Glücklich sein von Dolly-Bird ================================================================================ Kapitel 20: Erinnerungen ------------------------ In Erinnerung an jemanden, der mir sehr wichtig war und mich viele Jahre begleitet hat. Alois saß in seinem Zimmer, in einer großen Fensternische, die er sich mit Decken, Polstern und Kissen gemütlich eingerichtet hatte, und schaute gelangweilt nach draußen. Dieser Ort war sein Lieblingsplatz. Als er damals zu seinem Onkel kam, hatte er schon einiges erlebt und alles verloren gehabt. Seine Familie, sein zu Hause, seinen kleinen Bruder und besten Freund. Trauer hatte sein komplettes Denken beherrscht und alles was er wollte war Trost und jemanden, der für ihn da war. Wenigstens ab und zu, doch sein Onkel wollte nichts von ihm wissen. Er hat ihn in sein Stadthaus, das er eh nie benutzte, abgeschoben und ein paar Bedienstete hingestellt. Zum „Spielen“ kamen immer neue Butler, doch niemand hatte es lange mit ihm ausgehalten. Alois wusste, dass er anstrengend war, verhielt er sich doch absichtlich so. Er wollte niemanden mehr an sich heran lassen um nicht Gefahr zu laufen noch einmal so einen Verlust verkraften zu müssen. Der Tod seiner Eltern war schlimm gewesen, doch er hatte immer noch seinen kleinen Bruder Luca gehabt. Sie kamen in ein Waisenhaus, niemand war da, der sich um sie kümmern wollte. Doch sie wurden so schlecht dort behandelt, dass Alois in einer Nacht mit Luca floh. Sie lebten eine Zeit lang auf der Straße, bis zu dem wohl schlimmsten Tag in Alois jungem Leben. Es hatte wie aus Eimern geregnet, der Himmel war dunkel von den vielen Wolken. Da es Sommer war, war es nicht sonderlich kalt draußen. Sie hatten seit Tagen kaum etwas gegessen und Luca wollte ihm eine Freude machen, also stahl er zwei Äpfel in einem kleinen Laden. Der dicke Besitzer jagte den Jungen, wollte Geld für das Obst und Luca rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Und dann geschah es, zu schnell, um reagieren zu können. Sein kleiner Bruder wurde von einem viel zu schnell fahrenden Auto erwischt und war augenblicklich tot. Alois war zu ihm gestürmt, hatte den kleinen, leblosen Körper an sich gepresst und sich die Seele aus dem Leib geschrien. Er hatte gehofft ein Auto würde ihn auch überfahren, doch nichts geschah. Was anschließend passierte wusste er nicht. Das Nächste, an das er sich erinnern konnte, war, dass er im Krankenhaus lag. In seinem Arm stecke eine Infusionsnadel und unter seiner Nase befand sich ein Sauerstoffschlauch. Ehe er sich darüber wundern konnte, ging die Tür auf und eine junge Schwester trat ein. „Oh, du bist wach!“ Sie wuselte um ihn herum, redete auf ihn ein, doch Alois hörte ihr gar nicht zu. Plötzlich öffnete sich wieder die Tür und ein fetter, schmieriger Kerl kam herein, stellte sich als seinen Onkel vor und sagte ihm, er würde sich von nun an um ihn kümmern. Das Einzige, das Alois in diesem Moment für den Mann, den er nie gesehen hatte, fühlte, war Hass. Tiefer, alleszerfressender Hass. Wäre dieser Widerling ein paar Tage früher aufgetaucht, würde Luca noch leben. Doch Alois schwieg. Als er eine Woche später aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sah er seinen Onkel wieder. Dieser erklärte ihm, dass er ab sofort in dessen Stadthaus wohnen würde. Kurzzeitig hatte Alois gedacht, sein Onkel würde sich tatsächlich für ihn interessieren, doch schnell stellte er fest, dass dieser nur ein schlechtes Gewissen hatte, weil Luca tot war. Alois schnaubte verächtlich und wischte sich ärgerlich über sein Gesicht. Gleich würde Claude kommen, um ihn zum Mittagessen zu holen. Da Sonntag war, waren sie wieder mal allein in dem viel zu großen Haus. Sein Butler sollte nicht sehen wie er weinte, er würde es wahrscheinlich sowieso nur ignorieren. In diesem Moment klopfte es auch schon leise an seiner Tür, ehe diese geöffnet wurde. „Das Essen ist serviert“, teilte Claude ihm mit. „Ich hab keinen Hunger“, sagte Alois leise und so emotionslos wie möglich. Sein Gesicht war weiterhin der Fensterscheibe zugewandt. Sein Butler seufzte innerlich und sagte: „Wie du wünschst.“ Er verließ das Zimmer wieder, doch ehe er die Tür komplett zugezogen hatte, hörte er ein leises Schluchzen. Claude rang mit sich. Sollte er? Oder sollte er nicht? Ein Blick auf das Häufchen Elend, das am Fenster saß, nahm ihm die Entscheidung ab. Langsam ging er auf Alois zu, ohne, dass dieser es bemerkte. Als sich plötzlich zwei Arme von hinten um ihn legten und er an einer breiten Brust lehnte, zuckte er erschrocken zusammen. „Ist schon okay“, flüsterte Claude und zog den Kleineren auf seinen Schoß, während er sich selbst an die breite Mauer in seinem Rücken lehnte. Alois saß einige Herzschläge lang einfach nur regungslos da, dann lehnte er sich langsam zurück und entspannte sich. Die Tränen liefen wieder, doch es war ihm egal. Er drehte sich in der Umarmung so weit, dass er sein Gesicht an Claudes Schulter lehnen konnte. Dieser hielt ihn einfach nur fest und sagte nichts. Er wusste von Luca und den Umständen, wie Alois zu seinem Onkel kam. Vor ein paar Monaten, als er den Kleineren ins Krankenhaus bringen musste, weil dieser sich in den Finger geschnitten hatte, hatte ein wenig im Internet recherchiert, um mehr über den Jungen zu erfahren. Vor allem über seine Hintergründe, um ihn vielleicht besser verstehen zu können. Dabei war er auf einen Artikel gestoßen, in dem von Lucas Tod berichtet wurde. Hauptsächlich ging es darum, dass der tolle Lord Trancy seinen Neffen bei sich aufgenommen hatte, obwohl sie nicht einmal direkt verwandt waren, sondern über mehrere Ecken. Claude schnaubte bei dem Gedanken abfällig. Wahrscheinlich hatte dieser Widerling das nur für gute Publicity getan. Die Aktien von dessen Firma waren damals auf einem fallenden Kurs, sanken immer tiefer. Noch dazu gab es viele Gerüchte wegen Drogen- und Menschenhandel. Da kam es ihm doch gerade recht, seinen verloren geglaubten Neffen zu finden und ihm ein zu Hause zu geben. Damit war sein Ruf wieder einigermaßen hergestellt und die Aktien krochen langsam aus dem Keller hervor. Natürlich hatte er Alois dann zu vielen Veranstaltungen mitgenommen, um ihn vorzuführen und zu zeigen, was für ein toller Kerl er selbst doch ist. Doch kaum war die Öffentlichkeit weg, ließ er den Jungen fallen wie eine heiße Kartoffel. Das hatte Claude in den letzten zwei Jahren schon oft mitbekommen. Erst hatte er gedacht, es läge an Alois, aber dessen Verhalten war nur die Antwort auf das seines Onkels. „Heute wäre er 14 geworden“, nuschelte Alois an Claudes Schulter mit tränenerstickter Stimme. Dieser zog den Kleineren nur noch näher an sich. „Möchtest du ihn besuchen?“, fragte Claude, erhielt jedoch ein Kopfschütteln als Antwort. Das letzte Mal, als Alois an dem Grab war, war bei der Beerdigung gewesen und das war nun schon fast zehn Jahre her. Er hatte oft mit dem Gedanken gespielt einfach dorthin zu gehen, doch er hatte es nicht gekonnt. „Aber vielleicht hilft es dir, deine Trauer zu verarbeiten. Ich bin mir sicher, er hätte nicht gewollte, dass du so leidest.“ Minuten vergingen, in denen niemand etwas sagte. Einzig die Geräusche der Stadt waren ganz leise zu hören und durchbrachen die Stille. Langsam löste Alois sich von Claude und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. „Vielleicht hast du recht“, sagte er leise und stand auf. Langsam stand er auf, ging zu seinem großen Kleiderschrank und zog aus diesem eine schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt und einen schwarzen Pullover hervor. Ohne den anderen zu beachten zog Alois sich bis auf die Unterwäsche aus. Er hatte keinen Grund sich zu schämen, schließlich hatte Claude ihn schon oft nackt gesehen. Dieser beobachtete ihn und musste sich eingestehen, dass sich seine Sicht auf Alois geändert hatte. Langsam und so schleichend, dass er es nicht bemerkt hatte, nicht bemerken konnte. Hinter der Fassade des lauten, nervigen, frechen, immer gut gelaunten Teenagers versteckte sich ein kleiner Junge, der sich von der Welt verlassen fühlte und der unglaublich einsam war. Als Alois fertig war, gingen sie schweigend nach unten, zogen sich Jacke und Schuhe an und verließen das große Stadthaus. Da der Friedhof außerhalb von London war, mussten sie eine Weile mit dem Auto fahren. Alois schaute die ganze Fahrt über nur aus dem Beifahrerfenster. Er fühlte sich leer. Als Claude auf dem Parkplatz vor dem Friedhof parkte, stieg Alois wortlos aus und ging langsam auf das Eisentor zu. Kurz hielt er inne, atmete noch einmal durch, dann drückte er das Tor auf und betrat den schmalen Pfad, der sich durch die Gräber schlängelte. Claude folgte ihm mit einigem Abstand. Alois fand das Grab seines Bruders auf Anhieb, als wäre kein Tag seit der Beerdigung vergangen. Lange stand er einfach nur da und betrachtete die vielen Blumen. Zumindest wurde es ordentlich gepflegt. Alois wusste nicht, wie lange er schon dort stand, gewärmt von der Sonne, die schien, als wäre es der schönste Tag des Jahres. Bei der Beerdigung hatte es geregnet, als gäbe es kein Morgen, als würde der Himmel mit ihm trauern. Stumme Tränen liefen über sein Gesicht, während er einfach nur dastand. Maybe in another life I could find you there Pulled away before your time I can't deal it's so unfair And it feels And it feels like Heaven's so far away And it feels Yeah it feels like The world has grown cold Now that you've gone away Claude wusste nicht, wie lange sie auf dem Friedhof standen, doch irgendwann hatte Alois sich umgedreht und war langsam gegangen. Als er die Tränen gesehen hatte, hätte er ihn am liebsten in den Arm genommen, doch er blieb regungslos stehen. Claude konnte sich nicht vorstellen, wie schlimm dieser Verlust sein musste. Wahrscheinlich hatte Alois in den ganzen Jahren alleine mit seiner Trauer leben müssen, ohne jemanden zu haben, der ihn je tröstete. Sein Onkel interessierte sich nicht für ihn, hatte er ihn doch nur für gute Publicity aufgenommen. Und soweit Claude wusste, waren seine Vorgänger nie lange genug geblieben, um Alois wirklich kennenzulernen. Bisher hatte er es nur als seine Arbeit betrachtet, sich um den Jungen zu kümmern, ohne jegliche Emotionen. Doch allmählich wurde ihm immer bewusster, dass es gerade das war, was er brauchte. Warum Alois versucht hatte ihn in sein Bett zu bekommen. Wenn er schon keine Liebe auf der Gefühlsebene bekam, dann wollte er sie wenigstens körperlich. Dass seine Herangehensweise eher das Gegenteil bewirkte, war ihm wohl nicht bewusst. Wieder einmal fragte Claude sich, ob Alois es auch schon bei seinen Vorgängern versucht hatte und ob er es geschafft hatte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, störte ihn dieser Gedanke. Nicht, weil er eifersüchtig war. Er wollte einfach nicht, dass Alois ausgenutzt wurde. Zugegeben, er brachte ihn beinahe täglich auf die Palme, doch seit dem Vorfall, als der Jüngere sich geschnitten und sie sogar ins Krankenhaus gemusst hatten, hatte sich Claudes Sicht langsam verändert. So schleichend, dass er es nicht einmal bemerkt hatte. Am Auto angekommen schloss er es mit der Funkfernbedienung auf und Alois stieg schweigend ein. Auch während der Fahrt zum Stadthaus schwiegen sie. Claude hätte auch nicht wirklich gewusst, was er sagen sollte. Als sie den Friedhof verlassen hatten, waren ein paar lachende Kinder an ihnen vorbeigerannt und er hatte einen kurzen Blick in die hellblauen Augen des Jüngeren erhascht. Für einen kurzen Moment hatte sich alles in seinem Magen zusammen gezogen. Claude hatte geglaubt den Schmerz der ganzen Welt in diesen Augen zu sehen. Als er vor dem Stadthaus parkte, schnallte Alois sich ab und stieg aus, immer noch schweigend und mit gesenktem Kopf. Es war, als wäre er über Nacht ausgetauscht worden. Der Jüngere ging langsam, die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben, auf die Haustür zu. Dort wartete er, bis Claude zu ihm kam und aufschloss. Alois schlüpfte schnell durch die Tür, zog sich Jacke und Schuhe aus und verschwand in sein Zimmer. Sein Butler stand im Eingang wie bestellt und nicht abgeholt. Sollte er ihm jetzt hinterher gehen? Er entschied sich, ihn erst mal alleine zu lassen und ging seinen anderen Aufgaben nach, das Abendessen bereitete sich schließlich nicht von selbst zu. Außerdem wollte Claude sich von seinen düsteren Gedanken ablenken. Alois saß derweil einfach nur in seinem Zimmer, an seinem Lieblingsplatz in der Fensternische und tat nichts, außer atmen. Er fühlte sich unglaublich leer und ausgelaugt. Wenn er seine Augen schloss, sah er das lachende Gesicht des kleinen Luca vor sich. Von einem Moment auf den anderen überkam ihn die heiße Wut auf seinen verhassten Onkel. Hätte dieser sie früher aufgenommen, würde sein kleiner Bruder noch leben. Er wusste, dass diese Gedanken nichts änderten und normalerweise verdrängte er sie einfach, doch an diesem Tag ging es nicht. Er wollte sich einfach in seiner Trauer und seinem Hass suhlen. Lange hatte er sich verboten wirklich zu trauern, doch dadurch holte es ihn immer wieder mit einer solchen Wucht ein, dass es ihn beinahe von den Füßen riss. Irgendwann klopfte es leise an seiner Tür und schreckte Alois aus seinen düsteren Gedanken. Es fühlte sich an wie ein Déjà-vu. Claude kam herein, in der Hand eine große Tasse mit dampfendem Inhalt. „Es ist Zeit für das Abendessen.“ „Ich hab keinen Hunger“, erwiderte Alois und wendete sich ab. Claude, der damit schon gerechnet hatte, kam näher und setzte sich ungefragt neben den Jüngeren. „Ich hab dir eine heiße Schokolade gemacht, trink wenigstens die. Mit leerem Magen wird es auch nicht leichter.“ Alois warf ihm einen kalten Blick zu, nahm dann aber doch die Tasse entgegen. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und sein Körper verlangte nach Nahrung. Er umfasste die Tasse mit beiden Händen, die dadurch gewärmt wurden, und pustete vorsichtig. Die Sahnehaube war schon halb geschmolzen, doch das störte ihn nicht. Langsam setzte er die Tasse an seine Lippen und nahm ein kleines Schlückchen, um sich nicht zu verbrennen. Doch der Kakao hatte die perfekte Trinktemperatur. Während Alois die Tasse leerte, merkte er erst so richtig, wie hungrig er war. Kaum hatte er das Getränk geleert, sagte er leise, mit gesenktem Blick: „Ich … möchte jetzt doch etwas essen.“ „Kommt sofort“, sagte Claude mit einem angedeuteten Lächeln, stand auf und verließ den Raum, nur um einen Augenblick später mit einem silbernen Speisewagen zurück zu kommen. Vorausschauend hatte er diesen auf dem Gang abgestellt, auch auf die Gefahr hin, dass er nicht gebraucht wurde. Er nahm das gefüllte Tablett von dem Wagen und stellte es vor Alois. Normalerweise bestand Claude darauf, im Speisesaal, oder zumindest in der Küche, zu essen, doch heute machte er eine Ausnahme. Der Jüngere sagte nichts dazu und aß schweigend. Nach dem Essen, als Claude das Tablett wegräumen wollte, wurde er durch ein leichtes Ziehen an seinem Frack zurückgehalten. Mit fragendem Blick drehte er sich um. „Bleib heute Nacht bei mir“, bat Alois leise. „Natürlich.“ Damit verließ der Größere das Zimmer, brachte den Speisewagen zurück in die Küche und räumte das Geschirr weg. Anschließend ging er in sein Zimmer und überlegte kurz, ob er wirklich mit Pyjama zu Alois gehen sollte. Da er normalerweise so etwas nie trug, entschied er sich für ein einfaches T-Shirt und eine Jogginghose. Als er Alois Zimmer wieder betrat, lag dieser schon in seinem großen Bett und wirkte verloren darin. Leise schloss Claude die Tür und ging zu dem Jüngeren, während ihn hellblaue Augen verfolgten. Wortlos hob er die Decke an, setzte sich auf die Bettkante, um aus seinen Hausschuhen zu schlüpfen, und legte sich hin. Leise raschelte eine Decke, dann spürte er auch schon einen warmen Körper an seiner Seite, der sich ankuschelte. Eigentlich war es noch viel zu früh für ihn um zu schlafen, aber er brachte es nicht übers Herz, Alois allein zu lassen. Dieser begann neben ihm zu zittern und schniefte kurz leise. Claude drehte sich auf die Seite, legte einen Arm um den Kleineren und zog ihn ganz dicht an sich, sodass Alois sein Gesicht an seiner Brust vergraben konnte. Claude spürte, wie sein T-Shirt immer feuchter wurde, doch er sagte nichts, hielt ihn einfach nur fest, bis das Schluchzen immer leiser wurde und der Kleinere immer ruhiger. Auch als er ruhig und gleichmäßig atmete, offenbar eingeschlafen war, hielt er ihn weiter fest und schlief irgendwann selbst auch ein. Liedtextausschnitt: Five Finger Death Punch – Gone Away Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)