Stolen Dreams Ⅹ von Yukito ================================================================================ 4. Kapitel ---------- Alron hatte Tarek noch nie so wütend erlebt. Schon bevor der 16-Jährige den Keller betrat, konnte man die Spannung in der Luft spüren, und als er dann schließlich erschien, bekam Alron die Befürchtung, Tarek würde jeden Moment explodieren und alles im Umkreis von drei Meilen dem Erdboden gleichmachen. „Was ist passiert?“, fragte der Jüngere, woraufhin Tarek ein aggressives Schnauben von sich gab, das klang, als würde er Feuer speien. „Gar nichts!“, zischte er so wütend, dass Alron erschrocken zurückwich, und ging zu Ledion, dem er ein paar Geldscheine vor die Füße schmiss. „Da.“ „Redest du so mit deinem Boss?“ „So rede ich mit jemanden, dem ich gleich den Arsch aufreißen werde, wenn er mir nicht sofort meinen Stoff gibt!“ Ledion überlegte für einen kurzen Moment, Tarek zurechtzuweisen und ihm ein paar Manieren einzuprügeln, aber ein zorniger Gott war niemand, mit dem er sich anlegen wollte, weshalb er schweigend das Geld aufsammelte und Tarek anschließend eine Tüte mit hellem Pulver überreichte. Fünf Minuten später hatte sich Tareks Wut in Luft aufgelöst. Er hing wie ein Sandsack auf dem Sofa, lächelte zufrieden und schaute verträumt zur Zimmerdecke, an der sich die Spinnen tummelten. Er stellte sich vor, wie Jakov mit seinem Sportwagen unterwegs war und plötzlich von Männern ausgeraubt wurde, die sein schönes Auto demolierten, ihm sein gesamtes Geld abnahmen und ihn so sehr zusammenschlugen, dass er ins Krankenhaus musste. Diese Vorstellung erfüllte Tarek mit tiefster Zufriedenheit. Er saß auf seinem goldenen Thron und rückte die mit Juwelen verzierte Krone zurecht, die schief auf seinem Kopf hing. Seine Eltern, die Männer, die ihm in dieser Nacht begegnet waren, und ein gewisses blondes Arschloch lagen unter dem roten Teppich und sahen gierig zu ihm hoch, aber völlig egal, wie sehr sie sich anstrengten, sie konnten Tarek nicht erreichen. Der Junge war unantastbar, unerreichbar und unsterblich. Einige Stunden später sah die Welt nicht mehr so rosig aus. Tarek lag immer noch auf der Couch; er drehte sich auf den Bauch, weil sein Hintern wehtat und ihn daran erinnerte, was dieser arrogante Wichser mit ihm getan hatte. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich Steine auf sein Auto werfen. Was denkt dieser Arsch eigentlich? Dass er Sonderrechte besitzt, weil er reich ist? Dass ihm die ganze Welt inklusive ihrer Bewohner gehört? Dass ihm ein bisschen Geld das Recht gibt, seine körperliche Überlegenheit auszunutzen? Menschen wie er sind Abschaum. Tarek zitterte vor Wut und Abscheu, aber auch aus einem anderen Grund. Er krümmte sich zusammen, presste beide Hände auf seinen Mund und begann nahezu lautlos zu weinen. Früher, als er noch bei seinen Eltern gewohnt hatte, war es ihm so gut wie Jakov ergangen. Er hatte Bildung, Geld, Sicherheit und all die anderen tollen Dinge gehabt, die man für ein gutes Leben brauchte, und jetzt, wo er sie verloren hatte, kam die Personifikation seines alten Lebens um die Ecke und schlug ihm wortwörtli-- „Tarek? Bist du wach?“ Angesprochener wischte sich eilig die Tränen aus dem hübschen Gesicht, ehe er sich aufrichtete, umdrehte und direkt in das Gesicht von Ledion sah, der einen knappen Meter vor ihm stand. „Sorry wegen vorhin, Boss“, entschuldigte sich Tarek eilig, weil das Letzte, das er jetzt gebrauchen konnte, eine Standpauke war. „Ich... hatte eine ziemlich anstrengende Nacht.“ „Das glaube ich dir, aber ich wollte mit dir über etwas anderes reden.“ Ledion verschränkte die Arme vor der Brust. „Es geht um das Heroin. Wenn du so weitermachst, wirst du abhängig.“ „Und dann?“ „Dann wirst du dir entweder ständig welches spritzen müssen, was selbst du nicht finanzieren kannst, oder du endest wie der letzte Boss, der sich mit 'ner Überdosis den Rest gegeben hat.“ „Mach dir keine Sorgen um mich“, erwiderte Tarek gelassen. „Ich habe das unter Kontrolle.“ Ledion hob abschätzig die linke Augenbraue, ehe er sich von dem Jungen abwandte und in seine Ecke zurückzog. Tarek sah ihm nachdenklich hinterher und ging nach draußen, wo die Sonne gerade aufging und die ohnehin schon unerträglich schwüle Luft noch weiter erhitzte. Nachdem er Alron gefunden hatte, der ein paar Straßen weiter zwischen zwei Mülltonnen hockte und an einer Käserinde knabberte, zogen die beiden durch das Viertel und schauten, ob sie irgendetwas Nützliches auftreiben konnten. Sie gaben sich wirklich Mühe, doch fanden leider nichts und waren nach gewisser Zeit so demotiviert, dass sie aufgaben und sich mit anderen Dingen beschäftigten. Tarek brachte Alron das Lesen bei, indem er Wörter auf den sandigen Boden schrieb und Alron sie auszusprechen versuchte, aber auch das wurde schnell langweilig. Sie kehrten zum Keller zurück, wuschen sich mit abgestandenem und nach Müll riechendem Regenwasser die Mischung aus Staub und Schweiß von der Haut und legten sich aufs Ohr. Alron schlief wie ein Baby und träumte von den Buchstaben, die ihm beigebracht worden waren, aber Tarek wachte nach nur wenigen Stunden wieder auf, weil es ihm ziemlich mies ging. Seine Beine taten weh, er hatte Bauchschmerzen und vereinzelte Schweißperlen liefen über seine gebräunte Haut, obwohl ihm gar nicht warm war. Er zog sich hinter dem gammligen Sofa zurück und wollte seine Ruhe haben, aber natürlich musste Ledion ihn genau jetzt ansprechen. „Tarek, ich habe eine Aufgabe für dich. Ich will, dass du... ist alles okay?“ Angesprochener zwang sich zu einem Nicken und ächzte leise. Eine kleine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass eine Dosis Heroin genau das wäre, was er jetzt brauchte, um dieses Unwohlsein loszuwerden. „Sicher?“, harkte Ledion nach. „Ja, ich... ich hab' nur Kreislaufprobleme.“ „Okay. Also, wegen der Aufgabe... wir haben ein kleines Geldproblem.“ „Haben wir das nicht immer?“ „Ja, aber diesmal ist es besonders schlimm. Ich will, dass du uns ein wenig hilfst. Ob du es dafür mit 'nem Kerl treibst oder jemanden ausraubst, ist mir egal, Hauptsa--“ „Muss das sein? Mir geht es echt nicht gut. Kannst du nicht jemand anderen schi--?“ „Ach ja, wen denn? Die Mädchen, die sich alle wortwörtlich den Arsch aufreißen, die Kerle, die den ganzen Tag unterwegs sind, oder die beiden faulen Säcke, die nichts Besseres zu tun haben, als planlos durch die Stadt zu laufen?“ Tarek verstand, dass damit er und Alron gemeint waren, und seufzte genervt. Seine Beine schmerzten, als hätte er einen Muskelkater der ganz üblen Sorte, aber das hielt Ledion nicht davon ab, die beiden Jungs aus dem Keller zu schmeißen und ihnen nachdrücklich zu sagen, dass sie sich nützlich machen sollten. „Und was tun wir jetzt?“, murmelte Alron und rieb sich verschlafen über das Gesicht. „Bitte nicht... das, was die Mädchen machen.“ „Keine Sorge, darauf hab' ich auch keinen Bock. Lass uns jemanden beklauen.“ Alron nickte und machte sich mit Tarek auf die Socken. Es war ein scheußliches Gefühl, jemanden, der genauso arm wie man selbst war, zu berauben, aber sie hatten keine andere Wahl. Das Leben auf der Straße war hart und unfair. „Wir sollten uns aufteilen, dann geht es schneller“, sagte Tarek, als er und Alron eine T-förmige Kreuzung erreichten. Sie einigten sich darauf, in einer Stunde wieder zu diesem Ort zurückzukehren, und gingen getrennte Wege. Es dauerte nicht lange, bis Tarek auf ein paar Mädchen im Alter von etwa zehn Jahren stieß, die am Straßenrand auf die abartigen Männer warteten, aber er brachte es nicht übers Herz, ihnen ihr Geld abzunehmen. Das, was sie für diese unaussprechlichen Dinge bekamen, war lächerlich wenig und dann mussten sie auch noch einen Großteil an ihren Zuhälter oder den Boss ihrer Gang abtreten und... nein, diese Mädchen litten bereits genug. Tarek wandte sich von ihnen ab und stieß kurz daraufhin auf eine kleine Gruppe junger Männer, die-- Als Tarek erkannte, dass er es hier mit Mitgliedern von Luans Gang zu tun hatte, machte er auf dem Absatz kehrt und rannte um sein Leben. Bis jetzt war er der konkurrierenden Gang noch nicht persönlich begegnet und dem nach zu urteilen, was er von ihr gehört und gesehen hatte, war das auch ganz gut so. Sein drittes potenzielles Opfer war eine alte Frau, die sicherlich ein bisschen Geld in ihrer Tasche trug, aber der Mann, der sie begleitete – vermutlich ihr Sohn oder ein anderer Verwandter – sah aus, als könnte er Tarek innerhalb weniger Sekunden einholen und zusammenschlagen, und darauf konnte der Junge getrost verzichten. Nach der erfolglosen Stunde blieb Tarek nichts anderes übrig, als an den Treffpunkt zurückzukehren und zu hoffen, dass Alron mehr Glück gehabt hatte. Er wartete, doch von dem 13-Jährigen fehlte jede Spur. Tarek wurde langsam nervös. Befürchtend, dass dem Jüngeren etwas zugestoßen sein könnte, folgte er der Straße, die Alron eingeschlagen hatte, und kam wenige Minuten später zu einer Kurve, hinter der er Stimmen vernehmen konnte. „Ich weiß nicht, wo er ist, aber ich wollte mich gleich mit ihm treffen. Dann kann ich ihn zu Ihnen schicken, wenn Sie möchten.“ Das ist Alron. Redet er über mich? Und wenn ja, mit wem? Tarek hatte eine ungute Vermutung, die sich leider bestätigte, als die andere Person antwortete. „Danke, das wäre sehr hilfreich.“ Er spähte um die Hausecke, die aus einer rotbraunen Mauer bestand, und sah das, was er ohnehin schon wusste. Alrons Gesprächspartner war niemand Geringeres als ein gewisses blondes Arschloch mit einem protzigen Sportwagen. „Darf ich Sie fragen, aus welchem Land Sie kommen?“, fragte Alron, der so fasziniert von dem Ausländer und dessen Auto war, dass er Tarek, der sich eigentlich in seinem Sichtfeld befand, überhaupt nicht wahrnahm. „Aus Russland.“ „Echt? Ich dachte, Sie kommen aus Deutschland.“ „Warum denkst du das?“ „Wegen Ihrem Aussehen. Tarek hat gesagt, dass alle Menschen in Deutschland blonde Haare und blaue Augen haben.“ Während Jakov, der Tarek den Rücken zugedreht hatte und ihn deswegen nicht bemerkte, leise lachte, zog Tarek sich hinter die Mauer zurück und schlug seine Hand lautlos gegen seine Stirn. Er hatte gesagt, dass es ein Klischee war, dass alle Menschen in Deutschland so aussahen, und nicht dass das der Wahrheit entsprach. „Ich hoffe mal, dass er dir nicht auch die anderen Dinge erzählt hat, die über Deutsche gedacht werden“, sagte Jakov. Allein seine tiefe Stimme zu hören, löste Aggressionen in Tarek aus. Er wollte diesem arroganten Wichser so heftig ins Gesicht schlagen, dass ihm die Zähne ausfielen. Mutig kam er hinter der Hausecke hervor und rief mit klarer Stimme: „Alron, komm von diesem Mann weg!“ Jakov sah nicht zu Tarek, sondern zu Alron, um zu schauen, ob er auf den Befehl hören würde, aber Alron hatte die Entfernung zwischen sich und Tarek bereits überwunden und versteckte sich hinter dem Älteren. Das Vertrauen zu seinem Gott war größer als die Bewunderung des Russen. Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Grillen und andere Insekten zirpten leise, Autobremsen quietschten einige Straßen weiter und irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Die Sonne war schon lange untergegangen, aber es war immer noch unerträglich heiß. Tareks dünnes T-Shirt klebte an seiner Haut und einige seiner schwarzen Haarsträhnen hafteten feucht an seiner Stirn. „Ganz ruhig, Kleiner, ich will nur mit dir reden.“ Als Antwort fauchte Tarek ein paar Schimpfwörter, die so heftig waren, dass Alron erschrocken Luft holte. „Du solltest dich glücklich schätzen, dass ich nicht weiß, was du gerade gesagt hast“, erwiderte Jakov gelassen, aber mit einem leichten Anflug von Zorn. „Kommst du jetzt?“ „Vergiss es“, zischte Tarek hasserfüllt, ehe er sich umdrehte und zügig von dannen zog. Alron folgte ihm wie ein zweiter Schatten. „Kennst du diesen Mann?“ Tarek wollte antworten, dass Jakov jemand war, der es mit Kindern trieb und sich nicht an Vereinbarungen hielt – dass das eine Lüge war, interessierte ihn nicht – aber dann fiel ihm ein, dass Alron ihn danach fragen würde, was daran so schlimm war. Freier, die sich Minderjährige suchten und mit ihnen Dinge taten, die an einer Vergewaltigung grenzten, waren gang und gäbe. „Halt dich von ihm fern“, presste Tarek zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Er ist die Sorte Mensch, die einen zum Kotzen bringt.“ Die beiden Jungs bogen in die nächste Straße ein und steuerten direkt auf den Keller zu, für den sie leider noch einiges an Weg zurücklegen mussten. Tarek wunderte sich, warum Jakov so schnell aufgegeben hatte, doch er hatte sich zu früh gefreut. „Bist du wütend wegen gestern?“ Hätte Tarek etwas in der Hand gehabt, würde er diesen Gegenstand jetzt nach Jakov werfen, der in sein Auto gestiegen war und neben den zwei Jugendlichen herfuhr. „Komm schon, Kleiner, ich will nur mit dir reden. Ich bezahle dich auch.“ „Schieb dir dein Geld in den Arsch“, fauchte Tarek zurück und beschleunigte sein Tempo. Alron musste laufen, um mit ihm Schritt halten zu können. „Tarek, warte“, murmelte der Jüngere zaghaft. „Warum lässt du dich nicht auf ihn ein? Er hat Geld.“ „Ja, und weißt du, was er noch hat? Ein gewaltiges Ego, eine scheußliche Arroganz und den Glauben, dass er etwas Besseres ist, nur weil er Geld besitzt.“ „Aber wenn wir mit leeren Händen nach Hause kommen, wird Ledion uns umbringen...“ Tarek ging weiter und ignorierte sowohl Alron als auch Jakov, der immer noch neben ihnen auf der Straße fuhr. „... und keinen Stoff geben.“ Er blieb so abrupt stehen, dass Alron beinahe gegen seinen Rücken prallte. „Tarek?“ Angesprochener antwortete nicht, sondern ballte die Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. Die Schmerzen in seinem Bauch und in seinen Beinen waren bis jetzt nur stärker geworden und Tarek würde absolut alles dafür tun, an sein geliebtes Heroin zu kommen, das mit seiner schmerzlindernden Wirkung genau das war, was er jetzt brauchte. Er musste nur seinen Stolz herunterschlucken und zu diesem Kotzbrocken ins Auto steigen... „Ich will das Doppelte von gestern“, verlangte er und sah zu Jakov, dessen triumphierendes Grinsen ihn fast zum Explodieren brachte. „Das ist ziemlich viel, wenn man bedenkt, dass ich nur mit dir reden werde.“ „Drei Straßen weiter gab es einen Typen, der das Gleiche gesagt hat. Er sitzt jetzt wegen Vergewaltigung und Ermordung einer Achtjährigen im Gefängnis.“ „Willst du mir unterstellen, dass ich lüge?“ „Lügen musst du nicht – du tust auch so, was dir gerade in den Kram passt.“ „Pass auf, Tarek: Wir fahren jetzt zu mir, dann reden wir miteinander und danach werde ich dir Geld geben. Sollte es zu etwas Sexuellem kommen, was ich aber bezweifle, weil du offensichtlich keine Lust hast, werde ich mich dafür erkenntlich zeigen, aber das ist völlig optional. Ich möchte wirklich nur mit dir reden.“ „Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann tu es doch einfach.“ „Nur unter vier Augen.“ Tarek hatte ein mieses Gefühl bei der Sache. Er wollte nicht, dass sich die Geschehnisse von gestern wiederholten oder Jakov etwas noch Schlimmeres tat, aber... der Kerl war eine sichere Geldquelle. Es hing von ihm ab, ob Tarek heute noch sein Glück im Pulverform kriegen würde, ohne das er einfach nicht leben konnte. Mach es einfach, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Selbst wenn er dich vergewaltigt – sobald du dir den nächsten Schuss setzt, ist das alles nicht mehr präsent. Augen zu und durch. Tarek seufzte, ehe er in den Sportwagen von Jakov stieg und mit dem Russen hinter der nächsten Ecke verschwand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)