernung, unter einem Baum auf einer Bank saß und für die vorbeilaufenden Passanten den Anschein erweckte, als würde sie auf jemanden warten. Seine aufflammende Freude, verscheuchte vorübergehend die sich anbahnenden Fragen und er lief zielstrebig weiter.

„Wie es scheint, wartet die feine Dame hier geduldig auf ihren vornehmen großen Bruder. Oder planst du einen geheimen Komplott? Nur keine Scheu, stürme das Parlamentsgebäude und sag der einfältigen Führerschaft mal ordentlich die Meinung! Ich stehe voll und ganz hinter dir! Wir haben es lange nicht mehr zusammen auf die Titelseite geschafft, ha, ha, ha!“ Miceyla zuckte kurz reflexartig zusammen, da sie nicht erwartet hätte, von hinten angesprochen zu werden. Doch als sie Sherlocks breites Grinsen erblickte, entspannte sie sich wieder etwas und lächelte ihn amüsiert an.

„Sei gegrüßt, Sherly! Die Stadt ist riesig und dennoch befinden wir uns beide, öfters als das man es einen gewöhnlichen Zufall nennen kann, zur selben Zeit am selben Ort. Wogegen wir zwei sicherlich gleichermaßen nichts einzuwenden haben, he, he“, begrüßte Miceyla ihn mit einem heiteren Lächeln, welches jedoch keineswegs ihre beißende Nervosität vor ihm verbergen konnte. `Heute ist es ausnahmsweise einmal dein großer Bruder, auf den ich warte… Es gäbe so vieles, worüber ich nur zu gerne mit dir reden würde. Doch meine Lippen müssen momentan noch versiegelt bleiben. Und selbst wenn die Gegebenheiten sich ändern sollten, hätte ich dann überhaupt noch etwas von deinem Vertrauen mir gegenüber übrig…? Aber…die endlosen Grübeleien bringen mich nicht weiter. Solange ich mir selbst vertraue, besitze ich das größte Fundament, um an unsere Freundschaft glauben zu können. Lüge und Wahrheit werden immer die gnadenlosen Gegenspieler bleiben, mit denen wir lernen müssen zu leben…`, dachte Miceyla sich flüchtig und zeigte ihm dennoch ein ehrliches, von Herzen kommendes Lächeln.

„Du hast etwas vor… Deine Gedanken kreisen einzig und allein darum, ob deine Entscheidung richtig oder falsch ist. Es quält und verzehrt dich. Wieso Mia? Weshalb machst du dir das Leben unnötig schwer? Da ist mal wieder der Rat eines guten Freundes gefragt! Na komm schon, hier unten vor diesem monströsen Gebäude meint man ja beinahe, dass einem die Decke auf den Kopf fällt und die Luft zum Atmen geraubt wird… Und es würde mich wundern, wenn heute mal keine Überstunden gemacht werden“, erriet Sherlock mühelos mit einem freundschaftlichen Augenzwinkern und tippte ihr sanft mit den Fingern auf ihre Schulter. Lächelnd versuchte Miceyla erst gar nicht, nach der Geste ihm zu folgen, Widerspruch zu erheben und erhob sich von der Sitzbank, als wäre sie gerade von der Warterei erlöst worden. Weit brauchte sie ihm nicht zu folgen, da schloss er an einem Gebäude in der Nähe des Parlaments die Hintertür auf.

„Ist das gerade nicht ein Einbruch? Gib acht, bald wird auf den meistgesuchtesten Verbrecher Londons ein Kopfgeld ausgesetzt…“, scherzte Miceyla und folgte ihm mit einem amüsierten Lächeln in das dunkle Haus hinein.

„Ein Einbruch der sich lohnt, du wirst schon sehen…“ Gemeinsam stiegen sie die Treppe bis zum Dachboden empor. Bereits bevor sie dort angelangten, hatte Miceyla außer Atem aufgegeben die Stockwerke zu zählen. Wie ein abenteuerlicher Junge erklomm Sherlock eine Leiter und stieß die Dachluke auf. Daraufhin blickte er mit einem forschen Funkeln in den Augen zu ihr hinab.

„Worauf wartest du noch? Folge mir in die Freiheit, wo keiner dich mit seinen missachtenden Blicken durchlöchern kann und keine nervtötenden Gespräche dich erreichen können!“, sprach er lächelnd und hielt ihr einladend seine Hand entgegen.

„Na da sage ich doch nicht nein. Freiheit ich komme!“, erwiderte sie freudig und ließ sich von ihm hinaufhelfen. In dem Moment als Miceyla erkannte, in was für einer schwindelerregender Höhe sie sich befand, ergriff kurz ein fesselndes Gefühl der Panik von ihr Besitz. Doch der atemberaubende Anblick, welcher ihr ermöglichte über die Dächer von London hinwegzublicken und all die friedlich schimmernden Lichter, beruhigten sie wieder etwas. Sie hatte sogar den Eindruck, dass die Luft aufgrund der Höhe frischer und reiner war. Sie setzten sich beide nebeneinander, auf eine flache Stelle des Daches und genossen für eine Weile, einfach nur schweigsam die außergewöhnliche Aussicht. Doch Miceyla war nicht dazu in der Lage, auch nur annähernd so etwas wie Frieden zu empfinden Amelia befand sich nun schon seit fast vier Tagen in Harleys Gewalt. Und selbst Clayton hatte den Ort noch nicht ausfindig machen können, wo er sie versteckt hielt. Oder wusste Clayton längst das Versteck und wartete bloß auf einen günstigen Moment, bei dem er Harley dort allein antraf? Würde er wirklich so weit gehen und Amelias Sicherheit aufs Spiel setzen? Miceyla schloss kurz mit verbitterter Miene die Augen. Misstrauen konnte sie momentan nun wirklich nicht gebrauchen, denn dies verschlimmerte die Situation nur unnötig.

„Wir werden sie retten, deine Freundin.“ Als Sherlock schließlich die Stille brach, starrte sie ihn verblüfft an und musste in Gedanken noch einmal wiederholen was er gerade gesagt hatte, ehe sie auf seine Worte reagieren konnte.

„Woher…“, begann Miceyla mit überraschtem Gesichtsausdruck und bekam wieder mal bei seinen unangefochtenen Fähigkeiten, die denen eines Hellsehers glichen, eine Gänsehaut.

„Wenn ich ehrlich bin, enttäuscht es mich schon etwas, dass du dich mir nicht auf Anhieb anvertraut hast. Dies musste erst ein guter Bekannter von dir übernehmen. Auch wenn es ein anonymer Hilferuf war kann ich davon ausgehen, dass ihr im engen Kontakt zueinander steht. Ich nehme den Auftrag an, nicht nur weil ein nettes Sümmchen als Belohnung winkt…“, verriet Sherlock mit freundschaftlichem Lächeln und warf ihr kurz einen Versprechen untermalenden Blick zu, ehe er wieder träumerisch in die Ferne blickte. `Oh Fred… Ich habe es fast geahnt. Es ist sehr heikel, Sherlock auf solch direkte Art, in unsere gesetzeswidrigen Angelegenheiten zu involvieren. Bestimmt hast du es vor William geheim gehalten. Aber ich verstehe dein offensives Handeln, denn wir müssen etwas unternehmen. Die Probleme häufen sich, ehe wir geeignete Lösungen finden…`, dachte Miceyla und erhob sich voller Entschlossenheit. Dabei verdrängte sie sogar jegliche Erinnerungen an ihre Höhenangst.

„Vorsicht Mia!“ Augenblicklich stellte Sherlock sich neben sie und hielt ihren Arm fest, aus Angst sie könne auf dem Dach ausrutschen.

„Ich spare mir lieber die entschuldigenden Worte, schließlich weiß ich genau, was du von mir hören willst. Aber ich danke dir von ganzem Herzen, Sherly. Packen wir die Dinge gemeinsam an! Beweisen wir, dass gegen unsere Freundschaft so leicht niemand ankommt, selbst Harley Granville nicht! Und…und falls du noch Einzelheiten benötigst, wie es überhaupt zu Amelias Gefangenschaft kam, stelle ich mich als deine erste Anlaufstelle dafür zur Verfügung. Ich bin das Schweigen mehr als leid. Du hast immer recht gehabt, da gibt es nichts wovor ich mich fürchten müsste, außer vor dem was ich mich nie gewagt habe zu tun. Das Leben hat uns dazu herausgefordert, unsere Ängste zu überwinden und Mut zu beweisen. Was sagst du, nehmen wir diese Herausforderung an, mein Freund?“ Sherlock stand kurz unter dem Bann ihres feurigen Enthusiasmus, den ihre dunkelgrün schimmernden Augen verströmten. Und obwohl sein Unterbewusstsein sich dagegen wehrte, strich er sanft an ihrem Arm hinab und nahm ihre Hand. Dabei lächelte er so gutmütig, als hätte er gerade seinen wahren Seelenfrieden gefunden. `Egal was auch geschieht, bei einer Sache habe ich mich nie geirrt… Du und Liam seid beide die harmonischen Klänge, welche im Einklang miteinander die perfekte Melodie des Lebens ergeben. Dabei entdeckt man weder Trugbild noch Lüge, nur Reinheit und Wahrheit. Das die Liebe tatsächlich in jener authentischen Form existiert, welche sich mit keiner Wissenschaft der Welt erklären lässt, macht mich beinahe etwas neidisch…`

„Genau diese Entschlossenheit habe ich mir von dir gewünscht! Dann lass es uns gemeinsam anpacken! Die Flamme des Willens kann niemals erlöschen, solange wir uns gegenseitig Mut und Inspiration schenken. Doch…wolltest du nicht noch etwas Wichtiges mit meinem Bruder besprechen? Ist schon in Ordnung, Mia. Ich weiß längst, dass Albert sich heute Abend anderenorts aufhält. Und ich werde nicht lauschen, versprochen. Denn gewisse Themen, erfordern ab und zu den geeigneten Gesprächspartner. Ausnahmsweise gebe ich zu, dass du mit Mycroft eine gute Wahl getroffen hast. Dann lass uns mal wieder hinabsteigen. Hoffe die klare Luft hat dir gutgetan, denn gleich wird das Atmen bestimmt wesentlich schwerer fallen…“ Beinahe etwas verlegen blickte Miceyla hinab und versuchte ihr Schmunzeln zu verbergen.

„Von Anfang an hast du mich durchschaut… Natürlich hast du das… Ich sollte wohl wirklich diejenige sein, von der du die Wahrheit erfährst…“, flüsterte sie und es spielte für sie keine bedeutsame Rolle mehr, ob er ihren Worten lauschte oder nicht.

„Ich danke dir Sherly, für alles…“, sprach sie nun etwas lauter mit Tränen in den Augen, als sie wieder ihren Kopf gehoben hatte. Sherlock schnipste sanft mit dem Finger gegen ihre Stirn und seine Lippen formten sich zu einem aufheiternden Lächeln.

„Dummchen, das hier ist doch kein Abschied. Wir stehen gerade mal am Anfang unserer Bühnenshow. Die Geschichte kann kein richtiges Ende gefunden haben, ehe die Darsteller nicht mit absoluter Sicherheit sagen können, welche Rolle sie in ihrem Stück zu spielen haben… Hör dir nur mal mein Gefasel an, jetzt zitiere ich schon den Harlekin der Unterwelt… Ha, ha, ha!“ Miceyla wusste genau, dass sich hinter seinen scherzhaft wirkenden Worten, eine ernsthaft gemeinte Botschaft verbarg. Er ließ ihr den Vortritt die Treppe

hinabzusteigen und sie hoffte insgeheim, während sie die `Freiheit` verließen, dass Mycroft bereits auf dem Heimweg war und darum ein Gespräch mit ihm vermieden werden konnte. Doch die erleichternde Tatsache, dass ohne die Wankelmütigkeit, welche ihr bei jedem Schritt wie Dornen in die Füße stach, das Leben an einer befreienden Leichtigkeit gewinnen würde, schenkte ihr einen bestärkenden Mut. Um den Plan für Amelias Rettung, konnte Miceyla sich später noch Gedanken machen. Denn für den Rest des Abends, musste sie sich auf etwas anderes konzentrieren… Von Sherlock hatte sie bereits Abschied genommen, aber auf der Bank brauchte sie nicht erneut Platz nehmen, da sie Mycroft vorher erspähte, wie er das Parlamentsgebäude verließ. Mit gemächlichen Schritten lief sie ihm entgegen und er zeigte schon aus der Ferne ein begrüßendes Lächeln, welches einzig und allein ihr gewidmet war.

„Ich wünsche einen guten Abend, Mrs Moriarty. Gebührt tatsächlich nur meiner Wenigkeit die Ehre, Ihres Wartens in der Dunkelheit? Denn Ihr Bruder ist an dem heutigen Tage nicht zugegen“, grüßte Mycroft Miceyla mit kühler Miene, als er ein Stück von ihr entfernt zum Stehen kam. Seine distanzierte Autorität konnte sie längst nicht mehr einschüchtern. Schließlich war die Güte und Offenherzigkeit seines Wesens ihr kein Geheimnis mehr.

„Guten Abend, Mr Holmes. Steht Ihr `Angebot` noch…?“, ließ sie direkt ihr Anliegen zur Sprache kommen und in ihren hellwachen Gesichtsausdruck, war nicht die kleinste Spur einer zögerlichen Zurückhaltung zu entdecken. Mycrofts Augen weiteten sich kurz vor Erstaunen, jedoch formten sich seine Lippen rasch wieder zu einem zufriedenen Grinsen.

„Ich würde Sie ja liebend gern zum Essen einladen, aber ich denke das Sie es vorziehen, mit mir ungestört unter vier Augen zu sprechen. Folgen Sie mir bitte, wir gehen in mein Büro…“ Miceyla folgte Mycroft durch einen beinahe verlassenen Abschnitt des Parlamentsgebäude und betrat hinter ihm einen ordentlich eingerichteten Raum, der für ein gewöhnliches Arbeitszimmer einen angenehmen Flair verströmte. Das rhythmische Ticken einer großen, rötlich braunen Standuhr aus Eichenholz, besänftigte ihre Nervosität.

„Harley Granville ist heute Abend hier nicht in der Nähe. Sorgen Sie sich daher nicht“, meinte Mycroft gelassen mit einem kurzen Blick zu ihr über die Schulter, dem ihr unruhiges Durchforsten der Umgebung auf dem Weg nicht entgangen war.

„Wo er wohl stattdessen gerade sein mag… Und ich denke immer noch, dass Sherlock es um einiges leichter im Leben hätte, wenn er nur halb so ordentlich wäre wie Sie, ha, ha, ha! Aber sogar ich habe sein kreatives Chaos zu schätzen gelernt“, sprach Miceyla ablenkend und als sie erkannte, wie Mycroft ihr mit einem genussvollen Schmunzeln zuhörte, errötete sie verlegen.

„Es erfüllt mich zwar mit Freude dabei zuzuhören, wie Sie über die Sonderheiten meines kleinen Bruders schwärmen, aber ich denke nicht, das Sie dafür Ihre wertvolle Zeit opfern wollen…“

„Nein…gewiss nicht…“, begann Miceyla mit einem Hauch von Melancholie in der Stimme, wobei sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen und nicht zu sentimental zu werden.

„Wer den Bezug zur Realität verloren hat und in einer scheinheiligen Traumwelt lebt, wird mehr verlieren, als er je gewonnen hat… Auch wenn ich die glücklichen Momente der Familie Moriarty in vollen Zügen genieße, so wird dennoch zu jeder Zeit, die erdrückende Last an Schuldgefühlen mein Herz fest umklammern. Doch die Konsequenzen spielen für mich längst keine bedeutsame Rolle mehr. Denn jenes Herz schenkte ich dem Mann, der mir die facettenreiche Schönheit des Glücks und der Hoffnung präsentierte und der die unübertreffbare Gabe besitzt, dieses Land von seinem ungerechten Klassensystem zu befreien..“ Miceyla musste kurz eine Atempause einlegen und ihr Herz begann vor Anspannung wild zu klopfen, als sie versuchte mit Mycroft Blickkontakt zu halten, der gegenüber von ihr auf einem Sofa saß.

„…William Moriarty, der Meisterverbrecher…“, kam er ihr zuvor dies auszusprechen, doch seine Stimme war dabei so ruhig, beinahe schon sanft, dass in ihr erst gar kein Gefühl eines schlechten Gewissens aufkam. Und nach seiner kurzen Unterbrechung schwieg er wieder, um sie in Ruhe fortfahren zu lassen.

„Doch ich mag nicht akzeptieren, dass unschuldige Menschen ein Leben lang für unsere Sünden Buße tun müssen… Dies gilt insbesondere für meine Tochter Evelyn… Keine Macht der Welt könnte sie von unserem Schicksal trennen… Jedoch….nur solange sie an den Namen Moriarty gefesselt ist… Sicherlich können Sie bereits erahnen, worauf ich hinaus will. Schimpfen Sie mich ruhig eine grausame Mutter, doch auch wenn es mir das Herz zerreißen würde, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als das Evelyn glücklich aufwachsen kann, ohne sich den gnadenlosen Vorwürfen stellen zu müssen. Denn ich weiß selbst, ein starker Wille allein reicht nicht aus, um dies ertragen zu können. Die perfekt unbefleckte Welt wird auf ewig nur als Illusion, in unseren grenzenlosen Vorstellungen zu finden sein. Aber Güte, Liebe, Vertrauen und Treue existieren wirklich. Jene Gefühle sind in einem jeden von uns vorzufinden. Manchmal braucht man sie nur zu erwecken, um den Pfad zum individuellen Frieden zu finden. Verzeihen Sie meine umständliche Wortwahl… Es fällt mir nur enorm schwer, mein Anliegen auf eine direktere Art auszusprechen. Sie sind ein intelligenter und bodenständiger Mensch, der bei seiner Arbeit nichts außer Acht lässt und gleichzeitig liebevoll seine Familie umsorgt. Bei Ihnen…ist Evelyn besser aufgehoben. Dies ist kein verzweifelter Hilferuf, sondern nur eine der Vernunft entspringende, endgültige Entscheidung. Daher bitte ich Sie, adoptieren Sie Evelyn, noch versteht sie nicht richtig, was in ihrem Umfeld geschieht. Auch wenn eine Trennung natürlich für beide Parteien mehr als nur schmerzhaft sein wird… Aber nur mit der Gewissheit, dass es ihr auch ohne William und mir gut geht, kann ich vollen Einsatz zeigen. Es gäbe keinen Menschen außer Ihnen, der meines Erachtens dafür in Frage käme und dem ich vertraue…“ Miceyla sprach zu Ende und war unsagbar froh es hinter sich gebracht zu haben. Zwar wirkte sie nach außen hin entschlossen, doch in ihr tobte ein aufbrausender Sturm von negativen Gefühlen. Für einen Augenblick herrschte stilles Schweigen und Mycroft schien über eine angemessene Antwort nachzudenken, wobei er wesentlich ernstere Gesichtszüge annahm als zuvor.

„Die kleine Evelyn soll also eine Holmes werden… Sie selbst schrecken nicht davor zurück, die meisten Qualen alleine zu tragen, wie könnte ich da eine grausame Mutter in Ihnen sehen. Sie wollen das opfern, woran ihr Herz am meisten hängt, um es retten zu können. Ein wahrlich edelmütiger Schritt… Aber ist Ihnen denn nicht möglicher Weise einmal in den Sinn gekommen, dass die Familie Holmes ebenfalls ihre Schattenseite verbirgt und mit unumkehrbaren Sünden zu kämpfen hat, über die bloß in Geheimhaltung geschwiegen wird?! Sie werden bei uns keine unbefleckte Biografie vorfinden, welche Ihre Tochter ein Leben lang schützen könnte. Und auch ich selbst mische direkt an der Front bei politischen Angelegenheiten mit. Mag ich auch im Gegensatz zu Ihrem Verbund, die Waffen eingesteckt lassen und nach dem Gesetz vorgehen. Um es kurz zu fassen sind Sie eine über die Maße unbelehrbare Närrin, Mrs Moriarty. Sie wünschten sich eine vorbildliche Familie und nun zerstören Sie Ihr eigenes Glück“, tadelte Mycroft Miceyla mit einer ungezügelten Strenge, welche für sie keineswegs unerwartet kam. Und dennoch hagelten seine eisigen Worte, wie ein unbarmherziger Schneesturm auf sie nieder, der wieder die prickelnde Kälte des vergangenen Winters in ihr erweckte und sie wagte nicht mehr ihm direkt in die Augen zu blicken. Nicht weil sie sich eingeschüchtert fühlte, sondern sein aufrichtiger Charakter und Einflussreichtum ihre letzte Hoffnung war, an welche sie sich klammern konnte. Plötzlich lehnte er sich tiefenentspannt auf seinem Sofa zurück und blickte sie mit einem solch sanftmütigen Lächeln an, als wollte er sie damit vor allem Übel der Welt beschützen.

„Jedenfalls sind Sie die klügste und willensstärkste Närrin, der ich je begegnet bin. Es kommt schließlich nicht von Ungefähr, dass Sie und Sherlock so gut miteinander auskommen. Meine Bewunderung für Ihre Stärke sei Ihnen gewiss und dennoch stehen Sie was Sturheit anbelangt, mit ihm auf einer Ebene. So haben Sie also Ihre erste Buße, für die begangenen Sünden frei gewählt. Haben Sie keine Bedenken, mein Versprechen werde ich unter keinen Umständen brechen. Ich ahnte bereits, dass die Familien Holmes und Moriarty, zukünftig ein schicksalhaftes Band miteinander verbinden wird. Vier Monate Bedenkzeit gebe ich Ihnen, hier geht es immerhin um Ihre einzige Tochter. Und ich überlasse es Ihrer Kreativität, eine glaubwürdige Geschichte für den Grund der Adoption zu erfinden. Meine Frau wird das Mädchen ebenso sehr lieben wie unser eigenes Kind, welches sehr bald auf die Welt kommt. Doch vergessen sie eines bitte nicht, im Herzen wird Evelyn immer eine Moriarty bleiben und da sie sicherlich die Klugheit ihrer Eltern geerbt hat, erfährt sie auch folglich bereits sehr früh die Wahrheit. Und diese Wahrheit wird die Entscheidungen des Mädchens im Leben, auf eine unabänderbare Art und Weise beeinflussen…“
 

Verbissen kämpfte Amelia gegen ihre Müdigkeit an. Die unliebsamen Erfahrungen haben sie spüren lassen, dass einem im Schlaf die unberechenbarsten Gefahren auflauerten und eine hilflose Verwundbarkeit hervorriefen. Dabei hatte sie inständig gehofft, diese Schwäche endlich besiegt zu haben. Denn sie kämpfte in ihrer Vergangenheit so hart dafür, um sich selbst verteidigen und anderen ein Schutzschild sein zu können. Doch nun in Gefangenschaft, im größten Moment der Machtlosigkeit, wünschte Amelia sich nicht viel mehr, als erneut von ihrer Hilflosigkeit befreit zu werden. Sie war daran gewöhnt, wie ein unscheinbarer Schatten durchs Leben zu wandern. Aus Verstecken ihren Feinden aufzulauern und sie anschließend unbemerkt zu töten, war zu ihrer Spezialität geworden. Sie hatte immerzu Claytons Angebot abgelehnt, gemeinsam mit ihm auf der Bühne zu stehen. Es heiterte sie auch nicht auf, wenn er stets betonte, wie bildhübsch ihr Gesicht war. Amelia besaß einfach nicht genug Selbstvertrauen und jene unvergleichbare Ausstrahlung, wie Irene sie besaß. Sie hasste sich und ihren vernarbten Körper und dennoch quälten sie ihre nie zur Ruhe kommenden Träumereien, dass Clayton ihre Gefühle eines Tages doch noch erwidern könnte. Und nichtsdestotrotz, wollte ihr das warmherzige Leuchten in Freds Augen nicht mehr aus dem Kopf gehen. Und immer wieder aufs Neue fragte sie sich, was sie selbst eigentlich in ihm sah. War es lediglich ein Gleichgesinnter, der mit ihr dasselbe Schicksal teilte, oder ein guter Freund, dem sie sich anvertrauen und mit dem sie ihre Sorgen teilen konnte? Oder waren dabei doch schon tiefgründigere Gefühle im Spiel? Amelias Herz wehrte sich jedoch dagegen und sie wollte nicht länger darüber nachdenken. Derart viel Zeit für wirre Gedanken zu verschwenden, brachte sie nur um den Verstand. Da kam es ihr wie eine Erlösung vor, als die Tür plötzlich geöffnet wurde. Die Uhrzeiten wann man ihr etwas zu Essen brachte, waren stets exakt die gleichen. Einmal früh morgens und einmal spät am Abend.

„Sie dürfen sich gerne die Mühe sparen, mich am Leben zu halten. Wenn Sie Claytons Zorn wecken wollen, töten Sie mich einfach…“; sprach Amelia heiser und konnte ein kurzes Zucken bei Harleys Anblick nicht unterdrücken, da seine Ähnlichkeit mit Clayton sie beinahe etwas verunsicherte.

„Wer hat denn jemals behauptet, ich wolle das Feuer seines Hasses noch weiter entfachen? Ist schon amüsant, wie rasch die Begebenheiten missverstanden werden… Du hast wieder sehr wenig gegessen. Soll ich deine Fesseln lösen? Sich so eingeschränkt bewegen zu können, muss ebenfalls sehr unangenehm sein“, erwiderte Harley gelassen und stellte lächelnd das Essen vor ihr auf den Boden. Misstrauisch funkelte Amelia ihn an und fragte sich, ob er ihr seine Freundlichkeit nur vorspielte.

„Nein, lassen Sie mich ruhig den Schmerz meines Versagens spüren. Und ich glaube kaum, dass Sie mir freiwillig eine Chance geben wollen um Sie zu töten. Aber dann findet Clayton vielleicht endlich Erlösung, von der Besessenheit seiner Rache. Jedoch beharrt er auf seiner Sturheit, es mit eigenen Händen verrichten zu müssen…“, blaffte sie ungehalten und drehte desinteressiert ihren Kopf zur Seite.

„Wenn die Probleme sich so leicht lösen ließen, hätten wir längst Weltfrieden… Eine Schande, all deine Gefühle prallen an ihm wieder ab, wie von einer undurchdringbaren Mauer. Und mit jedem Tag blutet dein Herz mehr, bis zum allerletzten Tropfen. Alles was zurückbleiben wird, ist eine widerwertige leere Hülle, für die sich keiner mehr interessiert“, analysierte Harley herabwürdigend ihren kläglichen Gemütszustand. Voller Zorn drehte Amelia wieder ihren Kopf zu ihm herum.

„Ihre taktlose Wortwahl ist das einzig widerwertige hier! Sie sind ein Abbild der blutdurstigen Zerstörung! Daher wird das Wort Liebe bloß ein Fremdwort für Sie sein! Ihr Männer traut euch doch nur dann überheblich zu handeln, wenn ihr eine geladene Knarre in Händen haltet! Was kümmern euch schon die Gefühle von uns Frauen!“, steigerte Amelia sich immer weiter in ihre Wut hinein und sah allmählich gegen ihren Willen ein, wie kraftlos und wie sehr sie auf Harleys Essen angewiesen war, um nicht elendig zu verhungern und zu verdursten.

„Ach, ist dem so? Da hast du aber ein groteskes Bild vom anderen Geschlecht. Seid nicht ihr Frauen daran schuld, dass wir Männer unsere Herzen verschließen? Ihr spielt euer betörendes Spiel, doch seid dabei nicht mal euch selber treu und erwartet glücklich gemacht zu werden. Und vor richtigen Konflikten rennt ihr davon, aus purer Bequemlichkeit und entschuldigt dies mit einer vorgegaukelten Vernunft!... Noch immer…kann ich ihre sanfte Stimme hören, als stünde sie gerade direkt hinter mir. Ich brauche mich nur herumzudrehen und erblicke ihr strahlendes Lächeln, ihre leuchtend blauen Augen und ihre wunderschönen roten Lippen, die sich danach sehnen von mir geküsst zu werden. Doch mein Kuss wird sie niemals mehr erreichen. Sie lebt nun ihr eigenes Leben, fern von meinem und versucht mich zu vergessen, indem sie sich mit einem anderen vergnügt. Eine glückliche Liebe ist nur von kurzer Dauer, wozu daher so verbissen für einen flüchtigen Moment des Glücks kämpfen? Auf der Welt gibt es Bedeutsameres, dem wir unser Augenmerk schenken sollten. Erfolg kann nur durch die eigene Beherrschung von Gefühlen entstehen. Jedoch akzeptiere ich, wenn jemand die Kraft für dieses Opfer nicht aufbringen kann. Und das ist keineswegs ein Zeichen von Schwäche, nein. Nur ein Zeichen dafür, dass derjenige noch nicht seine Menschlichkeit verloren hat und an Wunder glaubt. Ich kenne einige solcher Träumer… Es kümmert mich wenig, dass die große Mehrheit behauptet, die Menschlichkeit sei längst von meinem Körper gewichen. Sie ist verloren gegangen, irgendwo gemeinsam mit meinem Herzen… Und die Person, welche dazu in der Lage wäre, die Scherben meiner zersprungenen Seele wieder zusammenzufügen, hat mich seit geraumer Zeit aufgegeben. Darum mache ich den Menschen jeden Standes Mut, zur Waffe zu greifen und für Besitz und Recht zu kämpfen. Regelbrecher werden bestraft, aber nur mittellose Arme, die niemand verteidigen will. Doch wenn einer aus der Oberschicht gegen das Gesetz verstößt, traut sich kaum einer den Mund aufzumachen. Sie sind alle gleich und ich brauche nicht totzuschweigen, dass auch ich aus solch einer erbärmlichen Familie stamme… Jetzt habe ich dir aber genug von meiner privaten Weltanschauung erzählt. Nun iss etwas, damit du noch eigenständig laufen kannst, wenn deine Rettung hier eintrifft. Sie wird sicherlich kein Hindernis scheuen, um bis hierher vorzudringen…“ Noch ehe Harley zu Ende gesprochen hatte, wandte er ihr den Rücken zu und wollte das kleine fensterlose Kämmerlein wieder verlassen. Sprachlos und überrumpelt von dessen tiefsinniger Rede, durchlöcherte sie ihn mit ihrem Blick, als würde nun ein völlig anderer Mensch vor ihr stehen. Damit rechnete sie wirklich nicht, dass er auf einmal so persönliche Informationen von sich preisgab und Amelias Gespür verriet, dass er ihr keine Märchen erzählte.

„Ich…ich kann mir nicht vorstellen, dass die Dame von der Sie sprechen, Sie aufgegeben hat. Zwar sind mir nicht die genaueren Umstände bekannt und ich habe nicht das Recht mich dazu zu äußern, jedoch denke ich…hätte sie an der Liebe festgehalten, wäre vielleicht einer von Ihnen ins Unglück gestürzt. Manchmal will es das Schicksal so. Auch Clayton und Lydia hätten in unserer Gesellschaft kein glückliches Ende gefunden. Sie haben einfach nur frühzeitig beendet, was etwas später von alleine zu Bruch gegangen wäre. Auch wenn ich dies nur ungern zugebe… Aber wir sollten uns nicht selbst belügen. Und trotz allem geht unser Leben weiter und ich sehe es nicht als egoistisch an, einen Neuanfang zu wagen. Trotzdem frage ich mich…kann man sich ein weiteres Mal verlieben und sich dabei vollständig von seiner ersten Liebe loslösen…? Ist das möglich…?, sprach Amelia mit müdem Blick und begann verträumt mit einer Gabel in ihrem Essen herumzustochern. Harleys Augen wanderten noch einmal zu ihr hinüber, doch er hatte längst nicht mehr vor ihre Unterhaltung fortzuführen. Nicht weil er es als Zeitverschwendung ansah, sondern auch er es vermeiden wollte, quälende Erinnerungen zu wecken, welche in der Vergangenheit begraben bleiben sollten.

„Du bist wirklich noch ein Kind… Breche erst einmal aus deinem Käfig aus und bereise die Welt, ehe du dir eine Meinung über die Liebe bildest. Clayton ist nicht dein Herr und Meister, nach dessen Pfeife du tanzen musst, auch wenn du ihm dein Leben verdanken magst. Wer in dem Schatten anderer steht, dem wird nie das Licht der Zuversicht und Selbstverwirklichung zuteilwerden… Und nur damit du es weißt, ich verabscheue Schusswaffen… Bevor ich meinem Gegner eine Kugel in das Herz jage, schlage ich ihm lieber still und leise mit dem Degen den Kopf ab. Bei dieser hinterlistigen Erbarmungslosigkeit, unterscheiden wir uns beide nicht mal ansatzweise voneinader…“
 

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen in das Schlafzimmer und schenkten den sommerlichen Grün im Freien einen rötlichen Schimmer. Miceyla blickte gedankenversunken aus dem Fenster und betrachtete das prachtvoll blühende Blumenmeer, welches nach wie vor hingebungsvoll von Fred gehegt und gepflegt wurde. Evelyn war auf ihrem Arm eingeschlafen und in wenigen Stunden, musste sie ihr kleines Mädchen wieder in Miss Moneypennys Obhut geben. Denn am Abend stand nicht nur die Besprechung für Amelias Rettung an, sondern auch für einen entscheidenden, wenn nicht sogar `den` entscheidenden Akt von Williams Plan. Dies hatte nicht zuletzt etwas mit Amelias Aufenthaltsort zu tun, welchen mittlerweile Clayton, Sherlock und William selbst binnen einer Woche ausfindig machen konnten. Es schien als wollte Harley damit ein weiteres Mal eine Konfrontation heraufbeschwören… Moran hatte mit Miceyla intensiver trainiert, damit sie sich darauf verlassen konnte, bei allen Eventualitäten in Bestform zu sein.

„Veränderungen bedeuten nicht zwingend etwas Schlechtes. Es sind Abenteuer, die uns in das nächste Kapitel unseres Lebens führen…“, sprach Miceyla laut ihre Gedanken aus und legte Evelyn sanft in ihre Wiege. Kurz darauf begab sie sich etwas widerwillig hinunter in das Wohnzimmer. Die Runde war bereits vollzählig, jedoch befand sich darunter auch eine Person, welche sie nur ungern bei einer privaten Besprechung der Moriartys dabei hatte…

„Ah, Miceyla! Hast du dein liebes Töchterchen ins Bettchen gebracht? Du hättest dir ruhig mehr Zeit lassen können, wir haben ohnehin schon ohne dich angefangen. Jeder hat nun mal seine eigenen Prioritäten. Du bist eine führsorgliche Mutter, die Rolle passt wirklich ganz ausgezeichnet zu dir. Aber…ich sehe dir an, dass du deine ehemalige Form verloren hast. Vielleicht solltest du bei dieser Mission lieber aussetzen und das Haus hüten. Ich denke dabei nur an dein Wohlbefinden, Liebes“, erklang sogleich Irenes vorlaute Stimme und jene blickte sie mit gespieltem Mitgefühl an. Miceyla verkniff sich eine scharfe Entgegnung und nahm mit würdevoller Körperhaltung, zwischen Moran und Albert auf dem Sofa Platz.

„Irene, benimm dich bitte, wir sind hier Gäste! Und es wurde noch nichts Wichtiges besprochen, alle haben auf dich gewartet“, sprach Clayton ungewohnt züchtigend und warf Miceyla einen entschuldigenden Blick zu. Er hatte sich bereits daran gewöhnt, zwischen Irene und ihr zu schlichten. Mit zaghaftem Lächeln nickte Miceyla ihm anerkennend zu und tauschte kurz mit Fred still Blicke aus, welcher zu allem bereit zu sein schien.

„Miceyla hat nicht einmal einen Funken ihrer alten Bestform verloren. Ich wage sogar zu behaupten, dass sie sich mittlerweile selbst übertroffen hat. Ich kann Ihnen versichern, sie verfehlt ihr Ziel sogar mit verbundenen Augen nicht und schlägt eigenständig eine ganze Meute von aufgeblasenen Muskelprotzen in die Flucht. Sie sollten sich lieber ordentlich ins Zeug legen, um mit ihr mithalten zu können, Miss Adler!“, verteidigte Moran sie ohne Zögern und nahm ungehemmt einen kräftigen Zug von seiner Zigarette. Es war Miceyla fast schon etwas peinlich, wie übertrieben er vor allen anderen mit ihr prahlte und verkniff sich ein schiefes Grinsen.

„Ich sage es dir jetzt zum allerletzten Mal, mach endlich die verdammte Zigarette aus! Hier drinnen wird nicht geraucht, du qualmst das ganze Anwesen voll! Wenn du so stur bist, schläfst du eben künftig im Garten!“, schimpfte Louis mit wütender Miene und gab sich große Mühe, sich nicht wieder zu sehr über Morans ungesittetes Verhalten aufzuregen. Miceyla warf William einen mitfühlenden Blick zu, welcher ihr gegenüber alleine auf einem Sessel saß und während sich die Gruppe ungehalten zankte nachdenklich hinabsah. `Es ist sicherlich nicht gerade leicht, bei uns chaotischem Haufen einen kühlen Kopf zu bewahren… Das ununterbrochene komplexe Denken und immer für jedes Problem in Schallgeschwindigkeit eine Lösung parat zu haben, muss mehr als nur ermüdend sein. Gib auf deine Gesundheit Acht, mein geliebter Will… Zum Wohle der Welt ist es nicht wert, dass du uns umkippst. Du bist nicht allein, wir sind alle für dich da…`, dachte Miceyla bedrückt und ihr liebevoller Blick zog den seinen magisch an. Als hätte er ihre sorgenvollen Gedanken erraten, schenkte er ihr ein beruhigendes Lächeln. Jedoch wurde seine Miene kurz darauf so bitterernst, dass allein dies ausreichte, um die gesamte Truppe zum Stillschweigen zu bringen und er gewann somit die Aufmerksamkeit eines jeden Einzelnen.

„Für unnötige Streitereien haben wir keine Zeit. Zumindest nicht wenn wir gegenseitig unsere Leben, noch mehr als ohnehin schon in Gefahr bringen wollen. Wir mögen für Gerechtigkeit kämpfen, doch wartet weder Rum noch Ehre an unserem Ziel. Aber wir erkennen alle die Fortschritte unserer harten Arbeit. Über das Schicksal unzähliger Verbrecher haben wir gerichtet und die Welt hat mit jedem Mal ein Stück seiner Verunreinigung verloren und etwas von ihrem unscheinbaren Glanz ist hervorgetreten. Begonnen haben wir, was spätere Generationen fortführen werden. All jene noch unentdeckten Talente, allerdings ohne sich dabei die Hände schmutzig machen zu müssen, sondern mithilfe von Gesetzen, die jeden einzelnen schützen unabhängig seines Standes. Darauf könnt ihr stolz sein. So viel dazu… Es wird garantiert die letzte Versammlung in dieser Konstellation sein. Denn man hat uns erneut dazu gezwungen, denselben Pfad einzuschlagen…“, begann William einleitend und fixierte Clayton dabei eindringlich mit seinem Blick, der abseits der Gruppe an der Wand angelehnt stand und ihn ebenfalls mit seinen tiefblauen Augen genaustens musterte. Seine neutralen Gesichtszüge ließen keine genauere Deutung seines Gemütszustandes zu. Nur William allein besaß wohl momentan die Gabe zu ergründen was in ihm vorging.

„Amelia sitzt im Anwesen von Dain Eldridge in Redbridge fest. Dieser Mann war unter anderem ein ehemaliger Kandidat für die Position des Premierministers. Er ist zudem stolzer Besitzer einer der erfolgreichsten Handelsfirmen Londons und ist für ein Viertel der größten Fabriken der Stadt verantwortlich. Nun ist es folglich für einen jeden von uns erschließend, dass bei all dem Glanz und Gloria, auch eine düstere Schattenseite existiert… Etliche Menschen haben wegen ihm die Arbeit verloren, da er kleinere Handelsunternehmen hat auflösen lassen, die ihre aufgedrückt bekommenen Schulden nicht mehr begleichen konnten. Und weil nichts mehr zum begleichen vorhanden war, mussten diese Menschen, um die Lücke zu füllen und Eldridges Zorn zu beschwichtigen, ihr Leben für ihn opfern. Viscount Dain Eldridge ist somit unser nächstes Ziel, mit einer bescheidenen Abweichung. Wir werden keinen diskreten Tötungsdelikt verüben, sondern unser Vorhaben ohne Verschleierung ankündigen. Hinzu kommt das Eldridge zwei kleine Kinder hat. Seine jüngster Sohn ist nicht mal zehn Jahre alt. Dies wird das Ganze für uns alle auf mehreren Ebenen erschweren. Dennoch führt kein Weg daran vorbei, die Stadt von einem niederträchtigen Mann wie Dain Eldridge reinzuwaschen, der sein Umfeld mit allen Mitteln vergiftet. Sowohl bei dem Attentat, als auch bei Amelias Rettung, wird Harley sich die Mühe sparen dazwischen zu funken. Er wird sich das Schauspiel ganz bequem von seinem Logenplatz aus betrachten. Und uns wird nur beides gelingen, wenn unsere Zusammenarbeit nahtlos ineinander übergeht. Clayton und Fred werden sich auf die Befreiung von Amelia konzentrieren, mit Unterstützung von Miss Adler und Moran, welche das Bindeglied für den reibungslosen Ablauf beider Missionen sein werden…“, erläuterte William sachlich und stoppte abrupt da er erkannte, dass jemand aus der Runde eine Zwischenfrage stellen wollte.

„Verzeihen Sie die Unterbrechung, aber wir rechnen alle natürlich damit, dass Sherlock Holmes sich ebenfalls zeitgleich dort bei dem Anwesen von Fürst Eldridge aufhalten wird. Sollte daher nicht jemand für Ablenkung sorgen, um der Gefahr einer Sabotage aus dem Weg zu gehen? Ich bin geübt darin wissen Sie, ich sorge dafür, dass der gute Detektiv die Rolle spielt, welche Sie ihm gegeben haben“, sprach Irene selbstbewusst und schien im Geiste bereits ihre eigenen Pläne zu schmieden.

„Davon bin ich überzeugt, miss Adler. Aber ich habe längst beschlossen, wer diese brisante Aufgabe übernimmt, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden wird…“, kam daraufhin Williams Einwand und in Miceyla stieg ein hitziges Gefühl auf, als seine glühend roten Augen auf sie gerichtet waren. Keiner konnte die ihr vorenthaltende Rolle nehmen, dessen war sie sich von Anfang an bewusst gewesen. Pflichtbewusstsein und Gewissensbisse tobten in ihr gleichermaßen. Sie kam sich vor, wie der letzte auf dem Schlachtfeld verbliebene Bauer, der für die Freiheit aller Gefangenen den König schlagen musste. Doch bei allem was sie bereits durchgemacht hatte, gab es nur ein Resümee, nämlich das Unmögliche konnte möglich gemacht werden. Weshalb also nicht endlich mal die erlernten Fertigkeiten einer Königin ausschöpfen?

„Miceyla, du wirst Sherlock daran hindern ein Verbrechen zu begehen. Lass ihn zum Helden werden, ohne das der von uns verübte Mord an Dain Eldridge gefährdet wird. Wenn er die Missetaten des Meisterverbrechers ans Licht bringt, bei denen die Leben sowohl von Adligen als auch von gewöhnlichen Arbeitern aufs Spiel gesetzt werden, wird auf diese Weise die gesamte Gesellschaft zum Umdenken angeregt. Allerdings nur falls der Plan perfekt abläuft. Du siehst, der Erfolg hängt ganz allein von dir ab, mein Liebling. Jedoch muss ich gezwungenermaßen einen Misserfolg miteinkalkulieren. Denn die Wahrscheinlichkeit das dir dies gelingt, liegt gerade mal bei fünfundzwanzig Prozent. Wir wissen beide, beim Kampf gegen die eigenen Gefühle, geht man als Verlierer hervor… Aber nichtsdestotrotz werden wir im Endeffekt erreichen, was wir von Beginn an angestrebt haben“, weihte er die gesamte Runde in den am wahrscheinlichsten Ausgang der Geschehnisse ein und Miceyla blickte abwesend hinab, ohne ihm die entschlossene Antwort zu geben, die man von ihr nun erwartet hätte. Albert legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter, was ihr zu einem zaghaften Lächeln verhalf. William erklärte noch eine gefühlte Ewigkeit den Ablauf seinen Plans und ging dabei selbst auf die kleinsten Details ein. Doch niemand zeigte auch nur das unscheinbarste Anzeichen von Müdigkeit. Alle standen unter dem Bann von seiner ungeschlagenen Redekunst, welche in den Köpfen der Zuhörer ein bildgewaltiges Schauspiel entstehen ließ. `Ich kenne noch eine Person, die jene außergewöhnliche Gabe sein Eigen nennen darf…`, dachte Miceyla klammheimlich und schließlich war die opulente Besprechungsrunde an ihrem Ende angelangt und die Truppe löste sich allmählich wieder auf. Da sie so lange gesessen hatte, wollte sie sich etwas die Beine vertreten und von der frühnächtlichen Brise, ihre umherwirbelnden Gedanken ordnen lassen. Sie trat hinter Clayton aus dem Raum und dabei war es für sie nicht verwunderlich, ihn mit einem Degen bewaffnet zu sehen. Jedoch bemerkte sie erst bei genauerem betrachten, dass seine Waffe sich von dem Degen unterschied, welchen er sonst immer bei sich trug. Auf dem Handgriff war ein Wappen eingraviert, es bestand aus zwei mit Flügeln ausgebreiteten Kranichen, in deren Mitte sich eine Seerose befand.

„Das…das ist das schönste Familienwappen, welches ich je gesehen habe…“, flüsterte Miceyla verträumt und starrte wie in Trance darauf. Als würden sich die beiden Kraniche jeden Moment von der Waffe loslösen und über einen See voller schillernder Seerosen hinwegfliegen. Unvermittelt blieb Clayton stehen und tastete gefühlvoll mit der linken Hand an den Griff seines Degens.

„`Dies sind die Schwingen der Freiheit, sie demonstrieren das den eigenen Gedanken keine Grenzen gesetzt sind. Die Möglichkeiten sind unendlich und jeder erdenkliche Ort kann erreicht werden. Verleihe deinen Träumen Flügeln und höre stets auf die weise Stimme deines Herzens, ohne dich von äußeren Einflüssen in eine verwirrende Falle locken zu lassen. Das Glück beginnt in dir und findet sich nicht als Ziel auf deinem Wege. Also lass es frei, im Hier und Jetzt beginnt dein Leben. Was der Morgen bringt, kann auch der klügste Mann nicht vorhersehen.` Dies waren die prägenden Worte meines Vaters, der einzig wahre Freund in meinem Leben…“, erzählte Clayton wehmütig, ohne sich dabei zu ihr herumzudrehen. `Wie recht er damit hat… Glück sollte kein greifbares Ziel sein. Es ist rein subjektiv, was Glück für einen bedeutet…`

„Deinen Vater hätte ich wirklich sehr gerne kennengelernt, aber das weißt du ja. Und auch wenn du mir nicht zuhören willst, bitte ich dich inständig darum, nicht zum Gefangenen deiner eigenen Vergangenheit zu werden. Glück lässt sich finden, jedoch nicht auf ewig festhalten. Jeder von uns ist ein Zahnrad im Lauf des Lebens und nur zusammen können wir die Träume unserer Herzen erreichen. Als großer Erfinder erkennst du doch selbst am besten, was Erfolg und Fortschritt für die eigene Entwicklung bedeutet. Wir mögen Blumen sein, die irgendwann verwelken, doch andernorts beginnen neue Blumen zu blühen und werden sich Geschichten über uns erzählen und unsere Träume auf ihre ganz eigene Art weiterleben…“, wagte Miceyla ihm mit sanfter Stimmer ins Gewissen zu reden und riss erstaunt die Augen weit auf, als Clayton sich plötzlich mit einem strahlenden Lächeln zu ihr herumdrehte.

„Mein liebes Vöglein, wer solch empfindsame Worte wählt, dem werde ich zu jeder Zeit zuhören. Ich bin frei, ich lasse mich von niemandem einsperren und schon gar nicht von einem dreckigen schwarzen Loch, das sich die Vergangenheit schimpft. Und zudem bin ich vom Glück umgeben. Amelia, die Kinder, du und die Moriartys. Ich bin unendlich dankbar, die Zeit mit solch herzensguten und gebildeten Menschen verbringen zu dürfen. Doch verrat dies keinem, soll ein Geheimnis bleiben, he, he. Aber mein Hass auf Harley wird dennoch nie erlöschen… Und Herzchen, keine Bange, die Stunde der Finsternis steht zwar kurz bevor, aber die lieblichen Klänge der Violine, werden dich stets zum Licht zurückführen. Das finale Bühnenstück naht! Ich kenne doch euer Motto, vertreiben wir all das Böse… und…und?!“

„…Und verhelfen der Welt zu rechter Größe…“, beendete Miceyla etwas verzögert seinen Satz und musste unweigerlich bei der belustigenden Grimasse die Clayton zog schmunzeln. Er wollte sie etwas aufheitern, doch dies wirkte bei ihr nur kurzweilig. `Ich bin aber noch nicht bereit für das Finale, noch lange nicht… Immer wieder muss ich daran denken…Und Sherlock ist eher drauf und dran sich mit mir in die Dunkelheit zu stürzen, wenn ich nicht aufpasse…` Nun wandte er sich wieder von ihr ab und schloss sich Irene an, die bereits außerhalb des Anwesens auf ihn wartete. Und sie war heilfroh, dass es zu keiner problematischen Konversation mehr zwischen ihnen kam. Sie hatten nämlich alle bereits genug Sorgen. Miceylas Herz begann von jetzt auf gleich schneller zu schlagen, als William auf einmal seine Arme von hinten um sie schlang, als wollte er den Moment einfangen und damit verhindern, dass der nächste Tag anbrechen konnte. Mit einem tiefen Atemzug schloss sie die Augen und versuchte die Angst vor dem ungewissen Unheil welches vor ihr lag, mit dem unlöschbaren Feuer ihrer Liebe niederzubrennen…
 

Es war ein ungewöhnlich schwüler Abend Anfang Juni und man meinte, die glühende Sonne weigerte sich schlafen zu legen. Die Natur sehnte sich nach einer belebenden Abkühlung, welche nicht mehr in allzu weiter Ferne liegen konnte... Der Abend vor der Bekanntmachung des angekündigten Attentats war gekommen. Dennoch sollte es anonym, ohne eine konkrete Namensgebung von Statten gehen. Das Rätsel um die Identität des Meisterverbrechers würde erst gelöst sein, wenn die vor Ort befindlichen Zeugen, dessen Namen an die Öffentlichkeit trugen. `Du selbst bist der Held, Will. Befreier der geknechteten Seelen… Alle Menschen ob Ober- oder Unterschicht müssten dies erkennen. Die Frage nach Gut und Böse kann niemals beantwortet werden…` Miceyla trug eines ihrer vornehmsten Kleider und hatte sich mehr Mühe als je zuvor beim feinen Herausputzen gegeben. Und auch wenn sie längst daran gewöhnt war, ließen die aufdringlichen Blicke der Passanten, in denen Neid und Missgunst zugleich lag, ihre Nervosität stetig ansteigen. Dennoch wartete sie geduldig, ohne jegliche Begleitung neben einer Straßenlaterne. Und für jedermann blieben die bedrohlichen Waffen verborgen, welche sie unter ihrem Kleid versteckt hielt. Sie war mit Sherlock verabredet und würde mit ihm einen Ball in London besuchen, bei dem die erfolgreiche Vertragsunterzeichnung gefeiert wurde, die trotz eines länger andauernden politischen Konflikts zustande gekommen war. Dain Eldridge war unter anderem als Gast dort zugegen. Sherlock hatte ihn natürlich ins Visier genommen und war dank seiner schlussfolgernden Gedankengänge der festen Überzeugung, dass er das nächste Ziel des Meisterverbrechers sein musste. Daher war es keine Überraschung, dass es wie gewohnt mit William zeitgleich zur Tat schritt, als hätten die beiden sich heimlich abgesprochen. Selbst eine plötzliche Vorankündigung seiner Taten, wäre für Sherlock kein unvorhergesehenes Ereignis mehr. Er hatte sich dazu bereiterklärt, sich an Amelias Rettung zu beteiligen. Doch die Befreiung ihrer Person, war nur ein kleiner nebensächlicher Akt seiner unerbittlichen Lebensaufgabe, die er niemals aus den Augen verlieren würde. Er und Miceyla durften lediglich dank Alberts und Mycrofts Einflussreichtuns, selbst als geladene Gäste auf der Feier des gehobenen Kreises erscheinen. William war mit der Nachbereitung seiner Vorlesungen beschäftigt, was sogar der Wahrheit entsprach. Selbst kurz vor der Umsetzung einer entscheidenden Mission, vernachlässigte er nicht seine Pflichten. Jedoch wusste Miceyla ganz genau, dass er dies mehr oder minder bereitwillig als Vorwand nutzte, damit Miceyla Sherlock um des Plans Willens aufhalten oder zumindest etwas behindern konnte, ohne das beide Kontrahenten persönlich in der Gegenwart von Dain Eldridge aufeinandertrafen. `Was wird wohl geschehen…? Will er mit mir zusammen diesen Mann nur ausspionieren und Beweise seiner Schandtaten für die Öffentlichkeit finden, damit er zur Buße seine Zeit hinter Gittern absitzen kann? Er ist ein hochrangiger Adliger. Leider besitzen weder Sherlock noch Scotland Yard, eine Befugnis für solch eine Vollstreckung. Mycroft zu involvieren hilft ebenso wenig, da sich der vorrübergehend ruhende Konflikt mit Harley zuspitzen würde. Ich muss einsehen, dass ich allein im Voraus nicht planen kann, daher heiß es wohl mich auf jede erdenkliche Situation einzustellen. Oh Evelyn, wie gerne wäre ich jetzt bei dir… Verzeih mir, dass du so häufig von mir getrennt sein musst. Ich liebe dich über alles…` In Gedanken flog sie fort zu ihrer geliebten Tochter, um sich gemeinsam mit ihr an einen sicheren Ort zu verschanzen, wo sie Evelyn ewig in Armen halten konnte und das hektische Weltgeschehen still und unscheinbar an ihnen vorbeizog. Doch letztendlich konnte sie nur dafür sorgen, dass das Gift der Realität, die Süße ihrer Träume niemals erreichte. Eine herbeigefahrene Kutsche, die unmittelbar vor ihr am Straßenrand zum Stehen kam, unterbrach den reißenden Fluss ihrer ausmerzenden Gedanken, worüber sie sehr dankbar und erleichtert war. Die Tür der Kutsche wurde von innen geöffnet und niemand anderes als Sherlock lugte heraus und hielt ihr wie ein gesitteter Gentleman die Hand entgegen, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein. Er lächelte herzlich, was seinen sanften Gesichtszügen schmeichelte und sie meinte beinahe einen jüngeren Mycroft vor sich zu haben, da er einen vornehmen Anzug trug und seine schwarzen Haare ordentlich glatt gekämmt hatte.

„Darf ich die bezaubernde Lady auf einen noblen Ball entführen, um gemeinsam die Langeweile des rückständigen Adels zu ertragen?“

„Verzeihen Sie mein werter Herr, aber hier muss ein Missverständnis vorliegen. Ich bin mit einem Mann verabredet, der noch nie in seinem Leben eine Krawatte richtig gebunden hat und es mit Höflichkeitsfloskeln nicht allzu ernst nimmt“, sprach Miceyla übertrieben aristokratisch und musste sich ein Schmunzeln verkneifen.

„Nur keine Bange, meine Teure. Du brauchst dich nicht von fälschlichen Äußerlichkeiten abschrecken zu lassen. Dahinter verbirgt sich immer noch derselbe Halunke, der zusammen mit dir die Straßen Londons unsicher macht und auf der schwarzen Liste von Scotland Yard einen Ehrenplatz belegt“, ging er sogleich mit lässiger Körperhaltung, auf ihr scherzhaftes Wortgefecht ein und grinste dabei schief.

„Das erleichtert mich zu hören. Dann lasse ich mich natürlich nur allzu gerne entführen, mein charmanter Poet.“ Während der Fahrt redeten sie beide jedoch nicht viel miteinander, was ihr nicht gefiel. Normalerweise war er in ihrer Gegenwart gesprächiger und sie erwartete, mit ihm Informationen über Fürst Eldridge auszutauschen. Sein unparteiisches Verhalten, alarmierte sie dazu Vorsicht walten zu lassen. Doch die Gewissheit, dass Fred die Geschehnisse des Balls aus den Schatten heraus im Auge behielt, beruhigte ihre brodelnden Nerven.

„Ich denke Harley kann Dain ebenfalls nicht leiden und freut sich daher, wenn andere für ihn die Drecksarbeit erledigen, damit er von der Bildfläche verschwindet“, riss Miceyla dennoch voller Ungeduld jenes Thema an, als sie ihr Ziel beinahe erreicht hatten.

„Nun, der tugendhafte Graf Granville, darf gerne mit seiner gnadenlosen Hierarchie fortfahren. Dann wird bald kein Volk mehr vorhanden sein, welches er von seinem hohen Thron aus regieren kann. Gewalt beginnt dort, wo die Macht der Gesetze versagt. Und all das Morden wird zwingend dazu führen, dass die zukünftigen Gesetze an einer Härte gewinnen, die selbst den aus der Reihe tanzenden Adel trifft. Doch auch der Meisterverbrecher wird folglich zum Opfer seiner eigenen Ideale. Vielleicht sollte meine Wenigkeit, an diesem Abend Dain Eldridge den Gnadenstoß verpassen, ha, ha, ha! Jetzt schau nicht so schockiert, Mia! Aber verzeih, darüber mache ich besser keine Scherze… Er darf heute noch nicht durch ein `Unglück` sein Leben lassen. Ich befürchte, dass sonst die Rettung deiner Freundin unmöglich sein wird und es zu einem verfrühten Bürgeraufstand kommt… Auf meine Intuition ist zwar nicht immer, aber immer öfter verlass…“, verriet Sherlock dann doch noch vertrauliche Details und zündete sich schnell eine letzte Zigarette an, ehe sie in der Abendgesellschaft des Balls untertauchten. `So ist das also, darauf hätte ich selbst kommen müssen… Dains verfrühtes Ableben würde nicht nur Wills Plan vereiteln, sondern auch Harley einen Anreiz dafür geben, Chaos walten zu lassen. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als jenen Mann für einige Stunden zu beschützen, der den Tod mehr als alle anderen verdient hat. Welch eine Ironie…` Gemeinsam reihten sie sich vor dem Eingangstor einer prachtvollen Villa, hinter bereits wartenden Besuchern ein, bis sie ihre Eintrittskarten vorzeigen konnten. Sie wurden ohne Einwände hereingelassen und sie bahnten sich gemächlich einen Weg durch die Gästemenge zum Hauptsaal, in der von einem Orchester angenehme klassische Musik gespielt wurde. Der Ball unterschied sich kaum von den bisherigen, welche Miceyla bereits besucht hatte. Hochangesehene Persönlichkeiten standen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich über belanglose Themen. Einige Paare tanzten auf der spiegelnd glatten Fläche. Und dennoch fand sie keine geeigneten Worte, um die sonderbare Atmosphäre beschreiben zu können.

„Mia, die hinterste Säule auf der linken Seite…“, flüsterte Sherlock ihr leise von der Seite zu und sie ließ daraufhin unauffällig, ihren Blick zu besagter Stelle seiner Ortsangabe wandern.

`Dain Eldridge! Er passt genau zu Wills Beschreibung. Große Statur, dunkelblonde Haare, etwa im selben Alter wie Harley. Seine Körperhaltung wirkt entspannt und selbstbeherrscht. Er strahlt sogar eine ähnliche freundliche Wohltätigkeit aus. Aber an Harleys machtvoller Aura kommt er bei weitem nicht heran. Trotzdem ist es immer wieder aufs Neue verwunderlich, dass die Männer, welche den größten Dreck am stecken haben, nach außen hin einen glaubwürdigen Musteradeligen spielen und ein ansehnliches Erscheinungsbild besitzen, mit dem sie ihr Umfeld täuschen. Doch in ihrem Innern befindet sich ein hässlicher Teufel, der Pech und Verderben verbreitet…`, analysierte Miceyla nach einem kurzen ersten Eindruck, binnen weniger Sekunden ihr Zielobjekt.

„Dann leg mal los, was kannst du mir über ihn sagen, unabhängig von deinem bisherigen Wissen über ihn. Noch hat uns keiner Beachtung geschenkt. Wollen doch mal sehen, ob du nach all der Zeit Fortschritte gemacht hast“, forderte Sherlock sie spielerisch dazu auf, Dain Eldridge aus sicherer Entfernung näher unter die Lupe zu nehmen, ohne mit verdächtigem Verhalten Aufmerksamkeit zu erregen. Miceyla blickte ihn kurz mit einem entschlossenen Lächeln an und gab ihm damit zu verstehen, dass sie seine Herausforderung furchtlos annahm. All ihre gesammelten Erfahrungen waren schließlich nicht umsonst gewesen und sie war sogleich voll und ganz in ihrem Element.

„Es sieht ganz danach aus, als hätte er es sehr eilig gehabt, denn sein Hemd unter dem Jackett ist etwas unordentlich. Doch diese Feinheit wird wohl kaum jemand bemerken. Dennoch ist er pünktlich hier erschienen. Ich denke das seine Heiterkeit natürlich ist. Könnte der Grund ein wirtschaftlicher Erfolg sein? Nein, vor einem Auftritt in der gehobenen Öffentlichkeit wird er nicht riskieren, dass man bei ihm auch nur den kleinsten Beweis seiner blutigen Machenschaften findet. Dafür sind Männer wie er zu gründlich. Was gibt es also sonst noch von Bedeutung in seinem Leben? …Seine Kinder… Er versucht so oft es nur geht sie zu besuchen und für sie da zu sein. Und dabei verbirgt er vor ihnen seine düstere Seite und gibt alles um ein guter Vater zu sein. Er lebt eine Lüge und verdrängt dabei die eigenen Gewissensbisse. Für die Kinder wird eine Welt zusammenbrechen, wenn das scheinheilige Glück um sie herum wie dünnes Glas zerspringt. Die Fehler der Eltern bekommen die Kinder als Brandmal aufgedrückt und werden es niemals mehr los. Was bleibt ist eine ruinierte Zukunft… Es reicht, ich habe genug über ihn erzählt. Er ist wie ein offenes Buch für mich…“, beendete Miceyla ruckartig ihre tiefgründige Analyse über den ihr fremden Fürsten. Ein wenig schämte sie sich, dass sie direkt klein beigab, sobald es für ihr zartes Gemüt zu emotional wurde. Aber niemand würde ihr wohl übel nehmen, dass sich ihr Blickwinkel aufs Leben verändert hatte, seitdem sie selbst Mutter war. Sherlock bestätigte weder ihre Worte, noch fügte er etwas hinzu. Stattdessen hielt er ihr lächelnd seine geöffnete Handfläche hin, wie bei einer Aufforderung zum Tanz. Er besaß nun mal seine eigene Art um ihr mitzuteilen, dass sie mit ihrem durchleuchtenden Denken, genau ins Schwarze getroffen hatte.

„Darf ich bitten? Es hat sicherlich keiner etwas dagegen, wenn wir uns dem gesitteten Adel anpassen und uns ein wenig bei einem Tanz vergnügen.“ Seine plötzliche Geste reichte aus, dass für Miceyla Dain Eldridge und der Grund weswegen sie eigentlich auf dem Ball waren, in weite Ferne rückte. Erwartungsvoll blickte sie erst zu seiner einladenden Hand, dann direkt in seine gütigen Augen. Miceyla glaubte kurz zurück in die Vergangenheit zu reisen und spürte das prickelnde Gefühl, als sie sorgenlos mit ihm im Pub tanzte. Frei von bedrückenden Verpflichtungen, ehe ihr Leben einen radikalen Wandel bekam. `Du legst dir Fesseln an!` Sherlocks vorausblickende Warnung hallte erneut in ihrem Kopf wider und sie lächelte bitter. `Ich bereu nichts, rein gar nichts! Denn ich bin frei, darum lass uns tanzen, ohne dabei an den nächsten Morgen zu denken… Sie wollte schon zögerlich ihre Hand auf die seine legen, da hielt sie eine weitere Stimme im Geiste zurück. `Du bist eine schlechte Lügnerin, Miceyla…`

„Mir…mir ist gerade nicht nach tanzen… Und du solltest an diesem Abend ebenfalls andere Prioritäten gaben. Zudem gibt es hier sicherlich genug andere Damen, die sich über einen hervorstechenden Tänzer wie dich freuen würden…“, umging Miceyla mit monoton klingender Stimme seine Aufforderung zum Tanz und ihr war elendig zumute, dass Sherlock auf Anhieb erkennen musste, dass ihre Antwort gelogen war.

„Hach… Ich begnade dich wirklich nicht für dein Talent, dir das Leben unnötig schwer zu machen. Du allein triffst deine Wahl, keiner kann und darf sie dir aufzwingen. Außerdem soll niemand anderes als du meine Tanzpartnerin sein. Insgeheim würdest du nicht abstreiten, dass es andersrum genauso ist…“ `Wir sind beide nicht mehr dieselben Menschen, welche sich damals auf dem Marktplatz begegnet sind. Hätte ich dir an jenem Tag nicht den Rücken gekehrt und dich deinem Schicksal überlassen, wie wäre dann wohl der Geschichtsverlauf gewesen…? Weshalb spekuliere ich darüber bloß…? Keiner von uns kann die Zeit zurückdrehen…` Seine Tonlage hatte sich nun ebenfalls gewandelt, sie klang trist und jegliche Güte war verschollen. Aber dahinter verbarg sich auch noch ein deutlicher Funken der Enttäuschung. Sherlock wandte sich schweigsam von ihr ab und lief ohne Eile in

Richtung des perfekt angerichteten Buffets. Miceyla hätte keine geeigneten Worte für die

Niedergeschlagenheit finden können, welche sie in jenem Moment empfand. Eine verzehrende Leere breitete sich in ihr aus und sie blieb einfach regungslos auf der Stelle stehen, während ihr trüber Blick weiterhin auf Sherlock haften blieb. Und dabei erwischte sie sich selbst dabei, wie sie überprüfte, ob er auch wirklich keinen Ersatz für sie zum Tanz auswählte. Doch erleichtert erkannte Miceyla, dass er sich lediglich etwas zu trinken holte. `Was denke ich da bloß… Er ist ja nicht Albert… Aber kann es sein…ist Sherlock wirklich ein wenig beleidigt…? Auf keinen Fall spielt er mir etwas vor, dies würde ich direkt bemerken. Wieso…wieso nur? Wir müssen uns doch beide konzentrieren!`, versuchte sie angestrengt, den Faden ihres wichtigen Auftrags nicht zu verlieren und bemühte sich nicht allzu verloren zu wirken, ehe sie sich vor einer aufdringlichen Kolonie von männlichen Gästen nicht mehr retten konnte. Da fiel ihr Blick genau auf einen Solchen, der plötzlich mit ernster Miene auf Dain Eldridge zulief. Ohne ein Wort ihrer Unterhaltung zu hören, kam sie ohne Schwierigkeiten zu dem Zusammenschluss, dass der Fürst zu einem anonymen Vieraugengespräch aufgefordert wurde. `Wenn Dain aus der Menschenmenge an ein unbeaufsichtigtes Örtchen gelockt wird, kommt das heikle Spektakel ins Rollen, bei dem wir gezwungen sind einzuschreiten, um ein Unglück zu verhindern. Keiner würde das Verhalten des fremden Mannes als verdächtig einstufen, aber ich erkenne die Merkmale eines gewieften Attentäters sofort… Wo ist Sherlock…?` Dain Eldridge war bereits dabei, den Ballsaal mit dem suspekten Mann zu verlassen, während Miceyla sich verzweifelt nach Sherlock umblickte, ihn aber nirgends ausfindig machen konnte. `Ich kann nicht auf ihn warten, dann muss ich eben eigenständig handeln! Ein alter Trick gelingt immer…` Hastig schnappte Miceyla sich ein Glas dunklen Rotwein und nahm die Verfolgung der zwei sich entfernenden Männer auf. Sie verfolgte das Duo durch einen weitläufigen, schwach beleuchteten Flur, bis die lebhafte Gästeschar hinter ihnen kaum mehr zu hören war. Nun ermöglichte sich ihr die beste Gelegenheit, um Dain und den Mann voneinander zu trennen, ehe sie selbst bemerkt wurde.

„Verzeihen Sie, Sir Eldridge…“

„Ja, bitte…? Oh?!... Pardon!“ Bei der ruckartigen Bewegung, mit der sich Dain herumdrehte, stieß er gegen ihr Glas, wobei sich der Wein über ihre Hände ergoss.

„Verzeihen Sie mein Missgeschick, werte Lady! Ich eile sofort und hole Ihnen ein Handtuch! Entschuldigen Sie mich kurz, Mr…“, sprach Dain höflich und lief auch schon schnellen Schrittes davon. Miceyla hatte damit erreicht was sie wollte und blieb mit dem mysteriösen Mann allein zurück. Sie war auf alles gefasst und fühlte sich weder unbehaglich noch überlegen. Mittlerweile hatte sie an Mut gewonnen, um ihrer angeeigneten Professionalität vertrauen zu können.

„Das war ein wirklich grandioses Meisterstück, ich gratuliere. Machen Sie es sich nur nicht zu leicht. Dann sind Sie eben vor dem Lackaffen dran, elende Hexe!“, zischte der Mann verärgert, zeigte dabei jedoch auch ein blutdurstiges Grinsen.

„Der Adel vergisst seine guten Manieren nun mal nicht. Dain Eldridge hat dies gerade beispielhaft demonstriert. Und ich spiele liebend gern die Hexe, welche Sie unzüchtigen Dämon austreibt…“, erwiderte Miceyla unerschrocken und sie zückte zeitgleich mit ihrem Widersacher, welcher nicht viel größer als sie selbst war, ein Messer.

„Ich erlaube mir zu erwähnen, dass ich ebenfalls von Adel bin. Wie wäre es mit einem Deal? Wir sind doch beide vernünftige Menschen, oder Mrs Moriarty…?“, zeigte er sich kompromissbereit und gab ihr mit einer kurzen Geste zu verstehen ihm zu folgen, bevor Dain verfrüht wieder eintraf. `Aber vom niedersten Adel der tief gesunkenen Klasse…`, dachte sie verächtlich und ging mit höchster Alarmbereitschaft auf dessen Angebot ein. `Na, der scheint sich aber sehr gut hier auszukennen…` Keine einzige Sekunde ließ sie ihn und jede seiner Bewegungen aus den Augen, bis sie einen kleinen Raum betraten, in dem sie völlig ungestört fortfahren konnten.

„Es ist ganz simpel, ich lasse Sie und den Viscount in Frieden, wenn Sie mir bestätigen, wer der Meisterverbrecher ist. Ich werde seinen Namen nennen. Ansonsten wird sein Name vor allen Anwesenden im Ballsaal verkündet und nicht nur der Fürst, sondern auch die Leichen einiger Unschuldiger, werden vor den hochrangigen Persönlichkeiten auf einem Silbertablett serviert… Im Grunde genommen nehmen wir dem Meisterverbrecher nur seine Arbeit ab. Ist doch fantastisch, oder? Und ja, ich bin nicht allein…“, forderte der Mann mit selbstbewusster Miene. Miceyla strengte sich an, dass für ihn kein Funken der Verwirrtheit in ihrem Gesichtsausdruck zu sehen war. `Blufft er? Aber nur ein geübter Schauspieler wie Clayton, könnte eine solche Lüge authentisch und ohne mit der Wimper zu zucken rüberbringen… Wenn er tatsächlich über Will Bescheid weiß, kann mir sein Auftraggeber nicht unbekannt sein… Aber es spielt keine Rolle, ich lasse mich von einen miesen Trick nicht verunsichern!`

„Sie könnten jeden x-beliebigen Namen nennen. An welchen Beweisen bedienen Sie sich, die Sie der Öffentlichkeit vorlegen wollen? Solche dahergelaufene Tölpel wie Sie, gibt es momentan zur Genüge.“ Ein schriller Entsetzensschrei vom Flur in einiger Entfernung, jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. `Dain Eldridge!`

„William Moriarty ist der Meisterverbrecher. Wiederholen Sie den Namen oder dem geldgierigen Drecksack wird der Schädel abgehackt! Und der ach so unschuldigen Lady Moriarty, wird die Schuld für den Mord in die Schuhe geschoben. Beweise für die leichtgläubige Gesellschaft, gibt es im Überfluss. Die Dummheit der Menschen kennt schließlich keine Grenzen… Sie haben sechzig Sekunden…“ Ohne eine Miene zu verziehen, starrte Miceyla den niederträchtigen Ganoven, mit seinem gefährlich geschärften Messer in der Hand an. Sie konnte nicht riskieren, auf den Flur hinauszulaufen, um herauszufinden was dort vor sich ging. Ihr blieb nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen. `Er soll bekommen wonach er verlangt und anschließend bei einem ewigen Schlaf Reue zeigen!` Kurz bevor die Zeit um war, nahm sie einen tiefen Atemzug und gab mit einer gelockerten Körperhaltung vor sich zu entspannen.

„William Moriarty ist der Meisterverbrecher!“, gab sie ihm mit fester Stimme die Antwort welche er hören wollte und unterdrückte ihre Wut, als er höhnisch zu grinsen begann.

„Fabelhaft! War doch gar nicht so schwer, oder Teufelsbraut…?“ Es kam wie Miceyla es vorausgesehen hatte. Der Mann brach sein Versprechen und attackierte sie in sekundenschnelle mit einem siegessicheren Messerhieb. Doch noch ehe die Messerspitze ihr gefährlich nah werden konnte, hatte sie sich unter seinem Arm weggeduckt. Und bevor er nach dessen Angriff ins Leere, wieder die Gelegenheit bekam zu reagieren, packte sie seinen Arm und verbog ihn erbarmungslos nach hinten. Nicht einmal die Chance für einen Schmerzensschrei ließ sie ihrem Kontrahenten und schlitzte ihm mit ihrem eigenen Messer in Windeseile die Kehle auf. Ruckartig löste Miceyla ihren Griff von dem erschlafften Körper, von dem nun keine Gefahr mehr ausging und blickte unfreiwillig auf den am Boden liegenden Leichnam, um welchen der dunkle Teppich, aufgrund des Blutes einen kräftigen Rotton annahm. In Momenten wie diesen war sie zwar heilfroh, für Morans ihr beigebrachte Selbstverteidigung, doch würde sie niemals wagen Stolz zu empfinden, wenn sie um selbst überleben zu können, einem anderen Menschen das Leben nehmen musste. Dennoch sah sogar sie mittlerweile ein, dass der Respekt vor einem Scheusal wie diesem Mann, verschwendete Liebesmüh war. Aber ihre Schuldgefühle konnte ihre besinnende Einsicht noch lange nicht lindern. `Der wahre Dämon…bin letzten Endes ich selbst…` Ihr Nacken fühlte sich allmählich steif an und trotzdem besaß sie nicht die Kraft ihren Kopf zu heben. Plötzlich wurde das Knistern, der glühenden Wandfackeln um Miceyla herum hörbar und sie meinte in einem lodernden Feuer zu stehen, dem ihre größte Furcht galt. Dabei glaubte sie, die Manifestation von Williams mächtiger Flamme zu sehen, welche unaufhörlich in seinen funkelnden Augen brannte. `Das Feuer sollte zu meiner beschützenden Kraft werden…aber…wird es am Ende nicht doch mein Untergang sein? Sage es mir, mein Liebster…` Miceyla rang nach Atem, als die schmerzvolle Hitze ihren Körper vereinnahmte und versuchte panisch ihrer realistischen Vision zu entkommen. Nach und nach begann sich der Nebelrauch um sie herum zu lichten und ihre Wahnvorstellungen rückten immer mehr in weite Ferne, als sie leise Schritte auf dem Flur vernahm, die ihr gefährlich nah kamen und eine eisige Kälte wehte die unerträgliche Hitze hinfort. `Was bleibe ich hier auch wie angewurzelt stehen… Wenn ich mit der Leiche entdeckt werde, ist es aus und vorbei… Hoffentlich ist Fürst Eldridge unversehrt geblieben. Nur…wie erkläre ich Sherlock das Ganze…? Ich habe Dain beschützt, wie wir es geplant hatten und nichts falsch gemacht. Manchmal hilft einem nur die Wahrheit weiter. Aber warum ist er solange verschwunden, ohne mir etwas mitzuteilen, das ist nun wirklich nicht seine Art… Sherlock… Du gütiger Himmel, bin ich blind gewesen! Nein…Sherlock…du…bitte nicht…!` Als Miceyla mit einem Mal begriff wie ihr geschah, konnte sie nicht die Kraft aufbringen zu flüchten und ihr Herz klopfte wild im Takt, mit den näherkommenden Schritten auf dem Gang. Und im selben Moment, als die Person für sie sichtbar an der Türschwelle erschien, hätte sie sich am liebsten gewünscht, dass ihr Herz zum Stillstand kam, um sich zu der vor ihren Füßen liegenden Leiche zu gesellen. Eine andere Flucht gab es für sie nicht mehr. `Sherlock…` Sie konnte noch nicht mal seinen Namen laut aussprechen, da ihre Stimme versagte. Ihren besten Freund belogen und getäuscht zu haben, war ihr nun zum Verhängnis geworden. Vom Jäger zur Gejagten, lag sie jetzt in die Enge getrieben in Ketten, ohne jegliche Hoffnung auf eine rettende Handlungsmöglichkeit. Sherlock hatte alles mitangehört und sie stand vor ihm mit einem blutgetränkten Messer in der Hand, neben einem Mann, welchen sie eigenständig das Leben genommen hatte. Alles war dafür geebnet, damit der Meisterdetektiv über sie, den Meisterverbrecher und alle Involvierten richten konnte. `Vergib mir Will, ich bin kläglich gescheitert…` Mit getrübtem Blick sah sie in Sherlocks ausdrucksloses Gesicht. Normalerweise gelang es ihr seine Emotionen zu ergründen und was ihm gegenwärtig durch den Kopf ging. Doch ihre sonst so vertrauliche Nähe, war mit einem Schlag durch eine fremdartige Distanz zerstört worden. Miceyla kam sich mehr als nur dämlich vor, dass sie geglaubt hatte, sich für genau jenen Augenblick wappnen zu können. Es war für sie zu schmerzhaft um es zu ertragen. Auch die Frage wie sie sich nun verhalten sollte, konnte nicht mehr beantwortet werden. Sie musste sich geschlagen geben und warf zum Zeichen ihrer Kapitulation das Messer neben die Leiche und stürmte ohne Sherlock eines Blickes zu würdigen, an ihm vorbei aus dem Raum hinaus. Mit noch immer getrübten Sinnen, rannte sie auf dem Flur in die entgegengesetzte Richtung und hoffte eine Art Hinterausgang des Gebäudes zu finden.

„Miceyla!“ Kurz zuckte sie am ganzen Körper zusammen, als ihr Name hinter ihrem Rücken widerhallte. Dennoch blieb sie keinen Moment stehen und es war ihr gleichgültig, ob Sherlock sie verfolgte oder nicht. In dem Labyrinth aus etlichen Gängen und Räumen, fand sie auf die Schnelle keine Tür, durch die sie hätte unbemerkt nach draußen fliehen können. Jedoch entdeckte sie ein niedriges Fenster, das ebenfalls seinen Zweck erfüllte und von welchem sie nur ein Stück weit hinunterspringen brauchte. Es klemmte etwas, aber nach einem kurzen Kraftaufwand, gelang es ihr das morsche Fenster zu öffnen. Ein kräftiger nasser Windstoß, blies Miceyla sogleich unsanft in das Gesicht. Draußen tobte ein Sturm und es regnete in Strömen. Doch selbst der Weltuntergang, hätte sie nicht davon abhalten können hinauszuspringen. Unterhalb blieb sie für eine flüchtige Weile stehen und hob mit geschlossenen Augen den Kopf, um die niederprasselnden Regentropfen auf ihrer Haut zu spüren, welche ihr die Abkühlung bescherten, nach der sie sich gesehnt hatte. Doch es war ihr nicht länger vergönnt innezuhalten und so sprintete sie weiter, durch das nächtliche Unwetter…Der strömende Regen nahm Miceyla die Sicht und dennoch rannte sie unaufhaltsam weiter, ohne auf ihren Verfolger Sherlock zu achten. Ihre Gedanken rasten, da rutschte sie plötzlich aus und stürzte. Zitternd und mit schwerem Atem richtete sie sich wieder auf. Das aufgeschürfte Knie und ihr zerrissenes Kleid ließen sie völlig kalt. Schließlich holte ihr Sherlock sie in einer engen Seitenstraße ein. Mit einem erzwungenen Lächeln blickte sie ihn an.

„Ich bin der letzte Abschaum, nicht wahr? Hintergehe meinen besten Freund…“, sprach sie verbittert. Selbst der starke Regen konnte ihm nicht verbergen, dass sie weinen musste. Vor Zorn und ebenso aufgewühlt wie sie es war, umklammerte er seine Pistole, welche noch zu Boden gerichtet war.

„Der Meisterverbrecher hat dir eine schreckliche Prüfung auferlegt. Du hättest eine Entscheidung treffen sollen, solange du die Möglichkeit dazu hattest. Ich habe es geahnt und gleichzeitig auch nicht geahnt. Er war…“, Sherlock brach ab, unwissend darüber auf wen oder was er eigentlich wütend sein sollte.

„Da irrst du dich, ich habe niemals eine Wahl gehabt. Merkst du es denn nicht? Wir sind alle bloß Marionetten für ihn. Wie verzweifelt ich versuchte etwas zu ändern… Wie sinnlos und dumm von mir… Töte mich… Nun ist die beste Chance dafür. Ich ertrage diese Verzweiflung nicht länger… Ich…ich bin kurz davor alles zu verlieren was mir lieb ist. Erlöse mich…bitte…“ Flehend ging sie vor ihm auf die Knie. Ihre beiden Blicke trafen sich und die Zeit schien still zu stehen. `Nicht nur du verlierst alles…` Gefolgt von seinem letzten

Gedanken ertönte ein Schuss, den niemand in dieser schicksalhaften Nacht hören sollte… Mit gesenktem Blick, verharrte sie regungslos auf dem klatschnassen Steinboden und alles was sie verspürte war ihr pochendes Knie und den tosenden Regenschauer. Die Kugel war dicht neben ihr auf dem Boden aufgekommen und Sherlock schritt mit nach unten gerichteter Pistole auf sie zu.

„Jetzt hast du mich doch dazu gebracht, eine Waffe auf dich zu richten. Aber ich versichere dir, das wird garantiert das letzte Mal gewesen sein. Sprich nicht so leichtfertig vom Sterben, denke vorher erst darüber nach, wie sehr du damit andere verletzt…“, tadelte Sherlock streng, jedoch überwiegte eine beinahe besorgte Sanftheit in deiner Stimme. Er kniete sich unmittelbar vor Miceyla auf den rutschigen Boden nieder und drückte sie so fest an sich, als wollte er dafür sorgen, dass jeglicher Kummer von ihr wich. Instinktiv schlang sie ihre Arme um ihn und Tränen der Erleichterung und Erschöpfung rollten über ihre Wangen und konkurrierten mit den herabfallenden Regentropfen, welche mit ihr weinten.

„Vergib mir Mia, ich musste das auf diese rabiate Weise tun. Die Antwort wäre sicherlich nicht gewesen, wenn ich freundlich gefragt hätte, `Mein lieber Will ist der Meisterverbrecher`“, sprach er entschuldigend und versuchte sie mit einem kleinen Scherz ein wenig aufzumuntern. Sachte löste sie sich von ihm und lächelte zaghaft.

„Nein…das hätte ich wohl nicht… Und ich sollte mich eher anständig bei dir entschuldigen. Ich habe dich an der Nase herumgeführt, auch wenn du das Meiste längst erahnen konntest. Die radikale Art bin ich gewohnt. Bei meiner Bewährungsprobe von Will war es ganz ähnlich… Will mag das Böse repräsentieren, welches das wahre Böse von unserer Gesellschaft zu verbannen versucht. Doch in meinen Augen ist er ein Held und Retter. Aber nicht nur ich, unsere Familie und Freunde denken genauso. Und ich weiß, dass auch du ihn auf ewig für seine aufopferungsvollen Taten bewundern wirst…“, ergriff Miceyla emotional für William Partei und der Anblick seines gütigen Lächelns, besänftige ihr kurz vor der Verzweiflung stehendes Herz.

„Gewiss…ich werde ihn immer bewundern. Das gilt für euch beide… Damals im Zug…ich habe ihn nicht vergessen, deinen leisen Hilferuf. Liam ist ebenso selbstlos wie du. Ihr habt euch wahrlich gesucht und gefunden… Ich war nie eine Spielfigur auf seinem Schachbrett. Retten sollte ich dich, das war alles. Aber ich rette euch `beide`. Er respektiert mich so sehr, wie ich ihn respektiere. Doch wie er auf meine improvisierte Lösung der Probleme reagieren wird, kann ich dir noch nicht sagen…“, offenbarte Sherlock ehrlich und sah kurz verschwiegen hinab. Voller Neugierde blickte Miceyla ihn an und stellte verwundert fest, dass die unerbittliche Konfrontation mit der Wahrheit, ihr unsichtbares Band noch enger zusammengeschweißt hatte. Ehrfürchtig erkannte sie, welche Macht eine wahre Freundschaft besaß und stellte dabei einen ähnlichen Einfluss auf das Herz fest, wie die Liebe. Dabei erinnerte sie sich an eine ihm in der Vergangenheit gestellte Frage, die sie jedoch hastig aus ihren Gedanken zu verdrängen versuchte… `Du hast natürlich etwas vor… Ich befürchte, dass dadurch alles durcheinandergeraten könnte… Aber wir haben es bis hierher geschafft, dann werden wir uns auch von allem was noch vor uns liegt, nicht abschrecken lassen… Da fällt mir ein…!` Erschrocken kehrte sie in die Gegenwart zurück und sah Sherlock verunsichert an.

„Dain Eldridge…hat doch hoffentlich keinen Schaden genommen…oder? Wir haben außerdem einfach die Leiche zurückgelassen und ich war auch noch so zuvorkommend und ließ die Tatwaffe vor Ort…“ Sherlock bemühte sich darum, sein Lachen beim Anblick ihres entsetzten Gesichtsausdrucks zu unterdrücken, was ihm allerdings nicht gelang und er grinste breit.

„Tja, was machen wir da bloß? Ein beinahe perfekt verübter Mord, mit einer schlampigen Diskretion im Abgang. Das wird dir Liam aber bestimmt besser beigebracht haben, ha, ha, ha! Keine Sorge Mia, hast du etwa deinen treuen Kamerad vergessen? Er hat sich dafür bereiterklärt, deine hinterlassene Sauerei zu beseitigen. War gar nicht so leicht ihn dazu zu bringen mitzuspielen. Sonst wäre mein bescheidener Plan nach hinten losgegangen. Fred ist dir wirklich ein unersetzlich loyaler Freund. Du hast einige herzensgute Menschen kennengelernt, daran besteht kein Zweifel… Ach ja, Dain Eldridge ist gesund und munter, bis er in einigen Stunden dann wirklich das Zeitliche segnen darf. Ich werde Liam bei seinem Unterfangen freien Lauf lassen. Auf einen Menschen der Böses verrichtet, fällt letztendlich auch Böses wieder zurück. Daher lassen wir den Viscount seine gerechte Strafe erhalten. Aber du kannst mir vertrauen, die Gesetze werden härter. Wir kämpfen schließlich nicht umsonst Tag ein, Tag aus für eine gerechtere Welt…“, verriet er und lächelte so warmherzig, dass sie sogar kurz ihr schmerzendes Knie vergaß. `Also hast du erneut mit Fred gesprochen… Dann brauche ich mir ja wirklich vorerst keine Sorgen zu machen. Verzeih Fred, für die komplizierten Umstände…`, dachte Miceyla beruhigt und hoffte, dass Fred vor der morgigen Rettungsaktion, noch genug Zeit fand um sich etwas auszuruhen. Der kräftige Regen ließ allmählich nach und langsam klebte ihr durchnässtes, violett-weißes Kleid, welches sie sich bei ihrem unsanften Sturz ruiniert hatte, unangenehm an ihrer Haut.

„Wirst…wirst du für mich weiterhin Violine spielen…? Bitte spiele für mich, ich liebe deine Musik sehr…“, flüsterte Miceyla leicht verlegen und blickte dabei lächelnd in Sherlocks dunkelblaue Augen, welche sie zuneigungsvoll ansahen. Für einen Wimpernschlag fand sich ein wenig Verwunderung in seinem Gesichtsausdruck, doch nach einem Moment der schweigsamen Stille, legte er ihr behutsam seine linke Hand auf ihre rechte Wange.

„Ich werde für dich ganze Serenaden spielen, bis dir die Ohren bluten… Aber versprich mir im Gegenzug dafür, mit dem Bedauern und Beklagen aufzuhören. Selbstmitleid wird weder deine begangenen Taten kompensieren, noch wird es dir die aufgegebene Hoffnung zurückbringen. Denn ansonsten kannst du dich direkt lebendig begraben lassen. Alles was du tun musst, ist einfach zu leben. Daher lebe, Mia… Nicht für mich brauchst du dies zu tun, aber du solltest stets an deine Tochter denken. Evelyn ist dein vorrangiger Grund um zu leben… Du bist doch meine tollkühne Marktplatzmordheldin! Oder hast du deine Verwegenheit, in den schottischen Highlands verloren?“ Miceyla blickte errötet hinab, ehe sie ihm wieder ein strahlendes Lächeln schenkte und entschlossen auf seine liebevollen Worte antworten konnte.

„Nein, das habe ich nicht… Genauso wenig, wie du deinen Enthusiasmus für schwierige Fälle verloren hast, mein edler Verfechter der Gerechtigkeit…“
 

Williams Umgebung lag in absolute Finsternis gehüllt und glich einer Hölle, welche er nur aus seinen düstersten Alpträumen kannte. Bedienstete lagen regungslos in ihrer eigenen Blutlache und auch die Klinge seines Degens war mit Blut benetzt. Zielstrebig stieg er die Treppenstufen in Dain Eldridges Anwesen empor. Ein leises Geräusch im ersten Stockwerk erregte seine Aufmerksamkeit und er hielt inne, um zu überprüfen worum es sich dabei handelte. Kurz darauf erschien ein etwa elf Jahre altes Mädchen, welches mit ihren zitternden Händen ein Messer umklammerte.

„B-bist du tatsächlich der Meisterverbrecher? Ich…ich werde meinen Vater vor dir beschützen!“ Williams Herz verkrampfte sich beim Anblick der Tränen in den Augen des Kindes und bei dem Wissen, welche Trauer und Verzweiflung es gerade durchleben musste. Er unterdrückte seine Reue und kniete sich nieder, um mit Dains Tochter etwa auf Augenhöhe sein zu können.

„Ja…es ist richtig so, hasse mich ein Leben lang. All deine Wut soll mir gelten. Aber eines Tages wirst du verstehen, dass es bedeutungslos gewesen war, deinen Vater beschützen zu wollen… Wen du an seiner Statt beschützen solltest, ist deinen kleinen Bruder. Er wird dich mehr als jeden anderen brauchen. Sei ein Vorbild für ihn. Ihr habt einander, daher wird keiner von euch jemals allein sein. Gehe weise mit Worten um und greife erst zur Waffe, wenn du alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hast. So lautet mein letzter Rat an dich… Wie heißt du, meine Kleine?“, sprach William einfühlsam und auch wenn er ihren Namen bereits kannte, versuchte er die Ängste des Mädchens, ein wenig durch ein gewöhnliches Gespräch zu dämpfen. `Ich wünschte Evelyn könnte eines Tages das Glück erfahren, die Verbundenheit mit Geschwistern kennenzulernen. Die Gewissheit jemanden beschützen zu dürfen und selbst beschützt zu werden, macht stärker als jegliche Erfahrungen als Einzelkämpfer an der Front…`, dachte er wehmütig und hatte dabei das liebliche Lächeln, seiner unschuldigen kleinen Tochter vor Augen.

„Viola…“, antwortete sie zaghaft und schien nicht recht zu wissen, wie sie auf die Freundlichkeit jenen Mannes reagieren sollte, von dem sie erwartet hatte, dass er den unberechenbaren Charakter einer wilden Bestie besäße.

„Sei für deinen Bruder in jeder Lebenslage da, Viola. Auch ich habe einen kleinen Bruder und wir unterstützen uns zu jeder Zeit gegenseitig…“ `Und nun ist die Zeit der Rechenschaft gekommen… Kämpft zusammen, verbündet euch gegen das wahre Übel. Ihr werdet erkennen, wie nichtig dabei Rang und Familienname doch eigentlich sind…`
 

Mit glasigen Augen blickte Amelia hinab und bekam mittlerweile den pessimistischen Gedanken, dass man es bereits aufgegeben hatte sie retten zu kommen. Auch wenn ihr bewusst war, dass Miceyla selbst durch Feuer gehen würde um sie zu befreien. Denn ein weiteres Mal, wollte sie die schmerzliche Erfahrung des Verlustes, sicherlich nicht durchleben… Harley war nun schon einen ganzen Tag nicht bei ihr gewesen und sie witterte eine entfernte Anspannung. Untätig rumzusitzen brachte sie beinahe um den Verstand. Aber es erstaunte sie selbst, wie es ihr dennoch gelang ruhig zu bleiben. Die Zeit verstrich und Amelia bemerkte sogar im Halbschlaf, dass sich etwas ihrer Zellentür näherte und vernahm den sachten Klang eines dumpfen Geräusches. Wachgerüttelt riss sie die Augen weit auf und schärfte all ihre Sinne für ein mögliches Unheil, das auf sie zukam und die Verwundbarkeit ihrer momentanen Schwäche zum Vorteil nutzen könnte. Sie erhob sich angespannt und konnte nun doch froh darüber sein, dass ihre Fesseln gelöst worden waren. Die Tür wurde leise von außen aufgeschlossen und sie wagte auf eine Gelegenheit zur Flucht zu hoffen.

„Amelia!? Geht es dir gut? Vergib uns, dass wir so lange gebraucht haben, um dich hier rauszuholen…“ Sie entspannte sich reflexartig wieder und das befreiende Gefühl der Erleichterung überwältigte sie. `Fred…` Amelia blickte in dessen sorgenvolles Gesicht und es verschlug ihr die Sprache, derart froh war sie ihn zu sehen. Etwas verzagt darüber, dass sie ihm keine Antwort gab, blickte er betrübt hinab.

„Du bist sicher enttäuscht, dass Clayton gerade nicht vor dir steht…“ Fred stoppte abrupt im Satz, da Amelia ohne Vorwahrung auf ihn zugestürmt kam und ihm um den Hals fiel.

„Ich hatte solche Angst, Fred… Du glaubst gar nicht wie überglücklich ich bin, dass du mich retten gekommen bist. Danke, ich danke dir von ganzem Herzen, Fred…“, sprach sie liebevoll und ließ ihren Tränen nun freien Lauf. Unendlich gerührt und beruhigt von Amelias ungewohnter Warmherzigkeit ihm gegenüber, legte er sanft seine Arme um sie.
 

Aufgrund des starken Regens vergangener Nacht, hatten sich die Wiesen in eine reine Sumpflandschaft verwandelt. Doch Clayton ließ sich von seinem matschigen Untergrund nicht beirren und stand lässig an einem Baum, außerhalb von Dains Anwesen angelehnt und behielt die Umgebung im Blick. Die Nachricht des anonymen Meisterverbrechers, verbreitete sich unter den Bürgern Londons wie ein Laubfeuer. Und Scotland Yard hatte alle Hände voll damit zu tun, die aufgebrachte Meute vor dem Anwesen in Schach zu halten. Claytons Mundwinkel formten sich beim Anblick der dramatischen Szene, zu einem amüsierten Schmunzeln. Ausnahmsweise war er froh darüber, bei der Mission nur als Nebenfigur zu fungieren und nicht an vorderster Front mitzumischen. Er wollte sein unscheinbares Leben in der Schattenwelt noch weiter als Vorteil nutzen. Dennoch empfand Clayton William gegenüber Respekt, dass dieser seine wahre Identität freiwillig der Welt präsentierte. Sein unabänderbares Opfer für den Erfolg seines Vorhabens. `Der Moment deines großen Auftritts ist gekommen, Sherlock Holmes. Schnapp ihn dir, der Meister aller Verbrechen gehört dir. Und rette die funkelnde Perle aus dem pechschwarzen Abgrund, ehe ihr Leuchten auf ewig erlischt. Zwar bleibt er ungeschlagen, aber neidisch auf seine selbstzerstörerische Rolle bin ich nun wirklich nicht…`, dachte er melancholisch, während er sich die Bilder des weiteren Verlaufs in Gedanken ausmalte. Geduldig wartete er bei seinem versteckten Posten seitlich des Anwesens und würde Amelia und Fred eine sichere Flucht ermöglichen, bei der sie unentdeckt blieben, damit William die komplette Aufmerksamkeit gelten konnte. Für einen kurzen Augenblick unterbrach er seine gelockerte Haltung und spannte seinen gesamten Körper an, als er Schritte einer Person hinter sich hörte, die durch das matschige Gras marschierte und mit etwas Abstand neben ihm zum Stillstand kam. Claytons Hand wanderte bereits zu seinem Degen, doch es gelang ihm mehr oder minder, sich mittels ruhiger Atemzüge einigermaßen zu beherrschen.

„Heute Nacht haben wir Blutmond, Clay. Mittlerweile wurde derart viel Blut vergossen, dass der gesamte Mond darin getränkt werden könnte. Ein wahres Kunstwerk, das Spiegelbild unserer verdorbenen Welt, oder?“

„Vielleicht solltest du von Zeit zu Zeit mal selbst in den Spiegel schauen, dann siehst du wer hier wirklich verdorben ist, Harley… Da dir die Rolle des heimtückischen Zuschauers so viel Genuss bereitet, werde ich dir ein Bühnenstück präsentieren, welches dir wortwörtlich die Luft zum atmen rauben wird. Dein hochgeschätzter Blutmond, kann bald dank dir wahrlich erstrahlen…“, blaffte Clayton mit zusammengekniffenen Augenbrauen und versuchte seine Stimme, trotz seines Zornes einigermaßen gedämpft zu halten.

„Hach, deine wärmenden Worte schmeicheln mir wie eh und je! Bei deinem finalen Bühnenstück, werde ich einen Platz in der vordersten Reihe belegen, das verspreche ich dir. Aber gib Acht, ob es überhaupt noch so weit kommen mag? Ich habe nämlich den Eindruck, du seist etwas zu festgefahren in deiner Fantasie. Dies könnte dir zum Verhängnis werden… Als erfahrener Schauspieler müsstest du doch gelernt haben, dass im Theater häufig improvisiert wird. Auch andere machen sich das zu Nutze, mein Guter… Und denke immer daran, wer der Hauptsponsor des Waisenhauses ist…“, erwiderte Harley daraufhin unbeeindruckt und schenkte ihm ein düsteres Lächeln.

„Nur ein herzloser Teufel, würde unschuldige Kinder wieder auf die Straße setzen. Ach ich vergaß, ich spreche ja gerade mit einem… Aber ich habe alles aus eigener Kraft erreicht, ganz ohne Vermögen und Adelstitel. Das sollte ich doch beweisen, oder etwa nicht? Doch meine mir zugänglichen Möglichkeiten, habe ich noch nicht vollends ausgeschöpft. William gab mir eine Menge Inspiration musst du wissen…“, ging Clayton widerwillig weiter auf ein Gespräch mit seinem Erzfeind ein und sein Blick wanderte flüchtig vom Anwesen zu ihm hinüber. Er würde sich selbst niemals verzeihen können, wenn aufgrund seiner Unaufmerksamkeit etwas bei der Mission schiefginge. Allerdings vermittelte Harley ihm nicht den Eindruck, dass er gekommen war um Unruhe zu stiften. Sein plötzlicher ernster Gesichtsausruck verwunderte ihn beinahe.

„Wenn dem so ist müsstest du eigentlich am besten wissen, was unser fortschrittliches Land vergiftet. Nur die kleine Minderheit profitiert vom Wohlstand. Forschung und Wissenschaft werden gnadenlos ausgenutzt. All die klugen Köpfe, sind nur die unscheinbaren Sklaven im Hintergrund. Ich könnte aus dir einen erfolgreichen Physiker machen, vor dem die Menschen jeden Standes, aus Ehrfurcht vor dessen Wissen und Macht niederknien. Du brauchst nur den Willen dazu und mit mir gemeinsam das Herz des wahren Übels zu vernichten. Zusammen würde uns das problemlos gelingen. Es fühlt sich unbeschreiblich greifbar an, so detailgetreu vermag ich es mir vorzustellen…“, schwärmte Harley überheblich. Clayton stieß einen langen Seufzer aus und musterte ihn nun doch etwas eindringlicher. Selbst in der Dunkelheit besaß Harley ein stattliches Antlitz und eine beinahe königliche Würde. Obwohl er sich keinesfalls etwas auf seine hohe Position einbildete. Dieser Mann hatte am eigenen Leib erfahren, wie hart es sein kann für Erfolg zu arbeiten und genau jene Erfahrung erwartete er selbst auch von anderen um diese anzuerkennen.

„Warum ist dir die Monarchie ein Dorn im Auge, Harley? Die Menschen mit königlichem Blut kennen ebenfalls Leid und sind an Regeln und Pflichten gebunden, welche sie an eine Verantwortung fesseln, die keiner von uns freiwillig tragen möchte… Ehe ich mich mit dir verbünde und bei deinem selbstsüchtigen Krieg mitmache, beschwöre ich ihn lieber herauf, den gemeinsamen Untergang der Familien Granville und Fairburn. Die Familien Moriarty und Holmes sind die Hoffnungsträger der Gesellschaft. Du bist hier derjenige, der am wenigsten fortschrittlich denkt. Ein Drahtseilakt zwischen Fantasie und Realismus, ist eine hohe Kunst welche nicht jedem gelingt…“, brachte Clayton voller Selbstüberzeugung seine Meinung zum Ausdruck und hoffte, dass er nicht noch länger durch Harleys Anwesenheit gestört wurde.

„Wie du meinst… Dann soll deine Zukunft, ebenfalls in den Flammen des Krieges verbrennen. Lassen wir das Schauspiel fortfahren und begraben wir diesen Akt, als unsere letzte Konversation mit `Anstand`. Grüße deinen Vater von mir. Vor meinem geistigen Auge, sehe ich noch immer sein Blut an deinem Degen kleben. Und ich glaube kaum, dass er seinem Mördersohn vergeben wird…“, verabschiedete Harley sich nun höhnisch und ließ sich nicht anmerken, ob er nun zufrieden oder enttäuscht über den Ausgang ihres Gesprächs war. Clayton lief vor Wut rot an und zog mit einem blitzschnellen Handgriff seinen Degen. Doch anstatt den sich entfernenden Harley zu attackieren, trennte er einige Äste des Baumes neben ihm ab. Dabei biss er die Zähne fest zusammen, denn sonst wäre ihm ein wilder Zornesschrei entglitten, der all seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte.

„Rasch raus hier! Wir sind bereits im Verzug! Gleich wird die protzige Bude abgefackelt!“, rief ein vorausstürmender Moran, der aus einem der Fenster heraus gesprungen kam.

„Immer müssen wir alles niederbrennen… `Dies ist die effektivste Art Beweise zu beseitigen`, ich weiß… Aber spielt das jetzt überhaupt noch eine Rolle, wo wir ohnehin mit offenen Karten spielen?“, murmelte Fred hinter ihm etwas verdrießlich. An seiner Seite befand sich Amelia, welche Dains junge Tochter an der Hand hielt die kläglich weinte.

„Ich gehe nicht ohne meinen Bruder! `Er´ hat gesagt das ich ihn beschützen muss! Und das werde ich auch! Meine Eltern wurden mir genommen, aber mein Bruder… Nein…ich will nicht allein sein!“, flehte Viola verbittert und versuchte sich mit ihren schwachen Kräften von Amelia loszureißen.

„Tut mir ja wirklich leid Kleine, aber wir haben bereits alles abgesucht und konnten ihn nirgends finden. Das habe ich nun schon zig mal widerholt. Doch zwei unserer Freunde sind noch im Anwesen und werden deinen Bruder ganz bestimmt rausholen. Bald seid ihr also wieder vereint“, log Moran leicht genervt, um das jammernde Mädchen ruhig zu stellen. Fred blickte Viola mitleidvoll an und war dabei erzürnt über Morans mangelndes Taktgefühl und fehlende Geduld.

„Ich werde noch mal hineingehen. Wir haben nicht gründlich genug gesucht. Ich finde deinen Bruder, das verspreche ich dir, Viola“ Fred war schon drauf und dran erneut im Anwesen zu verschwinden, doch ein entschlossener Handgriff auf seiner Schulter hielt ihn davon ab.

„Ich übernehme das. Du hast dich bereits genug in Gefahr gebracht. Nun bin ich an der Reihe mit meinem Auftritt. Beschütze du Amelia und das Mädchen für mich vor diesem groben alten Henker“, sprach Clayton mit ernster Miene. Nach seinem aufwühlenden Gespräch mit Harley, konnte er ohnehin nicht mehr länger die Füße still halten und wollte eine Aufgabe übernehmen, die ihm in seinen Augen gerecht erschien.

„Du kannst jetzt nicht einfach da drin herumspazieren! Wenn du mit abgefackelt wirst, geht mir das am Allerwertesten vorbei! Aber William darf niemand in die Quere kommen. Was wenn du von einem der Schaulustigen gesehen wirst? Halb London lungert hier herum. Denke an deine Verpflichtungen gegenüber dem Moriarty-Plan! Und ich dachte du würdest bloß Mädchen retten und all die hilflosen Jungen lässt du elendig verrecken!“, brüllte Moran mit unterstreichenden Armbewegungen. Clayton ließ sich von seinen zurechtweisenden Worten nicht beeindrucken und seine blauen Augen fixierten ihn lediglich kurz mit einem gehässigen Funkeln.

„Ich kann mich nicht entsinnen, irgendwelche Verpflichtungen euch gegenüber zu haben! Fahrt zur Hölle mit euren ach so perfekten Plänen! Reize mich besser nicht noch mehr, `Oberst`! Mein Zorn ist bereits auf seinem Höhepunkt angelangt. Und Befehle eines gefallenen Soldaten, nehme ich erst recht nicht entgegen! Nimm lieber wieder deine Knarre in die Hand und knall weiter deine `Feinde` ab! Allein dafür bist du zu gebrauchen!“, fluchte Clayton ungehalten, wobei ihm seine Respektlosigkeit gegenüber dem gestanden Soldaten, welcher die Narben des Krieges im Herzen trug, völlig gleichgültig war und sprintete in das Anwesen, ehe ihr Streit eskalierte. `Louis und Irene haben die Residenz garantiert ebenfalls bereits verlassen. Nur William wird aus den Flammen der Verdammnis emporsteigen und sich vor dem unwissenden Volk entblößen… Aber warum hat keiner über einen sichereren Rettungsplan für die Kinder nachgedacht…?` Trotz des Zeitdrucks, versuchte Clayton strukturiert bei seiner Suche nach dem Jungen vorzugehen und hoffte dadurch eine höhere Erfolgschance zu haben. Da gab es plötzlich einen explosionsartigen Knall und grelle Flammen erhellten seine Umgebung. Kurz kniff er die Augen zusammen und hielt seinen Arm vor das Gesicht, um sich vor dem blendenden Licht zu schützen. Doch selbst der tödliche Rauch und die brennende Hitze konnten ihn nicht von seiner Suche abhalten. Von Raum zu Raum rannte er, aber nirgends war ein Lebenszeichen des Jungen zu entdecken und das Feuer um ihn herum breitete sich weiter bedrohlich aus. Für einen Moment hielt er inne, als er die Leiche von Dain Eldridge auf dem Fußboden erblickte. Auf einmal vernahm er ein leises Schluchzen, welches in dem Knistern des Feuers beinahe unterging. Eilig lief er zu einem offen stehenden Raum, in dem vor einem Balkon Dains Sohn stand. Um ihn herum warteten die Flammen nur darauf, seinen zierlichen Körper zu verschlingen. Zu Claytons Überraschung hatte der Junge ihn bereits bemerkt und drehte sich mit einem Gesichtsausdruck zu ihm herum, in dem keinerlei Furcht und Verzweiflung vorzufinden war. Viel eher stand ihm eine Gleichgültigkeit ins Gesicht geschrieben, die ihr Schicksal akzeptierte. Für einen etwa achtjährigen Jungen war es untypisch, aufgrund der misslichen Lage nicht in Panik zu geraten.

„Mein Vater hat schlimme Dinge getan… Ich habe davon gewusst, doch hüllte mich in

Schweigen… Und nun ereilt uns alle dieselbe gerechte Strafe… Ein Verbrechen zu vertuschen ist ebenso schwerwiegend, wie selbst eines zu verüben… Ich bin bereit das Fegefeuer der Hölle zu betreten, werden Sie mich dorthin geleiten…?“, sprach der Junge mit einer fast harmonischen Stimme und sein unbekümmertes Lächeln, ließ Clayton trotz der glühenden Hitze das Blut in den Adern gefrieren.

„Ich werde dich aus der Hölle, zurück nach draußen in das Leben geleiten… Deine Schwester Viola wartet auf dich! Hast du sie etwa vergessen?! Raus hier jetzt, sonst wird uns beide, das Fegefeuer wirklich zu einem Häufchen Asche niederbrennen!“, versuchte Clayton den Jungen aus dessen pessimistischen Trancezustand wachzurütteln und zog ihn hastig am Arm zu sich.

„Vorsicht!“ Kurz nach Claytons Warnruf, wurde der schmale Balkon aufgrund des Feuers zum einstürzen gebracht. `Wir müssen einen einigermaßen sicheren Weg hinaus finden. Aus dieser Höhe kann ich mit dem Kind aus keinem Fenster springen…` Ohne länger nachzudenken, machte er kehrt und zog dabei den Jungen an der Hand hinter sich her, welcher glücklicher Weise keinen Widerstand leistete. Zusammen bahnten sie sich einen Weg durch das niederbrennende Anwesen und Clayton blieb nichts anderes übrig, als die Treppe hinunter zur Eingangshalle zu wählen.

„Mörder!“ Aus dem Nichts sprang plötzlich ein finster dreinblickender Mann auf ihn zu, der erbarmungslos eine Pistole auf ihn richtete. Ehe dieser abdrücken konnte, durchbohrte Clayton dessen Brust mit seinem Degen. `Stürmen jetzt schon vereinzelte Bürger hier hinein und holen sich freiwillig den Tod…?! Scotland Yard ist wirklich über die Maße unzuverlässig…`, dachte er verdrießlich und blickte verschreckt zu dem Jungen hinab, welcher stark hustend nach Atem rang.

„I-ich…kriege k-keine…Luft…“, keuchte er heiser und begann zu schwanken. Clayton nahm ihn auf den Arm und sprang in Höchstgeschwindigkeit die Treppenstufen hinab. Die unerträgliche Hitze trieb ihm selbst Schweißperlen auf die Stirn und der stickige Rauch brannte unerträglich in seiner Lunge. Im Zentrum der Eingangshalle stand eine Person, hervorragend wie ein dunkler Schatten in all den grellen Flammen, die sich langsam in Richtung Tür in Bewegung setzte. Doch deren goldblondes Haar wirkte wie ein rettender Stern, der einen zum Ausgang des endlosen Tunnels geleiten sollte. Dennoch drosselte Clayton nicht sein Tempo und rannte ebenfalls weiter, auf den rettenden Ausgang der Hölle zu.

„Clayton…“, hauchte William leise dessen Namen und für einen kurzen Moment konnte man erkennen, wie ein Funken zögernder Unsicherheit in seinen rubinroten Augen aufflackerte. Er verharrte regungslos auf der Stelle und ließ Clayton an sich vorbeilaufen.

„Verzeih mir, William, aber ich muss den Jungen retten…“ `Lass mich bitte draußen einfach unauffällig verschwinden. Bis jetzt ist mir dies immer gelungen… Wie töricht von mir… Ich rase geradewegs auf eine Bühne mit hochgezogenem Vorhang zu…` Mit einem letzten gewaltigen Sprung, sprang er hinaus ins Freie, wo der Junge rasend schnell die rettende Luft einatmete. Wenige Sekunden später und er wäre im Gebäude erstickt. Dains Sohn befand sich außer Lebensgefahr. Doch dafür schnürte sich Clayton die Kehle zu, als er sich seines pompösen Publikums bewusst wurde. Er fühlte sich den Blicken von unzähligen Dämonen hilflos ausgesetzt, die sein Leib in Stücke zerreißen wollten Mit wild klopfendem Herzen, versteckte er seinen blutgetränkten Degen hinter dem Rücken.

„Raus mit der Sprache, Mr Holmes! Wir haben lange genug nach der Pfeife dieses Unruhestifters getanzt! Welcher Name soll den nun auf seinem Grabstein stehen?!“ Sherlock hielt seinen Blick gesenkt und warf seine qualmende Zigarette vor das brennende Anwesen. Ohne Hast hob er den Kopf und richtete seinen Blick mit einer schaurigen Düsternis in den Augen geradeaus.

„Meine Gentleman, er steht vor Ihnen! Der Meisterverbrecher, Clayton Fairburn!“
 


 

Liebes Tagebuch, 7.6.1881
 

Der Regen hatte nur eine flüchtige Abkühlung gebracht. Ich spüre bereits die Hitze des nächsten Feuers… Hier warte ich nun, die Anspannung ist kaum zu ertragen. Ich habe mich freiwillig dafür entschieden, mit Albert und Miss Moneypenny im Anwesen zu bleiben. Denn ich gestehe, dass meine körperliche und geistige Kondition, für den Umfang der Mission nicht ausgereicht hätten. Albert bleibt an meiner Seite, da ein möglicher Überfall auf unser Anwesen nicht auszuschließen ist. Und Sherlock ist unserer Freundschaft treu geblieben. Mir fällt wirklich ein Stein vom Herzen. Es war für mich ein unsagbar unangenehmes Gefühl, als ich Will berichtete, was am Abend auf dem Ball geschehen war… `Sagte ich nicht, dass sich alles von alleine ergeben wird? Euer Vertrauen zueinander, ist stärker als jede Gesetzesgewalt…` Viel mehr hatte er dazu nicht gesagt. Sein gelassenes Lächeln…enttäuschte mich fast etwas. Immer öfter habe ich den Eindruck, dass er seine wahren Gefühlte vor mir verbirgt. Was kann ich nur tun, um ihm seine erdrückende Last wenigstens etwas abzunehmen…? Und was geschieht wohl, wenn die ganze Welt nun die Identität des Meisterverbrechers kennt…? Jedoch sagt mir mein Gespür, dass die Menschen sich bald über ein ganz anderes `Problem` , weitaus größere Sorgen machen werden… Es braut sich ein Sturm zusammen, in dessen Zentrum Harley Granville die Fäden zieht. Dennoch wird nicht er der alleinige Grund sein, dass ein Krieg auszubrechen drohen wird. Zeit das sich das Königshaus und die Regierung erheben und ihr strategisches Geschick demonstrieren. Sonst ist das Militär drauf und dran, seine eigenen Befehlshaber zu überrollen. Wie immer bleiben mir momentan nur die Geduld und das Vertrauen in meine Kameraden. Was ich mir zudem erhoffe ist, dass meine Freundschaft zu Emily und John ebenfalls bestehen bleibt, wenn sie die Wahrheit erfahren haben…
 

Der Fluch im Spiegel
 

Nun lege ich all meine Waffen nieder,

entspanne den Geist und meine Glieder.

Die ewige Flucht macht mich träge,

ich dachte es sei ein Fluch der auf mir läge.
 

Für mich bist du wie ein Spiegel,

ich sehe wie ich verkomme hinter Schloss und Riegel.

Du führtest mich auf eine falsche Fährte,

dies ist was mich jenes Schicksal lehrte.
 

Der Frieden erschien mir so unglaublich kostbar,

die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, mir ist dies klar.

Gehorsam verpflichtete ich dir meine Treue,

wie sehr ich mich auf den Anfang vom Ende freue.
 

Ich bin mir selbst mein größter Feind,

aufrichtige Liebe kann fortbestehen wie mir scheint.

Schenken wir uns gegenseitig die Freiheit,

es steht ein gefahrloseres Leben für uns bereit.

Garten der Erinnerungen

„Amelia! Was wollen all diese Menschen vor der Tür? Sind wir nun für immer hier eingesperrt und dürfen nie wieder draußen spielen?“

„Müssen wir etwa von hier weg? Wir haben kein anderes Zuhause mehr!“

„ Ich habe Angst, Amelia! Warum sind die Menschen so böse? Keiner von uns hat doch etwas falsch gemacht!“ Mit einer unerträglichen Ratlosigkeit, blickte Amelia mit ihren betrübten braunen Augen, in die verzweifelten Gesichter der unschuldigen Mädchen, welche sie verängstigt umringten.

„Niemand von euch hat einen Fehler begangen. Die Menschenschar ist aus einem anderen Grund hier…“, sprach sie zögerlich und wusste das es hoffnungslos war, die Kinder mit kurzweiligen Lügengeschichten zu beruhigen.

„Clayton wird doch niemals zulassen, dass man uns von hier vertreibt, oder…oder?“, fragte eines der Mädchen mit weinerlicher Stimme.

„Ich…ich…“ Amelia blickte flehend hinauf zu dem Raum, in welchem Clayton sich seit vielen Stunden verschanzt hatte. In seinem abgelegenen Turm hätte er Zuflucht finden können, ohne so schnell gefunden zu werden. Dennoch beharrte er darauf, den wehrlosen Kindern ein Schutzschild zu sein und ihren Wohnsitz zu verteidigen…

Wie versteinert verharrte Clayton auf der Stelle und starrte abwesend die aufständische Meute vor dem Eingangstor des Waisenhauses an. Sein unbekümmertes Grinsen verwischte jegliche Spur von Bedrängnis. `Herzlichen Dank, Herr Meisterdetektiv, dass du mich für die Rolle des Sündenbocks auserwählt hast. Eigentlich hätte ich einen solchen Ausgang kommen sehen müssen. Doch mein Guter, gerettet ist damit niemand. Das ein anderer Williams Sünden ausbaden muss, wird nun seinen durchtriebenen Enthusiasmus vollends entfachen. Wohlan, ich spiele vorübergehend mit, aber zu meinem eigenen Vorteil. Denn allmählich ist es an der Zeit ernst zu machen, ehe ganz London in den Flammen des Zwiespalts untergeht. Verzeih mir Amelia, doch langsam solltest du dich von mir loslösen. Du bist jetzt nicht mehr allein. Danke für deine langjährige Treue mir gegenüber und das du gemeinsam mit mir den Pfad der Dunkelheit beschritten hast… Noch ist es aber zu früh für eine Abschiedsrede. Das Stück `Verbrechen zwischen Gut und Böse` ist beinahe fertig um die Bühne einzuheizen. Dieses Glanzstück wird den Bürgern noch präsentiert, dafür geht Matador Muscari über Leichen…`

Die Kinder hielten alle zeitgleich den Atem an und starrten mit erwartungsvollen Blicken hinauf, als oberhalb energisch die Tür aufgerissen wurde.

„Nun aber Schluss mit dem Unfug! Wenn die barbarischen Herrschaften unbedingt Aufsehen, durch ihr unprofessionelles Theater erregen wollen, sollen sie sich doch bitte bei mir für die Bühne bewerben, wo sie anständigen Unterricht erhalten!“, sprach Clayton betonend und lief zielstrebig auf die Eingangstür zu.

„Clay…“ Mit sanftem Lächeln faltete Amelia ihre Hände vor der Brust zusammen und war heilfroh für Claytons unzerstörbare Stärke, die ihn niemals aufgeben ließ und den Kindern Mut und Hoffnung spendete. Und auch für Amelia würde er immer ein strahlender Stern am finsteren Horizont bleiben. Er war ihr Vorbild und Retter, ein Mensch für den sie mehr Bewunderung empfand, als für jeden anderen. Doch allmählich akzeptierte sie, dass er ihre

Liebe nie erwidern würde. Ihr Herz befreite sich langsam von dem erlittenen Schmerz und öffnete sich in einem gemächlichen Heilungsprozess, für die angenehmeren Gefühle im Leben. Energisch riss Clayton die Tür auf, wobei die aufgebrachte Menschenmenge abrupt verstummte und ehrfürchtig vor seiner Erscheinung zurückwich.

„Da ist er, Ihr heißbegehrter Meisterverbrecher! Ich brauche mich nun nicht mehr zu verstecken und Sie haben die Ehre, mich aus nächster Nähe zu bewundern! Doch heute dürfen Sie leider keine atemberaubende Vorstellung meinerseits erwarten. Da müssen Sie sich bis zur Mitternachtsvorstellung gedulden. Jetzt gilt meine Aufmerksamkeit erst mal den eingeschüchterten Kindern. Dies haben Sie sich selbst zu Schulden kommen lassen…“, sprach Clayton voller Inbrunst, wobei seine Tonlage von einer heiteren Stimmung, zu einer abgeneigten Gehässigkeit wechselte.

„Sie sind ein gnadenloser Mörder! Das Blut etlicher Menschen haftet an Ihren Händen!

„Ihre Sünden können niemals beglichen werden! Erhängt den Teufel!“

„Die entführten Kinder werden wir aus Ihrer Gewalt befreien!“

„Wo ist Sherlock Holmes? Wollte er nicht dafür sorgen, dass dieser Abschaum für den Rest seines Lebens hinter Gittern landet?!“

„Und warum hält Scotland Yard ebenfalls die Füße still? Was hält die ach so gewissenhaften Gesetzeshüter davon ab, den meistgesuchtesten Verbrecher einzubuchten?! Da sind ausnahmsweise einmal alle derselben Meinung, ob nun Adel oder gewöhnlicher Arbeiter!“

Clayton biss verbittert die Zähne zusammen und schluckte seine angestaute Wut, bei all den hasserfüllten Beschimpfungen hinunter.

„Das reicht! Hört auf damit, alle! Clayton hat die Kinder gerettet und ihnen ein neues Zuhause geschenkt, eine Zukunft… Die meisten der Mädchen…wären wahrscheinlich sonst längst, aufgrund der qualvollen Lebensbedingungen umgekommen…“ Amelia kam entrüstet herbeigerannt und verteidigte voller Empörung die Taten ihres Retters.

„Amelia Liebes, bei diesen werten Herren, stößt du mit deiner gutgemeinten Wahrheit, lediglich auf taube Ohren. Ich verkörpere nun die Rolle des Bösewichten, auch daran ist sehr viel Wahres. Wir wollen doch endlich eine gerechte Welt, oder nicht? Es wäre schon sehr ungerecht, wenn ich ungestraft davonkommen würde…“, besänftigte Clayton sie lächelnd und hielt sie mit einer raschen Handgeste davon ab, lautstark Protest zu erheben, da er für zusätzliche Morde beschuldigt wurde, welche er nie begangen hatte.

„Sie haben Ihr durchtriebenes Schauspiel, sowohl auf der Bühne als auch auf den Straßen Londons, wahrlich makellos zur Schau gestellt. Dafür werden Sie noch von den zukünftigen Generationen gleichzeitig geachtet und gefürchtet…“ Ein etwas jüngerer Mann ergriff das Wort, welcher ein wenig zögerlich wirkte. Clayton blickte den Jüngling, bei dem es sich um einen Studenten handeln musste, mit einem gerissenen Grinsen an.

„Das ich meine Schauspielkunst perfektionieren durfte, habe ich meinem Lehrmeister zu verdanken. Aber nicht nur die Kunst des Schauspiels lehrte er mich, sondern auch die Kunst des Tötens… Vortrefflich für die Rolle eines Meisterverbrechers, nicht wahr? Ich hätte ihn nur zu gern mit Ihnen vertraut gemacht, doch leider ist er bereits von uns gegangen… Genug der Förmlichkeiten. Um euer unersättliches Verlangen nach Rache zu stillen, dürft ihr meinetwegen wie besessene Barbaren über mich herfallen. Aber wenn einer von euch Grobianen den Kindern auch nur ein Haar krümmt, spürt ihr wie die Klinge meines Zornes, sich durch das Herz eines jeden einzelnen von euch bohrt…“, sprach Clayton einschüchternd an die auflauernde Meute eine Warnung aus. Ein beratendes Murmeln ging durch die Menge, um sich darüber auszutauschen, wie sie gegen den unzähmbaren Meister der Verbrechen weiter vorgehen sollten. Mit stockendem Atem kamen die versammelten Bürger zum Schweigen, als ein unvorhergesehener lauter Schuss ertönte.

„Dieser Mann darf für seine schweren Verbrechen verurteilt werden, nicht aber für seine wohltätige Arbeit. Ohne Adelstitel hat er mehr für London getan, als so manch ein Adeliger. Wer durch grobe Gewalt im Waisenhaus oder Theater auffällt, wird ohne lange Debatte, aufgrund des Verstoßes gegen das Öffentlichkeitsgesetz, für unbestimmte Zeit inhaftiert. Dies gilt solange bis der Gerichtsbeschluss, die Strafe für Clayton Fairburn festgelegt hat. Sie dürfen diese Entscheidung in Frage stellen, doch das letzte Wort hat nun mal die Regierung. Zwar bin ich ein nicht zu verachtender Teil davon, doch weder ich noch Mr Holmes haben die alleinige Bestimmungsgewalt…“ `Harley… Du nutzt auch wirklich jede erdenkliche Gelegenheit geschickt aus, um dich in den Vordergrund zu drängen. Aber gib’s auf, von dir lass ich mir kein Honig ums Maul schmieren…` Clayton blickte Harley unbeirrt an und blieb weiterhin tiefenentspannt stehen. Denn ihm war bewusst, dass ein plötzlicher Wutanfall seinerseits, Harleys entgegenkommendes Urteil zunichtemachen würde. Das unzufriedene Gemurmel der Bürger, war bereits Grund zur Sorge genug. Doch der Auftritt des Premierministers hemmte die Angriffslaune der Menschen, welche sich allmählich einer nach dem anderen vom Tor des Waisenhauses entfernten. Nachdem endlich wieder vorübergehend Ruhe eingekehrt war, schritt Harley ein Stück auf Clayton zu, wobei Amelia ihn teuflisch anfunkelte. Jedoch hielt sie ihre Missgunst, mittels eines ordentlichen Maßes an Selbstbeherrschung unter Kontrolle.

„Erwarte jetzt bloß keine Worte des Dankes von mir… Aber ich respektiere deine Einmischung, wenn es dir dabei um den Schutz der Kinder geht und darum das die Darsteller im Theater nicht ihre Arbeit verlieren…“, zwang Clayton sich verkrampft dazu, ein paar Worte der Anerkennung auszusprechen. `Mir passt dein Sinneswandel gar nicht… Tu nicht so heuchlerisch, als seist du schon immer derart aufrichtig und rechtschaffen gewesen… Doch was mich am allermeisten aufregt, ist das es kein trügerisches Gehabe deinerseits ist, sondern du es ehrlich meinst. Nichts kann dadurch jemals ungeschehen gemacht werden und unsere Ziele bleiben davon unberührt. Ebenso…wie jedes physikalische Gesetz niemals gebrochen werden kann. Nenn mich ruhig weiterhin einen verlorenen Träumer, aber ich werde dir beweisen, dass in mir ein waschechter Realist steckt…`, dachte Clayton standhaft und wiederholte aufs Neue seinen sich selbst geschworenen Eid, als würde er sich bewusst einer Gehirnwäsche unterziehen.

„Ach Clay, diese alte Laier haben wir doch längst hinter uns. Du hast dich heute an die weisen Worte deines Meisters zurückerinnert…Scheinbar bist du nun endlich dem nächsten Kapitel deines Lebens gewachsen. Wappne dich, denn ich kann die Kinder und deine dir heilige Bühne nicht ewig schützen. Mycroft Holmes wird keine mildere Strafe für dich auswählen, nur weil er weiß wer der wahre Meisterverbrecher ist. An deinen Händen klebt derart viel Blut, dass du dich nicht in dessen Schatten zu stellen brauchst… Aber ich will dich nicht länger belehren. Nun wurdest du endgültig auf deiner wohlgeschätzten Bühne allein zurückgelassen. Wirklich bemitleidenswert… Bist du nicht in Wahrheit neidisch auf die Moriartys und deren Zusammenhalt? Zerschlage das Böse an seinen Grundwurzeln, ehe es dich vollends erwischt. Ich erwarte dich und deinen Kämpferwillen…“ Mit diesen provozierenden Worten, wandte Harley sich wieder mit einem flüchtigen Lächeln ab. `Ich dachte unser nervtötendes Geschwätz, hätten wir ein für alle Mal begraben… Du bist wahrlich ein Glückspilz, denn bald wirst du feststellen dürfen, dass meine Fechtkunst deiner ebenbürtig ist… `Ich bin nicht dein Feind, sondern das verwerfliche System dieses Landes und jene Menschen, welche dafür verantwortlich sind.` Es hilft auch nichts, wenn du mir das immer wieder indirekt einzubläuen versuchst. Neidisch.. Worauf soll ich denn bitteschön neidisch sein? William hat mich so behandelt, als würde ich seiner vertraulichen Organisation angehören und nannte mich wahrhaftig einen Freund… Dann bemühe ich mich mal darum, unserer Freundschaft keine Schande zu bereiten. Und ich bewahre sein Versprechen im Hinterkopf. Denn wenn mich jemand aufhält, soll nur er es sein…`
 

Miceyla blickte mit einer nachdenklichen Besonnenheit hinaus. Nach einigen sommerlichen Regenschauern, hatte die Luft sich wieder abgekühlt und die Natur rings um das Anwesen präsentierte sich in ihrem prächtigsten Grün Sie wählte seufzend eines ihrer älteren, schlichteren Kleider zum Ausgehen. Denn für den vor ihr liegenden Anlass fand sie es etwas unpassend, sich zu übertrieben aufzubrezeln. Einige Wochen waren nun, nach der mehr oder weniger fehlgeschlagenen Verkündung des Meisterverbrechers vergangen. Auf der einen Seite war Miceyla erleichtert, dass die Moriartys vorübergehend aus der Schusslinie genommen worden waren. Aber auf der anderen Seite durchlebte sie nun schlaflose Nächte, aufgrund ihrer Schuldgefühle gegenüber Clayton. Auf Kosten ihrer Freiheit, musste er sich jetzt unfreiwillig einer grausamen Tortur unterziehen. Da half es ihr auch nichts, wenn sie sich ins Gedächtnis rief, dass Clayton ebenfalls schwere Verbrechen begangen und etliche Menschen getötet hatte. Miceylas Herz besaß einfach zu viel Mitgefühl. `Clayton hat sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um Dains Sohn aus dem brennenden Anwesen zu retten. Von Anfang an wusste ich das er ein guter Mensch ist und sich nicht vom Bösen kontrollieren lässt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass seine Rache an Harley, noch immer die höchste Stellung in seinem Leben einnimmt…`, dachte Miceyla, doch was ihr weitaus mehr Sorgen bereitete war, dass William nun nicht sonderlich gut auf Sherlock zu sprechen war. Sein Einsatz in Kombination mit Claytons, war schuld an der misslungenen Offenbarung. Eine außerplanmäßige Veränderung missfiel ihm natürlich. Doch auch er empfand Freude für ihre gewonnene Zeit, was er nur so einfach niemals zugeben würde. Aber bei einer Sache waren alle in ihrer Organisation derselben Meinung. Sie mussten für ihre begangenen Verbrechen sühnen. Und wie das am Ende konkret ausgehen sollte, bereitete Miceyla ein beißendes Unwohlsein. Doch jetzt würde sie sich erst mal mit Sherlock, John und Emily treffen, damit letztere endlich die ganze Wahrheit erfuhren. William war ebenfalls zu der Runde eingeladen, jedoch wollte er sich erst bei einer späteren Gelegenheit dazu gesellen. Nicht weil er der unangenehmen Konfrontation aus dem Weg gehen wollte, sondern aus dem Respekt vor Miceylas engem Vertrauensverhältnis zu ihren Freunden.

„Guten Morgen, Miceyla. Das Frühstück ist fertig, du kannst nach unten kommen“, sprach eine freundlich lächelnde Miss Moneypenny an der geöffneten Tür.

„Ich bin gleich soweit. Und herzlichen Dank, dass du dich wieder um Evelyn kümmerst. Mit gütigem Lächeln verließ Miceyla schließlich das Zimmer und lief gemächlich die Treppenstufen hinab. Draußen im Garten entdeckte sie Louis und Fred, welche sich zusammen am farbenfrohen Blumenbeet unterhielten. Bevor sie sich in den Speisesaal aufmachte, lief sie hinaus, um die beiden zu begrüßen. Sanfte Sonnenstrahlen erheiterten die morgendliche Umgebung und verrieten, dass es später am Tag wieder wärmer werden sollte. Als Fred Miceyla erblickte, lief er ihr gleich mit einem aufgeweckten Leuchten in den Augen entgegen.

„Ich wünsche dir einen guten Morgen. Heute werde ich einige Besorgungen erledigen. Sage mir Bescheid, falls du auch etwas benötigst.“

„Das mache ich, danke Fred.“ Miceylas Blick wanderte zu Louis hinüber, der konzentriert das Unkraut zwischen den Blumen entfernte.

„Guten Morgen, Lous. Sie blühen alle prächtig. Du und Fred, ihr besitzt beide wahrlich einen grünen Daumen“, sprach die lächelnd und half ihm bei seiner Gartenarbeit, indem sie anfing die Blumen zu gießen. Vor einigen Monaten, hätte er sie mit einer scharfen Bemerkung darauf hingewiesen, ihn nicht bei der Arbeit zu stören. Doch nun schenkte er ihr ein sanftes Lächeln.

„Danke für deine Hilfe. Gemeinsam sind wir schneller fertig. Will und Albert mussten heute schon früh aufbrechen. Ich bewundere die beiden, dass sie weiterhin unbeirrt ihrer Arbeit nachgehen. Zum Glück geht das Leben weiter. Ich bin Sherlock dankbar, weißt du… Diese Schwäche ist wohl ein nicht zu vertuschendes Makel von mir… Was hältst du davon, wenn wir zusammen frühstücken?“, fragte Louis lächelnd und blickte kurz zu ihr hinüber.

„Liebend gern! Heute werde ich ebenfalls etwas länger unterwegs sein…“ Miceyla hielt verwundert inne, als Louis plötzlich kurz seine Arbeit unterbrach und ihr eine wunderschöne rosa-weiße Blume hinhielt.

„Die ist für dich. Das ist eine Amaryllis, sie steht für Anmut und Eleganz. Ich finde das diese Blume wunderbar deine herausragende Stärke und Loyalität unterstreicht, mit der du uns tagtäglich unterstützt. Ich…bin wahrhaftig froh darüber, dass du eine Moriarty bist…“, sprach Louis sanft und überreichte ihr mit leicht verlegenem Blick die bildschöne Blume. Sprachlos und gerührt von seinen ungewohnt gefühlvollen Worten, nahm Miceyla die Amaryllis entgegen und lächelte vor Freude und Glück.

„Danke… Die Blume ist wunderschön… Ich werde ihr einen ganz besonderen Platz auf meinem Schreibtisch vermachen“, bedankte sie sich mit friedvoller Stimme und ein Gefühl der beruhigenden Ausgeglichenheit breitete sich in ihr aus. `Nun akzeptierst du mich doch als ein vollwertiges Familienmitglied der Moriartys… Bitte lass dieses Glück noch für eine Weile anhalten, damit wir es alle gemeinsam genießen können…`, dachte Miceyla im Stillen und genoss einfach nur den idyllischen Moment.
 

Die Tür öffnete sich bereits von ganz alleine, ohne das Miceyla in der 221B die Türklingel betätigen musste. Doch es war nicht Emily welche sie begrüßte… Die Tür öffnete sich bereits von ganz alleine, ohne das Miceyla in der 221B die Türklingel betätigen musste. Doch es war nicht Emily welche sie begrüßte…

„Sei gegrüßt Nachtigall, deren Gesang in der düsteren Schattenwelt, die garstigen Kreaturen zu vertreiben versucht! Wage dich vor ins Licht, wo du beschützt sein mögest und dir das Böse nichts anhaben kann“, sprach Sherlock mit einer tiefen Stimmlage und sein ernstes Funkeln in seinen Augen, jagte ihr flüchtig einen eiskalten Schauer über den Rücken. `Du bist seit jeher ebenfalls ein beängstigend guter Schauspieler gewesen…`

„Es existiert kein reines Licht ohne Schatten. Der Einklang von beidem stellt nun mal nur eines dar, das Leben. Und ich bitte dich davon abzusehen, Clayton auf metaphorische Art zu imitieren. Das was du ihm angetan hast ist eine Sünde für sich. Du solltest dem Meister der großen Bühne, etwas mehr Respekt zollen. Insgeheim tust du dies bestimmt dennoch…“, erwiderte Miceyla mit einem verbitterten Lächeln und schubste ihn freundschaftlich zur Seite, damit sie eintreten konnte.

„Ha, ha, ha! Ich hab`s genau gesehen, du musstest dir ein Grinsen verkneifen! Ich mag nur verhindern, das du deinen guten Sinn für Humor verlierst. Das Leben ist ernst genug… Zudem ist die glorreiche Zeit des berühmtberüchtigten Matador Muscari bald vorüber. Der scharlachrote Vorhang wird auf die Bühne hinabfallen…“, offenbarte Sherlock mit leicht düsterer Miene.

„Wieso sagst du so etwas trauriges? Was soll diese finstere Prognose…?“ Noch ehe sie von ihm eine Antwort erhalten konnte, wurde sie stürmisch umarmt.

„Es tut mir ja so unendlich leid! Ich glaubte du hättest ein glückliches Leben begonnen, als du in eine adelige Familie eingeheiratet hast. Doch schmerzvolles Leid war dein täglicher Begleiter… Wie geht es Evelyn? Ich muss immerzu an dein bildhübsches Mädchen denken“, sprach Emily emotional und drückte sie fest an sich.

„Ach Miceyla, was bin ich erleichtert, dass Sherlock immer über dich gewacht hat. Die Moriarty-Familie hat eine schwere Bürde auferlegt bekommen. Doch deren Gerechtigkeitssinn hat mich schon immer fasziniert. Wir stehen dir mit Rat und Tat zur Seite. Dennoch werde ich Sherlock selbstverständlich stets den Vortritt lassen. Denn ich gestehe mir ein, dass er dich von uns allen am besten versteht und es ihm dadurch leichter fällt dich zu unterstützen.“ John befand sich nun ebenfalls an ihrer Seite und legte ihr Mut machend eine Hand auf die Schulter.

„Freunde… Was bin ich doch dankbar für euer Verständnis mir gegenüber. Für mich ist dies keineswegs selbstverständlich. Mein Schweigen verbarg die Lüge, welche ich begonnen hatte zu leben. Jedoch schwor ich, mir zu jeder Zeit treu zu bleiben. Und daher schäme ich mich für meine Ängste, ihr würdet mir bei der alles enthüllenden Offenbarung den Rücken kehren… Treue Freunde wie ihr es seid, sind mehr wert als alles Gold der Welt. Ich hatte immer versucht zu vermeiden, dass ihr in gefahrvolle Angelegenheiten mit involviert werdet. Niemals hatte ich vorgehabt euch auszugrenzen. Ich wollte euch schützen, weil ihr mir sehr viel bedeutet…“, sprach Miceyla sentimental und musst ein Schluchzen unterdrücken. Auch Emily und John, hatten vor Ergriffenheit nach ihren rührseligen Worten Tränen in den Augen.

„Meine werten Mitstreiter! Wollt ihr, dass unsere heutige Zusammenkunft ein Anlass zum Trauern wird? Ich denke doch nicht. Lasst uns erst mal hinauf gehen. Der Tee den Mrs Hudson vorbereitet hat wird ansonsten kalt, wenn wir hier noch länger rumstehen und Wurzeln schlagen“, lockerte Sherlock geschickt die getrübte Stimmung auf und scheuchte das Trio die Treppe hinauf.

„Ich kann von Glück sagen, dass Evelyn sich bester Gesundheit erfreut. Sie ist geschützt vor all dem Trubel um sie herum…“, begann Miceyla mit ausgeglichener Stimme zu erzählen, als sie alle gemeinsam am Tisch saßen. Und ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen, bei der Erinnerung an ihr erstes Treffen bei Sherlock und John zu Hause. `Abermals habe ich nun ein Geheimnis vor dir, Sherly… Oder kannst du erneut erraten, mit welchem Anliegen ich an jenem Abend zu deinem Bruder ging…? Mein Entschluss ist unverändert geblieben, denn für uns Moriartys ist die Gefahr noch lange nicht gebannt…`, dachte Miceyla insgeheim und wagte einen schweigsamen Seitenblick auf Sherlock zu werfen, der ihren Blick sofort erwiderte. Sie zeigte nur ein ungezwungenes Lächeln, ohne Furcht davor zu hegen, er könnte ihre Gedanken erraten.

„Aber was geschieht nun mit Clayton Fairburn? Ich befürchte, dass die Sorge vor einem bevorstehenden Bürgeraufstand, die Menschen mehr zu schaffen macht, als die Gewissheit einen korrupten Verbrecher auf freiem Fuß zu wissen…“, erkundigte John sich grübelnd.

„Es ist ganz simpel, unser Kasper wird nun in die Offensive gehen, um sein Ziel zu erreichen, der Schlange den Kopf abzuschlagen. Es wird ihn wenig kümmern, dass er dabei mit aller Wahrscheinlichkeit eine Schneise der Verwüstung hinterlässt. Denn deren kleinlicher Zwist hat längst diverse Unschuldige, mit in den tiefen Krater des Verderbens gerissen… Ich habe meinen Teil zu jener Problematik beigetragen. Nun werde ich für eine Weile die Füße still halten und sein letztes Bühnenstück aus sicherer Entfernung beobachten. Liam wird sich ähnlich verhalten. Denn mit Harleys Ableben, erlischt auch die Bedrohung eines heranrollenden Krieges. Und einem gerechten Friedensabkommen steht nichts mehr im Wege. Über kleinliche Unstimmigkeiten kann man immer noch verhandeln“, erläuterte Sherlock unbekümmert und nahm einen Schluck von seinem Tee. Unzufrieden über seine beiläufig wirkende Äußerung, wippte Miceyla unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

„Ich verstehe ja, dass wir uns künftig bei politischen Angelegenheiten eher in Zurückhaltung üben sollten… Jedoch… William ist beunruhigend schweigsam geworden. Seit ich ihn kenne, ist er ein Mann voller Tatendrang gewesen, der seine Ziele immerzu voller Enthusiasmus verfolgt hat. Aber sollte er nun etwas Gravierendes im Alleingang planen, ohne einen von uns darüber in Kenntnis zu setzen, war deine kurzfristige Rettungsaktion, ein kläglicher Schuss in den Ofen… Und Harley…seine Ideale ähneln den unseren, nur dessen Methoden nehmen ein einflussreicheres Ausmaß. Er kämpft für Englands Unabhängigkeit. Offenheit und Hilfsbereitschaft, sind das Aushängeschild einer gut funktionierenden Nation. Doch darf das nicht zur Schwäche werden. Ich denke…er beschuldigt die Monarchie, dass unserem in keiner Hinsicht ausbalancierten Klassensystem kein Einhalt geboten wird. Du weißt das ich mich nicht davor fürchte, meine Meinung laut auszusprechen. Die Bestärkung dafür bekam ich unter anderem von dir, Sherly… Nichtsdestotrotz steht es außer Frage, dass Harley Granville ein gefährlich unberechenbarer Mensch werden kann. In meinen Alpträumen verfolgt er mich noch immer durch die endlosen Highlands von Schottland. Doch die Erinnerung eines nostalgischen Dufts lässt mich stets erwachen. Nämlich der unverwechselbare Duft von Hortensien… Jedenfalls werde ich nicht so tun, als wäre die Zeit für uns stehen geblieben. Wir werden weiterhin in ihrem Strom mitgerissen, welcher uns all unserer Möglichkeiten beraubt, wenn wir nicht aufpassen…“, vertrat Miceyla mit selbstbewusster Miene ihren Standpunkt und erhob sich schwungvoll. Sherlock fixierte sie kurz mit seinem hellwachen Blick, eher er es ihr nachtat und sich mit einem genügsamen Lächeln erhob, als würde er sich seine Kapitulation eingestehen.

„Vertrau mir, den fatalen Fehler begehe ich nicht, eine tickende Bombe, welche sich die Zeit schimpft, aus den Augen zu verlieren. Sie umgibt uns, wir befinden uns unmittelbar in ihrem Zentrum. Es gibt kein Entkommen vor ihr… Keiner wird dich davon abhalten ins Theater zu gehen und ein Gespräch mit Clayton zu suchen. Es ist schließlich nach wie vor dein Arbeitsort. Nur wem er noch Zugang zum Waisenhaus gewährt ist fraglich. Er wird die Schotten dicht machen, um die Kinder zu schützen, was ich auch nicht verkehrt finde. Wir haben alle eine Wahl, vergiss das nur nicht…“, meinte Sherlock freundschaftlich und während ihres Innigen Blickkontakts, wünschten sie sich wohl beide insgeheim, sie wären Herr über den Fluss der Zeit.

„Natürlich haben wir das… Nun bin ich mir meiner Wahl bewusst, ich habe es bloß versucht zu verdrängen…“, flüsterte Miceyla als Erwiderung und hielt dennoch gedankenversunken den Augenkontakt mit ihm aufrecht.

„Wir werden dich immerzu unterstützen!“, wagte sich John nun dazwischenzureden, um die beiden daran zu erinnern, dass sie nicht allein waren.

„Wir eilen herbei wenn du in Not gerätst! Dafür lasse ich alles stehen und liegen!“, schloss Emily sich ihm ohne lange zu zögern an und nahm übereifrig ihre Hand.
 

Miceyla schloss die Hintertür des Theaters auf und lief ohne Umwege in das Atelier. Zu ihrem Glück stellte sich heraus, dass Clayton tatsächlich dort zugegen war und eifrig am Bühnenmaterial herumbastelte.

„Du bist früh dran. Ich bin hier noch eine Weile beschäftigt. Die Requisiten überprüfe ich immer noch mal persönlich. Unserer Stammtruppe kann ich vertrauen. Doch der ein oder andere hat es nun nur noch auf die üppige Gage abgesehen…“, murmelte Clayton beschäftigt, ohne dabei seine Arbeit zu unterbrechen und sie anzublicken.

„Das Skript ist fertig. Ich habe es eigenständig geschrieben, ohne mich beeinflussen zu lassen, so wie es dein Wunsch war. Verbrechen zwischen Gut und Böse, kann nach den nötigen Vorbereitungen aufgeführt werden. Die Rollenverteilung legst du fest“, teilte Miceyla ihm unmissverständlich mit und holte ein ordentlich zusammengeheftetes Manuskript aus ihrer Tasche hervor und hielt es Clayton entgegen. Nun gab es für ihn doch einen Grund ihr Aufmerksamkeit zu schenken und er blickte mit funkelnden Augen das Skript an, als handelte es sich dabei um einen wertvollen Schatz.

„Fabelhaft! Ich bin wahrlich stolz auf dich, mein Vöglein! Die Ehre sollte vollends dir gebühren, jenes bedeutsame Stück zu schreiben. Das kommt auch deinem Bekanntheitsgrad als Autorin zugute. Talente dürfen nicht hinter Bescheidenheit versteckt werden. Das heißt nun wird fleißig geprobt! Und keine Nörgeleien vor deinem Vorgesetzten wegen der Überstunden! Wir haben alle hart gearbeitet, um dieses Meisterstück aufführen zu können. Lass uns stolz darauf sein! Also rasch ans Werk! Ich komme später dazu…“, meinte Clayton beschwingt und blätterte kurz durch das Skript, ehe er sich wieder seinem egozentrischen Handwerk widmete. Miceyla war allerdings noch nicht gewillt ihn in Frieden zu lassen.

„Ich…ich habe noch etwas zu sagen… Dein Zorn sollte uns Moriartys und Sherlock Holmes gelten. Zwar bewundere ich deine Stärke, dass du unter der Last all unserer Sünden nicht erstickst. Aber keiner von uns wird vor der Rechenschaft davonlaufen, mag sie uns auch noch so hart treffen… Dies muss ich einfach noch mal betonen. Auch jetzt trägst du wieder eine Maske, ich erkenne es sofort. Ich kann nicht akzeptieren, dass du einen Schlussstrich ziehst und das Theater aufgibst. Du opferst deinen wahr gewordenen Traum für eine besessene Rache… Der Regenbogenschwingenpalast ist ein Ort der Wunder und unzählige Emotionen treffen hier aufeinander. Ein Ort der Gemeinschaft und für Amelia etwas…wie eine zweite Heimat. Denn dich lachend auf der Bühne stehen zu sehen, bedeute für sie wahres Glück. Ohne dich zerbricht dieses Glück… Und das strahlende Wunder, verblasst zu einem Funken verschwommener Erinnerung… Es kümmert mich nicht, wenn mein Gejammer dir gleichgültig ist. Doch du solltest am besten wissen wie es sich anfühlt, in das Herz eines anderen Menschen blicken zu können… Du leidest fürchterlich, Clayton… Lydia…könnte es nicht ertragen dich so zu sehen, wäre sie nun hier und dein Vater ebenfalls nicht!“ Miceyla verstummte mit hektischem Atem und bereute ihren emotionalen Gefühlsausbruch sogleich. Sie hatte vorgehabt taktvoller vorzugehen, doch manchmal musste die Wahrheit einfach ohne Ausschmückungen ausgesprochen werden. Clayton starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, als stünde nun ein ihm fremdes Gespenst vor ihm. Doch es befand sich weder Argwohn noch Hass in seinem erstarrten Blick. Nur ein nicht zu verbergendes Mitgefühl und der Funke von zermürbender Reue. Lächelnd erhob er sich, legte Miceyla behutsam eine Hand auf ihren Kopf und beugte sich etwas zu ihr hinab.

„Dann wird es wohl Zeit, dass ich wieder mit den Menschen vereint werde, die ich immer am meisten geliebt habe. Freude ist nur von kurzer Dauer. Wir bringen uns gegenseitig Glück und gleichzeitig aber auch zum Weinen. Verstehst du nun, weshalb ich seit jenem Tag mein Herz verschloss? Niemals mehr wollte ich diesen unerträglichen Schmerz noch einmal durchleben. Schimpf mich ruhig einen fliehenden Feigling. Danke, das mir die wunderschönen Blüte einer wahren Liebe demonstriert wurde, die eurer Liebe. Eine Liebe, die mächtiger ist, als das wovor sich ein jeder am meisten fürchtet…den Tod…“ Miceyla bekam bei seiner eindringlichen Stimme eine Gänsehaut und hatte das Gefühl, umso länger sie in seine tiefblauen Augen blickte, desto mehr entwich die Wärme ihren Körper und eine eisige Kälte übermannte sie. Jeglicher Wille für eine Erwiderung wurde ihr geraubt und sie ließ Clayton weiter seinem Handwerk nachgehen. Mit wirren Gedanken verließ Miceyla das Atelier und bemerkte verzögert, wie eine Gestalt ein Stück entfernt den dämmrigen Gang entlangrannte. `Uns hat wohl jemand belauscht…` Nach ihrer raschen Schlussfolgerung, nahm sie schnellen Schrittes die Verfolgung auf und hatte bereits eine erste Vermutung, um wen es sich dabei handelte. Miceyla glaubte flüchtig, die Person aus den Auen verloren zu haben, als sie in einer vollgestellten Kammer landete, bei der sie sich fragte, ob sie dort jemals zuvor einmal gewesen war. `Manchmal vergesse ich, wie viele Räume dieses Theater eigentlich hat…` Vorsichtig lief sie hinein und blickte sich prüfend um. Dort befanden sich einige menschenähnliche Statuen und Puppen, bei denen man meinte, sie würden jeden Moment zum Leben erwachen. Miceyla erblickte eine handgefertigte Porzellanmaske, die sie gespenstisch angrinste. Ganz langsam streckte sie ihre Hand danach aus und nahm die Maske an sich. Betrübt sah Miceyla drein, als sich ihre Vermutung bestätigte und sie in Amelias leidvolles Gesicht blickte.

„Ich schwor mir keine Tränen mehr für den Mann zu vergießen, der meine Liebe niemals erwidern wird… Und dennoch… So sehr ich mich auch zusammenzureißen versuche… Meine Gefühle sind mächtiger als mein Verstand. Miceyla…bitte sage mir, was soll ich tun?

Ich bin noch lange nicht bereit dazu loszulassen… Bitte befreie mich von dem Schmerz… Clayton hat so viele Leben gerettet. Ist es nicht an der Zeit, dass wir das seine retten?“, schluchzte Amelia mit Tränen verschwommenen Blick und packte in ihrer Verzweiflung die Arme von Miceyla, welche ihre eigenen Tränen vergebens zu unterdrücken versuchte.

„Oh Amelia… Auch ich spüre denselben Schmerz wie du… Das Leben kann unerträglich sein. Es mag nur ein kleiner Trost sein, aber du bist nicht mehr allein. Ich werde immer für dich da sein. Du bist für mich wie eine kleine Schwester und egal was auch passiert, ich sorge dafür, dass du bei uns Moriartys Zuflucht finden wirrst. Und du weißt, dass es noch jemanden gibt, dem du sehr viel bedeutest. Darum lass uns stark bleiben, Amelia. Lass uns gemeinsam für die Menschen kämpfen, die wir lieben. Kein Feuer kann uns jemals mehr voneinander trennen…“, versuchte Miceyla das leidende Mädchen wenigstens etwas zu beschwichtigen und zog sie in ihre Arme, wobei sie hemmungslos weiter weinte. Miceyla strich tröstend über ihr blondes Haar und plötzlich begannen ihre Gedanken um Albert zu kreisen. `Das Herz blutet ganz fürchterlich, während man sich für einen Menschen aufopfert, doch dieser die Liebe nicht erwidert… Manche Gefühle ändern sich niemals, jedoch… Es ist nun schon eine Weile her, seitdem ich Albert das letzte Mal einen Brief geschrieben habe. Ich sollte ihm schreiben, egal wie schwer die Zeiten auch sein mögen. Mein Herz war stets mit Freude erfüllt, sobald ich einen seiner Briefe gelesen habe. Ich darf nicht vergessen, ihm diese besondere Freude zurück zu schenken. Denn egal wie beschäftigt er auch sein mag, er findet immer die Zeit an mich zu denken und mir zu schreiben…`
 

Mit einer schwungvollen Handbewegung unterzeichnete Albert ein Dokument, welches er anschließend auf einem Tisch seinem Gegenüber zuschob. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob er innerlich zögerte und mit Reue zu kämpfen hatte. Denn seine selbstbewusste Fassade, verhinderte jegliche Einblicke in seinen wahren Gemütszustand.

„Ich bedanke mich für Ihr Einverständnis. Abkommen hin oder her, gesittete Höflichkeit bleibt für mich eine Tugend. Sie besitzen Erfahrung und Talent, zwei unabdingbare Komponente, ungeachtet des kompetenten Trupps, welcher Sie begleiten wird. Dennoch können gewisse Risiken, selbst mit der tadellosesten Vorbereitung nicht ausgelöscht werden. Jedoch wenn es die Umstände erlauben, werde ich mich persönlich dem Unterfangen anschließen. Es ist mein Will, unser eigenes Land bei dem Kampf zu repräsentieren. Beweisen wir, das unsere Stärke nicht allein dazu dient, uns hinter Mauern zu verschanzen und die Schwachen als Opfer auszunutzen. Euer Bruder Lord William, er und ich hätten gemeinsam Großes vollbringen können. Aber ich werde keinen vertanen Möglichkeiten hinterhertrauern. Genießen Sie die idyllische Zeit mit Ihren Liebsten. Sie wissen nie, wann es die Letzte sein wird…“, sprach Harley vertraulich und nahm den unterschriebenen Vertrag mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck an sich. Albert lächelte kühl nach dessen selbstgefälliger Rede, welche ihr gemeinsames Abkommen vollends besiegeln sollte und lehnte sich tiefenentspannt in seinem Sessel zurück.

„Das kann ich nur zurückgeben. Genießen Sie Ihren Freiraum als Premierminister. Sie mögen viele Anhänger besitzen, doch einige folgen Ihnen nur aus Furcht und schrecken davor zurück, die eigene Meinung auszusprechen. Und da Sie Ihre Feinde bestens kennen, brauchen Sie keinen plötzlichen Überfall zu fürchten…“, entgegnete Albert mit einem kühlen Lächeln.

„Hm… Sie nehmen wahrlich kein Blatt vor den Mund, wie eh und je. Aber diese Charaktereigenschaft schätze ich ebenfalls an Ihnen. Wohlan, dann verbleiben wir so miteinander. Schade das Sie an der Sitzung am siebzehnten Juli nicht teilnehmen. Alle Abgeordneten werden erscheinen, unter Ihnen auch Sir Mycroft Holmes. Dennoch verstehe ich Ihre Entscheidung, wichtigere Dinge zu priorisieren, als einer Besprechung beizuwohnen, bei der jeder nur seine eigenen Interessen verfolgt und die Meinungen anderer nur aus Eigennutz unterstützt. Ich denke in dieser Hinsicht sind unsere Meinungen identisch.“

Dicke Regentropfen prasselten auf die Erde hinab, als Albert das Verwaltungsgebäude des Militärs verließ und er zügig in Richtung seiner wartenden Kutsche lief. Erstaunt blickte er drein, als er die Wagentür öffnete und seine Kameraaden Fred und Moran erblickte.

„Es muss etwas äußerst Dringliches sein, wenn ihr bereits hier auf mich gewartet habt. Hach…und ich hatte gehofft, das wir noch für eine Weile von schlechten Neuigkeiten verschont blieben…“ Seufzend setzte Albert sich zu den beiden ins Trockene und nahm seinen nassen Zylinder ab.

„Danke, dass du uns als Boten des Unglücks abstempelst! Scheinst einen gewaltig nervenaufreißenden Tag hinter dir zu haben. Muss schon was heißen, wenn selbst du miese Laune bekommst“, nuschelte Moran ungehobelt mit einer Zigarette zwischen den Lippen..

„Kannst du bitte mal für einen kurzen Augenblick, dein streitsüchtiges Verhalten unterlassen?!... Wir haben wichtige Informationen erhalten und werden die Umgebung in der Innenstadt aufgrund dessen, die nächste Zeit besonders gründlich im Auge behalten müssen…“, begann Fred besonnen, doch ihm stand ein nicht zu verbergendes Unwohlsein ins Gesicht geschrieben. Alberts Blick wurde nun ernster und seine schweigsame Geste gab zu verstehen, dass seine Gesprächspartner fortfahren konnten.

„Die Soldaten damals in der alten Fabrikhalle, bei denen handelte es sich um Söldner. Selbst jeder begriffsstutzige Trottel wäre zu der Erkenntnis gekommen, dass die Rüpel sich den Sprengstoff unter den Nagel reißen wollten, um einen geplanten Attentat verüben zu können. Doch scheinbar haben wir es mit einer weitaus größeren Organisation zu tun, denn es wimmelt nur so von deren Anhängern in der Stadt. Während wir mit anderen Angelegenheiten beschäftigt waren, hat die Meute sich unbemerkt im Untergrund vermehrt…“, begann Moran mit einem gehässigen Unterton und sein angespannter Gesichtsausdruck unterstrich den Ernst der Lage.

„Interessant… Da ich immer noch keine hellseherischen Fähigkeiten entwickelt habe, müsst ihr mich darüber aufklären, wie ihr an diese brandgefährlichen Informationen gelangen konntet und ob ihr über den wichtigsten Schlüsselfakt verfügt. Nämlich wer der führende Drahtzieher im Hintergrund ist und was Ziel und Zweck eines möglichen Anschlags ist. Nur warum beschleicht mich das beunruhigende Gefühl, dass wir nur eine hauchdünne Glaswand, von deren hassgeleiteten Machenschaften entfernt sind… Nicht nur wir wählten die radikale Methode, Ideale mittels Gewalt durchzusetzen…“, erwiderte Albert kurz darauf mit gedämpfter Stimme und hätte am liebsten gehabt, wenn Moran und Fred sogleich mit ihren Neuigkeiten fortfuhren. Jedoch nickten die drei sich zeitgleich zu und vereinbarten wortlos, dass sie ihre Besprechung im Anwesen mit den anderen fortsetzen wollten.
 

„Es ist wirklich sowohl grotesk, als auch bewundernswert, wie es Clayton gelingen konnte, die Übeltäter, welche sich aufgrund Misshandlungen von Kindern schuldig gemacht hatten, von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Es existieren weder Gräber und Beweise zu den Morden, noch konnten William oder Sherlock Holmes nennenswerte Auffälligkeiten zu den verschiedenen Fällen feststellen, die eine aufwendigere Ermittlung wert gewesen wären. Es hatte beinahe den Anschein, als wäre Clayton mit jedem Mal ein perfektes Verbrechen gelungen. Haben wir uns denn wirklich von seinem Talent und taktischem Geschick blenden lassen?! Auch ich kann nicht leugnen, dass Clayton ein unumstritten intelligenter Mensch ist. Doch sein grenzenloser Rachetrieb, ist in meinen Augen ein Produkt der puren Dummheit. Aus anderer Sicht betrachtet zeigt es nur wieder, wie Gefühle den eigenen Verstand hintergehen können…“, äußerte Louis sich nachdenklich, als die gesamte Gruppe am späten Abend beisammen saß und Moran und Fred ihre Berichterstattung mit allen teilten.

„Wie konnte mir das nur entgehen… Er wirkte stets, als wäre er im Theater und Waisenhaus so schwer beschäftigt gewesen, dass er keinerlei Zeit für ein derart umfangreiches Projekt gehabt hätte… Nun, ohne Zweifel war er es auch… Aber…das er ein solch hiesiges Unterfangen nebenbei geplant hat, wirkt auf mich beinahe etwas unmenschlich. Seid ihr euch wirklich sicher…? Nicht das ich euren Informationsquellen misstrauen würde, aber es könnte ja sein, dass korrupte Banden nun vollends ausnutzen, dass Clayton im Zentrum aller Schandtaten steht. Und Amelia, weiß sie Bescheid…? Sie hätte mir doch garantiert…obwohl…für Clayton…“ Miceyla verstummte abrupt, als sie in Freds verbittertes Gesicht blickte.

„Tja, zu viel Sympathie für einen Menschen kann die Sinne blenden. Auf der Bühne mag er den perfekten, charismatischen Suppenkasper spielen, doch auf der Kehrseite ist er mehr Verbrecher als Gutmensch. Mir war er schon immer äußerst suspekt. Früher oder später hätte er ohnehin abgedankt, da stört es keinen, wenn wir vorher bereits etwas nachhelfen und seinen hinterhältigen Staatsstreich vereiteln. Allmählich kann ich mich nicht mehr im Zaun halten! Ich hab die Faxen mehr als dicke!“, brüllte Moran zornig seine Wut über Clayton in die Runde.

„Sprich nicht so abfällig über ihn! Verbrechen bleiben Verbrechen, wir unterscheiden uns keinen Deut von Clayton! Hass schürt nur ein Feuer der Verdammnis, die endloses Leid mit sich bringt. Nicht weniger als du habe ich das Verlangen ihn aufzuhalten, aber ich vergesse dabei nicht den Menschen, der für unzählige Hilfsbedürftige der Retter in Not gewesen war!“, wandte Miceyla ergriffen ein und erhob sich unruhig von ihrem Platz.

„Miceyla, beruhige dich bitte! Du weißt doch, dass Moran stets spricht ehe er denkt“, sprach Albert neben ihr ruhig auf sie ein und nahm sanft ihre Hand. Doch sie und Moran fixierten sich weiterhin intensiv mit ihren Blicken und waren kurz davor, ihr angeheiztes Wirtgefecht fortzuführen. Aber bevor dies geschah, ging William nun dazwischen und ergriff das Wort.

„Wir alle tragen dieselbe Verantwortung. Es mag dir zuwider sein Moran, aber ich bezeichne Clayton als einen Freund. Und als ein Freund werde ich ihn davon abhalten, eine unumkehrbare Dummheit zu begehen. Auch wenn er es vor mir nie ausgesprochen hatte, ahnte ich von seinen Plänen. Mit den Missetätern, welche er am Leben ließ, verhandelte er, dass sie unter falschem Namen für ihn arbeiteten. Somit versammelte Clayton in den letzten Monaten einen Söldnertrupp um sich, der ihm dabei helfen könnte, die Mauer zwischen ihm und Harley zum Einsturz zu bringen, sprich beim Militär und der Regierung für Unruhe zu sorgen. Hier geht es längst nicht mehr um einen kleinlichen Racheakt. Wenn wir nicht rechtzeitig einschreiten, werden nicht nur unsere Fortschritte, sondern auch die bruchstückhafte Rückkehr der Hoffnung, in den Herzen der Menschen zunichte gemacht werden. Nicht alle Persönlichkeiten in der Regierung handeln eigennützig. Unter ihnen wandeln auch jene, die wahrhaftig etwas in unserem Land bewegen wollen und zwar zum Besseren. Doch wenn am siebzehnten Juli, dass Licht für etliche Köpfe der Regierungsspitze erlischt, wird der Geschichtsverlauf eine heikle Wendung nehmen…“ teilte William seine düsteren Vorahnungen mit seinen Freunden, welche augenblicklich allesamt schockiert dreinblickten.

„Uff… Das hat gesessen… Aber es erschließt sich mir nun.. Wenn er all die wichtigen Persönlichkeiten wegpustet, löst er einen Tumult aus und bekommt endlich die Gelegenheit, sich Harley bei einem Duell vorknöpfen zu können. Falls beide nicht bereits vorher draufgehen…“, fand Moran als erster die Fassung zum Sprechen wieder und verschränkte grübelnd seine Arme ineinander.

„Welch eine Ironie… Meine Abwesenheit am besagten Datum, wird nicht gerade bescheiden verdächtig wirken. Ha, ha, ha! Wenn dies keine brisante Wendung wird weiß ich auch nicht. Zeit das der wahre Meisterverbrecher wieder die Bühne betritt, oder wie lautet deine Meinung dazu, Bruderherz?“, sprach Albert lachend mit einem bittersüßen Unterton.

„Wir mussten auf unserem Pfad, einen kleinen Umweg in Kauf nehmen. Doch ganz gleich wie tief wir auch gestürzt waren, wir haben uns stets mit neuer Kraft und verstärktem Mut erhoben. Uns war immer bewusst gewesen, für alle Eventualitäten gewappnet sein zu müssen und daher wird sicher keiner von uns davor zurückschrecken einzuschreiten. Doch dieses Mal nicht um ein Verbrechen zu verüben, sondern um eines zu verhindern. Ziel wird es sein am Tag der Konferenz, so viele Leben wie nur möglich vor einem möglichen Unglück zu bewahren“, verkündete William klar verständlich und jeder schenkte ihm ein zustimmendes Nicken. Doch hatten dabei ausnahmslos alle, mit unterschiedlichen Gefühlsregungen zu kämpfen. Besonders in Miceyla begann ein unruhiger Sturm zu toben und sie wartete ungeduldig darauf, dass die Gruppe sich auflöste und sie noch einmal mit William allein sprechen konnte. Zwar besaß sie tiefes Vertrauen, in den unerschütterlichen Zusammenhalt ihrer Gemeinschaft, doch fand sie es ratsam, sich tatkräftige Unterstützung mit ins Boot zu holen, wenn sie einen geplanten Angriff auf die Regierung verhindern wollten. Denn sollten sie tatsächlich nach dem Gesetz vorgehen, wäre es höchste Zeit sich mit den Hütern der Gesetze persönlich zu verbünden. Zumindest im übertragenden Sinne… Das gemeinsame Ziel lautete schließlich von Anbeginn Gerechtigkeit.

Nachdem sich jeder für den restlichen Abend zurückgezogen hatte und etwas Zeit für sich und zum nachdenken ersuchte, schlug Miceyla die Richtung zu Williams Arbeitszimmer ein.

„Darf ich reinkommen?“, fragte sie leise, nachdem sie gesittet an der Tür geklopft hatte, welche bereits einen Spalt weit geöffnet war.

„Aber natürlich Liebling, komm nur herein. Setze dich, ich weiß das du Redebedarf hast, denn die Gegebenheiten verkomplizieren sich immer mehr. Doch bitte übernimm dich nicht. Sorgen verschwinden nicht einfach, aber ich bin hier, direkt neben dir. Darum teile deinen Kummer mit mir. Jenes Versprechen bedeutete uns mehr als alles andere. Jedenfalls für mich hat sich daran nichts geändert…“, sprach William liebevoll und legte ihre Hand in die seine, als sie dicht beieinander saßen. Miceyla spürte einen unangenehmen Stich im Herzen. Seine Worte klangen für sie danach, als wüsste er bereits, dass sie etwas vor ihm geheim hielt. `Ich denke dabei nur an das Wohlergehen unserer Tochter…`, erinnerte Miceyla sich beharrlich in Gedanken an ihren Endschluss, um ihre Schuldgefühlte ein wenig einzudämmen.

„Für mich hat sich daran ebenfalls nichts geändert! In unserer Familie habe ich wahres Glück gefunden. Dieses unvergleichbare Glück möchte ich beschützen. Doch auch wenn es fürchterlich schmerzt ist mir bewusst, dass keiner von uns das kostbare Glück auf ewig bewahren kann. Es gab eine Zeit, da habe ich sowohl die Vergangenheit, als auch die Gegenwart mehr gefürchtet als die Zukunft, da ich im Irrglauben war, ich verdiene keine. Nun fürchte ich um die Zukunft, da ich das Leben zu lieben gelernt habe. Die Welt ist nicht grausam, sie ist in ihrer Einzigartigkeit wunderschön. Was wirklich grausam ist, sind Menschen, die entsetzliche Taten vollbringen. Doch solange die Mehrheit ihren Sinn für Gerechtigkeit beibehält, glaube ich an einen Zusammenhalt in der Gesellschaft, der stetig wachsen wird. Darum… Du bist ein Vorbild in Sachen fortschrittlichem Handeln. Wäre es deshalb nicht angebracht, mit Sherlock zusammenzuarbeiten, um Clayton aufzuhalten? Wir werden zwischen die Fronten von Militär und der Regierung geraden. Wir haben bereits das Unmögliche möglich gemacht, aber dadurch sind wir noch lange nicht allmächtig geworden. Es wäre natürlich immer noch keine absolute Garantie für den Erfolg. Aber ich denke, dass ihr beiden dafür bestimmt seid, Hand in Hand zu arbeiten. Schon bei unserem ersten Treffen mit euch auf dem Marktplatz dachte ich mir, welche Wunder würden diese beiden brillanten Menschen wohl im Zusammenspiel vollbringen?... Gib vor mir doch wenigstens zu, dass du im Geheimen dieselben Vorstellungen hast. An mir soll es nicht liegen. Und nein, Sherlock habe ich nicht zu erst darauf angesprochen. Du stehst für mich immer an erster Stelle. Wir alle haben Fehler begangen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Vergebe dir selbst, Will mein Liebster“, schenkte Miceyla ihm Worte voller Hingabe und lehnte sich sachte gegen seine Schulter. Nach ihren Worten, in welchen viel wahrheitsgemäße Vernunft lag, zeigte er kurz ein trübes Lächeln, ehe er ihr seine Antwort gab.

„Hm… Deine Bitte überrascht mich jetzt natürlich in keiner Weise. Sie klingt vernünftig und aufrichtig. Stärke bedeutet nicht nur loszulassen, sondern auch weiterzuleben. Doch sage mir, meine liebste Miceyla… Wenn für dich der Wunsch nach einer glücklichen Zukunft derart stark ausgeprägt ist, weshalb trennst du dich dann von deinem größten Glück, einem Teil von dir selbst?! Deine Worte und Taten wiedersprechen sich. Und ich muss mitansehen, wie du dein Herz in zwei reißt. Kannst du dir überhaupt vorstellen, was dies für ein Gefühl in mir auslöst? Es ist mindestens ebenso unerträglich wie dein eigenes. Und nun ergreifst du verzweifelt jede Möglichkeit und triffst Vorkehrungen, dass Evelyn nicht ein weiteres Mal ihren Vater verliert und ihr Leben in einer `glücklichen Familie` bewahrt wird. Wenn es dir nur darum geht Mycroft zu schützen, werde ich nicht mit Sherlock gemeinsame Sache machen. Evelyn hat bereits einen Vater, für den sie das größte Glück auf Erden bedeutet… Und dennoch besitze ich nicht das Recht, dich von deiner Entscheidung abzuhalten. Denn ich bin mir schmerzlich bewusst, was dich zu jener herzzerreißenden Handlung getrieben hat. Sie entspringt weder der Verzweiflung, noch ist sie unüberlegt, sondern ist schlicht und ergreifend vernünftig. Holmes… Welch eine Ironie, eine Familie mit einer ebenso düsteren Vergangenheit wie die unsere, nur ist sie vor der Öffentlichkeit verborgen geblieben. In der Tat wäre auch aus meiner Sicht, keine andere Familie für eine Adoption in Frage gekommen. Also weswegen unnötig lange diskutieren, wenn man denselben Gedankengang hat, nicht wahr mein Liebling…?“ Miceyla meinte ihr Herz sei zum Stillstand gekommen, als sie von seinen rubinroten Augen vereinnahmt wurde und sie statt eine beschützende Flamme, eine eisige Kälte ummantelte.

„N-noch ist nichts geschehen! Evelyn ist und bleibt unsere Tochter, nichts wird daran je etwas ändern können! Mycroft gab mir eine Bedenkzeit von vier Monaten. Vergib mir, ohne dein Einverständnis traf ich eine solch folgenschwere Entscheidung. Aber es ist wie du sagst, wir kennen einander so gut, sodass wir blind auf die Verlässlichkeit von Entschlüssen des jeweils anderen vertrauen können. Wir sind auf einer Wellenlänge und egal wohin wir uns auch verirren mögen, der unfehlbare Pfad der Verbundenheit wird uns immer wieder zueinander führen. Ich spreche von Vergebung, wie anmaßend. Vielleicht sollte ich zu allererst einmal mir selbst vergeben. Oh Will, es liegen schwere Zeiten vor uns… Ich mag nicht weiter vorangedrängt werden, aber regungslos auf der Stelle zu verharren, macht auch niemanden glücklicher… Lasse mich nur niemals los, dies ist mein einziger Wunsch, in dem noch Hoffnung innewohnt. Solange ich bei dir bin, fühlen sich all die Übel der Welt plötzlich weit entfernt an. Wir geben nicht auf, unter keinen Umständen…“, versuchte Miceyla ein wenig verkrampft bestärkende Worte zu finden und wurde von William trötend in die Arme genommen. Seine ausgeprägte Gutmütigkeit trieb ihr Tränen in die Augen. Was sie auch tat, er war noch nie erzürnt auf sie gewesen. Dafür war ihre Liebe zueinander zu stark. `Nun muss ich wohl noch ein weiteres Mal um Vergebung bitten… Denn ich werde mich an den letzten Hoffnungsfunken klammern und Sherlock um Hilfe bitten…`
 

„Der blutgetränkte Sumpf zu meinen Füßen, hat bereits all meine Tränen verschlungen, mir meine Träume geraubt und mir zu guter Letzt, die Liebe meines Lebens genommen…“ In der gesamten Theaterhalle herrschte Totenstille. Ausnahmslos alle Personen des Publikums standen im Bann des Zaubers, eines ganz besonderen Bühnenstücks. Jeder einzelne Platz war belegt. Es war viel mehr als nur ein simples Schauspiel. Viel eher handelte es sich dabei um eine Erzählung, welche auf wahren Tatsachen beruhte. Eine Geschichte, die alle Zuschauer dazu lockte, die Reise ihres Abenteuers selbst in der eigenen Fantasie zu durchleben. Der Bann jenen Zaubers war derart mächtig, dass er verdrängte Gefühle eines jeden wachrufen zu vermochte. Die Darsteller verkörperten ihre Rollen perfekt und für einen kurzen Moment, schien die Zeit gefangen zwischen Anfang und Ende und ließ die Furcht vor einem nahenden Schluss der Geschichte in den Herzen wachsen. Miceyla hatte sich längst daran gewöhnt, die unzähligen Blicke, welche auf sie gerichtet waren, auszublenden. Denn gerade stand sie nicht bloß auf einer Bühne, sondern in einem Abschnitt ihres eigenen Lebens. Eigentlich empfand sie das Stück als nahezu perfekt. Die Kulisse, die Kostüme und gesprochenen Texte harmonierten im Einklang miteinander. Und auch die Rollenverteilung entsprach beinahe Claytons peniblen Vorstellungen. Oder besser gesagt hatte er eigenständig dafür gesorgt, dass seiner Zufriedenheit Genugtuung verschafft wurde… `Ich hätte gerne, dass die wahren Hauptdarsteller ihre dazugehörige Rolle verkörpern. Authentischer kann es kaum aufgeführt werden. Du hast doch sicher nichts dagegen, meiner Bitte Folge zu leisten, oder William mein Freund?`, hatte Clayton ihn mit einer glühenden Besessenheit gefragt, oder mehr oder minder von ihm gefordert… William stimmte zwar unverblümt zu und war auch noch bei der Generalprobe dabei gewesen. Doch ein unglücklicher Zwischenfall zwang ihn dazu, kurzfristig nach Durham zu reisen. Es gab einen kuriosen Mordfall unter seinen Studenten, zu dem er persönliche Ermittlungen anstellen wollte. Doch in der angespannten Lage verriet dies allen Beteiligten, dass es sich dabei um keinen schlichten Zufall handelte… Somit hatte Clayton kurzfristig entschieden, Williams Rolle selbst zu übernehmen, was für ihn und seine Wandelbarkeit keinerlei Probleme darstellte. Natürlich deprimierte es Miceyla etwas, dass William bei der Premiere nicht die für ihn bestimmte Rolle übernehmen konnte. Dennoch wollte sie gemeinsam mit den anderen Darstellern hundert Prozent geben, damit `Verbrechen zwischen gut und Böse` ein Erfolg wurde. Harley höchstpersönlich sah sich schließlich das Stück an. `John, Mary und Emily hatten ebenfalls versprochen heute hier zu sein. Von Sherlock kam zwar keine eindeutige Reaktion…aber ich kann mir gut vorstellen, dass er wie immer von einem unscheinbaren Platz aus zusieht….`, dachte Miceyla insgeheim und warf flüchtig einen Blick in die dunkle Zuschauermenge.

„Deine Sünden sollen dir niemals vergeben werden. Dies ist dein Schicksal. Ich werde dein ewiger Begleiter sein, auf den finsteren Pfaden der Dunkelheit. Glaube mir, niemals weiche ich von deiner Seite. Es gibt kein Entrinnen…“, Miceyla zuckte bei Claytons energischer Stimme zusammen und hätte beinahe ihren Einsatz verpasst. Jedoch blieb sie weiterhin stumm und starrte ihn verwirrt an. `Das gehörte aber gerade überhaupt nicht zu deinem Text. `Wir halten uns streng an das Drehbuch`, so lautete deine beharrliche Anweisung…`, dachte sie dabei und trotzdem huschte ein flüchtiges Lächeln über ihre Lippen. `Na schön… Es wagt sicher keiner zu behaupten, wir wären keine Meister der Improvisation.` Laut Handlung hätte Clayton Williams Rolle übernehmen müssen und sie nun aus ihrer misslichen Lage retten müssen. Wenn er jetzt nicht ihr Retter war, wer käme ihr an seiner statt zu Hilfe…? `Das hier ist gerade wesentlich bedeutungsvoller, als ein einfaches Schauspiel…` Miceyla wurde kreidebleich, als sie von Claytons eindringlichen Blick vereinnahmt wurde, welcher etliche negative Emotionen in ihr wachrief und sie an ihre vergangene Hilflosigkeit erinnerte. `Na mein Vöglein, wer wird denn nun deine kläglichen Hilfeschreie hören? Wer kommt dich retten? Und wer befreit dich aus deinem Käfig, von deinen Fesseln? Wer…würde für dich sterben?!` Auch wenn er schwieg, halten genau jene Worte in ihrem Kopf wider. `Niemand wird mein Retter sein… In der Stunde der Finsternis, ist jeder auf sich allein gestellt…`

„Lass mich dein Schwert sein, welches dich vor lauernden Gefahren beschützt. Lass mich dein führendes Licht sein, dass dir den Ausweg aus jedem noch so dunklen Gang erleuchtet. Lass mich zu einem Teil von dir werden, sodass uns nichts und niemand mehr trennen kann. Erlaube mir alles mit dir zu teilen. Mein Herz soll dir gehören…“ Miceyla erstarrte auf der Stelle, als bei der ihr vertrauten Stimme eine pulsierende Gefühlswelle durch ihren Körper schoss. Nun brauchte sie sich keiner Schauspielkunst mehr zu bedienen, denn ihre nach außen strömenden Emotionen waren mehr als echt. `Ich glaube es nicht…Sherlock… Clay, womit hast du ihn bloß bestochen, damit er bei diesem Stück mitmacht? Als wäre der Grund…` Ihre Gedanken begannen sich zu überschlagen und sie musste darauf achten, nicht allzu verwirrt dreinzublicken. Schließlich sollte sie Erleichterung verspüren, dass der Befreier ihres Leids nun erschienen war. Sherlock trug einen dunkelblau-weißen Anzug und hohe schwarze Stiefel. Seine dunklen Haare waren ordentlich gekämmt und sein gesamtes Erscheinungsbild glich dem eines Prinzen. Was auch noch mal von seinem aufgesetzt, gesitteten Verhalten unterstrichen wurde. Von William war sie ein solch würdevolles Auftreten gewohnt. Doch bei Sherlock löste dies eine unkontrollierte Unbeholfenheit aus, bei der sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Ehe sie wusste wie ihr geschah, stürmte Clayton mit einem Degen auf Sherlock zu, welcher gerade erst die Bühne betreten hatte. Dieser zog seinen eigenen Degen und parierte gekonnt den frontalen Angriff. `Meine Güte, dies ist nur ein Bühnenstück, müsst ihr denn wirklich mit echten Waffen kämpfen… Ich glaube wir alle haben uns alle zu sehr in das Ganze hineingesteigert und nehmen das viel zu ernst…`, dachte Miceyla voller Anspannung und erkannte sofort den ungekünstelten Argwohn, gegenüber Clayton in Sherlocks Gesichtsausdruck. Glücklicherweise ließen die Gegebenheiten nicht zu, dass es zu einem richtigen Kampf zwischen den beiden kommen konnte. Jedoch musste Miceyla sich eingestehen, dass es sie neugierig machte, wie Sherlock sich in einem Fechtduell mit ihm schlug. Aber sie vermutete, dass er wie William mit Clayton auf Augenhöhe kämpfen konnte. Sie schaffte es nicht ihren Blick von den beiden Kontrahenten abzuwenden und hoffte etwas beklommen, dass es dennoch zu keiner Eskalation käme. Schließlich wurde gerade jede kleinste Bewegung, jeder Atemzug von ihnen genaustens beobachtet. Eine dezente Abweichung war nichtsdestotrotz nicht allzu dramatisch, da über die Handlung des Drehbuchs niemand wirklich Bescheid wusste. Clayton gab sich gespielt geschlagen und ließ Sherlock passieren. Auf geradem Wege schritt er auf Miceyla zu und fokussierte sich nur noch auf sie. Als er kurz darauf fest, dennoch liebevoll ihre Hände packte, glaubte sie gebannt, er wolle sie um jeden Preis von ihrem grausamen Umfeld abschirmen, sie von ihren schmerzenden Fesseln befreien und sie in die Freiheit führen. Es fühlte sich für sie viel zu realistisch an, als dass sie bloß von einer authentischen Szene hätte sprechen können. Seine dunkelblauen Augen blickten sie beschützend an und bei ihrem innigen Augenkontakt, vergaß sie beinahe das gleichmäßige Atmen.

„Nun mag ich dich gerettet und bewahrt haben vor allem Übel. Kein Leid soll dir je noch einmal widerfahren. Jedoch…werden wir beide gleichermaßen von jetzt an gerettet werden müssen. Kein Glück währt ewiglich. Möge das Gestern weiter fortleben und lass uns all die kostbaren Erinnerungen daran niemals vergessen. Zeit, dass wir der Welt unsere Geschichte erzählen. Bist du dafür bereit, gemeinsam mit mir? Eine Geschichte, die mit dem unzerstörbarem Band der Liebe, Freundschaft und Gerechtigkeit verziert ist. Eine makellos schöne Erzählung verdient Anerkennung und Bewunderung… Doch nur die Bewunderung, welche wir uns entgegenbringen, wird für die gesamte Welt auf ewig unerreichbar bleiben…“, sprach Sherlock sanft und betonend, allerdings befand sich eine nicht zu überhörende, fordernde Ungeduld in seinem Unterton. Für Miceyla war es keine Überraschung, dass er Williams Rolle tadellos spielen konnte. Jedoch erkannte sie sofort, dass er gerade über seinen eigenen Schatten sprang und die eigenen Gefühle ungekünstelt zum Vorschein brachte. `Du bist weder der Meisterverbrecher, noch irgendein anderer Bösewicht, Sherly… Für William und mich bist du der einzig wahre Held, in unserem verzwickten Spiel zwischen Gut und Böse. Und du wirst aus unserer Geschichte eine unsterbliche Legende machen, auf das der Name Moriarty niemals in Vergessenheit gerät… Ach Sherly, es schmerzt so fürchterlich… Ich flehte darum gerettet zu werden, doch wenn du dir dies wahrhaftig wünschst, so musst du mir wohl mein Herz gewaltsam entreißen. Vorher wird es dir nicht gehören. Denn ich schenkte mein Herz William und dieses befindet sich in seinem festen Besitz. Und das beruht auf Gegenseitigkeit, ich besitze ebenso das seine und hüte es wie meinen wertvollsten Schatz…`, dachte sie entschlossen und versagte kläglich beim Versuch, den Bann seiner verlockenden Hypnose zu durchbrechen.

„So soll es sein. Wir brauchen keine Geheimnisse vor der Welt zu haben. Erzählen wir der Welt unsere Geschichte. Teilen wir all die Träume und Überzeugungen, auf das die Reise für jeden ein unvergessliches Abenteuer wird…“, verkündete Miceyla zustimmend und eine Mut schöpfende Energie durchströmte ihren Körper, welche ihr die Furcht nahm, sich der bitteren Wahrheit zu stellen. `Unvergesslich… Oh ja, das wird dieser Abend auf alle Fälle werden…`, dachte Harley genüsslich und beobachtete das Schauspiel weiter von seinem Ehrenplatz aus, als wäre das Stück nur für seine Unterhaltung geschrieben worden.
 

Verbrechen zwischen Gut und Böse
 

Als ich dich das erste Mal sah,

da war es mir schon sofort klar.

Dort in unserer eigenen Welt,

in der du sein wirst ein Held.
 

Ich folgte dir wie einem Stern,

in meinen Träumen, ach das hätt ich gern.

So neugierig war ich in deinem Land,

gefällt dir mein neues Gewand?
 

Mit einem Lächeln kamst du mich begrüßen,

nun lag mir alles hier zu Füßen.

Alsbald jedoch die Melodie verklang,

da war es zu Ende mit dem lieblichen Gesang.
 

Siehst du mich in meinem scharlachroten Kleid?

Ach was bin ich es alles leid.

Die Herrschaft wolltest du begehren

und keiner wagt mehr mit dir zu verkehren.
 

Deine Maske trugst du perfekt,

doch deine Seele war dabei befleckt.

An die Wahrheit habe ich nicht mehr geglaubt.

Was hast du mir bloß alles geraubt?
 

Alleine laufe ich durch die stille Nacht

und habe dabei dennoch nur an dich gedacht.

Was wird am Ende auf mich warten?

Ich will es lieber gar nicht erst erraten.
 

Wie sehr ersehne ich mir einen neuen Morgen,

ganz ohne unsere erdrückenden Sorgen.

Ja es war dein schrecklichstes Verbrechen,

das du dich wolltest an all den guten Herzen rächen.
 

Nie habe ich mich darüber beklagt

und doch hat mein reiner Wille versagt.

So viele sah ich in ihrer Not,

mich umgab bloß der grausame Tod.
 

Deine scharfen Worte durchdrangen mich wie ein Messer,

du wusstest es ja immer besser.

Du machtest mich zu deinem Diamanten

und reinigtest meine ganzen Ecken und Kanten.
 

Mich beschützen wolltest du wie ein edler Ritter,

doch saß ich auf ewig hinter Gitter.

Oh bitte gib mir nur noch einen Augenblick

und ich werde ergreifen die letzte Möglichkeit mit Geschick.
 

Meine Liebe galt nur dir allein,

wieso war die Welt bloß so gemein?

In unseren eigenen Geschichten,

wird das Schicksal über uns richten.
 

Das ganze Übel setzten wir weiter fort

und es brachte uns zu jenem Ort.

Deinem Schauplatz der Gleichsetzung,

du zogst sogleich los mit recht viel Schwung.
 

Unauffällig wie ein Schatten folgte ich dir dorthin,

du wirst sehen, dort wartet auf dich kein Gewinn.

Ist es denn deine Absicht alles zu verlieren?

Dein Herz wird kalt und du wirst frieren.
 

Unsere Schwerter waren die bösen Klingen,

doch glaube mir, die Gerechtigkeit hat nur gute Schwingen.

Schnell wirst du merken wie die Loyalität dich wird verlassen,

bleibst du denn wirklich noch bis zum Schluss gelassen?
 

Wo bin ich da nur hineingeraten?

Keiner wird es mir wohl je verraten.

Dein Abschied tat so furchtbar weh,

dieses warmherzige Lächeln ist alles was ich vor mir seh.
 

Lass mich unsere Qualen beenden,

oder wird dich die Vergangenheit bis in die Zukunft blenden?

Wolltest du dich selbst aufgeben

und nicht an meiner Seite leben?
 

Wie sehr verspotte ich das verlogene Gelächter

und zu sehen, wie du vorgibst zu sein ein ehrenhafter Wächter.

Dein Ruhm wird mit dir fallen, von all den schützenden Geländern

und sieh dabei zu, wie unsere Juwelen rosten an den Rändern.
 

Wir waren dazu bestimmt uns zu lieben,

auch wenn Verbrechen nie vergeben und Freud und Hoffnung bei uns blieben.

Sowie der erste morgendliche Strahl der Sonne, uns nicht wird verfehlen,

du wirst erneut mein Herz mir stehlen.
 

Wie in einem Spiel bestiegst du deinen eigenen Thron,

die Blicke verfolgten dich dabei mit Spott und Hohn.

In deinem erzwungenen Königreich,

in dem du wolltest das alle wären gleich.
 

Obgleich deine Erscheinung immer war so würdevoll und milde,

ich kannte die verborgene Bedeutung und war darüber stets im Bilde.

Ich bemühte mich der süßen Versuchung zu widersetzen,

jedoch endete mein Gemüt, ebenso wie meine Kleider in unzähligen Fetzen.
 

Du warst so zielstrebig wie ein loderndes Feuer

und konntest dabei so gnadenlos sein wie ein wildes Ungeheuer.

Wie verzaubert war ich von deiner verborgenen Kraft,

glaubst du es gäbe jemand, der wie du dies hätte geschafft?
 

Würde ich ein Gemälde malen in deinem Namen,

so wäre es bloß voller roter Farben.

Bitte sieh den fernen Horizont mal ganz genau an

und sage mir, wo werden wir wieder zueinander finden und vor allem wann?
 

Stets hörte ich dich kommen zu später Stunde,

da saßen wir alle beisammen in froher Runde.

Der Zusammenhalt machte unsere Gemeinschaft stark,

sodass keiner jemals unter der Verachtung begraben lag.
 

Zugegeben, ich habe mich sehr verwandelt,

es ist eine neue Einsicht die bei mir landet.

Die Fehler wurden bereits beglichen

und bereit, sich mit der Wiedergutmachung zu vermischen.
 

Dich durchzusetzen fiel dir so unglaublich leicht,

im Verborgenen an deiner Seite zu sein, hat mir dennoch nie gereicht.

Keinesfalls warst du beunruhigt von all dem Wahnsinn

und blicktest stets voraus mit ganz viel Klarsinn.
 

Dein Einfallsreichtum schenkte mir eine unbeschreibliche Erkenntnis,

für meine Besorgnis, gabst du mir dein vollstes Verständnis.

Zusammen warten wir auf unseren hart erkämpften Frieden

und das uns endlich alle Bösewichte mieden.
 

Ich bin mir im Klaren darüber, das ich dir kann keinen Einhalt gewähren für dein Vorhaben,

trotz der unermesslich erbrachten Opfergaben.

Die zwei Gegner werden aneinanderprallen,

es wird ein heftiges Gemetzel, ich höre es schon knallen.
 

Von jenen Ereignissen werde ich sein ein Zeuge,

um mir jedes Detail dabei einzuprägen, obwohl ich mich so sehr dagegen sträube.

Wo ist die Zeit hin, ich drehe sie zurück.

Wir waren unersetzbare Darsteller in unserem Stück.
 

Hätt ich über unsere ganzen Erlebnisse geschrieben,

die Leser würden mich durchlöchern mit ihren Hieben.

Selbst mein größter Widersacher kann mir nicht mein Herzklopfen stehlen,

an Liebe wird es uns schließlich niemals fehlen.
 

Die berauschende Musik wird mich vollends betören,

an unbedeutenden Dingen, werde ich mich nicht mehr dran stören.

Was brauchen wir schon, wenn wir uns beide haben

und die Anerkennung die uns alle gaben.
 

Mein Glück zu sein scheint, dass ich endlich gehöre hier dazu

und dieses erdrückende Gefühl in mir, kommt nun zu abrupter Ruh.

All die neidvollen Gesichter verfolgen uns, während wir stolz schreiten dahin,

dies nenn ich einen gerechten Anbeginn.
 

Dein Vorgehen war wahrlich weise und klug,

mit ein klein wenig verborgenem Betrug.

Im Geheimen starteten wir unseren unvorhersehbaren Versuch,

ich könnte darüber schreiben, ein langes Buch.
 

Unaufhaltsam ranntest du um mich zu retten

und befreitest mich von den schmerzenden Ketten.

Meine innigsten Wünsche ich nun in deine schützenden Hände lege,

mitsamt meinen unveränderten Gefühlen, die ich für dich hege.
 

Ich hoffe die Erinnerungen geraten nicht in Vergessenheit

und werden nicht verdorben, von deiner Besessenheit.

Öfters wiederholte ich meine unheilvolle Warnung,

die Idylle sei nur eine zwielichtige Tarnung.
 

„Es begann alles mit einem simplen Verbrechen und schließlich endet es…“

„Keine Geschichte endet, ehe der Hauptdarsteller nicht die Bühne betreten hat!“ Claytons dramatischer Abspann wurde jäh unterbrochen, als ein außerplanmäßiger Darsteller aus dem Nichts in die End-Szene platzte und sich stürmisch zwischen Miceyla und Sherlock drängte. Auf letzteren richtete er mit eiserner Miene einen spitzen Degen und zog Miceyla dabei fest an sich. Durch die Zuschauermenge ging ein schockiertes Raunen, doch waren alle im Irrglauben, der Auftritt einer weiteren Figur sei Teil des Stücks. Die Darsteller auf der Bühne unterlagen für einen kurzen Moment der Verwirrtheit, während Sherlock unbeeindruckt dreinblickte. Doch innerlich schien er sich dennoch gegen die aufgezwungene Kapitulation zu wehren.

„William…“, hauchte Miceyla perplex den Namen ihres wahren Retters und entdeckte besorgt frische Blutflecken auf seinem rechten Arm. Er trug eine ähnliche Maske, wie Clayton sie des Öfteren anhatte, die er ihm jedoch kurzerhand vor die Füße warf.

„Im Gegensatz zu dir, brauche ich mich nicht hinter einer Maske zu verstecken. Die Welt darf ruhig das Gesicht des `wahren Meisterverbrechers` erblicken… Und nun zu meinem einzig ebenbürtigen Rivalen. Der Tag wird kommen, an dem sich unsere beiden Klingen kreuzen werden. Selbst wenn du gewinnen solltest, eines wirst du mir niemals rauben können, nämlich das Herz meiner geliebten Miceyla!“, rief William beharrlich an Sherlock gewandt, ehe er ihr mit sanftem Lächeln in die Augen blickte.

„Meine Liebste, es ist Zeit für den finalen Akt. Beginne, sprich jene Zeilen, die ausschließlich für uns beide bestimmt sind, meine geliebte Winterrose…“

„…Ich werde das Licht sein, das dich überall hin wird führen, bis du es tief unter der Haut kannst spüren. Ich werde dein Halt sein, damit du sicher kannst stehen, dies ist wahre Liebe, du wirst schon sehen…. Vertreiben wir all das Böse und verhelfen der Welt zu rechter Größe.“ Nachdem sie die letzten Zeilen gemeinsam aussprachen, küssten sie sich hingebungsvoll auf die Lippen, um das Ende des Bühnenstücks zu besiegeln. `Natürlich, was bin ich doch blind gewesen… Liam hat dir keine Fesseln angelegt, Mia. Nein, er schenkte dir Flügel. Und jene Flügel sind derart ästhetisch, dass es selbst mir die Sprache verschlägt. Niemand kann dich höher fliegen lassen als er. Du hast meinen vollen Wohlwollen, denn du verdienst das größte Glück auf Erden. Trotzdem schmerzt es fürchterlich. Hach, ich bin wahrhaftig unverbesserlich..`, dachte Sherlock etwas im Abseits stehend melancholisch und blickte mit sachter Bewunderung den wahren Hauptdarsteller an, der mit seinem majestätischen Auftreten, dem erschrockenem Publikum vollends den Atem geraubt hatte. Ehe die Zuschauermenge wieder aus ihrer Trance erwachte und dem Meisterstück seinen wohlverdienten Applaus schenken konnte, löste sich über der Bühne an der Decke ein Holzbalken auf unerklärliche Weise und drohte unmittelbar über Clayton hinab zu stürzen.

„Clay!“, rief Amelia warnend seitlich der Bühne. Doch Clayton hatte bereits von der drohenden Gefahr Kenntnis genommen und sprang einen kräftigen Satz zur Seite. Einen Wimpernschlag später krachte das gelockerte Stück der Decke, zusammen mit einer Person auf den Bühnenboden.

„Moran! Um Himmels willen!“, schrie Miceyla entsetzt und starrte verängstigt eine frische Wunde auf seinem Kopf an, von der ihm Blut quer über die Stirn lief.

„V-verzeih mir Will… Wir haben ihn erneut unterschätzt… Aber jetzt bist du ja hier… Beendet es… Clayton du Kasper, dein Auftritt ist endlich gekommen… Vermassele es nur nicht…“ Nach diesen heiseren Worten verstummte Moran und schloss entkräftet die Augen. Miceyla wollte sich an dessen Seite stürzen und seine Verfassung auskundschaften, doch William hielt sie energisch davon ab. Kurz darauf gab es eine ohrenbetäubende Explosion. Nebliger Dunst umgab sie und voller Entsetzen erkannte sie, dass von jedem der Kronleuchter, Feuerfunken hinabregneten und sich in der gesamten Theaterhalle unterhalb ansammelten. Sogleich brach in der Zuschauertribüne Panik aus, als die zu Beginn noch harmlos wirkende Funken, sich plötzlich zu glühenden Feuern entwickelten und den Menschen bedrohlich nah kamen. Aus dem Loch der Bühnendecke kam Harley mit einem eleganten Sprung hinuntergesprungen und richtete seinen triumphierenden Blick auf Clayton.

„Voila! Wie gefällt dir mein Meisterwerk? Ist es nicht wahrhaftig `unvergesslich`? Ein gebührendes Ende für einen erfolgreichen Künstler. Die Bühne soll brennen. Es gäbe nun mal keinen Nachfolger der deiner würdig wäre…“

„Du…du hast die Stromleitungen explodieren lassen…! Harley du Monster! Willst du dich den Mörder von hunderten unschuldigen Menschen nennen?! Dieser Kampf geht nur dich und mich etwas an. Ich habe es geahnt… Als hättest du bis übermorgen gewartet… So soll es dann sein… Beenden wir es heute Nacht…“, entgegnete Clayton und zog entschlossener denn je seinen Degen. Erstaunlicher Weise gelang es ihm seinen Zorn im Zaun zu halten und vor dem heiklen Gefecht besonnen zu bleiben. `Soll das etwa bedeuten, dass sich hier an Ort und Stelle alles entscheidet?! Der Degen von Claytons Vater, hat mir schon ein mulmiges Gefühl eingeblöst… So richtig darauf vorbereitet hat sich keiner von uns… Aber für uns ist es beinahe schon verpflichtend, zu jeder Zeit in Bereitschaft zu sein… Bitte, wenn es Wunder wirklich gibt, muss heute eines geschehen, sonst wird dieses Theater zu unserer Grabstätte werden…`, dachte Miceyla verängstigt und wusste überhaupt nicht mehr, wo sie bei all dem Chaos hinblicken sollte. Sie entdeckte wie Sherlock gemeinsam mit John, Mary und Emily die verzweifelten Zuschauer, zwischen den sich stetig vermehrenden Flammen, zum Ausgang dirigierte. Amelia stand zitternd am Rande der Bühne und hätte Clayton am liebsten bei der Hand gepackt, um mit ihm hinaus zu flüchten. Miceyla teilte sich die unbändige Furcht vor Feuer mit ihr. Doch in jenem Augenblick wusste sie, dass Amelias größte Angst nun dem drohenden Duell zwischen ihrer unerreichbaren Liebe und Harley galt.

„Amelia! Wir müssen von hier weg, es ist zu gefährlich! Nicht mehr lange dauert es, dann werden auch noch die letzten Leitungen explodieren!“, rief Fred hektisch und versuchte sie vergeblich von einer rettenden Flucht zu überzeugen.

„Nein, lass mich los! Ohne Clayton gehe ich nirgendwo hin! Wir müssen dieses Scheusal zusammen vernichten! Wie konnte Harley nur so hinterlistig sein?! Dabei besaß er einmal ein Herz. Doch dieses hat er gemeinsam mit seiner Geliebten längst verloren… Clay hat genug gelitten, weshalb ist alles bloß so furchtbar ungerecht?! Clay…“, klagte Amelia verzweifelt und Tränen der puren Hoffnungslosigkeit rollten über ihre Wangen. Fred verstand, dass er sie nicht zwingen konnte, Clayton zurückzulassen und versuchte sich angestrengt eine alternative Lösung auszudenken. Unterdessen kam Albert auf die Bühne geeilt und wollte den bewusstlosen Moran aus dem brennenden Theater schaffen.

„Gehe mit Albert, meine Liebe. Ich komme nach, versprochen“, bedeutete William Miceyla sich ihm anzuschließen. Doch sie empörte es eher, anstatt das sie Anstalten machte, seiner Anweisung Folge zu leisten.

„Ich denke gar nicht daran, dich in dieser Hölle allein zu lassen! Ich fürchte weder Tod noch Feuer, solange ich an deiner Seite bin. Du hast mich gelehrt stark zu sein, so stark, dass ich nicht einmal deine Unterstützung mehr benötige… Aber du hast selbst längst erkannt, dass dies falsch ist! Wir brauchen einander und überstehen gemeinsam jedes Leid“, entgegnete Miceyla und ihr starker Wille baute sich für sie innerlich Mut auf, der kaum mehr zu übertreffen war.

„Da schließe ich mich Miceyla an, Bruderherz! Ich hatte gehofft, dass du aufgehört hättest, dir alles Leid im Alleingang aufzubürden. Aber scheinbar müssen wir dich noch ein weiteres Mal daran erinnern, wie die Bedeutung einer loyalen Gemeinschaft lautet. Ich habe immer zu dir aufgeblickt und wollte dir zu jeder Zeit mit Rat und Tat zur Seite stehen. Dies war von Anfang an so gewesen und daran wird sich auch bis zum Schluss nichts ändern“, schloss Louis sich ihr beharrlich an und stellte sich dicht neben Miceyla. Beide nickten sich zustimmend zu und schenkten William anschließend ein gütiges Lächeln. Dieser blickte die zwei für einen kurzen Moment sprachlos an und rang dabei mit beißenden Schuldgefühlen, die er mit Verlegenheit zu überspielen versuchte.

„Miceyla, Louis… Ich danke euch…“ Clayton und Harley waren bereits wie wild gewordene Berserker, mit ihren Degen aufeinander losgegangen und blendeten das Feuer und alle um sie befindlichen Menschen vollkommen aus.

„Passt auf euch auf… Ich möchte euch drei nachher in einem Stück wiedersehen…“, sprach Albert etwas verzagt zum Abschied und bahnte sich widerwillig mit Moran einen Pfad hinaus durch die Flammen. Er brachte es kaum über sich, seine Familie in der brenzligen Situation zurückzulassen. Aber sich um seinen außer Gefecht gesetzten Kameraden zu kümmern, gehörte ebenfalls zu seinen Pflichten. Die Hitze wurde allmählich unerträglich und der mangelnde Sauerstoff löste eine instinktive Panik in jedem aus, die nur schwer zu unterdrücken war. Die meisten Zuschauer hatten es wenigstens zum Glück heil hinaus geschafft. Miceyla zuckte verschreckt zusammen, als einer der pompösen Kronleuchter von der Decke auf die Tribüne krachte und in unzählige Scherben zerbrach.

„William! Die Stromleitungen! Wir müssen verhindern, dass dieses Theater in einem Stück in die Luft gejagt wird! Wenigstens können wir auf diese Weise etwas Zeit schinden, um einen Fluchtweg zu finden! Du bist hier der einzige, welcher sich abgesehen von Clayton damit auskennt! Ich kann dich hinführen!“, drängte Fred William panisch dazu, ihm bei der einzig existierenden, rettenden Lösung behilflich zu sein. William wusste, dass Fred die klügste Herangehensweise wählen wollte. Doch dies bedeutete, dass er abermals in der kritischen Situation, von seiner Familie und seinen Freunden getrennt sein würde. Hin und hergerissen blickte er erst zu Miceyla und Louis, dann zu dem kämpfenden Clayton. Plötzlich kam Sherlock mit keuchendem Atem zurück auf die Bühne gestürzt und das keine Minute zu früh. Mit einem entlastenden Gefühl der Erleichterung lief Miceyla eilig auf ihn zu.

„William ist nicht der einzige!... Sherly, bitte suche gemeinsam mit Fred die verbliebenen Stromleitungen auf, um eine alles vernichtende Explosion zu verhindern! Die Zeit drängt! Ich…wir alle zählen auf dich! Rette uns…“, flehte Miceyla überschwänglich, wobei ihre letzten Worte in einem Flüsterton untergingen. Doch für Sherlock waren sie ganz deutlich hörbar.

„Das hatte ich doch von Anfang an vorgehabt, Mia. Ich lasse nicht mehr zu, dass sich etwas oder irgendjemand zwischen uns drängt. Weder Glasscheibe noch lodernde Flammen, können mich davon abhalten zu dir zu eilen…“, sprach Sherlock sanft und beide erinnerten sich sogleich an den tragischen Abschied im Zug, als sie London verlassen hatte. Fred kam nun ebenfalls herbeigeeilt, doch blickte noch einmal verunsichert zu der zitternden Amelia.

„Geh nur mit Sherly, ich passe auf das Mädchen auf. Solange ich bei ihr bin, wird ihr nichts zustoßen“, versicherte Irene ihm lächelnd und legte schützend einen Arm um Amelia.

„Nimm meinen Degen, du hast ihn hier oben nötiger als ich. Ich kehre zurück, sobald wir die Stromleitungen gesichert haben. Haltet solange durch… Komm Fred!“ Sherlock drückte Miceyla noch hastig seinen Degen in die Hand, ehe er gemeinsam mit Fred in die untere Ebene des Theaters rannte. `Gebt auf euch Acht…` Miceyla blickte ihnen noch kurz nach, bis die grellen Flammen ihr die Sicht nahmen. Nun musste sie sich voll und ganz auf ihr näheres Umfeld konzentrieren. Und dies genau im rechten Moment… Denn plötzlich kamen eine Handvoll bewaffneter Männer, aus der brüchigen Bühnendecke hinabgesprungen und sahen nicht gerade danach aus, als wollten sie William und die anderen im Kampf unterstützen.

„Gehören die zu Harley oder ist dies ein Trupp von Claytons angeheuerten Söldnern? Die sollen uns wohl von den beiden fernhalten…!“, rief Miceyla verschreckt und hielt ihren Degen schützend vor sich.

„Mit denen werden wir auch noch fertig…“, meinte William daraufhin bloß kampfbereit. Jedoch erkannte Miceyla, wie angeschlagen er mittlerweile war. Schließlich hatte er bereits mit eigenen Zwischenereignissen zu kämpfen gehabt und musste in Windeseile zum Theater hechten. Miceyla umklammerte entschlossen mit der rechten Hand den Griff des Degens. Für Momente wie diese hatte sie so hart trainiert, dies zahlte sich nun für sie aus. Ohne noch länger in einer Abwehrhaltung zu verharren, stürmte sie auf einen der Männer zu und sprang in dessen toten Winkel, ehe er sie mit einer Pistole ins Visier nehmen konnte. William und Louis taten es ihr nach und knöpften sich die Männer einzeln vor, ohne die verbliebenen Gegner dabei aus dem Auge zu verlieren. Miceyla gab sich große Mühe, dass einer ihrer Attacken, die Verteidigung ihres Kontrahenten durchbrechen zu vermochte. Doch jeder ihrer blitzschnellen Angriffe wurde durchschaut und sie war gezwungen eine Abwehrposition aufrecht zu erhalten. Sie mussten es gerade mit ein paar auserwählten Elitesoldaten zu tun haben. Denn selbst William und Louis kämpften mit voller Stärke. `Lass dich jetzt nur nicht unterkriegen! Ich werde gebraucht! Entfessle die Stärke deines reinen Willens! Zeit Moran so richtig stolz zu machen! In einem Kampf um Leben und Tod existieren keine ehrenhaften Regeln!`, gab Miceyla sich innerlich den Mut, ihren Gegner mit all ihrem errungenen Wissen über das Kämpfen zu bezwingen. Mit neutraler Miene holte sie zu einem kräftigen, dennoch vorhersehbaren Schlag aus. Der Mann glaubte natürlich im Vorteil zu sein und drohe mit einem Messer in ihre aufgegebene Abwehrhaltung zu stechen. Doch ehe es dazu kam, zog sie ihren Angriff abrupt zurück und tauschte blitzschnell mit William die Position. Und noch bevor sich die Kerle auf ihre neuen Gegner einstellen konnten, machten Miceyla und William kurzen Prozess mit ihnen. Keuchend blickte sie zu ihrem blutbefleckten Degen hinab und kämpfte gegen das hartnäckige Gefühl der Schwäche an, welches sie zu überwältigen versuchte. Zwar waren nun zwei der Soldaten ausgeschaltet worden, doch der stickige Schwefel des tanzenden Feuers, besaß eine tödlich ausmerzende Wirkung. Während William Louis zur Hand ging, wagte sie einen Blick auf die zwei hitzköpfigen Duellanten zu werfen und hielt sogleich gebannt den Atem an. Den beiden Rivalen beim Fechtkampf zuzusehen, glich einem epischen Gemälde, welches zum Leben erweckt worden war. Sie kämpften unverkennbar auf Augenhöhe. Claytons Fechtkünste brauchten sich in keiner Weise hinter denen von Harley zu verstecken.

„Will! Achtung, über dir!“ Louis‘ panischer Warnschrei ließ Miceyla jäh zusammenzucken. Die Decke über William drohte nun vollends hinabzustürzen, doch sein neuer Gegner machte ihm schwer zu schaffen. Louis war selbst zu Boden gestürzt und hätte seinen Bruder nicht mehr rechtzeitig erreichen können.

„Will, nein !“ Miceyla rannte auf ihren Liebsten hastig zu, doch ein Pistolenschuss der ihr Bein streifte hielt sie davon ab. Mit schmerzverzehrtem Gesicht stolperte sie und fiel auf den harten Bühnenboden. Harley hatte mit seiner linken Hand eine Pistole gezückt und dessen geballte Konzentration schien darüber hinauszugehen, sich lediglich auf seinen eigenen Gegner zu fokussieren. Empörung und Wut packten Clayton, was seinen Hass auf Harley in einem nie dagewesenen Ausmaß steigerte.

„Du hast mein Leben zerstört! Das von anderen wirst du gefälligst in Ruhe lassen!“, schrie Clayton erzürnt und schlug ihm mit einem energischen Degenhieb die Pistole aus der Hand. Unmittelbar darauf kehrte er Harley den Rücken und stürmte auf William zu, welchen er gekonnt in einen sichereren Winkel der Bühne schubste. Beinahe zeitgleich ertönte ein Knall und der bis zu Letzt verschont gebliebene Kronleuchter krachte hinab. Die elektrischen Lichter explodierten und pfeilspitze Holzbalken wurden in alle Richtungen geschleudert. Verängstigt verharrte Miceyla auf der Stelle, während ein dunkler Nebeldunst ihr die Sicht nahm. Sobald sie wieder ein einigermaßen klares Sichtfeld hatte, fiel ihr Blick sofort auf William und erleichtert durfte sie feststellen, dass er von dem Einsturz verschont geblieben war. Doch ihre Erleichterung verschwand alsbald und wurde durch ein unerträgliches Entsetzen ersetzt, als sie den am Boden liegenden Clayton erblickte. Ein gülden glänzender Messingstab des zerstörten Kronleuchters, hatte sich mitten durch seine Brust gebohrt. Vergeblich versuchte er sich zu erheben und hustete bei dem enormen Kraftaufwand tiefrotes Blut. Amelias Entsetzensschrei ließ Miceyla erschaudern und übertönte sogar das Knistern der vernichtenden Flammen, welche eine alptraumhafte Schneise der Verwüstung hinterließen. Wie konnte dies nur geschehen? Bis vor wenigen Augenblicken, hatte im Theater noch Glanz und Gloria geherrscht. Und mit einem Schlag, verwandelte sich die strahlende Traumwelt in eine düstere Hölle. Mochten die Flammen auch noch so hell strahlen, sie formten alles was mit ihnen in Berührung kam in pechschwarze Asche. Als wäre es ein Funken des Schicksals gewesen, fiel Claytons Degen Amelia genau vor die Füße. Mit glasigen Augen und zitterndem Leib, schüttelte sie Irenes Hand von sich ab und bückte sich nach der für Clayton wertvollsten Waffe, die einzig verbliebene Erinnerung an seinen verstorbenen Vater. Während sie den Griff fest umklammerte, betrachtete sie kurz mit überwältigender Wehmut, das Familienwappen der Fairburns und warf anschließend ihren hasserfüllten Blick auf Harley Granville, welcher für Claytons größtes Leid verantwortlich war.

„Fahr zur Hölle, Abschaum!“ Mit diesen verabscheuungswürdigen Worten rannte Amelia auf Harley zu und noch ehe dieser wusste wie ihm geschah, rammte sie ihm von hinten den Degen erbarmungslos durch die Brust

„Selbst der Tod kann dir deine Sünden nicht vergeben… Doch möge Claytons verwundete Seele, nun endlich ihren verdienten Frieden finden…“, flüsterte Amelia besiegelnd und zog den Degen schwungvoll wieder aus Harleys Körper heraus. Taumelnd drehte er sich herum und fixierte die tapfere junge Frau, mit seinen glasig blauen Augen. Dabei überspielte er den Schmerz seiner tödlichen Wunde mit einem kühnen Lächeln.

„D…du bist es also…die mein Leben letztendlich beendet… Ein Akt der wahren Liebe… Wie gern hätte ich sie noch einmal gesehen…meine Ophelia… Ich bin neidisch, Clay… Dir ist es vergönnt, deine Geliebte noch vor mir wiederzusehen…“ Harleys Stimme versagte und er fiel regungslos zu Boden. Der scheinbar unverwundbare und mächtige General war besiegt worden… Mit tränenüberströmten Augen ließ sie den Degen fallen und eilte zu Clayton, an dessen Seite bereits Irene und William knieten.

„Miceyla!“ Louis‘ erneuter Warnruf, rüttelte Miceyla während des alptraumhaften Szenarios wach und hielt sie davon ab, ebenfalls zu Clayton zu eilen. Einer der beiden Soldaten war von dem Einsturz getroffen worden. Doch der andere war leider noch putzmunter und wollte die Ablenkung seiner Widersacher, für einen heimtückischen Angriff nutzen. Mit siegessicherer Miene kam er auf Miceyla zugestürmt. In der einen Hand hielt er seinen Revolver und in der anderen einen silbernen Dolch. Miceyla atmete schwer vor Erschöpfung. Die sengende Hitze und ihr pochendes Bein setzten ihr schwer zu und lieferten sie ihrem Gegner schutzlos aus. Auch ihre Hand, mit der sie noch immer den Griff ihres Degens fest umklammert hielt, besaß kaum noch Kraft.

„Wage es ja nicht meine Schwester anzurühren, du widerlicher Schuft!“. rief Louis finster dreinblickend. Benommen und unfähig sich zu rühren, beobachtete Miceyla wie Louis sich auf den Mann stürzte und ihn hemmungslos mit seinen Messern attackierte. `Schwester… Er hat mich zum ersten Mal seine Schwester genannt…` Bei jener Erkenntnis rollten ihr langsam Tränen über die glühenden Wangen hinab. Wären die Umstände anders gewesen, hätten es mit Sicherheit Freudentränen sein können. Ihr Duell fand schon nach wenigen Augenblicken sein Ende. Der Soldat schaffte es nur zweimal den Abzug seiner Schusswaffe zu drücken, bevor es Louis gelang in niederzustechen. Mehr oder weniger raschen Schrittes humpelte Miceyla auf den keuchenden Louis zu, der sich erschöpft einen Arm um seinen Bauch legte.

„Es ist nun vorüber, wir haben alle erledigt… Er hat dich doch hoffentlich nicht getroffen, oder…?“, erkundigte Miceyla sich sorgenvoll bei ihm.

„Nein…es geht mir gut…“, antwortete Louis etwas zögerlich und schenkte ihr ein müdes Lächeln.

„Da bin ich aber beruhigt… Ich danke dir, mein Bruder…“, sprach Miceyla liebevoll und erwiderte sein Lächeln. Gemeinsam liefen sie nun zu den anderen und knieten sich auf den Boden neben Clayton.

„Lass uns zusammen von hier verschwinden! Harley ist endlich besiegt, jetzt darfst du ein friedliches Leben führen… Gemeinsam leben und lachen…die Kinder brauchen dich…“, sprach Amelia schluchzend und ihre Hände waren blutdurchtränkt, während sie vergeblich versuchte die Blutung von Claytons tiefer Wunde zu stoppen.

„Ach Amelia…Herzchen… Ich habe mich nun mal für einen anderen Ausgang der Geschichte entschieden… Das musst du einfach akzeptieren… Die Bühne war meine Festung und ich werde gemeinsam mit ihr untergehen. Sei den Kindern eine gute große Schwester. Sieh dich um…du bist längst nicht mehr allein… Ich wünsche mir für dich, dass du endlich die wahre Liebe kennenlernst… Sie ist wunderschön, glaube mir… Und Will, ich danke dir, mein Freund… Ah…da ist sie ja… Komm etwas näher, mein Vöglein“, sprach Clayton geschwächt und bedeutete Miceyla mit seinem erschöpften Blick näher an ihn heranzutreten. Verzweifelt biss sie sich auf die Lippe und wurde von Amelias unerbittlichem Weinen angesteckt.

„Nicht doch, Liebes… Für mich solltest du keine Tränen vergießen… Hat Will dir nie gesagt, wie schön dein Lächeln ist?... Hier…ich habe etwas, dass ich dir geben möchte… Lydias Ohrring. Stets trug ich ihn als Glücksbringer bei mir… Bringe ihn bitte zurück zu ihr…zu ihrem Grab nach Pembroke. Du kennst meine Geschichte… Die Aufgabe mag ich daher dir übertragen… Ich kann sie bereits fühlen…die angenehme Frühlingsluft… Noch einmal werde ich mit ihr im weichen Gras sitzen, dort…unter dem Magnolienbaum… Breite deine Flügel aus… Flieg…Amethesya…“, mit diesen letzten Worten, drückte er Miceyla Lydias Ohrring in die Hand. Kurz darauf fiel sein Arm schlaff neben seinen Körper und er schloss seine azurblauen Augen, für immer… Bei seinem friedlichen Lächeln glaubte man fast, er würde lediglich in einen tiefen Schlummer fallen. Mit tränenverschwommenem Blick, drückte sie den Ohrring in ihrer Hand an sich und neigte vor Clayton den Kopf.

„Ich…ich bringe ihn zu Lydia… Du musst wissen…ich habe es geliebt, gemeinsam mit dir auf der Bühne zu stehen. All die strahlenden Gesichter der begeisterten Zuschauer… Du hast ein Wunder vollbracht. Den Menschen hast du den weitentfernten Sternenglanz, ein Stückchen näher gebracht… Danke, dass ich Teil dieses Wunders sein durfte… Den nächsten am Nachthimmel geborenen Stern, widme ich allein dir…Clay…“ Entkräftet schenkte Miceyla ihm noch ein paar Worte der Dankbarkeit, die er zu ihrer großen Frustration nicht mehr hören konnte. Sie vernahm kaum, wie William ihr trötend seine Hand auf die Schulter legte. Die unerträgliche Hitze raubte ihre Sinne. Jedoch spürte sie dennoch ganz deutlich, dass auch ihm das Gefühl des schmerzenden Verlustes plagte.

„Es hat funktioniert! Und wir kennen einen Weg hinaus! Schnell, beeilen wir uns…“, rief ein herbeirennender Fred ungeduldig. Er verstummte allerdings, als er die trauernde Runde erblickte. Sherlock in dessen Schlepptau, lief etwas langsamer mit undeutbarer Miene auf die Gruppe zu. Nur flüchtig warf er einen Blick auf Harleys Leichnam, als wollte er sich vergewissern, dass er nicht von den Toten wiederauferstand.

„Liam, wir müssen hier weg…“

„Natürlich… Dies ist kein geeigneter Ort zum Trauern…. Nicht mehr lange und das glanzvolle Theater, verwandelt sich in eine trostlose Ruine… Mein Liebling, Bruderherz, gehen wir…“, stimmte William Sherlock mit trister Stimme zu und half der verzagten Miceyla sich zu erheben.

„Kannst du laufen?“, erkundigte er sich sanft bei ihr.

„Ja…es geht schon… Die Kugel hat mein Bein nur gestreift“, erwiderte sie getrübt. Fred und Irene gaben sich große Mühe, die traumatisierte Amelia von Claytons leblosen Körper loszukriegen. Derweil hob William Claytons Degen auf und nahm ihn an sich.

„Urgh…“ Gerade als die Gruppe die Treppen der Bühne hinabsteigen wollte, oder mehr das was von ihr übrig geblieben war, brach Louis plötzlich ohne Vorwarnung zusammen und fiel auf die Knie. Mit schmerzverzehrtem Gesicht packte er sich auf seine bebende Brust.

„Louis!“ Die Truppe machte besorgt Halt und William eilte augenblicklich an die Seite seines Bruders. Er legte ihm stützend seinen Arm um und tastete mit der Hand vorsichtig über Louis‘ Oberkörper. Mit purer Angst öffnete er danach sein schwarzes Jackett und erblickte entgeistert das blutrot gefärbte weiße Hemd darunter.

„Du…du bist getroffen worden…!“, sprach William heiser und Verzweiflung ergriff von ihm Besitz. Miceyla riss schockiert die Augen weit auf und erstarrte regungslos auf der Stelle.

„A-aber du sagtest…dich hätte kein Schuss getroffen… Wieso wolltest du so etwas Fatales vor uns verheimlichen?!“, stotterte Miceyla panisch und ihr unbändiges Schwindelgefühl verweigerte ihr zu handeln.

„Ich…ich wollte dir keine Last sein… Will, mein Bruder… Früher oder später erwischt es nun mal jeden von uns… Dessen waren wir uns immer schmerzlich bewusst gewesen… Gemeinsam haben wir so viel erreicht… Du wirst es zu Ende führen…mit Miceyla und Bruder Albert an deiner Seite… Unser Traum von einer gerechten Welt bleibt unsterblich, er vergeht niemals…und…argh…“, gestand Louis wehmütig, wobei ihm das Sprechen große Kraft kostete.

„Bitte…lass es nicht so klingen, als sei es ein letzter Abschied… Das lasse ich nicht zu, du darfst hier nicht sterben… Wenn ich dich verlieren sollte, stirbt ein Teil von mir mit dir…“, erwiderte William verzagt und Miceyla brach es das Herz, ihn so hilflos zu sehen.

„Wir müssen Louis schleunigst zu einem Arzt bringen! Bestimmt befindet sich John noch draußen vor Ort! Er weiß sicher Rat!“, meinte Fred hektisch, dem die Hilflosigkeit seiner Kameraden in blanke Panik versetzte. Nach dessen nur gut gemeinten Vorschlag, tauschten Sherlock und William kurz trübe Blicke aus, als wüssten beide bereits, wie es um Louis‘ tragisches Schicksal bestellt war. Miceylas Sichtfeld verschwamm allmählich vor ihren Augen und der mangelnde Sauerstoff trübte ihr Bewusstsein. Der Ohnmacht nahe, drohte sie nach hinten umzukippen. Doch anstatt das sie einen unsanften Aufprall erlitt, wurde sie von jemanden abgefangen. Zwei starke Arme hielten sie beschützend fest, welche sie nicht loslassen wollten, ehe sie sich nicht wieder in Sicherheit wiegen konnte.

„Albert… du bist zurückgekommen…durch das Flammenmeer…“, hauchte Miceyla mit dünner Stimme und erkannte trotz ihres schwindenden Bewusstseins, seinen zerrissenen Anzug und den schwarzen Ruß auf den Händen und im Gesicht.

„Meine Familie lasse ich nicht im Stich. Ich gehe durch die finsterste Hölle, um euch zu retten. Selbst wenn der Tod dort auf mich wartet…“, sprach Albert unerschrocken und hob Miceyla hoch in seine Arme, um sie das restliche Stück aus dem brennenden Theater hinauszutragen.

„Gesprochen wie ein wahrer Held…“, murmelte Sherlock leise und half William dabei, Louis beim Laufen zu unterstützen. William blickte Albert voller Dankbarkeit an, mit der tröstenden Gewissheit, dass er mit seinem Bruder jegliches Leid teilen konnte. Nach einem letzten Kampf durch die Feuersbrunst, hatten sie es dann endlich ins Freie geschafft und waren dankbarer denn je, wieder reine Luft einatmen zu können. Vor dem Eingang des Theaters, hatte sich eine große Menschenansammlung zusammengefunden, die entsetzt das in Flammen stehende Theater beobachtete, welches die dunkle Nacht erhellte. Mit trüben Blick betrachtete Miceyla das furchteinflößende Spektakel und erkannte mit einem Stich im Herzen, wie die Buchstaben des eingravierten Namens `Regenbogenschwingenpalast`, über dem Eingang immer unleserlicher wurden. Bald würde man davon nichts mehr entziffern können… `Vermag ich auch nicht die Zeit zurückzudrehen… Die Erinnerungen an diesen wundersamen Ort werden weiter fortleben… Und du wirst auf ewig eine beispiellose Legende bleiben… Clayton Fairburn…Ruhe in Frieden…`, dachte Miceyla trübselig und Albert setzte sie wieder auf den Boden ab, blieb jedoch dicht an ihrer Seite, da sie noch immer sehr geschwächt war. Plötzlich tätschelte ihr jemand sachte über den Kopf und sie blickte verwundert zu Moran auf.

„Du…du bist ja bereits wieder auf den Beinen?! Ein Glück…“

„Es braucht schon ein bisschen mehr, um mich für längere Zeit außer Gefecht zu setzen. Du warst sehr tapfer. Für uns alle ist es heute ein schwerer Kampf gewesen. Und wie ich sehe, werden wir uns dieses Mal nicht so schnell, von den erlittenen Wunden erholen können…“, sprach Moran ernst, mit Blick auf den schwerverletzen Louis. Miceyla wurde bei dessen verheerenden Anblick speiübel und sie betete inständig um ein rettendes Wunder. Doch die Hoffnung, hatte sie längst mit Clayton im brennenden Theater zurückgelassen.

„Miceyla!“ Sie wurde auf einmal von einer zu Tode verängstigten Emily, vorsichtig in die Arme genommen. John und Mary hatten sich nun ebenfalls bei der Gruppe eingefunden und das pure Entsetzen stand ihnen in die Gesichter geschrieben.

„Dürfte ich dich bitten, dir einmal Liams jüngeren Bruder anzuschauen? Du wirst dann selbst erkennen, wie die Chancen für ihn stehen…“, flüsterte Sherlock John leise zu und der junge Arzt nickte augenblicklich pflichtbewusst, wobei er zielstrebig auf die Moriarty-Brüder zulief. William kniete gemeinsam mit Louis auf dem Boden und stützte seinen schwerverletzten Bruder. Mit ruhigen Händen entblößte John Louis‘ blutverschmierte Brust und tastete gewissenhaft um die Schusswunde. Er schluckte schwer beim Inspizieren der kritischen Verletzung, schwieg jedoch weiterhin.

„Und…wie steht es nun um Louis?“, erkundigte Fred sich vorsichtig, für den sein unruhiges Verhalten eher untypisch war. Doch die angespannte Atmosphäre, seit dem Ende des schicksalhaften Theaterstücks, hatte den Gemütszustand eines jeden ins Wanken gebracht.

„Also… Die Kugel müsste rausoperiert werden… Aber der immense Blutverlust ist verheerend. Und die Fahrt in das nächstgelegene Krankenhaus, wird zu viel Zeit in Anspruch nehmen… Es tut mir leid, dass ich keine besonders große Hilfe sein kann…“, erörterte John ehrlich und war sichtlich verzagt darüber, dass jegliche ärztliche Macht, bei solch einer Schusswunde mitten in lebenswichtige Organe, versagte.

„Dies…soll die Strafe…für meine Sünden sein… Ich bereue nun nichts mehr… Wir alle….sind gefangen in einer Sanduhr… Dem Kreislauf des Lebens kann niemand entrinnen…“, sprach Louis schwach und schenkte dem gutherzigen Arzt ein zaghaftes Lächeln, als wäre dies die Entschädigung, für das was er ihm in der Vergangenheit in Harefield angetan hatte.

„Du hörst dich an wie ein steinalter Mann! Mensch Louis, du bist blutjung! Ich gebe dir gern Energie von mir ab, damit du mir ab morgen, wieder mit deinen Zurechtweisungen auf die Nerven gehen kannst!“, meinte Moran mit lauter Stimme und Miceyla blickte bedrückt in sein angespanntes Gesicht. Sie wusste genau wie alle anderen die ihn gut kannten, dass er sein Mitgefühl gegenüber seinen Mitmenschen, auf seine ganz eigene Art und Weise zum Ausdruck brachte.

„Lasst uns nichtdestotrotz zum Krankenhaus fahren, auf schnellstem Wege. Wir sind ohnehin beinahe alle verletzt, daher ist es die vernünftigste Lösung gemeinsam dorthin zu fahren… Danke für deine Hilfe heute…“, gab William sich noch nicht geschlagen und bedankte sich noch gesittet bei Sherlock, für seine tatkräftige Unterstützung.

„Keine Ursache… Dennoch wünschte ich, der Ausgang wäre etwas glimpflicher gewesen…“, erwiderte Sherlock missmutig und legte Miceyla nach kurzem Zögern seine Hand auf ihre Schulter.

„Bitte erhole dich anständig. Wir werden uns sicher bei der nächstbesten Gelegenheit wiedersehen. Der Sturm ist noch nicht vorüber, vergiss das nicht, Mia. Harleys Ableben wird neue Probleme in die Welt rufen, die selbst ich bisher verdrängt habe“, sprach er vertraulich und war sichtlich unglücklich darüber, ihr keine lichtbringendere Hoffnung schenken zu können.

„Natürlich, das Rad der Zeit dreht sich unaufhörlich weiter und kennt keine Gnade… Wenigstens ist einer von uns jetzt davon erlöst worden, der es wahrhaftig verdient hat… Bis bald, Sherly. Und danke nochmals… Du hast dazu beigetragen, dass aus dem heutigen Theaterstück ein Meisterwerk entstanden ist. Es hat sich angefühlt wie ein flüchtiger, jedoch wunderschöner Traum. Ich werde ihn niemals vergessen…“ `Wir beide werden den heute gelebten Traum niemals vergessen…`, fügte Sherlock bittersüß in Gedanken hinzu und beobachtete nachdenklich, wie Miceyla nach ihren Worten des Abschieds, mit Moran und den Moriarty-Brüdern in eine Kutsche stieg.

„Kümmere dich bitte gut um Amelia, Irene. Ich werde dich ganz bestimmt bald besuchen kommen“, verabschiedete Fred sich noch rasch hin und hergerissen. Amelia blickte wie in Trance, stumm mit glasigen Augen zu Boden und schenkte seinen freundlichen Worten keinerlei Gehör.

„Du kannst dich weiterhin darauf verlassen, dass ich mich gut um Amelias Wohlbefinden kümmern werde. Wir fahren zurück in das Waisenhaus. Momentan existiert kaum mehr ein geschützterer Ort für uns…“, versicherte Irene ihm erneut und auch sie war sehr blass vor Unbehagen. Fred nickte dankbar und eilte zu seinen aufbrechenden Freunden. John, Mary und Emily blieben noch für einen kurzen Moment neben Sherlock stehen und verfolgten gemeinsam die lospreschende Kusche mit besorgten Blicken. Der Tumult um sie herum erreichte allmählich seinen Höhepunkt und Scotland Yard war mittlerweile ebenfalls eingetroffen und dirigierte die dazustoßenden Löscheinheiten. `Hier gibt es für mich nichts mehr zu tun…`, dachte Sherlock trüb und verließ die Szenerie des Grauens als stiller Beobachter.
 

Miceyla starrte mit halb geöffneten Augen, an die bleiche Decke ihres Krankenzimmers. Sie hatte verbissen versucht wachzubleiben, um mitzubekommen, ob die Ärzte dazu befähigt waren Louis‘ Leben zu retten. Doch letztendlich hatte die mächtige Erschöpfung sie vollständig überwältigt und sie musste wohl einen Tag geschlafen haben Sie spürte einen straffen Verband um ihr rechtes Bein gewickelt, aber ihre Schmerzen waren gemildert. Halb am verdursten trank sie dankbar das Glas Wasser, welches man ihr auf einen Tisch neben ihrem Bett gestellt hatte, in einem Zug aus. Plötzlich klopfte es an der Tür und Miceyla war darum bemüht, sich trotz ihrer noch immer stark anhaltenden Erschöpfung aufzurichten.

„Ja…bitte…“ Beinahe geräuschlos öffnete sich die Tür und Albert trat mit sanftmütigem Lächeln hinein. Doch Miceyla sah sie ganz genau, die tiefe Trauer in seinen smaragdgrünen Augen, welche er zu verbergen versuchte.

„Wie fühlst du dich, meine Liebe?“, erfragte er zu allererst ihren momentanen Gesundheitszustand und setzte sich neben sie auf das Bett.

„Du erhoffst dir sicher, eine ehrliche Antwort von mir zu hören… Nun, es geht mir sowohl körperlich als auch mental hundselend. Aber ich werde nicht jammern, da es andere weitaus heftiger erwischt hat als mich. Wie geht es…Louis…?“, erkundigte Miceyla sich daraufhin vorsichtig, was für sie eine große Überwindung kostete, da sie die Antwort fürchtete.

„Wir kehren zum Anwesen zurück, jetzt gleich. So lautet Williams Wunsch. Moran und Fred warten bereits unten vor dem Eingang. Im vertrauten Umfeld, wird es dir wieder besser ergehen. Zudem vermisst dich Evelyn sicher ganz furchtbar, so wie du sie vermisst“, wich Albert ihrer Frage aus und nahm ein wenig ungeduldig ihre Hand, um ihr vom Bett aufzuhelfen.

„Nur Moran und Fred? Was ist mit William und Louis? Kommen die beiden nicht mit uns?!... Albert, bitte spanne mich nicht auf die Folter und gib mir eine Antwort! Es ist unerträglich für mich in Unwissenheit zu leben…“, flehte Miceyla niedergeschlagen und kämpfte schluchzend mit den Tränen. Als wäre die Zeit stehen geblieben, sprach Albert noch immer kein einziges Wort und wich abwesend ihrem energischen Blickkontakt aus.

„Louis…hat die letzte Nacht nicht überlebt… Gib William etwas Zeit, um sich alleine von ihm zu verabschieden. Mit seinem jüngeren Bruder hat er mehr Lebenszeit verbracht, als mit jedem anderen von uns…“, brachte Albert es endlich nach einer gefühlten Ewigkeit über sich, jene schockierende Nachricht auszusprechen. Der gewaltige Schock traf Miceyla tief und sie wusste weder wie sie darauf reagieren sollte, noch was sie im Augenblick denken oder fühlen sollte. Am liebsten hätte sie gleichzeitig geweint als auch geschrien, doch ihre Sinne waren zu betäubt für solch eine emotionale Reaktion. Schuldbewusst blickte Albert sie an, war sich jedoch darüber im Klaren, dass sie den Schmerz der Trauer gemeinsam durchleben mussten. Sachte zog er Miceyla an sich und schlang trötend die Arme um sie. Instinktiv erwiderte sie seine Umarmung und spürte, wie er dadurch den Druck in seinen Armen erhöhte, welche sie fest umschlossen hielten. Doch in dem Moment, fühlte es sich für sie mehr als nur wohltuend an. Sein vertrauter Geruch und die Gewissheit, vor dem hilflosen Gefühl der Verlorenheit beschützt zu werden, bereicherte ihre zerbrochene Hoffnung, mit einem Funken des wärmenden Trostes.

„Vergib mir, meine geliebte Eisblume, dass ich nicht dazu imstande gewesen bin, euch alle drei aus der glühenden Hölle zu retten… Ich werde mir das niemals verzeihen können…“ Alberts verbitterte Worte, unterstrichen seine in Stücke gerissene Seele. Die Familie bedeutete für ihn das allergrößte Glück im Leben. Und nun hatte er ein geliebtes Familienmitglied verloren, was den unerträglichsten Schmerz in seinem Herzen weckte.

„Bitte, du darfst dir nicht die Schuld dafür geben… Keiner von uns besitzt die Macht, jegliches unvorhergesehene Unglück zu verhindern. Das Leben ist gefüllt mit unbarmherzigen Ungerechtigkeiten. Vergangenes und Verlorenes lässt sich nicht wiederherstellen. Aber wir bewahren all die kostbaren Erinnerungen, welche uns auf den Pfad in die Zukunft begleiten. Und auch wenn die Lücke in unseren Herzen sich nicht füllen lässt, wir sind nicht allein…“, sprach Miceyla trötend und versuchte sich all die schönen Momente, die sie in der Familie Moriarty erlebt hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen. Und es half tatsächlich ein klein wenig, den Schmerz der Trauer besser ertragen zu können.

„Danke, meine Liebe. Ich bin immer für dich da. Du kannst dir nach wie vor kaum vorstellen, wie viel du mir bedeutest… Doch du bist Williams unersetzbares Juwel und nun braucht er dich mehr denn je…“, flüsterte er dicht neben ihrem Ohr und sie spürte ein merkwürdig bedrohliches Gefühl der ungewissen Vorahnung, welche sich in seinen Worten verbarg. Und sie fürchtete beinahe darum, ihn wieder loslassen zu müssen.

„Ich vermisse dein Klavierspiel… Bitte spiele, nur für mich… Es wird Zeit, dass ich mein Buch `Eisblume` endlich zu Ende schreibe. Du sollst der erste sein, der es lesen darf. Nur auf diese Weise kann ich meine Dankbarkeit, für deine erbrachten Opfer zum Ausdruck bringen.

„Ich…liebe dich sehr, Bruderherz…“. Sprach sie leise und reiste kurz in Gedanken zurück in die Vergangenheit, in der sie alle ihre gemeinsame Zeit in vertrauter Runde genossen hatten.

„Ich liebe dich auch sehr, Schwesterherz…“
 

Während der Kutschfahrt sprach keiner von ihnen und sogar der sonst so impulsive Moran, hüllte sich in andächtiges Schweigen. Miceyla überließ es Albert, Miss Moneypenny die traurige Botschaft zu überbringen, damit sie sich auf direktem Wege in ihr Schlafzimmer zurückziehen konnte. Als sie die Tür öffnete, fiel ihr Blick zu allererst auf die Amaryllis, welche sie in einer Vase auf ihren Schreibtisch gestellt hatte. Tränen liefen ihre Wangen hinab, als sie darauf zulief und eine Hand, nach der bereits zu welken begonnenen Blüte ausstreckte. `Wir sind endlich zu einer glücklichen Familie zusammengewachsen…und nun verlieren wir dich, Louis… Es muss eine Lüge sein, ein abscheulicher Albtraum…Du warst der loyalste Bruder, den William sich nur wünschen konnte. Wie kann eine solch gutherzige Menschenseele, nur so früh von uns gehen… Die Welt bleibt letztendlich doch einfach nur grausam und ungerecht…` Die tiefe Trauer ließ sie zu Boden sinken und nach einigen verstreichenden Minuten, trocknete sie ihre Tränen mit dem Ärmel und holte Lydias Ohrring hervor. `Und nicht nur Louis… Es kommt mir so vor, als würde ohne Clayton und sein Theater eine Ära zu Ende gehen… Ich kann das einfach noch nicht realisieren… Das ist alles zu viel, um es ertragen zu können. Dies ist der wohl schmerzhafteste Abschied bisher in meinem Leben… Doch gerade darum vergesse ich mein Versprechen an dich nicht, mein Freund. Ich werde nach Pembroke reisen und bringe deine Seele zurück zu Lydia…`
 

Schläfrig öffnete Miceyla die Augen und tastete an ihren schmerzenden Kopf. Sie war an ihrem Schreibtisch eingeschlafen, während sie damit begonnen hatte, ein Gedicht für Louis zu schreiben. Eigentlich hatte sie am Abend vorgehabt, noch einmal nach Evelyn zu sehen, über die noch immer Miss Moneypenny wachte. Aber ihre geschwächten Kräfte hatten ihr dies verwehrt. Miceyla sehnte sich danach, ihr kleines Töchterchen in Armen zu halten. Als sie vernahm wie ganz leise die Türklinke heruntergedrückt wurde, richtete sie mit nervös klopfendem Herzen den Blick auf die Tür und war nun hellwach. Kurz darauf trat William in den Raum, ruhig und gefasst, wie sie es von ihm gewohnt war. Jedoch erkannte sie in seinem blassen Gesicht, den ausmerzenden Schmerz des Verlustes, als hätte er all seine geliebten Kameraden, in einem verlorenen Krieg zurücklassen müssen. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und suchte verzweifelt nach geeigneten Worten, um die ganze unbehagliche Situation nicht noch schlimmer zu machen. Doch solche Worte existierten in jenem Moment einfach nicht und William erging es bestimmt im Augenblick nicht viel anders. Sie mussten akzeptieren, dass es manchmal am einfachsten war, die ungekünstelten Gefühle des Herzens nach außen durchdringen zu lassen.

„Will…ich…es tut mir alles so schrecklich leid… Der Schmerz ist kaum zu ertragen. Sind wir nicht bloß in einer Illusion gefangen…? Sage mit, wie soll es für uns jetzt nur weitergehen…?“, sprach sie aufgelöst und fühlte sich wie eine umherirrende Seele, die ihren Platz im Leben verloren hatte. Unmittelbar nach ihren Worten, lief William auf Miceyla zu und schloss sie tröstend in die Arme. Jedoch versuchte er selbst Trost zu finden, indem er ihre vertraute Nähe spürte.

„Meine Liebste, das Rad der Zeit dreht sich für uns stetig weiter, auch wenn es sich momentan nicht danach anfühlen mag… Du hast mich stets daran erinnert, nun erinnere ich `dich` daran. Nicht alles ist verloren, die Erinnerungen bleiben uns erhalten… Bis wir eines Tages selbst von dieser Welt scheiden… In Träumen werden wir wieder vereint sein…“ Miceyla spürte verzagt in seiner klammernden Umarmung, dass er den Kampf, sich der bitteren Wahrheit zu stellen aufgab und seine Tränen befreite, die er bisher gefasst zurückgehalten hatte. Für einige Augenblicke verharrten die beiden dicht beieinanderstehend und genossen den kurzen Moment der Stille und des Friedens. Sachte löste William sich etwas von Miceyla, um ihr in das Gesicht blicken zu können. Dennoch hielt er sie weiterhin in seinen Armen umschlossen.

„Wie recht er hatte… Dein bezauberndes Lächeln ist mit eines der größten Geschenke, welche du mir jemals machen konntest. Dich jetzt wieder leiden zu sehen, bricht mir das Herz… Von Beginn an war es meine Motivation gewesen, deine wunderschönen Augen von dem Kummer, der dich seit jeher bedrückt hat, zu befreien. Augen, die wahres Leid kennen und plötzlich nach einer langen düsteren Lebensphase vor Glück erstrahlen. In genau diese Augen habe ich mich verliebt und tue es jeden Tag aufs Neue…“, sprach William so liebevoll, dass es ihr Herz beflügelte und für beide fühlten sich all die schönen Erinnerungen beschwichtigend nah an.

„Auch ich werde Zeit brauchen, um die leidvollen Geschehnisse zu verarbeiten… Nicht nur meinen jüngeren Bruder habe ich verloren, sondern auch einen guten Freund. Clayton verdanke ich mein Leben. Um ihm Respekt zu sollen, werde ich weise mit der zweiten Chance umgehen, die er mir vermacht hat und nicht zuletzt auch für meine Familie da sein… Sicher ist es in deinem Sinne, zeitnah nach Pembroke zu reisen, wenn es deine gesundheitliche Verfassung zulässt. Selbstverständlich begleite ich dich gerne dorthin“, bot William ihr seine Begleitung auf der Reise zu Claytons Geburtsort an. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln, aber schüttelte dennoch nach kurzem Überlegen langsam den Kopf.

„Du brauchst nicht mitzukommen. Auch wenn ich dich dort natürlich liebend gern an meiner Seite hätte. Doch wir teilen uns jegliches Leid, nicht wahr? Daher musst du dich nicht zwingend zerreißen, um von beiden zeitgleich Abschied nehmen zu können. Lass mich Clayton die letzte Ehre erweisen, währenddessen widmest du dich gemeinsam mit Albert, deinen dich mit Louis verbindenden Erinnerungen. Zu seiner Beerdigung werde ich wieder zurück sein. Ich bitte Moran mich zu begleiten“, entschied sie mit dem guten Gefühl, auf diese Weise die beste Lösung für alle gefunden zu haben. Miceylas neugewonnene Stärke, machte William zur gleichen Zeit etwas verlegen als auch glücklich.

„Ja…dann machen wir es so. Ich bin derweil auch für Evelyn da.“
 

Am nächsten Tag wollte Miceyla bereits in der Früh Moran aufsuchen. Nachdem sie ihn im Anwesen nicht antraf, wurde sie im Garten fündig. Er stand an dem farbenfrohen Blumenbeet, um welches sich Louis gemeinsam mit Fred immer liebevoll gekümmert hatte. Mit den Händen in den Hosentaschen, ließ er gedankenversunken seinen Blick über die Blumen schweifen. Der strahlend blaue Himmel und die bereits warme Morgenluft verriet, dass es ein sehr heißer Junitag werden sollte.

„Morgen. Wie sieht‘s aus? Lust auf ein paar Schießübungen? Wir waren lange nicht mehr zusammen im Wald. Natürlich nur wenn dein Bein nicht mehr schmerzt“, begrüßte er sie lässig und zündete sich unbekümmert eine Zigarette an, als wäre seine eigene Wunde am Kopf bereits wieder vollständig verheilt. Aber die Tatsache das Moran sie lediglich auf andere Gedanken bringen wollte, beruhigte ihr Gemüt.

„Für einen Ausflug in die wilde Natur bin ich immer zu haben. Aber was hältst du von Pembroke? Der Ort ist bestimmt auch einen kleinen Ausflug wert. Ich habe dort noch etwas zu erledigen… Noch einmal für einen kurzen Moment das Gefühl unendlicher Freiheit spüren, wie damals in Richmond… Begleitest du mich…?“, erzählte Miceyla sogleich von ihrem Vorhaben und hielt wie gebannt ihren Blick auf die Blumen gerichtet, als würde Louis jeden Augenblick durch sie zu ihr sprechen.

„Bin dabei. Die Gelegenheit sollte ich nutzen…“, gab er ihr ohne Umschweife eine Antwort mit gewissenhafter Miene.

„Nanu? Kein Nörgeln und kein Protest? So kenne ich dich gar nicht. Aber ich verstehe schon, die jüngsten Ereignisse sind uns allen sehr nah gegangen…“, erwiderte Miceyla ein wenig überrascht und dennoch formten sich ihre Lippen zu einem melancholischen Lächeln.

„Es ist nicht nur das… Der Verlust von Kameraden ist für mich eine Routine, die sich im Laufe der Zeit eingependelt hat. So hart es auch klingen mag. Aber ich habe die blanke Wahrheit von William persönlich erfahren. Nämlich das Clayton der Grund dafür ist, dass er jene Nacht im Theater überlebt hat. Er stellte Williams Leben über seine versessene Rache an Harley… Ich wäre ein Vollidiot, würde ich dies nicht anerkennen, Und daher nagt es schon etwas an meinem Gewissen, dass ich ihn damals, als er in Dains brennendes Anwesen gestürmt war um dessen Sohn zu retten, so hemmungslos angebrüllt habe… Was für eine Ironie, da versterben die Menschen plötzlich und egal wie hartgesotten man ist, die Schuldgefühle holen einen dann doch immer ein. Mein Verhalten gegenüber Louis war auch nicht zu jeder Zeit vorbildlich… Genug der Sentimentalitäten. Wann gedenkst du nach Pembroke zu reisen?“, erkundigte Moran sich ablenkend, nach einer kurzen Offenbarung seiner geheimen, inneren Gefühlswelt.

„Ich dachte bereits am morgigen Tag. Denn allzu lange dürfen wir nicht fortbleiben. Wir werden hier gebraucht…“
 

Es wehte ein angenehm sommerlicher Wind und die Sonne lugte nach einem kurzen Regenschauer, wieder hinter einer leichten Wolkendecke hervor. Miceyla hatte den Eindruck, Claytons Seele würde neben ihr und Moran her spazieren, seitdem sie in dessen Heimat angekommen waren. Die beiden hatten eine detaillierte Karte von ihrem Zielort mitgenommen und liefen nun einen grünen Hügel in der Grafschaft von Pembroke hinauf. Sie folgte ihrem flüsternden Instinkt und zog ihre Schuhe aus, um das angenehm feuchte Gras unter ihren nackten Füßen spüren zu können. Mit einem tiefen Atemzug schloss sie die Augen und lauschte den vielfältigen Geräuschen der Natur, in denen sich etliche sagenumwobene Botschaften verbargen. Als Miceyla wieder die Augen öffnete, versuchte sie sich vorzustellen, eine neue Gegenwart betreten zu haben, in welcher Clayton erneut mit einem glücklichen Lächeln auf der Bühne auftrat. Lydia befand sich im Publikum und teilte mit ihm dessen Glück, dass sein Lebenstraum von einem eigenen Theater in Erfüllung gegangen war. Eine junge Liebe, prachtvoll hätte ihre Zukunft aussehen können. Doch nun lag sie wie viele andere unvollendete Geschichten, in der Vergangenheit begraben. Miceyla wurde ins Diesseits zurückgerufen, als sie auf der Spitze des Hügels jenen einsam dastehenden Magnolienbaum erblickte, mit zwei markanten Grabsteinen darunter. `Wie schön er wohl mit seinen Blüten im Frühling aussehen muss…`, dachte sie verträumt und kniete schweren Herzens vor Lydias Grab und das von Claytons Vater nieder, mit dem funkelnden Perlenohrring in ihrer rechten Hand.

„Er ist jetzt wieder nach einem turbulenten Abenteuer zu Hause eingetroffen. Die Liebe deines Lebens… Dein geliebter Sohn… Viel zu früh leider, ich weiß… Aber empfangt ihn dennoch mit einem Lächeln, Clay hat es wahrhaftig verdient. Ihr müsst wissen, er hat zu jeder Zeit hart dafür gekämpft, die Menschen in seinem Umfeld glücklich zu machen. Er selbst ist ein wundervoller Mensch gewesen. Klug und unvoreingenommen, tapfer und voll unendlichem Einfallsreichtum… Ich werde ihn schrecklich vermissen… Und sein Theater, den Palast, in dem Träume wahr wurden…“, sprach Miceyla schluchzend und wischte sich kurz innehaltend ihre Tränen von den Wangen, ehe sie fortfahren konnte. Plötzlich spürte sie Morans Hand auf ihrer Schulter, welcher mittlerweile neben ihr auf dem Gras kniete, um ihr Beistand zu leisten. Dankbar sah sie ihn an und blickte anschließend mit einem zaghaften Lächeln zu dem blauen Himmel empor. `Du bist nun wieder daheim Clay, bei deinen Liebsten… Verteidige deinen Thron gut, in dem Königreich der Toten. Lass ihn dir von niemanden rauben, schon gar nicht von Harley. Dein neugewonnenes Glück gehört nur dir allein. Ich verspreche dir, dass ich jede einzelne Blume liebevoll hegen und pflegen werde…in unserem Garten der Erinnerungen… Lebe wohl…`
 

Liebes Tagebuch, 28.6.1881
 

dieser Monat hat sich für mich angefühlt, wie ein nicht enden wollendes komplettes Jahr. Was bin ich froh, ihn endlich hinter mir lassen zu können. Die letzten Wochen waren geballt mit unendlich vielen negativen Emotionen. Als wollte das Schicksal unsere Herzen auf eine harte Probe stellen, um herauszufinden, wie viel Schmerz sie verkraften konnten. Seit Louis‘ Beerdigung vor ein paar Tagen, habe ich das Anwesen nicht mehr verlassen. Noch immer fesseln mich Trauer und Angst. Momentan kann ich es mir nicht vorstellen, den Schmerz hinter mir zu lassen und nach vorn zu blicken. Die Atmosphäre ist seltsam beklemmend. Ohne Louis ist es so still geworden, unsere Familie ist nun unvollständig. Dennoch lassen William und Albert den Mut nicht sinken. Mit lieben Worten und aufmerksamen Taten, versuchen sie uns jeden Tag zu versüßen. Ich bewundere ihre Stärke. Albert hatte bereits wieder seine Arbeit beim Militär aufgenommen, ich wagte mich bisher noch nicht nachzufragen, wie nach Harleys Ableben dort die Situation aussah. Auch William vertiefte sich wieder in seine Arbeit, um sich abzulenken. Fred drängte darauf nach Amelia zu sehen. Doch ich bat ihn, ihr noch etwas Zeit zum Trauern und Abschied nehmen zu geben. Auch ich wollte sie so bald wie möglich wiedersehen. Sherlock war mit Emely, John und Mary bei der Beerdigung anwesend gewesen, jedoch redeten wir an jenem Tag kaum ein Wort miteinander. Nie wieder das Theater betreten zu können, weckt in mir eine noch nie zuvor dagewesene Furcht… Die unvorhersehbare Schicksalswende, hat eingeschlagen wie ein zerstörerischer Blitz. Doch auch ich muss wie jeder andere lernen die Fassung zu wahren, sonst werden mich die Sorgen und Probleme übermannen. Noch gibt es wichtige Dinge zu erledigen und wir sind weiterhin dazu befähigt, den Lauf der Geschichte positiv beeinflussen zu können. Geduld und Vertrauen werden für mich weiterhin unabdingbar bleiben, um dem was noch vor mir liegt ins Auge zu blicken…
 

Garten der Erinnerungen
 

Zögernd schritt ich durch das sich langsam öffnende Tor,

die duftende und reine Luft stieg dabei zu mir empor.

Vögel vom anbrechenden Tage sangen,

Tautropfen um mich von den Blättern sprangen.
 

Spuren zogen sich schleichend durch alle Jahreszeiten,

den azurblauen Himmel erblickte ich von allen Seiten.

Erzähle mir, was werden wir heute wieder alles erleben?

Was würde ich nicht alles für die Erfüllung unserer Träume geben.
 

In der Wirklichkeit wir uns voll und ganz vergaßen

und die nicht bedachten Möglichkeiten, die wir je besaßen.

Doch selbst die tiefen Wurzeln unter der Erde,

wissen von meiner stützenden Hand, die ich für dich sein werde.
 

So möge ich auch alleine verweilen in unserem Garten,

ich werde bis zum Ende bleiben und auf dich warten.

Erinnere dich als uns noch der sorgenfreie Wind umgab

und die erbarmungslose Zukunft noch vor uns verborgen lag.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  GaaraS
2022-04-07T14:47:09+00:00 07.04.2022 16:47
Hey ich schreibe dir mal ein Kommi den mir fällt beim besten Willen nicht ein warum es keiner bisher gemacht hat :( aber zurück zu der Geschichte sie ist bisher von dem alles was ich gelesen habe einfach genial und super. Ich liebe deinen OC und vor allem ihre starke Persönlichkeit sie ist so lebensfroh aber kann auch mal ernst werden außerdem sind diese kurzen lustigen Momente echt Gold wert und runden diese Story ab es gibt ihr einen gewissen touch. Vor allem aber liebe ich echt diesen Animie ich meine der ist schon echt gut aber die Mangas toppen das ganze noch oh und die Moriartys geschweige den ich bin ein riesen fan von William wenn ich das erwähnen darf aber genug geschwärmt. Diese Zitate am Anfang manchmal und zum Schluss immer sind immer so passend und jeweils gleichzeitig schön in jedem Kapiteln bisher außerdem hast du echt eine besonderen Schreibstil den ich sehr selten bei Autoren zu lesen bekomme die ich bisher alle kenne sie ist immer Gefühlvoll und so flüssig zu lesen ich hoffe du entwickelst dich im laufe der Zeit weiter und kannst mit Stolz zurück auf dieses Meisterwerk das in meinen Augen ist zurück blicken und hoffe ganz fest das du an diesem auch zukünftig wenn es deine Zeit und Lage zulässt weiterschreibst und zu ende führen kannst so das du mit Stolz am ende sagen kannst das du es durchgezogen hast. Und ab dieser stelle sollte ich lieber aufhören den es ist echt schon lang geworden dafür war es mir allemal wert weil ich so alles losgeworden bin wir lesen und hoffentlich beim neusten Kapitel oder andere deiner wunderbaren Fanfics die aufjedenfall mal von mir gelesen werden und ich verstehe echt nicht warum so eine gute Story fast keine Aufmerksamkeit oder Kommentare bekommt es ist echt schade so verpasst man was. ich wünsche dir eine schöne restlichen Nachmittag :)


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