Glücklich sein von Dolly-Bird ================================================================================ Kapitel 22: Sport ist Mord -------------------------- „Ciel, wie wäre es, wenn wir heute gemeinsam joggen gehen?“, fragte Sebastian während dem Frühstück, das der Angesprochene vorbereitet hatte. Dieser verschluckte sich prompt an seinem Earl Grey und hustete erst mal heftig. „Ist das dein Ernst?“, fragte er krächzend. Der Ältere lächelte und nickte: „Das ist mein voller Ernst. Nur weil du dünn bist, heißt das nicht, dass du nichts für deinen Körper tun musst oder fit wärst. Du weißt selbst, dass deine Kondition mehr als zu wünschen übrig lässt.“ Finster wurde er aus blauen Augen angeschaut. Ciel wusste, dass Sebastian recht hatte, aber deswegen hatte er trotzdem keine Lust, Sport zu machen. Noch dazu war es kalt draußen. Eiskalt. Doch dieses Argument wurde mit den Worten „dafür ist es trocken“ sofort von Sebastian zunichte gemacht. So kam es, dass Ciel eine Stunde nach dem Frühstück mit verschränkten Armen und schmollend draußen stand. Er trug eine große, dunkelblaue Wollmütze, dazu einen passenden Schal, den er bis zur Nase hochgezogen hatte, eine Sportjacke mit einem Sweatshirt darunter und eine warme Jogginghose. Seinen letzten Trumpf, er hätte keine passenden Schuhe, hatte Sebastian auch zunichte gemacht, indem er Ciel seine Sportschuhe, die dieser sonst nur im Spotunterricht in der Schule brauchte, in die Hand drückte. Diese waren schließlich Laufschuhe, also perfekt geeignet, um zu joggen. Sebastian selbst war ähnlich gekleidet wie Ciel, nur dass er gut gelaunt lächelte. „Also komm, fangen wir langsam an und steigern dann das Tempo“, lächelte der Größere und ging los. Es war mehr ein schnelles Spazieren, doch Ciel stand immer noch bockig da. Er wollte das nicht! Sebastian drehte sich nach ein paar Metern um und warf ihm einen fragenden Blick zu: „Kommst du?“ Der Angesprochene schnaubte ärgerlich. Sein Atem bildete kleine Wölkchen. Doch dann gab er sich einen Ruck, sein Freund würde ja doch keine Ruhe geben. Also brachte er es einfach nur hinter sich. Seufzend lief er los. Fünfzehn Minuten später joggten sie langsam durch einen Park, während Ciel schon um Luft rang. Sein Herz pochte so schnell und heftig in seiner Brust, als sei er einen Marathon gelaufen. Dabei hatten sie erst angefangen und Sebastian, der nicht einmal ansatzweise außer Puste war, machte extra langsam für ihn. Ciel drückte sich die Hände in die linke Seite, da er seit einiger Zeit Seitenstechen hatte und es allmählich nicht mehr aushielt. In dem Moment, als er Sebastian sagen wollte, dass er eine Pause brauchte, hörte er ein lautes Quietschen, sah zwei Lichter, die auf ihn zukamen, spürte einen dumpfen Aufprall und dann Dunkelheit. Sebastian stand ganze zwei Sekunden einfach nur bewegungsunfähig da. So lange brauchte sein Gehirn, um die Informationen, die ihm seine Augen sendeten, zu verarbeiten. Sie waren an einem der vielen Ein- bzw. Ausgänge des Parks, in der Nähe der Straße. Ein Auto war wegen zu hoher Geschwindigkeit auf dem Eis ins Rutschen geraten, der Fahrer hatte die Kontrolle über den Wagen verloren und war schlitternd in den Park gefahren. Die vielen Pflanzen hatten den Wagen zwar abgebremst, aber die Geschwindigkeit war immer noch hoch genug, sodass es Ciel durch den Aufprall einige Meter wegschleuderte. Sebastian riss sich aus seiner Starre und rannte zu seinem Freund. „Ciel? Ciel, hörst du mich?“ Doch dieser reagierte nicht. Nur das sachte Heben und Senken seiner Brust zeigte, dass er noch atmete. Sebastian verfluchte sich, dass er sein Handy nicht mitgenommen hatte. Schnell zog er seine Trainingsjacke aus, um sie über Ciel zu legen, dann rannte er nach draußen und rief nach Hilfe. Ein junger Mann rief für ihn einen Krankenwagen und schaute dann nach dem Unfallverursacher. Sebastian war das egal, für ihn zählte nur Ciel! Es dauerte keine fünf Minuten, auch wenn es sich wie fünf Stunden anfühlte, dann kamen zwei Krankenwägen und ein Notarzt. Sanitäter rannten zu ihnen und untersuchten Ciel. Das Folgende zog an Sebastian nur noch wie durch einen Schleier vorbei. Er saß im Krankenwagen, während sein Freund auf der Trage lag und beatmet wurde. Das nächste, an das Sebastian sich erinnern konnte, war, wie er im Krankenhaus saß und einer Schwester Ciels Namen und den seiner Eltern mitteilte, da diese informiert werden mussten. Sein Freund wurde untersucht und geröntgt. Sebastian wusste nicht, wie lange er bewegungsunfähig dort gesessen hatte, als Ciels Eltern mit mehr als besorgten Gesichtern den Wartebereich betraten. Müde stand er auf und wollte sagen, dass es seine Schuld war, da fragte Vincent schon, ob er etwas über den Verursacher wüsste. Sebastian spürte heiße Wut in sich aufsteigen, schüttelte aber mit dem Kopf. Kraftlos ließ er sich auf den Stuhl sinken, Rachel setzte sich neben ihn, während ihr Mann telefonieren ging. „Es ist meine Schuld“, murmelte Sebastian und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Nein, das stimmt nicht!“, wurde ihm direkt widersprochen. „Doch, ich hätte ihn nie dazu drängen sollen, bei dem Wetter mit mir joggen zu gehen.“ Seufzend fuhr er sich durch die unordentlichen, schwarzen Haare. „Nein“, widersprach Rachel ihm wieder, „schuld ist der, der zu schnell bei Glätte gefahren ist und die Kontrolle über sein Auto verloren hat! Dafür können Sie nichts! Und wissen konnten Sie es erst recht nicht!“ Überrascht sah Sebastian in zwei leuchtende, blaue Augen, die pure Entschlossenheit ausstrahlten. Schwach lächelte er, doch die Schuld lastete immer noch auf seinen Schultern. In dem Moment kam Vincent zurück: „Ich habe alle Termine verschoben.“ Seine Frau nickte ihm zu, dann ließ er sich auf den Stuhl neben ihr fallen und zerwühlte seine sonst so ordentliche Frisur. Er seufzte tief, als ein Arzt zu ihnen trat: „Familie Phantomhive?“ „Ja!“ Alle drei sprangen auf, auch wenn Sebastian eigentlich nicht dazu gehörte. Er musste wissen, wie es Ciel ging! „Die Operation ist gut verlaufen. Er hat ein gebrochenes Bein und mehrere Schürfwunden. Er ist noch nicht aufgewacht, aber wenn er die Nacht überlebt, ist er über den Berg.“ Rachel schlug sich erschrocken die Hände vor den Mund und Sebastian hatte das Gefühl, eine eiskalte Faust würde seinen Magen fest umklammert halten. Am liebsten hätte er sich übergeben. „Können … können wir zu ihm?“, fragte Vincent und der Arzt nickte. Sebastian wäre gerne mit, aber er gehörte nicht zur Familie, zumindest nicht offiziell. Als sie ein paar Schritte gegangen waren, blieb Rachel stehen und blickte zurück: „Kommen Sie?“ „N-natürlich!“ Sebastian überbrückte die kurze Distanz und ging mit heftig schlagendem Herzen dem Ehepaar Phantomhive und dem Arzt hinterher. Als sie in dem Krankenzimmer ankamen, musste er schwer schlucken. Dort lag Ciel, weiß wie die Wand, in weißer Bettwäsche und einem hellblauen Krankenhaushemdchen. In seinem Mund war ein Schlauch, seine Hand war mit einem Tropf verbunden und unzählige Kabel gingen von seinem Körper zu irgendwelchen piependen Maschinen. Es war ein schrecklicher Anblick! Sein Magen drehte sich nun endgültig und Sebastian übergab sich in den nahestehenden Mülleimer. Der Arzt sagte noch etwas, doch das bekam er gar nicht mehr mit. Eine Schwester reichte ihm Taschentücher und einen Becher Wasser, damit er sich den Mund ausspülen konnte. Der Mülleimer wurde danach entfernt. „Geht es?“, fragte Rachel besorgt und Sebastian nickte schwach. Seine Gesichtsfarbe machte der von Ciel nun Konkurrenz. Zwar hatte Vincent ihm angeboten, ihn sofort anzurufen, sollte Ciel aufwachen oder sich etwas an seinem Zustand ändern, doch Sebastian bat, dableiben zu dürfen. In seiner Wohnung würde er doch keine Ruhe finden und so hielten sie abwechselnd Wache. Wie gerne hätte er sich zu Ciel ins Bett gelegt und ihn im Arm gehalten, doch das war nicht möglich. Abgesehen von der Anwesenheit seiner Eltern, war der Junge an so viele Geräte angeschlossen. Als die Nacht vorbei war, hatte sich an Ciels Zustand nichts merklich verändert. Das Klicken von Absätzen hallte im Gang wider und kam näher. Als die Schritte ganz nah waren, wurde die Tür geöffnet und eine Frau mit roten Haare, roten Augen und rotgeschminkten Lippen betrat das Zimmer. Unter ihrem weißen Kittel trug sie ein anliegendes, rotes Kleid und rote High Heels. Wer war das denn? „Ann!“ Rachel sprang auf und fiel der anderen Frau um den Hals. „Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme! Man hat mich nicht früher informiert.“ In ihrer Stimme schwang deutlich ein wütender Unterton mit. Vincent begrüßte die neue Frau auch, dann machte er sie mit Sebastian bekannt. Wären die Umstände anders, Madam Red hätte definitiv mit ihm geflirtet. Aber so war die Situation viel zu ernst. Kurz kam Sebastian der Gedanke, dass Grell ihr sicherlich sofort verfallen würde, wäre sie ein Mann. Er wusste nicht, dass die beiden schon lange befreundet waren. Plötzlich erklang ein leises Husten und Würgen vom Bett und alle Blicke richteten sich auf Ciel. Dieser wehrte sich, eher unterbewusst, gegen den Schlauch in seinem Hals. „Ciel mein Schatz! Ganz ruhig!“, versuchte Rachel ihn erfolglos zu beruhigen. Madam Red hatte derweil Schwestern geholt und trat neben Ciel, um den Schlauch zu entfernen, da der Patient wach und wieder selbst atmen konnte. Kaum war der störende Schlauch weg, hustete er und versuchte dann etwas zu sagen, doch nur ein kratziges Geräusch verließ seine Kehle. „Ganz ruhig, du bist im Krankenhaus. Erinnerst du dich an den Unfall?“, fragte Vincent, der neben seiner Frau stand. Ciel nickte schwach und versuchte wieder etwas zu sagen, doch sein Körper war noch viel zu schwach. „Ich glaube, er sagt ‚Seba‘“, sagte ein junger Assistenzarzt. Ciel nickte und seine Augen sahen sich suchend um. Dann endlich trat Sebastian an sein Bett, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. Ciels Augen leuchteten auf, als er seinen Freund sah. Gerne hätte dieser seine Hand gedrückt, aber nicht unter den Augen seiner Familie. Mittlerweile war auch Ciels eigentlich behandelnder Arzt da und untersuchte den Jungen. Da er wusste, dass dies der Neffe von Madam Red war, sagte er lieber nichts. Schließlich war diese Frau ein Vorstandsmitglied und Teilhaberin des Krankenhauses. „Sebastian, gehen Sie nach Hause, schlafen und essen Sie etwas, dann können Sie gerne wiederkommen. Es war für uns alle eine harte Nacht und Ciel braucht Ruhe. Sollte etwas sein, dann werden Sie selbstverständlich informiert“, wandte Vincent sich an ihn. Auch wenn Sebastian ungern ging, hatte der andere recht. Ciel war über den Berg und döste schon wieder, es war nur sinnvoll, wenn sie sich alle ausruhten. Außerdem war der Junge hier in guten Händen. Als Sebastian aus dem Schlaf hochschreckte, wusste er erst gar nicht, wo er war, wer er war, was passiert war und welcher Tag überhaupt war. Verwirrt sah er sich in seinem Schlafzimmer um. Wie war er hierher gekommen? Das Letzte, an das Sebastian sich erinnern konnte, war, dass er bei Ciel im Krankenhaus war und dessen Vater ihn nach Hause geschickt hatte. „Ciel!“ Erschrocken riss Sebastian kurz seine Augen auf, dann suchte er fahrig nach seinem Handy. Er aktivierte mit schnellschlagendem Herzen das Display und stellte beruhigt fest, dass er keine Nachrichten hatte. Das hieß, Ciel ging es den Umständen entsprechend gut. Erleichtert atmete er auf. Ein weiterer Blick auf sein Handy sagte ihm, dass es erst kurz nach 8 Uhr war, die Besuchszeiten im Krankenhaus noch nicht einmal begonnen hatten. Sebastian wäre lieber die Nacht bei Ciel geblieben, doch das war ihm nicht möglich. Offiziell galt er als sein Lehrer, da war es schon seltsam genug, dass er so besorgt um den Jungen war. Klar, er war bei dem Unfall dabei gewesen und fühlte sich auch ein Stück weit schuldig, aber trotzdem musste er die Rolle als Ciels Lehrer aufrecht erhalten. Sebastian wollte sich nicht vorstellen, was los wäre, würde ihre Beziehung auffliegen. Seufzend strich er sich durch seine schwarzen Haare, schlug die Decke zurück und stand schwerfällig auf. Überrascht stellte Sebastian fest, dass er sich sogar bis auf seine Boxershorts und sein T-Shirt ausgezogen hatte. Er streckte sich kurz, dann schlurfte er in die Küche. Appetit hatte er zwar keinen, aber Nahrung brauchte sein Körper trotzdem. Und da erst in knapp einer Stunde die Besuchszeit im Krankenhaus begann, konnte er die Zeit wenigstens sinnvoll nutzen. Nach einem kleinen Frühstück, das aus Porridge mit frischem Obst und einer Tasse Tee bestand, schleppte Sebastian sich ins Bad. Er zog sein T-Shirt und seine Boxershorts aus, stellte die Wassertemperatur in der Dusche so ein, dass es angenehm war, und stieg dann unter den warmen Strahl. Sebastian schloss seine Augen und genoss kurz die angenehme Wärme. Dann wusch er sich schnell und stieg aus der Dusche. Er zog sein großes, flauschiges Badetuch vom Handtuchhalter und trocknete sich ab. Sebastian ging, wie Gott ihn schuf, in sein Schlafzimmer und zog sich dort frische Unterwäsche und ein frisches T-Shirt an. Er wollte gerade nach seiner Jeans greifen, da vibrierte sein Handy und das Display zeigte einen eingehenden Anruf an. Ohne zu zögern nahm er das Gerät zur Hand und schob den grünen Hörer zur Seite. „Michaelis?“, meldete er sich mit schnellschlagendem Herz und einem flauen Gefühl im Magen. Wenn er um diese Uhrzeit von einer nicht eingespeicherten Nummer angerufen wurde, konnte es nur um Ciel gehen. „Mr. Michaelis? Gut, dass Sie schon wach sind! Hier ist Vincent Phantomhive. Wir wurden ins Krankenhaus gerufen, Ciel schreit und weint, seit er aufgewacht ist und lässt sich nicht beruhigen. Die Ärzte trauen sich nicht, ihm eine Beruhigungsspritze zu geben. Er schlägt um sich, wenn man ihm zu nahe kommt. Er sagt immer wieder etwas, das mit viel Fantasie nach ‚Seba‘ klingt. Bitte, kommen Sie so schnell wie möglich! Vielleicht können Sie ihn beruhigen.“ „Ich bin schon unterwegs!“ Sebastian war regelrecht schlecht vor Sorge. So schnell er konnte zog er sich seine Jeans und ein Sweatshirt an, schlüpfte in Jacke und Schuhe und verließ in Windeseile seine Wohnung. Kurz überlegte er, mit dem Auto zu fahren, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Er war viel zu unkonzentriert, um sich auf den Londoner Stadtverkehr zu konzentrieren. Er rannte zur nächsten Bushaltestelle, die zum Glück nur ein paar hundert Meter entfernt war. Sebastian musste keine zwei Minuten warten, da kam schon ein Bus, der ihn fast direkt bis zum Krankenhaus brachte. Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten, doch es fühlte sich an wie eine Stunde. Ungeduldig hatte er mit den Fingern auf seinen Oberschenkel getrommelt, bis der Bus endlich die Bushaltestelle neben dem Krankenhaus erreichte. Kaum öffneten sich die Türen, sprang er aus dem Bus. Im Krankenhaus musste er sich sehr beherrschen, nicht durch die Gänge zu rennen. Das wurde dort gar nicht gern gesehen und er wollte nicht wegen unnötigen Belehrungen aufgehalten werden. Als er endlich das Zimmer erreichte, in dem Ciel war, nahm er sich noch einen Moment, um seine Haare zu richten und tief durchzuatmen. Sebastian klopfte an und wartete auf das „Herein“, das fast sofort kam. Mit wild schlagendem Herzen drückte er die Klinke nach unten und die Tür auf. Das erste, das er sah, war ein blasser, weinender Ciel, der in dem großen, weißen Krankenhausbett noch blasser und zerbrechlicher wirkte, als er eh schon war. Sebastian hielt sich nicht lange mit Begrüßungen auf und trat direkt an das Krankenbett. „Hey …“ Vorsichtig ergriff er Ciels Hand. Dieser zuckte erst zusammen und wollte ihm die Hand entziehen, doch als er erkannte, wer da neben seinem Bett stand, erwiderte er schwach den Druck. Immer noch liefen ihm heiße Tränen über die geröteten Wangen. Sein schmächtiger Körper zitterte und wurde von neuen Schluchzern geschüttelt. In Sebastian zog sich alles zusammen und ohne weiter nachzudenken setzte er sich auf die Bettkante, zog seine Jacke aus, die er ans Fußende warf, streifte seine Schuhe von den Füßen und legte sich zu Ciel unter die Decke. Vorsichtig zog er den zitternden Körper an sich und hielt den weinenden Jungen fest. Dieser klammerte sich in Sebastians Sweatshirt, als hätte er Angst, der andere würde sonst wieder gehen. Als Ciel am Morgen aufgewacht war und niemand da war, hatte ihn eine unbändige Angst ergriffen. Er hatte plötzlich Angst, dass seine Eltern von seiner Beziehung zu Sebastian wussten. Zusätzlich hatte der Schock nachgelassen. Ciel hatte begonnen zu weinen, bis er regelrecht hysterisch wurde. Er konnte und wollte sich nicht beruhigen. Er wollte, dass Sebastian kam, er wollte nur in seinen Armen liegen. Doch es fiel ihm unfassbar schwer, auch nur seinen Namen auszusprechen. Und dann war da plötzlich eine warme Hand, die seine eigene hielt und ein warmer Körper, dessen vertrauter Geruch ihn fast sofort beruhigte. Sebastian wusste, dass er ein großes Risiko einging, doch in dem Moment war Ciel für ihn wichtiger. Er liebte den Jungen aus vollem Herzen. Es war ihm egal, ob dessen Eltern nun von ihrer Beziehung wussten, oder nicht. Es war ihm egal, welche Folgen das haben würde. Einzig und allein Ciel zählte für ihn in diesem Moment. Leise flüsterte Sebastian beruhigende Worte und hielt den kleineren Körper einfach nur fest im Arm. Er spürte, wie dessen Zittern allmählich nachließ, bis es irgendwann komplett aufhörte. Auch Ciels Atem wurde ruhiger, bis er eingeschlafen war. Auch wenn es Sebastian unfassbar schwer fiel, sollte er aufstehen. Der Junge hatte sich beruhigt, also gab es doch eigentlich keinen Grund mehr, dass er weiter bei ihm lag. Doch Ciel hatte sich an ihn geklammert und Sebastian brachte es einfach nicht über sich. Außerdem befürchtete er, den Jungen zu wecken, sollte er nun aufstehen. Noch dazu fühlte es sich viel zu gut an, seinen Freund im Arm zu halten. Für Sebastian war der Unfall schließlich auch ein großer Schock, von dem er sich selbst noch nicht wirklich erholt hatte. „Was – was hat das zu bedeuten?“, fragte Rachel atemlos und starrte auf Ciel und Sebastian. Sie konnte sich sicherlich ihren Teil denken, ebenso ihr Mann. Bevor der Angesprochene auch nur die richtigen Worte finden konnte, hob Vincent die Hand und winkte ab. Ruhig sagte er: „In diesem Fall ist es besser, es nicht so genau zu wissen.“ Er war ein intelligenter Mann, der trotz seines verhältnismäßig jungen Alters schon viel gesehen und erlebt hatte. Er hatte schon lange geahnt, dass da mehr zwischen Ciel und dessen jungem Lehrer war. Das bedeutete nicht, dass er es gut hieß, doch im Augenblick hatte die Genesung seines Sohnes oberste Priorität. Rachel wurde weiß wie die Wand hinter ihr, als ihr das Ausmaß der Situation bewusst wurde. Vincent legte einen Arm um die Schultern seiner Frau und schob sie langsam Richtung Tür. Bevor er diese öffnete drehte er sich noch einmal um und sah Sebastian ernst an: „Passen Sie gut auf meinen Jungen auf.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür und verließ mit einer fassungslosen Rachel das Krankenzimmer. „Du wusstest es?!“, platzte sie raus, kaum dass die Tür hinter ihnen sanft ins Schloss gefallen war. „Wissen ist zu viel gesagt. Ich hatte eine Ahnung, die sich nun bestätigt hat.“ Sprachlos starrte Rachel ihren Mann an. Sie hatte das Gefühl im falschen Film zu sein. „Ist das dein Ernst?!“ Vincent tat etwas für ihn sehr untypisches: er fuhr sich seufzend durch seine braunen, ordentlich frisierten Haare. „Was willst du von mir hören? Soll ich Mr. Michaelis wegsperren? Du hast doch Ciel gesehen. Er braucht ihn jetzt. Glaub mir, mir gefällt das auch nicht.“ Kraftlos ließ Rachel sich auf einen der Stühle sinken, die für wartende Besucher bereit standen. „Ich wusste, dass mein Baby verliebt ist. Und dass es kein Mädchen ist. Aber sein Lehrer? Ein erwachsener Mann! Das ist doch strafbar! Wer weiß, zu was er meinen armen Jungen zwingt!“ Sie hob in einer verzweifelten Geste ihre Hände und rang um ihre Fassung. Rachel malte sich die schlimmsten Szenarien aus, die ihr einfielen. Seufzend setzte Vincent sich neben seine Frau und nahm ihre Hände in seine. „Rachel, Liebling, beruhig dich. Glaubst du wirklich, Ciel würde sich vertrauensvoll an ihn schmiegen, wenn Mr. Michaelis ihn zu irgendetwas gezwungen hätte? Oder ihm gar weh getan hätte?“ „Aber vielleicht leidet er an diesem Syndrom. Du weißt schon, wenn die Geisel sich in ihren Entführer verliebt!“ Vincent hob eine Augenbraue und blickte seine Frau mehr als skeptisch an. „Jetzt übertreibst du aber wirklich. Wir reden mit den beiden, wenn es Ciel besser geht, einverstanden?“ Rachel zögerte. „Jetzt steht seine Genesung an erster Stelle und wenn er dazu Mr. Michaelis an seiner Seite braucht, dann ist das eben so. Daran können wir jetzt nichts ändern.“ „Aber-“, wandte Rachel ein, wurde jedoch sofort von ihrem Mann unterbrochen. „Schatz, glaubst du wirklich, ich würde unseren Jungen bei einem Mann lassen, bei dem ich mir nicht hundertprozentig sicher bin, dass er vertrauenswürdig ist?“ Vincent Phantomhive war schon zu lange der Wachhund der Königin und im Untergrund tätig, als dass er so unvorsichtig wäre. „Du hast ja recht, aber ich mache mir trotzdem Sorgen“, gab Rachel nach und lehnte sich erschöpft an ihrem Mann. An ihr waren die letzten Stunden auch nicht spurlos vorüber gegangen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)