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Stolen Dreams Ⅹ

von

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9. Kapitel

Der Sommer neigte sich dem Ende zu, aber in Tirana war es immer noch so heiß, dass Jakov sich am liebsten in einem Kühlschrank verstecken würde. Er war mit dem Flugzeug nach Albanien gereist, um Zeit zu sparen, und anstatt nun in seinem Sportwagen samt geliebter Klimaanlage durch die Gegend zu reisen, musste er mit einem Mietwagen vorlieb nehmen, der zu seinem Bedauern über keine Klimaanlage verfügte.

Den Auftrag seines Bosses hatte er schon längst erledigt. Die Leiche war ebenfalls entsorgt worden. Fehlte nur noch Tarek. Jakov hatte sich bereits in dem Stadtteil umgesehen, wo der Junge normalerweise sein Unwesen trieb, aber sowohl von ihm als auch von Alron, mit dem er anscheinend befreundet war, fehlte jede Spur. Jakov suchte jetzt schon seit mehreren Tagen und ihm lief langsam, aber sicher die Zeit davon.
 

Es war schon Abend, als Jakov eine Pause einlegte und sich an einem Kiosk eine kalte Flasche Wasser kaufte. Sein T-Shirt klebte wie eine zweite Haut an seinem Rücken und einige Strähnen seiner blonden Haare hafteten feucht an seiner Stirn. Er konnte es kaum erwarten, heute Abend in seinem Hotelzimmer unter die Dusche zu springen.

Hektisches Geschrei erregte seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich um und sah, dass auf der Straße gegenüber dem Kiosk gerade ein Umzug stattfand. Ein großer LKW stand vor dem Gehweg und eine Familie mit mehreren Kindern trug Kartons und Kisten vom Haus zum LKW, während Befehle und Fragen gerufen wurden. Es war ein absolutes Chaos, schien aber trotzdem zu funktionieren.

„Abergläubische Vollidioten“, kommentierte die Frau im Kiosk, die Jakovs Blick verfolgt hatte.

„Bitte?“

Sie schmunzelte. „Sehen Sie das Haus dort?“
 

Jakov folgte der Richtung, in der ihr Finger zeigte, und erblickte das Reihenhaus, das nur zwei Häuser von dem Haus entfernt war, das gerade ausgeräumt wurde. Ein Schild stand im Vorgarten, es war mit „ZU VERKAUFEN!“ beschriftet, darunter war ein spottbilliger Preis angegeben.

„Vor wenigen Tagen hat es angefangen, dort zu stinken“, sagte die Frau vom Kiosk. „Das war allerdings nichts Neues, also haben wir es ignoriert, aber nach und nach wurde es so schlimm, dass wir die Polizei gerufen haben.“

„Ist jemand verstorben?“

„Ja. Ich kannte ihn. War ein Stammkunde. Niemand weiß, was wirklich passiert ist, aber einige Nachbarn sagen, dass jemand da eingebrochen ist. Dem Mann, der dort gelebt hat, wurden die Augen ausgestochen. Weil er nichts mehr sehen konnte, ist er die Treppe heruntergefallen und hat sich dabei das Genick gebrochen. Das Seltsame ist aber, dass nichts gestohlen wurde. Es gibt auch keine eingeschlagenen Fenster oder aufgebrochene Türen, aber dafür wurde die Terrassenüberdachung beschädigt.“
 

„Und jetzt haben die da“, sagte Jakov und deutete auf die umziehende Familie, die sich gerade zu streiten anfing, „Angst, dass bei ihnen auch eingebrochen wird?“

„Nein. Wissen Sie, in dem Haus dort wurden DNA-Spuren von einem Jungen gefunden, der momentan als vermisst gilt. Es ist echt bizarr.“

Jakov wollte fragen, ob es sich bei diesem Jungen zufälligerweise um jemanden namens Tarek hielt, aber konnte sich rechtzeitig zurückhalten.

„Und die Leute ziehen jetzt aus, weil sie denken, sie haben die ganze Zeit neben einem Entführer gewohnt?“

„Eigentlich tun sie es eher, weil sie denken, das Haus sei verflucht. Außerdem hat sich niemand die Mühe gemacht, das Haus reinigen zu lassen, das heißt, es stinkt immer noch. Ich habe gestern den Fehler gemacht, zu nahe dran vorbeizugehen; so etwas Furchtbares habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gerochen. Ich musste mich fast übergeben.“
 

Jakov verabschiedete sich, stieg in sein Auto und parkte eine Straße weiter. Er wusste nicht, ob das hier mit Tarek zu tun hatte. Einerseits war es durchaus vorstellbar, dass Tarek bei dem verstorbenen Mann die gleiche Masche angewendet hatte, der auch Jakov fast zum Opfer gefallen war, aber andererseits konnte sich Jakov beim besten Willen nicht vorstellen, dass Tarek jemanden die Augen ausstach. Außerdem war Tarek nicht der einzige vermisste Junge in Tirana und Einbrüche und Gewalttaten waren in den Armutsvierteln von Großstädten nun mal keine Seltenheit.

Trotzdem wollte Jakov mehr über diesen Vorfall wissen. Außerdem war das hier sowieso die einzige Spur, die er hatte.

Er wartete in seinem Auto, bis die Familie samt LKW von der Straße verschwunden war und der Kiosk schloss, ehe er sich unauffällig zu dem bestimmten Haus aufmachte. Mittlerweile war es dunkel geworden und die Mehrheit der Straßenlaternen funktionierte nicht, weshalb es nicht schwierig war, ungesehen durch die Gärten zu schleichen.
 

Das Erste, was Jakov bemerkte, als er sich dem Haus des Verstorbenen näherte, war, dass es tatsächlich bestialisch stank. Das war eindeutig der Geruch von Verwesung, den Jakov nur allzu gut kannte.

Seinen Würgereiz ignorierend und darauf bedacht, nur noch durch den Mund einzuatmen, sah er sich im Garten um. Zahlreiche Glasscherben lagen auf der Terrasse. Die Überdachung wies ein großes Loch auf; es sah aus, als wäre jemand durch das Glas gestürzt.

Jakov holte seine Taschenlampe hervor, um besser sehen zu können. Irgendwann vor seiner Ankunft in Albanien musste es geregnet haben, denn hier hatte jemand geblutet und der Regen hatte das Blut verwaschen. Man konnte kleine, kaum sichtbare Reste in den Rillen zwischen den Bodenplatten sehen.

Jakovs Blick wanderte nach oben zur zweiten Etage. Es gab nur ein Fenster und das befand sich genau über dem Loch in der Terrassenüberdachung. Falls Tarek wirklich hier gewesen war, musste er durch dieses Fenster und die Glasüberdachung gefallen, hier gelandet sein und dann...
 

Jakov sah sich um. Vor ihm waren die Reihenhäuser und hinter ihm in der Ferne befand sich etwas, das wie eine Müllhalde aussah. Wenn er sich in Tarek Lage befände, aus dem zweiten Stock gefallen wäre und sich verstecken müsste, wohin würde er gehen?

Es war unwahrscheinlich, dass Tarek durch die Gärten gekrochen war, weil ihn die Nachbarn dann gesehen hätten, aber es war auch unwahrscheinlich, dass er es bis zur Müllhalde geschafft hatte. Ein Sturz aus zwei Etagen musste ihm deutlich zugesetzt und vermutlich mehrere Knochen gebrochen haben. Er konnte sich glücklich schätzen, das überlebt zu haben.

Jakov beschloss, sein Glück zuerst bei der Müllhalde zu versuchen. Diese war mit Maschendraht umzäunt. Darüber zu klettern, sollte keine Herausforderung darstellen, aber Tarek hätte das in seinem Zustand niemals geschafft.

Jakov seufzte und kehrte zu den Reihenhäusern zurück. Als die Polizei hier gewesen war, musste sie nach Tarek gesucht haben. Entweder wurde er gefunden, aber die Medien haben nicht darüber berichtet, oder er galt immer noch als verschollen.
 

Nachdem Jakov nach weiteren Hinweisen gesucht hatte und beinahe über das rotweiße Absperrband gestolpert wäre, fiel ihm auf, dass die Blutspuren auf der Terrasse nicht den Umriss einer großen Pfütze bildeten, sondern ins Gras führten und zum Garten des Nachbarn zeigten.

Es war unmöglich, Blutreste auf Gras oder Erde zu sehen, da der Regen sie verwaschen hatte, aber Jakov versuchte trotzdem sein Glück. Er ging bis zum letzten Reihenhaus und warf einen kurzen Blick in die Gärten. Manche Häuser waren bewohnt, andere nicht und die wenigsten hatten ihren Garten eingezäunt. Für Tarek wäre es also möglich, sich in eines der unbewohnten Häuser zu schleichen, aber Jakov zweifelte daran, dass er dafür genug Kraft besaß.

Das vorletzte Haus schien seit längerer Zeit keine Menschen mehr gesehen zu haben. Die Fassade war mit Graffitis verunstaltet worden und kaum eines der Fenster war noch heile. Außerdem hatte ein Sturm das halbe Dach eingerissen. Einige Dachziegel lagen im Garten, sie waren verwittert und mit Moos bewachsen. Alle waren mehrere Meter vom Haus entfernt, nur einer nicht. Er lag direkt neben einem eingeschlagenen Fenster, das vermutlich in den Keller führte.
 

Jakov fasste sich nachdenklich ans Kinn und wog seine Chancen ab. Er konnte nicht einfach in ein Haus einbrechen, auch wenn es nicht bewohnt war. Wenn ihn jemand dabei entdeckte, würde man die Polizei rufen und darauf konnte Jakov wirklich verzichten. Außerdem wollte er sich gar nicht vorstellen, wie sein Boss wohl darauf reagieren würde, zu hören, dass Jakov bei einer seiner „Dienstreisen“ festgenommen wurde.

Gerade als Jakov beschloss, es für heute sein zu lassen und morgen woanders nach Tarek zu suchen, bemerkte er eine Bewegung neben dem Kellerfenster. Hastig richtete er den Schein seiner Taschenlampe darauf, nur um eine Ratte zu entdecken.

Jakov runzelte die Stirn. Es gab für Ratten keinen Grund, durch ein leeres Haus zu krabbeln. Es sei denn, es gab dort Nahrung. Und jeder wusste, dass Ratten nicht selten an Leichen nagten.

Nach kurzem Zögern griff Jakov durch das eingeschlagene Glasfenster der Hintertür und betrat das Gebäude, das man wohl kaum noch als ein Haus bezeichnen konnte.
 

Die Treppe zum Keller zu finden, dauerte nicht lange. Er war gerade auf der untersten Treppenstufe angekommen, als er plötzlich spürte, wie seine Socken durchnässt wurden. Der letzte Regen musste hier für eine Flutung gesorgt haben.

Er ignorierte das Wasser, das ihm bis zu den Knöcheln reichte, und sah sich um. Der Keller war leer. An der Seite, wo sich das Fenster befand, war der Boden erhöht. Die Plattform war etwa einen Meter breit, einen halben Meter hoch und sie reichte von der einen Seite des Kellers bis zur anderen. In der Mitte, genau unter dem Fenster, lag jemand. Er hatte Jakov den Rücken zugedreht. Beide Füße standen in unnatürlichen Winkeln von den ebenfalls krumm aussehenden Beinen ab und die Haut war von Blutergüssen, Schrammen und Kratzern übersät.

„Tarek?“

Der Junge rührte sich nicht. Jakov war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt ein Junge war. Die kurzen schwarzen Haare, die milchkaffeebraune Haut und der zierliche Körperbau kamen ihm allerdings bekannt vor.
 

„Tarek“, wiederholte er lauter und es kam erneut keine Reaktion. Er näherte sich dem Jungen, beugte sich über ihn und leuchtete ihm mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht.

Es war Tarek, aber Jakov wünschte sich, er hätte hier jemand anderen gefunden. Tarek war bis auf die Knochen abgemagert, einige Wunden hatten sich entzündet, sein Gesicht war leichenblass und falls er nicht schon längst verhungert oder aufgrund einer Infektion gestorben war, würde er das in den nächsten Stunden oder Tagen bestimmt nachholen.

Jakov strich ihm vorsichtig das fettige verfilzte Haar aus der Stirn, woraufhin Tareks Augenlider kurz zuckten. Er öffnete langsam die Augen und sah zu Jakov hoch. Seine Lippen bewegten sich, doch kein Laut kam hervor.

„Komm, Tarek, wir gehen nach Hause“, sagte Jakov, ehe er den Jungen mit beiden Armen hochhob und aus dem Keller trug. In seiner linken Hand, die sich unter Tareks Kniekehlen befand, hielt er immer noch seine Taschenlampe. Er schaltete sie aus, sobald er das Haus verließ, und trug Tarek im Schutz der Dunkelheit zu seinem Auto.
 

„Wo–?“ Tarek brach ab und räusperte sich. Seine Stimme klang, als hätte er sie seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt. „Wo fahren wir hin?“

„Ich bringe dich in ein Krankenhaus“, antwortete Jakov, während er nach dem Sicherheitsgurt griff und den Jungen anschnallte.

„Nein!“, krächzte Tarek entsetzt und krallte seine linke Hand in Jakovs Unterarm. „Das kannst du nicht machen.“ Blanke Panik war ihm ins Gesicht geschrieben und seine braunen Augen glänzten, als würde er gleich weinen. Jakov fragte sich, warum Tarek nicht schon längst verdurstet war und wie sein Körper in der Lage war, Tränenflüssigkeit zu produzieren, als ihm klar wurde, dass Tarek wahrscheinlich das Regenwasser im Keller getrunken haben musste.

„Bitte, ich flehe dich an“, hauchte Tarek, dem bereits die erste Träne über die Wange rollte. „Ich werde vermisst und ich darf auf keinen Fall gefunden werden.“

„Ich weiß, ich habe in den Nachrichten darüber gelesen“, murmelte Jakov, während sein Blick über Tareks Körper wanderte. Der Junge besaß eindeutig mehrere Frakturen in beiden Beinen, und sein rechter Arm, der nutzlos in seinem Schoß hing, schien ebenfalls gebrochen zu sein.
 

Jakov seufzte ratlos und sah Tarek wieder ins Gesicht. „Sei ehrlich, wie geht es dir?“

„Gut. Ich muss nicht–“

„Die Frage ist nicht, ob, sondern wann du in ein Krankenhaus musst. Wenn du mir 24 Stunden Zeit gibst, kann ich dich zu einem privaten Arzt in Italien bringen. Der wird nicht fragen, wer du bist, aber das wird dir nicht viel bringen, wenn du bis dahin gestorben bist. Ich kann dich auch hier und jetzt in ein Krankenhaus bringen und versuchen, die Ärzte zu bestechen, ich weiß aber nicht, ob das funktionieren wird.“

Tarek senkte den Blick und dachte kurz nach. „Hast du Desinfektionsmittel?“

„Um deine Wunden zu versorgen, werden wir auch Antibiotika brauchen, und ich habe beides parat.“

„Gut. 24 Stunden kann ich schaffen.“

Jakov haderte kurz mit sich selbst, ehe er die Tür schloss, um das Auto ging und auf der Fahrerseite einstieg. So zerbrechlich Tarek auch aussah, er war zäh. Und sollte es ihm doch schlechter gehen, konnte er ihn immer noch ins Krankenhaus bringen. Es würde schon irgendwie klappen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Arya-Gendry
2020-05-23T21:03:30+00:00 23.05.2020 23:03
Hi^^
Ein super Kapitel. Nun wird es ihn auch wieder besser gehen ich hoffe es. ;)
Freu mich auch schon wenn es im deinen anderen Storys weiter gehen wird.
Lg.


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