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Großstadtgeflüster

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Meine Gäng hat gesagt, ich darf hochladen, also mach ich's!

Songs zu diesem Kapitel:
Culcha Candela - Somma im Kiez
Grossstadtgeflüster - Fickt-Euch-Allee Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich hau jetzt einfach raus, solange wie es flutscht. Dauert aber echt lange, diese Story zum Laufen zu kriegen...

Song zu diesem Kapitel:
Paul Kalkbrenner - Sky and Sand (ein Klassiker xD) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Don't mind me, ich hatte heute zwei Tassen Kaffee statt einer und dieses ganze zu-Hause-Sitzen wirkt sich positiv auf meine Fics aus...
Dieses Kapitel ist zwischengeschoben und es passiert so gut wie nix, aber es werden noch ein paar Querverbindungen aufgezeigt.

Der Song zu diesem Kapitel:

Seeed - Aufsteh'n Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Song für dieses Kapitel (endlich mal Techno):

BAAL - Babel Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich musste das jetzt doch noch fertig kriegen, bevor ich endlich mal andere Sachen lesen gehe...

Song:
Grossstadtgeflüster - Feierabend Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Leute, ich mach das jetzt mal in Allgemein: DANKE DANKE DANKE für eure ganzen Kommentare! Mein Hirn ist gerade nur auf FF-auskotzen gepolt, sodass ich mir nie die Zeit nehme zu Antworten, aber ich führe zu jedem Kommi einen eigenen kleinen Freudentanz auf!!! Walla, wie Yuriys Schüler*innen sagen würden.

Songs zu diesem Kapitel
Peter Fox - Schwarz zu Blau (wieder so'n oller Klassiger)
RY X - Oceans (weil ich diesen Song eventuell in Dauerschleife hören musste, während ich die zweite Hälfte des Kapitels schrieb) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Information overload.



Song zu diesem Kapitel:

2Raumwohnung - Wolken ziehn vorbei Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Song zu diesem Kapitel

Westbam - Way Up (da kommen Erinnerungen an die Loveparade auf xD) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Warnung: In diesem Kapitel kommen leichte Drogen vor.

Songs zu diesem Kapitel:

Metrik - Starchaser (ein Song, den Yuriy auflegen würde)
Culcha Candela - Berlin City Girl (Weil.) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es wird immer noch geraucht und getrunken. Jemand sollte Yuriy sagen, dass das nicht gesund ist.

Song zu diesem Kapitel:
Seeed - Augenbling (Achtung, Ohrwurm) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Song zu diesem Kapitel:

Grossstadtgeflüster - Luft und Liebe Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
*lufthol* Dankedankedankedankedankedankedankedankedanke für eure regelmäßigen und tollen Kommentare! Mitternachtsblick, LittleLionHead, Phoenix-of-Darkness, FreeWolf und WeißeWölfinLarka - ich glaub, einige von euch haben echt jedes Kapitel kommentiert. Alda seid ihr sick oder was?! :D Es tut mir furchtbar leid, dass ich nicht viel antworte, aber ich tanze zu jedem einzelnen Kommentar (walla!).

Apropos tanzen - Song zu diesem Kapitel:
Trettmann - Retroshirt Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Shit hits the fan :D

Song zu diesem Kapitel:
Marteria - Verstrahlt Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Was ist looooos? - Die Antwort: keine Ahnung, ich hatte Zeit. Nur einen Song gibt es zu diesem Kapitel nicht, darüber muss ich noch nachdenken.

Warnung: Garland spricht über Brooklyn. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nach diesem Kapitel werdet ihr mich killen wollen (, sagte sie und lächelte).

Song zu diesem Kapitel
Roman Beise - Böse Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Drama und andere Dinge.

Warnung: in Ansätzen häusliche Gewalt und Erwähung von Stalking im ersten Absatz. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Song zu diesem Kapitel:

Grossstadtgeflüster - Huxley's Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich hatte so viel Spaß mit diesem Kapitel - vielleicht merkt man es :D

Leider merke ich gerade, dass sich die Geschichte nun dem Ende zuneigt. Wahrscheinlich kommt noch ein Kapitel, und dann ist es auch schon Zeit für den Epilog :( Ich bin sehr traurig! Denn diese Fic war so ein bisschen meine Pandemie-Therapie und ich merke gerade, dass ich alle meine Sommersehnsüchte dort verarbeitet habe. Ich fühle mich noch nicht bereit, das loszulassen T.T

Aber erstmal noch mal Songs zu diesem Kapitel:
Einmusik, Seth Schwarz - Awakening (für den Minirave auf dem Tempelhofer Feld)
2raumwohnung - Wir sind die anderen (zum Runterkommen :) )
Ellen Allien - Love Distortion (Introversion Remix) (Für den Dancefloor) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
DAS LETZTE KAPITEL ASDLFGHGDKSLFHFDK!!! ARGH!
Ich bin traurig, ich bin aufgebracht, ich bin fix und alle. Und weil die Pandemie noch nicht vorbei ist, verkünde ich hiermit:
Es wird einen zweiten Teil geben. So. Das habt ihr nun davon. Bevor ich euch damit nerve, folgt nach diesem Kapitel hier noch ein Epilog.

Und vor alledem: Die Songs zu diesem Kapitel:
P.R. Kantate - Görli Görli (warum kann ich da so gut mitsingen??)
Grossstadtgeflüster - Konfetti und Yeah (daraus auch die Lyrics im Text) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es ist vollbracht :) Ich bin happy mit dem result lol


Ein letzter Song, denn das beste kommt zum Schluss:

Seeed - Dickes B Komplett anzeigen

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Intro

Das hässliche Auto vor dem Haus gehörte tatsächlich Boris. Yuriy hatte es zuerst nicht glauben wollen, aber sein Mitbewohner ging jetzt federnden Schrittes auf die Karre zu, öffnete sie mit einem Klicken des Schlüssels und drehte sich dann strahlend wieder zu ihm um. „Spring rein, was stehst du da so, Mann?”

Yuriy blinzelte, dann setzte er sich in Bewegung, um seine Beine irgendwie in den spärlichen Fußraum des Subarus zu quetschen. Natürlich war der Wagen tiefergelegt; darüber hinaus waren die hinteren Scheiben getönt, es gab einen Heckspoiler und einen Auspuff, der so groß war, dass es schon hart an der Legalität grenzen musste - und zu guter Letzt war das ganze Ding giftgrün lackiert.

Es war ganz offensichtlich an der Zeit, sich ein Fahrrad oder ein Jahresticket oder gleich beides anzuschaffen. „Ich werde nie wieder mit dir fahren”, sagte Yuriy laut, wie um sich selbst noch einmal zu bekräftigen. „Und außerdem - bist du dir sicher, dass du das Ding einfach vorm Haus stehen lassen willst? Wenn einer rauskriegt, wie viel deine Customteile wert sind, hast du morgen zwei.”

„Keine Sorge”, sprach Boris laut über das plötzliche Aufröcheln des Motors hinweg - wer noch nicht mitbekommen hatte, dass ein potentielles Racing Car vor der Tür stand, wusste es spätestens jetzt - „Ich stell die Karre bei Sergeij in der Werkstatt unter, bis ich ne Garage gefunden hab. Um die Ecke ist glaube ich irgendwas frei, muss mal gucken.”

„Frag doch Onkel Stan.”

„Yura, nee, das geht nicht. Dann müsste er seine Garage ja aufräumen. Vergiss es.”

Sie grinsten sich an, dann parkte Boris aus und steuerte den Subaru ein bisschen zu schnell durch die verwinkelten Einbahnstraßen der Plattenbausiedlung, bis sie irgendwann auf der Landsberger Allee landeten. Dort beschleunigte er noch ein bisschen mehr, bevor er die Hand ausstreckte und die Anlage einschaltete. Das Radio sprang an und ein paar Trompeten plärrten ihnen entgegen.

“Endlich Sommer in meinem Kiez

Alle ham’ sich auf einmal lieb

Lass uns um die Häuser zieh’n

Denn es ist Sommer in meinem Kiez…”

„Classic”, kommentierte Yuriy feixend und lehnte sich zurück. Boris ächzte und drückte auf einen Knopf, das Gerät sprang auf MP3 um und schon wummerte der Bass durch das Auto, so, wie er es gewohnt war.

„Soll ich dich am Ring rauslassen?”, fragte Boris kurz darauf über die Musik hinweg.

„Hm? Ah, nein, kannst du mich bis Alex mitnehmen? Ich treffe mich noch mit Rei und Lai.”

„Am Alex?”

„Frag nicht”, entgegnete Yuriy bloß. Wie jeder normale Mensch mied er Mitte so gut es ging, doch manchmal ging es einfach nicht anders. Rei und Lai wohnten eigentlich gar nicht mal so weit von ihnen entfernt, nämlich in Lichtenberg, aber irgendwie jobbten sie jetzt nicht mehr nur in Friedrichshain, sondern auch irgendwo an der Friedrichstraße - und so war der Alexanderplatz plötzlich zu einem günstigen Treffpunkt geworden. Yuriy brauchte Geld, wie immer, und vielleicht konnte er bei den beiden aushelfen. Seine halbe Stelle als Schulsozialarbeiter reichte gerade für das Nötigste, und sein Hobby war ein glattes Nullgeschäft, wenn er Glück hatte.

„Alles klar”, brummte Boris nur.

Sie kamen gut durch, denn die Rush Hour war längst vorbei. Die Landsberger Allee führte schnurgerade ins Stadtzentrum. Je weiter sie fuhren, desto enger wurde es. Die Schlafburgen waren längst verschwunden, die Platten wurden niedriger, in der Mitte der Fahrbahn ratterten die gelben Trams. Der Fernsehturm war der Fixpunkt ihrer Sichtachse, alle großen Straßen im Ostteil der Stadt waren auf ihn ausgerichtet, gleich den Prospekten in Moskau oder Petersburg. Man musste sich anstrengen, den Turm einmal nicht zu sehen. Auch zu Hause hatten sie das Ding immer vor Augen, denn ihre Wohnung mitsamt dem Balkon lag Richtung Westen, was aber auch bedeutete, dass sie den besten Blick auf die Stadt hatten.

Es dauerte nicht lang, bis sie in Mitte ankamen, wo es merklich voller wurde. Der Verkehr verlangsamte sich, die Wege waren voller Touristen. Ständig standen sie an roten Ampeln, es war ein einziges Stop-and-Go. „Wo genau soll ich dich rauslassen?”, fragte Boris, der unruhig mit den Fingern auf dem Lenkrad herumtrommelte und mit dem Gas spielte.

„Kannst du Memhardstraße rein?”

Sein Mitbewohner verdrehte die Augen und ließ das Auto einen Satz nach vorn machen, um es noch bei Dunkelgelb über die Ampel zu schaffen. Yuriy wusste, warum er genervt war - die Straßen wurden nun noch enger.

„Bist du eigentlich am Wochenende im Zentrum?”, fing Boris unvermittelt wieder an.

„Mal sehen”, antwortete Yuriy, „Ich muss mich mit Vanja und den anderen absprechen. Aber wahrscheinlich. Wieso, bist du auch - PASS AUF!”

Direkt vor ihnen war ein Fahrrad aus einer Einfahrt geschossen, sodass Boris (der allerdings, das sollte man erwähnen, immer noch etwas zu schnell unterwegs gewesen war) eine Vollbremsung machen musste. Aufgeschreckt vom Geräusch der quietschenden Reifen drehte der Fahrradfahrer sich zu ihnen um und Yuriy erhaschte einen verwunderten Blick aus dunklen Augen, bevor er davonsauste. Vermutlich hatte er nicht einmal realisiert, wie knapp er einem Unfall entkommen war.

„Verfickte Hipster!”, fluchte Boris, der sich sichtlich erschrocken hatte und nun langsam wieder losfuhr. „Diese Idioten mit ihren Karottenhosen und Fixies, ich könnte sie allesamt, ich weiß nur nicht, wie es heißt! Hat der keine Augen im Kopf?” Auch Yuriy lehnte sich nun endlich wieder zurück. Sein Körper war noch ganz verkrampft. „Das hätte uns noch gefehlt”, murmelte er.

„Kannst du laut sagen! Mann! Die Karre ist neu, ich hab keinen Bock, sofort Kratzer im Lack zu haben! Mit dem Polo hätte ich ihn sofort mitgenommen…”, fügte er leiser hinzu. Yuriy schwieg, er erinnerte sich noch gut daran, wie Boris geprahlt hatte, dass jede Beule in seinem alten Auto von einem gekillten Fahrradfahrer kam. Mit der Zeit hatte sein Mitbewohner einen richtigen Hass auf diese entwickelt. Es war ihm nicht wirklich zu verdenken, denn auf den Straßen ging es zu wie im wilden Westen: Ständig wurde irgendwo gebaut und der Verkehr wurde dabei nie wirklich gut umgeleitet.

Ein Stück weiter ließ Boris Yuriy aussteigen - er parkte kurzerhand in einer Einfahrt, da hinter ihm noch mindestens drei weitere Autos waren, und prompt fing irgendein Alter an zu zetern, weil sie ihm den Fußweg versperrten. Yuriy ignorierte den Streithammel, winkte noch einmal, dann rauschte das grüne Ungetüm davon. Ihm war, als hörte er ein paar Sekunden später schon wieder die Reifen quietschen.
 


 

„Morning, Kai!”

Max stand neben den Fahrradständern, als er in den Innenhof kam. Er sah ungewöhnlich smart aus mit seinem Hemd und den sommerlichen Stoffhosen. Wahrscheinlich färbte der Stil seiner Kollegen langsam auf ihn ab; jedenfalls hatte Kai ihn schon seit einer ganzen Weile nicht mehr in zu großen Schlabbershirts gesehen.

„Hey”, grüßte er knapp zurück. Während er das Rad anschloss, musterte Max ihn von der Seite. Vermutlich hatte er Kais fahrige Bewegungen bemerkt, denn er fragte: „Alles klar bei dir?”

„Ja, keine Sorge”, entgegnete Kai, „Ich hab mich nur vorhin total erschreckt, weil irgend so ein Idiot mich beinahe überfahren hätte…”

„Oh Gott, ist dir was passiert?”

Er hob eine Augenbraue; es sollte offensichtlich sein, dass er keinen Kratzer abbekommen hatte, seine Kleidung saß noch tadellos. „Nein Max. Lass uns reingehen.” Sein Kollege verstand wohl den Wink, denn er fragte nicht weiter. Gemeinsam traten sie den Weg in den dritten Stock des Vorderhauses an, wo sich das Start-up, für das sie beide arbeiteten, eingenistet hatte. Das Büro war nicht perfekt: In letzter Zeit waren viele neue Leute eingestellt worden und sie hatten alle ein bisschen enger zusammenrücken müssen. Noch dazu versprach der Sommer schon jetzt, heiß zu werden, und das Gebäude besaß keine Klimaanlage. Sobald sie die Fenster öffneten, drangen der Verkehrslärm und die mit ihm verbundenen Abgase der vor dem Haus verlaufenden Friedrichstraße hinein. Wenn das so weiterging, würde Kai demnächst einfach mobiles Arbeiten beantragen und Meetings nur noch über Skype abhalten. Dann konnte er zumindest im Park sitzen, statt hier zu zerfließen.

Sobald er das Großraumbüro betrat, ging der alltägliche Stress los: Er hatte noch nicht einmal seinen Computer hochgefahren, als schon Claude und Giulia, seine Copywriter für Frankreich und Spanien, neben ihm standen. „Kai, wäre es okay, wenn wir die E-Mails für das Marketing höher priorisieren? Das CMS arbeitet ja sowieso noch nicht richtig mit der App-Oberfläche zusammen, da verlieren wir nur Zeit, die wir jetzt für was anderes nutzen können. Und Mariam sitzt uns echt im Nacken…”

„Ja, dann aber schnell, wir haben nächsten Montag Sprint Review, bis dahin wird das alles stehen und dann müsst ihr sofort den Content einspielen”, betete Kai herunter und öffnete nebenbei sein E-Mail-Postfach. Mit leisem Grauen beobachtete er, wie die Liste der ungelesenen Nachrichten immer länger wurde. „Schafft ihr das?”

Claude und Giulia warfen sich einen nervösen Blick zu. „Sicher”, antwortete die Spanierin dann. Sie ahnte vermutlich, dass sie für den Rest der Woche Überstunden schieben würde, aber Kai hatte kein Mitleid mit ihr. Es war normal, er selbst war momentan nicht selten zehn Stunden und mehr pro Tag hier. Zum Glück nahm der Stress gerade langsam aber sicher ab, sodass er nächstes Wochenende endlich mal wieder komplett frei haben würde. Er wusste noch gar nicht, was er mit der Zeit anfangen sollte.

Ganz oben in seinem Postfach stand eine Terminanfrage von Giancarlo, Lunch mit Ralf. Am Mittwoch. Kai seufzte, darauf hatte er nun wirklich keine Lust. Immerhin fand das Treffen mittags statt. Beim letzten Mal hatten sie sich an einem Donnerstagabend getroffen, und weil sie gerade die Zusagen der neuen Investoren bekommen hatten, war Giancarlo in Partystimmung gewesen. Unnötig zu erwähnen, dass Kai am darauffolgenden Freitag nicht viel mehr geschafft hatte als seinen Abwesenheitsassistenten anzuwerfen. Dennoch konnte er nicht einfach ablehnen. Nicht, wenn Ralf Jürgens in der Stadt war.

Dank der vielen Mails verging der Vormittag wie im Flug. Klar, die meisten Anliegen waren nichtig, wie immer, doch leider konnte man bei Kais Job nie ausschließen, dass sich irgendetwas zu einer Katastrophe aufblähte, wenn er sich nicht sofort darum kümmerte. Manchmal war der Titel Produktmanager einfach nur ein Euphemismus für jemanden, der Scheiße zu Gold machte. Sein Kalender, der zu Beginn noch erfrischend leer ausgesehen hatte, war nun bis Schlag achtzehn Uhr gefüllt mit Terminen. Bevor er diesen Marathon antrat, brauchte er einen Kaffee und vielleicht einen Schokoriegel aus dem Vorrat in der Küche. Ah, die Dreifaltigkeit der Startup-Büros: bunte Sitzgelegenheiten, kostenloses Obst und Snacks, Tischkicker. Während die Kaffeemaschine, die vermutlich dasselbe kostete wie ein gebrauchter Kleinwagen, ratterte und schließlich einen Schwall Espresso ausspie, lehnte Kai sich an die Anrichte und riss einen Müsliriegel auf. Irgendwer hatte das Radio aufgedreht. Gedankenverloren sah er aus dem Fenster auf die Straße hinab, während eine lauwarme Brise von draußen ihm die Haare zerzauste. Es musste unglaublich heiß dort unten sein, zwischen den Häusern und inmitten des dichten Verkehrs. Beim Café gegenüber drängten sich die Leute auf die wenigen Sitzplätze unter freiem Himmel. Fahrradboten mit riesigen Messenger Bags zwängten sich zwischen den Autos hindurch und wurden angehupt. Die Touristen liefen in Trauben zielstrebig Richtung Checkpoint Charlie.

Seit zwei Jahren war er nun hier. Er liebte die Stadt nicht, aber darum ging es ihm auch nicht. Der Sommer war in Ordnung, der Winter dafür umso trister. Doch hier zu leben war denkbar günstig, die Infrastruktur okay und das Nachtleben machte die vielen alltäglichen Unannehmlichkeiten mehr als wett. Wenn er nicht so viel arbeiten müsste, wäre er wahrscheinlich ständig unterwegs. Inzwischen hatte sich eine Routine bei ihm eingestellt, mit der er locker fünfzig, sechzig Stunden die Woche reißen konnte ohne unter der Arbeitslast einzuknicken. Doch sein Privatleben hatte darunter gelitten, war eigentlich nicht mehr existent. Und es war nicht so, als würde er seinen Tagesablauf genießen, im Gegenteil - er begann, sich selbst unendlich langweilig zu finden.

„Hey Kai, kommst du? Wir fangen gleich an.”

Er hob den Blick; an der Küchentür stand Garland, den Laptop unter den Arm geklemmt und eine Tasse in der Hand. Auffordernd sah er ihn an. Kai nickte bloß und griff nach seinem Kaffee.

Aus dem Radio dudelte ein neuer Song.

“Ich hör euch nicht ich bin in meinem Wochenendhäuschen in der Fickt-Euch-Allee

Wo ich auf der Veranda meine Eier schaukle

Da hab ich immer Recht und 'n Blick auf'n See

In meinem Wochenendhäuschen in der Fickt-Euch-Allee”

Im Sommer tust du gut

„Jo, äh, Dings, Herr - Herr Ivanov! Farid hat mir mein Handy weggenommen!”

„Alter, halt’s Maul, gar nix hab ich!”

„Ja aber wer hat dann?”

„Ja keine Ahnung!”

„Schwör?”

„Walla!”

„Glaub aber nicht. Herr Ivanov!”

Yuriy seufzte und legte das Buch weg. Er hatte Pause, keine Pausenaufsicht, aber die Kids würden das wohl nie begreifen. Mit einem Wink holte er sich die beiden Streithammel heran. Sie waren beide dreizehn, aber Katha kleidete sich seit diesem Schuljahr anders und schmatzte ständig mit Kaugummis, während Farid immer noch aussah wie ein Milchbubi.

„Farid, hast du Kathas Handy?”, fragte er und der Kleine brauste sofort auf. „Ich hab doch gesagt, ich hab nicht, Mann!”

„Ich bin nicht ‘Mann’.”

„‘Tschuldigung, Herr Ivanov. Aber ich hab wirklich nicht!”

„Ist ja gut.” Yuriy wandte sich an das Mädchen. „Hast du es vielleicht irgendwo liegen gelassen?”

Bei diesen Worten fing es hinter Kathas Stirn an zu arbeiten, dann hörte das Kaugeräusch plötzlich auf. Sie schlug sich mit der Hand an die Stirn. „Ich hab’s bei Denise in Turnbeutel gepackt!”

Beinahe hätte Yuriy die Augen verdreht. War ja klar. „Na dann ist ja alles in Ordnung. Hey, wartet mal”, fügte er hinzu, als die beiden schon wieder davonrennen wollten. „Wie läuft es denn mit Monica, die ist doch bei euch in der Klasse?”

„Ja, die ist voll schlau”, antwortete Farid, während Katha schon wieder betont gelangweilt dreinblickte.

„Versteht sie schon alles?”

„Ja, voll krass, die hat voll schnell gelernt!”

„Boah Farid, stehst auf die?”, fragte Katha nun sichtlich genervt. Aber das musste sie auch, sie war schließlich die Chefin in ihrer Klasse. Hoffentlich hatte er sie jetzt nicht auf die arme Monica angesetzt. Die konnte nämlich kein Wässerchen trüben und war an dieser Schule eigentlich total fehl am Platz. Aber wegen ihrer mangelnden Sprachkenntnisse war sie erstmal hierher gesteckt worden. Yuriy hatte leider herzlich wenig zu sagen, aber er hatte sich fest vorgenommen, alles in seiner Macht stehende zu tun, um Monica auf irgendein Gymnasium zu bringen.

In diesem Moment schallte die Glocke über den Schulhof. Yuriy stand auf und begann, die Kinder in seiner unmittelbaren Nähe vor sich herzuscheuchen, sonst dauerte es wieder ewig, bis alle in ihren Klassen waren. Ihn erwarteten jetzt noch zwei Telefonate und ein persönliches Gespräch sowie ein Stapel Papierkram, dann war er auch schon fertig für heute. Er hätte gut und gern die doppelte Anzahl Stunden pro Woche arbeiten können, doch im Rahmen dessen, was die Schule sich leisten konnte, bzw. an Unterstützung bekam, war nur eine halbe Stelle drin. Diese hatte er aber immerhin schon seit über einem Jahr inne. So konnte er zumindest sicher gehen, dass er die Miete bezahlen konnte, und alles andere fand sich meistens irgendwie. Mit seinem besten Freund zusammenzuleben war da auch nicht die schlechteste Voraussetzung.

Ein paar Stunden später stand er vor der Tür seines „Büros” (eine umfunktionierte, winzige Abstellkammer) und wollte gerade abschließen, als er sah, wie Moses den Gang entlang kam. Moses war das, was man gemeinhin als Schrank bezeichnen würde, dementsprechend ehrfürchtig behandelten die Kids ihn auch. Dabei war er wohl der friedliebendste Mensch, den Yuriy kannte - abgesehen vielleicht von Sergeij, der allerdings selbst ein Riese war. Im wahren Leben war Moses Programmierer bei irgendeinem Startup, aber seit seine Familie Monica in seine Obhut gegeben und er sie selbst in der ihr fremden Sprache unterrichtet hatte, hatte er sein Talent dafür erkannt. Nun half er an der Schule seiner Schwester mit Sprachkursen für Willkommensklassen aus.

Sie begrüßten sich mit Handschlag. „Alles gut?”, fragte Yuriy und Moses nickte.

„Deine Schwester macht sich gut, hab ich gehört. Die Kolleginnen und Kollegen lieben sie.” Er konnte zusehen, wie die Brust seines Gegenübers vor Stolz noch breiter wurde. „Hey”, fuhr er fort, „Hast du am Wochenende Zeit? Wir legen wahrscheinlich im Zentrum auf. Ich kann dich auf die Gästeliste schreiben.”

„Danke, aber nein”, sagte Moses sofort, „Wir haben freitags immer so ein kleines Afterwork Get-together im Büro. Das reicht mir. Am Wochenende möchte ich die Zeit mit Monica verbringen.”

Yuriy unterdrückte ein Seufzen. Moses war einfach zu gut für diese Welt. „Alles klar; wenn du es dir anders überlegst, schreib mir einfach, okay?”

„Okay. Danke, dass du an mich gedacht hast, Yuriy.”

Sie schlugen noch einmal ein - auch das hatte Moses noch nicht drauf, es wirkte immer so, als würde seine Hand knapp an Yuriys vorbeisausen - dann machte Moses sich auf den Weg in sein Klassenzimmer und Yuriy lief in die entgegengesetzte Richtung, um endlich rauszukommen. Neben dem Tor zum Schulhof wartete sein neuester Besitz auf ihn: Ein etwas in die Jahre gekommenes Rennrad, für das er auf dem Fahrradflohmarkt am Wochenende viel zu viel bezahlt hatte. Aber immerhin hatte es eine Gangschaltung, Bremsen und sah nicht komplett grottig aus. Das Schloss, das er tags darauf erstanden hatte, war in etwa die Hälfte des Rads wert, also würde es ihm hoffentlich nicht sofort wieder geklaut werden. Boris hatte nur die Augenbrauen hochgezogen, als er mit dem Ding vor ihrer Tür stand und irgendetwas davon gemurmelt, dass er, wenn er jetzt jeden Tag dreißig Kilometer radelte, bald nur noch ein Strich in der Landschaft war. Und was er denn bitteschön im Winter tun würde. Letzteres wusste Yuriy zugegebenermaßen auch noch nicht, aber es würde schon irgendwie funktionieren. Immerhin hatte der Sommer gerade erst angefangen. Mit ein bisschen Glück lagen noch drei bis vier Monate mit viel Sonne vor ihnen.

In diesem Moment klingelte es hinter ihm. Schulschluss. Schnell schob er sich seine Kopfhörer in die Ohren und machte, dass er davonkam. Es gab immer ein paar Kinder, die noch irgendetwas von ihm wollten, und heute konnte er es sich nicht leisten, lange aufgehalten zu werden. Er schlängelte sich zwischen ein paar ausparkenden Autos hindurch und reihte sich in den Verkehr ein, der ihn Richtung Norden trug. Die Abgase konnte er nicht ausblenden, doch die Geräusche wurden von der Musik überdeckt.

„In the nighttime

When the world is at it's rest

You will find me

In the place I know the best

Dancin', shoutin'

Flyin' to the moon

Don't have to worry

'Cause I'll be come back soon”
 


 

„Um die Ecke hat ein neues Restaurant eröffnet, lasst uns da hingehen!”

Kai brummte nichtssagend und Ralf verdrehte die Augen. Er war ein Gewohnheitsmensch, ganz anders als Giancarlo, der sich auf alles stürzte, was shiny and new war. Aber im Gegensatz zu Giancarlo konnte Kai es sich nicht erlauben, Ralfs Vorlieben zu ignorieren. Die beiden waren nicht nur so was wie beste Freunde, nein, der Italiener war sein Chef und der Deutsche ihr Geldgeber. In seiner jetzigen Situation hatte Kai am wenigsten von ihnen allen zu melden, aber er fühlte sich eigentlich ganz wohl damit. In diesem Augenblick jedenfalls würde er nicht Ralfs Zorn abbekommen, sollte ihm das von Giancarlo vorgeschlagene Restaurant nicht zusagen.

Der Weg dorthin dauerte etwa fünf Minuten zu Fuß. Während die Hauptstraße voller Touristen war, verirrten sich nur wenige Menschen in die umliegenden Ecken. Es war vergleichsweise ruhig und kühl, da die meisten Wege den ganzen Tag im Schatten lagen. Kai atmete auf. Wenn er seine Pause schon nicht im Grünen verbringen konnte (hier war alles asphaltiert), dann wurde er doch zumindest die Menschenmassen los.

Das Restaurant hob sich durch dunkelrote Reklame vom Asphaltgrau ab. Ein paar winzige Tische standen vor der Tür, doch Ralf gab ziemlich brüsk zu verstehen, dass er lieber drinnen sitzen wollte. Als sie eintraten, erblicke Kai als erstes ein bekanntes Gesicht. „Rei, was machst du denn hier?” Normalerweise trafen sie sich in einem anderen Restaurant in unmittelbarer Nachbarschaft zu Kais Wohnung, das Reis Familie gehörte.

„Hallo Kai, das ist ja eine Überraschung!” Rei nahm einen Stapel Speisekarten in die Hand und winkte sie mit sich. „Willkommen in unserem neuen Haus! Wir haben Tische zum Innenhof, kommt mit.” Er führte sie in den hinteren Bereich und wies ihnen einen Tisch in einer ruhigen Nische zu. Während er den Raum durchschritt, musterte Kai die Einrichtung. Die Wände waren betont unbehandelt, wie es jetzt modern war, und von einem verwaschenen Grau. Von der Decke hingen Lampen mit breiten Papierschirmen. Die Tische und Stühle waren aus glattem, dunklem Holz, und natürlich gab es keine Tischdecken. „Bist du jetzt immer hier?”, fragte er, als sie sich gesetzt hatten und Rei die Speisekarten austeilte.

„Nein, keine Sorge, nur mittwochs und donnerstags. Ansonsten bin ich in Friedrichshain. Also dann”, fügte Rei hinzu, „Ich bin gleich wieder da und nehme eure Bestellungen auf.”

Sobald er weg war, ließ Ralf seine Karte sinken und sah Kai an. „Dein Deutsch ist ziemlich gut geworden”, sagte er mit seinem sehr akzentlastigen Englisch. Es tat in Kais Ohren weh, doch er konnte nicht einfach wieder die Sprache wechseln, also nickte er nur. Ralfs Blick wanderte weiter zu Giancarlo. „Im Gegensatz zu deinem.”

Giancarlo hob die Hände. „Hey, ich kann Bier bestellen, mehr brauche ich nicht. Alle sprechen Englisch!” Da hatte er allerdings Recht. Auch Kai bekam kaum einmal Gelegenheit, an seiner Aussprache zu feilen. Ihr Start-up war so international besetzt, dass alle auf Englisch miteinander kommunizieren, und selbst in seinem Kiez konnte er sich damit durchfuchsen. Einzig im Club geriet er manchmal an Menschen, mit denen er sich nicht sofort verständigen konnte; aber dafür gab es auch nonverbale Signale.

Rei kam zurück und ging, nachdem sie ihre Wahl getroffen hatten. Ralf faltete die Hände auf der Tischplatte und lehnte sich zurück. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er zum Geschäftlichen kommen wollte. „Ich habe die letzten Quartalszahlen gesehen, Giancarlo”, sagte er, „Ist gut gelaufen, oder?”

„Ja, unser Start in DACH war wirklich gut!”, bestätigte dieser eifrig, „Und mit dem nächsten Update kommen die ersten Bezahlservices, dann machen wir auch endlich mehr Gewinn. Ich bin zuversichtlich.”

Ralf nickte. „Gut. Dann können wir demnächst über die neue Finanzierungsrunde sprechen…”

Kai konnte förmlich beobachten, wie Giancarlo erleichtert zusammensank. Verständlich; der Italiener war jetzt seit drei Jahren CEO ihres Unternehmens und musste endlich schwarze Zahlen schreiben, sonst würde Ralf - und wenn nicht er, dann Johnny - ihn absägen. Die beiden machten da gerne mal kurzen Prozess.

„Kai, ich habe deinen Großvater neulich getroffen.” Nun wanderten Ralfs stechende Augen zu ihm. „Und habe ihm gesagt, dass du dich gut hältst. Du bist ja prinzipiell gerade schon im mittleren Management, wenn man das so sagen kann.” Natürlich konnte man das nicht, dafür war das Unternehmen zu klein. Flache Hierarchien, dachte Kai, auch so ein Euphemismus. „Giancarlo und ich können uns vorstellen, Ende des Jahres eine Stelle im höheren Management für dich zu schaffen.”

„Gut”, sagte Kai nur. Das würde seinen Großvater vielleicht davon abhalten, ständig zu fragen, was er denn bitteschön die ganze Zeit machte und warum er nicht endlich aufstieg. Nur um seine Freizeit tat es ihm leid. Giancarlo war nicht der beste CEO, und das strahlte natürlich auf alle anderen ab. Kai gab dem Unternehmen noch zwei Jahre, bevor es an die Wand gefahren wurde - und er war sich sicher, Ralf und Johnny dachten da ähnlich.

So ging es weiter; wenn Ralf in der Stadt war und sie gemeinsam Essen gingen, unterzog er sie jedes Mal einer intensiven Befragung zum Zustand ihres „Babys”. Dabei schwitzte Giancarlo sehr viel und Kai langweilte sich. Wenn alle Fragen zu Ralfs Zufriedenheit beantwortet waren, begann der entspannte Teil. Heute hatte Kai seinen Teller beinahe zur Hälfte geleert, bevor es soweit war.

„Nun gut”, sagte Ralf, und das war das Zeichen. „Ich sehe, es läuft. Was ist sonst so los in der Stadt?”

Giancarlo war sofort zur Stelle. „Ich wollte dich fragen!”, sagte er laut, „Bist du übers Wochenende hier? Sollen wir weggehen? Ich habe jemanden kennengelernt.” Die Informationen kamen so schnell aus seinem Mund, dass sowohl Kai als auch Ralf eine Weile brauchten, um sie zu verarbeiten. Kai war etwas schneller. „Du hast jemanden kennengelernt?”, fragte er höflich, und wie zu erwarten riss Giancarlo das Gespräch sofort an sich. So konnte er in Ruhe aufessen.

„Ja! Einen ganz tollen Menschen, Olivier. Wir sind uns vor ein paar Wochen in der Markthalle Neun begegnet. Tja, und inzwischen treffen wir uns regelmäßig. Er ist Franzose, kocht Gerichte wie aus einem Fünf-Sterne-Restaurant und hat Modedesign studiert.”

„Was macht er?”, fragte Ralf und klang dabei, als würde es ihn nicht viel mehr interessieren als die Morcheln auf seinem Teller.

„Ah, nun ja.” Jetzt wurde Giancarlo wieder leiser. „Es ist ein ungewöhnlicher Job, weißt du. Er ist eine Dragqueen.”

Ralf verschluckte sich und Kai hob den Kopf. Es gab in dieser Stadt eigentlich nur eine französische Dragqueen, die berühmt genug war, um von diesem Job leben zu können. „Datest du etwa Olivia Emerald?”, fragte er über Ralfs Husten hinweg. Giancarlos Gesicht hellte sich auf. „Du kennst sie?!”

„Natürlich. Sie legt jeden Samstag auf dem 90s-Floor im Zentrum auf.”

„Ha! Und genau dorthin hat er mich dieses Wochenende eingeladen! Ich wollte euch fragen, ob ihr mitkommt! Na?”

Ralf hatte sich inzwischen beruhigt und wischte sich mit der Serviette über den Mund. „Das Zentrum?”, hakte er nach, „Das ist doch dieser Schwulenclub.”

„Erfasst”, murmelte Kai und sagte dann etwas lauter: „Ich war schon lange nicht mehr dort. Also warum nicht? Keine Sorge”, fügte er hinzu, als er Ralfs Blick bemerkte, und musste sich sehr anstrengen, damit seine Stimme nicht vor Sarkasmus triefte, „Da kommen alle rein, und es ist auch fast niemand nackt. Und es gibt einen Electro-Floor, wenn dir eher danach ist.” Das letzte Mal, als er mit Ralf ausgegangen war, waren sie in irgendeinem Edelclub gelandet, sein Begleiter hatte sich zugekokst und war mit irgendwelchen anderen Anzugträgern zu wummernden Bässen verendet. Da hatte er allerdings auch gerade drei neue Firmen akquiriert.

„Na ich weiß nicht…”, murmelte Ralf, doch Giancarlo würde ihn nicht davonkommen lassen. „Willst du nicht meinen Angebeteten kennenlernen?”, fragte er theatralisch, „Wir würden sogar auf die Gästeliste kommen! Kai, guck doch mal nach, wer auf dem Electro-Floor auflegt.” Er deutete auf ihre Handys, die in der Mitte des Tisches lagen. Kai seufzte und tat, wie ihm geheißen. Alles, um nicht am Gespräch teilnehmen zu müssen.

„Was zieht man überhaupt zu so etwas an?”, fragte Ralf.

„Du kannst einfach in Jeans und Hemd gehen, wenn dir danach ist. Du musst nicht glitzern!”, wiegelte Giancarlo ab.

„Hm”, machte Kai, der inzwischen die Webseite des Clubs geöffnet hatte. „Ostblocc.”

„Kenn ich nicht.”

„Ein DJ-Kollektiv”, las er vor, „Auch mal was neues. Mehr steht hier aber nicht.”
 


 

„Okay, wir sollen um Mitternacht anfangen und haben dann wie immer drei Stunden”, sagte Ivan, „Freiwillige vor.”

„Ich bin raus, ich bin im Morgen”, warf Salima ein, die das Fenster geöffnet und sich auf das Fensterbrett gesetzt hatte. Die Brise von draußen erreichte auch die anderen drei, die in einem Halbkreis auf dem Dielenboden saßen. Das Geräusch einer vorbeifahrenden S-Bahn mischte sich in den Bass der Musik, die aus Ivans Anlage drang und die Kaffeekanne in der Mitte verströmte ihren Duft.

„Naja, eigentlich kommen eh nur Mattie und Yuriy in Frage”, meinte Ivan und sah die Angesprochenen an. Yuriy hob die Schultern. „Ich hab‘s schon fest eingeplant. Was ist mit dir?”, fragte er an Mathilda gewandt, die sich nickend einverstanden erklärte. „Das ist ja schon die letzten Male gut gelaufen. Da haben wir uns abgewechselt. Dieses Mal könnten wir doch mal zusammen auflegen.”

„Klar, gerne. Ich wollte auch ein paar von meinen eigenen Tracks spielen”, sagte Yuriy und griff wieder nach seinem Laptop. Während sie das kommende Wochenende planten, setzte er Cue Points in Songs, um dann besser mit ihnen arbeiten zu können. Er winkte Mathilda zu sich, um sie einen Blick auf seine Liste werfen zu lassen. „Nice”, kommentierte sie. „Damit kann ich was anfangen. Schickst du mir die Liste rüber? Dann stimme ich meine darauf ab.”

„Schon passiert.”

Salima kam wieder zu ihnen herunter, aber nur, um ihren Kaffeebecher zu füllen. „Das heißt, drei von uns sind am Samstag gebucht”, stellte sie fest, „Das entwickelt sich langsam ziemlich gut, finde ich.” Sie blickte den letzten in der Runde an. „Was ist mit dir, Vanja?”

„Ich bin im Bunker.”

Yuriy runzelte die Stirn. „Ja, aber als Gast, oder?”

„Autsch”, kommentierte Salima und Ivan seufzte schwer. „Ja, natürlich. Aber ich werde jetzt so lange dort auf der Matte stehen, bis wir irgendwann angeheuert werden. Wisst ihr, wer da dieses Wochenende auflegt?”

„Na wer?”

„Kane! Der Arsch.”

Mathilda, die bis dahin über Yuriys Schulter hinweg beobachtet hatte, was auf dessen Bildschirm vor sich ging, hob den Kopf. „Dieser Kanadier?”

„Der ist doch grottig”, meinte Yuriy nun, ohne den Blick von seinen Tracks abzuwenden. „Wie hat er das geschafft?”

„Der muss gekauft sein oder so”, murrte Ivan und Yuriy prustete. „Jürgens-McGregor oder was?”

„Diese Stadt geht vor die Hunde…”, sagte Salima und verdrehte theatralisch die Augen.

Yuriy grinste, dann setzte er seine Kopfhörer auf, um die anderen auszublenden. Sofort wummerte der Bass in sein Gehör und er versank für eine Weile in Frequenzen und BPM. Er hoffte inständig, dass ihre Auftritte bald mehr Geld abwarfen. Die ersten Einkommen hatten sie in besseres Equipment und neue Programme gesteckt. Deswegen war Yuriys wertvollster Besitz gerade sein neuer Laptop. Der alte war ihm auf einem Gig vor zwei Monaten beinahe verreckt; er hatte es als Zeichen genommen. Nicht zu vergessen den Rest seiner Ausstattung, obwohl die Clubs ja wirklich viel stellten. Doch für seine eigenen Tracks brauchte er eben auch zu Hause ein Mischpult. All das hatte die Gagen, von denen sie immer einen Teil für sich behielten und einen in einen gemeinsamen Sparstrumpf steckten, zusammenschmelzen lassen. Von der ganzen Bürokratie, die ein Unternehmen wie ihres nach sich zog, war da noch gar nicht die Rede. Er schätzte sich glücklich, dass er einen so guten Kontakt zur Kon-Familie hatte, denn jetzt konnte er bei ihnen im Restaurant aushelfen, wenn es eng wurde (was gerade der Fall war). Es wäre einfach alles viel leichter, wenn er auf Nebenjobs dieser Art verzichten könnte.

„Hey.” Plötzlich war Salima neben ihm und zog ihm die Kopfhörer weg. „Abflug. Wir müssen noch was anderes machen.”

„Ist ja gut, Habibi.” Er machte sich daran, sein Zeug zusammenzupacken.

„Nenn mich nicht so!”

„Jaja.”

Mathilda stand schon an der Tür und auch Ivan stand auf, um sie zu verabschieden. Dann folgte Yuriy Mathilda die Treppe hinunter. Vor dem Haus trennten sich ihre Wege. „Bis Samstag!”, rief Yuriy, als er sich aufs Rad geschwungen hatte.

„Ja!” Sie winkte ihm hinterher. „Bis dann im Zentrum!”

Luft und Liebe

Baby wach‘ auf, ich zähl' bis zehn

Das Leben will einen ausgeben und das will ich sehn

Lass uns endlich rausgehen, das Radio aufdreh‘n

Das wird unser Tag, Baby, wenn wir aufsteh‘n
 

Samstag. Endlich.

Kai erwachte, weil irgendjemand vor dem Haus hupte und daraufhin drei Menschen begannen, sich anzuschreien. Augenblicklich bereute er, die Balkontür angekippt gelassen zu haben. Als er sich schwerfällig erhob und den Vorhang zur Seite schob, um diesen Fehler zu beheben, flutete grelles Sonnenlicht in seine Wohnung. Auf dem Balkon direkt gegenüber saß die dort lebende WG beim Frühstück. Direkt unter ihnen auf der Straße stand die zeternde Gruppe. Eines der Autos stand schräg, es schien nichts passiert zu sein, doch auf der einspurigen Straße entstand langsam aber sicher ein kleiner Stau.

Kopfschüttelnd sah Kai auf die Uhr. Halb zehn. Für Friedrichshain war das eigentlich ziemlich früh. Für ihn selbst allerdings schon recht spät. Kurzentschlossen ging er nicht zurück ins Bett, sondern auf direktem Weg in die Küche, wo er mit ein paar routinierten Handgriffen seinen Espressokocher füllte und auf den Herd stellte. Dann öffnete er die Tür nach draußen doch ganz und ließ die frische Luft herein. Seine Wohnung lag im vierten Stock von sechs, was ihm vor allem im Hochsommer zugutekam, denn die Temperaturen blieben immer gemäßigt. Es war zwar kein Altbau, aber im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen empfand er das nicht als einen Mangel. Er war ein pragmatischer Mensch. Das Haus gegenüber war eine Erinnerung an die Zeit der Teilung, eine sandfarbene Platte, die nicht recht ins Straßenbild passen wollte - aber das tat der Neubau, in dem er lebte, auch nicht unbedingt. Als er auf den Balkon trat, roch er Gras. Der Stau löste sich langsam auf, die Gemüter hatten sich beruhigt. Er hörte, wie gurgelnd der Kaffee durch den Espressokocher nach oben stieg.

Gerade überlegte er, ob er joggen gehen sollte, als er eine Nachricht von Giulia bekam. Lass uns im White Tiger lunchen, Raoul kommt auch mit! Seine Kollegin wohnte quasi um die Ecke, zusammen mit ihrem Zwillingsbruder, der allerdings ein paar Jahre jünger wirkte. Er traf die beiden ständig beim Einkaufen, was zuerst seltsam gewesen, inzwischen aber ziemlich normal geworden war. Manchmal verabredeten sie sich nach der Arbeit auf ein Bier beim Späti an der nächsten Kreuzung. Das war freilich schon seit geraumer Zeit nicht mehr passiert, sie blieben einfach zu lange im Büro.

Eine zweite Nachricht kam an, wieder von Giulia: Davor Flohmarkt?

Der Boxhagener Platz, auf dem im Sommer jedes Wochenende ein Flohmarkt stattfand, war fußläufig erreichbar. Trotzdem zögerte Kai; er mochte einfach keine Menschenmassen, war ja schon froh, wenn er der überfüllten Friedrichstraße entkommen konnte. Das war auch der Grund, weshalb er fast ausschließlich mit dem Fahrrad fuhr. Noch schlimmer als Menschenmassen im Freien war eine überfüllte U-Bahn.

Der Grund, weshalb er eine Stunde später doch auf dem Boxi stand, war einfach - ihm war langweilig. Er hatte in den letzten Wochen jeden Abend und alle Wochenenden mit sich allein verbracht. Das hielt er eine ganze Weile aus, aber nicht ewig. Giulia war ganz aus dem Häuschen, im Gegensatz zu Kai brauchte sie soziale Kontakte wie die Luft zum Atmen. Raoul war stiller, aber sehr freundlich und bei weitem nicht so unschuldig, wie er aussah. Das hatte Kai in langen Späti-Gesprächen schon herausgefunden.

Sie ließen sich von der Masse aus Touristen und Familien mit Kinderwagen gegen den Uhrzeigersinn um den Platz schieben. Es gab ziemlich viele alte Möbelstücke und Tische, die beladen waren mit Tonnen von Tinnef - vom 36-teiligen DDR-Geschirrset bis hin zu ausrangiertem Kinderspielzeug. Dazwischen ein paar Künstler mit ihren Waren, Bücher und Second-Hand-Kleidung. Es ging ihnen weniger darum, wirklich etwas zu finden - Kai war sicher, dass Giulia inzwischen sowieso alle Händler beim Namen kannte - sie genossen eher das Wetter und machten sich gegenseitig auf die ungewöhnlichsten Stücke aufmerksam. Selbst Kai, der sich nicht als wetterfühlig bezeichnen würde, spürte, wie seine Laune stieg, je länger ihm die Sonne auf den Kopf schien. Es tat einfach gut, nicht mehr mit mehreren Lagen Kleidung nach draußen gehen und dann nichts als die missmutigen Gesichter der Mitmenschen sehen zu müssen. Außerdem war Radfahren jetzt viel angenehmer.

Nachdem Giulia die wahrscheinlich hässlichste Stehlampe des Marktes entdeckt und umständlich neben ihr posiert hatte, bis Raoul ein Foto von ihr machte, sprang sie zurück an Kais Seite und hakte sich bei ihm unter. „Weißt du schon das neueste?”, fragte sie, während sie das Bild bereits irgendwo postete, „Ich hab gehört, dass Garland unsere App benutzt.”

„Freiwillig oder als Tester?”

„Freiwillig, duh. Ich glaube, er war sogar schon auf Dates, aber er erzählt natürlich nichts.”

„Wusste gar nicht, dass er so verzweifelt ist. Kriegt er wenigstens Mitarbeiterrabatt für den Premiumzugang? Wenn er sich diese Plattform schon antut…” In Kais Augen war ihre App von allen Online-Dating-Angeboten, die es inzwischen gab, noch eine der schlechtesten. Okay, Max und die anderen UX-ler hatten das Beste rausgeholt und das Design war makellos, aber das Prinzip war sehr exklusiv, und zwar nicht auf die gute Art. Er war sicher, wenn er ein Profil dort hätte, würde er nur auf dieselben Start-up-Hengste stoßen, die ihm sowieso schon Tag für Tag den letzten Nerv raubten.

Giulia steckte ihr Handy weg und zog ihn weiter. „Aber du bist Single?”, fragte sie. Kai brummte. „Was ist mit deinem letzten passiert - der war doch auch Japaner, oder? Wie hieß er noch mal? Takeshi?”

„Takao”, entgegnete Kai. „Ja, wir waren ein halbes Jahr zusammen oder so. Aber es hat am Ende nicht geklappt. Ist allerdings auch schon ein Jahr her.”

„Habt ihr noch Kontakt?”

„Ja. Wir verstehen uns gut.” Er hatte seinen Exfreund ganz klassisch in einer Bar kennengelernt. Takao hatte ihm den Anfang in der Stadt sehr erleichtert. Sie trafen sich immer noch recht regelmäßig, was nicht zuletzt an ihren gemeinsamen Wurzeln lag. Takao hatte, wie Kai selbst, Familie in Japan, nur sein Vater war auch hier. Und so gab es immer genug Gesprächsstoff. Außerdem arbeitete Takao in einem der härtesten Jobs, die Kai sich vorstellen konnte, und davor hatte er unendlich Respekt. Wann immer der andere ein offenes Ohr brauchte, um ein wenig Luft abzulassen, war Kai zur Stelle.

„Ach, das ist gut”, sagte Giulia jetzt, „Ich hasse es, wenn man im Streit auseinander geht. Vor allem als Expat, wenn man eh so wenig feste Kontakte hat. Hey, Raoul!”, rief sie zu ihrem Bruder, der etwas weiter weg über eine Auswahl altmodischer Stoffe gebeugt stand. „Lass uns langsam zum White Tiger gehen, ich hab Hunger!”
 


 

Boris und Yuriy saßen gerade mit Kippe und Kaffee auf dem Balkon, als Yuriys Handy vibrierte. Er Blickte kurz auf das Display, bevor er abhob. „Lai! Was geht?”

„Jo, ich hab grad zehn Minuten und dachte, ich ruf dich an wegen dem Plan für nächste Woche.”

Yuriy beugte sich vor und drückte die Kippe im Aschenbecher aus. „Schieß los. Habt ihr noch gar nicht geöffnet? Oder ist nix los bei euch?”

„Ja, heute ist langsam, die wollen alle nur was trinken… Also, pass auf.” Er hörte, wie Lai mit Papier raschelte, bevor er weitersprach: „Es wäre mega, wenn du Dienstagabend Zeit hast. Da haben wir zwei große Reservierungen um sechs, und da brummt der Laden sowieso.”

„Ja, ist okay”, antwortete Yuriy. Zwar musste er am nächsten Tag in die Schule, aber er würde es schon irgendwie hinkriegen. Wäre ja auch nicht das erste Mal.

„Super”, sagte Lai, „Dann wäre auch noch Mittwoch oder Donnerstag drin - am Wochenende kannst du ja nicht. Aber an den Tagen könnten wir schon noch ein wenig Hilfe gebrauchen.”

Yuriy verzog den Mund. Donnerstags traf er sich manchmal schon mit Ivan und den anderen, um ihre Wochenenden abzusprechen, aber zwei Tage hintereinander zur Schule und ins Restaurant zu gehen, war auch ein wenig hart. Da musste er wohl in den sauren Apfel beißen.

„Ja, Mittwoch ist okay.”

„Sicher?”

„Ja doch”, bestätigte er, „Passt schon.”

„Okay, ich trag dich ein - „ Er hörte, wie Lai laut einatmete, dann herrschte Schweigen am anderen Ende. Ein paar Sekunden wartete er, dann hakte Yuriy nach: „Lai? Bist du noch da?” Boris neben ihm warf ihm einen fragenden Blick zu und er hob die Schultern.

„Sorry”, antwortete Lai und seine Stimme klang seltsam außer Atem. „Rate, wer sich gerade draußen an einen Tisch gesetzt hat.”

„Ah”, machte Yuriy langgezogen und sah Boris mit vielsagend hochgezogenen Augenbrauen an, „Der süße Spanier.” Boris lachte auf.

„Er trägt ein Hemd, Yuriy!”, hauchte Lai.

„Wie schön. Schnell, bevor Rei sich den Tisch unter den Nagel reißt. Ich lege jetzt auf.” Mit diesen Worten nahm er das Handy vom Ohr und legte es zurück auf den Tisch. „Den hat es heftig erwischt.”

Boris grinste schon wieder. Er hatte ein Päckchen Tabak, Papers und Filter ausgepackt und drehte sich neue Zigaretten. Yuriy stützte den Kopf in die Hand und sah ihm zu. Er liebte es, wie Boris’ große Hände die dünnen Blättchen hielten, wie er sich die Filter zwischen die Lippen schob, bevor er sie einlegte und wie er dann alles fest einrollte, um zum Schluss die letzten Millimeter mit der Zungenspitze anzufeuchten, damit alles zusammenhielt. Die Sonne war ein Stück gewandert und schien nun auf ihren Balkon, sodass es schon fast zu warm wurde. Doch so weit oben, wie sie waren, wehte auch ein kühlender Wind. Nichts versperrte ihnen die Sicht auf das Stadtzentrum, über dem heute eine leichte Staubglocke hing. Am Himmel hingen rundliche Kumuluswolken, aufgespannt wie an Schnüren.

„Verbrenn dich nicht”, brummte Boris auf einmal und nickte in Richtung von Yuriys rechter Seite, die sich inzwischen in der Sonne befand. „Ist nicht gut für Tattoos. Und für deinen Hauttyp sowieso nicht.”

„Ja, Mama”, murrte er, fuhr sich aber mit der Hand prüfend über den Oberarm, der tatsächlich schon sehr warm war. Seufzend stand er auf, um sich etwas überzuziehen, dabei füllte er gleich ihre Tassen noch einmal auf. Es war ein normaler Samstagmorgen für sie. Boris arbeitete Freitagnacht meistens, und wenn Yuriy nicht auch unterwegs war, so saß er bis spät an seinen Tracks. Wenn sein Mitbewohner dann gegen drei oder vier nach Hause kam, war es auch für ihn ein Zeichen, ins Bett zu gehen. Dementsprechend lange schliefen sie und verbrachten im Sommer nicht wenige Samstage einfach auf dem Balkon, bevor es abends wieder losging. Mit den Jahren waren immer mehr Studierende in ihre Gegend gezogen, was vor allem an den günstigen Mieten lag, und diese waren eigentlich in jeder freien Minute im Stadtzentrum. Die meisten anderen konnten wochen- oder gar monatelang ausharren, ohne dorthin zu fahren - wenn sie ihre Arbeitsstätten woanders hatten. Sie waren beinahe schon in der Peripherie, und manchmal erschien ihnen die Stadt, in der sie lebten, so weit entfernt wie ein anderes Land. Yuriy zumindest konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal in Charlottenburg oder am Zoo gewesen war. Alle seine Freunde lebten in der Nähe. Selbst die ganzen verdammten Technoclubs, in denen er ein- und ausging, lagen in „ihrer” Hälfte der Stadt. Die einzigen Gründe, mal tiefer in den Westen zu fahren, waren der CSD und andere größere Demos, die am Brandenburger Tor endeten.

„Wann fängst du heute an?”, fragte er, als er zurück auf den Balkon kam. Boris hatte die Beine von sich gestreckt und aalte sich in der Sonne. „Um elf”, sagte er, ohne die Augen zu öffnen. „Soll ich dich mitnehmen?”

„Um Himmels Willen. Ich möchte nicht in deinem Wagen bei einem Club vorfahren. Nein, ich treffe mich mit Mattie in Neukölln und wir kommen dann von dort. So dreiviertel zwölf.”

„Ich geb‘ euch dann die VIP-Behandlung.”

„Ich bitte darum.” Yuriy streckte, während er Boris aufmerksam beobachtete, langsam die Hand nach dem kleinen Berg Kippen aus, den dieser noch auf der Tischplatte liegen gelassen hatte. Doch sein Mitbewohner hatte einen sechsten Sinn. „Untersteh dich”, murmelte er.
 


 

Am Abend stand Kai unschlüssig vor seinem Kleiderschrank. Er war einfach zu lange nicht mehr weggegangen. Noch dazu wusste er nicht, ob er versuchen sollte, sich jemanden anzulachen oder nicht. Ein bisschen Liebe würde ihm auch mal wieder gut tun, aber wenn er ganz ehrlich zu sich war, konnte er sich den Aufwand einfach nicht leisten. Und One-Night-Stands waren in den meisten Fällen nicht einmal halb so gut wie man sich das immer vorstellte.

Seufzend zog er zwei verschiedene Hemden von der Stange, musterte sie und warf sie dann beide aufs Bett. Er hatte seinen Stil nie so wirklich dem Trend der Stadt angepasst, und so war er meistens einfach overdressed. Zugegeben, im Zentrum gab es die Kategorie „overdressed” eigentlich gar nicht, aber die meisten kamen in Jeans und Shirt oder Hemd. Wie Giancarlo schon gesagt hatte, glitzern taten die wenigsten. Kai hatte trotzdem ein Problem, denn er lief meistens business casual herum, und damit würde er auf jeden Fall auffallen, aber nicht auf die positive Art.

Nachdem er ein paar weitere Sekunden lang lustlos seine Klamotten angestarrt hatte, zog er resigniert sein Handy aus der Gesäßtasche und wählte eine Nummer.

„Moshi moshi – Kai!”, erklang es fröhlich am anderen Ende.

„Hi, Takao.” Kai kam gleich zur Sache. „Du musst mir helfen.”

„Stets zu Diensten.”

„Was würdest du anziehen, wenn du ich wärst und tanzen gehen möchtest?”

Das warme Lachen seines Exfreundes erfüllte sein Gehör. Würde er jemals nicht Sehnsucht dabei verspüren? Es war ja grundsätzlich alles gut so, wie es war - aber dieses Lachen war Kryptonit. „Oh Kai, du warst wirklich ewig nicht mehr vor der Tür, oder?”, neckte Takao und Kai brummte.

„Lass mich überlegen. Hast du diese schwarzen Jeans noch? Die engen?”

Kai streckte den Arm aus und wühlte in einem Stapel Hosen herum. „Jepp.” Er zog sie umständlich heraus.

„Damit kannst du schon mal nichts falsch machen, die sind mega an dir. Gehst du ins Zentrum?”

„Woher weißt du?”, fragte Kai schmunzelnd. Die Frage war rhetorisch und Takao ging auch gar nicht darauf ein. „Aha!”, sagte er stattdessen, „Ich krame mal in meinem Gedächtnis… Oh, ich weiß! Dieses dunkelblaue Hemd, das du anhattest, als wir mal dort waren. Das mit den kurzen Armen, das war auch ziemlich eng. Darin sahst du Hammer aus.”

„Danke”, entgegnete Kai langgezogen und schob derweil schon die Oberteile auf seiner Kleiderstange hin und her. „Dunkelblau mit so ganz kleinen roten Punkten?”, hakte er nach.

„Also Punkte habe ich keine gesehen, aber es war ja auch dunkel. Kann schon sein”, sagte Takao, „Und lass bloß die oberen Knöpfe offen - uh, jetzt wird mir allein bei der Erinnerung ganz heiß. Anyhoo. Mit wem gehst du denn?”

„Kollegen”, antwortete Kai knapp, „Die sind leider wichtig. Einer von denen datet Olivia Emerald, glaubst du mir das?”

„Nein! Erzähl mir alles!”

Jetzt konnte Kai sich ein Lachen nicht verkneifen. Takao war ein Fan von Olivia, seit er zum ersten Mal eine ihrer Shows gesehen hatte. Er besaß sogar das Kochbuch, das sie vor kurzem herausgebracht hatte; und das, obwohl er zwar die japanische, aber keine andere Küche beherrschte. Wann immer Kai Sehnsucht nach dem Geschmack seiner Heimat verspürte, verabredete er sich mit seinem Exfreund. Dann saßen sie stundenlang in Takaos Küche und Kai sah ihm dabei zu, wie er Gerichte kochte, die hier ungleich aufwendiger waren als in Japan und für die er manchmal stundenlang die einschlägigen Spezialgeschäfte abklappern musste.

„Lass uns doch demnächst mal in dieser japanischen Bäckerei an der Kantstraße treffen”, schlug er vor, „Die haben richtig gutes Melonpan.”

„Melonpaaan”, rief Takao, „Ich bin dabei!”

„Super. Ich schreib dir, sobald ich morgen ansprechbar bin, dann können wir was ausmachen.”

Auch als Kai schon aufgelegt hatte wich das Lächeln nicht aus seinem Gesicht. Er mochte diesen Jungen einfach viel zu sehr. Kurz musterte er das blaue Hemd - er hatte schon beinahe vergessen, dass er es überhaupt besaß. Dann legte er es zu der schwarzen Jeans und machte sich daran, alle anderen Klamotten zurück in den Schrank zu stopfen. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er sich besser beeilen sollte, denn er hatte sich doch tatsächlich auf Vorglühen bei Giancarlo eingelassen…

Babel

„Warum nehmen wir die Bahn?”

„Weil es witzig ist.”

„Aha. Und wo steigen wir noch mal aus?”

„Karl-Marx-Straße.”

„Ausgerechnet…”

„Ralf. Halt die Klappe und trink dein Wegbier”, unterbrach Kai die Auseinandersetzung seiner beiden Kollegen brüsk auf Deutsch. Giancarlo blickte ihn erschrocken an, doch Ralf führte brav seine Flasche zum Mund. Nach zwei Stunden Vorglühen wurde selbst er zahm - und Kai unvorsichtig genug, um auszusprechen, was er dachte. Dabei waren sie noch gar nicht betrunken, höchstens ein wenig angeheitert. Sie hatten ziemlich lange bei Giancarlo im Penthouse in der Nähe des Alexanderplatzes gehockt, denn nichts war uncooler als zu früh vorm Club zu stehen. Ralf war das alles nicht gewöhnt, er hatte schon um elf angefangen zu murren, und selbst Kai musste sich eingestehen, dass er seine Ausgeh-Routine verloren hatte. Vielleicht lag es aber auch einfach nur an Giancarlos unerträglicher Italopop-Playlist, die er zwei Stunden lang in Dauerschleife hatte spielen lassen.

Die U-Bahn kam rumpelnd zum Stehen und mit ihnen stiegen fast alle aus. Direkt vor ihnen stand mitten auf dem Bahnsteig ein winziger Imbiss, in dessen Auslage sich Pogaca, Simit und Börek stapelten. Auf der Bank daneben hockten ein paar Gestalten, die Farben waren verwaschen und erdig. An der Wand alte, vergrößerte Fotografien von Gebäudekomplexen.

Ralf wirkte befremdet. „Wo genau sind wir hier?”

„Mitten in Neukölln”, antwortete Kai und Giancarlo hakte sich kurzentschlossen bei Ralf unter, um ihn mitzuziehen. Vielleicht wollte er auch einfach nur verhindern, dass der sich mit einem Satz in die nächste U-Bahn, die gerade einfuhr, rettete.

Kai führte sie aus dem Bahnhof heraus und in die nächste Seitenstraße, musste sich ein bisschen anstrengen, um bei der nächsten Ecke richtig zu liegen. Es ging über Kopfsteinpflaster und hohe Bordsteine und Ralf hinter ihm murmelte irgendwas von versuchter Entführung, woraufhin er nur die Augen verdrehte. Dann kamen Menschen in Sicht.

„Ach du heilige…”, stieß Ralf aus als ihm aufging, wie lang die Schlange vor dem Einlass war. Dann blickte er Giancarlo an. „Sag mir bitte, dass wir auf der Gästeliste stehen.”

„Sicher!”, sagte Giancarlo.

„Das muss aber nichts heißen”, brummte Kai, „Manchmal stehen alle auf der Gästeliste.” Sie liefen an der Menge vorbei und steuerten auf eine recht unscheinbare Tür in einer nackten Betonwand zu. Davor - drei Türsteher, einer breiter als der andere. Allerdings auch ein zweiter Einlass, und das ließ Kai Hoffnung schöpfen. Er trat näher und hoffte inständig, dass Giancarlo Recht hatte mit der Gästeliste. Sonst würde das hier ziemlich peinlich werden.

Einer der Türsteher, ein großer Typ mit hellen Haaren, kam zu ihnen herüber und musterte sie kühl von oben bis unten. „Name?”

Sofort war Giancarlo zur Stelle und schaffte es tatsächlich, nüchtern zu wirken. „Tornatore, Hiwatari, Jürgens. Wir sind Gäste von Olivia.”

„Hmhm”, machte der Türsteher gelangweilt und zog ein Handy hervor. Auf diesem musste die Liste gespeichert sein, denn nachdem er eine Weile gescrollt hatte, nickte er. „Ich brauche trotzdem die Ausweise.” In einer ungeduldigen Geste streckte er einen seiner muskulösen Arme aus und machte eine auffordernde Bewegung. Seine grünen Augen wanderten erst über die Karten, dann über ihre Gesichter. Bei Ralf stutzte er kurz; wahrscheinlich war ihm Jürgens-McGregor ein Begriff. Er nickte noch einmal und tippte dreimal auf sein Display, bevor er sie durchwinkte. „Jo”, sagte er über die Schulter hinweg zu einer Frau, die etwas weiter im Gang stand, „Die können Backstage zu Olivia. Na los.” Mit einer Kopfbewegung scheuchte er sie weiter. „Abflug. Viel Spaß.”
 


 

„Wow”, stieß Mathilda aus, als sie um die Ecke bogen und einen Blick auf die Schlange erhaschten. „Wird echt voll heute.” Yuriy nickte nur und ging voran zum Eingang des Zentrums. „Hey, Borya!”, rief er und sah, wie sein Mitbewohner sich sofort von seinen Kollegen löste und zu ihm kam. „Yura!” Sie umarmten sich wie verloren geglaubte Brüder und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken. Es war ihr Ritual. Über Boris’ Schulter hinweg sah Yuriy, wie sich die Gesichter einiger Wartender - die nicht wussten, dass man sich so was nie anmerken lassen durfte - neidisch verzogen. „Guckt nicht so”, sagte Boris laut zu ihnen, während er Mathilda und Yuriy vorbeiließ. „Das sind eure DJs. Und wenn ihr nicht nett zu mir seid, lass ich euch nur rein, wenn ihr mir ihre Namen nennen könnt!” Yuriy grinste und machte, dass er wegkam. Es war ihm das Liebste, wenn er möglichst ungesehen zu seinem Pult kam und sich dann dahinter vergraben konnte, was dank der Dunkelheit, die unten auf dem Floor herrschte, problemlos möglich war.

Hinter der Tür öffnete sich ein hoher, langgestreckter Raum. Eine breite Treppe führte unter die Erde, wo sich eine zweite Schlange vor der Kasse und dann noch mal eine vor der Garderobe gebildet hatte. Hier war schon das Wummern der Musik zu hören und es wurde schlagartig dunkler. Das wenige Licht, das es noch gab, kam von den Bars und war meist rot. Auf dem 90s-Floor legte gerade noch eine andere DJane poppige Chartmusik auf, die meisten zog es aber in die Haupthalle. Der Electro-Floor, der in Kürze ihnen gehören würde, füllte sich in der Regel erst später.

Es blieb ihnen noch eine knappe halbe Stunde und Mathilda war es zu chaotisch, also zog sie Yuriy mit sich in den Backstage-Bereich. Dieser bestand eigentlich nur aus ein paar Räumen, in denen sich die wichtigeren Menschen (also wichtiger als sie) auf ihre Auftritte vorbereiten konnten. „Ich will Olivia noch kurz sehen”, erklärte Mathilda. Sie hatten sich vor ein paar Wochen persönlich kennengelernt und Olivia war seitdem hingerissen von ihr, vor allem von ihrem Können am DJ-Controller.

Als sie vor Olivias Tür standen klopfte Mathilda kurz an, bevor sie den Kopf in den Raum steckte. „Hi Olivia, stören wir?” Ein Schwall Worte empfing sie, aus dem sie gerade so entnehmen konnten, dass sie eintreten durften.

Olivia war eine zierliche Gestalt und zog genau deswegen bei jedem ihrer Auftritte waghalsig hohe Plateauschuhe an. Wie ihre Füße das aushielten war Yuriy schleierhaft. Heute trug sie ein winziges, blaues Glitzerkleid und hatte sich pinke Clips in ihre grünen Haare gesteckt, die sie zu einem lockigen Ungetüm auftoupiert hatte. Ihr Make-up war wie immer tadellos, nur die Lippen waren noch nicht fertig. Auf dem Tisch vor ihr Stand eine Flasche Sekt.

„Mathilda, mein Schatz!” Die beiden begrüßten sich mit mindestens drei Wangenküssen, dann fiel Olivias Blick auf Yuriy. „Yuriy! Komm her, Großer!” Sie hüllte ihn mit ihrer Umarmung in eine Wolke aus Haar, Pailletten und Parfum. „Trinkt ihr ein Glas mit mir?”, fragte sie und griff schon nach der Sektflasche. Yuriy hob abwehrend die Hand, denn er trank nicht gern vor den Auftritten, aber Mathilda nahm dankend ein Glas entgegen.

Sie setzten sich auf das durchhängende Sofa, das neben der Kleiderstange gerade so Platz hatte, und Olivia schlug die Beine übereinander. „Ich muss euch was erzählen”, sagte sie, „Ich hab einen Neuen.”

„Ernsthaft oder nur zum Aushalten?”, spottete Yuriy.

„Du kleines Aas!”, stieß Olivia empört aus. Sie griff nach einem glitzernden Stück Stoff, das neben ihr lag, und warf es in Richtung seines Kopfes. „Das weiß ich noch nicht so genau”, gab sie dann zu, „Aber beides würde gehen.”

„Oho, er ist reich”, sagte Mathilda, die zufrieden an ihrem Sekt nippte. Olivia wiegte den Kopf. „Könnte man so sagen. Er arbeitet für Jürgens-McGregor.”

„Nicht dein Ernst!” Yuriy, der gerade den Stoff ausgebreitet hatte, nur um zu erkennen, dass es sich um ein sehr knappes Top handelte, ließ die Hände sinken. „Mit so was gibst du dich ab? Du weißt doch genau, dass Jürgens-McGregor die halbe Stadt gehört! Das sind Heuschrecken!”

„Erspar mir deine Predigt!”, entgegnete Olivia, „Giancarlo ist nur ein Handlanger. Und ich muss auch sehen, wo ich bleibe.” Yuriy verdrehte die Augen; er wusste ganz genau, dass sie in einer riesigen Altbauwohnung in der Nähe des Kudamms wohnte - sie postete ständig Bilder auf den einschlägigen Social-Media-Plattformen. Olivia Emerald war die letzte von ihnen, die Not litt.

Sie betrachtete ihre Fingernägel. „Außerdem ist er heiß. Wisst ihr, wie lange ich schon keinen Verehrer in meinem Alter mehr hatte? Normalerweise schicken mir nur irgendwelche verzweifelten Mittvierziger Blumen und holen sich auf mein Bild einen runter. Aber Giancarlo! Der haucht wieder Leben in diesen abgestandenen Fummel!” Dabei deutete sie theatralisch an sich herunter und schlackerte mit den Knien.

„Das ist schön, Olivia, wirklich”, sagte Mathilda versöhnlich und Yuriy war klug genug, jetzt zu schweigen.

„Danke, Schatz”, entgegnete Olivia, „Ich habe Giancarlo übrigens heute eingeladen, und er sagte, er würde Ralf Jürgens mitbringen.”

Jetzt verschlucke Mathilda sich doch an ihrem Getränk. „Ralf Jürgens?”, fragte Yuriy, der sich unter diesen Umständen nicht zurückhalten konnte. Gleichzeitig beugte er sich vor, um der hustenden Mathilda auf den Rücken zu klopfen. „In unserem Club? Was für eine zweifelhafte Ehre. Ich glaube, ich möchte doch Sekt.”

Olivia ließ ihn sich selbst bedienen, vermutlich war sie noch beleidigt über seine abfälligen Bemerkungen. Sie drehte sich zu ihrem Spiegel um und begann, ihre Lippen zu konturieren, während Mathilda hastig ein belangloseres Thema anschnitt, bevor Yuriy in einen nicht ganz unpolitischen Monolog verfallen konnte. Stattdessen verfolgte er von diesem Moment an das Gespräch nur noch halb, trank lieber ein paar kleine Schlucke Sekt, die ihm auf der Zunge kribbelten, und widmete sich für ein paar Minuten seinem Handy…

Bis mit einem Mal die Tür aufgerissen wurde. „Gioia mia! Bellina!”

Olivia stieß ein Juchzen aus und ließ alles stehen und liegen, um einem hübschen Blonden in die Arme zu springen, der im Türrahmen stand. Yuriy und Mathilda warfen sich einen Blick zu. Das musste dann wohl Giancarlo sein… Die beiden turtelten eine ganze Weile herum, bevor sie sich an den Händen fassten und Olivia Giancarlo ein Stück in den Raum hineinzog. „Lass mich dir meine Freunde vorstellen”, sagte Giancarlo und wies hinter sich. Von ihrer Position auf dem Sofa aus konnten Yuriy und Mathilda die anderen nicht sehen, da diese immer noch draußen standen. „Das ist Ralf Jürgens, mein Boss. Und das ist Kai Hiwatari, einer meiner Produktmanager.” Yuriy hörte dunkles Stimmengemurmel und Olivias helle Erwiderungen. Wenn jetzt alle hereinkamen, würde es ganz schön voll werden. Er sah auf seine Uhr; ihnen blieben noch zehn Minuten bis zu ihrem Set. Also stieß er Mathilda an und machte eine Kopfbewegung Richtung Tür, woraufhin sie nicke und den Rest Sekt hinunterstürzte.

Sobald er stand, fiel Yuriys Blick auf einen Kerl, der so deutsch aussah, dass es wehtat. Es musste Ralf Jürgens sein. Sein Gesicht kam ihm vage bekannt vor, was aber auch nicht verwunderlich war, denn Jürgens war oft genug in der Zeitung. Sie nickten sich kurz zu und Yuriy hoffte inständig, dass seine Begleiter ihn mit Bier versorgten, damit er ein bisschen aus sich herauskam. Ansonsten würde er hier heute keinen Spaß haben.

„Ach ja!” Olivia drehte sich halb zu ihnen um, freilich nicht, ohne Giancarlos Arm loszulassen. „Das sind Mathilda und Yuriy, die legen heute hier auf - quasi in Konkurrenz zu meinem Floor.” Sie grinste, doch in ihren Augen blitzte die Herausforderung. Jedes Mal, wenn sie in der gleichen Nacht wie Olivia auflegten, entbrannte zwischen ihnen ein Konkurrenzkampf um den am besten gefüllten Floor. Der Punktestand blieb ausgeglichen, denn die Stimmung des Publikums änderte sich wie das Wetter in den Bergen.

„Davai, davai, Olivia”, sagte Yuriy nur, „Du musst auch gleich raus, sonst hast du keine Chance mehr!” Mit diesen Worten schob er sich an den anderen vorbei und trat auf den dunklen Gang hinaus - nur, um in jemanden hineinzulaufen. „Whoops, sorry!” Erst dann sah er genauer hin. Vor ihm stand der zweite Typ aus Giancarlos Entourage. Das erste, was Yuriy an ihm auffiel, war, wie gut sein Hemd an ihm saß. Und die Augen. „Sorry”, wiederholte er leise.

Der andere mache einen Schritt von ihm weg. Yuriy hörte, wie Olivia und Mathilda sich hinter ihm lautstark verabschiedeten.

„Ihr seid Ostblocc, oder?”, fragte der Typ und überraschte ihn zum zweiten Mal, indem er die Landessprache benutzte.

Yuriy fing sich und grinste: „Richtig. Sag bloß, du bist so einer, der das Programm auswendig lernt, bevor er in den Club geht?”

Der andere spielte sofort mit: „Sicher. Man kann ja nie wissen bei den Türstehern…Manche ziehen die reinste Quizshow ab.”

„Ha. Manchmal fragt Boris tatsächlich danach, wenn ihm langweilig ist. Oder er jemanden nicht mag.” Kurz entschlossen stellte er sich noch einmal selbst vor. „Ich bin Yuriy.”

„Kai.” Sein Gegenüber schüttelte die dargebotene Hand.

„Also dann, Kai”, sagte er und merkte, wie Mathilda in diesem Moment endlich neben ihn trat, „Ich hoffe, ich sehe euch nachher auf unserem Parkett.”

Die dunklen Augen wanderten noch einmal über ihn. „Bis später, Yuriy.”

Als er an der Tür zum Clubraum stand, sah er noch einmal kurz zurück. Sein Blick begegnete dem Kais, der die Augenbrauen hochzog. Yuriy grinste ihn an, dann ging er nach draußen.

Auf dem Electro-Floor dudelte Dosenmusik vor sich hin. Die Tanzfläche war so gut wie leer, nur an der Bar in der Ecke saßen ein paar Menschen und beobachteten sie. Während sie sich hinter das Pult zwängten und ihre Laptops und externen Speicher anschlossen, zählte Yuriy die BPM der Musik mit. „Das ist jetzt auf 110”, sagte er zu Mathilda, „Ich würde das erstmal ganz gemächlich auf 128 hochbringen, und dann gucken wir mal, was passiert. Wenn die Stimmung passt, geh ich noch ein bisschen rauf und dann kannst du dich austoben.”

„Klingt gut, ich hab auch noch ein paar Tracks, die ich früher reinbringen kann, wie abgesprochen.” Sie setzte kurz ihre Kopfhörer auf, um die Verbindung zu überprüfen, dann nickte sie zufrieden. „Ich bin soweit. Hast du eigentlich ein Intro?”

„Quatsch, ich mach hier keinen Aufriss.” Der laufenden Track lag auf einer Spur und Yuriy machte sich daran, ihn auszublenden, während er gleichzeitig sein erstes Stück aufdrehte. Der Unterschied in der Klangqualität war sofort zu hören, denn dank des Mixers konnte Yuriy die einzelnen Höhen und Tiefen viel besser kontrollieren. Die Leute an der Bar kamen langsam auf die Tanzfläche. Mathilda war vollkommen auf ihre Tracks konzentriert, beinahe nebenbei mischte sie ein bisschen mehr Bass unter den Sound. Nun streifte auch Yuriy seine Kopfhörer über und vertiefte sich in seine Klangwelten.
 


 

„Der hat dir gefallen!” Giancarlo feixte und schob ihm einen Wodkashot und ein Bier zu. Sie hatten es an die zur Bar auf dem Main Floor geschafft, der sich in einem hohen Raum befand. Die Umgebung sah stark nach alter Lagerhalle aus; unter der düsteren Decke wogten die Leute zu den neuesten Chartknüllern hin und her.

Kai hob eine Augenbraue. „Wen meinst du?”

„Den Typen von vorhin. Den DJ. Na?”

„Der passt doch gar nicht Kais Schema. Und jetzt hör auf zu nerven”, unterbrach Ralf und stellte sich, den Shot in der einen, die Flasche in der anderen Hand, zwischen sie. Kai öffnete den Mund - Ralf war die letzte Person, die sich Bemerkungen über sein angebliches Schema erlauben konnte. Doch dann entschied er, dass das nicht die Diskussion wert war, die er hier drohte, vom Zaun zu brechen.

„Prost.” Ralf schien fest entschlossen, sich diesen Abend schön zu trinken. Als sie gerade die Köpfe in den Nacken gelegt hatten, kam Olivia ein letztes Mal zu ihnen, um sich mit einem Drink zu versorgen, bevor auch sie zu ihrer Station gehen musste. „Die sind nicht schlecht. Ostblocc, meine ich”, rief sie über den Lärm hinweg, „Solltet ihr euch nachher mal geben. Die Kleine…” Sie unterbrach sich, um dem Menschen hinter der Bar das Glas abzunehmen und sich mit einem Luftkuss zu bedanken. „Mathilda ist der Hammer. Man sieht es ihr nicht an, aber sie steht voll auf Trance und Goa und solches Zeug. Schon ziemlich hart. Und der Lange, Yuriy - klassischer Berliner Techno. Minimalistisch, bisschen düster. Hat ein gutes Händchen. Also geht ruhig mal rüber.” Sie zog Giancarlo zu sich heran, um ihm einen letzten Kuss zu geben. „Ciao, bis gleich, ihr Süßen!” Dann rauschte sie davon.

Giancarlo trank einen großen Schluck Bier, dann knallte er die Flasche auf den Tresen, sodass sie überschäumte. „Also? Auf geht’s!”

Weder Kai noch Ralf rührten sich. „Ich bin nüchtern”, stellte Kai fest, „Und ich habe kein Verständnis für europäische 90s. Also nein, lieber nicht.”

„Aaah ja”, spottete Giancarlo. „Der große Kai Hiwatari, der zwar schon fast drei Jahre in dieser Stadt lebt, sie aber nie, nie, nie an sich ranlässt. Denn er ist nur hier, weil sein Großvater will, dass er Karriere in Europa macht. Und sobald er in die höheren Ligen aufgestiegen ist, ist er weg, weg, weg.”

„Sagt derjenige, der gerade mal ein Bier in der Landessprache bestellen kann, und das nicht einmal grammatikalisch richtig!”, giftete Kai zurück. Er fühlte Ralfs Hand an seinem Oberarm und das beruhigende, aber schon etwas schwache Tätscheln. Und tatsächlich fühlte Kai so etwas wie Dankbarkeit für den anderen, denn im Gegensatz zu Giancarlo wusste Ralf genug, um seine Situation zu verstehen. Auch wenn er ansonsten ein Arschloch war.

„Nächste Runde auf mich”, sagte Ralf, „Und dann geben wir uns die verdammten Neunziger, okay?”

Und so fand sich Kai leider wesentlich früher als erhofft auf der grünlich ausgeleuchteten Tanzfläche. Der Boden war mit Fliesen ausgelegt und um das DJ-Pult, hinter dem Olivias Haarturm aufragte, rankten sich künstliche Pflanzen. Das Ganze verlieh dem Raum den Charme eines verwilderten Badezimmers. Die Musik passte am wenigsten zur Atmosphäre, aber Olivias treue Anhängerschaft ließ sich dadurch nicht beirren und vogue-te sich durch die Nacht. Giancarlo zog mit: er konnte nicht wirklich gut, dafür aber umso auffälliger tanzen, was wie gemacht schien für die (in Kais Ohren) trashige Musik. Und er war textsicher. Ralf hingegen fand immer wieder Gründe, um kurz zu verschwinden; Kai hegte den Verdacht, dass er heimlich an der Bar weitere Shots kippte, denn jedes Mal, wenn er wieder kam, schien er etwas gelöster. Bis auch er komplett ausrastete und in wildes Rumgehampel verfiel. Was war das nur mit jungen Business-Mackern und Partys?

Mit diesem Autounfall von Kollegen um sich herum zog Kai mehr Aufmerksamkeit auf sich, als ihm lieb war. Irgendwann ergriff er die erstbeste Gelegenheit und duckte sich weg, um ungesehen aus dem Raum zu kommen. Als er auf Höhe der Toiletten stand, wurde das Gerumpel aus Olivias Boxen von der allgemeinen Geräuschkulisse überdeckt. In der Haupthalle schien noch immer die Post abzugehen, doch ein kleiner Strom Menschen bewegte sich in Richtung des etwas versteckt liegenden Electro-Floors. Kurz entschlossen steuerte Kai die erstbeste Bar an, um sich noch ein Bier zu besorgen. Dann folgte er der Menge.

Obwohl er nicht zum ersten Mal im Zentrum war, hätte er nicht zu sagen vermocht, wie die Räume hier angelegt waren. Alles war mit allem verbunden, meist über verwinkelte, enge Gänge, deren Wände eine unbestimmte, dunkle Farbe hatten. Wenn man nicht damit rechnete, stolperte man durch irgendeine Tür in den Raucherbereich (den man, wenn man ihn suchte, niemals von allein fand). Es gab Gerüchte, dass es neben den drei bekannten Tanzflächen noch eine vierte, geheime gab, doch daran glaubte Kai nicht. Die Bars hingegen waren so zuverlässig platziert, dass niemand dursten musste und die Toiletten waren der Dreh- und Angelpunkt des ganzen Clubs (sie hatten mehrere Ausgänge und wer aus Versehen den falschen nahm, war auf immer verloren).

Um auf den Electro-Floor zu kommen, musste er sich an einer weiteren, überfüllten Bar vorbeischieben. Danach trat er in beinahe völlige Finsternis, die Decke verschwand in den Schatten. Nur ein paar Strahler geisterten die Wände entlang und leuchteten die Tanzenden aus. Der Raum war erfüllt von einem tiefen Technobeat, über den sich nur wenige andere Tonspuren legten. Nicht zu schnell, aber bei weitem auch nicht so langsam, dass es langweilig wurde.

Die Menge schien in guter Stimmung zu sein, was erstaunlich war, denn das Zentrum war nicht als Technoschuppen bekannt. Als sich die Musik das nächste Mal zu einem Höhepunkt erhob, dem der Bass Drop in eines neues Stück folgte - härter diesmal, und schneller - wurden einige begeisterte Rufe laut. Die Tanzenden passten sich bereitwillig dem neuen Beat an. Über die vielen Köpfe hinweg erkannte Kai das Pult am anderen Ende des Raumes, konnte aber nicht die beiden DJs ausmachen. Unschlüssig blieb er am Rand stehen und trank ein paar Schlucke Bier. Er fühlte sich nicht allzu wohl dabei, alleine auf der Tanzfläche zu sein, aber hier war es allemal besser als drüben auf dem 90s-Floor.

Erst als die Flasche leer war, setzte er sich wieder in Bewegung. Und zwar nicht, um den Rückzug anzutreten, im Gegenteil: langsam trat er in die Menge der Tanzenden ein und ließ sich von ihr umschließen.

Es war dunkel; was sollte schon passieren?

Ich brauche neue Freunde

Das Pult vibrierte unter Yuriys Fingern, sprang ihm im Takt des Beats entgegen. Deswegen liebte er es so, im Club aufzulegen. Das Gefühl war einfach anders, echter. In seiner Wohnung musste er sich aus Platz- und Kostengründen auf einen Controller und den Laptop beschränken, hier war jeder Effekt mit Handarbeit verbunden. Der Mixer war wesentlich größer und ihnen standen mindestens vier Controller zur Verfügung. Jede Nacht, die sie in einem Club verbrachten, war gleichzeitig eine Gelegenheit, ihre Fähigkeiten an dem elaborierten Equipment zu trainieren und auszubauen. Inzwischen war er überzeugt, dass ihm die Übergänge live besser gelangen als am Computer, einfach weil konkrete Handbewegungen mit ihnen verbunden waren.

Die Stimmung im Raum war überraschend gut. Yuriy konnte nicht viel erkennen, doch es sah voll aus. Innerhalb der letzten halben Stunde hatten sie das Tempo ziemlich hochgeschraubt, aber die Leute machten ohne zu murren mit. Jetzt, wo sie sich in ihrer Komfortzone befand, übernahm Mathilda mehr und mehr die Kontrolle. Yuriy trat einen Schritt zurück, griff nach seinem Becher Wasser und beobachtete seine Kollegin. Sie war voll auf ihre Musik konzentriert und presste ihren Kopfhörer stärker ans Ohr, bevor sie zufrieden nickte und im Takt zu wippen begann. Ein paar Sekunden später wechselte die Tonspur und von der Tanzfläche kamen ein paar begeisterte Ausrufe. Mathilda ließ sich davon nicht beeindrucken, wie immer zog sie einfach ihr Ding durch. Wahrscheinlich war sie in der Vergangenheit einfach zu oft unterschätzt worden. Sie gab nicht viel auf die Zustimmung der Menge; dank ihres Könnens konnte sie sich das allerdings auch leisten. Yuriy überließ ihr gern das gesamte Set, sie wusste sowieso viel besser, was sie jetzt noch alles rausholen konnte. Er beugte sich vor, um ein paar Einstellungen über seinen Laptop vorzunehmen und nach einigen Tracks zu suchen, die er später spielen wollte. Währenddessen warf er einen kurzen Blick auf die Tanzenden. Er stutzte: War das nicht der Typ von vorhin, den er da gerade im flüchtigen Scheinwerferlicht gesehen hatte? Als der Strahler das nächste Mal über die Menge wanderte, sah er genauer hin: Tatsächlich. Und keine Spur von Jürgens oder Olivias Verehrer. Hatte er sich etwa von den anderen abgesetzt? Yuriy verzog den Mund - er konnte es ihm nicht verübeln. Und wie es schien hatte Kai da unten auch seinen Spaß. Es war nicht leicht, zu elektronischer Musik zu tanzen und dabei gut auszusehen, vor allem dann, wenn irgendwelche Alt-Raver sich quer über die Tanzfläche fuchtelten. Die meisten Jüngeren wippten mehr oder weniger enthusiastisch auf und ab. Angesichts dieser Umstände holte Kai das Beste aus sich raus, fand Yuriy. Seine Bewegungen hatten eine Leichtigkeit, die er meist nur bei Menschen sah, die sich wirklich auf die Musik einließen. Es tat gut zu sehen, dass Mathilda und er so eine Wirkung auf ihr Publikum hatten.

In diesem Moment drehte Mathilda sich zu ihm um. „Willst du übernehmen?”, brüllte sie ihm ins Ohr und er nickte nur, bevor er wieder ans Pult trat. Sie hatte die Geschwindigkeit noch einmal hochgeschraubt und ließ ihn mit der recht undankbaren Aufgabe zurück, diese wieder zu drosseln. Aber sie hatten zuvor schon einige Transitions ausprobiert und er wusste, was zu tun war. Das Display mit den BPM immer im Auge behaltend drehte er an einigen Effektreglern, bevor er eine kurze Sequenz dazu schaltete, die den Übergang untermalen sollte. Dann verlangsamte er das Ganze, um auf die Geschwindigkeit des neuen Tracks zu kommen. Ein paar Effekte und ein recht abruptes Crossfade später war er auf dem richtigen Kanal. Die Menge dankte es ihm mit ein wenig Jubel, doch er war schon vollauf damit beschäftigt, die nächste Transition einzuleiten. Manchmal sah er auf, seine Augen suchten Kai. Es war gut, sich bei jedem Auftritt ein bis zwei Menschen auszusuchen und zu beobachten, um die Stimmung etwas besser einschätzen zu können. Das war leichter, als die komplette Masse erfassen zu wollen. In diesem Bezug kam ihm sein neuer bester Freund da unten gerade recht.

Unter seinen Händen schwang sich die Musik zum nächsten Raise auf, den er so lange wie möglich halten wollte, ohne dass ihm die Leute abhandenkamen. Doch offensichtlich hatte er sie komplett in den Bann geschlagen, denn die Bewegungen wurden schneller, unkontrollierter. Niemand schien die Absicht zu haben, den Floor in nächster Zeit zu verlassen.

Seine Kopfhörer gaben schon jetzt wieder, was in ein paar Sekunden passieren würde und er erlaubte sich ein zufriedenes Grinsen. Dann nahm er die Hände von den Reglern und ließ es geschehen.

Der Drop ins nächste Stück kam überraschend und mit einem Rhythmuswechsel, der für einigen Lärm auf der Tanzfläche sorgte. Bevor Yuriy sich wieder auf seinen Mix konzentrierte, sah er für einen Augenblick, wie Kai sich zu ihnen umdrehte. Mildes Erstaunen lag auf seinem Gesicht, dann schloss er sich wieder den Bewegungen der Masse an.
 


 

Kai konnte nicht sehen, was am DJ-Pult vor sich ging, dafür war es zu dunkel. Aber was auch immer die beiden dort machten, es war gut. Normalerweise hielt er es nie wirklich lange auf einem Electro-Floor aus (oder zumindest nicht mit einem Pegel wie er ihn jetzt hatte), denn oft wurde es irgendwann einfach langweilig. Heute allerdings kamen die Wechsel zum richtigen Zeitpunkt und er hatte das Gefühl, dass sie sich langsam aber sicher in eine kollektive Trance tanzten. Die Dunkelheit hier half, sich etwas sicherer zu fühlen, denn es war unmöglich zu erkennen, ob er der einzige hier war, der allein tanzte. Sein Körper berührte andere, sie stießen zusammen oder streiften sich, manchmal war eine Hand an seinem Arm und drangen Wortfetzen an sein Ohr, die nicht für ihn bestimmt waren. Aber alles fügte sich in die Musik ein, ging in ihr auf. Das Tempo hatte sich schon vor geraumer Zeit erhöht und aus dem anfänglich entspannten Wogen der Masse war ein leises Brodeln geworden. Die Bewegungen waren intensiver, seltener musste er Platz machen für Leute, die sich an allen vorbeischlängelten und damit aus dem Rhythmus brachten.

Bevor sie müde werden konnten, nahm die Geschwindigkeit wieder ab. Der Bass wurde tiefer und voller, dröhnte durch den Beton, von dem sie eingeschlossen waren, und hallte in Kais Brustkorb wieder. Die Musik kam in Wellen, und je kunstvoller diese gebrochen wurden, bevor sich eine neue aufbäumte, desto besser. Es gab einen Moment, indem Kai das Gefühl hatte, sich mit den Tönen zu erheben; und dann, genau im richtigen Augenblick, kam ein so treffsicherer Wechsel, dass ihm kurz der Mund offen blieb.

Die Entscheidung, heute hierhergekommen zu sein, fühlte sich gerade verdammt richtig an.

Wieder bemerkte er eine Hand an seinem Oberarm, doch anders als zuvor griffen die Finger fest zu. Kai öffnete die Augen und drehte sich um. Ihm gegenüber stand ein Kerl, den er kannte, aber nicht sofort einordnen konnte. Groß, wirres Haar, ruhige Augen. Über und über in das blaue Licht der Strahler getaucht. Dann fiel es Kai wieder ein: Der Typ war Garlands Mitbewohner. Oder sein Freund? Oder eher - sein Exfreund? Er erinnerte sich, dass Giulia ihm von Garlands ersten Schritten mit ihrer App erzählt hatte. Vor vielen Monaten hatte Garland ihn und ein paar andere Leute zu sich nach Hause eingeladen, um irgendetwas zu feiern. Dort Kai auch den anderen Kerl kennengelernt. Aber wie war bloß sein Name?

Sein Gegenüber reichte ihm die Hand und beugte sich vor. „Was für ein Zufall!”, rief er ihm ins Ohr. „Kai, oder? Erinnerst du dich an mich? Ich bin Brooklyn.” Ach ja, genau. Kai nickte. Dann stellte er sich dumm: „Wo ist Garland? Ihr seid doch sicher zusammen hier.”

Brooklyn schüttelte den Kopf. „Wir sind nicht mehr zusammen!” Die Worte waren kaum zu verstehen. Er nickte zur Bar. „Willst du was trinken?”

Eigentlich wollte Kai nicht unbedingt von der Tanzfläche runter, aber er hatte Durst. Also sagte er zu und folgte Brooklyn, der dankenswerterweise einen Weg für sie durch die Menge suchte. Kurz darauf drängten sie sich an die Bar, mussten angesichts der anderen Menschen enger zusammenrücken, aber immerhin konnten sie sich jetzt besser sehen. Kurz ließ Kai den Blick über Brooklyn wandern, der weiße Jeans und ein dunkles Shirt trug und sich objektiv betrachtet nicht verändert hatte. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was er machte - wahrscheinlich aber war, dass er bei einer Bank oder einer Versicherung arbeitete.

„Schön dich zu sehen”, sagte Brooklyn und drückte ihm eine kühle Flasche in die Hand, bevor er mit seiner eigenen gegen sie stieß. Kai nickte und trank. „Ist schon eine Weile her. Wie geht es dir?” Die Frage war nur ein Vorwand, es interessierte ihn nicht wirklich. Während Brooklyn ihm unaufgefordert davon erzählte, wie Garland und er Schluss gemacht hatten und dass es ihm inzwischen natürlich viel besser ging, ließ Kai den Blick noch einmal über die Tanzfläche schweifen. Von seinem Standpunkt aus war noch weniger zu erkennen und die Musik klang etwas dumpfer, halb überdeckt von dem Gewirr der Stimmen um sie herum. Wie spät war es eigentlich? Sie hatten vorhin eine halbe Ewigkeit auf Olivias Floor verbracht und gerade beim Tanzen hatte er komplett das Zeitgefühl verloren. Als Brooklyn das nächste Mal gestikulierte, bemerkte er eine silberne Uhr an seinem Handgelenk. Unauffällig beugte Kai sich vor, um einen Blick auf das Ziffernblatt zu erhaschen. Drei Uhr? Wie war das denn passiert? Von der Tanzfläche schallten ein paar schräge Töne zu ihnen herüber, was die Menge aber ganz besonders zu feiern schien.

„Tja, und jetzt bin ich hier”, beendete Brooklyn seinen Monolog. „Was ist mit dir? Du arbeitest doch mit Garland zusammen, oder?”

Beinahe hätte Kai die Augen verdreht; es gab nichts Schlimmeres als während seiner Freizeit noch über die Arbeit reden zu müssen. Und keine Sorte Mensch war nerviger als diejenige, die das nicht respektierte. „Hmhm”, machte er deswegen unbestimmt und führte schnell wieder seine Flasche an den Mund. Der Beat auf dem Electro-Floor war inzwischen wieder gleichbleibend und etwas träge, alle anderen Tonspuren schienen leiser geworden zu sein. Ein paar Grüppchen machten sich auf, den Club zu verlassen und es wurde für ein paar Minuten etwas leerer um sie herum.

„Hey, sag mal, rauchst du eigentlich?” Brooklyn berührte ihn kurz, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Dann kam er ihm näher. „Ich hab ein bisschen Gras dabei, wenn du willst.” Jetzt musste Kai sich wirklich anstrengen, um seine unverbindlich-freundliche Miene beizubehalten. Was wollte der Typ von ihm? Wenn das eine Anmache sein sollte, dann war sie mehr als holprig. Er seufzte und drehte sich halb von Brooklyn weg, stützte die Ellenbogen auf den Tresen. Gab es denn keine Möglichkeit, aus dieser Situation zu entkommen?

In diesem Moment tauchte eine große Gestalt hinter Brooklyn auf, zwängte sich zwischen sie und ein anderes Pärchen an die Bar. Kai blinzelte, dann trafen sich ihre Blicke und er empfing ein amüsiertes Grinsen.
 


 

Yuriy sah auf die Uhr, dann stieß er Mathilda an. „Es ist fast drei!”, rief er ihr zu und statt zu antworten hüpfte sie ein wenig auf und ab.

„Was meinst du?”, fuhr er fort, „Sollen wir es tun?”

Mathilda verdrehte die Augen. „Die Leute werden es feiern”, entgegnete sie, „Aber Miguel wird dich dafür hassen, wenn er dann übernehmen muss.”

„Ach Quatsch, ich geb‘ ihm nächstes Mal einen aus, dann ist alles wieder gut!” Yuriy streckte die Hand aus und veränderte ein paar Einstellungen auf seinem Laptop. Ein neuer Track lief in seinen Kopfhörern an, der letzte für heute. Er blickte noch einmal zu Mathilda, die zwar die Augen verdrehte, aber genauso breit grinste wie er. Mehr Zustimmung brauchte er nicht.

„Feierabend!”, beschloss er und bediente ein letztes Mal die Regler.

Jetzt ist Feierabend

Ich kann nicht mehr dieses elende Geseier haben

Ich werde jede Forderung sofort im Keim erschlagen

Die können morgen alle gern die alte Leier klagen

Aber nicht mehr jetzt

Denn jetzt ist Feierabend

Sehen Sie die Uhr dort oben, wissen Sie die Zeiger sagen

Dass ich Sie anzeige, wenn Sie mich jetzt noch weiter plagen

Sie können alles weitere hier den Herrn Meier fragen

Und nun verpissen Sie sich, denn jetzt ist Feierabend

„Yuriy! Ich hasse dich!” Das war Miguel, der just in diesem Augenblick zu ihnen stieß, wie immer komplett gestresst und seine Geräte unterm Arm. „Wie soll ich das denn jetzt mischen, bitte?”

„Lass halt ein paar Beats durchlaufen und dann ist gut”, wiegelte Yuriy ab, der schon dabei war, sein Equipment abzubauen. Miguel murrte viel, wenn der Tag lang war. Fakt war aber, ein paar von den Leuten auf der Tanzfläche gingen gerade noch mal richtig ab. Bis zum zweiten Refrain ließ er sie noch, dann drehte er den Song langsam ab, sodass er auch seinen Laptop abschließen und verstauen konnte. Mathilda war etwas schneller als er. „Hey, ist es okay, wenn ich schon abhaue? Ich bin morgen noch mit Salima verabredet und will ins Bett.” Er nickte und zog sie für eine kurze Umarmung an sich, dann winkte sie noch mal und verschwand zwischen den Tanzenden.

Als Yuriy endlich alles eingepackt hatte, schulterte er seine Tasche und schlug mit Miguel ein. „Viel Spaß noch!”

„Mach bloß, dass du wegkommst!” Das ließ er sich nicht zweimal sagen.

Einige der Leute merkten wohl, dass er gerade vom DJ-Pult gekommen war, denn sie klopften ihm auf die Schulter und riefen ihm gelalltes Lob entgegen, bevor sie weitertanzten. Yuriy hob jedes Mal dankend die Hand, hielt aber nicht an. Es war ein guter Auftritt gewesen, wenn auch nicht lang genug, um ihn zu ermüden. Kurzerhand steuerte er die Bar an, um sich mit einem Getränk zu belohnen, das ihm hoffentlich auch dabei half, seinen Adrenalinpegel etwas zu senken. Leider war er nicht der einzige mit dieser Idee, und so musste er ein wenig drängeln, um zu seinem Ziel zu kommen. Und dann fiel sein Blick auf eine bekannte Gestalt.

Kai wirkte, als wäre er an jedem Ort der Welt lieber als hier, während der Kerl neben ihm ihm offensichtlich das Ohr abkaute. Wie hatte der Junge sich denn in diese Situation gebracht?

Yuriy erhaschte einen Platz direkt neben ihnen und bestellte sich ein Bier, bevor er über den rotblonden Schopf des Fremden hinweg zu Kai sah. Sein Blick traf auf die dunklen Augen, deren Ausdruck sich veränderte, als er ihn erkannte.

Die Barkeeperin stellte ihm sein Getränk hin und er gönnte sich einen Schluck, bevor er sich wieder Kai zuwandte. Er machte eine kleine Kopfbewegung in Richtung des Kerls zwischen ihnen, der immer noch redete, und verdrehte theatralisch die Augen. Kais Mundwinkel zuckten und er zog kaum merklich eine Augenbraue hoch. Yuriy wartete. Kai schien eine Weile zu überlegen, dann griff er in einer beherzten Geste nach der Schulter seines Gesprächspartners. Das brachte diesen zum Schweigen. Was Kai daraufhin sagte, konnte Yuriy nicht hören, doch er deutete dabei unbestimmt in den Club hinein. Der andere reagierte mit aufgeregtem Nicken, dann stürzte er plötzlich davon. Schon nach wenigen Schritten hatte ihn die Menge verschluckt und Yuriy fand sich Kai direkt gegenüber.

„Wie bist du ihn so schnell losgeworden?”, fragte er.

Kai hob die Schultern. „Er fing an von Gras zu reden. Da habe ich ihm erzählt, ich wüsste jemanden, der MDMA vertickt. Drüben im Raucherraum.”

„Stimmt das?”

„Natürlich nicht - aber es würde mich nicht wundern, wenn er trotzdem jemanden findet.”

„Das wird er ganz sicher. Prost.” Ihre Flaschen klirrten aneinander, sie tranken in einvernehmlichem Schweigen. „Wo hast du deinen Anhang gelassen?”, fragte Yuriy dann.

„Oh, ich bin sicher, die beiden tragen auf Olivias Floor gerade ein großartiges Lip Sync Battle zu irgendeinem Song von den Backstreetboys aus”, meinte Kai, „Da würde ich nur stören. Außerdem hat es mir hier ganz gut gefallen.”

„Ganz gut, aha.” Yuriy hob die Augenbrauen. „So nennst du das.”

Darauf erwiderte Kai nichts. Sein Gesicht gab nicht Preis, was er dachte, aber Yuriy konnte es sich in etwa vorstellen. Wahrscheinlich hielt Kai ihn für unter seiner Würde und gab sich nur mit ihm ab, um nicht zurück zu Jürgens zu müssen. Solange sie höflich zueinander waren, störte ihn das nicht. Und außerdem mochte er einen kleinen Flirt hier und da.

„Also”, fing er schließlich wieder an, „Wo kommst du her?”

Jetzt zogen sich Kais Brauen doch zusammen. „Uh, Japan”, antwortete er, „Tokio.”

Yuriy lachte in sich hinein. „Ich meine den Kiez, Mann.”

„Oh.” Die Anspannung, die sich bei der Frage in Kais Körper geschlichen hatte, fiel sichtbar von ihm ab. „Friedrichshain.”

„Verstehe.” Yuriy stützte sich seitlich auf den Tresen und legte den Kopf schief. „Lass mich raten. Du wohnst irgendwo Ecke Warschauer Straße, Revaler Straße. Einraumwohnung, aber kein Altbau. Eher so eine von diesen modernen Wohnungen, bei denen die Küche direkt im Raum integriert ist. Einbauküche, Dusche statt Badewanne, Balkon, aber keine Pflanzen.” So, wie sich Kais Gesichtsausdruck veränderte, traf er voll ins Schwarze. Aber da ging noch mehr. „Keine Haustiere. Aber ein Fahrrad. Oder ein Auto? Hm, nein, eher nicht... Du arbeitest in Mitte, das ist schon mal klar. Bestimmt bei irgendeinem von Jürgens-McGregors Start-ups. Und du bist, wie nennt man das? Irgendwas mit Manager im Titel. Jemand, der verzweifelt versucht, den Kahn über Wasser zu halten, obwohl dein Chef ihn gerade gegen einen Eisberg gesteuert hat. Na?”

Kai ließ ihn ein paar Sekunden warten, während er einen Zug aus seiner Flasche nahm. „Stalkst du mich?”, fragte er dann.

„Ich kenne meine Stadt”, entgegnete Yuriy schlicht.

„Okay. Ich bin dran.” Kai verschränkte die Arme und musterte ihn noch einmal eingehend. „Du wohnst im Wedding, in einer WG. Altbau. So eine wie sie alle wollen: Hohe Decke, bisschen Stuck, Dielenboden. Aber nicht renoviert und daher extrem günstig. Außerdem hat sie einen komischen Grundriss, wahrscheinlich ist eure Dusche in der Küche oder so was. Du hast zwei Mitbewohner. Vielleicht zwei Frauen. Eine davon hat eine Katze. Ihr kifft immer zusammen auf dem Balkon und am Sonntag guckt ihr Tatort, um euch darüber lustig zu machen. Du hast auch noch einen anderen Job. Der nichts mit Musik zu tun hat. Aber vielleicht mit Technik. IT oder so.”

Jetzt konnte Yuriy sich nicht mehr zurückhalten und prustete los. „Nicht richtig?”, fragte Kai.

„Es ist unglaublich, wie falsch du liegst!”

„Hmm.” Es war ein warmer, tiefer Klang, der seine Kehle verließ und an ganz seltsamen Stellen bei Yuriy ankam. Kai wandte sich halb von ihm ab und begann, mit dem Daumen die Banderole von seiner Flasche zu kratzen. „Dann musst du mir wohl was von dir erzählen”, meinte er und warf Yuriy einen Seitenblick zu.

„Zum Beispiel?”

„Zum Beispiel - Warum Ostblocc?”

„Das ist leicht”, antwortete Yuriy und hob die Schultern. „Wir kommen aus den ehemaligen Ostblockstaaten. Außer Salima, die kommt aus Neukölln.”

„Das heißt, du bist auch nicht hier aufgewachsen?”

Er schüttelte den Kopf. „Meine Geburtsstadt ist Moskau. Aber wir sind dann gleich ‘92 hierhergekommen.” Kai nickte, und anders als andere, mit denen Yuriy dieses Gespräch schon geführt hatte, schien er zu verstehen, wovon er sprach. Vielleicht war er ein kleiner Geschichtsnerd.

Sie tauschten ein paar weitere Kleinigkeiten über sich aus und ihre Unterhaltung entwickelte sich in eine durchaus angenehme Richtung. Anfangs rechnete Yuriy noch jeden Augenblick damit, dass Kais Verehrer von vorhin wieder zurückkam, aber das tat er nicht. Womöglich hatte er wirklich irgendwo einen Dealer gefunden und hatte nun andere Prioritäten. Auch ihre Flaschen leerten sich mit der Zeit, doch selbst das war kein Grund für sie, sich voneinander zu verabschieden. Für Yuriy war das eine Abweichung von der Norm; nach der Arbeit blieb er nie lange im Club, sondern wollte immer möglichst schnell nach Hause, um ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Das führte allerdings auch dazu, dass er nur noch selten neue Bekanntschaften schloss, und so war Kai eine nette Abwechslung. Und außerdem wurde er ihm gerade immer sympathischer. Er sprach ziemlich langsam, aber fast ohne Akzent, was Yuriy beachtlich fand für jemanden, der erst seit zwei oder drei Jahren hier lebte. Seine Körpersprache war unaufgeregt, entspannt. Die Augen allerdings - vor denen musste man sich in Acht nehmen.

„Aber verrate mir doch mal”, sagte Yuriy irgendwann, als sie beide schon mutiger geworden waren, „Warum gibt sich jemand wie du mit Leuten wie Jürgens ab? Du musst doch wissen, dass der nur an seine Kohle denkt.”

„Was bringt dich zu der Annahme, dass ich nicht auch nur an meine Kohle denke?”, schoss Kai zurück.

„Ich bin ziemlich sicher, du weißt, wie du deine Finanzen zusammenhältst, keine Sorge”, sagte Yuriy, „Aber du machst nicht den Eindruck, als würdest du dich grundlos bereichern wollen.” Er unterbrach sich, überlegte, ob er die Gedanken aussprechen sollte, die ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf schwirrten. Doch dann warf er alle Vorsicht über Bord: „Ansonsten wärst du nicht so eine kleine Leuchte bei Olivias Macker. Du hast mehr im Kopf als er, das ist ziemlich offensichtlich. Und ich schätze mal, Jürgens hat mehr Respekt vor dir als vor ihm. Also warum zum Teufel bist du nicht der Chef von dem Laden? Typen wir ihr wollen doch immer nur möglichst schnell aufsteigen. Du nicht. Warum?”

„Oh, ich werde aufsteigen”, sagte Kai, „Nur eben nicht so schnell, wie alle erwarten.”

Yuriy horchte auf. Nicht umsonst arbeitete er mit Jugendlichen; er wusste, auf welchen Tonfall er achten musste, hatte ein Gespür dafür, wann sich die Stimmung eines Gegenübers änderte.

„Alle - oder jemand bestimmtes?”, hakte er nach.

Zum ersten Mal an diesem Abend schien Kai wirklich verunsichert. Er dachte eine ganze Weile nach, bevor er antwortete: „Man könnte sagen, Ralf schuldet meiner Familie noch einen Gefallen. Das ist der Grund, weshalb ich hier bin. Aber das bedeutet nicht, dass ich ihm auch irgendwie beispringen muss.”

„Wow.” Yuriy konnte sich angesichts dieser filmreifen Erklärung etwas Sarkasmus nicht verkneifen. „Wie heißt denn dein Clan?”

Kai biss sich auf die Lippe. „Ist es okay, wenn ich dir das nicht sage?”

Natürlich machte ihn diese Antwort nur umso neugieriger. Doch ob nun beabsichtigt oder nicht, Kais Charme erweichte ihn. Also hob er nur die Schultern und meinte: „Das klingt ein wenig nach Mafia-Drama, da halte ich mich lieber raus. Will ja nicht mit einbetonierten Füßen im Landwehrkanal enden.”

Kai verzog den Mund, ihm schien jedoch nicht nach Lachen zumute. Und Yuriy fing jetzt doch an, zu überlegen, wie er das Gespräch retten konnte. Vielleicht sollte er Kai noch ein Bier kaufen, schließlich machte Alkohol alles besser…

Der Gedanke hatte es noch gar nicht zu seinem Mund geschafft, als Kais Augen plötzlich groß wurden. „Shit!”, stieß er aus und duckte sich hinter Yuriy weg. Der drehte sich um, damit er sehen konnte, was Kai in solche Aufregung versetzte. Es waren Jürgens und der Italiener. Sie standen am anderen Ende des Tresens und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihr verlorengegangenes drittes Rad entdecken würden.

„Ich glaub, du bist gefickt, Kai”, meinte er, als er sich wieder seinem Gesprächspartner zuwandte, „Dich sehen sie vielleicht nicht, aber ich falle ein bisschen auf. Und wenn sie sich an mich erinnern, kommen sie sicher rüber.”

„Ja, ganz toll”, erwiderte Kai, der den Hals reckte, um nach den anderen zu sehen, bevor er sich schnell wieder aus ihrem Blickfeld bewegte. „Ich hab echt keine Lust, mit denen nach Hause zu gehen.”

„Du könntest dir auch einfach ein Taxi nehmen”, schlug Yuriy vor.

„Sicher. Der erste Abend seit Monaten, an dem ich ausgehe, und er endet damit, dass ich vor Ralf Jürgens und Giancarlo Tornatore in einem Taxi nach Hause fliehe.”

„Okay, ich gebe zu, das klingt armselig.” Trotzdem musste Yuriy schmunzeln. „Hast du eine bessere Idee?”

Kai schwieg für ein paar Sekunden, dann blickte er zu ihm auf. „Wo wohnst du?”

„Marzahn.”

„Ich war noch nie in Marzahn.”

Zugegeben, diese Wendung überraschte ihn. Aber nur kurz.

„Na dann wird’s ja mal Zeit”, entgegnete er.

Deine Nächte fressen mich auf

Irgendwie gelang es ihnen, an Ralf und Giancarlo vorbeizukommen, ohne dass diese es bemerkten. Da sie ihre Jacken jedoch im Backstage-Bereich gelassen hatten, mussten sie erst einen Abstecher dorthin machen, bevor sie wirklich gehen konnten. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, wurde es deutlich stiller, von der Musik blieb nur noch ein dumpfes Wummern und das Stimmengewirr wurde zu einem Rauschen. Zunächst war es dunkel, dann knackte der Bewegungsmelder und grelles Licht erfüllte den Korridor. Kai war darauf nicht vorbereitet und fühlte sich ein wenig überrumpelt von der Klarheit, mit der er Yuriy nun sehen konnte. Ihm war vorher nicht bewusst gewesen, dass dessen Haare wirklich leuchtend rot waren. An der Bar und auch bei ihrer ersten Begegnung vor ein paar Stunden hatten sie dunkler gewirkt. Sein Begleiter nahm von seinem musternden Blick keine Notiz, sondern zog sein Handy aus der Tasche und rief jemanden an. „Borya, wann bist du fertig? Jetzt? Super, bin gleich da.” Er wandte sich an Kai. „Mein Mitbewohner ist mit dem Auto hier, er nimmt uns mit.”

Kai murmelte noch eine Zustimmung, dann blieben sie beide wie angewurzelt im Türrahmen von Olivias Garderobe stehen. Diese war nämlich nicht, wie sie angenommen hatten, leer.

„Sieh an.” Olivia, die gerade dabei war, sich nachzuschminken, blickte sie durch den Spiegel an, dann drehte sie sich zu ihnen um. „Gianni und Ralf haben schon nach dir gesucht.” Ihr Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. „Soll ich ihnen verraten, dass du mit dem DJ durchgebrannt bist?”

Wenn Kai eines sicher wusste, dann, dass wenn Giancarlo das genauso von Olivia hörte, bis spätestens nächsten Dienstag das gesamte Unternehmen davon erfahren haben würde.

„Du könntest ihnen sagen, dass er nach Hause gegangen ist und sie nicht auf ihn warten sollen”, schlug Yuriy vor.

„Sicher. Was bekomme ich dafür?”

„Was auch immer, Olivia”, sagte Yuriy ungeduldig und ging nun endlich ins Zimmer hinein, um ihre Jacken zu holen. „Du hast offiziell was gut bei mir.”

„Glaub mir, Schatz, das werde ich mir merken.” Sie streckte den Arm aus, sodass Yuriy nichts anderes übrig blieb, als sie zum Abschied zu umarmen und dabei einen Wangenkuss abzubekommen. Kai hingegen winkte nur linkisch, bevor sie den Raum endlich wieder verließen. „Lass ihn nicht deine Seele stehlen, Süßer!”, rief sie ihm hinterher. Yuriy neben ihm stieß einen Seufzer aus und verdrehte die Augen.

Kurze Zeit später standen sie draußen. Die kalte Luft war erfrischend und die ersten Amseln schrien die Morgendämmerung herbei. Doch noch immer gab es ein paar Gestalten, die jetzt erst in den Club hineingingen. Yuriy lief schnurstracks auf einen der Türsteher zu und winkte Kai zu sich. „Kai, das ist Boris. Boris, Kai. Er kommt mit uns mit.” Die grünen Augen musterten ihn genauso kühl wie vorhin beim Einlass, doch jetzt lag etwas mehr Interesse in ihnen. Kai sagte nichts; angesichts der Statur seines Gegenübers kam erschien ihm das die klügere Entscheidung. Yuriy war schon groß, aber dieser Boris überragte ihn noch und war darüber hinaus wesentlich breiter. Beinahe hätte er den Kopf geschüttelt, so absurd kam ihm diese Situation vor: Er war drauf und dran, mit einem DJ und einem Türsteher nach fucking Marzahn zu fahren. Wenn er das später erzählte, würden alle glauben, er hätte sich zugekokst und den Anschluss verloren.

Boris wandte sich an den Rothaarigen. „Was zum Fick, Yuriy? Du schleppst doch sonst niemanden ab.”

„Was willst du?”, entgegnete der, „Er ist mir zugelaufen!”

„Zuge- Sag mal, seid ihr drauf oder was?”

„Ich hatte ein Glas Sekt vor vier Stunden und ein Bier. Und er muss jetzt hier weg.”

„Hat er kein Zuhause?”

„Alter Boris, jetzt tu nicht so als hättest du noch nie Leute mit nach Hause genommen…”

Während sich die beiden in ihren Schlagabtausch verstrickten, blickte Kai ein ums andere Mal über die Schulter zurück. Sie standen noch gut sichtbar im Eingangsbereich des Clubs, und mit ein bisschen Pech würden Ralf und Giancarlo, oder noch schlimmer, Brooklyn, ihnen über den Weg laufen. Inzwischen machten sich nämlich viele auf den Heimweg. „Hey.” Er berührte Yuriy am Arm. „Ich kann mir auch ein Taxi nehmen, schon in Ordnung.”

„Nichts da”, unterbrach der andere ihn, bevor er sich wieder zu Boris umdrehte. „Und du - Maul halten. Wo ist deine Karre?” Boris verzog den Mund, sagte aber nichts mehr. Stattdessen verabschiedete er sich kurz von seinen Kollegen und ging dann voran, führte sie um den Club herum zu einem Parkplatz, der von einer einsamen Laterne erhellt wurde. Dort stand als ein aufgetuntes Ungetüm von Fahrzeug, dessen Scheinwerfer kurz aufleuchteten, als Boris die Türen entsperrte.

„Das ist das hässlichste Auto, das ich jemals gesehen habe”, murmelte Kai.

„Noch so ein Ding und du kannst laufen!”

„Boris, chill, wir fahren”, sagte Yuriy und hielt die hintere Tür auf, „Kai, rein mit dir.”

Sobald er saß, war Kais erster Instinkt, sich anschnallen zu wollen. Nur leider schien die Rückbank des Wagens keinen Gurt zu haben. Nach ein paar Sekunden ließ er sich also unverrichteter Dinge nach hinten gegen die Rückenlehne sinken und hoffte nur, dass sie nicht von der Polizei angehalten wurden. Währenddessen hatte Boris schon ausgeparkt und bog jetzt in die Straße ein, sehr vorsichtig, damit der tiefergelegte Boden nicht über den Bordstein schrammte. Dabei grummelte er schon wieder unverständlich vor sich hin; wahrscheinlich war für ihn die Sache noch nicht erledigt. Yuriy, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu. Dann streckte er die Hand aus und drehte am Radio. „Ich weiß den perfekten Song jetzt.” Ein Intro setzte ein, Yuriy drehte die Lautstärke auf und Boris stöhnte.

“Komm aus’m Club, war schön gewesen

Stinke nach Suff, bin kaputt, ist’n schönes Leben

Steig über Schnapsleichen, die auf meinem Weg verwesen

Ich seh die Ratten sich satt fressen im Schatten der Dönerläden”

„Alter…”, ächzte Boris, der das Auto inzwischen auf der Karl-Marx-Straße nach Norden lenkte, bevor er Richtung Nordosten abbog. Der Rothaarige schien seine Bemerkung als Aufforderung zu verstehen, denn auf einmal fing er an, recht theatralisch mitzusingen: „Guten Morgen Berlin, du kannst so hässlich sein, so dreckig und grau. Du kannst so schön schrecklich sein, deine Nächte fressen mich auf. Es wird für mich wohl das Beste sein, ich geh nach Hause und schlaf mich aus. Und während ich durch die Straßen lauf wird langsam Schwarz zu Blau.”

„Ich schmeiß dich in die Spree!”, rief Boris, doch Yuriy lachte nur.

Kai schwieg, doch in der sicheren Dunkelheit grinste er in sich hinein. Die beiden waren auf jeden Fall unterhaltsamer als Giancarlo und Ralf. Kurz fragte er sich, ob sie ein Paar waren, so vertraut, wie sie miteinander umgingen. Eventuell versetzte ihm der Gedanke einen kleinen Stich; doch dann fiel ihm ein, dass Yuriy bisher immer nur von Boris als seinem Mitbewohner gesprochen hatte. Was auch immer hier los war, er war sicher, dass er es im Verlauf der Nacht noch herausfinden würde.

Die Gegend, durch die sie fuhren, war ihm vage bekannt. Sie waren nicht allzu weit weg von seinem Kiez. Die Straße wurde breiter, dann waren sie plötzlich auf der Elsenbrücke, die sich über die Spree schwang. Wo einst nur Brachland war, gab es heute ganze Straßenzüge neuer Apartmentkomplexe und die ersten Bürotürme der Mediaspree, eines Großprojekts, gegen das sich Anwohner schon seit Jahren wehrten. Kai drehte den Kopf nach links und blickte Richtung Innenstadt: Das abstrakte Gebilde des Molecule Man im Vordergrund, weiter weg die Oberbaumbrücke und, wie immer, der Fernsehturm im Hintergrund. Dann hatten sie die Brücke hinter sich gelassen, fuhren am Bahnhof Ostkreuz vorbei und dann irgendwann auf der Frankfurter Allee weit, weit nach Osten. Die Straße war sechsspurig, gehörte zu den acht Ausfallstraßen, die sich vom Zentrum durch den Ostteil der Stadt zogen. Als Kai gerade ein paar Monate hier gewesen war, war er zur Aussichtsplattform des Fernsehturms hinaufgefahren und war diesen Straßen, die den Prospekten in Moskau so ähnlich sahen, mit Blicken gefolgt. Später, nachdem er seine Wohnung in Friedrichshain gefunden hatte, war er zum Frankfurter Tor gelaufen, um sich die ehemaligen Arbeiterpaläste anzusehen, die dort die breite Straße säumten, welche zeitweilig Karl-Marx-Allee und sogar Stalinallee geheißen hatte. Das hatte er freilich nicht von Anfang an gewusst, sondern sich später neugierig angelesen. Jetzt fuhr Boris in die entgegengesetzte Richtung, die Türme des Frankfurter Tores befanden sich in ihrem Rücken und vor ihnen war nur eine große Fläche Himmel, deren Unterkante schon heller zu werden schien. Links und rechts hoben sich die Umrisse von Plattenbauten scharf ab. Die Beleuchtung war von einem warmen Orange. Außer ihnen und ein paar Taxis war kaum jemand unterwegs. Eine seltsame Ruhe legte sich über sie; Yuriy und Boris hatten ihren Schlagabtausch längst beendet und die Musik wieder ausgeschaltet. Schließlich drehte Yuriy sich halb zu ihm um. „Willkommen in Marzahn. Möchtest du eine historische Einführung?”

„Nicht nötig”, entgegnete Kai, „Ich weiß, dass der Bezirk in den siebziger Jahren praktisch aus dem Boden gestampft wurde. Es war damals das größte Projekt des sozialistischen Wohnbauprogramms, oder?”

„Da hat jemand seine Wikipediaseite richtig gelesen”, kommentierte Boris.

„Ha”, meinte Yuriy, „Ich wusste, du bist ein Geschichtsnerd. Hast du das studiert?”

„Nein”, entgegnete Kai, „Aber ich interessiere mich für die Geschichte Osteuropas. Vor allem, seit ich hier lebe.”

„Guter Junge. Wir sind übrigens gleich da.”

‘Gleich’ war in diesem Falle eine Untertreibung, denn inzwischen hatte Kai das Gefühl, sie wären längst aus der Stadt hinausgefahren. Die Straße schlängelte sich zwischen Brachflächen hindurch, jedoch tauchten immer mal wieder gruppierte Plattenbauten auf. Er fragte sich, ob seine beiden Begleiter wirklich jeden Tag so eine lange Strecke auf sich nahmen. Mit dem Auto war das sicher zu bewerkstelligen, aber selbst die S-Bahn brauchte eine Weile, um von hier ins Zentrum zu kommen.

„Und hier ist meine Lieblingsstraße”, sagte Yuriy in diesem Moment. „Sie trägt den schönen Namen ‘Allee der Kosmonauten’. Hat aber leider sonst nicht viel damit zu tun.”

„Du bist schon so ein Kosmonaut”, brummte Boris, dann setzte er den Blinker und fuhr ab in eine Nebenstraße, die vor einer wirklich riesigen Platte endete. „Raus mit euch. Ich stell die Karre noch in die Garage.”

Als Kai aus dem Wagen kletterte, fiel ihm als erstes die Stille auf. Ein wenig Verkehrslärm kam von der Straße, was aber kein Vergleich war zu dem, was man in der Innenstadt erlebte. Außerdem schien es hier ein, zwei Grad kühler zu sein. Wie spät war es überhaupt? Es musste schon auf fünf zugehen. Kein Wunder, dass es langsam hell wurde. Er zog seine Jacke etwas enger um sich und blickte an der Fassade des Hauses nach oben, eine glatte Fläche mit eingestanzten, schwarzen Fenstern, Symmetrie, die ihn schwindeln ließ. Die oberen Stockwerke verschwanden in der Dunkelheit und im Licht der Laternen war nicht zu erkennen, ob der Putz weiß, grau oder gelb war. Kurz darauf stand er Yuriy zum ersten Mal nach ihrem abrupten Aufbruch wieder gegenüber, und zwar im klapprigen Fahrstuhl, der sie langsam in den zehnten Stock brachte. Dieser hatte einen Spiegel und das Licht war erbarmungslos; als Kai sein eigenes Gesicht erblickte, wandte er sich schnell wieder ab.

„Bereust du schon, dass du mitgekommen bist?”, fragte Yuriy.

„Nein”, antwortete Kai ehrlich, „Eigentlich wollte ich mich gerade für die Rettung im Club bedanken. Obwohl ich zugeben muss…” Er unterbrach sich, da in diesem Moment die Türen aufgingen und er Yuriy hinausfolgte, „...dass ich so was noch nie gemacht habe.”

„Noch nicht mal für einen One Night Stand?” Der Rothaarige schloss eine Tür auf und ließ ihn eintreten. Kai atmete den Geruch der fremden Wohnung ein, sein erster Blick erfasste die etwas karge, auf ihre Art aber behagliche, Einrichtung. „Nein”, sagte er schließlich erneut. „Das ist nicht so mein Ding.”

„Meins auch nicht.” Yuriy hatte schon Jacke und Schuhe ausgezogen und die schwere Tasche mit seinem Equipment abgestellt. Nun ging er den Flur entlang. Es gab zwei Türen zu jeder Seite und eine direkt gegenüber dem Eingang. Bevor er in das Zimmer hinten rechts ging, deutete er in ein anderes hinein. „Du kannst es dir auf dem Balkon gemütlich machen. Willst du Schnaps oder Tee? Boris und ich nehmen meistens beides.”

„Klingt gut…”, murmelte Kai, der kurz zu Yuriy gesehen hatte, nur um festzustellen, dass dieser in der Küche stand und schon hinter der Tür eines Hängeschranks verschwunden war. Nun stand er mitten in dem dunklen Zimmer, zu dem der Balkon gehörte und war sprachlos angesichts der Aussicht, die sich ihm bot: Der Blick reichte weit über die Stadt, in der es so gut wie keine Hochhäuser gab. Und so erhob sich der Fernsehturm wie eine leuchtende Nadel im Zentrum des Panoramas, während ihm alles andere wie eine glitzernde Masse zu Füßen lag. Darüber blinkten ein paar Flugzeuge, die Lichtverschmutzung verlieh dem Himmel einen rostroten Schimmer. In der unmittelbaren Nähe gab es ein paar schwarze Brachflächen wie Leerstellen, die Stadt faserte hier schon aus.

Es gab wenige Orte, von denen man so eine Aussicht hatte, und so verharrte Kai für ein paar Minuten und nahm einfach nur alles in sich auf. Er hörte, wie Boris in die Wohnung kam und zu Yuriy in die Küche ging. Erst als sie sich laut zu unterhalten begannen, konnte er sich losreißen und öffnete endlich die Balkontür, um nach draußen zu treten. Dort standen ein Tisch und zwei Stühle, alles wahllos zusammengewürfelt. Eine kalte Brise wehte ihm entgegen. Auf dem Tisch ein voller Aschenbecher.

„Boris, bring mal noch einen Stuhl mit.” Yuriys Stimme erklang dicht hinter ihm, dann drängte der Rothaarige sich an ihm vorbei und stellte zwei dampfende Tassen und eine Flasche auf den Tisch. Er wies einladend auf einen der Stühle, bevor er sich auf den anderen fallen ließ. Aus seiner Jackentasche holte er drei altmodische Schnapsgläser, die er neben der Flasche aufreihte. Kurz darauf kam auch Boris nach draußen, zwängte seinen Stuhl neben Yuriys und hob seine Tasse. „Zum Wohl. Mann, ist das kalt heute.”

Kai griff nun ebenfalls nach einer Tasse und trank einen Schluck. Es war starker Schwarztee mit einem guten Schluck Zitronensaft. Die Wärme tat gut.

Sie schwiegen eine Weile; Boris zündete sich eine Zigarette an und Yuriy tippte auf seinem Handy herum, während Kai einfach noch etwas die Aussicht genoss und an gar nichts dachte.

„Mattie hat aus Versehen eins von meinen Kabeln eingepackt”, murmelte Yuriy irgendwann. Seufzend legte er das Handy auf den Tisch und lächelte Kai an. „Alles klar?”

„Ja”, antwortete er. „Danke nochmal.” Sie hielten den Blick für einen langen Moment, bevor Yuriy nach Boris’ Zigaretten griff und sich selbst eine anzündete. Während Kai ihn dabei beobachtete, überkam ihn eine Ruhe, wie er sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gespürt hatte. Vielleicht lag es an diesen beiden großen Typen oder an ihrer erhöhten Position - der Welt entrückt in dieser seltsamen Konstellation, die sie bildeten. Oder es waren nur die letzten Reste des Alkohols in seinem Blut. Was auch immer, es war gut so.

Boris blies Rauch in die Nacht. „Wie kommt es, dass du mit Ralf Jürgens feiern gehst?”, fragte er.

Kai hob die Schultern. „Er ist der Boss meines Bosses. Aber wir kennen uns von früher. Ich habe mit ihm und Johnny McGregor in London studiert.”

Boris zog die Mundwinkel nach unten, was man vielleicht als anerkennend interpretieren konnte; Kai hatte aber das Gefühl, dass auch ein wenig Sarkasmus in dieser Mimik lag.

„London. Nobel.”

Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Ob die anderen beiden überhaupt studiert hatten? Yuriy vielleicht, der erschien ihm klüger als gut für ihn war. Aber auch Boris war nicht auf den Kopf gefallen, wenngleich Kai ihn sich nicht in einem Hörsaal vorstellen konnte. Er räusperte sich. „Jedenfalls haben die beiden damals schon begonnen, ihr Geschäft aufzuziehen. Die sind keine Gründer, sondern Investoren. Und damit haben sie früh angefangen. So ist Jürgens-McGregor entstanden.”

„Das erklärt aber noch nicht, was du mit der Sache zu tun hast”, sagte Yuriy und Kai fühlte sich in seiner Theorie über dessen Auffassungsgabe bestätigt. Er seufzte. „Lange Geschichte. Wollt ihr nicht den Schnaps trinken?”

„Gute Idee.” Yuriy behielt die Zigarette im Mund, während er ihnen eingoss, dann prosteten sie sich kurz zu. Der Alkohol brannte, brachte aber noch ein wenig mehr Wärme mit sich. Kais Blick schweifte noch einmal über das Panorama, bevor er sich dazu durchrang, weiterzusprechen: „Ich komme aus einem Familienunternehmen. Mein Großvater ist Mitinvestor bei einigen von Jürgens-McGregors… Anschaffungen. Nach dem Studium sollte ich ursprünglich gleich in der Firma anfangen, aber er hielt es für klüger, mich nach Deutschland zu schicken. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was Großvater vorhat, aber ich glaube, er sieht das Ganze als eine Art Prüfung. Immerhin werde ich seinen Laden irgendwann schmeißen.”

Ein weiterer Schwall Rauch verließ Boris’ Mund. „Verdammt, Mann”, sagte er, „Wie alt bist du?”

Kai verzog das Gesicht. „Siebenundzwanzig.”

„Junge. Du solltest einpacken und abhauen.”

„Tja.” Ihm war ein wenig nach Lachen zumute, aber es reichte nicht, um es wirklich zu tun. „Jedenfalls ist das der Grund, warum ich mit Ralf Jürgens meine Zeit verbringe. Er kommt alle paar Monate nach Berlin, und dann muss ich ihn natürlich treffen. Wahrscheinlich redet er hinter meinem Rücken mit meinem Großvater über mich, also sollte ich auch dafür sorgen, einen guten Eindruck zu hinterlassen.”

„Na, das hat heute schon mal nicht geklappt”, warf Yuriy ein, „Du bist einfach mit zwei Russen durchgebrannt, das gibt Ärger. Schnaps?”

Kai hielt ihm wortlos sein Glas hin, aber Boris hob abwehrend die Hand. Yuriy goss erneut ein und sie stießen zu zweit an. „Vielleicht hatte ich ja Spaß, weil du so gute Musik gemacht hast”, sagte Kai dann leichthin. Er fing einen wissenden Blick von Boris und ein Lächeln von Yuriy ein.

Irgendwo in einem Stockwerk unter ihnen öffnete jemand ein Fenster. Das Geräusch hallte ungewöhnlich weit in der Stille des Morgens. Erst in diesem Moment fiel Kai auf, dass an den Rändern seines Blickfeldes Licht über den Horizont kroch. Der Balkon ging Richtung Westen, und so hatten sie den Sonnenaufgang im Rücken. Wann hatte er das letzte Mal eine Nacht durchgemacht? Vermutlich nicht auf einer Party, sondern beim Verfassen irgendeines irrelevanten Berichts für die Arbeit.

„Also gut.” Boris erhob sich. „Ich hau mich aufs Ohr. Wir sehen uns später?” Dabei sah er sie beide an.

„Sicher”, entgegnete Yuriy und ersparte Kai damit eine Antwort. Boris nickte und hob noch mal die Hand, dann bahnte er sich einen Weg durch das dunkle Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Allein mit Yuriy zu sein machte Kai nervös, aber auf eine gute Art. „Kann ich einen Zug haben?”, fragte er und deutete auf die fast abgebrannte Zigarette des anderen.

„Kannst aufrauchen.” Yuriy reichte sie ihm und ihre Hände berührten sich. Ihre Finger waren kalt. Kai nahm einen Zug und für einen Moment waren seine Sinne voller Rauch. Dann blies er ihn in die Nacht, die sich nicht von der Stadt lösen wollte. Es war ihm ganz lieb so. Tageslicht, fand er, wäre jetzt vollkommen unangebracht.

„Also”, sagte er, „Wenn das hier kein One Night Stand wird - was dann?”

„Hm”, machte Yuriy. „Sag du es mir.”

Aus irgendeinem Grund fühlte er sich durchschaut. Er konnte nichts sagen, sondern sah einfach nur Yuriy an, der diesen Blick irgendwann erwiderte. Dieses Mal ohne dabei frech zu Grinsen. Oh, wo war er hier nur reingeraten?

„Yuriy, ich…”, fing er an und unterbrach sich, denn es war seltsam, aber so gut, diesen Namen auf der Zunge zu spüren.

„Ist dir kalt?”, unterbrach ihn der andere. Kai schloss den Mund, dann nickte er. Drückte die Zigarette in den Aschenbecher.

„Lass uns reingehen”, sagte Yuriy.

In der Wohnung war es noch stiller, wenn das überhaupt möglich war. Sobald sie die Balkontür schlossen, verstummten das Vogelgezwitscher und alle anderen, unbestimmten Nebengeräusche. Erst als Yuriy eine Stehlampe anschaltete, wurde Kai bewusst, dass dies hier sein Zimmer sein musste: Ihm fiel sofort das Mischpult auf, das einen ziemlich prominenten Platz einnahm. Neben der Tür stand der Kleiderschrank, dahinter das Bett. Am Fenster der Schreibtisch und auf der anderen Seite des Raumes ein Bücherregal. Langsam wurde ihm wieder warm.

„Willst du noch was?”

Ja, dachte er und schüttelte den Kopf. Sie setzten sich auf das Bett, Yuriy ans Kopfende, Kai ihm gegenüber, die Beine angezogen. „Es ist seltsam”, fing er an, „Ich habe das Gefühl, wir kennen uns schon viel länger als ein paar Stunden.”

„Manchmal ist das so”, entgegnete Yuriy, „Es gibt Menschen, die sind einem sofort vertraut.”

„Also geht es dir auch so?”

Sein Gegenüber verzog nur den Mund. Auf einmal wirkte er erschöpft von der langen Nacht. Und Kai ertappte sich bei dem Wunsch, ihn zu berühren, und zwar mehr als nur flüchtig. Vielleicht war das von Anfang an der Grund gewesen, weshalb er in Boris’ Auto gestiegen war, auch wenn er sich selbst eingeredet hatte, einfach nur weg von den anderen zu wollen. Und jetzt war er hier und könnte sich einfach vorbeugen und alles ignorieren, was er vorhin von sich behauptet hatte.

„Hör mal, Kai”, sagte Yuriy in diesem Moment. Er hatte ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen, doch jetzt senkte er den Blick. „Ich bin kurz davor, etwas sehr Gutes oder sehr Dummes zu tun. Also… wenn es etwas sehr Dummes sein sollte… dann musst du es mir jetzt sagen.”

Kais Mund wurde trocken. Ein Teil von ihm, den er in letzter Zeit sehr vernachlässigt hatte, begann, nach Aufmerksamkeit zu schreien. „Es ist nicht dumm, aber...” Es war schwer, das in Worte zu fassen. „Ich weiß nicht, Yuriy. Das würde gerade einiges durcheinander bringen. Ich… ich kann das einfach nicht!” Ihm war sehr bewusst, dass er hier gerade alles kaputt machte; am liebsten wäre er einfach aufgesprungen und rausgegangen, aber wohin dann? „Ich meine, fuck, ich weiß doch noch nicht einmal, wie lange ich in dieser Stadt bleiben werde!” Seine Stimme war lauter geworden und er brach ab, war selbst erstaunt, welche Gefühle gerade in ihm zum Vorschein kamen. Yuriy sagte nichts, er sah ihn einfach an, wenn auch seine Augenbrauen etwas nach oben gewandert waren.

Kai fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und atmete durch. „Ich glaube, ich bin gerade sehr frustriert”, sagte er. „Weil ich seit über zwei Jahren hier bin und sich gerade nichts bewegt. Ich habe… ein paar Dinge ganz schön in den Sand gesetzt. Und gerade funktioniere ich einfach nur. Das kann so nicht weitergehen. Aber vielleicht bedeutet das, dass ich einfach hier weg muss.” So genau hatte er noch nicht darüber nachgedacht. Aber manchmal, wenn ihm alles zu viel wurde und er seinen Großvater dafür verfluchte, ihn hierhergeschickt zu haben, wollte er einfach alles hinschmeißen. Zurück nach London, oder noch besser, nach Hause. Weg von diesen grauen, europäischen Wintern, den verkniffenen Gesichtern und der Einsamkeit, die er hier erlebt hatte. „Und wenn jetzt irgendwas passieren würde - mit dir - das würde mir nicht helfen.” Es würde alles nur noch viel schlimmer machen, da war er sich sicher.

„Vielleicht brauchst du neue Freunde”, sagte Yuriy. Beinahe hätte er gelacht. Wenn es doch nur so einfach wäre.

Der Rothaarige bewegte sich, er hielt ihm die Hände entgegen. „Komm her.” Kai zögerte, dann griff er nach Yuriys Hand und ließ sich zu ihm ziehen, in eine umständliche Umarmung, bei der er halb auf ihn fiel. Yuriy war warm, er roch ein bisschen nach Rauch und Haargel und frischer Luft. Wie lang war er nicht mehr so umarmt worden? Mit diesem Gedanken gab er ein wenig mehr nach, und ihm war, als würde auch Yuriy diese Nähe brauchen, wenn auch aus anderen Gründen.

Wir haben uns gerade noch gefehlt

Du willst gehen

Doch der Boden zerfällt

Ohne Gewicht

Fliegst du durch die Welt

Ich will reden

Doch mir fällt kein Wort ein

Und wir scheinen

Langsam durchsichtig zu sein
 

Yuriy erwachte, weil grelles Tageslicht ungehindert in sein Zimmer fiel. Sein erster Gedanke galt seinen Vorhängen, die er nicht zugezogen hatte, bevor er ins Bett gegangen war.

Er öffnete die Augen, blinzelte gegen das Licht an. Als er den Kopf drehte, sah er ein paar Klamotten auf dem Boden liegen. Zwei Paar Jeans. Er war definitiv zu müde, um sich darüber jetzt Gedanken zu machen. Nach dem Schnaps gestern hätte er ein Glas Wasser trinken sollen, angesichts der Umstände war das aber nicht passiert. Sein Kopf fühlte sich schwer an. Seufzend schwang er die Beine aus dem Bett und strich mit einer geistesabwesenden Bewegung sein Shirt glatt, was dieses aber auch nicht mehr retten konnte.

Kai saß auf dem Balkon und telefonierte. Er trug das Hemd von letzter Nacht, hatte aber die Ärmel hochgekrempelt. Seine Füße lagen auf dem Geländer, der freie linke Arm hing locker herunter, die Hand streifte fast den Boden, so weit hatte er sich zurückgelehnt. Wahrscheinlich blicke er nach oben in den lächerlich blauen Himmel. Die Tassen und Schnapsgläser standen noch auf dem Tisch. Yuriy betrachtete für einen Moment seine Gestalt und wie sich die Stadt im Hintergrund ausbreitete. Ein wenig Dunst hing in der Luft, die Sicht war bei weitem nicht so klar wie in der Nacht, doch hier und da glitzerten Glasflächen in der Sonne. Kais Stimme klang leise durch das Fenster; der Sprechrhythmus war ungewöhnlich. Sprach er Japanisch?

Als er die Balkontür öffnete und nach draußen trat, sah Kai zu ihm hoch, ohne das Handy vom Ohr zu nehmen. Sie warfen sich ein kurzes Lächeln zu, dann sagte er wieder etwas in dieser anderen Wortmelodie. Der Wind war in den letzten Stunden eingeschlafen und so war es auf einmal sehr warm. Yuriy setzte sich und legte den Kopf in den Nacken, bis der andere sein Gespräch beendete.

„Hey”, sagte Kai, nachdem er aufgelegt hatte, „Hab ich dich geweckt?”

„Wie spät ist es?”, fragte Yuriy ohne die Augen zu öffnen.

„Eins durch… glaube ich.”

„Bist du schon lange wach?”

„Nein”, antwortete Kai. „Vielleicht eine Viertelstunde, länger nicht.” Er hob das Telefon. „Das war ein Freund von mir, auch Japaner. Takao.”

„Du hast mich nicht geweckt”, antwortete Yuriy endlich auf die vorherige Frage. Die Sonne machte ihn herrlich träge. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder aufsetzte und den Rücken durchstreckte. „Witzig, ich kenne auch einen Takao. Takao Kinomiya. War ein Kommilitone von mir.”

Als er sich zu Kai drehte, bemerkte er, dass diesem der Mund ein wenig offen stand. „Du hast Sozialpädagogik studiert?”

Yuriy blinzelte. „Wir sprechen vom selben Takao, oder?”, stellte er dann fest. „Ha, diese Stadt ist doch ein Dorf. Ja, ich habe Sozialpädagogik studiert. Takao und ich arbeiten manchmal zusammen, weil er in den Kiezen von meinen Kids unterwegs ist. Ich bin im wahren Leben Schulsozialarbeiter”, fuhr er fort und zwinkerte Kai zu. Der schien ein paar Sekunden zu brauchen, um diese Informationen zu verarbeiten. Bildete Yuriy sich das ein, oder wurde er dabei ein wenig rot im Gesicht? Er selbst fand es eher amüsant, dass sie - entgegen aller Annahmen - gemeinsame Bekannte hatten. Von Takao hatte er eine hohe Meinung - nach dem Studium war er Streetworker geworden. Für Yuriy war es sehr praktisch, dass sie sich kannten, denn so konnte er hier und da diskret herausfinden, was bei „seinen” Kindern zu Hause los war. Privat hatten sie allerdings so gut wie nichts miteinander zu tun.

„Woher kennst du ihn denn?”, fragte er schließlich, um die seltsame Stille zu beenden, die von Kai ausging.

„Hmm. Wir haben uns in einer Bar kennengelernt.” Kai unterbrach sich und runzelte die Stirn, als würde er sich über sich selbst ärgern. „Takao ist mein Exfreund”, sagte er dann mit fester Stimme.

„Oh.” Nun war es Yuriy, der keine Erwiderung wusste. „Well, this is awkward”, murmelte er. Er kannte ähnlich seltsame Zufälle aus seinem Bekanntenkreis, hatte so etwas bisher selbst aber gut umschiffen können.

Kai lachte freudlos. „Sagt der, der sich vor ein paar Stunden noch meinen emotionalen Ballast angehört hat, ohne eine Miene zu verziehen.”

„Hey, ich hatte zwei Schnäpse getrunken. Danach bin ich immer total professionell.” Sie sahen sich einen Moment lang über den Tisch hinweg an, dann prusteten sie beide los, diesmal ganz ohne sich zu verstellen. Es tat gut, zu fühlen, wie sich die Spannung dadurch löste.

„Kann ich einen Kaffee haben, bevor ich nach Hause fahre?”, fragte Kai.
 

Kurz darauf stand Yuriy - immer noch lediglich in Shorts und sein T-Shirt gekleidet - in der Küche und warf die Kaffeemaschine an. Es dauerte keine fünf Minuten, bis Boris, angelockt vom Duft, ebenfalls hereinkam. Wie immer, wenn die Temperaturen über zwanzig Grad stiegen, trug er nichts als eine ausgeleierte Jogginghose. „Morgen”, grüßte er ungeachtet der tatsächlichen Tageszeit. „Bist du schon wieder allein?”

„Kai ist unter der Dusche”, antwortete Yuriy und griff noch einmal in den Schrank, um eine dritte Tasse herauszunehmen. Boris warf einen Blick in den Kühlschrank, schloss ihn unverrichteter Dinge wieder und setzte sich an den Küchentisch. „Und?”, fragte er, „Ist noch was passiert?”

„Wie meinen?”

Sein Mitbewohner warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Junge, die Luft hat gebrannt zwischen euch. Ich hab gedacht, wenn ich mich nicht schnell verziehe, treibt ihr es vor mir auf dem Balkon.”

„Ja, aber dazu kam es ja offensichtlich nicht”, sagte Yuriy, „Okay?”

Boris hob eine Augenbraue.

„Hör auf zu Fragen.”

„Ist ja gut.” Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Kaffeemaschine, die gerade zum letzten Mal geröchelt hatte. „Krieg ich einen?”

Yuriy stellte ihm die leere Tasse mit einer schwungvollen Geste vor die Nase. „Kannst du selber machen.”

„Hey.” Bevor er sich wieder umdrehen konnte hatte Boris sich mit einer Schnelligkeit, die er ihm in seinem Zustand nicht zugetraut hätte, bewegt und sein Handgelenk gepackt. Es hatte in etwa den gleichen Effekt, als hätte er seine Hand auf der Tischplatte festgenagelt. „Yura”, sagte Boris mahnend, „Alles klar bei dir?” Sie sahen sich an. „Tut mir leid, wenn ich was Falsches gesagt habe.”

Yuriy atmete langsam aus. „Schon gut”, murmelte er, „Ich bin nur müde, und deine Fragen haben genervt. Jetzt lass mich los.” Boris’ Lippen bewegten sich, doch er lockerte seinen Griff. Dann grinste er schon wieder herausfordernd und Yuriy überlegte flüchtig, ob er ihm seine eigene Kaffeetasse an den Kopf werfen sollte.

In diesem Moment tauchte Kai im Türrahmen auf. Seine Haare waren noch ein wenig nass und tropften auf sein Hemd. Er nickte Boris kurz zu, hielt aber ein wenig Abstand, als wäre ihm erst jetzt bewusst geworden, dass er sich in einem fremden Haushalt befand.

„Du kommst gerade richtig”, sagte Boris aufgeräumt, „Vielleicht kannst du mir ja sagen, was ihr gestern noch so getrieben habt?!”

„Boris!”, sagte Yuriy, der so viel Dreistigkeit gerade nur schwer verarbeiten konnte.

Kai verschränkte die Arme. „Wir haben geredet”, sagte er ruhig.

„Geredet? Leute, so funktioniert das nicht. Wisst ihr, wenn man jemanden mit nach Hause nimmt, dann hört man normalerweise irgendwann auf zu labern und…”

Der Blick, den Yuriy ihm zuwarf, brachte ihn zum Verstummen. Er wusste, dass er drauf und dran war, zu weit zu gehen. Also seufzte er nur ergeben und stand auf, um sich seine Tasse selbst zu füllen. Dabei stellte er sich provozierend dicht neben Yuriy, zwang ihm ein wenig Körperkontakt auf. Seine nackte Schulter rieb an seinem Oberarm und Yuriy nahm es als Friedensangebot, verdrehte aber noch einmal vielsagend die Augen. Zufrieden trollte Boris sich in sein Zimmer.

„Er ist immer so”, sagte Yuriy unaufgefordert und goss nun endlich ihnen beiden ein.

„Schon in Ordnung.” Kai nahm ihm die Tasse ab und schlenderte in Richtung des Kühlschrankes. Wahrscheinlich hatte er das alte Foto bemerkt, das dort hing, festgehalten von einem wirklich hässlichen Magneten, der in allen Souvenirläden Moskaus verkauft wurde. Das Bild zeigte Boris’ und Yuriys Väter Anfang der neunziger Jahre. Genau wie ihre Söhne hatten sie sich auf Anhieb gut verstanden, als sie sich kennenlernten. Ihre Schnauzbärte und die wallenden Haare ließen nichts mehr von ihrer militärischen Vergangenheit erahnen. Den Hintergrund bildete der Schrebergarten von Boris’ Familie. Vor ihnen auf dem Tisch stand eine Flasche mit klarer Flüssigkeit, dazu drei kleine Gläser - das war ein sicherer Hinweis darauf, dass Reis Onkel Stan und nicht etwa eine ihrer Mütter das Bild gemacht hatte. Dennoch war Yuriy sich sehr sicher, dass er, während dieses Foto entstanden war, keine fünf Meter weiter mit Boris um die Wette gebuddelt hatte.

„Boris sieht seinem Vater ähnlich”, stellte Kai fest, der wohl sofort die richtigen Schlüsse gezogen hatte.

„Ja, ich komme mehr nach meiner Mutter”, erklärte Yuriy. Er konnte nicht verhindern, dass sein Blick kurz über Kais Hintern glitt, als dieser sich vorbeugte, um das Bild noch einmal genauer zu betrachten. Er nahm einen Schluck Kaffee, und als er damit fertig war, hatte der andere sich schon wieder aufgerichtet.

„Kann ich deine Nummer haben?” Die Frage rutschte ihm raus, er hatte sie eigentlich etwas eleganter platzieren wollen. Entsprechend überrascht sah Kai ihn auch an. Aber was soll’s, er meinte es ernst. Und dann nickte Kai bloß, stellte seine Tasse ab und streckte die Hand aus. „Gib mir mal dein Handy.”

Yuriy beobachtete, wie seine Daumen sich über die Tastatur bewegten, wie er kurz zögerte, dann den Kopf schüttelte, wie um sich selbst zu tadeln, und weiter die Leerfelder ausfüllte. Als er fertig war, gab er ihm wortlos das Gerät zurück. Dabei war sein Gesichtsausdruck unergründlich. Yuriy musterte ihn noch einmal, bevor er schließlich den Blick auf das Display senkte. Dort standen eine Nummer und Kais Name. Sein voller Name.

„Kai Hiwatari”, las er und ein unangenehmer Schauer überlief ihn. „Wie Hiwatari Enterprises?” Er sah auf. Es war einer dieser Momente, die erschreckend plötzlich sehr unwirklich wurden. Natürlich war ihm dieses Unternehmen ein Begriff - von Demonstrationen gegen es, an denen er teilgenommen hatte. „Ihr seid doch die, die vor ein paar Jahren versucht haben, ein Stück Spreeufer zu kaufen, oder?” Damals hatte es große Proteste gegeben, da zu dem Grundstück auch ein Teil des letzten Restes der Mauer gehörte. Einmal abgesehen davon, dass sich die Anwohner nicht von einem Glaspalast die Sicht versperren lassen wollten - dieses Stück Geschichte sollte erst recht nicht weichen müssen. Doch Yuriy wusste auch, dass das noch nicht alles war: „Und gerade spekuliert ihr auf ein Gelände in Kreuzberg, für einen - einen Firmencampus?” Erst neulich hatte er die Petition dagegen unterschrieben.

Er sah, wie sich Kais Kiefer anspannte. „Ja, das ist Hiwatari Enterprises”, sagte er.

Yuriy verschlug es nicht oft die Sprache, doch jetzt war es soweit. Er starrte Kai an und versuchte, das soeben erfahrene mit der Person zu vereinen, die er kennengelernt zu haben glaubte. Es funktionierte nicht, ergab einfach keinen Sinn. Und dann war da noch die Wut, die auf einmal in ihm aufwallte, Wut auf Kai, aber auch auf sich selbst.

„Ich verstehe nicht”, sagte er schließlich und konnte nicht verhindern, dass es gepresst klang. „Bist du deswegen hier? Hat dich dein Großvater hierher geschickt, um sicherzugehen, dass die blöden Berliner ihm nicht wieder seine Pläne kaputt machen?”

„Nein”, entgegnete Kai, und dann noch einmal mit Nachdruck: „Nein! So ist es nicht.” Er sah sich etwas hilflos in dem Raum um, bevor er schließlich auf den Tisch deutete. „Können wir uns hinsetzen? Kann ich es dir erklären?”

Yuriy sagte zunächst nichts. Er fühlte sich komplett überfordert. Mit vielem hätte er gerechnet, nachdem Kai so geheimnistuerisch auf die Frage nach seinem Nachnamen reagiert hatte - aber nicht damit. Hiwatari Enterprises waren riesig, global - und keine Lakaien von Jürgens-McGregor, im Gegenteil: Sie waren weitaus bedeutender.

Er nickte bloß und sie setzten sich einander gegenüber an den Tisch, die dampfenden Kaffeetassen standen zwischen ihnen. Kai rieb sich müde übers Gesicht, schien zu überlegen, wo er anfangen sollte. Yuriy wartete, musste sich stark zurückhalten, um ihm nicht einfach alle Fragen auf einmal zu stellen, die gerade durch seinen Kopf schwirrten. Oder irgendetwas sehr Falsches zu sagen, weil er wütend war und sich ausgenutzt fühlte. Warum zum Teufel hatte er auch so schnell nachgegeben, als Kai ihn an der Bar mit seinen Mörderaugen angesehen hatte? Das hatte er nun davon.

„Mein Großvater, Soichiro Hiwatari, ist der CEO von Hiwatari Enterprises”, fing Kai an und Yuriy spürte schon jetzt, wie ihm flau wurde. Das war einfach zu krass.

„Wir verstehen uns nicht gut”, sagte Kai. „Okay, das ist untertrieben. Inzwischen hassen wir uns. Offiziell gelte ich zwar noch als sein Nachfolger, aber ich glaube, er setzt gerade alles daran, um das zu verhindern.”

„Hm”, machte Yuriy. Irgendwelche Zankereien innerhalb reicher Familien waren ihm aus Prinzip egal - wenn es denn nur das wäre. Danach klang es aber nicht. Er wollte sich Kais Geschichte zumindest einmal anhören. „Was ist passiert?”

„Soichiro hat einige Leichen im Keller”, erzählte Kai. „Klar, jedes Unternehmen dieser Größe hat das, anders geht es wohl nicht. Aber ich wollte wohl immer nur das Beste darin sehen, zumindest bis zum Studium. Je mehr ich in der Uni gelernt habe, desto mehr ist mir aufgefallen, was in der Firma alles schief läuft. Und dann hat es noch einmal eine Weile gedauert, bis ich kapiert habe, dass mein Großvater überhaupt kein Problem damit hat.” Er machte eine Pause und sah über Yuriys Kopf hinweg an die Decke, schien zu überlegen, wie er fortfahren sollte. „Ich habe versucht, mit ihm darüber zu reden, aber er ist stur wie ein Esel. Und vor allem denkt er, dass niemand ihn für das, was er tut, belangen kann. Er denkt, er hätte das System - die Märkte - auf seiner Seite. Aber ganz ehrlich, wenn jemals etwas schief geht, dann gewaltig. Und zwar nicht nur für uns - da hängen tausende Arbeitsplätze auf der ganzen Welt dran. Also hab ich angefangen, aktiv zu intervenieren. Ich dachte, wenn ich ihn nur davon abhalte, sich noch mehr in diesen schmutzigen Geschäften zu verrennen, halten wir vielleicht noch etwas länger durch.” Wieder eine Pause, doch dieses Mal sagte Yuriy nichts, sondern wartete einfach ab.

Kai seufzte. „Und dann hab ich eine Sache in den Sand gesetzt. So richtig. Es ging um einen Deal in Russland - große Investition, riesige Summen, jahrelange Verhandlungen. Sollte alles noch vor der Fußball-WM dort abgewickelt werden, und deswegen waren auch alle so scharf darauf. Tja. Ich bin jedenfalls Schuld daran, dass dieser Deal nie zustande gekommen ist.”

Yuriy hob die Augenbrauen. „Hast du einen Fehler gemacht oder…?”

„Es war volle Absicht”, entgegnete Kai trocken.

Nun war Yuriys Interesse doch geweckt. Als Kai in der letzten Nacht Andeutungen ihm gegenüber gemacht hatte, war er voll und ganz davon ausgegangen, dass mit „in den Sand setzen” ein paar vergeigte Beziehungen gemeint waren. Nicht so etwas.

Er beugte sich ein Stück vor. „Und dann?”

„Der Alte war unglaublich wütend.”, sagte Kai. „Ich dachte, er setzt mich vor die Tür mit nichts als den Klamotten, die ich am Leib trage. Stattdessen hat er Ralf Jürgens angerufen und ihm gesagt, er soll mich für irgendeinen Idiotenjob in irgendeinem seiner Start-ups anstellen. Damit ich mich hocharbeite und zu schätzen lerne, was mir gegeben wurde.” Bei diesen Worten triefte seine Stimme vor Sarkasmus. „Und deswegen bin ich in Berlin.”

Sie sahen sich über den Tisch hinweg an. Yuriy wartete einen Moment, doch ihm fehlten schlichtweg die Worte. „Hat dein Großvater dir den Geldhahn zugedreht?”, fragte er schließlich, „

Kai stieß die Luft aus. „Selbstverständlich. Ich hab in Giancarlos Laden als Market Researcher angefangen. War ein Scheißjob mit einem Scheißgehalt. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich es schon zum Projektmanager gebracht hab.”

„Gut.” Yuriy hätte ihn nicht ernst nehmen können, wenn sich herausgestellt hätte, dass es sich nur um Familiengezanke bei voller Bezahlung handelte. „Ganz ehrlich”, sagte er, „Wenn das alles wahr ist, dann ist das die krasseste Geschichte, die ich jemals gehört habe. Und ich muss mir jeden Tag die Ausreden von Teenagern anhören.”

„Warte.” Kai zog nun sein eigenes Handy heraus und schien etwas im Internet zu suchen. Dann hielt er es so, dass Yuriy sehen konnte, was auf dem Display stand. „Du sprichst doch Russisch, oder?”

Yuriy nickte abwesend, seine Aufmerksamkeit war schon auf den Artikel gerichtet, den er vor sich hatte. Es handelte sich um irgendein russisches Wirtschafts-Nachrichtenportal. „Borg kappt Gelder für Großbauprojekt”, stand dort. Das Datum der Meldung lag etwa drei Jahre zurück; er las flüchtig etwas von einem Grundstück im Moskauer Zentrum und elaborierten Plänen, dort ein neues Sportstadion zu errichten. Zum Erstaunen aller Beteiligten hatte sich der größte Investor, eine Firma namens Borg, kurzfristig aus dem Projekt zurückgezogen und reines Chaos hinterlassen.

„Borg war eine Tochter von Hiwatari Enterprises”, erklärte Kai, als Yuriy ihn wieder ansah. „Sie ist bei der ganzen Aktion leider unter die Räder gekommen.” So wie er das betonte, war er nicht wirklich traurig über diesen Verlust.

Yuriy lehnte sich zurück und griff nach seiner Tasse. Der Artikel hatte Kais Erzählung tatsächlich noch einmal greifbarer, wirklicher gemacht. Wie sollte er bitteschön auf so etwas reagieren?

„Ich fasse zusammen”, sagte er schließlich betont gelassen. „Der Typ, den ich gestern an der Bar aufgerissen hab, ist in Wirklichkeit der verstoßene Erbe eines Weltkonzerns. Und warum wurde er verstoßen? Weil er heimlich einen auf Robin Hood gemacht hat.” Selbst in seinen Ohren klang das ziemlich lächerlich. Er schüttelte den Kopf. „Ich brauch gleich noch einen Schnaps, Mann. Was soll ich dazu sagen?”

„Glaubst du mir denn?”, hakte Kai nach.

Yuriy hob die Schultern. „Ganz ehrlich, ich wüsste nicht, was es dir bringt, mich mit so was anzulügen. Also ja, denke schon.”

„Danke”, sagte Kai. Er drehte seine Tasse in den Händen. „Es gibt nur sehr wenige Menschen, die diese Geschichte kennen. Nicht einmal Giancarlo weiß davon. Den meisten erzähle ich, dass ich nur ein entfernter Verwandter von Soichiro Hiwatari bin, das reicht denen dann. Aber…” Er warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Ich kann… will dich nicht anlügen. Auch auf die Gefahr hin, dass du nichts mit mir zu tun haben willst.”

Yuriy schwieg und sah ihn an. In seinem Kopf ließ er die vergangene Nacht Revue passieren. So etwas wie mit Kai war ihm schon lange nicht mehr passiert. Und auch wenn ihre Leben unterschiedlicher nicht sein könnten - aus irgendeinem Grund hatten sie sich getroffen. Hier, in dieser Stadt. Vielleicht waren sie sich vorher schon begegnet, tausendmal über den Weg gelaufen, ohne voneinander zu wissen. Sein Gefühl sagte ihm, dass Kai in Ordnung war, und auf seine Intuition hatte er sich eigentlich immer verlassen können.

Und außerdem brauchte der Junge echt Hilfe.

Yuriy seufzte und streckte den Arm in Kais Richtung aus. „Handy”, sagte er knapp, bewegte auffordernd die Finger. Kai zögerte, legte es ihm aber ohne Fragen zu stellen in die Hand. Yuriy öffnete die Kontakte, fügte einen neuen hinzu und tippte seinen Namen und seine Nummer ein. Dann schob er das Gerät zurück über den Tisch.

„Mein Nachname ist übrigens Ivanov”, sagte er.

Worte sind so nebensächlich

Er traf Takao in der japanischen Bäckerei, von der er ihm erzählt hatte. Ihre letzte Verabredung war schon ein paar Wochen her, und so war er tatsächlich ein wenig nervös. Das Gefühl verflog aber schnell, als er seinen Exfreund sah. Takao hatte die Gabe, ihn auszugleichen. Wenn Kai sich mit bloßem Sarkasmus und Sturheit durchs Leben schlug, war es Takao, der ihm zeigte, dass nicht alles um ihn herum schlimm war. Wenn hingegen Takao in ein emotionales Tief zu versinken drohte, behielt Kai einen kühlen Kopf und erinnerte ihn gern etwas schroff an seine Prioritäten. Dieses System funktionierte gut und rettete sie auch jetzt noch davor, allzu dumme Entscheidungen zu treffen.

So fand sich Kai an einem der kleinen Tische sitzend wieder, vor sich einen grünen Tee, Takao ihm gegenüber und ein warmes Melonpan in der Mitte.

„Schön, dass wir uns mal wieder sehen können”, sagte Takao und brach schon das erste Stück ab.

Kai nickte. „Finde ich auch. Wie geht es dir?”

„Alles wie immer, ehrlich. Dieselben langen Tage, derselbe Mist, den die Kinder verzapfen; derselbe latente Rassismus, wenn ich zum ersten Mal bei einer Familie auftauche, die nie damit gerechnet hätte, mal von einem Asiaten beraten werden zu müssen…” Er rollte kräftig mit den Augen, winkte dann aber ab, als er Kais besorgten Blick bemerkte. „Es ist aushaltbar, wirklich. Mit den meisten freunde ich mich an, das weißt du doch.” Während er weiter erzählte, beobachtete Kai, wie seine Finger sich bewegten, das Gebäck zerbröselten und wie die Bissen dann in seinem Mund verschwanden. Takao machte sich ganz klein beim Lachen, als müsste er es heimlich tun, das sah er hier sonst von niemandem. Irgendwann schob er ihm auffordernd den Teller hin, damit er das Melonpan nicht allein aufaß, und Kai nahm sich aus reiner Höflichkeit ein paar Krümel.

„Mein Vater ist gerade im Forschungssemester”, sagte Takao, „Hitoshi und er graben irgendwo in der Türkei einen Tempel aus. Und ich passe auf seine Wohnung auf.” Sein Vater und sein älterer Bruder waren Archäologen. Ersterer hatte eine Stelle an der Humboldt-Universität, und aus diesem Grund war auch Takao zum Studium nach Berlin gekommen. Er hatte allerdings schnell gemerkt, dass Archäologie nichts für ihn war; er wühlte nicht gern in der Erde, dafür viel lieber in den Schichten menschlicher Schicksale. Und so war er hier hängen geblieben und Streetworker geworden. Kai wusste nicht, wie er das schaffte. Manchmal erzählte Takao ihm von den Dingen, die er tagtäglich erlebte, von dem ständigen Scheitern, mit dem er angesichts von Bürokratie und unbesetzten Stellen konfrontiert wurde. Er selbst hätte unter diesen widrigen Umständen wahrscheinlich schon längst aufgegeben. Takao war da ganz anders.

„Und du?”, fragte sein Gegenüber in diesem Moment und leckte sich ungeniert die letzten Reste von den Fingern (was Kai mehr in den Bann schlug als er je zugeben würde). „Wie war's im Zentrum? Hast du Olivia Emerald getroffen?”

„Oh.” Kai war ein wenig überrumpelt, er hatte völlig vergessen, dass der andere ja von seinen Plänen wusste. „Es war… gut. Olivia ist so, wie du sie dir vorstellst. Ein bisschen übertrieben, aber sehr nett. Ich bin sicher, wenn das mit ihr und Giancarlo so weitergeht, dann kann ich euch auch mal bekannt machen.” Angesichts der Art und Weise, wie sich Takaos Gesicht aufhellte, musste Kai schmunzeln. „Giancarlo und Olivia sind schlimm, sie turteln die ganze Zeit”, fuhr er fort, „Wahrscheinlich sind sie wirklich heftig verliebt. Ralf… Naja. Er war wie immer.” Er machte eine wegwerfende Handbewegung und Takao lachte. Kai regte sich bei ihm immer gerne über Ralf und Giancarlo auf, und so wusste sein Exfreund das wichtigste über die beiden.

Er zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. „Ich habe übrigens einen Kollegen von dir im Zentrum kennengelernt.”

Takao zog die Augenbrauen hoch und griff nach seinem bisher unangetasteten Bubble Tea. „Wirklich? Wen denn?”

„Hn… Yuriy. Yuriy Ivanov?”

„Ach!” Takao nahm noch einen großen Schluck. „Lang und rothaarig, oder? Ja, den kenne ich, der ist an einer Schule unten bei mir in Neukölln. Wie bist du denn an den geraten?”

„Hmm.” Das war rückblickend eigentlich eine sehr gute Frage. „Durch Olivia. Er war der DJ an dem Abend.”

„Ich erinnere mich.” Takao zog gedankenverloren an seinem Strohhalm und es gluckerte ein wenig. „Er hat damals im Studium schon Musik gemacht. Aber Techno ist so gar nicht meins.” Dann sah er Kai wieder an, in seinen Augen lag etwas Wissendes. Er grinste. „Habt ihr gevögelt?”

Kai blinzelte. „So was fragst du mich doch sonst nicht.”

„Komm schon, Kai, ich erzähle dir auch immer alles!”

„Ja, aber ungefragt!” Seine Entrüstung war halb gespielt und Takao verstand es auch gar nicht anders. Er winkte lässig ab. „Behalt deine Geheimnisse eben für dich. Vielleicht fühle ich mich auch nur ein bisschen schlecht, weil ich die ganze Zeit meinen Spaß habe und du… du hast deine Arbeit.”

„Spaß nennst du das?”, konterte Kai, „Für mich klingt das immer alles sehr nach Drama.”

„Dass du auch immer so übertreiben musst…” Takao trank noch ein paar Schlucke Tee. „Aber zurück zum Thema”, fuhr er fort, nachdem er abgesetzt hatte, „Yuriy ist okay, soweit ich das beurteilen kann. Er hat’s nicht so leicht da an der Schule. Sie bezahlen ihn nur für eine halbe Stelle, aber ganz ehrlich, er könnte locker Vollzeit dort arbeiten. Ist blöd für die Kinder, aber ganz ehrlich, wenn ich nur noch die Hälfte meines Gehalts bekäme, würde ich mir auch zweimal überlegen, was ich schaffe und was nicht. Wahrscheinlich verdient er sich mit der Musik noch was dazu, mit der halben Stelle kommt er jedenfalls nicht weit.”

Kai hörte interessiert zu, so hatte er die Sache noch gar nicht betrachtet. Er selbst bekam auch kein überbordendes Gehalt, aber es reichte für ein bequemes Leben und vor allem für seine Wohnung im Stadtzentrum. Takao, wusste er, kam auch gut über die Runden, aber auch er hatte einen Vollzeitjob.

„Tja, ansonsten kann ich dir nicht viel über ihn erzählen”, fuhr Takao fort. „Ich meine, er ist cool, aber ich bin nie so wirklich an ihn rangekommen.” Er hob die Schultern.

„Schon gut”, entgegnete Kai, „Ich wollte dir wirklich nur davon erzählen, weil es einfach ein… krasser Zufall ist.”

„Oh!”, rief Takao und seine Augen wurden plötzlich groß, „Apropos Zufall! Rate, wenn ich im April zur Hanami gesehen habe?” Er begann eine elaborierte Erzählung, die damit endete, dass er Hiromi, einer gemeinsamen Bekannten von ihnen, über den Weg lief. Anscheinend hatten sie sich so wohl beieinander gefühlt, dass sie spontan den ganzen Nachmittag zusammen verbracht hatten. Kai hegte schon lange den Verdacht, dass die beiden sich irgendwann ernsthaft verabreden würden, daher überraschte es ihn nicht, als Takao endlich mit der Sprache herausrückte: „Ich gehe nächste Woche mit ihr ins Kino.”

„Das freut mich, wirklich”, sagte Kai, obwohl ihm der Satz in diesem Moment recht inhaltslos vorkam. Als Takao Hanami erwähnt hatte, konnte er nicht verhindern, dass Erinnerungen an sein erstes Date mit seinem Exfreund in ihm aufkamen. Er war damals noch neu in der Stadt gewesen und froh, mit Takao einen anderen Japaner kennengelernt zu haben. Sie telefonierten recht oft und manchmal traute Kai sich, den anderen ein wenig anzuflirten, was diesem auch zu gefallen schien. Und dann fragte Takao ihn eines Tages auf seine ganz eigene, direkte Art, ob er mit ihm ausgehen würde. Er meinte, er wüsste den perfekten Ort, es wäre eine Überraschung. Kai hatte sich darauf eingelassen, natürlich, Takao hatte ihn da schon komplett in den Bann geschlagen. Und so trafen sie sich an einem Samstag auf einem S-Bahnhof und Takao fuhr mit ihm weit (oder jedenfalls kam es ihm weit vor) aus der Stadt heraus. Allein der Weg war ein kleines Abenteuer, doch als sie an ihrem Ziel ankamen, wollte Kai seinen Augen nicht trauen: Dort, am Rande Berlins, gab es eine Kirschbaumallee, die damals, es war April, in voller Blüte gestanden hatte. Unter den Bäumen saßen Menschen und picknickten, fotografierten sich zwischen den Zweigen, machten Musik. Der Himmel war strahlend blau an diesem Tag, das wusste er noch, und auch alle anderen Farben erschienen ihm surreal gesättigt in seinen Erinnerungen. Takao und er hatten einen guten Platz erhaschen können und bis heute stand ihm das Bild vor Augen, wie weich das Gesicht des anderen gewirkt hatte im Schatten der rosa Blüten. Sie hatten ein wenig getrunken und noch viel mehr geredet, und es war beinahe wie in Tokio. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit hatte Kai sich gefühlt, als wäre er irgendwo angekommen… Keine Frage also, dass Takao an diesem Abend nicht zu sich nach Hause gegangen war.

Und so hatte ihre Geschichte ihren Lauf genommen, bis sie im vorletzten Herbst ihr Ende fand. Es war ein unspektakuläres Ende, und der Epilog, den sie gerade durchlebten, machte vieles leichter. Dennoch konnte Kai sich nicht gänzlich uneingeschränkt freuen, wenn Takao wieder mit jemandem etwas anfing. Dessen letzten Beziehungen, wenn man sie denn so nennen konnte, hatten immer noch wenige Wochen gedauert, aber er war kein Kind von Traurigkeit und schien sehr schnell über die jeweiligen Rückschläge hinwegzukommen. Kai wusste, es war ein fieser Wunsch, doch er hoffte heimlich, dass es seinem Exfreund zumindest ein wenig wehtat, wenn er an ihre gemeinsame Zeit zurückdachte. Denn ihm ging es ganz sicher so. Aber auch er wollte Takao nicht gänzlich hinter seine Maske blicken lassen, nicht in dieser Sache, denn er befürchtete, es würde mehr kaputt machen als alles andere.

Der Bubble Tea war leer, nur noch ein paar Tapioka-Perlen klebten an den Innenwänden des Bechers. Takao machte ein enttäuschtes Geräusch und Kai konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Na los”, sagte er versöhnlich, „Sollen wir noch ein Stück spazieren gehen? Ich habe mich noch gar nicht über die Idiotie meiner Mitmenschen bei dir ausgelassen.”
 


 

Yuriy musste seine Fahrt verlangsamen, um sich zwischen parkenden und wartenden Autos durchzuschlängeln. Er verfluchte den Mangel an Fahrradwegen, aber immerhin, er hatte es fast bis zur Schule geschafft. Die Kolonne setzte sich langsam in Bewegung, doch es reichte nicht, um den Stau, den die Ampel verursachte, komplett aufzulösen. Ganz vorn stand jetzt ein dunkler Kleinwagen, aus dem der dröhnende Bass irgendeines Deutschrap-Songs klang. Beim Näherkommen erkannte Yuriy durch die Heckscheibe die Umrisse zweier junger Frauen, wie sich ihre Hände im Rhythmus bewegten. Er grinste in sich hinein; die hatten sicher dasselbe Ziel wie er.

Als er neben ihnen hielt, dauerte es nicht lange, bis die Scheibe heruntergefahren wurde. „Hallo Herr Ivanov!” Das waren Jasmin und Debbie, die sich so ähnlich sahen, dass er sie am Anfang immer verwechselt hatte. „Morgen”, grüßte er und die beiden brachen in Kichern aus. Dann sprang die Ampel um.

Zur Rush Hour durch die Stadt zu fahren war immer so eine Sache. An jeder Kreuzung stand eine Ampel, und meistens endete es damit, dass man auch an jeder halten musste. Und so stand er einen Block weiter wieder neben seinen Schülerinnen. „Herr Ivanov”, sagte Debbie, „Jasmin hat da mal eine Frage!”

„Alter was bist du irre halt doch mal Fresse jetzt!”, rief Jasmin vom Fahrersitz aus.

„Na was denn?”, sagte Yuriy.

„Jasmin will wissen, ob Sie eine Freundin haben.” Von der Genannten kam ein wütender Aufschrei, der in aufgekratztes Kichern unterging.

Innerlich verdrehte Yuriy die Augen. „Hört auf mit dem Scheiß, ihr seid erst achtzehn”, sagte er, dann beugte er sich ein wenig herunter, um auch Jasmin ansehen zu können, die ihn prompt zuckersüß anlächelte. „Du solltest diese Frage lieber mal Cem stellen, ich weiß nämlich aus sicherer Quelle, dass der voll auf dich steht.” Die sichere Quelle war er selbst und stützte sich auf die Beobachtungen, die er während der Pausen machte.

Jasmins Augen wurden größer. „Boah, das ist voll peinlich, Herr Ivanov!”

„Wie, und mit mir flirten ist nicht peinlich?!” Manchmal verstand er nicht, nach welchen Kriterien seine Kids entschieden, was cool war und was nicht. Aber im Großen und Ganzen mochte er sie alle. Klar, die meisten hatte eine große Klappe, und manche brachten sich wirklich in dämliche Situationen, aber das war in vielen Fällen auch einfach das Ergebnis des ungerechten Systems, in dem sie lebten. Yuriy hatte selbst eine wilde Jugend hinter sich; also wer war er, dass er irgendwen verurteilen sollte? Vielen war schon mit einem offenen Ohr und einer neutralen Grundhaltung geholfen.

„Ist grün”, sagte er schließlich und stieß sich ab. Jasmin und Debbie brauchten ein paar Sekunden, um in die Gänge zu kommen, dann rauschten sie aber an ihm vorbei. „Sie sehen voll sportlich aus, Herr Ivanov!”, brüllte Debbie.

„Ab mit euch in die Schule!”, rief er ihnen hinterher.

Ein paar Stunden später saß er in seinem Büro und ging Gesprächsnotizen durch, als sein Telefon klingelte. Es war Takao. Mit einem leicht mulmigen Gefühl nahm er ab. „Hey.”

„Hi Yuriy, kurze Frage.” Takao war offensichtlich irgendwo draußen, denn man hörte sehr deutlich einige Hintergrundgeräusche. Aber das war Yuriy von ihm gewöhnt. „Ist Justus heute in der Schule? Anscheinend ist sein älterer Bruder überraschend nach Hause gekommen, und es gab prompt Ärger.”

„Verstehe.” Yuriy überlegte kurz. „Ja, ich habe ihn heute Morgen gesehen. Kam erst zur zweiten Stunde, aber immerhin. Aber du hast Recht, er sah nicht gut aus. Soll ich ihn nachher mal ansprechen?”

„Ja, vielleicht. Aber ganz diskret.” Takao seufzte. „Mann, dabei hatten wir ihn gerade davon überzeugt, dass ein Abschluss doch eine gute Sache wäre! Ich hab richtig Schiss, dass der uns jetzt wieder ständig durch die Lappen geht. Lass uns beide ein Auge auf ihn haben, okay?”

„Ja, auf jeden Fall”, bestätigte Yuriy, „Und halte mich bitte auf dem Laufenden, wenn sich in der Familie was ändert.” Er selbst kam einfach nicht an Justus’ Eltern ran, es war wie verhext. Takao hatte anscheinend einen guten Draht zu ihnen, aber dieser ältere Bruder war wirklich ein Problem. Der brachte jedes Mal, wenn er wieder auftauchte, die ganze Familie durcheinander.

„Super. Danke, Mann”, sagte Takao, „Das war’s eigentlich auch schon…”

Yuriy brummte unbestimmt, seine Gedanken verkeilten sich kurz. Dann riss er sich zusammen. „Warte mal”, sagte er schnell, „Wo wir gerade miteinander sprechen. Da ist noch was.”

„Wenn du mir jetzt gestehen willst, dass du meinen Ex abgeschleppt hast - das weiß ich schon längst.”

Yuriy blinzelte. Das kam überraschend. Er stieß die Luft aus. „Hat er dir das genauso erzählt?”

Takao lachte. „Kai? Nein, der hat nur gemeint, ihr hättet euch kennengelernt.” Die Art und Weise, wie er das letzte Wort betonte, machte deutlich, was er davon hielt. „Aber jetzt mal ehrlich - Was ist wirklich passiert?”

„Hmm…” Er wusste nicht, wo er anfangen sollte, oder wie viel er Takao überhaupt erzählen wollte. Schließlich stand Kai diesem viel näher als er selbst, und wenn er ein Geheimnis aus dem letzten Wochenende gemacht hatte, würde das schon seine Gründe haben. „Lass es mich so sagen”, meinte er schließlich, „Ich habe ihm den Hintern gerettet und so sind wir in ein sehr langes… Gespräch gekommen.”

Takao stöhnte. „Ihr habt euch gerade noch gefehlt, Mann!”, seufzte er, „Du bist genauso maulfaul wie Kai. Na das passt ja. Also was immer ihr getrieben habt, mir soll’s gleich sein. Ich find das sowieso mehr lustig als alles andere.” Er machte eine Pause, doch Yuriy wusste nicht, was er erwidern wollte, also schwieg er.

„Willst du sonst noch was wissen?”, fragte Takao.

„Ja. Sag mal, weißt du Bescheid über Kais Familie?”

Jetzt schien Takao doch überrascht zu sein. „Hat er dir etwa vom alten Soichiro erzählt? Wahnsinn, das wissen wirklich nicht viele. Du darfst dich geehrt fühlen.”

Wenn Yuriy sich irgendwie fühlte, dann verwirrt. Er hatte immer noch nicht komplett entschieden, wie er sich zu Kais Geschichte verhalten sollte. Da gab es einfach so vieles, was seinen eigenen Erfahrungen und Überzeugungen widersprach. Dennoch bereute er rückblickend nicht, wie sein Wochenende verlaufen war. Nicht im Geringsten.

„Hör mal”, fing Takao wieder an, der sein Schweigen wohl richtig gedeutet hatte. „Kai spielt in einer völlig anderen Liga als wir. Das sind komplett andere Lebenserfahrungen. Er hatte nie Geldsorgen, musste sich nie fragen, was aus ihm mal wird. Und ja, er kann ein ganz schönes Arschloch sein, weil er im Zweifel immer das tut, was für ihn selbst am besten ist. Aber!” Yuriy, der drauf und dran war, etwas zu sagen, weil er fürchtete, dass Takao sich hier in etwas verstieg, was nicht für seine Ohren bestimmt war, schloss bei diesem Wort wieder den Mund und hörte weiter zu. „Er ist ein guter Kerl in einer beschissenen Situation. Was da mit seinem Großvater passiert ist, kann ich mir auch nicht vorstellen. Aber Kai ist jetzt hier und hat wahrscheinlich das Gefühl, festzusitzen. Ich hab mir echt den Kopf darüber zerbrochen, aber irgendwie konnte ich ihm nicht helfen.”

„Ja, ich glaube auch, er ist ganz schön… unzufrieden.” Yuriy fiel kein besseres Wort ein. Takao seufzte nur laut. „Ganz ehrlich Yuriy, wenn dir irgendwas einfällt, um ihm das Leben hier schmackhaft zu machen - ich glaube, das würde echt was bringen. Ich bin schon lange mit meiner Weisheit am Ende.”

Er runzelte die Stirn. „Also wenn du jetzt denkst, dass er und ich plötzlich allerbeste Freunde sind…”

„Yuriy-” Takao unterbrach sich. Dann seufzte er noch mal. „Schon gut. Was auch immer. Ich mag Kai. Und ich finde, wenn ihr allerbeste Freunde werdet, würde ihm das vielleicht sogar ganz gut tun. Also solltest du noch mehr intime Fragen zu ihm haben - du hast meine Nummer.”

„Alles klar”, sagte Yuriy in Ermangelung einer besseren Erwiderung. Was sollte er auch auf so einen Redeschwall antworten?

Nachdem sie aufgelegt hatten, lehnte er sich zurück und legte den Kopf in den Nacken. Von der Decke, das fiel ihm erst jetzt auf, hing ein einzelner Faden aus Spinnenweben, der schon Staub eingefangen hatte. Yuriy beobachtete, wie er hin und her schwang, war aber mit den Gedanken ganz woanders.

Himmel, wo war er hier hineingeraten?

Schick gemacht, Sektpulle in der Hand

„Es gibt noch hundert andere Restaurants in dieser Gegend - Warum gehen wir immer ins White Tiger?”, fragte Kai, als er am Mittwochabend Giulia und Raoul vor seiner Haustür traf.

„Weil es nur im White Tiger einen Kellner gibt, den es sich lohnt, anzusehen”, erklärte Raoul ihm im Brustton der Überzeugung. Kai zog die Augenbrauen hoch und sah Giulia an, die nur die Schultern hob. „Raoul hat sich verguckt. Und mir hat er versprochen, dass er heute zahlt, also ist mir eigentlich egal, wo wir hingehen.”

Das erklärte natürlich alles. Kai hatte sich schon gefragt, warum die beiden sich nicht mehr nur mit dem Bier vom Späti begnügten, sondern in letzter Zeit immer gleich auf einem ganzen Abendessen bestanden. Ihm sollte es recht sein, er kochte nicht sonderlich gerne, vor allem nur für sich allein. Außerdem kannte er Rei und Lai. Aber so gut man sich mit ihnen auch unterhalten konnte, so langsam wurde es langweilig.

Für heute ließ er sich noch einmal breitschlagen, beugte sich aber kurz zu Giulias Ohr. „Wer ist denn der Glückliche? Rei?”

Sie schnaubte. „Quatsch! Es ist Lai. Hast du das nicht gemerkt?”

Absolut nicht; und Kai war auch nicht bekannt dafür, immer den neuesten Klatsch und Tratsch zu kennen, das müsste Giulia eigentlich wissen. Er schüttelte leicht den Kopf und beschleunigte seine Schritte, denn Raoul war inzwischen schon weiter vorausgeeilt.

Es ging jetzt auf Ende Mai zu. Die Tage wurden immer länger und Regen war selten geworden. Die Sonne strahlte ungehindert auf Straßen und Häuser, die abends ihre Wärme abgaben, sodass sie ohne Jacken draußen sitzen konnten. Die Restaurants hatten Fenster und Türen geöffnet und das Leben zog wieder auf die Straße, wo es den ganzen Sommer über bleiben würde. Man konnte auf dem Gehweg kaum geradeaus gehen, ständig musste man Tischen, Stühlen und Menschen ausweichen.

Auch das White Tiger hatte noch ein paar Sitzgelegenheiten mehr nach draußen gestellt. Dort war jedoch schon alles besetzt, weshalb sie sich von Rei drinnen eine ruhige Ecke zuweisen ließen. Lai war auch da; Kai sah ihn flüchtig auf der anderen Seite des Raumes hin und her eilen. Wahrscheinlich hatte er sie noch gar nicht bemerkt. Raoul hingegen starrte schon sehr ungeniert. Er und Giulia setzten sich mit dem Rücken zur Wand, sodass sie das Geschehen gut im Blick hatten (Giulia beobachtete einfach gern Leute). Kai saß ihnen gegenüber, was ihm aber ganz Recht war, denn er wollte wirklich nur essen und wieder gehen. Sein Tag war lang gewesen, wie schon die ganze Woche, und er sehnte sich nach seinem Bett. Anscheinend war auch sein Körper nicht mehr an das Feiern gewöhnt, denn ihm war, als spürte er den Schlafmangel vom Wochenende noch immer.

„Wunderschönen guten Abend!” Eine Hand tauchte in Kais Blickfeld auf und legte Speisekarten auf den Tisch. Er wollte sich nickend bedanken, als sein Blick an dem dazugehörigen Unterarm hängen blieb, über den sich die bunten Flächen einer Tätowierung zogen. Er erkannte ein paar Sterne, die Umrisse eines Sputniks und am Handgelenk ein Play/Pause-Zeichen. Diese Motive kamen ihm auf einmal erschreckend bekannt vor.

Er zuckte zurück und drehte sich um. „Yuriy!”

Es war tatsächlich der Rothaarige, der hinter ihm stand und ihn angrinste. Offensichtlich hatte er ihn schon wesentlich früher bemerkt und sich einen Spaß daraus gemacht, ihn nicht sofort anzusprechen. Kai musterte ihn flüchtig; er trug ein schwarzes Hemd und eine einfache, ebenfalls schwarze Hose und sah grundsätzlich weniger wild aus als im Club. An seinem Gürtel hing eines der Smartphones, die die Kellner hier für die Aufnahme der Bestellungen benutzten.

„Wie viele Jobs hast du eigentlich?”, fragte Kai, dem auf die Schnelle nichts Besseres einfiel.

„Im Augenblick drei”, entgegnete Yuriy, „Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.”

Zu behaupten, diese Begegnung überrumpelte Kai, wäre eine Untertreibung. Verwirrt stellte er fest, dass Yuriy ihn auch im nüchternen Zustand völlig vereinnahmen konnte. Er freute sich, ihn zu sehen, natürlich - gleichzeitig machte es ihn nervös, und wenn er an das Wochenende zurückdachte, fühlte er sich auch ein wenig peinlich berührt. Es war einfach zu viel in zu kurzer Zeit zwischen ihnen passiert, als dass Yuriy jetzt einfach so aus heiterem Himmel vor ihm stehen konnte. Er hoffte, dass es seinem Gegenüber wenigstens auch ein bisschen so ging - wenn, dann sah man es ihm nicht an. Doch auch Kai wäre nicht Kai, wenn er sich seine Unsicherheit auch nur im Geringsten anmerken lassen würde.

„Findest du nicht, dass du in einem Irish Pub besser aufgehoben wärst?”, stichelte er.

Yuriy verdrehte die Augen. „Rate mal, wie oft ich mir den Spruch schon anhören durfte.”

„Bestimmt nicht so oft wie Bitte, bitte stiehl mir nicht meine Seele!

„Richtig. Aber fast so oft wie Bist du untenrum eigentlich auch rothaarig?” Angesichts von Kais pikierter Miene, die er bei diesen Worten aufsetzte, grinste Yuriy selbstgefällig, dann ließ er den Blick über Giulia und Raoul schweifen. „Sorry. Wir kennen uns.”

„Kein Ding.” Giulia lächelte Yuriy breit an, und Kai ahnte, dass sie wohl gern die Antwort auf die letzte Frage gewusst hätte.

Yuriy griff resolut nach dem Smartphone. „Okay, wollt ihr schon was?” Dank ihrer vielen Besuche kannten Kai, Giulia und Raoul die Karte wahrscheinlich besser als er. Es war klar, dass er noch nicht lange hier arbeitete, denn er brauchte eine Weile, um alles zu finden. Nach ein paar Minuten hatten sie schließlich alles bestellt und Yuriy zog weiter zum nächsten Tisch.

Er war kaum weg, als Giulia sich schon vorbeugte. „Okay, Kai”, raunte sie, „Wer ist das, woher kennst du ihn und warum flirtet ihr so hart?”

Kai hob eine Augenbraue, was am ehesten der letzten Frage galt. „Yuriy ist nebenbei DJ. Er hat am Samstag im Club aufgelegt.”

Giulias Mund formte ein fast perfektes O und auch Raoul, der sich einmal mehr im Raum umgesehen hatte, wandte sich nun dem Gespräch zu. „Du hast den DJ klargemacht?!”

„Und wenn es so wäre, das geht euch nichts an”, sagte Kai und seufzte, weil er ahnte, dass es damit nicht getan war. „Giancarlos Neuer hat uns vorgestellt, und später sind wir ins Gespräch gekommen, weil ich Brooklyn abschütteln musste.”

In diesem Moment tauchte Lai auf, um ihnen ihre Getränke zu bringen. Seine Augen waren auf Raoul fixiert, dessen Bewegungen auf einmal sehr fahrig wurden. Beinahe blind stellte Lai ihnen die Gläser hin. „Bitteschön”, sagte er zu Raoul, der ihn anstrahlte. Giulia und Kai warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Als Lai wieder ging, verfolgte Raoul jede seiner Bewegungen und Kai war sich sicher, zu wissen, wo genau er hinsah. Kurz fragte er sich, ob Yuriy bereitwillig mit ihm getauscht hatte, damit sein Kollege mit Raoul flirten konnte.

„Sag das nochmal, Kai”, fing Giulia wieder an. „Du hast Brooklyn Masefield im Club getroffen? Den Ex von Garland?”

„Ja, genau den.”

Auf einmal wirkte sie alarmiert. „Hat er dich angegraben?”

„Hm. Keine Ahnung, was er wollte. Wieso fragst du?”

Giulia zögerte und drehte ihr Glas auf der Tischplatte. Sie schien zu überlegen, was sie sagen konnte und was nicht. Kai erinnerte sich, dass sie sich ganz gut mit Garland verstand; die beiden gingen öfter zusammen in die Mittagspause.

„Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll”, sagte sie. „Garland hat mir ein paar Dinge über ihn erzählt, und um es kurz zu machen, das klang schon ein wenig seltsam. Ich glaube, der ist irgendwie komisch drauf.”

Kai brummte. „Da war nichts”, sagte er. „Und außerdem… Ich weiß, du magst Garland, aber er ist auch nicht ganz ohne.” Garland war grundsätzlich sehr entspannt, konnte aber, wenn es denn einmal dazu kam, richtiggehend jähzornig werden. Wahrscheinlich war er einfach nicht sehr stressresistent. Ein oder zwei ihrer Praktikantinnen hatten das schon am eigenen Leib erfahren müssen.

Giulia machte eine flüchtige Bewegung mit der Hand. „Ich weiß. Und seit er nicht mehr mit Brooklyn zusammen ist, ist es schlimmer geworden. Wusstest du, dass die beiden noch in derselben Wohnung leben?”

Er schüttelte den Kopf und nahm endlich einen Schluck von seinem Tee. Ihn interessierte wirklich nicht, was sein Kollege für Probleme hatte. Flüchtig sah er über die Schulter zurück, doch Yuriy war nirgends zu sehen. Verdammt, es war komisch, ihn im Rücken zu wissen.

Giulia hingegen war fest entschlossen, ihn in den neuesten Klatsch einzuweihen. „Garland findet einfach keine neue Wohnung. Er will unbedingt im Prenzlauer Berg bleiben, aber dort ist es gerade besonders schwierig”, erzählte sie. „Deswegen sitzt er bei Brooklyn fest. Zwar behauptet er immer, dass sie gut miteinander klarkommen, aber ganz ehrlich, ihre Definition von gut ist auch weitab von der Norm. Was bei den beiden abgeht… das ist nicht gesund.”

„Wieso, was ist denn da los?”, fragte Raoul neugierig.

„Ach, es gibt da ein paar unschöne Geschichten. Brooklyn kann, glaube ich, richtig übel eifersüchtig werden. Aber Garland macht auch gern Drama. Die beiden müssen sich die Hälfte ihrer Zeit nur angeschrien haben.”

„Vielleicht stehen sie drauf”, meinte Kai leichthin. Flüchtig dachte er an ihre Begegnung im Zentrum zurück; Brooklyn hatte definitiv einen an der Waffel, war ihm aber doch recht harmlos erschienen. Allerdings hatten sie auch nicht länger als eine Viertelstunde miteinander gesprochen, also was wusste er schon.

Es war schon alles gut, so, wie es gelaufen war.
 

„Psst, Yuriy!”

Er war gerade zum Tresen zurückgekommen, immer noch grinsend aufgrund von Kais Gesichtsausdruck, als Lai ihn in eine dunkle Ecke winkte. Verwundert trat er näher. „Alles klar bei dir?”

„Das ist er!”, zischte Lai. Yuriy wollte schon fragen, wen er meinte, da sprach er weiter: „Der Spanier!”

„Hä, wo?”

In diesem Moment stieß auch Rei zu ihnen, der sich über Lais Gebaren genauso amüsierte wie Yuriy. „An deinem Tisch”, erklärte er.

„Ach!” Yuriy machte einen langen Hals, wurde aber schnell von Lai wieder zurückgezogen. „Das ist dein Angebeteter?”, raunte er.

„Ja doch! Sag mal, kennt ihr euch?”, fragte Lai.

„Ich kenne nur Kai, und das auch erst seit letztem Wochenende.”

„Oh”, machte Rei, „Ich hab mich schon gewundert, warum ihr so vertraut miteinander seid.”

Yuriy runzelte die Stirn und wollte etwas erwidern, doch da seufzte Lai schwer. „Mist. Und ich dachte, ich finde endlich einen Grund... „ Er blickte Yuriy traurig an. „Können wir wenigstens die Tische tauschen?”

Der winkte ab. „Tu was du nicht lassen kannst. Sieh mal, da sind schon ihre Getränke, kannst gleich loslegen.” Lais betrübte Miene hellte sich schlagartig auf. Mit neuem Elan nahm er das Tablett und rauschte zu dem Tisch davon, an dem Kai und die beiden Spanier saßen. Rei und Yuriy sahen ihm feixend hinterher.

„Schade eigentlich”, meinte Rei, „Ich gönne es ihm, dass sie sich näher kommen. Der Kleine scheint ja auch nicht abgeneigt zu sein.”

„Aber was hält ihn denn dann ab?”, fragte Yuriy.

„Ich glaube, Lai fällt einfach kein Grund ein, ihn ordentlich anzusprechen. Und außerdem kriegt er wohl immer Blackouts, wenn der Kleine ihn anguckt. Es ist schon fast nicht mehr schön.”

Yuriy brummte. Wenn Lai so weiter machte, kam er nie an den Spanier ran, das konnte auch ein Blinder sehen. Dabei hatte Rei durchaus Recht; der andere sandte ihrem Freund eindeutige Signale.

„Sag mal”, meinte er nach einer Weile an Rei gewandt, „Ihr habt doch Freitagabend gerade immer frei, oder?”

Nachdem er Rei seinen Plan unterbreitet und seinen Segen bekommen hatte, kümmerte Yuriy sich wieder um ihre Gäste. Es war ganz schön hektisch und er wusste, dass Onkel Stan ihn beobachtete. Der Alte kannte ihn vielleicht schon seit seiner Kindheit, doch das hieß nicht, dass er ihm blind vertraute. Er musste sich ranhalten, wenn er einen guten Eindruck hinterlassen wollte.

Dass Rei Kai kannte hatte ihn überrascht, aber nach allem, was in den letzten Tagen passiert war, wunderte ihn eigentlich nichts mehr. Und sie schienen nun auch nicht beste Freunde zu sein; jedenfalls sahen sie sich außerhalb des Restaurants wohl nie. Also was soll’s. Im Vorbeigehen warf er ein ums andere Mal flüchtige Blicke auf Kais Rücken, doch wenn der ihn auch ansah, so verpassten sie sich. Yuriy war nur halb so selbstsicher wie er sich gab, in Wirklichkeit machte Kais Anwesenheit ihn nervös. Er hatte nicht damit gerechnet, ihn so früh wieder zu treffen. Das Telefonat mit Takao Anfang der Woche hatte ihn nachdenklicher gestimmt als ihm lieb war. Also war sein abschließendes Urteil über den anderen noch lange nicht gefällt. Dennoch hatte er ihren kleinen Schlagabtausch vorhin genossen, es war sofort wieder ein Gefühl von Vertrautheit zwischen ihnen gewesen. Und ihm war erschreckend schnell klar geworden, dass er nichts dagegen hatte, mehr Zeit mit Kai zu verbringen. Was ihn schlussendlich auch auf die Idee gebracht hatte, die er ihm und seiner Begleitung unterbreiten wollte.

Er passte Lai ab, als dieser den dreien ihre Rechnung bringen wollte. „Lass mich abkassieren”, sagte er. Lai runzelte die Stirn und Yuriy hob die Hände. „Vertrau mir, ich hab da was vor.” Dann nahm er ihm das Kartenlesegerät ab und lief zu Kai und den anderen hinüber. Das Restaurant hatte sich inzwischen geleert, und so zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich. „Hey! Getrennt oder zusammen?”

„Du schon wieder.” Kai schmunzelte, warf einen Blick auf die Rechnung und reichte ihm seine Karte. „Zusammen.”

Yuriy nickte und schob die Karte ins Lesegerät, das wie immer eine Weile brauchen würde, um den Betrag zu verbuchen. Währenddessen drückte Lais Angebeteter Kai ein paar Scheine in die Hand.

„Also”, fing Yuriy an, „Was macht ihr am Freitagabend?”

„After Work im Büro”, sagte Kai und verdrehte vielsagend die Augen, „Aber das geht nicht so lang. Wieso fragst du?”

Das Gerät spuckte die Quittung aus und Yuriy riss sie schwungvoll ab, um sie Kai, zusammen mit dessen Karte, zu geben. „Ich bin mit einem Kollegen von Ostblocc verabredet”, erklärte er dann, „Wir machen eine kleine Drum and Bass Session bei ihm zu Hause und haben ein paar Leute eingeladen. Wollt ihr nicht auch kommen?” Dabei sah er direkt den Spanier an. Dieser verzog ein wenig das Gesicht. „Das ist ja nett, aber elektronische Musik ist so gar nicht meins…”

„Ich bin ziemlich sicher, Rei und Lai sind auch da”, sagte Yuriy.

„Oh! Wir kommen!”

Na bitte, geht doch, dachte er und sah nun wieder Kai an. „Du auch?”

„Naja”, schaltete sich die Frau ein, die wohl sofort Kais Zögern bemerkt hatte. „Wir können ja schlecht dort auftauchen, wenn wir noch niemanden kennen. Also musst du wohl mitkommen, Kai.” Dieser hatte den Mund geöffnet, schloss ihn aber nach einem Blick in die Runde wieder und zuckte nur mit den Schultern. „Meinetwegen.”

„Cool.” Yuriy stand auf. „Das ist in Neukölln, ich schicke dir die Adresse.”

„Warte mal.” Kai rollte einen der Geldscheine in seiner Hand zusammen und streckte den Arm aus, um ihn in Yuriys Hosentasche zu schieben. „Für den Service”, sagte er mit einem frechen Grinsen.

„Fick dich”, sagte Yuriy freundlich. „Wir sehen uns Freitag.”
 


 

Das freitägliche After-Work-Treffen im größten ihrer Konferenzräume war unnötig und nervig, aber Giancarlo und der Rest des oberen Managements bestanden darauf. Die meisten Mitarbeitenden erschienen brav jede Woche, fanden es wahrscheinlich sogar lustig. Kaum jemand hatte Familie, ein Großteil der Belegschaft war jung und zugezogen und knüpfte außerhalb des Büros sowieso kaum Freundschaften. Sie arbeiteten zusammen, sie gingen zusammen feiern, sie landeten miteinander im Bett. Sie wechselten den Arbeitgeber und trafen über kurz oder lang immer wieder auf dieselben Leute. Die Berliner Start-up-Szene war klein und sehr intim.

Kai kam als einer der letzten in den Raum und nahm sich ein Bier aus einem der Kästen, die wie immer neben der Tür gestapelt waren. Nach dem offiziellen Teil gab es meistens Pizza; wahrscheinlich machten sie den Lieferanten ihres Vertrauens gerade reich. Inzwischen hing ihm das Zeug schon zum Halse raus, aber da er heute nicht wie gewohnt nach Hause gehen würde, kam er nicht darum herum. Zuvor musste er allerdings Giancarlos Ansprache über sich ergehen lassen.

Wie immer berichtete ihr CEO überschwänglich von allen noch so kleinen Fortschritten, die sie gemacht hatten: Soundso viele neue Mitglieder, Klicks und Downloads. Soundso viel Umsatz mit Bezahlservices, die nun endlich freigeschaltet worden waren. Auf den ersten Blick sah alles sehr gut aus; viel interessanter war allerdings, was nicht zur Sprache kam. Was war eigentlich aus der letzten Finanzierungsrunde geworden? Wie hoch war ihr Marktanteil, ihre Beliebtheit? In Kai keimte der Verdacht, dass vielleicht nicht alles so rosig war, wie es schien, doch es war noch zu früh, um das gänzlich beurteilen zu können. Also lehnte er sich nur still an die Wand und trank sein Bier.

Etwa eine Stunde später befand er, dass es nun nicht mehr unhöflich war, zu verschwinden. Er sah sich nach Giulia um, mit der er gemeinsam nach Neukölln fahren wollte. Mit ein bisschen Glück würden sie Raoul in der U-Bahn, allerspätestens aber an der Hermannstraße treffen.

Sie saß in einer Ecke, zu seinem Leidwesen mit Garland, der ihr mal wieder sein Herz auszuschütten schien. Jedenfalls wirkte ihre Unterhaltung recht ernst. Erst als Kai schon direkt vor ihnen stand, sahen beide zu ihm auf. „Wir müssen los”, sagte er zu Giulia.

„Oh, alles klar”, entgegnete sie. „Meinst du, Garland kann mitkommen?”

„Hm?” Er hob eine Augenbraue, während Giulia schon aufstand und ihre Flasche auf dem Tisch abstellte. Sie beugte sich zu ihm. „Bitte, Kai, er hat schon wieder Ärger mit Brooklyn und keinen Bock, nach Hause zu gehen.”

Kai brummte. „Macht doch was ihr wollt.” Yuriy und die anderen würden wahrscheinlich sowieso nichts dagegen haben, in dieser Stadt schienen House Partys generell unter dem Motto „je mehr, desto besser” zu laufen.

Sie klauten noch ein paar Flaschen Bier, für die Fahrt und als Mitbringsel, dann machten sie sich auf den Weg. In der U-Bahn saß Kai den anderen beiden gegenüber und beobachtete Garland. Sie kannten sich nicht allzu gut; Garland war Scrum Master und arbeitete gerade an einer ganz anderen Sache als Kai. Zusammen mit seinem Entwicklerteam steckte er irgendwo im Keller fest, während Kai in der dritten Etage arbeitete. Aber auch im privaten Bereich waren sie bisher über ein wenig Smalltalk und diesen einen Abend bei Garland zu Hause nicht hinausgekommen. Er hatte ja nicht einmal von seiner missglückten Beziehung gewusst. Doch wenn er ehrlich war, so sah sein Kollege durchaus mitgenommen aus. Vermutlich schlief er zu wenig, vielleicht feierte er auch ein bisschen zu hart - jedenfalls wirkte er ausgezehrt, aber trotzdem hungrig nach dem nächsten Kick. Es war irgendwie seltsam, ihn so zu sehen, denn Kai hatte Garland immer als zurückhaltend eingeschätzt. Ob das nur eine Maske war, die er für die Arbeit aufsetzte?

Sie mussten einmal umsteigen, sammelten dabei Raoul ein und kamen nach einer halben Stunde endlich bei ihrem Ziel an. Yuriy hatte Kai die Adresse am Vorabend geschickt, gleich mit dem Hinweis, dass die Wohnung im Hinterhaus lag und wo er klingeln musste. Das Gebäude war eines, bei dem durch mehrere Renovierungen nichts mehr von der ursprünglichen Dekoration geblieben war, und so gingen sie zunächst durch das karge, kalt beleuchtete Vorderhaus und über einen winzigen Innenhof, in dem für nichts Platz war als einem Haufen Fahrräder und ein paar Mülltonnen. Das Hinterhaus war noch unscheinbarer, und wären die Klingelschilder nicht beleuchtet, hätten sie nicht einmal die gefunden. Von weiter oben schallte aber schon Musik zu ihnen herunter, die Bestätigung, dass sie hier richtig waren.

Kai klingelte bei „Melek/Papov” und nach ein paar Sekunden knackte es in der Gegensprechanlage. „Vierter Stock!” Dann summte die Tür und er stieß sie auf. Natürlich gab es keinen Fahrstuhl, und so quälten sie sich die steile Treppe hinauf. Je höher sie kamen, desto lauter wurde die Musik, was die anderen Hausbewohner allerdings nicht zu stören schien. In der vierten Etage stand eine Tür offen, doch niemand war da, um sie zu begrüßen. Sie traten in eine recht typische Studierenden-WG ein: Im Eingangsbereich ein ungeordneter Berg Schuhe und Jacken, dann ein langer, schmaler Flur, der in ein Zimmer führte, aus dem Stimmengewirr zu ihnen herüber schallte. Dort musste auch der Ursprung der Musik liegen.

„Hey.” Aus einem der anderen Räume kam eine zierliche Frau mit rosa gefärbten Haaren. Kai erinnerte sich, sie im Zentrum gesehen zu haben, sie erkannte ihn jedoch nicht wieder. „Ich bin Mathilda. Zu wem gehört ihr?”

„Yuriy hat uns eingeladen. Ich bin Kai.” Auch die anderen stellten sich vor und Mathilda nickte. Ihre Augen blieben kurz an Kai hängen und sie murmelte ein leises „Aaah”. Dann winkte sie sie mit sich. „Getränke gibt’s in der Küche. Hier ist das Bad. Yuriy und Vanja sind schon voll dabei, nehmt euch was zu trinken und geht einfach nach hinten durch.”

Kaum waren sie wieder allein griff Giulia nach Kais Arm. „Die ist ja niedlich!”, flüsterte sie.

„Sie ist auch ein Mitglied von Ostblocc”, erzählte Kai, „Hat am Wochenende mit Yuriy zusammen aufgelegt… Was zur Hölle ist das?”, fragte er, da in diesem Moment ein böser Bass durch die Wohnung schallte. Er war wohl nicht der einzige, der davon überrascht war, denn die Stimmen wurden lauter und jemand sagte sehr deutlich „Vanja!” Was aber nicht hieß, dass die Musik sich änderte.

Als sie in das abgedunkelte Zimmer traten, hatte Kai zunächst einige Schwierigkeiten, Details zu erkennen. Das Fenster musste offen sein, denn ihm strömte kalte Luft, gemischt mit dem Geruch von Zigarettenrauch, entgegen. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das gedimmte Licht. Schräg gegenüber stand ein Sofa an der Wand, auf dem, wie Kai in diesem Moment erkannte, Boris saß und sich mit einem weiteren Typen unterhielt, der noch einmal größer und breiter war als er. Die Mitte des Raumes war leer bis auf einen dunklen Teppich, auf dem weitere Leute saßen. Kai sah Lai und Rei, die ihm kurz zuwinkten (Lai fixierte einen Punkt links von ihm und Kai war sich sicher, dass Raoul dort stand). Auf dem Fensterbrett hockte eine Frau mit sehr langen Haaren und rauchte. Ihre Gestalt hob sich vom noch immer hellen Himmel ab, über den nur sehr langsam die Nachtschwärze nach unten kroch. Überall standen leere Gläser und Flaschen, anscheinend hatten sie hier früh begonnen. In der Ecke neben dem Fenster entdeckte Kai schließlich den Ursprung der Musik, denn dort war ein kleines DJ-Pult aufgebaut, dessen verschiedene Regler bunt leuchteten. Es war mit einem Laptop und mehreren Boxen verbunden. Der Monitor warf kaltes Licht auf Yuriys Gesicht, der sich in diesem Moment vorgebeugt hatte und nebenbei etwas zu seinem Kollegen sagte. Das musste dann wohl Ivan sein, ein sehr kleiner Typ, dessen Stimme aber bis zu ihnen durchdrang, als er nun etwas erwiderte. Wie sie so direkt nebeneinander standen, mutete der Größenunterschied der beiden DJs beinahe grotesk an.

„Hey Vanja, hör auf, ständig Noisia zu mixen und lass Yuriy ans Pult!”, rief die Frau am Fenster in diesem Moment.

„Aber Yuriy macht immer so Gute-Laune-Mucke, das nervt!”, brüllte Ivan zurück und kassierte dafür einen Hieb von dem Genannten. Dann streckte er jedoch die Hand aus und drehte seinen Track herunter. Auch Yuriy fing nun an, ein paar Regler zu betätigen, und nach einer kurzen Übergangsphase wich der Bass hellen Synthesizer-Klängen, während der typische Beat des D’n‘B erhalten blieb. Ivan verzog das Gesicht. Er hatte durchaus Recht: Die Klangwelt wandelte sich von aggressiv zu energetisch. Yuriy allerdings achtete schon nicht mehr auf ihn. Er schien ganz in seinem Element und bewegte sich ein wenig im Rhythmus der Musik hin und her. Zwischen seinen Fingern glomm eine Zigarette auf, an der er zwischendurch immer mal wieder zog.

„Hi Kai.” Rei war aufgestanden und zu ihnen herüber gekommen. „Super, dass du auch da bist! Wollt ihr euch zu uns setzen?”

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Raoul heftig nickte. „Ich komme gleich”, sagte er, „Will noch kurz zu Yuriy.” Er stieß Garland in die Seite, dessen Blick, wie er erst jetzt bemerkte, immer noch an dem Genannten hing. „Komm mit, ich stell dich vor.” Gemeinsam gingen sie zum Pult. Yuriy sah erst auf, als Kai direkt vor ihm stand, doch sein Gesichtsausdruck wandelte sich beinahe sofort. „Hey”, sagte er langgezogen und ehe Kai reagieren konnte, hatte er ihn umarmt. „Schön dich zu sehen!”

„Ja… gleichfalls”, murmelte er und war sich sicher, dass Yuriy ihn dank der Musik nicht hören konnte. Er räusperte sich und beugte sich zu seinem Ohr. „Das ist Garland, ein Kollege von mir.”

„Hey, Mann.” Yuriy nickte ihm kurz zu und sie schlugen ein. Falls ihm auffiel, dass Garland ihn noch immer ansah, als wäre er eine Erscheinung, dann ließ er sich das nicht anmerken. Kai war an seiner statt irritiert und bereute langsam, Giulia gegenüber so schnell nachgegeben zu haben.

„Seit wann seid ihr heute schon dabei?”, fragte er schließlich und beschloss, Garland ebenfalls einfach zu ignorieren.

„Seit sechs oder so”, rief Yuriy zurück, den es im Gegensatz zu Kai kein bisschen zu stören schien, dass er ständig die Musik übertönen musste. Kai sah, wie Ivan die Gelegenheit nutzte und wieder näher an den Controller trat, während Yuriy noch mit ihm beschäftigt war. Doch das schien diesem ganz gelegen zu kommen. „Ich könnte mal eine Pause vertragen”, sagte er, „Kennst du die anderen schon?”

Kai schüttelte den Kopf.

„Okay, da am Fenster ist Salima, die ist auch bei Ostblocc. Neben Boris ist Sergeij, der hat bei uns um die Ecke eine Autowerkstatt. Wahrscheinlich reden die beiden schon wieder nur über Karren. Nicht zu empfehlen. Über Vanja brauchen wir nicht sprechen, der ist nervig.”

„Fick dich!”, rief Ivan.

„Rei und Lai kennst du ja… und Mathilda? Die solltest du eigentlich im Zentrum gesehen haben.” Er sah sich noch einmal um, wie um sich zu vergewissern, ob er niemanden vergessen hatte. „Ich glaube, später kommen noch ein paar mehr.” Während er sprach hatten sie sich vom DJ-Pult wegbewegt und somit auch Garland zurückgelassen. Kai fragte sich, ob das Absicht war, doch in diesem Moment standen plötzlich Boris und Sergeij neben ihnen. Boris bot ihm die Hand und sie schlugen ein, als würden sie sich schon ewig kennen. „Wir wollen mit Salima aufs Dach, bisschen rauchen”, erklärte Boris dann, „Kommt ihr mit?”

„Klar”, sagte Yuriy, bevor Kai auch nur reagieren konnte. Er hatte allerdings auch nichts dagegen, den anderen zu folgen; ein bisschen frische Luft würde nach einem Tag wie diesem gut tun.

Während die anderen sich schon ihre Schuhe anzogen, machte Yuriy noch einen kleinen Abstecher in die Küche und kam mit einer Flasche Sekt zurück.

„Gibt’s was zu feiern?”, fragte Kai amüsiert, kassierte aber nur einen Blick, der sich jede Frage dieser Art verbat. Sie stiegen noch zwei Stockwerke höher, Salima ging voran und schloss die Tür zum Dachboden auf. Von dort gelangten sie durch ein Fenster auf das Mansarddach, das oben abgeflacht war und zu beiden Seiten schräg abfiel. Die Häuser hier waren alle ehemalige Wohnkasernen, und so folgte in einer endlosen Reihung Dach auf Dach, getrennt durch Schornsteine. Der Innenhof lag zu ihrer Linken, rechts war die Straße. Wie immer war der Blick auf den Fernsehturm unverstellt. Der Himmel war groß über ihnen, spannte sich von Horizont zu Horizont, irgendwo in seiner Mitte hingen der Mond und zwei, drei der hellsten Sterne. Nur im Westen, direkt vor ihnen, leuchtete der letzte Rest Blau.

Es dauerte keine zwei Minuten, bis der Geruch von Gras in Kais Nase stieg. Boris, Sergeij und Salima setzten sich an die Kante des Daches und blickten nach Norden zum Stadtzentrum, während sie den Joint kreisen ließen. Yuriy nestelte an der Sektflasche herum, bis sich der Korken mit einem lauten Ploppen löste und in die Dunkelheit flog. Dann winkte er Kai heran und sie nahmen neben Boris’ Platz. Den Joint lehnte Kai ab, aber von dem Sekt nahm er einen Schluck. Es war seltsam, ihn direkt aus der Flasche zu trinken, aber irgendwie schien das hier Gang und Gäbe zu sein. Ein kühler Wind wehte ihnen entgegen und für eine Weile waren sie alle still. Die Musik von ihrer Party war noch immer zu hören; anscheinend hatte Ivan wieder komplett die Kontrolle übernommen. Dann finden Salima und Sergeij an, leise zu reden, kurz darauf fiel Boris mit ein.

Kai saß so dicht neben Yuriy, dass ihre Schultern sich berührten. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie hatten sich nicht geschrieben und auch sonst nicht unterhalten, weder vor noch nach ihrem Treffen am Mittwoch. Trotzdem war das Schweigen zwischen ihnen nicht unangenehm.

„Seid ihr immer so?”, fragte er irgendwann, als die Flasche einmal mehr an ihm vorbeiwanderte und er sie an Yuriy zurückgab.

„Was meinst du?”, entgegnete der.

„Naja, so… so!” Kai machte eine knappe Geste, die alles mit einschloss: Die Musik, die irgendwie niemanden in der näheren Umgebung zu stören schien; die Tatsache, dass sie auf einem Hausdach saßen, als gehörte ihnen der ganze verdammte Kiez; der billige Sekt, der viel schneller in den Kopf stieg als gut sein konnte. Ob Yuriy ihn verstand, wusste er nicht, doch er sah mit seinen geduldigen, hellen Augen auf Kai hinab und drückte ihm noch einmal die Flasche in die Hand. Dann breitete er die Arme aus. „Sieh es dir an, Simba”, sagte er theatralisch. „Das ist unser Königreich. Alles, was das Licht berührt.”

„Boah Yuriy du kriegst keinen Zug mehr”, kommentierte Boris.

„Wow! Also dann gehört das alles uns?”, rief Salima in der gleichen dramatischen Stimmlage.

„Alles was das Licht berührt!”, sagte Yuriy.

Kai schmunzelte. „Und was ist mit dem schattigen Land dort drüben?”

Yuriy ließ die Arme sinken und sah ihn ernst an. „Das ist Spandau”, antwortete er mit sehr tiefer Stimme. „Das liegt jenseits unserer Grenze. Dort darfst du niemals hin.”

Jeder Weg führt wieder hierher

Boris, Sergeij und Salima waren schon wieder nach unten gegangen. Yuriy hatte sich anders hingesetzt, die Beine angezogen, damit er Kai direkt ansehen konnte. Die fast leere Sektflasche stand zwischen ihnen. Er spürte, wie langsam die beruhigende Wirkung des Grases einsetzte und die Nervosität vertrieb, die manchmal von ihm Besitz ergriff. Zusammen mit Alkohol konnte der Effekt überwältigend sein, aber der Tag bisher war gut verlaufen, und so fühlte er sich auf der sicheren Seite.

Er betrachtete Kai und versuchte einmal mehr, zu ergründen, was er von ihm hielt. Ihm gefiel was er sah, natürlich, und es ließ sich nicht leugnen, dass eine gewisse Spannung zwischen ihnen herrschte, die ihn ständig dazu verleitete, spitzfindige Bemerkungen zu machen. Manchmal gab es Momente, in denen sie sich ohne Worte verstehen konnten - das wiederum war ihm ein wenig unheimlich. Er ahnte, dass Kai und er ähnlich tickten, wenn sie auch auf ganz unterschiedliche Erfahrungen zurückgriffen.

Und darüber hinaus? Yuriy fragte sich, ob er ihm vertrauen konnte. Kai hatte ihm bisher keinen Grund gegeben, es nicht zu tun. Trotzdem: Hinter seinem eigenen freundlichen Gebaren und seinen Flirts stand Wachsamkeit. So sympathisch ihm der andere auch war, er hatte nichts von dem vergessen, was Takao ihm erzählt hatte.

„Eine Sache ist mir nicht ganz klar, weißt du”, sagte er schließlich. Kai drehte den Kopf zu ihm, seine Augen wie dunkle Abgründe in seinem Gesicht und trotzdem klar, auch wenn er schon etwas angetrunken sein musste.

„Du hast gesagt, du weißt nicht, ob du noch lange hier bleiben willst”, fuhr Yuriy fort, „Aber wohin würdest du gehen wollen? Etwa wieder zu deinem Großvater?”

Anstatt zu antworten griff Kai nach der Flasche und nahm noch einen Schluck. Dann hielt er sie auf dem Schoß fest. „Ja, wahrscheinlich schon”, sagte er leise.

„Ich dachte, ihr hasst euch.”

„Oh ja.” Kai verzog den Mund. „Aber so dumm es klingt, ich vermisse es, mit ihm zusammenzuarbeiten. Als ich noch bei Hiwatari Enterprises war, hatte ich das Gefühl, tatsächlich etwas bewegen zu können. Das hat mich über das gesamte Studium angetrieben. Aber jetzt?” Er schnaubte und trank noch ein bisschen mehr. „Unsere Firma macht eine verdammte Dating-App, Yuriy.”

„Das wusste ich nicht.” Yuriy konnte nicht anders als kurz aufzulachen und Kai fiel mit ein. „Lächerlich, oder?”

„Allerdings!”

Kais Schultern bebten noch einmal kurz, bevor er wieder ernst wurde. Das Lächeln in seinem Gesicht wurde zu einem seltsamen Abklatsch. „Eigentlich ist es dumm”, sagte er. „Ich habe mir selbst den Weg verbaut. Ursprünglich sollte ich Geschäftsführer von Borg werden, weißt du.”

Yuriy erinnerte sich an den Namen. „Das war doch die Firma, die bei deinem versauten Deal in Russland bankrottgegangen ist, oder?”

„Richtig”, bestätigte Kai. „Also selbst wenn ich vor meinem Großvater zu Kreuze krieche - ich weiß nicht, ob ich bei ihm überhaupt eine Aufgabe hätte.” Er ächzte einmal sehr laut, und Yuriy schon diesen offenen Gefühlsausbruch ein bisschen auf den Alkohol. „Ich bin nutzlos!”

„Ja, aber…” Yuriy griff nun selbst nach der Flasche. „Aber du kannst doch nicht alles nur von deinem Job abhängig machen. Ich meine-” Es war nur noch ein letzter Schluck drin, den er kurzerhand austrank, „Hast du kein Hobby?”

Kai sah ihn stumm an.

„Junge, was machst du mit deiner Freizeit?”, fragte Yuriy entgeistert.

„Ich habe kaum welche”, antwortete Kai schlicht. „Und wenn doch, dann gehe ich tanzen und lande am Ende in einer Platte in fucking Marzahn bei irgendwelchen Russen. Ich weiß ja auch nicht, wie das immer passiert.”

Yuriy grinste müde. „Okay.” Er beugte sich vor und tippte an Kais Stirn. „Erste Lektion: Beschäftige dein Hirn mit irgendetwas anderem als deiner Arbeit. Ich weiß, dass in deinem Oberstübchen so einiges drin steckt. Benutz es mal wieder.” Mit diesen Worten erhob er sich, um endlich das Dach zu verlassen.

„Sagt der, der sich sein eigenes Hirn gerade vernebelt hat!”, rief Kai ihm hinterher, doch Yuriy konnte hören, wie er sich ebenfalls aufrappelte und ihm folgte. Er hielt die Tür auf und wartete, bis Kai an ihm vorbei nach drinnen gekommen war, bevor er sie zufallen ließ. Augenblicklich standen sie in kompletter Dunkelheit. Kai hielt inne und fluchte leise. Hinter ihm sah Yuriy die kleine Lampe des Lichtschalters leuchten, machte sich aber nicht die Mühe, diesen auch zu betätigen. „Hey Kai?”, sagte er in die Schwärze hinein und spürte, wie der andere sich bewegte, ihn kurz streifte. „Hm?”

Er fragte sich, ob die nächsten Worte angebracht waren. Aber Scheiß drauf.

„Bleib doch einfach noch ein wenig in Berlin, ja?”

Von Kai kam ein amüsiertes Geräusch. „Ich hatte nicht vor, morgen abzureisen.” Er machte eine Pause, dann klang seine Stimme vollkommen ernst: „Aber ja. Ist okay.”

Sie begannen, die Treppen hinab zu steigen, und als sie ein Stockwerk tiefer waren ging plötzlich das Licht an. Ein paar andere Gäste kamen gerade an, sie trafen sich an der Wohnungstür. Yuriy kannte sie nur flüchtig, er meinte, es wären Freunde von Salima. In der Wohnung war es schon etwas voller geworden. Ivan quälte die Leute mit Industrial. In der Küche saßen Raoul und Lai und sahen sich tief in die Augen. Im Flur unterhielt sich Mathilda mit Raouls Schwester und Reis Freundin Mao, die Yuriy kurz in eine Umarmung zog, als er an ihr vorbeiging. Boris und Sergeij hatten wieder ihren Platz auf dem Sofa eingenommen und Kai ging nun festen Schrittes auf die beiden zu, um sich zu ihnen zu gesellen. Yuriy hoffte inständig, dass er sich mit seinen Bemerkungen über Boris’ Auto zurückhielt, sonst würde er am Ende doch morgen die Stadt verlassen müssen.

„Na”, sagte Ivan, als er sich wieder neben ihn ans Pult stellte, „Fertig mit Knutschen?”

„Knutschen?”

„Das war doch der Typ vom letzten Wochenende, oder? Boris hat gesagt, du hast ihn mit nach Hause genommen.”

„Oh mein Gott”, stieß Yuriy aus und hob den Kopf, um seinen Mitbewohner quer durch den Raum böse anzustarren. Boris musste den Blick körperlich gespürt haben, denn er drehte sich bereits nach ein paar Sekunden zu ihm um. Versuchte unschuldig zu gucken, doch Yuriy machte eine fahrige Handbewegung in Kais Richtung, dann zu Ivan, und breitete fragend die Arme aus. Kai, der bemerkt hatte, dass es um ihn ging, hob die Augenbrauen. Boris legte wie getroffen eine Hand auf sein Herz und zwinkerte ihm mit einem dreckigen Grinsen zu. Yuriy zeigte ihm den Finger.

„Ach komm, Yura, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn”, sagte Ivan, dem die kleine Interaktion natürlich nicht verborgen geblieben war.

„Haltet doch einfach alle die Schnauze”, murmelte Yuriy und würgte aus Rache Ivans Track ab, um wieder seinen eigenen Mix zu starten.

„Ey, sag mal hackt’s?”, rief Ivan. Yuriy war versucht, irgendetwas sehr Dämliches anzuspielen, aber eigentlich hatte er etwas anderes vor.

„Wart doch erst mal ab, der hier ist gut…” Es war der neue Song eines DJs, den sie beide mochten und den er sich erst vor kurzem heruntergeladen hatte. Er hielt das für ein ziemlich gutes Ablenkungsmanöver, und tatsächlich: Nach ein paar Sekunden kam der erste Bass Drop und versetzte nicht nur die Boxen und ihr Pult in Vibrationen, sondern anscheinend gleich das ganze Zimmer. Ivan riss die Augen auf und presste sich die Faust vor den Mund. Dann bot er Yuriy die Hand zum High Five und sie schlugen ein, ungeachtet der Tatsache, dass Salima sich schon wieder beschwerte, diesmal über sie beide. So war ihre Freundschaft wiederhergestellt; und auch Boris reckte beide Daumen in die Luft, als Yuriy das nächste Mal in seine Richtung sah.

In den nächsten Minuten trieben sie es ziemlich auf die Spitze. Mit Ivan konnte es eigentlich nie zu wild oder zu hart werden, und so sehr Yuriy die Clubs auch liebte, es war nicht möglich, dort alles zu spielen was er wollte. Also mussten die Gehörgänge ihres Freundeskreises darunter leiden - zumindest solange, bis ihm jemand auf die Schulter tippte. Es war der Typ, den Kai mitgebracht hatte. Er forderte Yuriy mit einer Geste auf, sich zu ihm zu beugen, damit er in sein Ohr sprechen konnte: „Die Polizei stand gerade vor der Tür!”

„Whoops.” Yuriy stieß Ivan an und drehte die Musik herunter. „Sorry, Bullen”, sagte er in den Raum hinein. Von Boris kam eine abfällige Bemerkung, die er geflissentlich ignorierte. Besser so, als wenn in einer halben Stunde zwei Wachtmeister in der Wohnung standen und sie das Gras verschwinden lassen mussten. Die meisten anderen schienen aber sowieso dankbar zu sein, dass sie sich wieder in einer normalen Lautstärke unterhalten konnten.

Er drehte sich wieder zu Kais Kollegen um. „Danke, äh…”

„Garland.”

„Garland, richtig. Hast du sie abgewimmelt?”

„Ja, war ganz leicht.” Sein Lächeln wirkte recht unverbindlich, mehr wie eine höfliche Geste. Trotzdem blieben seine Augen wachsam auf Yuriy gerichtet. Garland trug die Haare in einem glatten Pferdeschwanz. Der Körper in dem engen, schwarzen Shirt war wie in Stein gemeißelt, sodass Yuriy sich kurz fragte, ob sein Gegenüber wohl eine zweite Karriere als Athlet verfolgte.

„Danke”, sagte er noch mal, „Hoffen wir, dass sie nicht so schnell wiederkommen.” Es war trotzdem traurig, dass ihre Session ein so jähes Ende gefunden hatte. Er hatte sich gerade erst wieder warm gespielt.

Garland hob die Flasche, die er in der Hand hielt. Sie war fast leer. „Willst du auch noch eins?”

Yuriy nickte in einem spontanen Entschluss. „Lass uns in die Küche gehen.” Er folgte dem anderen, lief dann aber beinahe in ihn hinein, als er plötzlich wie angewurzelt im Türrahmen stehenblieb. Über Garlands Schulter hinweg sah er Lai und Raoul, die wild knutschend an der Anrichte lehnten.

Er räusperte sich einmal vernehmlich und schob sich dann an Garland vorbei. Die beiden anderen nahmen keine Notiz von ihm, selbst dann nicht, als er direkt neben ihnen den Kühlschrank öffnete, zwei Bierflaschen herausnahm und Garland mit einer Kopfbewegung zum Balkon lotste, der sich an die Küche anschloss. Von dort aus blickten sie in den Innenhof hinab, in dem es nun, nachdem sie die Musik abgedreht hatten, wesentlich stiller war. Nur noch weniger Fenster rundherum waren erleuchtet. Auf einmal roch es nach Regen, fast wie eine Ahnung. Der Wind war kühler geworden.

Die Blumenkästen am Balkongeländer waren leer bis auf eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug. Yuriy bediente sich, doch Garland hob ablehnend die Hand, als er ihm die Schachtel hinhielt.

„Also”, sagte er, während der erste Strom Rauch seinen Mund verließ, „Was treibst du so?”

Garland gehörte zu den Menschen, die sehr ausführlich über sich selbst sprechen konnten, wenn man sie nur ließ. Er war gebürtiger Brite, seine Eltern ursprünglich aus Indien. Studiert hatte er in London, allerdings nicht zusammen mit Kai oder Jürgens. Diese hatte er erst hier in Berlin kennengelernt, als er bei Giancarlo eingestiegen war. So weit, so langweilig. Bei der ein- oder anderen Schleife, die sein Karriereweg geschlagen hatte, kam Yuriy nicht mehr mit, nickte aber brav, während er sich auf seine Zigarette und sein Bier konzentrierte und die immer noch vorherrschende Leichtigkeit in seinem Hirn, die von all dem und der Musik herrührte. Garlands Stimme war durchaus angenehm, sehr tief mit einer weichen Aussprache. Und wenn er schon nichts Interessantes zu sagen hatte, so boten immerhin seine Armmuskeln bei jeder Bewegung eine nette Show. Man musste sich auch mal mit den kleinen Dingen zufrieden geben.

Schließlich hatte Garland genug über sein Leben gesprochen und stellte nun seinerseits Yuriy Fragen. Also erzählte er, was er immer erzählte, und sein Gegenüber reagierte so, wie er es gewöhnt war. Ihr Gespräch war vielleicht ein bisschen bedeutungslos, aber durchaus angenehm. Es inspirierte Yuriy genug, um sich irgendwann eine zweite Zigarette anzuzünden, auch wenn er heute Nacht schon mehr als genug geraucht hatte. Er ahnte, dass es ihm morgen schrecklich gehen würde und er deswegen lieber früher als später Boris einsammeln und nach Hause fahren sollte.

Garland sprach gerade über die vielen Freizeitbeschäftigungen, denen er in seinem Leben schon nachgegangen war, aber Yuriy achtete erst wieder auf ihn, als das Wort „Gesangsausbildung” fiel.

„Du kannst singen?”, hakte er nach.

Garland schien sich zu freuen, dass er überhaupt auf seine Worte reagierte, druckste dann aber ein wenig herum. „Naja, wie schon gesagt, ich war im Unichor, aber das war eigentlich schon alles…”

„Ja. Pass auf.” Mit neuem Elan drückte Yuriy seine Zigarette aus. „Ich suche Leute, mit denen ich Vocals aufnehmen kann. Für meine Tracks. Es ist auch nicht viel, ich meine, du kennst die Musik.” Er gestikulierte in die Wohnung hinein. „Vielleicht vier bis sechs Verse pro Song, mehr nicht. Meine Leute habe ich schon genug ausgebeutet. Und gerade bin ich es Leid, das immer selbst machen zu müssen.”

„Das heißt, du singst auch?”, entgegnete Garland und wirkte nun doch interessiert.

„Autotune ist mein bester Freund”, antwortete Yuriy grinsend (und wusste, dass genau dieses Grinsen das Zünglein an der Waage werden könnte). „Also, was meinst du?”

„Hm, warum nicht…”

„Yuriy?”

Er drehte den Kopf und sah Kai, der an der Balkontür stand, die sie angelehnt hatten. Yuriy streckte die Hand aus und stieß sie auf, damit Kai zu ihnen herauskam. Auf der kleinen Plattform wurde es mit einem Mal ziemlich eng.

„Bei Raoul und Lai geht’s ja ganz schön ab”, sagte Kai mit gesenkter Stimme, sobald er neben ihm stand, und wies mit dem Daumen über seine Schulter zurück in die Wohnung.

„Knutschen sie immer noch?”, flüsterte Yuriy.

„Kein Ende in Sicht.” Kais Mund verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. „Und Giulia ist auch komplett hingerissen von Mathilda. Habt ihr irgendwas ins Bier gemixt?”

„Drum and Bass ist ein Aphrodisiakum”, behauptete Yuriy im Brustton der Überzeugung und legte den Kopf in den Nacken, um den beiden anderen nicht den Rauch ins Gesicht zu pusten. Seine Stimme war schon ganz rau. In diesem Moment spürte er nicht einen, sondern zwei intensive Blicke auf sich, wie zarte, elektrische Schläge, die über ihn zuckten. Seine eigenen Bewegungen wurden ihm mit einem Mal viel bewusster als zuvor.

Manchmal, wenn er entspannt war und ein bisschen benebelt, liebte er diese Art von Aufmerksamkeit.

Kai räusperte sich. „Eigentlich wollte ich mich verabschieden. Sonst komme ich morgen gar nicht aus dem Bett”, sagte er, während Yuriy den Kopf wieder senkte. „Garland, kommst du auch mit?” Der Angesprochene schien zu überlegen, dann nickte er jedoch.

„Schade”, sagte Yuriy zu Kai und breitete die Arme aus, damit sie sich kurz umarmen konnten. „Schreib mir, okay?!” Er fing den spöttischen Blick der dunklen Augen ein, dann machte Kai eine unbestimmte Bewegung mit dem Kopf, die vielleicht ein Nicken war. Er hob noch einmal die Hand, dann drehte er sich um und schlich durch die Küche zurück.

„Also dann.” Yuriy wandte sich wieder an Garland. „Komm gut nach Hause.”

Sein Gegenüber zögerte sehr offensichtlich, als würde er überlegen, ob er seine Gedanken wirklich aussprechen sollte. „Soll ich dir meine Nummer geben?”, fragte er schließlich, „Dann kannst du mich kontaktieren, wenn du meine Stimme brauchst.”

Das hatte Yuriy jetzt fast vergessen. „Klar, sicher”, murmelte er zerstreut und reichte ihm sein Handy, damit er sich eintragen konnte.
 


 

Der Regen, der am nächsten Morgen einsetzte, war eine Erleichterung. Die Sommer in der Stadt konnten kräftezehrend sein, wenn wochenlang die Sonne schien, nur selten unterbrochen von abendlichen, heftigen Gewittern, denen stundenlanges Wetterleuchten vorausging. Die Menschen sammelten so viele Sonnenstunden wie möglich, denn sie wussten, dass der Winter lichtlos und trüb werden würde. Trotzdem - nach der ersten Euphorie wurde diese Getriebenheit manchmal zur Last.

Und so lag Yuriy verkatert in seinem Bett, beobachtete, wie die grauen Wolken trieften und war froh, dass es wirklich keinen Grund für ihn gab, die Wohnung verlassen zu müssen. Er konnte damit leben, an diesem Wochenende keinen Job zu haben - dank seiner Schichten im White Tiger musste er nicht sofort fürchten, in Geldnot zu geraten.

Er hörte, wie Boris durch die Wohnung lief und irgendwann ins Bad ging, um zu duschen, konnte sich aber nicht erinnern, ob sein Mitbewohner heute etwas vorhatte. Das Rauschen des Wassers machte ihn schläfrig, und so döste er wieder ein, bis Boris schließlich an seine Tür klopfte. Er brummte und richtete sich auf, als der andere die Türklinke mit dem Ellenbogen bediente und hereinkam, zwei Teetassen in der Hand.

„Guten Morgen.” Yuriy war selbst erschrocken über seine Stimme. Sie war kratzig und rau wie Sandpapier.

„War ein bisschen viel, was?”, fragte Boris und reichte ihm eine Tasse. Dann setzte er sich ans Fußende des Bettes. Der Duft seines Duschgels wehte wie eine kleine Welle über Yuriy hinweg, der sich augenblicklich sehr ungepflegt fühlte.

„Hast gestern geraucht wie ein Schlot, ich wollte mir schon Sorgen machen.”

Yuriy zog die Beine an und lehnte sich gegen die Wand. Er runzelte die Stirn. „Es haben überall Kippen gelegen, Borya, überall! Ich konnte nicht anders.” Der Tee tat seiner Kehle gut, auch wenn er noch ein bisschen zu heiß war. „Hast du Lai und seinen Kleinen gesehen?”

„Flüchtig”, entgegnete Boris. „Ich war abgelenkt von der Schwester. Mann, was ein Gerät.”

„Hat Mathilda auch festgestellt.”

„Ha. Kann ich ihr nicht verdenken.” Boris grinste in seine Tasse. „Meinst du, Kai hat noch mehr heiße Kollegen?”

„Frag ihn”, murmelte Yuriy und schloss kurz die Augen, versuchte, zu entscheiden, ob er eine Schmerztablette brauchte. Aber eigentlich war er zu faul, um aufzustehen. „Apropos Kai”, sagte er, „Was hast du Vanja für einen Scheiß über uns erzählt?”

Boris wirkte ertappt, hob aber beide Hände. „Nichts, er hat gefragt wie es letzten Samstag war, ich hab ihm erzählt was los war. Weiter nichts. Walla!” Er grinste schon wieder. „Und außerdem - was soll ich denn sagen? Du sprichst ja selber nicht darüber, was passiert ist.”

„Weil es euch ausnahmsweise mal nichts angeht”, entgegnete Yuriy.

„Okay.” Das war das Angenehme mit Boris: Wenn er klare Bitten an ihn formulierte, hielt er sich auch daran.

Sie tranken schweigend ihren Tee und Yuriy merkte, wie er langsam wacher wurde. Er hatte gestern mehr geraucht als getrunken, und obwohl seine Stimme für die nächsten zwei Tage wohl so bleiben würde, dürfte der Kater nicht allzu lange anhalten. Alles in allem war er noch gut davongekommen. Er erinnerte sich an ganz andere Wochenenden, an denen sie weitaus länger und wilder gefeiert hatten. Boris und er waren ziemlich anstrengende Teenager gewesen, nie zu Hause und immer mit Dingen beschäftigt, die sie eigentlich nicht hätten machen sollen. Ein Wunder eigentlich, dass sie nicht komplett abgerutscht waren. Die Standpauken seiner Mutter klangen bis heute in Yuriy nach; sie wirkten eindrücklicher auf ihn als die Arschtritte seines Vaters. Als er die Musik für sich entdeckt hatte, waren seine Eltern zunächst genervt, dann aber froh, dass er fortan mehr Zeit in den eigenen vier Wänden verbrachte als draußen. Dass sie in der Konsequenz Boris halb adoptieren mussten, nahmen sie stillschweigend hin.

Sein Blick wanderte zu seinem besten Freund, der inzwischen auch weiter auf sein Bett gerutscht war und mit dem Rücken zur Wand saß. Normalerweise war Yuriy es, der ihn so lange bedrängte, bis er alle dreckigen Details seiner Eskapaden gestand. Er ahnte, dass genau aus diesem Grund Boris auch nicht aufhören würde, ihn nach Kai zu fragen. Rachegelüste und Neugier, eine wirklich ungünstige Kombination.

„Und dieser andere Typ?”, fragte Boris in diesem Moment.

„Wen meinst du?”

„Den Kai mitgebracht hat. Lange Haare, Körper wie Bruce Lee?”

„Ach ja!” Yuriy seufzte. In seiner Erinnerung waren die letzten Stunden auf der Party etwas verschwommen. „Garland. Der hat mich ziemlich zugetextet. Aber angeblich kann er singen, also nehme ich vielleicht ein paar Vocals mit ihm auf.”

„Vocals.” Boris zog die Augenbrauen hoch und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

„Ja.” Yuriy sah zurück. „Was?”

„Junge. Der Kerl hat dich gedanklich schon ausgezogen. Was der mit dir vorhat, hat mit Musik nichts zu tun.”

Overdressed & underfucked

Es war still im Großraumbüro. Die Zeit der Sommerurlaube hatte begonnen, und so war es ungewöhnlich leer. Außerdem hatten sie Anfang der Woche endlich das umfangreiche Update der App umgesetzt. Da viele von ihnen sich zuvor die Nächte um die Ohren geschlagen hatten, kamen sie nun etwas später zur Arbeit.

Kai hielt nichts davon, seine Routinen aufzugeben. Wenn er später anfing endete es meistens sowieso nur damit, dass er auch länger blieb. Und so saß er wie immer seit kurz vor neun an seinem Computer und tippte vor sich hin. Die Mailflut war zum Glück abgeebbt, doch nach dem Release war vor dem Release, und so plante er bereits die nächsten Schritte. Allerdings genoss er die Ruhe, die heute herrschte. Etwas weiter weg stand eines der Fenster zum Innenhof offen und er konnte den leichten Zugwind spüren. In den letzten Tagen war es immer wärmer geworden, sie standen an der Schwelle zu einem äußerst heißen Hochsommer. Die Erfahrung der letzten Jahre hatte gezeigt, dass es durchaus Sinn ergab, dann noch früher anzufangen, um zum Zeitpunkt der größten Hitze am späten Nachmittag das Büro verlassen zu können. Kai war dieses Wetter durchaus gewöhnt, auch in Japan war der Sommer heiß, doch dort gab es überall Klimaanlagen. Aus für ihn unverständlichen Gründen war das in Europa, zumindest nördlich der Alpen, nicht der Fall. Wahrscheinlich war es nur noch eine Frage von Wochen, bis die ersten in peinlichen Cargoshorts im Büro auftauchten, oder noch schlimmer, in Flip-Flops.

Irgendwann kam Giancarlo, dessen Büro in einem Zwischenstockwerk, das in den hohen Raum gezogen worden war, lag, die Treppe herunter und lief direkt auf ihn zu. „Hey Kai”, grüßte er, „Sag mal, wollen wir unseren Jour Fixe heute etwas vorziehen? Ich habe gerade Zeit.”

„Meinetwegen”, sagte Kai. Der wöchentliche Termin mit Giancarlo war nicht gerade sein liebster, und so war er durchaus froh, ihn einfach hinter sich bringen zu können. Also stand er auf und folgte seinem Chef zunächst in die Küche. Während Giancarlo die Kaffeemaschine bediente und das laute Zischen und Brummen die Stille zerriss, nahm Kai sich eine Flasche Mate aus dem Kühlschrank. „Wie läuft es denn so?”, fragte er.

Giancarlos Reaktion auf diese Frage war ungewöhnlich. Statt wie immer einfach drauflos zu reden, schüttelte er kaum merklich den Kopf. „Lass uns oben reden.”

Neugierig geworden folgte Kai dem anderen in dessen Büro. Der große Kunstdruck, der seit Kurzem hinter dem Schreibtisch hin, war schrecklich. Außerdem schien es hier oben noch heißer zu sein, denn es mangelte an Fenstern. Der Ventilator in der Ecke schaffte es gerade noch, die warme Luft durcheinanderzuwirbeln.

Sie setzten sich einander gegenüber auf die knallbunten Polstermöbel, zwischen denen ein niedriger Glastisch stand. Kai wartete, damit Giancarlo wie immer als erster das Wort ergriff. „Also”, fing der an, „Erst mal vielen Dank noch einmal für die tolle Arbeit - der Release war ein voller Erfolg. Wir bekommen gerade sehr viele positive Rückmeldungen!” Es ging eine Weile so weiter; Giancarlo war gut darin, Positives so überschwänglich zu präsentieren, dass es klang, als wären keine Wünsche mehr offen, bei niemandem. Würde Kai seine Strategien nicht kennen, er würde mit einem Gefühl aus diesem Meeting gehen, dass sie auf dem Weg waren, das nächste Tinder zu werden. Aber leider war nach seiner Einschätzung so ziemlich das Gegenteil der Fall.

„Danke für die Blumen”, meinte er schließlich, als Giancarlos Sprechfluss verebbte, „Aber das ist doch nicht alles, oder?”

Sein Gegenüber hielt inne. „Du bist immer so schrecklich direkt”, stellte er fest, dann seufzte er. „Nein, das ist nicht alles. Es gibt ein großes Aber.”

„Und das wäre?”

„Unser neuer Investor ist abgesprungen.”

Kai verzog keine Miene, obwohl er durchaus erstaunt war. Dieses Problem war weitaus größer als er angenommen hatte. Längere Verhandlungen, klar, weniger Geld, okay - aber ganz abgesprungen? Das war schlecht. Für Jürgens-McGregor war ihr Unternehmen nicht lukrativ genug, als dass sie Alleininvestoren bleiben würden. Der Plan war, wie immer, das Unternehmen irgendwann zu einem ordentlichen Preis zu verkaufen. Sollte das aus irgendeinem Grund nicht gehen, dann drehten sie lieber komplett den Geldhahn zu als sich noch länger mit ihnen herumzuschlagen.

Kurzum: Sie waren ganz schön am Arsch und Giancarlo würde sich um Kopf und Kragen reden müssen, um Ralf davon zu überzeugen, den Laden noch eine Weile am Laufen zu halten.

„Tja”, sagte Kai schließlich. „Shit.”

„Die meisten wissen noch nichts davon”, fing Giancarlo an, „Ich spreche diese Woche mit dem mittleren Management, und später könnt ihr es auch euren Teams sagen. Es ist noch nicht klar, was passiert, aber” Er warf ihm einen Blick zu und senkte ein wenig die Stimme, „Falls du Vorbereitungen treffen willst, fang an, dich umzusehen.”

„Hat Ralf die Sache nicht gut aufgenommen?”, hakte Kai nach, obwohl ihm die Antwort eigentlich schon klar war.

Giancarlo lachte freudlos auf. „Kann man wohl so sagen. Und Johnny ist noch weniger begeistert davon. Um ehrlich zu sein, ich bin froh, dass er gerade nicht hier ist.”

„Denkst du, es wird bald Entlassungen geben?”

„Es ist zu früh, um das zu sagen”, antwortete Giancarlo. „Ich weiß noch gar nicht, wie es weitergehen soll. Ob ich einen neuen Investor suchen darf oder…” Er beendete den Satz nicht.

Kai dachte an sein Team, vor allem an Giulia. Einfache Angestellte wie sie waren meist die ersten, die rausflogen. Zum Glück hatten die meisten einen EU-Pass, was ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichterte. Personen wie Max allerdings durften überhaupt nur im Land bleiben, wenn sie einen Job hatten. Ihn würde eine Kündigung besonders hart treffen. Giancarlo hingegen würde höchstwahrscheinlich in irgendeinem anderen Jürgens-McGregor-Unternehmen einsteigen; genau wie Kai selbst.

„Was meinst du, wann Ralf und Johnny entscheiden werden?”, fragte er schließlich.

Giancarlo hob die Schultern. „Innerhalb der nächsten Wochen, vermute ich. Bis Ende Juni wird wohl eine Entscheidung da sein.”

Kai nickte. Er freute sich nicht gerade darauf, dem Team sein Wissen über Wochen vorenthalten zu müssen. Zumal sie alle noch dachten, dass dank des Releases alles wunderbar war. Für sie würde das Aus wie aus dem Nichts kommen; mit ein wenig Pech würden die meisten von ihnen nicht einmal eine Abfindung erhalten.

Diese Gedanken verfolgten Kai, als er Giancarlo wieder verließ. Kurz sah er sich im Büro um, wo nun ein paar mehr der viel zu jungen, viel zu begeisterungsfähigen Mitarbeitenden saßen und sich den Rücken krumm machten für ihr eigentlich viel zu abgeklatschtes Produkt. Mit einem Mal schrie alles in ihm nach frischer Luft. Kurzentschlossen stopfte er sein Portemonnaie in die Hosentasche und beschloss, eine verfrühte (und vermutlich auch verlängerte) Mittagspause zu machen.

Auf der Straße stand die Luft. Nichts vermochte die Menschen von der Hitze zu schützen, die von den Häusern, dem Asphalt, den Gehwegplatten abprallte. Touristen verschafften sich Erleichterung in den heruntergekühlten Edelboutiquen und standen Schlange vor dem Coffeeshop. Kai seufzte, dafür hatte er jetzt keine Geduld. Um die Ecke gab es einen Streifen Grün, zu klein, um Park genannt zu werden, aber immerhin. Dorthin zog es ihn nun. Es hieß zwar, dass Berlin eine grüne Stadt war, doch in seinem Arbeitsalltag merkte er davon nichts. Der Weg zu seinem Büro verlief zum größten Teil durch Mitte, und dort verschwanden gerade die letzten Bäume zugunsten von immer mehr neuen Gebäuden. Die wenigen verbliebenen Grünflächen waren uninteressant und daher meistens leer. Aber genau deswegen kam Kai gerne hierher.

Er setzte sich auf eine bereits gräulich verfärbte Holzbank in den Schatten und sinnierte eine Weile über das, was er soeben erfahren hatte. Wie er es auch drehte und wendete, immer kam er zu dem Schluss, dass Giancarlo es einfach vergeigt hatte. Die Firma war eigentlich schon zum Scheitern verurteilt. So wie Kai Ralf und Johnny kannte, hielten sie sich nicht lange mit einer Datingplattform auf. Der Markt für Angebote wie ihres war sowieso schon gesättigt und die Konkurrenz wesentlich etablierter. Giancarlo hatte nicht per se allein falsch gehandelt, die Situation war allgemein schon sehr angespannt und es hätten wahrscheinlich schon vor Jahren andere Entscheidungen getroffen werden sollen. Es war leicht, das im Rückblick zu behaupten.

Ein bisschen tat es ihm Leid für Giancarlo, vor allem, da dieser gerade seine große Liebe in Olivier gefunden hatte. Klar, Ralf und Johnny konnten ihm ein anderes Angebot machen, doch Berlin war nun nicht gerade eine Start-up-Wiege, und so würde er vielleicht sogar in ein anderes Land ziehen müssen. Es sei denn, er hatte einen alternativen Plan, aber das bezweifelte Kai.

Und er selbst? Ob sein Großvater ihn zurücknehmen würde - jetzt schon? Vielleicht war das alles ein sehr glücklicher Zufall, um seiner Karriere wieder Schwung zu geben. Doch wenn Kai ehrlich zu sich war, so glaubte er nicht daran. Wahrscheinlich war, dass Ralf auch ihn irgendwo anders hinschickte, zu irgendeinem anderen langweiligen Unternehmen in einer Stadt, die … nicht Berlin war.

Zum ersten Mal löste dieser Gedanke etwas in ihm aus. Unbehagen. Hatte er sich etwa doch an die Stadt gewöhnt? Klar, ihm würden seine Leute fehlen: Takao und Hiromi, Giulia und Raoul, Rei und Lai… Und ja, verdammt, Yuriy auch.

Kai seufzte vernehmlich. Da hatte er den Schlamassel, in den er nie hineingeraten wollte. Über ihm raschelte das Laub in einer der selten aufkommenden Brisen. Er lehnte sich zurück und starrte eine Zeit lang einfach nur nach oben in die sich überschneidenden Blattschichten. Staubiges Grün. Das Geräusch des Verkehrs begann in seinen Ohren zu dröhnen. Es roch nach benutzter Erde, Asche und Beton, und wie immer auch irgendwie nach Pisse. Kai dachte an nichts, und dann irgendwann an die Party am Wochenende, an die Aussicht vom Dach. An den sauren Geschmack des Sekts. An Boris’ Stimme, die so leicht den dröhnenden Bass übertönen konnte, wenn er mit leuchtenden Augen von Einspritzventilen sprach. An Yuriy, wie er am Balkongeländer lehnte und den Kopf in den Nacken legte. Er erinnerte sich, wie hungrig der Ausdruck in Garlands Gesicht bei diesem Anblick geworden war, und wie er den starken Wunsch verspürt hatte, in dafür vom Balkon zu werfen. Nein, das war nicht gut.

Unbewusst verzog Kai den Mund, dann rappelte er sich auf. Schluss mit der Grübelei. Mit ein bisschen Glück war die Schlange vor dem Coffeeshop jetzt kürzer, dann konnte er sich noch einen Matcha Latte mit ins Büro nehmen.

Der Andrang war tatsächlich nicht mehr allzu groß, also reihte er sich hinter einer Gruppe Mädchen ein und checkte schon mal seine E-Mails, während er wartete. Giulia hatte es jetzt auch an ihren Platz geschafft, denn sie hatte das Protokoll eines der letzten Meetings verschickt. Zwei weitere Terminanfragen waren ebenfalls aufgetaucht. Ob es irgendwo ein Unternehmen gab, bei dem weniger Wert auf Meetings gelegt wurde?

„Kai? Hey Kai! Was für ein Zufall!”

Die fremde Stimme riss ihn aus seinen Gedanken und er blickte auf. Am Eingang stand Brooklyn und strahlte ihn an. Kai konnte sein Erschrecken nur verbergen, weil in diesem Moment sein Matcha Latte über die Theke gereicht wurde. Doch dann blieb ihm nichts anderes übrig, als in Brooklyns Richtung zu gehen. Dieser schien niemals die Absicht gehabt zu haben, sich hier etwas zu kaufen, denn als Kai den Laden verließ, schloss er sich einfach an. Jedoch nicht, ohne ihn einmal von oben bis unten zu mustern. „Im Licht bist du sogar noch hübscher”, stellte er fest und überspielte Kais Überrumpelung mit einem Lachen. „Garland, der Idiot, hat seinen Hausschlüssel vergessen”, erklärte er dann ungefragt, „Also bin ich ein guter Mitbewohner und bringe ihn vorbei.”

„Nett von dir”, murmelte Kai in seinen Becher und musterte seinerseits Brooklyn aus den Augenwinkeln. Er sah etwas gediegener aus als im Club. Außerdem trug er einen Anzug, das Sakko hatte er aufgrund der Hitze über den Arm gelegt. Sein Hemd saß tadellos.

„Es tut mir übrigens leid, dass ich dich im Zentrum neulich so stehen gelassen habe”, fuhr Brooklyn fort, „Es hat eine Weile gedauert, bis ich den Typen gefunden hatte. Und dann habe ich mich auf dem Klo verlaufen. Wirklich, es war wie verhext.”

„Kein Ding.” Inzwischen waren sie beim Eingang des Gebäudes, in dem sich Kais Büro befand. Er hielt seinen Chip vor den Türöffner und ließ Brooklyn dann den Vortritt.

„Trotzdem schade.” Sein Begleiter war ihm einen Blick über die Schulter zu und zwinkerte. „Ich hätte dich gern näher kennengelernt.”

Kai blinzelte. Er war absolut nicht daran gewöhnt, dass jemand außerhalb eines Clubs so schamlos mit ihm flirtete. Klar, Yuriy hatte auch immer einen Spruch parat, aber er war Berliner und außerdem war er nicht … so. Umso mehr erstaunte es ihn allerdings, dass Brooklyn ihn weniger aus der Fassung brachte als erwartet. Vielleicht fühlte er sich sogar ein ganz klein wenig geschmeichelt.

„Dann solltest du beim nächsten Mal besser nüchtern sein”, entgegnete er also. Dann deutete er in Richtung Treppe. „Garland sitzt unten im Keller, ich muss nach oben. Also dann.”

„Kai, warte.”

Er hatte sich schon halb umgedreht, doch Brooklyns Stimme ließ ihn innehalten. Sein Tonfall hatte sich geändert, es lag kein Spott mehr in seinen Worten. Kai sah ihn fragend an und für einen Moment wirkte es, als würde sein Blick Brooklyn verunsichern, doch der hielt ihm stand.

„Ich hab mich aufgeführt wie der letzte Arsch”, sagte Brooklyn. „Das tut mir leid. Ich hatte einen wirklich beschissenen Tag und musste mich einfach mal abschießen. Hätte ich gewusst, dass ich dich dort treffe…” Er beendete den Satz nicht, sondern lächelte Kai so entwaffnend an, dass der sich fragte, ob er ihn im Zentrum vielleicht doch falsch eingeschätzt hatte. Er konnte es niemandem verdenken, sich eine Nacht lang das Hirn wegballern zu wollen, womit auch immer - ihm ging es ja gerade nicht anders.

„Ich hab mich tagelang darüber geärgert, wie es gelaufen ist”, fuhr Brooklyn schließlich fort, „Deswegen bin ich auch so froh, dass ich dich heute gesehen habe. Ehrlich” Er machte eine Pause und atmete hörbar ein. „Das war ernst gemeint. Ich würde dich wirklich gern besser kennenlernen.”

Schon wieder wusste Kai nicht, was er sagen sollte. Zu behaupten, dass Brooklyns Worte nicht bei ihm ankamen, wäre gelogen. Der Junge hatte Charme, das musste man ihm lassen. Trotzdem, er hatte nicht vergessen, was Giulia über Garland und Brooklyn gesagt hatte, und außerdem war er nun wirklich nicht leicht zu haben.

„Das ist süß”, sagte er also, „Aber ich muss jetzt weiterarbeiten.”

Manch anderer wäre wohl beleidigt gewesen, nicht aber Brooklyn. Zwar weiteten sich seine Augen angesichts dieser Abfuhr, er fing sich jedoch sehr schnell. „Okay, hey, kann ich dir wenigstens meine Nummer geben?” Er grinste schon wieder so unschuldig. „Dann kannst du mich erreichen, wenn du es dir anders überlegst.”

Nun konnte Kai ein ungläubiges Auflachen nicht verhindern. Der hatte echt Nerven!

Er hob die Schultern. „Wenn es dich glücklich macht…”

Brooklyn strahlte. Von irgendwoher zog er einen winzigen Notizblock und einen Stift und kritzelte seine Telefonnummer hin. Den Zettel riss er vorsichtig ab, bevor er ihn an Kai weitergab. „Cool.”

„Cool”, wiederholte Kai und schob den Zettel in seine Gesäßtasche. „Dann bis irgendwann mal.”

Nur in kleiner Dosis

Yuriy lauerte vor seinem Büro, als es zur Pause klingelte. Beinahe sofort wurden die ersten Türen aufgerissen und eine Masse von Kindern strömte zum Pausenhof. Er musste sich ein bisschen recken, um den Überblick zu behalten, doch dann fand er denjenigen, den er gesucht hatte. Schwungvoll trat er in den Weg der Gruppe Jungen, als diese laut redend und schlurfend an ihm vorbei wollten.

„Justus…”

„Och nö, nicht jetzt, Herr Ivanov!”

Ein Blick von ihm genügte und Justus zog den Kopf zwischen die Schultern. Es gab nicht viel, das Teenagern Respekt einflößte, aber mit seiner Größe hatte Yuriy einen Vorteil, den er schamlos ausnutzte: auf die meisten konnte er streng hinabsehen, inklusive der plötzlich in die Höhe schießenden jungen Männer.

„Ich weiß, dass du jetzt Freistunde hast, also stell dich nicht so an”, sagte er und nickte in Richtung seines Büros. Justus’ Freunde wirkten, als wollten sie vor allem nicht mit in die Sache reingezogen werden und machten sich ziemlich schnell davon. Ihm blieb also gar nichts anderes übrig als Yuriy zu folgen, auch wenn er seiner Clique sehnsüchtig hinterherblickte.

Im Büro ließ er sich auf den Besucherstuhl fallen, die Beine fast bis zum Anschlag gespreizt. Die viel zu großen Klamotten hingen an seinem Körper herunter und das Basecap behielt er natürlich auf dem Kopf, aber Yuriy war niemand, der daran Anstoß nahm; es gab wichtigeres.

Er musterte Justus. „Kaffee?”, fragte er schließlich.

„Machen Sie das immer noch ohne Filter?”

„Ja.” Der einzige Luxus, den er sich in diesem Büro gönnte, waren der Wasserkocher, sein Sortiment an Tees und Kaffeepulver, das er wie Instantkaffee einfach mit Wasser aufgoss - mit dem Nachteil, dass es sich keineswegs auflöste. Die Kids wollten ihm nie glauben, dass die Krümel wirklich restlos zum Grund der Tasse sanken und nicht zwischen ihren Zähnen landeten.

„Dann nein danke. Nix für Ungut, aber was Sie mit dem Kaffee machen kann einfach nicht gut sein.”

Yuriy schnaubte amüsiert und ging dann endlich zu seinem Stuhl. „Hab gehört, du schwänzt gerade öfter mal die Deutschstunden”, sagte er, als er saß.

„Nur zweimal!”, echauffierte Justus sich, „Weil es ätzend ist - und die Möllern hasst mich eh!”

„Ich weiß, dass Frau Möller nicht deine Lieblingslehrerin ist”, entgegnete Yuriy, „Aber falls du dich erinnerst, wie haben da was vereinbart. Kein Schwänzen mehr vor dem Abschluss.”

„Mann, Herr Ivanov…” Justus wand sich ein bisschen. „Ich hab nen echt guten Grund!”

„Ich höre.” In Yuriy verhärtete sich der Verdacht, dass vielleicht mehr hinter der Sache steckte als nur ein paar selbstverordnete Freistunden, um irgendwo zu chillen. Hoffentlich hatte Justus’ Bruder ihn nicht in irgendwelche krummen Dinger reingezogen, das konnte nämlich sehr schnell sehr gefährlich werden - und lag außerdem außerhalb seines Kompetenzbereichs. Wenn dem so war, blieb ihm nichts weiter übrig, als Takao davon zu erzählen und zu hoffen, dass der mehr ausrichten konnte. Doch so weit wollte er noch nicht denken.

„Erklär es mir”, forderte er Justus auf, als dieser sich ausschwieg. „Ist etwas passiert? Kann ich irgendwas für dich tun?”

„Nee, das hat doch gar nichts mit Schule zu tun!”

„Womit dann?”

„Mann…” Justus rang die Hände, sein Blick wanderte durch den ganzen Raum, ließ Yuriy aber aus. „Mann, ich hab… ne Freundin.”

Yuriy blinzelte. Er hatte mit Vielem gerechnet, aber nicht damit. „Ah. Und wenn du schwänzt, dann triffst du dich mit der?”

„Nein!” Justus atmete schwer aus. Seine Ungeduld siegte und es war offensichtlich, dass er keinen Bock mehr auf seine eigene Geheimniskrämerei hatte. „Mann. Die ist auf dem Gymnasium, die kann nicht einfach schwänzen. Die ist super schlau und total hübsch und ich muss ihr einfach was bieten, verstehst? Aber ich hab kein scheiß Geld, okay, ich brauch nen Job, Klamottenladen oder so. Also bin ich Gropiuspassagen und hab rumgefragt, okay.” Am Ende des Satzes hob er beide Hände und warf sich nach hinten gegen die Lehne.

Yuriy hingegen beugte sich vor und stützte das Kinn in die Hand, um sein Grinsen zu verbergen. Das war definitiv eine Geschichte die er Takao erzählen musste. Zunächst nahm er sich aber Zeit, Justus sehr genau zu erklären, dass sein Plan zwar viele gute Dinge enthielt, es aber trotzdem nicht nötig war, dafür die Schule zu schwänzen. Und dass er vielleicht etwas besser vorbereitet sein sollte, wenn er bei einem Geschäft vorstellig wurde. Es dauerte eine ganze Weile, aber schließlich sah Justus das irgendwie ein.

„Bekommst du Taschengeld?”, fragte Yuriy und sein Gegenüber nickte. „Und? Wofür gibst du es aus?”

„Essen, Kippen, Party… Noch ein paar andere Dinge, aber das geht Sie nichts an.” Er grinste.

„Ja, kann mir gut vorstellen, was das für Dinge sind”, entgegnete Yuriy trocken. „Was hältst du davon: Wenn du wider Erwarten keinen Nebenjob kriegst - spar doch einfach ein bisschen Taschengeld. Wie viel rauchst du in der Woche, eine Schachtel? Zwei? Einfach mal bisschen weniger rauchen, was meinst, was dann am Monatsende übrig ist?”

„Ja, aber ey, von zwanzig Euro kann ich der doch nichts kaufen.”

„Wer sagt denn, dass du ihr was kaufen musst? Wie heißt denn deine Angebetete?”

„Mascha.”

„Mascha”, wiederholte er, „Ist sie Russin?”

„Ja, Mann. Mega heiß, sag ich doch!”

„Okay, ich mach dir jetzt einen Vorschlag”, sagte Yuriy, „Du hörst auf zu schwänzen und sparst einen Monat dein Taschengeld. Keine Kippen, kein Gras, weniger feiern. Wenn du zwanzig oder dreißig Euro zusammen hast, gehst du mit ihr Kaffee trinken. Aber nicht in dem Stehbäcker hier um die Ecke, sondern irgendwo Richtung Hermannplatz oder meinetwegen Prenzlberg. Da wo es schön ist. Und du kaufst ihr Blumen.”

„Blumen?”, fragte Justus und betonte das Wort, als gebrauchte er es zum ersten Mal.

„Ja, Blumen. Russinnen lieben Blumen.”

„Woher wissen Sie das?”

„Mensch Justus, du weißt doch wie ich heiße.”

„Hä, was… Oh.”

„Ja, oh.” Er musste sich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen. „Vertrau mir, das klappt.” Zumindest hoffte er, dass wenigstens in diesem Sinne die Kids von heute so tickten wie seine Mutter, die er immer mit Blumen erweichen konnte.

Justus sah ihn misstrauisch an. „Schwören Sie?”

„Walla, schwör!”, antwortete Yuriy und Justus prustete. „Alles klar, Herr Ivanov.”

„Schwörst du, dass du nicht mehr schwänzt?”

„Jaaah, schwören ist zu viel gesagt… ich kann’s versuchen.”

Yuriy nickte. Er hatte den Jungen genug gequält, mehr war heute nicht drin. Und er war schon froh genug, dass hinter seinem seltsamen Gebaren nicht mehr steckte. Eine Freundin, liebe Güte! Das war tausendmal besser als alles, was er erwartet hätte.

Da auch Justus inzwischen wesentlich entspannter wirkte, ließ er ihn schließlich weiterziehen. Kurz bevor er die Bürotür hinter ihm schließen wollte, fiel ihm aber noch etwas ein. „Oh, und unbedingt eine ungerade Anzahl von Blumen nehmen! Und kein Gelb!”, rief er ihm hinterher, doch von Justus kam nur noch ein Winken, dann war er um die nächste Ecke verschwunden. Yuriy schüttelte seufzend den Kopf - jetzt gab er seinen Schülern schon Datingratschläge. Wenn Boris ihn so sehen würde, er hätte den Spaß seines Lebens. Und dann würde er ihm eine Standpauke darüber halten, dass er bei all dieser Expertise selbst immer noch Single war.

„Hey, Yuriy.”

Er drehte sich um und sah Moses auf sich zukommen. „Hey, dich habe ich ja ewig nicht mehr gesehen!”

Sie machten sich spontan auf in die Cafeteria und gönnten sich einen Automatenkaffee, den Yuriy um Längen schlechter fand als seinen eigenen (Den besten Kaffee gab es im Lehrerzimmer, aber dort war Yuriy nicht gern, weil es sofort von allen Seiten Beschwerden über seine Kids hagelte, für die er meistens nicht einmal der richtige Ansprechpartner war.) Sie setzten sich an einen der winzigen Tische am Fenster, von wo aus sie einen guten Blick auf den Pausenhof hatten. Er fragte Moses nach dessen Sprachkursen, die immer noch voll waren. Seine Schwester Monica lebte sich immer besser ein und konnte ihren Alltag schon fast komplett alleine meistern, was natürlich auch Moses’ Leben leichter machte. Er konnte sich nun auch wieder besser auf seine Arbeit konzentrieren.

„Übrigens”; sagte Moses irgendwann, „Kann es sein, dass du mit einem meiner Kollegen feiern warst?”

„Wen meinst du denn?”, fragte Yuriy neugierig.

„Garland Siebald.”

„Oh, Garland! Ja, letztes Wochenende. Ich wusste gar nicht, dass ihr im gleichen Unternehmen arbeitet. Dann kenne ich sogar noch einen Kollegen von dir, Kai Hiwatari.”

„Ja, der ist PM bei uns.” Moses trank den letzten Schluck aus seinem Becher. „Garland war jedenfalls ganz hin und weg von dir”, erzählte er dann.

„Oh Gott…”, murmelte Yuriy. Also hatten weder er, noch Boris, sich irgendwas eingebildet im Suff. Gut, auf der Party war es noch witzig gewesen, sich anhimmeln zu lassen, aber da hatte er auch erwartet, dass das Ganze am nächsten Morgen vergessen war. Er selbst hatte auch keinen weiteren Gedanken an Garland verschwendet, nicht einmal in musikalischer Hinsicht, denn nach ein wenig Bedenkzeit hielt er das Ganze sowieso für eine Schnapsidee (im wahrsten Sinne des Wortes).

„Nimm’s ihm bitte nicht übel”, sagte Moses in diesem Moment. „Er hat gerade eine Scheißzeit hinter sich. Ich kenne keine Details, aber sein Exfreund war wohl ein riesen Arschloch. Ist vielleicht nicht einmal verwunderlich, dass er sich sofort verguckt, wenn du ein bisschen netter zu ihm bist.”

„Ich habe mich doch nur unterhalten!”, entgegnete Yuriy.

„Aber du bist charmant und siehst gut aus”, schoss Moses zurück und lachte, als Yuriy den Mund verzog. „Du solltest es dir überlegen, er kommt aus reichem Hause.”

Ihm lag eine Anspielung auf Kai auf der Zunge, doch er schluckte sie herunter. „Keine Chance, ich bin eine unabhängige Frau. Ich verdiene mein eigenes Geld.”

Moses prostete ihm mit dem leeren Kaffeebecher zu. „Ma’am. Ich will nur eins sagen: Garland ist kein schlechter Kerl. Wir arbeiten jetzt schon seit einer ganzen Weile zusammen, und ich mag ihn wirklich. Er ist vielleicht manchmal ein wenig seltsam, aber hey, was erwartest du von einem Entwickler? Du musst ja nicht gleich mit ihm ausgehen. Ihm würden neue Freunde auch schon gut tun.”

Yuriy sagte zunächst nichts, doch er begann, sich besorgt zu fragen, ob er jetzt zum Adoptivfreund für verlorene Start-up-Jüngelchen geworden war. „Ich habe das Gefühl, bei euch könnten einige Leute mal eine Runde Therapie vertragen”, meinte er.

„Amen”, brummte Moses, „Für das Geld, das wir bekommen, beuten sie uns ganz schön aus. Die Sprints sind der pure Stress. Naja. Gerade ist es wieder etwas besser geworden, aber es gibt ein paar böse Gerüchte. Auf der Chefetage scheint irgendwas zu brodeln.”

Yuriy zog die Augenbrauen hoch, doch Moses zuckte nur mit den Schultern. „Wenn es dich interessiert, dann solltest du Hiwatari fragen. Oder halt Garland.” Er warf ihm ein Grinsen zu. „Der erzählt dir sicher gerne alles was er weiß.”

„Moses, ganz ehrlich”, entgegnete Yuriy, „Ich hab hier knapp tausend Kids an der Backe, das reicht mir fürs erste.”
 

Als er nach Hause kam, war die Sonne schon so weit gewandert, dass sie nicht mehr auf den Balkon fiel. Es war trotzdem heiß, und so war das erste, was Yuriy tat, sich den Schweiß der Radfahrt vom Körper zu spülen. Boris war nicht zu Hause, er musste noch ein paar seiner Kunden im Fitnessstudio durch die Mangel drehen.

Nachdem er geduscht hatte, öffnete Yuriy die Balkontür und warf seine Anlage an. Nach einem Tag wie heute kam er am besten runter, wenn er Musik machte. Er arbeite seit ein paar Tagen an einem Mix für sommerliche Raves, die vielleicht oder vielleicht auch nicht stattfinden würden; außerdem waren da noch zwei seiner eigenen Tracks, die er langsam mal fertig machen sollte. Nach ein paar Klicks lief der erste Song an und hüllte ihn in eine sanfte Klangwelt, energetisch, aber unaufgeregt genug für einen entspannten Abend, an dem der Sonnenuntergang ewig zu dauern schien. Die nächsten Minuten verbrachte er damit, an seinem Controller herumzuspielen und auszuprobieren, was er zusätzlich noch alles aus seinem Laptop herausholen konnte. Es half nichts, über kurz oder lang würde er sich noch mehr Hardware zulegen müssen. Ein großes Pult machte einfach mehr Spaß.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sein Handy, das er irgendwann aufs Bett geworfen hatte, zu vibrieren begann. Seufzend regelte er die Musik ein kaum merkliches Bisschen herunter, bevor er sich auf die Matratze fallen ließ und auf das Display sah. Ein erstaunter Laut entwich ihm, dann hob er ab. „Kai! Was verschafft mir die Ehre?”

„Hey, Yuriy.” Kais Stimme klang am Telefon gleich noch ein wenig samtiger und Yuriy war versucht, zu fragen, ob nicht er zufällig singen konnte.

„Du, wer zum Fick ist Money Boy? Takao hat mir deutsche Musik empfohlen und ich bin… verwirrt.”

„Money Boy? Ist der nicht Österreicher?”, sagte Yuriy, „Und warum empfiehlt Takao dir so etwas? Ich glaub, der will dich verarschen.”

„Glaube ich auch.” Er konnte hören, dass Kai grinste. „Deswegen dachte ich, ich frage einfach dich. Hast du gerade Musik an oder was ist das im Hintergrund?”

„Ja, hab ich.”

„Klingt gut.”

„Besser als Money Boy auf jeden Fall.” Yuriy drehte sich auf den Bauch und stützte den Kopf auf, um aus dem Fenster sehen zu können. Schwalben schossen in waghalsigen Zickzacklinien über den Himmel. „Was machst du?”

„Einen Kaffee”, antwortete Kai. „Ich bin noch im Büro, aber heute ist nicht viel los. Giulia sagt, ich soll dich grüßen und fragen, ob du ihr Mathildas Nummer geben kannst.”

„Wenn Mathilda nichts dagegen hat, kann ich das sicher tun”, sagte Yuriy. Mit der freien Hand strich er ein paar Falten in seinem Bettbezug glatt. Er meinte, im Hintergrund auf Kais Seite ein Brummen zu hören, vielleicht die Kaffeemaschine. Dann sagte der andere irgendetwas, aber es war gemurmelt und anscheinend auf Englisch. „Sorry.” Seine Stimme klang wieder laut an Yuriys Ohr, „War ein Kollege.”

„Hör mal”, fing Yuriy an, „Dieser Garland. Vom Wochenende. Wie tickt der so?”

Ein paar Sekunden lang war es still am anderen Ende. Dann räusperte Kai sich. „Warum fragst du? Hat er dich etwa eingelullt?”

„Ich bin nur neugierig”, entgegnete Yuriy, „Und ich meine, optisch ist er ja nicht von schlechten Eltern, oder?”

„Hn.” Wieder entstand eine Pause und Yuriy fragte sich, ob er diese wohl richtig interpretierte. „Also, ich weiß nicht viel über Garland”, sagte Kai dann. „So wie ich ihn erlebt habe, ist er ganz normal. Vielleicht ein bisschen still. Manchmal hat er ein paar Aussetzer, ich glaube, er ist nicht sonderlich stressresistent. Aber von Giulia weiß ich, dass er ganz schön Probleme mit seinem Ex hat. Erinnerst du dich an den Typen, der im Zentrum so an mir hing?”

„Ja.”

„Das war Garlands Exfreund.”

Yuriys Augen weiteten sich. „Krass.”

„Ja.” Kai seufzte. „Nach allem, was ich so gehört habe, ist bei den beiden noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. Also - ich weiß nicht. Lass dich da nicht mit reinziehen, Yuriy.”

Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Kai”, sagte er, „Ich will nichts von Garland.”

„Aha.” Selbst am Telefon hatte der Junge ein Pokerface. Stumm schüttelte er den Kopf und rollte sich noch mal herum, wieder auf den Rücken. Wenn er noch lange hier liegen blieb, schlief er wahrscheinlich ein.

Er gähnte. „Wenn du willst, mache ich dir ein Mixtape”, schlug er spontan vor. „Mit ordentlicher Musik, meine ich.”

Von Kai kam ein Summen, das sich ziemlich angenehm unter die Klänge, die aus seiner Anlage tröpfelten, mischte. „Du musst dir meinetwegen nicht so viel Arbeit machen.”

„Falls du es vergessen hast, das ist mein Hobby”, entgegnete er.

Kai lachte. „Na gut. Machst du das dann auch so achzigerjahremäßig auf Kassette?”

„Für dich mache ich eine CD. Oder Stick? Oder” Er sog scharf die Luft ein. „Cloud?”

„Ha. Ich nehme gern die... Hardware...”

Für ein paar Sekunden herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann konnte Yuriy nicht mehr an sich halten und prustete los. „Der kam jetzt aber flach.”

„Wortwitze sind mindestens Sprachlevel B2!”, sagte Kai, der wahrscheinlich nicht wenig stolz war, dass das Ganze überhaupt geklappt hatte.

„Guter Junge”, lobte Yuriy. „Also, dann bekommst du einen Stick. Und Money Boy wird garantiert nicht darauf sein.”

„Hmhm. Weißt du, wer noch gerne deinen Stick hätte?”

„Na?”

„Garland.”

„Oh Gott, Kai. Ein Partygespräch mit Boris und du bist versaut.”

„Ich lerne schnell.”

„Kriegst ein Bienchen ins Muttiheft.” Schon wieder musste er gähnen; Zeit zum Aufstehen. Er schwang sich aus dem Bett und zerwühlte abwesend seine Haare. „Hey, das mit dem Mix schaffe ich sicher bis Freitag. Sollen wir uns irgendwo treffen?”

„Willst du einen Kulturschock?”, fragte Kai, „Dann komm zu mir ins Büro. Es gibt Pizza, warmes Bier und viele anstrengende Start-up-Menschen. Na?”

Yuriy bemerkte die Umrisse seiner Spiegelung in der Fensterscheibe. Seine Haare standen nach allen Seiten ab und das Shirt, das er nach dem Duschen übergeworfen hatte, war viel zu groß, denn es gehörte Boris. Er sah aus wie der letzte Hänger.

„Ich hab immer gewusst, dass ich irgendwann in erlauchte Kreise eingeführt werde”, sagte er mit einem schweren Seufzen.

Der Punk in mir versteckt hinter Nadelstreifen

Kurz bevor Kai am Mittwoch ins Bett gehen wollte, bekam er eine Nachricht von Ralf: „Triff mich morgen um neun im Adlon. Sag den anderen, du machst einen Dienstgang oder was auch immer. Kein Wort zu Gianni.” Normalerweise kündigte Ralf sein Kommen immer an, wenn schon nicht bei Kai selbst, so doch zumindest bei Giancarlo. Dass dieser nun gar nicht davon erfahren sollte, war kein gutes Zeichen. Bei Kai schrillten ziemlich viele Alarmglocken, aber er zwang sich, bis zum nächsten Morgen nicht darüber nachzudenken, was um Himmels Willen Ralf von ihm wollen könnte. Sonst hätte er wohl die halbe Nacht wachgelegen. Stattdessen kippte er kurzentschlossen ein zweites Glas Rotwein und schlief daraufhin wie ein Stein.

Am nächsten Tag stand er pünktlich um neun vor dem Eingang des Hotel Adlon. Da die Geschäfte noch nicht geöffnet waren, waren auch noch nicht viele Touristen unterwegs. Nur ein paar kleinere Grüppchen standen großzügig verteilt auf dem Pariser Platz und fotografierten das Brandenburger Tor im Morgenlicht. Im Hotel hingegen herrschte schon reger Betrieb. Er fragte an der Rezeption nach Ralf und wurde in die Beletage geschickt, von der aus man die Lobby und die Bar überblicken konnte. Ralf saß an einem kleinen Tisch in einer Nische und wies einladend auf den zweiten Stuhl, als Kai auf ihn zukam. „Schön, dass du gekommen bist, setz dich”, sagte er, als hätte Kai tatsächlich eine Wahl gehabt.

Bevor sie das Gespräch beginnen konnten, kam ein Kellner auf sie zu, also bestellte Kai zunächst einen Kaffee, bevor er sich Ralf widmete. Der wartete geduldig, bis der Kellner wieder außer Hörweite war.

„Hat Giancarlo mit dir über die aktuelle Situation gesprochen?”, fragte er dann.

Kai nickte; natürlich ging es darum, alles andere hätte ihn auch gewundert. „Er hat mir Anfang der Woche erzählt, dass der Investor abgesprungen ist”, sagte er, „Viel mehr aber nicht. Er schien selbst noch auf Nachricht von dir und Johnny zu warten.”

„Das ist richtig.” Ralf lehnte sich zurück. In diesem Moment kam der Kellner zurück und stellte eine dünnwandige Porzellantasse auf den Tisch. Dankbar griff Kai danach. In Situationen wie dieser war es gut, etwas zum Festhalten zu haben. „Also, wie wird es jetzt weitergehen?”

Es gab nur wenige Möglichkeiten, warum Ralf ihn um ein vertrauliches Gespräch gebeten hatte. Am wahrscheinlichsten war, dass er Kai einen lukrativen Job anbieten und so schnell wie möglich dort platzieren wollte; er würde also kündigen müssen, bevor Giancarlos Laden pleiteging, und wie eine Ratte das sinkende Schiff verlassen. Grundsätzlich war das nicht die schlechteste Lösung; es kam lediglich darauf an, was sein neuer Job sein würde.

Ralf faltete die Hände auf dem hellblauen Platzdeckchen vor sich. „Es stimmt, unser ursprünglicher Investor ist abgesprungen”, sagte er, „Das ist erst mal nicht gut, wie du dir vielleicht vorstellen kannst. Johnny und ich sind nicht bereit, noch mehr Geld in die Firma zu stecken. Unter den gegebenen Umständen hätten wir vermutlich beschlossen, sie einfach eingehen zu lassen. Aber glücklicherweise gab es neue Entwicklungen.

„So?” Kai führte die Tasse zum Mund. Eins musste man dem Adlon lassen, der Kaffee war gut.

„Ja. Es sieht so aus, als würde ein anderer Investor kurzfristig einspringen können.” Ralf machte eine Pause. „Hiwatari Enterprises.”

Beinahe hätte Kai sich verschluckt. Nur mit Mühe konnte er den Kaffee hinunterwürgen, dann stellte er vorsichtig die plötzlich sehr zerbrechlich wirkende Tasse wieder ab.

„Bitte was?”, fragte er dann.

„Du hast mich gehört”, sagte Ralf ungeduldig, „Dein Großvater ist bereit, die Firma zu retten. Aber es gibt ein paar Bedingungen, wie du dir sicher denken kannst.”

In diesem Augenblick schossen mehrere Szenarien durch Kais Kopf: Er könnte jetzt aufstehen und einfach gehen. Er könnte sich einen Schnaps bestellen oder zwei. Er könnte so tun, als ginge ihn das alles nichts an und nur abwesend nicken, egal, was Ralf sagte. Aber etwas in ihm zwang ihn dazu, genau das Gegenteil zu tun, nämlich jetzt sehr genau zuzuhören. Er beugte sich ein Stück vor. „Sprich”, forderte er Ralf auf, und in seiner Stimme klang nichts von den Zweifeln wieder, die ihn plagten.

„Soichiro ist bereit, vier Millionen zu investieren und kann sich vorstellen, in drei Jahren komplett zu kaufen, wenn die Zahlen stimmen. Da das aber niemals klappen wird, wenn Giancarlo den Laden weiter schmeißt, sollst du der neue CEO werden.”

„Was?!”, entfuhr es Kai laut.

„Denk nach, Kai”, sagte Ralf tadelnd, „Natürlich will Soichiro jemanden, den er kennt, auf diesem Posten. Und wenn du deinen Job gut machst, wird die Sache mit Borg vergeben und vergessen sein.”

Kai seufzte und rieb sich die Stirn, seine Gedanken hatten zu rasen begonnen. „Du verstehst das nicht”, sagte er, „Wenn Soichiro dir so ein Angebot macht, dann hat er irgendwas vor. Wir reden hier von einer Datingplattform! Was bitte soll Hiwatari Enterprises damit?”

Ralf verdrehte die Augen. Dann räusperte er sich, beugte sich vor und senkte die Stimme noch ein bisschen mehr. „Pass auf”, raunte er, „Johnny und ich haben in diese Firma nur investiert, weil wir irgendwann Geld mit ihr machen wollen. Uns ist verdammt nochmal egal, ob wir Staubsauger verkaufen oder Autos oder gottverdammte Dates. Solange die Leute für die Services bezahlen und etwas für uns dabei rausspringt, machen wir es. Jetzt sind wir in einer Situation, in der wir dachten, dass die Firma gar kein Geld mehr abwerfen wird. Und in diesem Moment kommt dein Großvater und löst dieses Problem. Wir wären schön blöd, wenn wir jetzt fragen würden, was seine Motivation dahinter ist. Ich glaube ja” Er ließ den Blick einmal über Kai wandern, „Dass wir diese milde Tat dir zu verdanken haben.”

Kai schnaubte. „Du kennst Soichiro nicht”, sagte er, „Der macht nichts für mich. Oder sonst irgendwen. Das einzige, was ihn interessiert, ist Hiwatari Enterprises und sein eigenes Konto.”

„Wie auch immer.” Ralf hob beide Hände. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Drei Jahre, dann bin ich raus. Und ganz ehrlich, Kai, wenn ich du wäre - ich würde diese Chance nutzen. Denn dann bist du ganz schnell wieder da, wo du angefangen hast. Und Berlin wird nicht mehr der Ort sein, an dem du ganz klein warst, sondern der, an dem du groß geworden bist. Nichts, wofür man sich schämen muss.”

„Ich schäme mich nicht dafür, hier zu sein!”, zischte Kai, doch Ralf hob nur die Schultern. „Wenn du meinst.” Es klang nicht, als würde er ihm glauben. „Du wirst dich allerdings schnell entscheiden müssen. Wir wollen den Deal spätestens Ende Juli in der Tasche haben, damit das Geld fließt. Gianni übergibt dann im Herbst an dich, in kleinen Schritten versteht sich, damit der Cut nicht zu krass wird. Und wir brauchen ja auch noch einen neuen PM.”

„Was ist mit Giancarlo?”, fragte Kai.

„Den lass mal meine Sorge sein”, antwortete Ralf. „Ich habe da was für ihn in München - oder in Italien, wenn er unbedingt will. Ich wäre dir aber sehr verbunden, wenn du dich bedeckt hältst, bis ich mit ihm gesprochen habe.”

Kai nickte. Was sollte er auch anderes tun? Gedankenverloren griff er erneut nach seinem Kaffee, der schon merklich kälter war als noch vor ein paar Minuten. Bevor ihn das Gefühl von Panik überkommen konnte, das er schon die ganze Zeit zu unterdrücken versuchte, stürzte er den Rest des Getränks herunter. Er musste hier weg, und zwar schnell.

„Ist sonst noch etwas?”, fragte er Ralf, als er seine Tasse wieder absetzte. Beinahe war er sich selbst unheimlich, denn von seiner inneren Unruhe erreichte nichts seine Stimme.

Ralf strich sich über sein Hemd, als wolle er unsichtbare Fussel entfernen. „Nein, nichts weiter”, meinte er.

„Gut. Dann gehe ich jetzt zurück ins Büro. Unter diesen Umständen ist es ja durchaus angebracht, wenn die Arbeit normal weiterläuft.” Als Kai sich erhob, fühlte sich sein Körper seltsam steif an. Er hoffte, dass man ihm das nicht anmerkte. „Danke für die Informationen”, sagte er, „Und den Kaffee.”
 


 

Die Wärme von Boris’ Körper strahlte auf Yuriys Rücken ab, als sein Mitbewohner sich hinter ihn stellte, um einen Blick auf seinen Laptop zu werfen. „Was wird das denn schönes?”

„Ein Mixtape”, erklärte er ohne aufzusehen. „Für Kai.”

„Ein Mixtape”, wiederholte Boris. Er ging um ihn herum und warf sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Es zischte, als er eine Flasche Wasser öffnete. Erst jetzt wandte Yuriy den Blick vom Bildschirm ab, denn Boris Stimme hatte einen Ton angenommen, den er nur zu gut kannte. Und tatsächlich, der andere grinste ihn breit an, während er auf dem Stuhl hing wie der letzte Checker, natürlich wie immer halbnackt. Auf seiner Brust kräuselten sich ein paar Haare, dazwischen glitzerten noch die letzten Wassertropfen vom Duschen.

Yuriys Augenbraue zuckte nach oben. „Was?”

„Komm schon”, sagte Boris, „Gib doch endlich zu, dass du voll auf ihn stehst.”

Yuriy griff über den Tisch, um selbst einen Schluck aus der Flasche zu nehmen. „Und was würde das jetzt ändern?”

„Ganz einfach, du würdest endlich mal wieder einen Stich landen. Mein Gott, der Kleine ist süß und hat was in der Birne. Sogar Salima war ganz angetan. Und wusstest du, dass er Russisch kann?” Bei der Erinnerung musste Boris kurz lachen. „Als wir auf der Party geredet haben, hab ich ein paar dumme Bemerkungen gemacht, die eigentlich nur für Seryogas Ohren bestimmt waren. Tja, stellt sich raus, Kai hat alles verstanden. Ist wieder so typisch, ich trete immer gleich voll in alle Fettnäpfchen. Aber wie auch immer, Yuriy - sieh es einfach ein und knall ihn weg, damit ist allen geholfen.”

Anstatt zu antworten, gab Yuriy nur einen Seufzer von sich und wandte sich wieder seinem Laptop zu. Wenn Boris wüsste… Er hatte nur wenige Geheimnisse vor seinem besten Freund, aber gerade in diese Sache wollte er ihn nicht involvieren. Sicher, von außen wirkte es wahrscheinlich so, als sei zwischen Yuriy und Kai alles klar. Und er war sich auch ziemlich sicher, dass sie sich im Grunde einig waren, allerdings nicht auf die Art, wie alle anderen dachten.

„Stört es dich nicht, dass er einer von diesen Start-up-Schnöseln ist, über die du immer lästerst?”, fragte er schließlich ehrlich interessiert.

Boris runzelte nachdenklich die Stirn und kratzte sich abwesend am Bauch. „Weißt du, ich hab tatsächlich das Gefühl, dass Kai genau weiß, wie hirnrissig sein Job ist”, sagte er. „Der Junge ist echt der personifizierte Sarkasmus. Ich glaub, wenn ihm einer in der Firma mal richtig doof kommt, dann brennt dort ordentlich die Luft. Also nein”, fügte er hinzu, „In diesem Falle stört es mich nicht. Klar, er ist ein kapitalistisches Arschloch, aber das muss ja kein Hindernis sein.” Schon wieder grinste er.

„Hm.” Yuriy wandte sich erneut ab. Es erstaunte ihn ein wenig, wie schnell Kai Boris um den Finger gewickelt hatte; andererseits wollte Boris wahrscheinlich wirklich nur, dass er mal wieder flachgelegt wurde. Vermutlich befürchtete er, dass sein Leben in diesem Bezug etwa so spannend war wie Bingo spielen. Allerdings weihte Yuriy ihn schon seit Jahren nicht mehr in alle seine Eskapaden ein. Manche Dinge gingen selbst seinen besten Freund nichts an.

Er starrte die Liste von Songs an, die er bisher zusammengestellt hatte. „Meinst du, Kai steht auf Rock?”

Von Boris kam ein Schnaufen. „Zu den Stones kann man mitunter ganz gut Ficken.”

„Ich brauche deutsche Bands.”

„Uff. Ärzte? Bin mir aber nicht sicher, ob Kai dafür den richtigen Humor hat.”

„Zum letzten Mal, Boris, es ist ein Mixtape, kein Ficki Ficki Soundtrack.”

„Was nicht ist, kann ja noch werden - Yura!”, rief er, als Yuriy seinen Laptop zuklappte und aufstand. „Du musst deinem Drang auch mal nachgeben, das ist normal, das ist gesund - wie kannst du so hart mit ihm flirten und ihn nicht anpacken wollen? Oder warte…” Yuriy war inzwischen in sein Zimmer gegangen, aber Boris folgte ihm und sprach einfach weiter, selbst als er die Tür vor seiner Nase ins Schloss fallen ließ. „Yura, kann es sein, dass du mich hier die ganze Zeit für dumm verkaufst? Habt ihr es damals etwa doch getrieben? Hä? Komm schon, mit mir kannst du reden, ich will nur wissen, was gelaufen ist… Hat er dir irgendwie das Herz gebrochen? Ich kann ihm den Rücken dafür brechen, weißt du, oder?!”

Von diesem Monolog bekam Yuriy höchstens die Hälfte mit, denn er war inzwischen auf den Balkon gegangen und hatte sich wieder in die Musikauswahl vertieft. Boris wusste es besser als jetzt einfach in sein Zimmer zu platzen, und so verstummte er nach einer Weile. Wahrscheinlich würde sich Yuriy sich in den nächsten Tagen verschiedene Versionen seiner neuesten Theorie anhören. Er schmunzelte; manchmal war Boris schlimmer als Scheiße am Schuh. Und bei den verbalen Breitseiten, die er so von sich gab, waren auch immer ein paar Treffer dabei, aber Yuriy hatte gelernt, sich diese nicht anmerken zu lassen.

Was ihm weitaus weniger behagte, waren seine eigenen Gedanken, die ihn dank des Gesprächs nun heimsuchten. Vermutlich mochte er Kai wirklich ein ganz kleines Bisschen zu sehr, und es half überhaupt nicht, dass der genauso empfänglich für Flirts war, trotz allem, was schon zwischen ihnen passiert war. Es sollte kompliziert sein, doch es fühlte sich verdammt leicht an.

Im Grunde wollte Yuriy nicht unbedingt mehr. Er war ganz froh, dass er nicht so sehr in Kais Belange reingezogen wurde, denn das hatte ihm wirklich gerade noch gefehlt. Selbst wenn sie sich weiter anfreundeten, irgendwann würde Kai Berlin für etwas in seinen Augen weitaus Größeres und Wichtigeres verlassen. Es war also ohnehin klüger, nicht allzu viel in diese Sache zu investieren - auf keinen Fall mehr, als ein verdammtes Mixtape zu erstellen und zu viele Emojis zu benutzen, wenn sie mal Nachrichten austauschten.

Mit einem Seufzen fügte er „Schrei nach Liebe” in seine Liste ein.

Warum konnte nicht einfach alles bleiben, wie es war?
 


 

Kais Hände zitterten ein wenig, als er die Zigarette am Balkongeländer ausdrückte. Nun konnte er es nicht länger vor sich herschieben. Er hob die andere Hand, in der er sein Handy hielt. Auf dem Display leuchtete schon die richtige Nummer. Ein Klick, dann hielt er das Gerät ans Ohr und wartete auf das Freizeichen.

Soichiro nahm viel zu schnell ab. „Hiwatari.”

„Großvater”, entgegnete Kai. Am anderen Ende blieb es zwei Herzschläge lang still. Dann lachte Soichiro rau. „Lass mich raten: Jürgens hat endlich mit dir gesprochen.”

„Heute Morgen”, bestätigte Kai. „Was soll der Scheiß?”

„Ich freue mich auch, dich zu hören. Wann haben wir das letzte Mal telefoniert? Vor einem Jahr?”

Es musste sogar noch länger her sein, denn Kai erinnerte sich, dass draußen gräulich verfärbter Schnee an den Straßenrändern gelegen hatte. Es war beinahe den ganzen Tag dunkel gewesen und der Anruf seines Großvaters der Tiefpunkt eines langen, ereignislosen Januars. Jetzt sang irgendwo schräg unter ihm eine Amsel in einem Baum, die WG von gegenüber rauchte Schischa auf dem Balkon und unten saßen die Leute mit Bier auf der Bordsteinkante.

„Hör auf, so zu tun, als wären wir eine funktionierende Familie”, sagte er, „Du weißt genau, warum ich anrufe.”

„Du willst mir sagen, dass du dich besonnen hast und mein großzügiges Angebot annimmst.” So, wie Soichiro das sagte, klang es, als wäre alles schon beschlossene Sache. Kai wurde ein bisschen schlecht; er bereute es, vorhin etwas gegessen zu haben, schließlich hatte er schon geahnt, dass es so kommen würde.

Schnaps. Das wäre die bessere Wahl gewesen.

Er zwang sich, sich nicht allzu sehr auf seinen rasenden Puls zu fixieren. „Bevor ich zu irgendetwas ja sage - was zur Hölle willst du mit einer Dating-App?”

„Ist das bei euch in Berlin etwa noch nicht angekommen?” Soichiro tat erstaunt. „Internetfirmen sind jetzt der letzte Schrei. Hast du vom Silicon Valley gehört? Dort wird gerade die Zukunft gemacht, mein Lieber. Alles muss online sein! Wenn wir diesen Trend verpassen -”

„Bullshit”, unterbrach Kai. „Industrie 4.0 - okay. Irgendein elaboriertes Cyber-Security-Unternehmen - würde ich verstehen. Aber warum machst du ausgerechnet in Social Media?”

„Und trotz allem scheint es, als hättest du unter einem Stein gelebt, Kai.” Soichiro schnalzte mit der Zunge und allein dieses Geräusch versetzte Kai in seine Kindheit zurück. Seine Faust ballte sich von allein. Er musste sich von der Sommeridylle um sich herum losreißen und ging kurzentschlossen nach drinnen in die kalte Wohnung. Augenblicklich wurde es dunkler.

„Kannst du es dir wirklich nicht denken?”, fuhr sein Großvater in der Zwischenzeit fort. „Natürlich haben wir kein hauptsächliches Interesse an irgendwelchen Dating-Apps. Es geht allein darum, dass wir irgendwann die richtige Ware weiterverkaufen können. Daten.”

Kai hielt inne. „Daten.”

„Du hast doch sicher von Cambridge Analytica gehört. Natürlich war das sehr ungeschickt, und der Skandal… das können wir nicht gebrauchen. Aber es gibt noch ein paar andere Firmen, die viel Geld für Nutzerdaten bieten.”

„Das ist illegal”, sagte Kai fest.

„Nicht unbedingt”, entgegnete Soichiro. „Wenn alle entsprechenden Stellen gut zusammenarbeiten, dann haben wir nichts zu befürchten. Nun ja, in der Vergangenheit hatten wir in Sachen Zusammenarbeit zwar so unsere Probleme, ich bin jedoch sicher, dass du motiviert bist, dich gut… einzubringen.”

Kai atmete einmal tief durch. „Was springt für mich dabei raus?”

„Deine letzte Chance, Kai”, sagte Soichiro und sein Tonfall änderte sich von plaudernd in geschäftlich. „Du übernimmst die Geschäfte für drei Jahre und bringst die Firma auf Zack. Ich will 500.000 User bis zum zweiten Quartal des nächsten Jahres, dann noch mal so viele bis Jahresende. Und dann immer schön steigern.” Er machte eine Pause, doch Kai ließ sich nicht dazu herab, das zu kommentieren. Was Soichiro verlangte war ambitioniert, aber nicht unmöglich.

„Im Gegenzug dazu”, fuhr Soichiro fort, „Erhältst du sofort wieder Zugriff auf alle deine Kapitalanlagen. Wertpapiere, Immobilien, Konten - du kannst tun und lassen was du willst. Und wenn du deinen Job gut machst, überlege ich mir, ob ich dich nicht doch als meinen Erben einsetzen will. Nimm es als Beweis für deine Unternehmenstreue.”

„Das heißt im Klartext: ich mache, was du sagst, und stelle keine Fragen”, fasste Kai zusammen, „Genau wie Ralf und Johnny es bereits machen.”

„Ich wusste, wir verstehen uns…”

Am liebsten hätte er ihn angeschrien. Allein die Dreistigkeit, die Soichiro besaß, indem er ihm gegenüber von einem „Wir” sprach, das es so noch nie gegeben hatte! Die Wut schnürte ihm kurz die Kehle zu und seine Hände zitterten schon wieder. Doch er musste klar denken. Dieses Angebot von vornherein abzulehnen, wäre ein großer Fehler.

„Bis wann willst du meine Antwort?”, fragte er, als er sich wieder gefasst hatte.

„Zerbrich dir nicht zu lange den Kopf darüber, Kai”, antwortete Soichiro. „Jürgens ist ungeduldig. Und ich bin noch viel ungeduldiger, wie du weißt. Lass uns nicht warten.”

Kai atmete ein. „Nein”, sagte er, „Das werde ich nicht. Keine Sorge.”

Hätten wir sein können

Yuriy konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal in der Friedrichstraße war. Ach ja, vor ein paar Wochen hatte er sich mit Rei und Lai hier getroffen, in Onkel Stans neuem Restaurant für Start-up- … Leute wie Kai. Damals hatte er keinen Blick verschwendet, sondern sich einfach zwischen den Menschen hindurchgedrängt, bis er vor der richtigen Adresse gestanden hatte. Jetzt, am Abend, war es ein bisschen friedlicher, vermutlich, weil die Menschen inzwischen die Restaurants und Bars bevölkerten. Auch der Verkehr hatte merklich nachgelassen, die Rush Hour war längst vorbei.

Das neue Mitte verwirrte Yuriy. Beinahe war er froh, als er Unter den Linden kreuzte und dort die altbekannten Baustellen vorfand. Doch zunehmend wichen der aufgerissene Asphalt, die Bürocontainer und improvisierten Ampelanlagen der glatten Straße und den schillernden Fensterfronten neuer Gebäudekomplexe. Die Stadt durchlief eine Metamorphose, ein unwillkürliches Facelifting, und was danach zurückblieb, war so makellos, das er es in eine Vitrine legen wollte, damit es nicht verstaubte. Selbst die Graffitis, die früher auf jeder hellen Fläche auftauchten, sobald die letzten Baumaschinen abtransportiert waren, ließen auf sich warten. Oder würden niemals kommen.

Yuriy blieb vor einem Eckgebäude stehen, dessen Schale alt war, was jedoch wirkte wie eine aufgesetzte Maske. Ein ambitionierter Architekt musste sich hier ausgetobt haben, denn das ursprüngliche Haus war nur noch eine Hülse für - da war er sich sicher - das hochmoderne Innere. Allein das Klingelschild, aus Messing und ausgestattet mit einer Kamera, sprach Bände. Er fand den Firmennamen, und sobald er den Klingelknopf drückte, ertönte ein Buzzer. Im Treppenhaus war der Stuck erneuert worden und hob sich weiß von den cremefarbenen Wänden ab. Auch das Geländer musste restauriert worden sein. Es führte Yuriy in die oberen Stockwerke, seine Schritte wurden gedämpft von einem dicken Teppich. Aus den Fenstern sah er einen gläsernen Fahrstuhlschacht an der Außenseite des Gebäudes und einen dunklen, aber gepflegten Innenhof. Die Wände waren dick genug, um jeglichen Lärm abzuhalten. Als er jedoch in den dritten Stock kam, hörte er Stimmengemurmel und das leise Wummern von Musik. Er zog sein Handy aus der Tasche, denn Kai hatte ihm gesagt, er solle am besten anrufen, damit er ihm die Bürotür öffnete. Dann aber sah er als erstes ein anderes bekanntes Gesicht durch ebenjene Glastür hindurch.

Garland wirkte freudig überrascht, dann ließ er ihn herein. „Du willst sicher zu Kai.”

„Hi”, sagte Yuriy und versuchte, möglichst unverbindlich zu wirken. Garland war zurückhaltend wie zuvor, weshalb ihm seine Gesellschaft nicht unangenehm war. Besser jedenfalls, als irgendein fremder, redewütiger, hemdsärmeliger Hirsch, von denen es hier sicher zur Genüge gab. Zwar schwirrte die letzte Begegnung mit Garland noch in seinem Kopf herum, und mit ihr alles, was er inzwischen über diesen wusste, doch sein Gegenüber schien genug Taktgefühl zu haben, um einfach höflich zu bleiben, egal, was er fühlte.

„Ich will tatsächlich zu Kai”, sagte Yuriy also, „Weißt du, wo er steckt?”

„Er war heute nicht beim weekly, aber er muss hier irgendwo sein”, antwortete Garland, „Willst du selber nach ihm sehen oder soll ich dich begleiten?”

Yuriy war drauf und dran, es auf eigene Faust zu versuchen, doch dann bemerkte er, wie fehl er am Platze war. Der Raum war riesig, es mussten mehrere Geschosse zusammengelegt worden sein, um ihn zu schaffen. Die Wände waren entweder hell verputzt oder unbehandelt, sodass hier und da die Backsteinziegel zu sehen waren. Von der Decke hingen riesige Industrielampen, deren grelles Licht auf den schlanken Computerbildschirmen glänzte. Überall saßen und standen junge, aufgeregte Menschen. Die meisten trugen enge Hosen mit Hemd oder ausgefallenen Blusen. Über den Stuhllehnen hingen Blazer und Cardigans. Die komplette Umgebung wirkte pastellfarben und Yuriy, der wie so oft komplett in Schwarz gekleidet war (Jeans, Shirt, ausgebeulte Jeansjacke, die er ausgezogen hatte, wodurch natürlich alle seine Tattoos sehen konnten), fühlte sich so auffällig wie eine Leuchtreklame im Dunkeln.

Und alle sprachen Englisch. Yuriy konnte Englisch, leidlich, solange er keine Versicherungen abschließen oder ein Fachreferat halten musste. Aber er war es schlichtweg nicht gewöhnt und wusste, dass er es nicht akzentfrei hinbekommen würde. Allerdings war er ziemlich offensichtlich nicht der einzige Nicht-Muttersprachler hier, denn die Belegschaft war wirklich unglaublich international.

Garland führte ihn herum und Yuriy spürte einige neugierige Blicke auf sich, während sein Begleiter nach Kai fragte. Die meisten wussten anscheinend nicht, wo er sich befand, also zogen sie weiter. Irgendwann trat ein Blondschopf vom Typ Surferboy in ihren Weg, der keinen Hehl aus seiner Neugierde für Yuriy machte. „Bist du neu?”

„Das ist Yuriy, ein Freund von Kai”, sagte Garland. „Yuriy, das ist Max, einer von unseren UX-Designern.”

Er sagte irgendetwas Belangloses und fragte sich besorgt, was zur Hölle bitte ein UX-Designer war. Sobald Max ihn sprechen hörte, fingen seine Augen an zu Glitzern. „Bist du etwa von hier?”, fragte er aufgeregt, „Kannst du berlinern?”

„Max ist seit fünf Jahren hier und kennt keinen einzigen Berliner”, raunte Garland ihm zu, bevor er ihn weiterzog. Yuriy hatte noch den Mund offen, denn ja, er war drauf und dran zu erwidern, dass er sehr wohl berlinern konnte, doch schon tauchte Giulia auf, die sich nicht weniger zu freuen schien, ihn zu sehen. „Welch hoher Besuch! Darf ich dich umarmen?” Sie wartete nicht auf seine Antwort. „Schön dich zu sehen!”

„Kai hat mir gesagt, dass du Matties Nummer willst”, sagte Yuriy, denn es war das erste, was ihm einfiel. Giulia strahlte. „Ich dachte schon, er hätte es vergessen!”

„Erinnere mich nachher, dann gebe ich sie dir. Weißt du, wo Kai ist?”

„Ja. Dort.” Sie zeigte nach vorn und tatsächlich kam Kai gerade die Treppen vom Zwischengeschoss herunter. Yuriy sah auf einen Blick, dass etwas nicht stimmte. Selbst aus der Ferne wirkte Kai noch müder als sonst, seine Haare standen unordentlich ab und seine Bewegungen waren langsam, beinahe fahrig. Einzig seine Kleidung saß wie immer perfekt; die dunkle Hose war an den Beinen ein Stück hochgekrempelt, das Hemd hing leger über dem Bund, machte ihn aber etwas blass. Als er Yuriy bemerkte, weiteten seine Augen sich etwas. Yuriy beschlich der Verdacht, dass er ihre Verabredung womöglich komplett vergessen hatte. In den letzten Tagen war es recht schweigsam zwischen ihnen gewesen, was er auf Kais Job geschoben hatte. Was auch immer es war, es ging Kai offensichtlich gewaltig an die Nieren.

„Yuriy”, sagte er, als er bei ihnen angekommen war, „Hast du versucht, mich zu erreichen? Ich glaube, ich habe vorhin mein Handy irgendwo verlegt…”

„Garland hat mich reingelassen”, erklärte er und deutete auf den Genannten, der immer noch neben ihm stand. Genauso wie Giulia. Allerdings mussten wohl beide gemerkt haben, dass es Kai nicht gut ging, denn sie hielten sich zurück.

„Oh gut…”, murmelte Kai. „Sollen wir dir ein Getränk besorgen?”

„Gern.” Yuriy wechselte einen Blick mit Garland, der eine flüchtige Bewegung mit dem Kopf machte. Er würde sie erst mal allein lassen. Auch Giulia blieb zurück, als Kai nun vorausging und ihn in eine kleine Küche führte. Der Geschirrspüler lief und die letzten schmutzigen Tassen stapelten sich über ihm auf der Anrichte. Kai öffnete den Kühlschrank und Yuriys Erstaunen spiegelte sich sicherlich in seinem Gesicht wieder, als er bemerkte, dass dieser genauso gut ausgestattet war wie eine kleine Bar. Kai griff nach einer Flasche Rotwein und sah über die Schulter zurück. „Teilen?”

Er zog die Augenbrauen hoch. „Hast du heute noch was vor?” Etwas erstaunt beobachtete er, wie Kai die Flasche öffnete und sich nicht einmal die Mühe machte, ein Glas zu suchen, bevor er den ersten, nicht gerade kleinen Schluck nahm. Als er wieder absetze, griff Yuriy nach seinem Arm, damit er ihn endlich ansah. „Kai”, sagte er mahnend, „Ist was passiert?”

„Ja”, entgegnete Kai. „Aber das kann dir egal sein. Wein oder nicht Wein?”

Yuriy sparte sich eine Antwort. Er nahm Kai die Flasche ab und öffnete auf gut Glück einen der Hängeschränke. Tatsächlich befanden sich in diesem Gläser, also nahm er zwei heraus und drehte sich dann wieder zu Kai um. „Wollen wir es uns irgendwo gemütlich machen und reden?” Der andere presste kurz die Lippen aufeinander, doch dann winkte er ihn mit sich. In der hinteren Ecke des Raumes, von den Schreibtischen vor Blicken geschützt, befand sich eine Nische mit bunten Bean Bags (Yuriy konnte nicht fassen, wie viele Klischees hier erfüllt wurden). Dort ließen sie sich umständlich nieder und er goss ihnen beiden ein Glas ein. Dann griff er in seine Tasche. „Ich hab was für dich.”

Kais Gesicht hellte sich tatsächlich etwas auf, als er ihm den USB-Stick übergab. „Du hast es echt gemacht!”

„Was dachtest du denn?” Yuriy zog die Mundwinkel hoch. „Da sind einige Klassiker drauf. Wenn du zu irgendwas Fragen hast oder mehr willst - es ist noch genug Speicherplatz frei.”

„Danke”, sagte Kai und schob den Stick in seine Hosentasche.

„Und jetzt erklär mir, was los ist.”

Sein Lächeln fiel in sich zusammen. „Yuriy, wirklich, damit musst du dich nicht beschäftigen.”

„Das heißt, du willst, dass ich mich mit dir betrinke, während du schweigend neben mir sitzt und offensichtlich Frust in dich reinfrisst?”, fragte Yuriy. „Soll ich lieber wieder gehen? Wobei ich nicht glaube, dass es besonders geil für dich wäre, wenn du dich allein besäufst.”

„Ganz ehrlich, schweigen und trinken wäre jetzt wirklich die beste Option.”

„Okay…” Er führte sein Glas zum Mund und trank ein paar kleine Schlucke. Immerhin war der Wein gut. Als der den Blick durch den Raum schweifen ließ, bemerkte er Garland, der fragend zu ihnen herüber sah. Yuriy hob kaum merklich die Schultern, um ihm zu signalisieren, dass er genauso wenig mit der Situation anzufangen wusste.

Als sie beim zweiten Glas angekommen waren, versuchte er es nochmal. „Darf ich wenigstens wissen, ob es mit der Arbeit zu tun hat? Oder ist es etwas Privates?”

„Du lässt nicht locker, was?”, fragte Kai.

Yuriy verdrehte die Augen. Es war ihm so weitaus lieber, als wenn er hier schweigend seine Zeit vergeudete. „Du könntest mir auch einfach antworten”, murmelte er in sein Glas. „Was soll passieren? Ich kann es niemandem weitersagen.”

„Hn.” Kai zögerte. „Es ist beides”, sagte er dann.

„Arbeit und privat?”, fragte Yuriy. „Wow.” Seine Gedanken begannen zu rasen. Das klang alles überhaupt nicht gut. Und konnte so auch eigentlich nur eins bedeuten. „Ist es wegen deines Großvaters?”

Kai versteifte sich sichtlich. Er schien augenblicklich zu bereuen, überhaupt etwas gesagt zu haben. Seine Mundwinkel gingen nach unten. „Hör mal, ich bin keiner von deinen Schülern”, sagte er leise, „Ich muss nicht von dir therapiert werden.”

„Mal davon abgesehen, dass das gar nicht in meinen Kompetenzrahmen fällt”, entgegnete Yuriy, den dieses Verhalten nun doch langsam zu nerven begann, „Ich habe dir eine einfache Frage gestellt und du hast mir geantwortet. Was zum Teufel ist daran so falsch?”

Kai fuhr zu ihm herum, in seinen Augen stand eine Wut, die Yuriy so noch nicht an ihm gesehen hatte. Beinahe wäre er zurückgewichen. „Es geht dich nichts an!”, zischte Kai. „Du würdest es sowieso nicht verstehen.”

„Dann erkläre es mir.”

Sein Gegenüber verdrehte die Augen und stürzte den Rest Wein aus seinem Glas herunter. „Ich kann es dir nicht erklären”, sagte er dann. „Es geht um wichtige Dinge. Wichtiger als… das hier.” Er machte eine vage Geste, die den ganzen Raum oder auch die ganze Stadt mit einschließen konnte. Vielleicht schloss es auch Yuriy selbst mit ein; jedenfalls fühlte es sich so an. Also konterte er mit Sarkasmus: „Wichtiger als eine Datingplattform, soso. Ich bin wirklich beeindruckt.”

„Ich sage doch, das kannst du nicht verstehen!”, brauste Kai auf, „Du bist dafür gar nicht in der richtigen Position!”

„Hältst du mich für zu doof oder was?” Nun war er ehrlich beleidigt.

Einen Moment lang starrten sie sich an, keine von ihnen wollte nun einfach so nachgeben. Yuriy hatte geahnt, dass Kai stur war, und hochmütig, aber seine letzten Worte hatten etwas in ihm ausgelöst, mit dem er sich eigentlich nur noch sehr selten auseinandersetzte.

„Yuriy, ganz ehrlich”, sagte Kai in diesem Augenblick, „Du wirst mir nicht dabei helfen können, das Problem zu lösen. Das übersteigt wahrscheinlich alles, womit du dich tagtäglich so rumschlagen musst, hinaus.”

Er blinzelte. „Du hältst mich wirklich für zu doof”, wiederholte er. „Ich fasse es nicht.” Mit diesen Worten stand er auf.

„Yuriy…”

„Weißt du was?”, sagte er, „Mach doch was du willst.” Und damit ließ er Kai sitzen. In seinem Inneren hatte es zu brodeln begonnen wie schon lange nicht mehr. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Er musste hier weg, und zwar schnell.

Weit kam er allerdings nicht, denn plötzlich stand Moses vor ihm. „Yuriy! Was für eine Überraschung!”

Und natürlich konnte er nicht unhöflich zu Moses sein. Also blieb er für einen Smalltalk stehen, der sich allerdings immer weiter ausdehnte. Manchmal meinte er, Kais Blick auf sich zu spüren, doch er drehte sich nicht um. Und schließlich gesellten sich auch Garland und Giulia zu ihnen. Letztere nahm ihn mehrere Minuten in Beschlag, um ihm endlich Mathildas Nummer aus den Rippen zu leiern. Das Brodeln ließ sich durch ihr Gespräch zwar nicht besänftigen, aber immerhin war es auch nicht mehr so schlimm, dass es überzukochen drohte. Allein Giulias glückliches Gesicht machte den Abend schon wieder etwas besser, denn immerhin hatte er noch eine gute Tat vollbringen können.

Wenig später wurde ihm die Luft dann doch zu dünn. „Kann man hier irgendwo rauchen?”, fragte er in die Runde. Es war Garland, der antwortete: „Im Innenhof. Aber du brauchst einen Chip, um wieder reinzukommen.” Er machte eine Pause. „Soll ich mitkommen?”
 

Der Innenhof lag im Dunkeln, doch die Gebäude hielten den Wind ab und es war angenehm warm. Das eckige Stück Himmel über ihnen war tintenblau. Ab und an wurden der Fahrstuhlschacht und das Treppenhaus von Licht durchflutet, vermutlich gab es einen Bewegungsmelder. Über der gläsernen Hintertür hing zusätzlich eine blasse Funzel.

Yuriy war froh, der Geräuschkulisse von oben und Kais Blicken entkommen zu sein. Er atmete tief die Luft ein, die immer noch schwer von Gerüchen war, und tastete dann seine Hosentaschen nach Zigaretten ab. Garland beobachtete ihn stumm aus seinen grauen Augen, die im Zwielicht wärmer wirkten.

„Hast du dich mit Kai gestritten?”, fragte er, als Yuriy zum zweiten Mal inhalierte. Der hob die Schultern. „Ich weiß nicht. Streit war es, glaube ich, noch nicht. Aber irgendwas ist heute mit ihm.”

„Komisch. Hier war eigentlich alles normal.”

Yuriy presste die Lippen aufeinander. „Es ist mir egal, ganz ehrlich. Wenn er daraus ein Geheimnis machen muss, bitteschön.”

Von Garland kam ein unbestimmtes Geräusch, dann schwiegen sie eine Weile. Yuriy sah zum Himmel hinauf, über den ein blinkendes Flugzeug kroch. Er war immer noch aufgewühlt. Kai konnte ein Arschloch sein, das hatte er von dem Augenblick geahnt, als er seinen Nachnamen erfahren hatte, und auch Takao hatte ihm das bestätigt. Warum wunderte er sich überhaupt?

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Garland einen Schritt auf ihn zukam. „Hör mal, wenn du abgelenkt werden willst - ich bin da.”

Yuriy drehte den Kopf zu ihm. „Garland”, sagte er, „Du weißt, dass ich nichts von dir will, oder?”

Der andere verdrehte die Augen. „Du hast meine Nummer seit einer Woche und hast dich nicht gemeldet”, entgegnete er, „Keine Sorge, ich kann eins und eins zusammenzählen. Aber weißt du, manchmal tut es einfach gut, ein bisschen unverbindlich rumzumachen. Keine Ahnung, wie du zu Kai stehst.” Er machte eine Pause, aber Yuriy schwieg sich aus. „Was auch immer zwischen euch ist, es scheint dich ziemlich mitzunehmen. Also. Mein Angebot steht. Ich jedenfalls könnte es mal wieder gebrauchen.” Der letzte Satz war nur gemurmelt, trotzdem verstand Yuriy jedes Wort und zog amüsiert die Augenbrauen hoch. Garlands Miene wirkte jedoch wie versteinert, er wich seinem Blick aus.

Yuriy drückte den Zigarettenstummel in den Aschenbecher und räusperte sich. „Ich hab gehört, dass du Ärger mit deinem Exfreund hast”, sagte er.

„Oh wow. Ja, das macht wohl gerade die Runde.”

„Sind das nur Gerüchte oder steckt mehr dahinter?”

Garland hob den Kopf und sah ihn prüfend an, als wolle er sich vergewissern, dass Yuriy ihn nicht verarschte. Dann verzog er den Mund. „Darf ich eine Zigarette haben?”

Yuriy hielt ihm die Schachtel hin und gab ihm Feuer. Garland inhalierte und musste schon nach ein paar Sekunden husten. „Ich mache das echt nicht oft.”

„Ich bin in keiner Position, um dich zu verurteilen”, sagte Yuriy. „Also, was ist los mit deinem Ex?”

Garland nahm noch zwei, drei Züge, bevor er anfing zu sprechen. „Er heißt Brooklyn. Halbamerikaner, ist hier aufgewachsen. Wir haben uns vor vier Jahren im Zentrum kennengelernt.” Er lächelte; offensichtlich war das eine gute Erinnerung. „Wir waren dreieinhalb Jahre zusammen. Und die meiste Zeit über war es auch gut. Aber… Brooklyn ist ein sehr schwieriger Mensch. Ich glaube, er zweifelt sehr an sich selbst. Äußerlich wirkt er vielleicht souverän, aber eigentlich ist er sehr empfindlich. Er kann nicht gut mit Kritik umgehen. Oder mit Konkurrenz.”

Yuriy brummte; er hatte das Gefühl, dass sie sich langsam dem Kern der Sache näherten.

„Brooklyn wird schnell eifersüchtig. Wir haben uns ständig gestritten, weil er immer der Meinung war, ich wäre zu nett zu anderen Leuten. Er hatte Angst, dass ich ihn für den erstbesten verlasse. Und er hat so eine Art…” Garland machte eine Pause, suchte nach Worten. „Er hat so eine Art, dich klein zu machen. Ganz ehrlich, ich habe durch ihn ganz schön an Selbstvertrauen verloren.”

„Ja, solche Menschen gibt es”, sagte Yuriy, der merkte, wie er in den Arbeitsmodus fiel. Das war nie gut, und aus reinem Selbstschutz verbat er sich solch ein Verhalten eigentlich immer. Aber er hatte Garland ja erst darum gebeten, auszupacken, also würde er wohl auch bis zum Schluss zuhören.

Garland beugte sich vor, um ebenfalls seine Zigarette auszudrücken. „Weißt du, was traurig ist?”, fragte er. „Ich liebe ihn irgendwie immer noch. Er ist ein Arsch, aber ich habe das Gefühl, über die Jahre gelernt zu haben, damit umzugehen?”

„Das hast du sicher nicht”, widersprach Yuriy, „Aber ich verstehe, dass es sich so anfühlt.”

„Ich vermisse ihn einfach”, sagte Garland, „Ich meine, auch wenn wir noch zusammenleben, gezwungenermaßen. Es ist nicht dasselbe. Wir gehen uns aus dem Weg, ich sehe ihn kaum noch. Alle unsere Routinen sind weg.” Er unterbrach sich und sah zur Seite. „Tja. Das ist die Kurzfassung.”

Yuriy nickte. Er glaubte immer noch nicht, dass Garland so unschuldig war, wie er sich hier darstellte, aber jetzt war auch nicht der richtige Moment - und er war weiß Gott nicht die geeignete Person - um ihn darauf hinzuweisen.

„Ich fasse zusammen”, sagte er stattdessen, „Uns beiden geht es heute Abend dreckig.” Er schob die Hände in die Hosentaschen, machte keine Anstalten, wieder nach oben zu den anderen zu gehen. Noch immer war er viel zu aufgewühlt von dem Gespräch mit Kai. Dessen Worte hatten ihn an einer Stelle getroffen, die wirklich sehr unangenehm war.

„Kai hat vorhin etwas ziemlich Bescheuertes gesagt”, sagte er kurzentschlossen, und sofort lag Garlands Blick wieder auf ihm. „Es klang, als würde er mir nicht zutrauen, zu verstehen, was in seiner ach so komplexen Welt vor sich geht.” Er stieß die Luft aus. „Ich hasse das. So was passiert immer. Sobald die Leute erfahren, wo ich herkomme… Stempel drauf, keine Chance. Ich meine…” Er gestikulierte vage, „Klar, das kann Kai nicht wissen. Und in seinem Leben gab es garantiert auch genug ähnliche Situationen. Aber mit seinem Namen und seinem Geld… von einigen Dingen hat er einfach keine Ahnung. Trotzdem. Ich muss mich von ihm doch nicht wie den letzten Dreck behandeln lassen.”

Garland wiegte den Kopf. „Ich kenne Kai nicht gut, aber ich glaube, er ist kein einfacher Mensch. Und gerade mit seinem Namen hat er sicher auch sein Päckchen zu tragen.”

„Ja, aber ganz ehrlich? Er wird nie in eine Situation geraten, in der eine Entscheidung wirklich große Konsequenzen für ihn hat”, entgegnete Yuriy, „Denn egal was er macht, er wird nie auf der Straße landen oder sich fragen müssen, wie er die Miete bezahlen soll. Er ist reich und gebildet und mit einem Namen gesegnet, der ihm selbst in der westlichen Welt alle Türen öffnet. Außerdem ist er in keinster Weise verantwortlich für das Überleben anderer Menschen. Also was bitte” Und bei diesen Worten starrte er Garland an, „Soll so verdammt wichtig sein, dass er nicht darüber reden kann? Mir geht sein privilegiertes Gehabe so auf den Sack.”

Garlands Augen waren groß geworden, sein Mund stand ein Stück offen, und Yuriy wurde klar, dass er sich soeben ziemlich echauffiert hatte. Noch dazu bei jemandem, der weder mit ihm noch mit Kai gut befreundet war.

„Sorry”, murmelte er; sein Ärger galt nun eher sich selbst als Kai. Dieser Abend war nun wirklich im Arsch. Vielleicht sollte er nach Hause gehen - oder nach oben. Sich betrinken und dann sehr daneben benehmen, einfach weil er es konnte. Er mochte es nicht, seiner Wut so ausgesetzt zu sein; sie ließ ihn Dinge denken und tun, die er später meistens bereute. Aber was er vor allem wollte, war, seine Auseinandersetzung mit Kai für einen Augenblick zu vergessen. Denn ganz ehrlich: Es sollte ihm nicht so nahe gehen wie es der Fall war. Wahrscheinlich wusste er dafür einfach zu viel über ihn; warum hatte Kai ihm auch sofort seine ganze Lebensgeschichte aufgetischt? - Weil er sich einsam gefühlt hatte, natürlich, und aus dem gleichen Grund hatte Yuriy ihn in der Nacht zuvor an sich rangelassen. Er hatte diese Umarmung genauso gebraucht wie Kai. Und einem Drang nachgegeben, den er sonst immer unterdrückte. Oder mit Boris’ Hilfe überstand.

Aber jetzt war Boris nicht da.

„Sag mal...steht dein Angebot noch?”, fragte er.

Natürlich wusste Garland sofort, was er meinte. Yuriy merkte, wie er sich versteifte und ihn von der Seite anstarrte. „Aber - ich dachte -”

„Hey.” Ruckartig drehte sich Yuriy zu ihm. „Du weißt, dass ich nicht auf dich stehe. Und du stehst auch nicht auf mich, du liebst Brooklyn, das ist ziemlich offensichtlich. Jedenfalls habe ich gerade überhaupt keinen Bock mehr auf das alles hier. Aber du hast recht - knutschen wäre nach dem ganzen Scheiß mal wieder ganz nett.” Jemanden zu küssen war leicht, viel leichter als Sex, und es lenkte wunderbar ab. Yuriy hatte nie ein Problem damit gehabt, Menschen spontan zu küssen; also warum zur Hölle nicht?

„Okay”, sagte Garland, „Ich wäre ja bescheuert, wenn ich jetzt nein sage, oder?”

Yuriy schnaubte. „Komm her.”

Es war kein schöner Kuss. Sie passten nicht recht zueinander, aber Yuriy mochte es, wie er sich an Garland lehnen konnte, obwohl dieser kleiner war. Seine Geschmacksnerven waren abgetötet von der Zigarette und er wusste nicht, wohin mit seinen Händen. Irgendwann legte Garland seine Arme um ihn und Yuriy hätte lügen müssen, wenn er behauptete, ihm gefiele dieser feste Griff nicht. Abgesehen davon kam herzlich wenig bei ihm an. Als sie sich schließlich lösten, fühlte er sich verbraucht, aber immerhin war er nicht mehr wütend. Auch Garland wirkte recht gefasst, es war schwer zu sagen, wie der Kuss für ihn gewesen war. „Danke”, murmelte er und Yuriy nickte nur, bevor er wieder etwas mehr Abstand zwischen sie brachte. „Ich sollte wirklich nach Hause gehen.”

„Ja, vielleicht”, sagte Garland. Sein Blick ging über Yuriys Schulter nach hinten und seine Augenbrauen zuckten kurz. Dann sah er ihn wieder direkt an. „Ich glaube, das wäre wirklich das Beste.”

„Was ist los?”, fragte Yuriy und drehte sich um. Er sah die erleuchtete Treppe, die hoch zu den Büros führte, doch sie war leer.

Garland seufzte. „Nichts. Mach dir keine Sorgen.”

Komm mir nicht mit "Komm mal runter"

Die folgende Woche verschwamm in Kais Kopf zu einem Strom aus Arbeit und Grübelei. Im Büro gab es immer genug zu tun, dort ging es einfach weiter, als hätte niemand das dräuende Unwetter über ihren Köpfen bemerkt. Und für die meisten war es wohl auch so und würde es so bleiben, wenn Soichiro das Geld fließen ließ. Einzig in seinem wöchentlichen Jour mit Giancarlo hatte er diesem deutlich anmerken können, dass Ralf ihn inzwischen über alles in Kenntnis gesetzt hatte. Allerdings schien er davon in etwa so begeistert zu sein, wie Kai selbst. Sie hatten sich also mehr oder weniger angeschwiegen, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Und dann war es weitergegangen: Mails, Meetings, nach Hause fahren, die Wand anstarren. So oder so ähnlich.

Er hatte sich nicht bei Yuriy gemeldet - und Yuriy sich nicht bei ihm. Kai hätte auch gar nicht gewusst, was er zu ihm sagen sollte. Klar, wenn er genauer darüber nachdachte, dann ahnte er schon, dass er sich bei dem anderen würde entschuldigen müssen. Auch wenn er dessen heftige Reaktion auf seine Worte noch immer nicht vollständig verstand. Es hatte ihn überrascht, als Yuriy ihn einfach sitzen ließ, aber natürlich gab er sich in solchen Situationen nie die Blöße, das auch zu zeigen.

Und dann war da noch die andere Sache. Irgendwann war Yuriy verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Kai hatte sich nicht viel dabei gedacht, bis Giulia irgendwann neben ihm stand, mit diesem seltsamen Ausdruck im Gesicht. Sie wollte erst nicht darüber sprechen, doch dann erzählte sie ihm doch, was sie gesehen hatte. Seitdem war er noch verwirrter als zuvor. Garland hingegen gab sich wie immer, selbst Kai gegenüber. Ob er annahm, Kai wisse von nichts? Oder einfach davon ausging, dass es schon okay für ihn war?

Kai wusste nicht, ob er es okay fand. Er hatte sich nicht erlaubt, allzu sehr über Yuriy und Garland nachzudenken, schließlich gab es wirklich wichtigeres. Wie auch immer er es drehte und wendete, es schien zu diesem Zeitpunkt nur zwei Möglichkeiten zu geben, wie er weitermachen konnte: Sich Soichiro fügen und zumindest sein Leben ungefähr so weiterleben wie bisher. Oder sich komplett verweigern. Womit Berlin aber zu verbrannter Erde wurde. In einer Stadt, in der Soichiro nicht nur Verbündete durch Jürgens-McGregor hatte, und Immobilien, und bald auch eine quasi eigene Firma, würde er nicht einfach sein Ding machen können. Er würde wegmüssen, in größere, wichtigere Städte. Und was hatte er schon zu verlieren? Gerade sah es ja wirklich so aus, als gäbe es hier bald nichts mehr für ihn.
 

Irgendwann rief Takao an. „Hey Kai, ich wollte mal hören, wie es dir geht, wir haben ja schon eine Weile nichts mehr voneinander gehört.”

„Es ist okay”, antwortete er und merkte selbst, wie müde er klang, „Nur ein bisschen stressig gerade.”

Takao brummte und Kai bereute es augenblicklich, den Anruf überhaupt entgegengenommen zu haben. Sein Exfreund hatte einen sechsten Sinn für seine Gefühlslagen, es war unheimlich, wie gut sein Gespür inzwischen war. „Bist du sicher?”

Er seufzte. „Nein”, gestand er, „Aber ich komme damit klar. Wirklich.” Für eine Sekunde war er versucht, Takao alles zu erzählen, einfach, um es loszuwerden. Andererseits würde der andere ihm wohl schwer helfen können, also was hatte er schon davon?

„Was machst du am Wochenende?”, fragte er, um vom Thema abzulenken. Und vielleicht, ganz vielleicht, hoffte er, dass Takao Zeit hatte und sie sich zumindest kurz sehen konnten. Wenn es auch nicht zur Lösung seines Problems beitrug, so würde es ihn zumindest einmal auf andere Gedanken bringen. Doch nun war es Takao, der zögerte. „Ich fahre morgen früh auf ein Festival. Mit Hiromi. Wir sind erst Sonntag wieder da.”

Kai gab sich reichlich Mühe, seine Enttäuschung in Überraschung umzuwandeln. „Gute Idee, wirklich!”, sagte er, „Wie ist es mit Hiromi?”

„Gut, ich mag sie sehr.” Takao machte eine Pause. „Es fühlt sich komisch an, mit dir über sie zu sprechen.”

„Schon gut”, entgegnete Kai, „Ich freu mich für dich. Genieß das Wochenende!”

„Ja… Sollen wir uns nächste Woche treffen?”

„Warum nicht? Schreib mir, wenn du wieder in der Stadt bist, okay?” Er beeilte sich, das Gespräch zu beenden, denn er war sich nicht sicher, wie lange er noch gute Miene machen konnte. Als Takao aufgelegt hatte, fuhr er sich einmal übers Gesicht. Gott, wie müde er von alldem war. Schwerfällig stand er vom Sofa auf, um duschen zu gehen. Als er sein Shirt über den Kopf gezogen hatte und in den Wäschekorb werfen wollte, merkte er allerdings, dass dieser schon zum Bersten gefüllt war. Seufzend starrte er den Haufen Wäsche an, dann nahm er so viel wie er tragen konnte aus dem Korb heraus und trug sie zur Waschmaschine. Wie immer drehte er alle seine Hosentaschen auf links, bevor er sie in die Trommel stopfte, denn seit er einmal aus Versehen eine Speicherkarte voller wichtiger Informationen mitgewaschen hatte, war er ein gebranntes Kind. Und tatsächlich: Neben ein paar Münzen fand er heute auch den USB-Stick, den Yuriy ihm gegeben hatte. Eine Weile hielt er ihn in der Hand und sah auf ihn hinab. Er hatte nicht vor, sich in nächster Zeit damit zu beschäftigen; es war einfach alles zu viel. Also legte er den Stick etwas schroffer als beabsichtigt auf die Arbeitsplatte über der Waschmaschine. Als nächstes zog er einen zusammengefalteten Zettel aus einer anderen Tasche. Erst als er ihn glattstrich und sein Blick auf die Nummer fiel, die auf ihm vermerkt war, erinnerte er sich an seine Begegnung mit Brooklyn. Er konnte nicht verhindern, dass er in diesem Moment wieder an Garland und Yuriy dachte. Dann schüttelte er energisch den Kopf und legte den Zettel irgendwo hin, um ihn später wegzuwerfen. Nachdem er aber die Waschmaschine gefüllt und angestellt hatte, war dieser Vorsatz allerdings längst vergessen.
 


 

Mathildas Stimme klang sehr hoch am Telefon und Yuriy wusste sofort, dass sie etwas von ihm wollte.

„Na, was los?”, fragte er.

„Sag mal, würde es dir was ausmachen, wenn ich nicht mit dir mitkomme, sondern mit Salima ins Morgen gehe?”

Er hob die Augenbrauen, konnte sich aber schon denken, woher der plötzliche Sinneswandel kam. „Sag bloß, Giulia mag das Morgen lieber als das Don Quijote?” Es konnte keinen anderen Grund geben, denn die Musik im Morgen passte nicht wirklich zu Mathildas Stil. Sie war ihr viel zu gechillt. Doch Dank Salima bekamen sie auch von dort regelmäßig Anfragen, und solange das Geld reinkam beschwerten sie sich nicht. Für Salima war es sicher auch mal eine Abwechslung, nicht allein arbeiten zu müssen.

„Ja...wir sind verabredet”, erklärte Mathilda.

„Wie süß.” Sein Tonfall war vielleicht spöttisch, doch er war ehrlich froh, dass es zwischen den beiden Frauen so funkte. Ein bisschen hatte er es auf der Party bei Ivan und Salima schon geahnt, aber es war doch erstaunlich, wie schnell die Sache gerade durch die Decke ging. Anscheinend schickten sich Giulia und Mathilda ellenlange Chatnachrichten, seitdem er Liebesbote für ihre Telefonnummern gewesen war. Und weil er der letzte war, der dem jungen Glück im Wege stehen würde, erklärte er sich schlussendlich großmütig mit Mathildas Vorschlag einverstanden.

Sein letzter Auftritt allein war schon eine Weile her und die Bühne wesentlich kleiner gewesen. Das Don Quijote zählte zu den größeren Technoclubs in Berlin, und im Gegensatz zum Zentrum wurde dort ausschließlich elektronische Musik gespielt. Seine Nervosität hielt sich aber in Grenzen, denn wenn er ehrlich zu sich war, war ihm diese jüngste Entwicklung sogar ganz lieb. Nur er und die Musik, für die der hohe Raum ein perfekter Klangkörper sein würde - das war es, was er jetzt brauchte.

In der Schule ging es nun langsam auf die Sommerferien zu, was natürlich mit dem damit verbundenen Stress einherging. Er hatte alle Hände voll zu tun und konnte auch außerhalb seiner Arbeitszeit nur an wenig anderes denken als seine Kids. Einige von ihnen gerieten richtiggehend in Panik angesichts der bevorstehenden Zeugnisvergabe. Anderen wiederum musste er extrem gut zureden, damit sie sich überhaupt noch blicken ließen. Wenn er nach Hause kam, reichte es meist gerade noch für eine Runde Fernsehen mit Boris, bevor ihm die Augen zufielen. Die Arbeit im White Tiger hatte er fürs erste wieder beendet, denn das würde ihn momentan einfach umbringen. Es war jedoch gut, zu wissen, dass er jederzeit dort wieder anfangen konnte.

Zugegeben, ein Auftritt stellte momentan eher eine zusätzliche Belastung dar als einen Ausgleich, aber darauf wollte er nun wirklich nicht verzichten. Außerdem brachten vier Stunden im Don Quijote eine schöne Stange Geld ein. Den Schlafmangel nahm er dafür gern in Kauf.

Boris arbeitete an diesem Abend in einem Club in Kreuzberg und musste außerdem wesentlich früher aus dem Haus als Yuriy. Deswegen machte er sich gegen Mitternacht allein auf den Weg. Das Set sollte um halb zwei anfangen, was ebenfalls gut war, denn eigentlich begann es erst um diese Zeit in den Clubs interessant zu werden.

Um zum Don Quijote zu kommen, musste man eigentlich nur der Trasse der Ringbahn folgen, sobald man ausgestiegen war. Etwas weiter weg stand ein riesiges Hotel in dem Nichts, das sich hier ausbreitete - es war die uninteressante Ecke Neuköllns, die noch nicht gentrifiziert worden war. Direkt hinter dem Club begann das Brachland einer riesigen Baustelle. Die beiden Hälften der Stadt, die so lange voneinander getrennt gewesen waren, wurden jetzt mit grober Nadel zusammengenäht. Es war eine Sisyphusaufgabe.

Die Schlange vor dem Eingang war so lang, dass sie beinahe den Bahnhof erreichte, und Yuriy fühlte nun doch sein Herz flattern. Heute würde es voll werden und er war allein für den Main Floor verantwortlich. Eigentlich Wahnsinn, dass sie es schon so weit gebracht hatten. Klar, sie hatten unzählige Klinken dafür putzen müssen. Die letzten zwei, drei Jahre hatten sie auf halbprivaten Raves, Demos, Hauspartys und in winzigen Diskos aufgelegt und so ziemlich alle ihre Kontakte ausgenutzt (was, zugegeben, nicht wenige waren). Nun endlich trug die ganze Rennerei Früchte.

Die Türsteher kannte er nicht, wurde aber ohne zu murren reingelassen. Drinnen wurde er von einer Frau in Empfang genommen, die ihn über Schleichwege zum DJ-Pult führte. Dort legte noch jemand anderes auf, den er vielleicht vom Sehen kannte, aber er war sich nicht sicher. Sie schlugen ein und hielten ein bisschen Smalltalk, während Yuriy aufbaute. Ab und zu warf er einen Blick auf die Menge. Die Stimmung schien gut, wenn auch etwas zurückhaltend. Doch es war auch früh für eine Clubnacht. Es stellte sich heraus, dass sein Kollege noch am Anfang seiner Karriere stand und dankbar war, überhaupt hier sein zu dürfen. Wieder hatte Yuriy das seltsame Gefühl, erfolgreicher zu wirken als er es eigentlich war.

Irgendwann war es dann an der Zeit, das Mischpult zu übernehmen. Er schaffte einen relativ eleganten Übergang von seinem Vorgänger, und das, obwohl dieser eine ziemlich helle Klangumgebung geschaffen hatte. Yuriy war heute nicht nach hell und freundlich. Ihm war nach tiefen Bässen, Dunkelheit und Dreck - das passte sowieso viel besser zu dieser Stadt. Und so stürzte er sich mit den Tönen hinab. Schon bald pulsierte der Beat wie Herzschlag im Clubraum, in den sich mehr und mehr Menschen drängten. Und Yuriy wusste, dass sie keine großartigen Rhythmuswechsel brauchten, nur hier und da mal eine Klangveränderung. Es ging ihnen bloß darum, sich in Trance zu tanzen. Das kam ihm nur gelegen. Er wollte die vergangene Woche vergessen und erst recht das Wochenende davor, denn noch immer wurde er wütend, wenn er an seine Auseinandersetzung mit Kai dachte. Das war etwas, was er einfach nicht gebrauchen konnte. Am meisten ärgerte es ihn, dass es ihm nicht gelang, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Bei den meisten Personen war ihm egal, was sie zu ihm sagten oder von ihm hielten. Er hatte seinen Freundeskreis, mehr brauchte er nicht. Aber Kai… der kleine Ficker hatte sich einfach in seinem Hirn festgesetzt.

Mit der Zeit gelang es ihm, zumindest seine Wut abzuschütteln. Die Musik half ungemein. Die Lautstärke, das Gefühl des Basses in seinem Körper, das springende Mischpult vor ihm nahmen seine volle Aufmerksamkeit ein. Die ersten drei Stunden vergingen so wie im Flug. Entgegen seiner Gewohnheit achtete er nicht allzu sehr auf sein Publikum, doch die Stimmung schien sich nicht ins Negative zu verändern, denn das hätte er sicher gemerkt. Ab und an hatte er das Gefühl, als würde er sich in seinen Tonspuren versteigen, doch es gelang ihm immer wieder, zurück in geordnete Bahnen zu finden. Das einzige, was er wirklich bereute, war, dass er nicht rauchen konnte. Das hätte seinen Abend nahezu perfekt gemacht.

Als er schließlich auf das Ende seines Sets zusteuerte, fühlte er sich ausgelaugt. Nun hätte er gerne etwas Ruhigeres aufgelegt, aber er wusste, dass die Party hier noch lange nicht vorbei war, wenn er nach Hause ging. Also musste er wohl bis zum bitteren Ende durchziehen. Seine Nachfolgerin, eine alteingesessene DJane namens Sara, die er flüchtig kannte, würde sicher auch bald auftauchen.

Statt ihrer stand auf einmal Kane neben ihm. Yuriy hatte nicht gewusst, dass er heute hier sein würde. Sie waren sich noch nie persönlich begegnet, aber Kane legte regelmäßig im Bunker auf, weshalb vor allem Ivan neidisch auf ihn war und ständig über ihn lästerte. Sie alle kannten sein Gesicht, denn Ivan stalkte quasi seine Webseite.

„Hey”, rief Kane ihm ins Ohr, sobald er seine Kopfhörer abgesetzt hatte, „Du bist von Ostblocc, oder?”

Yuriy nickte und reichte ihm die Hand. „Freut mich.”

„Geiles Set!”, sagte Kane, „Hat mir echt gefallen! Sag mal, habt ihr Soundcloud oder ne Webseite oder so?”

„Ja, sicher”, antwortete Yuriy, „Aber wir sind zu viert und machen ganz unterschiedliche Sachen.”

„Kein Ding, ich will nur mal reinhören.” Kane kramte in seinen Taschen herum und reichte Yuriy schließlich sein Handy. „Schreib mir mal deine Kontaktdaten auf, ich würde gern in Ruhe bei euch reinhören. Vielleicht hab ich dann was für euch.”

Yuriy versuchte, sich sein wachsendes Interesse nicht anmerken zu lassen und tat wie ihm geheißen. „Wo denn?”, fragte er als er dem anderen das Handy zurückgab.

„Im Bunker”, sagte Kane. „Aber ich kann nichts versprechen, okay? Das heute war aber echt geil! - Heey, Sara!” Die DJane war gerade angekommen und schlug nun bei ihnen beiden ein. Sie wechselten ein paar Worte, dann machte Kane Anstalten, wieder zu verschwinden. Er legte Yuriy noch einmal die Hand auf die Schulter. „Ich melde mich, okay?! Bis dann!”

Yuriy konnte nicht verhindern, dass ich auf seinem Gesicht ein Grinsen ausbreitete. Ivan würde ausrasten, wenn er ihm davon erzählte. Und wenn sie tatsächlich einen Gig im Bunker bekamen… das war groß. Aber so richtig. Seine Hände bewegten sich beinahe wie gesteuert, als er seine Sachen zusammenpackte, während Sara schon das Pult übernahm. Seine Gedanken kreisten ausnahmsweise einmal nicht um Kai oder die Arbeit, sondern um seine Musikkarriere. Das war doch alles Wahnsinn!

Draußen vor dem Club schlug ihm die Morgenluft entgegen. Es war schon hell, ein dünner Strom Menschen torkelte zur S-Bahn. Yuriy folgte ihnen. Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile fühlte er sich so zufrieden wie die Feiernden, die nun nach Hause gingen. So viele schräge Outfits, so viel Glitzer. Und er mittendrin. Während er die Treppe zu den Gleisen nahm, schlurften andere in Richtung des Dönerstands, der wahrscheinlich schon gegen Mittag den Tagesumsatz erreicht haben würde. Manche setzten sich auch irgendwo hin und rauchten noch eine. Ah, Zigaretten. Yuriy tastete seine Taschen ab, fand nichts, schnorrte sich kurzentschlossen eine Kippe bei ein paar jungen Frauen, die augenblicklich zu kichern anfingen. Die Kippe war rosa und schmeckte nach Vanille.
 


 

Kai wollte die Wände hochgehen. Es war nicht auszuhalten. Seine Wohnung engte ihn ein und die Geräusche, die durch die offenstehende Balkontür nach innen drangen, machten ihn langsam aber sicher verrückt. Er gehörte nicht zu den Menschen, die sich über Großstadtlärm beklagten, aber das konstante Stimmengewirr eines Samstagabends - alle glücklich, alle entspannt - war einfach zu viel. Manchmal ertrug selbst er die Einsamkeit nicht mehr.

Takao wäre seine erste Wahl gewesen, doch der war nicht in der Stadt. Giancarlo wagte er nicht anzurufen, das würde einfach nicht gut gehen. Er wusste ja nicht einmal, ob sein Noch-Chef ihn überhaupt noch ausstehen konnte. Im schlimmsten Fall dachte Giancarlo, dass Kai aktiv an der ganzen Sache beteiligt war. Blieb also Giulia.

Sie nahm schon nach wenigen Sekunden ab. „Hi Kai, was ist los?”

„Hey”, sagte er und musste sich räuspern. Seine Stimme fühlte sich an, als hätte er sie schon lange nicht mehr gebraucht. „Ich wollte fragen, ob du Bock auf ein Spätibier hast.”

„Oh!” Das Zögern war deutlich zu hören. „Du, tut mir echt leid. Ich mache mich gerade fertig, weil ich nachher mit Mattie verabredet bin. Sie legt heute im Morgen ist auch noch ein Tag auf.”

„Ah, verstehe.” Die nächsten Worte rutschten ihm einfach so heraus und er bereute sie augenblicklich: „Ist Yuriy auch dort?”

„Nein, der ist heute in einem anderen Club”, antwortete Giulia. „Aber wenn du willst, frage ich Mattie, wo genau!”

Er überlegte, aber nein, eigentlich war das keine Option. „Schon gut, kein Problem. Dann sehen wir uns Montag?”

„Ja. Bis Montag.” Sie klang traurig, doch er machte es ihr leicht und legte einfach auf. Seufzte einmal tief. Also war es Zeit für Plan B: Sich alleine betrinken und vielleicht eine dieser beknackten Serien gucken, die seit Monaten auf seiner Watchlist standen. Vielleicht konnte er die Rollläden herunterlassen, damit es zumindest so wirkte, als wäre es schon spät. Irgendwie konnte er sich nicht so wirklich auf dem Sofa entspannen, wenn es draußen noch hell war. Das gab ihm immer das Gefühl, noch irgendetwas machen zu müssen.

In seinem Kühlschrank fand er nicht eine, sondern zwei Flaschen Wein und beglückwünschte sich stumm zu diesen, auch wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, wann er sie gekauft hatte. Das erste Glas trank er in einem Zug. Während er das zweite eingoss, schien es ihm, als könnte er sich langsam mit einem weiteren Abend allein anfreunden. Als er das Glas abstellte, um nach etwas Essbarem zu suchen, fiel sein Blick jedoch auf zwei Dinge, die auf der ansonsten leeren Arbeitsfläche lagen: Yuriys USB-Stick und der Zettel mit Brooklyns Nummer.

Kai hielt inne. Schloss den Kühlschrank und streckte die Hand nach diesen beiden Gegenständen aus. Drehte den USB-Stick zwischen den Fingern, lange, zögernd. Legte ihn wieder weg. Nahm den Zettel. Starrte die saubere, etwas schräg stehende Schrift darauf an. Augenblicklich fühlte er sich schuldig, aber wenn er ganz ehrlich zu sich war, wusste er nicht, wieso. Als könnte er sich nicht mal eine absurde Idee erlauben. Wenn diese Idee überhaupt so absurd war… Wahrscheinlich war, dass er diese Schuld sich selbst gegenüber empfand. Es war ja nicht so, als wüsste er nicht, dass er drauf und dran war, einen riesigen Fehler zu begehen. Aber verdammt, nach allem, was passiert war, war das ganz sicher das kleinere Übel. Er war erwachsen. Er hatte Bedürfnisse. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer.

„Masefield, hallo!”, erklang Brooklyns Stimme.

„Ich bin’s, Kai”, sagte er und hörte ein Rascheln auf der anderen Seite.

„Kai!”, wiederholte Brooklyn und klang, als könne er es nicht fassen.

„Ja. Hast du Lust, irgendwo was mit mir trinken zu gehen?”, fragte er geradeheraus und hätte schwören können, dass Brooklyn scharf die Luft einzog. „Das ist kein Date”, schob er hinterher, „Ich könnte nur etwas Gesellschaft vertragen.”

„Was für ein Zufall. Geht mir genauso.”

Sie trafen sich am Rosa-Luxemburg-Platz und gingen in die erstbeste Bar. Hier war sowieso alles voller Menschen. Anders als zu Hause war der Lärm Kai jetzt egal, schließlich war er mittendrin. Brooklyn, stellte er fest, sah durchaus gut aus. Er trug einen Blazer über einem dunklen Shirt, dazu enge Jeans. Kai hatte sich auf die Schnelle komplett schwarz gekleidet und beim Rausgehen nach seiner Lederjacke gegriffen. Noch war es für diese viel zu warm, aber nachts würde sie ihm sehr wahrscheinlich zunutze sein.

Es war ein bisschen seltsam, dieses Treffen. Als er noch in London gelebt hatte, hatte er tatsächlich für eine Weile Datingplattformen benutzt, und jetzt fühlte er sich an diese halbblinden Dates erinnert. Sie kannten sich höchstens flüchtig, aber eigentlich wollte er nur Gesellschaft für ein paar Stunden, also was soll’s, vielleicht wurde es ja gut.

Sie ergatterten einen Platz am Tresen und bestellten Bier. Brooklyn prostete ihm mit einem spöttischen Grinsen zu. „Auf deine Langeweile”, sagte er. Kai hob die Augenbrauen, trank aber trotzdem.

„Jetzt aber mal ehrlich”, fuhr Brooklyn fort, „Ich habe nicht erwartet, noch einmal was von dir zu hören. Woher der Sinneswandel?”

„Wieso Sinneswandel?”, stellte er die Gegenfrage. „Ich habe nichts gegen dich, Brooklyn. Und da du dich auch so nett für dein Verhalten im Zentrum entschuldigt hast… Warum sollte ich dich nicht anrufen?”

Brooklyns Grinsen verschwand nicht, als er nun nickte, aber es war offensichtlich, dass er ihm nicht glaubte. „Alles klar”, murmelte er. Dann stützte er den Arm auf dem Tresen ab und das Kinn in die Hand. „Ich will nur eins klarstellen: Heute werde ich mich benehmen.”

„Gut”, sagte Kai, „Denn es kann sein, dass ich dafür austicke.”

„In diesem Fall kaufe ich dir gern weiter Getränke.”

Nun war es an Kai, ein süffisantes Grinsen aufzusetzen. Sie spielten miteinander, das war glasklar. Aber er würde lügen, wenn er behauptete, nicht gern zu spielen.

Er ließ den Blick durch den Raum wandern, der voller hipper junger Menschen war (sie waren nur einen Katzensprung vom Alexanderplatz entfernt, es war also nicht verwunderlich),dann fühlte er eine Berührung am Arm. Als er sich umwandte, sah er direkt in Brooklyns grüne Augen. „Was ist los?”, fragte dieser und ließ seine Hand wieder sinken, legte sie aber sehr dicht neben Kais Arm auf den Tresen.

Kai öffnete den Mund, unsicher, was er sagen sollte. Fakt war, er wollte es sich von der Seele reden, zumindest einen Teil von dem ganzen Mist, der gerade passierte. „Ich wechsle vielleicht bald den Job”, antwortete er schließlich, „Und das gefällt mir nicht.”

„Musst du aus Berlin weg?”

„Das weiß ich noch nicht. Aber vielleicht. Und ja, das ist auch ein Grund, weshalb mir das alles nicht gefällt.”

Brooklyn griff wieder zu seiner Flasche. „Du bist gern hier!”, stellte er fest. In diesem Moment drängten sich noch mehr Menschen in die Bar. Es wurde noch enger und sie mussten ein Stück näher zusammenrutschen. Kai meinte, Brooklyns Aftershave riechen zu können, ein leichter, frischer Duft. Brooklyn war größer als er, wenn auch nicht so groß wie Yuriy, dafür aber auch nicht so extrem schlank wie dieser. Schnell trank er ein paar weitere Schlucke Bier und merkte enttäuscht, dass die Flasche beinahe leer war.

„Ja, ich bin gern hier”, sagte er dann, und es schien ihm, als wäre dies das erste Mal, dass er das so offen zugab. „Auch wenn es in letzter Zeit etwas schwierig war.”

„Warum?” Brooklyn gab der Barkeeperin ein Zeichen, um neue Getränke zu bekommen. Kai merkte, wie sich ein Gefühl von Leichtigkeit in seinem Kopf ausbreitete, was sicher nicht nur am Bier, sondern auch am Wein von vorhin lag. Er musste langsamer trinken.

„Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem Freund”, sagte er schließlich vage.

„Aber das ist doch kein Grund, die Stadt verlassen zu müssen.”

Er schnaubte. „Nein. Aber es ist nicht schön. Es beschäftigt mich.”

„Verstehe.” Nun war es Brooklyn, der ihr Umfeld musterte. Er schien über irgendetwas nachzudenken, seine Stirn war gerunzelt. Dann sah er Kai wieder an. „Darf ich dir was erzählen?”, fragte er und es war erkennbar, dass es sich nicht um eine schöne Anekdote handelte. Kai hob unverbindlich die Schultern und trank, um sich nicht festlegen zu müssen.

Natürlich wertete Brooklyn das als Ja. „Du weißt sicher, dass Garland und ich zusammenwohnen. Und dass wir bis vor ein paar Monaten zusammen waren”, sagte er und Kai nickte. „Das hast du mir im Club erzählt.”

„Richtig, entschuldige.” Brooklyn seufzte. „Ganz ehrlich, es ist schwierig. Wir waren so lange zusammen, und jetzt ist auf einmal alles anders und … dann auch wieder nicht.” Er verzog den Mund. „Das wäre alles noch aushaltbar. Aber ich glaube, er hat jemanden kennengelernt.”

Kai zog die Augenbrauen hoch und hoffte, dass in seiner Miene nicht abzulesen war, was in ihm vorging. Denn natürlich wanderten seine Gedanken sofort zu Yuriy.

„Warum denkst du das?”, fragte er.

„Ich weiß nicht”, sagte Brooklyn und sah ihn nachdenklich an. „Er benimmt sich anders. Es ist so ein Gefühl. Ich habe ein ziemlich gutes Gespür für ihn, weißt du.”

„Das glaube ich dir sofort”, meinte Kai. In seiner Stimme schwang ein wenig Sarkasmus mit, den Brooklyn aber zu ignorieren schien. „Mein Exfreund hat auch gerade jemand neues”, fuhr er dann fort. „Aber das ist okay.”

„Bist du nie eifersüchtig?”

Kai überlegte kurz. „Nein”, sagte er ehrlich, „Aber wir sind auch schon länger auseinander. Und es gab einige mehr vor dieser neuen Person - am Anfang war ich eifersüchtig, klar. Jetzt nicht mehr.”

„Darauf trinke ich”, sagte Brooklyn und nahm einen tiefen Zug aus der Flasche. Kai konnte nicht verhindern, dass er noch einmal an Garland und Yuriy dachte. Was Giulia ihm erzählt hatte, klang nicht, als wäre es ernst zwischen den beiden. Und Yuriy hatte selbst gesagt, dass er kein Interesse an Garland hatte. Oder hatte er gelogen?

„Hör mal, ich weiß, dass Berlin nicht für alle die geilste Stadt der Welt ist”, sagte Brooklyn plötzlich. „Ich bin jetzt seit, hm, zwanzig Jahren oder so hier. Es ist manchmal echt scheiße.” Er zwinkerte ihm zu. „Und ich meine, gerade jetzt bin ich in einer wirklich beschissenen Situation. Aber ich würde trotzdem nicht wegziehen wollen.”

Kai öffnete den Mund zu einer Erwiderung, als ihm jemand einen Stoß von hinten gab, sodass er gegen Brooklyn stolperte. Der verschüttete daraufhin ein wenig von seinem Getränk über sein Shirt. „Whoops”, machte Kai und hob beide Hände. „Sorry.” Schnell brachte er wieder einen Schritt mehr zwischen sich und den anderen. Doch Brooklyn lächelte nur. „Kein Problem. Sollen wir vielleicht woanders hingehen? Hier wird es gerade echt voll.” Als Kai zögerte, nickte er in Richtung Tür. „Wir können ein Stück spazieren gehen. Hier sind ja überall Spätis, da gehen uns die Getränke schon nicht aus.”

Schließlich ließ Kai sich überreden. Sie traten nach draußen in die kühle Nacht. Inzwischen war es merklich dunkler geworden, auf der Straße herrschte aber immer noch reges Treiben. Sie begannen, etwas ziellos in eine Richtung zu schlendern, nebeneinander, nur manchmal mussten sie anderen Gruppen ausweichen. Irgendwann machten sie Tatsächlich noch einen Abstecher in einen Späti, bevor sie ihren Weg fortsetzten. Kai kannte sich nicht sehr gut in dieser Gegend aus, aber es gab überall Tramstationen, und zur Not würde er mit dem Handy schon wieder nach Hause finden. Oder ein Taxi nehmen. Außerdem war Brooklyns Gesellschaft bei weitem nicht so unangenehm, wie er befürchtet hatte. Sie konnten sich unterhalten, und das tat verdammt gut. Und ja, Kai bemerkte auch den Ausdruck in Brooklyns Augen, wenn der ihn musterte. Es war offensichtlich, dass er dem anderen gefiel. Und das wiederum gefiel ihm selbst.

„Vielleicht solltest du Garland einfach darauf ansprechen”, schlug er irgendwann vor. „Ihn fragen, ob er jemanden hat, meine ich. Es ist ja klar, dass es dir unangenehm ist, wenn ihr noch zusammenwohnt. Ich glaube, da müsst ihr einfach mal drüber reden.”

„Hm.” Schon wieder traf ihn dieses Brooklyn-Grinsen, das wirklich nur das war, ein Grinsen, ohne tiefere Bedeutung. Er konnte nicht sagen, ob den anderen diese Worte irgendwie trafen.

Anstatt zu antworten blieb Brooklyn stehen. Kai machte noch ein paar Schritte, bevor er sich zu ihm umdrehte, ihn fragend ansah. Sie waren in einer Nebenstraße gelandet, und bis auf ein lautes Grüppchen weiter vorn war niemand zu sehen.

„Ich glaube, ich möchte lieber mit dir über etwas reden”, sagte Brooklyn.

Kai legte den Kopf schief. „Und worüber?” Er bewegte sich nicht, als Brooklyn auf ihn zukam und sehr dicht vor ihm stehen blieb. Hinter seinem Bauchnabel zog sich etwas zusammen, aber auf die gute Art. Deswegen tat er auch nichts, als Brooklyns Finger seine Wange streiften und er sich vorbeugte, um etwas in Kais Ohr flüstern zu können.

„Darüber, dass ich dich gern mit nach Hause nehmen würde.” Dann brachte er wieder etwas Abstand zwischen sie.

Kai ließ den Blick über ihn schweifen. Überlegte. Er wusste, es sprach einiges dagegen, mit Brooklyn mitzugehen. Aber er hatte verdammt nochmal keinen Bock mehr darauf, das Richtige zu tun. Er wollte nur eins: Ablenkung.

Er leckte sich kurz über die Lippen. „Ich habe dir doch gesagt: Das hier ist kein Date.”

„Wie praktisch, dass ich nicht romantisch bin”, entgegnete Brooklyn, dessen Blick an Kais Mund hängen geblieben war.

„Ich dachte, du wolltest mich kennenlernen.”

Sein Gegenüber hob die Schultern. „Ich nehme, was ich kriegen kann. Auch einen kleinen, unverbindlichen Fick.”

Kai schnaubte amüsiert. Manche Dinge auf dieser Welt waren immer noch so verdammt einfach. Dann hob er den Kopf und sah Brooklyn direkt an.

„Okay.”

Doch ich hab da so ein Bauchgefühl, dass ich das alles gar nicht will

Es war längst hell, als Kai aufwachte. Zunächst kam es ihm nicht seltsam vor, allein zu sein, bis ihm auffiel, dass er sich nicht in seiner eigenen Wohnung befand. Er meinte, Stimmengewirr zu hören, konnte es aber nicht zuordnen. Sein Körper fühlte sich an, als hätte er ein langes Training im Fitnessstudio hinter sich. Seine Lippen waren zerküsst. Als er sich auf den Rücken drehte, entwich ihm ein leises Ächzen, das aber eher der allgemeinen Situation galt als seiner körperlichen Verfassung. Langsam kamen die Erinnerungen an die letzte Nacht zurück.

Eins musste man Brooklyn lassen, im Bett nahm er keine Gefangenen. Sie hatten sich aufeinander gestürzt wie halb verhungerte Tiere. Ein paar Gegenstände waren dabei zu Boden gerissen worden - eine Stehlampe, eine leere Vase, die zum Glück heil geblieben war, ein paar Bücher. Seine Kleidung lag verstreut zwischen alldem. Er war noch immer nackt, hatte die Decke irgendwie um sich geschlungen. Neben ihm auf der Matratze lag eine leere Kondomverpackung. Der Sex war nicht schön gewesen, aber ausgiebig und, ja, in gewisser Weise auch befriedigend. Dunkel entsann er sich, dass sie alles andere als leise gewesen sein mussten, Brooklyn aber scheinbar kein Problem damit hatte, wenn die Nachbarn hörten, was er so trieb. Sie waren sich ziemlich schnell einig geworden, was ging und was nicht, wobei Kai das Gefühl hatte, er habe mehr Grenzen gesetzt. Außerdem war er sehr dankbar für Brooklyns großes Bett, denn als sie irgendwann nicht mehr konnten, hatte er lieber wieder etwas Abstand zwischen sich und den anderen gebracht. Sich mit ihm in allen möglichen Stellungen vergnügen, funktionierte - danach mit ihm zu kuscheln überhaupt nicht. Die Reue saß tief. Er hatte sie schon spüren können, als er die Wohnung betreten hatte - vielleicht sogar noch früher. Doch dann hatte er sie verdrängt, zumindest für die Dauer des Akts, nur, um sofort wieder von ihr eingeholt zu werden. Jetzt steckte sie in ihm wie ein Dorn.

In einem Anflug von Überforderung legte Kai einen Arm über die Augen. Die Stimmen auf der anderen Seite der Wand wurden lauter. Es war, als würde im Nebenzimmer gerade ein Streit ausbrechen.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Mit einem Ruck setzte Kai sich auf und streckte schon die Hand nach seinen Klamotten aus. Wie hatte er so bescheuert sein und Brooklyn glauben können, als der ihm hatte weismachen wollen, dass Garland nicht zu Hause war? Während er sich in aller Eile etwas überwarf, wurde es vor der Tür immer lauter, und als er sie aufriss, schlugen ihm die Worte entgegen. Die beiden mussten in der Küche sein, doch diese Wohnung war einfach unglaublich hellhörig. Kai verstand nicht sofort alles, denn irgendwie verließen ihn seine Sprachkenntnisse, doch ein paar Sätze drangen zu ihm durch.

„Du hast wirklich kein Schamgefühl, oder?”

„Das fragst ausgerechnet du mich?”

„Du konntest es noch nicht einmal vertragen, wenn ich jemand anderen auch nur angesehen habe! Und jetzt schleppst du hier irgendwelche Leute ab?”

Kurz überlegte er, ob er die Gelegenheit nutzen und einfach abhauen sollte. Alles war besser, als hier zwischen die Fronten zu geraten. Doch er hatte nicht vergessen, was er über Brooklyn und Garland wusste. Und es wirkte, als würde ihr Streit gerade drohen, zu eskalieren. Ein Scheppern erklang in der Küche, das ihn zusammenzucken ließ. Kurz darauf Brooklyns Stimme: „Sag mal spinnst du?”

Kai wusste, er konnte hier nicht weg. Er warf noch einen sehnsüchtigen Blick zur Eingangstür, die nur zwei Schritte von ihm entfernt war, dann drehte er sich um.

Sobald er die Küche betrat, wandten sich zwei Augenpaare ihm zu. Der Tisch stand zwischen ihnen und auf ihm lagen ein paar Keramikscherben in einer Kaffeepfütze. Brooklyn strahlte eine Ruhe aus, die ihm angesichts dessen, was er gerade mit angehört hatte, unheimlich war, doch in Garlands Gesicht stand purer Schock. Dann wirbelte er zu Brooklyn herum: „Du hast es mit Kai getrieben? Er ist mein Kollege, verdammt!”

Von Brooklyn kam nur ein abfälliges Geräusch. „Na und?”

„Na und?!” Garland schien drauf und dran, nach der zweiten Tasse, die auf dem Tisch stand, zu greifen, doch Kai machte einen beherzten Schritt nach vorn und streckte die Hand aus. „Garland, warte!”

„Halt dich da raus, Kai!”

Er packte den anderen am Handgelenk. „Hör auf mit dem Scheiß.”

„Ja, genau, Garland”, ertönte Brooklyns Stimme hinter ihm. „Hör auf mit dem Scheiß. Hör auf so zu tun, als wärst du unschuldig.”

„Was soll das denn jetzt heißen?” Garland stieß Kai zur Seite, doch nur, um sich auf dem Tisch abzustützen und Brooklyn näher zu kommen. Kai atmete einmal durch. Es war offensichtlich, dass keiner der beiden Interesse an ihm hatte. Garland schien wütender über Brooklyns Fehltritt zu sein als über die Tatsache, dass Kai daran beteiligt war. Was die ganze Sache aber nicht einfacher machte.

„Ganz ehrlich”, sagte Brooklyn und klang dabei gefährlich ruhig, „Wer hat denn Angefangen mit dem Scheiß, hm?”

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst”, fauchte Garland, warf Kai aber einen Seitenblick zu, den dieser nicht deuten konnte.

Brooklyn schnaubte und schüttelte den Kopf, als könne er nicht fassen, was sich hier gerade abspielte. „Wer ist Yuriy Ivanov?”, fragte er dann.

Aus Garlands Gesicht wich alle Farbe, auf einmal wirkte er grau. Kai spürte, wie sich sein Magen auf ungute Art zusammenkrampfte und er realisierte, dass er auf alles gefasst gewesen war, bis auf eines: Yuriys Namen aus Brooklyns Mund zu hören.

„Du warst an meinem Handy”, sagte Garland. „Du hast es schon wieder gemacht! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst die Finger davon lassen?!”

Brooklyn hob beide Hände. „Du hast mir keine andere Wahl gelassen…”

Garland stieß einen wütenden Schrei aus. Es wirkte, als wolle er sich quer über den Tisch hinweg auf Brooklyn stürzen. Diese plötzliche Bewegung riss nun auch endlich Kai aus seiner Starre.

„Das reicht jetzt.” Mit einem entschlossenen Schritt schob er sich vor Garland, sodass dieser ihn ansehen musste. Er spürte Brooklyn in seinem Rücken, oder zumindest seine Wut, aber er zwang sich, ihn nicht zu beachten. „Das geht nicht”, sagte er fest, „Ihr könnt nicht beide in dieser Wohnung bleiben.”

„Misch dich da nicht ein, Kai!”, kam es nun von Brooklyn, doch Kai ignorierte ihn weiterhin.

„Pack ein paar Sachen”, sagte er zu Garland, „Ich rufe Giulia an.” Sie und Raoul hatten eine große Wohnung, es würde schon irgendwie klappen. Zumal Raoul wahrscheinlich sowieso die ganze Zeit bei Lai war.

Garland stieß die Luft aus. Es schien, als würde mit ihr auch sein Zorn entweichen und einer Mischung aus Enttäuschung und Trauer Platz machen. Er warf noch einen unsicheren Blick auf Brooklyn, dann verließ er die Küche. Und Kai wandte sich endlich zu dem anderen um. „Verfickte Scheiße noch mal”, sagte er, „Du hast gesagt, wir wären allein! Aber das war alles geplant, oder? Wieso machst du so was?”

Brooklyn schnalzte mit der Zunge. „Weil ich es wollte, Kai. Weil ich dich wollte.”

„Ja, und du wolltest Garland eifersüchtig machen.”

„Was ist daran so schlimm? Du bist doch auch auf deine Kosten gekommen.”

Kai wollte etwas erwidern. Er wollte ihm sagen, wie benutzt er sich plötzlich fühlte und wie das seine Reue nur noch verstärkte. Aber er brachte kein Wort heraus. „Du bleibst hier, bis wir weg sind”, sagte er stattdessen. Brooklyns Gesicht verzerrte sich in Wut, doch dann bekam er sich wieder unter Kontrolle. Grollend schob er die Hände in die Hosentaschen und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Da es den Anschein hatte, als würde er dort sitzen bleiben, trat Kai auf den Flur hinaus, um zu telefonieren, dabei behielt er Brooklyn weiter im Blick. Ignorierte sein eigenes Gefühlschaos.

Eine Viertelstunde später war alles geklärt. Während Garland noch die letzten Dinge eingepackt hatte, war Brooklyn in sein Zimmer geschlichen und hatte die Tür geschlossen. Und über Kai war die Müdigkeit gekommen. Inzwischen fühlte er sich richtig elend. Das hier war der Gipfel der letzten beiden Wochen, und er spürte, dass er nicht mehr konnte. Er wollte nur noch nach Hause.

„Ich bring dich noch zu Giulia”, sagte er leise, als sie vor der Wohnungstür standen. „Komm.”
 


 

Yuriy wurde von seinem Handy geweckt. Sein erster Blick galt der Uhrzeit. Es war früher Nachmittag, was ihn nicht so sehr verwunderte wie der Name, der auf seinem Display stand.

„Takao”, sagte er verschlafen, als er abgenommen hatte, „Was ist los?”

„Yuriy, hey. Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.”

Er setzte sich auf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Schon gut. Warum rufst du an?”

„Hast du in den letzten Tagen von Kai gehört?”

„Nein”, antwortete Yuriy und unterdrückte ein Seufzen.

„Oh.” Takao zögerte. Ob er wohl von ihrer Auseinandersetzung wusste? „Mist. Ich glaube, ihm geht es gerade nicht so gut. Wir hatten ein seltsames Telefonat vor ein paar Tagen, aber ich bin nicht in der Stadt. Ich versuche heute schon die ganze Zeit, ihn zu erreichen, aber es klappt nicht.”

Während Takao erzählte, wurde Yuriy langsam wach. Er runzelte die Stirn. „Machst du dir Sorgen?”

„Schon ein bisschen”, gab der andere zu. „Sag mal, kannst du vielleicht nach ihm sehen?”

„Hmm.” Der Gedanke behagte ihm nicht. Zumal er davon ausging, dass Kai einfach nur vor sich hinschmollte. „Hör mal”, sagte er schließlich, „Kai und ich hatten einen kleinen Streit. Ich habe schon länger nicht mehr mit ihm geredet. Vielleicht bin ich genau der Falsche, um nach ihm zu sehen.”

„Ja, aber da ist noch mehr.” Die Art, wie Takao das sagte, ließ keinen Widerspruch zu. „Sorry Yuriy, aber nur wegen eines Streits mit dir würde er mich nicht derart ignorieren.”

„Nein”, bestätigte er, „Irgendwas ist da los, aber ich habe auch nichts aus ihm herausbekommen. Deswegen haben wir uns ja gestritten. Ich glaube, er will seine Probleme lieber alleine lösen.”

Von Takao kam ein Seufzen. „Das befürchte ich auch. Es wäre nicht das erste Mal. Also -

Könntest du dir vorstellen, über deinen Schatten zu springen und nach ihm zu sehen?”

Er stieß die Luft aus. Was sollte er darauf erwidern? Takao kannte Kai wesentlich besser als er selbst, und wenn er sich Sorgen machte, war das wohl begründet. Sein eigenes Gefühl sagte ihm allerdings, dass es vergebene Liebesmüh war. Er war müde, er hatte eine lange Nacht hinter sich, er wollte nicht quer durch die Stadt fahren müssen, um am Ende tatenlos vor irgendeiner Haustür zu stehen.

Takao deutete sein Zögern wohl richtig, denn er setzte noch einmal an: „Bitte, Yuriy. Ich würde dich nicht fragen, wenn ich es nicht ernst meinte. Hör mal” Er holte noch einmal hörbar Luft. „Kai braucht ab und zu einen Tritt in den Arsch. Und er weiß das, glaub mir, er will es nur nicht einsehen.”

„Und er wird mir nicht gerade dankbar dafür sein, schätze ich”, brummte Yuriy.

„Hmm, das würde ich so nicht sagen. Er hat eine seltsame Art, seine Dankbarkeit zu zeigen, aber denk mal drüber nach… Es kann nicht schaden, wenn ein Kai Hiwatari in deiner Schuld steht. Oder?”

„Gott, Takao, ich mache so was doch nicht, um mich zu bereichern! Fuck, Mann…” Er ächzte. „Ja, okay. Schick mir die Adresse. Ich überlege es mir. Aber versprechen kann ich nichts!”

Er hörte, wie der andere ausatmete. „Danke, Mann! Du hast was gut bei mir!”

Als sie aufgelegt hatten, musste Yuriy sehr stark den Drang unterdrücken, sich einfach wieder ins Bett fallen zu lassen. Er hatte keineswegs vor, jetzt sofort alles stehen und liegen zu lassen, um Kai zu besuchen. Zuerst brauchte er nämlich einen Kaffee. Oder zwei. Und eine Dusche. Und vielleicht wurde es dann ja schon dunkel und es lohnte sich nicht mehr, das Haus zu verlassen...

Boris saß in der Küche, und er hatte dankenswerterweise schon eine Kanne Kaffee gekocht. „Na, wie war’s?”, fragte er, während Yuriy sich bediente, und so nahm er sich Zeit, um ihm ausführlich von der vergangenen Nacht zu erzählen.

„Ja, wie geil ist das denn bitte?” Boris freute sich mindestens genauso sehr wie Yuriy selbst. „Ihr habt bald einen Gig im Bunker! Kannst du mich dann auf die Gästeliste schreiben?”

Wenn es dazu kommt, sicherlich.”

„Natürlich wird es dazu kommen, warum sollte es das nicht?”

Yuriy schmunzelte. „Ich liebe es, wie du mehr Vertrauen in unser Können hast als wir.”

„Yura, ich höre seit bestimmt mehr als zehn Jahren zu, wie du Musik machst.” Boris zuckte mit den Schultern. „Du kannst das, Punkt. Wenn dieser Kane das nicht hört, ist er taub.”

Er wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment fing sein Handy wieder an zu vibrieren. Die Nummer auf dem Display war ihm nicht bekannt, aber er dachte sofort daran, dass es Kane sein könnte. Daher nahm er ab.

Es war Giulia. „Hey, es tut mir furchtbar leid, dass ich dich störe…”

„Kein Ding”, sagte er, obwohl er ziemlich überrumpelt war. „Was ist denn los?”

„Okay, ähm, das kommt jetzt vielleicht etwas plötzlich, aber gerade standen Garland und Kai vor meiner Tür. Anscheinend hatte Garland Streit mit Brooklyn, und Kai ist irgendwie dazwischen gegangen und hat ihn zu mir gebracht - aber Kai sieht total schrecklich aus, und deswegen wollte ich fragen, ob -”

„Halt, nochmal von vorn”, unterbrach Yuriy, der das Gefühl hatte, nur die Hälfte von dem mitbekommen zu haben, was sie gesagt hatte. Er war eindeutig nicht wach genug für diesen Redeschwall. „Garland hatte Streit mit - mit wem?”

„Brooklyn. Sein Ex.”

„Alles klar. Und Kai war auch dort?” Das verwirrte ihn mehr als alles andere. „Was hatte er dort zu suchen?”

„Keine Ahnung! Aber er hat mich von dort angerufen und gefragt, ob Garland bei mir bleiben kann. Für eine Weile. Und dann hat er ihn hergebracht.”

„Das heißt, Garland sitzt jetzt bei dir”, schlussfolgerte Yuriy. „Und Kai?”

„Der ist zu sich nach Hause. Aber Yuriy - Irgendwas ist mit Kai. Der war total komisch. Und hat sich seltsam benommen. Kannst du mal nach ihm sehen? Ich würde selbst gehen, aber Garland ist auch total fertig mit den Nerven…”

Yuriy schnaubte; inzwischen war es um seine Ruhe auch geschehen. Boris, der sein Mienenspiel natürlich genau beobachtet hatte, sah ihn besorgt an.

„Meine Fresse, was geht da bloß ab bei euch”, murmelte er und fuhr sich resigniert durch die Haare. „Ja. Ja, okay”, sagte er dann etwas lauter, „Ich geh’ zu ihm.”

„Du bist ein Schatz, Yuriy!”

Ihre Verabschiedung hörte er kaum noch, denn seine Gedanken hatten zu rasen begonnen. Spätestens jetzt fing er an, sich selbst Sorgen um Kai zu machen. Mit einem frustrierten Stöhnen vergrub er das Gesicht in den Händen.

„Was ist denn los?”, fragte Boris.

Yuriy sah ihn zwischen seinen Fingern hindurch an. „Ich muss zu Kai.”

„Jetzt?”

„Ja.” Er ließ die Hände sinken. „Gott, ich dreh durch. Kann ich eine Umarmung haben?”

Von Boris kam ein leises Lachen, dann stand er auf, ging um den Tisch herum und legte die Arme um Yuriy, der die Nase in seinen Bauch drückte. Er spürte, wie Boris’ Finger durch sein Haar strichen und sein Puls sich beruhigte. „Ah. Besser.”

„Was ist denn passiert?”, fragte Boris, doch Yuriy konnte nur den Kopf schütteln. „Keine Ahnung. Kai spricht ja nicht mit mir. Alles ganz, ganz großes Drama.”

„Ha. Wie bist du da nochmal reingeraten?”

Yuriy sah missmutig zu ihm hoch. „Er stand an der Bar und sah gut aus.”

Das amüsierte Brummen seines Mitbewohners vibrierte unter Yuriys Handflächen. „Alles klar. Ich fahr dich”, sagte Boris.

„Nein, du musst nicht…”

„Doch. Mit der Bahn dauert das doch viel zu lange. Ist schon okay.”
 

Und so stand er eine Stunde später vor dem Gebäude, in dem Kai wohnte. Wäre die Situation nicht so verfahren gewesen, hätte er darüber gelacht, wie verdammt richtig er gelegen hatte, als er im Zentrum wilde Annahmen über Kais Wohnsituation gemacht hatte. Das Haus war eines von diesen weißen, glatten Neubauten, die überall in der Stadt aus dem Boden schossen. Die Eingangstür war nur angelehnt, und so machte er sich nicht die Mühe, gleich unten zu klingen, sondern trat einfach so ein. Im Fahrstuhl klebte noch die Schutzfolie auf dem Spiegel, nichtsdestotrotz hatte sie schon jemand bekritzelt.

Vor Kais Wohnung zögerte er. Er wusste nicht, was ihn erwartete. Aber jetzt war es zu spät, um umzudrehen, oder?

Er klingelte. Halb rechnete er damit, dass Kai sich dort drin vergraben hatte und ihm sowieso nicht öffnen würde, doch dann hörte er Geräusche auf der anderen Seite und die Tür ging auf. Kais Augen weiteten sich, als er ihn sah. „Yuriy…”

Er ließ den Blick über ihn wandern. Kai trug ein zerknittertes Shirt und abgetragene Jogginghosen, stand mit nackten Füßen auf dem Laminatboden seiner Wohnung. Unter seinen Augen hatten sich tiefe, dunkle Ringe gebildet. Der Raum hinter ihm lag in Dunkelheit, aber irgendwie glaubte Yuriy nicht, dass er geschlafen hatte. „Mann siehst du scheiße aus”, urteilte er.

Kais Mundwinkel zuckten, aber nicht auf die gute Art. „Bist du nur vorbeigekommen, um mir das zu sagen?” Seine Stimme war leise und rau, als hätte er zu viel gefeiert.

Yuriy verdrehte die Augen. „Ich bin hier, weil sowohl Takao als auch Giulia mich gebeten haben, nach dir zu sehen”, erklärte er, „Ich habe erst gedacht, sie übertreiben, aber jetzt… Meine Fresse, Kai, was ist los mit dir?”

Der andere starrte ihn einfach nur an, lange genug, um so etwas wie Nervosität in ihm auszulösen. Dann öffnete er die Tür noch ein wenig mehr. „Komm rein.”

In der Wohnung war es heller als erwartet. Die Rollläden waren unten, aber durch die Ritzen fiel noch das Licht herein. Ein paar Möbelstücke zeichneten sich im Zwielicht ab. Es war eine klassische, moderne Einraumwohnung mit integrierter Küchenzeile. Das Bett stand in einer Nische, es gab ein paar Regale und ein Sofa. Ansonsten nicht viel. Die Luft war etwas stickig, aber noch nicht abgestanden. Und es roch nach Kai.

„Können wir ein bisschen Licht reinlassen?”, schlug Yuriy vor. Während er seine Schuhe im Eingangsbereich auszog, ging Kai zu den Fenstern und zog die Rollläden hoch. „Willst du ein Wasser oder so was?”, fragte er.

„Weißt du”, meinte er, „Ich glaube, Wein wäre mir lieber.”

„Okay. Setz dich.” Kai deutete flüchtig aufs Sofa, bevor er sich wieder an ihm vorbeischob, um zum Kühlschrank zu gehen. Während er dort herumhantierte, beobachtete Yuriy ihn. Wenn Kai seinen Blick bemerkte, so reagierte er nicht darauf - zumindest, bis er plötzlich seufzte und sich auf der Arbeitsplatte abstützte.

„Hey”, sagte er zu den Fliesen an der Wand. „Ich habe mich letzte Woche echt daneben benommen.”

Nun sah Yuriy doch in eine andere Richtung. „Du bist ein Arsch, weißt du das?”

„Ja.” Er hörte, wie Kai sich bewegte, dann trat er in sein Sichtfeld. Reichte ihm ein Glas und setzte sich neben ihm auf das Sofa. „Du bist nicht der erste, der das sagt.”

„Schon mal daran gedacht, das zu ändern?”

Ein müdes Grinsen. „Eventuell. Aber es funktioniert nie.”

„Hm. Dann Prost.” Er stieß sein Glas an Kais und nahm einen Schluck. Wartete darauf, dass der andere anfing zu sprechen, doch es schien nicht, als würde das in nächster Zeit passieren. Kai hatte sich halb weggedreht und starrte unbestimmt ins Nichts. Yuriy stützte den Arm auf der Rückenlehne ab und betrachtete ihn erneut. Das Licht verschärfte sein Profil und alle Zeichen der Müdigkeit, aber da war immer noch dieser feste Zug um seinen Mund, der ihn streng wirken ließ, obwohl seine Lippen sehr weich waren.

„Du hast mich an einem ziemlich wunden Punkt getroffen, weißt du das?”, sagte er schließlich. „Ich hasse es, unterschätzt zu werden. Das ist mir einfach ein paarmal zu oft im Leben passiert. Liegt wahrscheinlich daran, wo ich aufgewachsen bin. Und wie. Wenn ich heute jemandem erzähle, wo ich herkomme, dann denken sie zuerst an Assis und dann an Nazis. Will nicht sagen, dass ich nie Ärger mit denen hatte. Und Boris sind seinem Adidas-Anzug wird auch jedem Klischee gerecht… Aber du weißt, was ich meine, oder?” Er drehte sein Glas in den Händen. „Mir ist klar, dass du das alles nicht wissen kannst, also sage ich dir das jetzt. Hör einfach auf, mich von oben herab zu behandeln, okay? Das machen schon genügend andere.” Es war immer noch schwer, darüber zu reden. Er wollte nicht daran denken, wie in seiner Jugend sich niemand so richtig für sie interessiert hatte, einfach weil alle glaubten, sie wären in so widrige Umstände hineingeboren worden, dass aus ihnen sowieso nie etwas werden würde. Ohne die Arschtritte seiner Eltern und die Freundschaft mit Boris wäre er wohl ganz woanders gelandet - was aber nicht bedeutete, dass ihn die Ressentiments anderer Leute nicht immer und immer wieder entgegenschlugen. In diesem Punkt hatte Yuriys Stolz einen ganz schönen Knick, und er hatte die Hälfte seines erwachsenen Lebens gebraucht, um zu lernen, damit umzugehen.

Kai drehte sich zu ihm und sah ihn direkt an. Wieder einmal verfluchte Yuriy seine Augen; wie sie jeden seiner Blicke intensiver wirken ließen als er vermutlich war.

„Das habe ich wirklich nicht gewusst”, sagte Kai, „Ich habe gemerkt, dass meine Worte dich getroffen haben, aber mir war nicht klar, wie.” Er zögerte kurz. „Es tut mir leid.”

Yuriy konnte sein Erstaunen nicht gänzlich verbergen. Hatten sie sich wirklich eine Woche anschweigen müssen für etwas, das sie innerhalb von fünf Minuten hätten klären können? Er kam sich ziemlich dämlich vor, und irgendwie stimmte ihn das auch versöhnlich. „Schon gut”, murmelte er und lächelte müde. „Dann ist das damit erledigt?”

„Meinetwegen.”

„Okay. Willst du eine Umarmung oder so was?”

Kai verzog den Mund. „Körperkontakt wäre schon nett gerade.”

„Finde ich auch.”

Ihre Umarmung wurde nicht ganz so seltsam, wie Yuriy erwartet hatte. Kais Haare kitzelten ihn an der Nase und seine Kleidung war sehr weich unter seinen Händen. Er musste den Drang unterdrücken, ihm über den Rücken zu streichen. Dann ließ Kai sich wieder zurücksinken und griff nach seinem Glas. „Jetzt zu den schwierigen Themen, nicht wahr?”

Yuriy räusperte sich und trank ebenfalls noch etwas, einfach, um den Frieden zwischen ihnen noch ein bisschen länger zu halten. „Also schön”, sagte er schließlich, „Die aktuelleren Fragen zuerst. Was hattest du bei Garland zu suchen?”

Kai schloss kurz die Augen. „Ich habe mit Brooklyn geschlafen.”

„...Hä?!” Yuriy fiel aus allen Wolken. „Was zum Fick, Mann?”

„Ich weiß, ich weiß, es war dämlich”, sagte Kai. „Er hat mir seine Nummer gegeben, schon vor einiger Zeit. Und gestern… Mir war nach Gesellschaft, niemand hatte Zeit, ich hab ihn angerufen, wir sind in eine Bar… Du weißt, wie so was läuft.” Er machte eine Pause. „Das heißt aber nicht, dass ich es nicht bereue. Sag nichts, bitte. Es war ein Fehler.”

„War es wenigstens gut?” Kais wiegte den Kopf und Yuriy hob nur ungläubig die Augenbrauen. „Also, schlechten Sex hättest du auch von mir kriegen können.”

„Falls du es schon vergessen hast, wir haben nicht miteinander geredet.”

„Ja, und eben hast du dich entschuldigt. War nicht so schwer, oder?”

Und endlich lächelte Kai. Vielleicht war es ihm peinlich, denn er legte die Hand über sein Gesicht und fuhr sich dann mit einer fließenden Bewegung durch die Haare. „Wie auch immer”, sagte er, „Es ist passiert und es war scheiße. Und heute Morgen bin ich in einen Streit zwischen Garland und Brooklyn geraten, der beinahe eskaliert wäre. Also habe ich Garland zu Giulia gebracht.”

Yuriy nickte. Anders hätte er so eine Situation wohl auch nicht aufgelöst. Er war ein bisschen beeindruckt davon, wie klar Kai hatte denken können, obwohl er sicher seine eigenen Probleme im Kopf hatte. Mit dem Gedanken an Garland kamen aber auch Yuriys etwas unschöne Erinnerungen hoch. Nun war er es, der Kai nicht ansehen konnte; stattdessen sah er auf sein Glas hinab. „Ich hab Garland geküsst. An dem Abend, als ich bei euch im Büro war.”

„Ich weiß. Giulia hat euch gesehen.”

„Oh, na toll.”

Kai sah zu ihm auf. „Ich glaube nicht, dass ich mich in der geeigneten Position befinde, um dir daraus einen Vorwurf zu machen”, sagte er, „Aber Brooklyn weiß inzwischen auch davon und er war… nicht angetan.”

„Ganz ehrlich, die beiden brauchen Therapie. Dringend”, ächzte Yuriy und Kai nickte nur. „Ich werde es Garland vorschlagen, sobald sich die Wellen geglättet haben.”

Danach schwiegen sie einträchtig für ein paar Minuten. Ab und an warf Yuriy einen Blick zu Kai, dessen Haare spätestens, seit der sie zerwühlt hatte, komplett durcheinander lagen. Er hätte gern nach der losen Strähne gegriffen, die ihm ins Gesicht hing. Doch bevor er diesem Impuls nachgeben konnte, stand der andere auf und streckte die Hand nach seinem Glas aus. „Mehr Wein?”

„Bring doch einfach die Flasche.”

„Ich hab zwei.”

„Eine reicht. Fürs erste.” Er lehnte sich ein wenig zurück; je länger er hier saß desto mehr konnte er sich in der ihm fremden Wohnung entspannen. Und außerdem war das Sofa bequem. Hoffentlich würde der Wein ihn nicht schläfrig machen.

Ob beabsichtigt oder nicht - als Kai zurückkam, setzte er sich ein Stück näher zu Yuriy und füllte ihre Gläser großzügig auf. „Auf dumme Entscheidungen?”, fragte er.

„Auf dumme Entscheidungen und ihre noch dümmeren Konsequenzen”, ergänzte Yuriy, dann stießen sie an. „Und wo wir dabei sind…” Er streckte betont langsam den Arm aus, sodass dieser hinter Kai auf der Sofalehne lag. „Wie wäre es, wenn du mir jetzt endlich von deinem dunklen Geheimnis erzählst, das du seit einer Woche mit dir herumschleppst?”

Es war erkennbar, dass Kai nachdachte. Er wollte wohl immer noch nicht so wirklich mit der Sprache rausrücken. Also beugte Yuriy sich noch ein bisschen vor, lächelte ihn freundlich an. „Raus damit”, sagte er leise, „Wir wissen beide, dass dich die Sache beschäftigt. Und wenn du jetzt nicht den Mund aufmachst, dann hau ich dir eine in die Fresse.”

Weder wich Kai vor ihm zurück, noch blinzelte er. Stattdessen zuckten seine Augen über Yuriys Gesicht und beinahe dachte er, dass der andere ihm dieses winzige letzte Stück entgegen kommen würde, nur, um nicht reden zu müssen.

Kai öffnete den Mund. „Ist ja gut”, murmelte er.

„Also bitte.” Yuriy lehnte sich wieder zurück.

Und Kai erzählte. Es war eine ziemlich irre Geschichte, zugegeben, und Yuriy verstand tatsächlich nicht jedes kleine Detail. Doch ihm wurde klar, dass in Kais Welt gerade ziemlich abgefuckte Dinge passierten - Dinge, von denen er immer gehofft hatte, dass sie nur im Fernsehen möglich waren. Kais Ton war sachlich, manchmal suchte er nach den richtigen Begriffen und blieb dann doch bei den englischen, aber das war wohl auch dem Geschäftssprech geschuldet. Trotzdem meinte Yuriy, dass ein leichtes Vibrieren von ihm ausging, als würden unter seiner glatten Fassade gerade sehr viele Emotionen hochkochen. Es erklärte, warum Kai so müde aussah. Niemand konnte so etwas lange in sich anstauen. Ihre Weingläser leerten sich erstaunlich schnell, während Kai sprach und Yuriy nur ab und zu nachhakte. Vielleicht war es der Stress. Als Kai schließlich zum Ende gekommen war, schenkte er ihnen nach. Unterdessen versuchte Yuriy, seine Gedanken zu sortieren.

„Du glaubst also, es gibt im Augenblick nur zwei Optionen”, sagte er. „Entweder die Stadt verlassen oder dich deinem Großvater fügen. Und du willst beides nicht.”

„Genau.” Kai rutschte wieder auf dem Sofa zurück und lehnte den Kopf an Yuriys Oberarm, den er immer noch auf der Rückenlehne abgestützt hatte. Wenn er sich jetzt ein wenig vorbeugte, würde seine Nase Kais Haare berühren, und wenn er sich darauf konzentrierte, nahm er den leichten Duft von Shampoo wahr.

„Was denkst du?”, fragte Kai.

Yuriy lenkte seine Gedanken wieder zu ihrem ursprünglichen Problem. „Das ist alles ganz schön verfahren”, urteilte er, „Aber wenn ich du wäre, würde ich mit Giancarlo sprechen.”

„Giancarlo?”

„Du hast gesagt, Jürgens-McGregor hat ihn genauso verarscht wie dich. Der Feind meines Feindes ist mein Freund, oder?”

„Hmm.” Kai sah nachdenklich zu ihm hoch. „Daran habe ich noch nicht gedacht.”

„Ja, weil du nämlich immer alles alleine machen willst”, konterte Yuriy amüsiert und strich kurz über Kais Schulter. „Du solltest irgendwie ein Treffen mit ihm arrangieren. Weit weg von der Arbeit, meine ich.”

„Aber er ignoriert mich gerade. Vermutlich denkt er, ich stecke mit Ralf unter einer Decke - was ja nicht einmal verwunderlich wäre.”

Yuriy trank und dachte nach, während Kai sich in eine etwas bequemere Position brachte, ohne allerdings den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern. An seinem Hals hatten sich ein paar rote Flecken gebildet, die wahrscheinlich vom Wein herrührten. Auch Yuriy spürte, wie ihm dieser langsam ins Hirn stieg.

„Ich kann Olivier fragen”, sagte er. „Er hat noch was gut bei mir. Und wie könnte ich meine Schuld besser begleichen, als dafür zu sorgen, dass sein Liebhaber aus der Scheiße herauskommt, in der er steckt?”

Kai verzog den Mund. „Du bist so selbstlos.”

„Richtig. Übrigens sollte ich bei eurer kleinen Konspiration auch dabei sein.”

„Warum?”

„Weil ich der einzige von uns bin, der weiß, wie man Kapitalisten nachhaltig abfuckt.”

„Hm, okay.” Kai schwenkte den letzten Rest Wein in seinem Glas, bevor er ihn theatralisch anblinzelte. „Du bist so sexy, wenn du von der Revolution sprichst.”

„Du bist so sexy, wenn du dich gegen das System stellst, das dich erzogen hat.”

„Ach komm, nicht nur dann.” Kai biss sich auf die Unterlippe und wirkte dabei ein wenig beschwipst. „Gib’s zu, du magst mich.”

Yuriy brummte und sah noch einmal auf den anderen hinab, der es sich in der Kuhle, die sein Körper bildete, gerade richtig gemütlich gemacht hatte.

Er stieß die Luft aus. „Du hast Recht. Ich steh voll auf dich.” Kurz hielt er inne. „Aber ich will ums Verrecken nicht mit dir zusammen sein.”

Kai hob den Kopf und für ein, zwei Herzschläge sahen sie sich einfach nur an. Dann zuckte Kai mit den Schultern. „Fair.” Er griff nach seinem Handy, das irgendwann zwischen sie gerutscht war, und sah auf die Uhr. „Es ist jetzt sechs”, sagte er. „Was meinst du - Sollen wir uns Döner holen und die zweite Flasche Wein trinken?”

Schöne neue Welt

„Yura?” Boris streckte den Kopf aus seinem Zimmer, als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen ließ. „Alter, ich wollte schon die Bullen anrufen. Warst du heute in der Schule?”

„Ja.” Er streifte sich schwerfällig die Schuhe ab, „Hätte mich krank melden sollen…”

Boris lachte dreckig und trat jetzt ganz in den Flur, um Yuriy in dessen Zimmer zu folgen. Dort zog er sich seinen Schreibtischstuhl heran, während Yuriy sich aufs Bett warf. „War wohl eine lange Nacht? Ich schließe daraus, dass du dich wieder mit Kai versöhnt hast.”

„Ja”, brummte Yuriy, „Aber nicht so, wie du denkst. Wir hatten Wein. Und Döner. Und Wodka.” Weil dummerweise gleich neben dem Dönerstand ein Späti war.

„Geht doch nichts über einen Hauch Knoblauchscharfalles beim Knutschen, was”, spottete Boris. Yuriy seufzte und murmelte etwas Unverständliches in sein Kissen, bevor er die Hand hob, um seinem Mitbewohner den Finger zu zeigen. Hinter seiner Stirn hämmerte es. Über den Tag war sein Kater immer schlimmer geworden, während er panischen Teenagern zuhören musste. Auch ohne Exzesse am Sonntagabend waren Montage am Schuljahresende immer besonders schlimm, denn inzwischen spürte er auch seine eigene Erschöpfung deutlich. Wurde Zeit, dass die Ferien anfingen.

„Was war denn nun los mit ihm?”, fragte Boris in die Stille hinein. Yuriy atmete hörbar aus und drehte sich wieder auf den Rücken, starrte die Decke an. Kurz überlegte er, was er Boris erzählen konnte, basierend auf dem, was der schon über Kai wusste. Doch die ganze Sache war so verzwickt, dass er wohl alle Fakten auf den Tisch legen musste - auf die Gefahr hin, dass es dieses Mal Boris war, der ihm einen langen, anstrengenden Vortrag über Kapitalistenschweine hielt, nicht umgekehrt. Dafür hatte er weder die Nerven noch die Geduld. Andererseits würde es gut tun, es sich von der Seele zu reden; und außerdem brauchte er Boris in dieser Sache sehr wahrscheinlich noch.

„Hat Kai dir jemals von seiner Familie erzählt?”, fragte er also, doch der andere hob nur die Schultern. „Nein, wieso?”

„Okay. Pass auf, was ich dir jetzt erzähle, ist vertraulich. Und du wirst es nicht mögen. Aber bitte halte dich mit Meinungsäußerungen zurück, sonst ticke ich aus.”

„Alles klar.”

Yuriy drehte den Kopf zur Seite, sodass er Boris ansehen konnte. „Kai ist der Enkel von Soichiro Hiwatari, dem CEO von Hiwatari Enterprises.”

An Boris’ Gesicht war deutlich abzulesen, wie ihm Stück für Stück die Bedeutung dieser Worte aufging: Seine Augen wurden langsam größer, dann öffnete sich sein Mund ein Stück. „Verfickte Scheiße.” Eine Pause. „Hiwatari Enterprises? Gegen die wir gerade noch demonstriert haben weil sie irgendwo in Kreuzberg Immobilien aufkaufen wollten?”

„Genau die”, bestätigte Yuriy. „Jetzt machen sie in Start-ups.”

Boris blinzelte. „Also”, sagte er langsam, „Mein erster Impuls ist, mich ins Auto zu schwingen und Kai aufs Maul zu hauen. Aber da du hier seelenruhig liegst beschleicht mich der Verdacht, dass mehr hinter der Sache steckt. Willst du mich aufklären?”

„Ja.” Schwerfällig setzte er sich auf. „Aber zuerst mache ich mir einen Tee. Willst du auch einen?”

Zehn Minuten später saßen sie auf dem Balkon, in ihren Tassen schwammen Zitronenscheiben im Schwarztee, Boris legte sein Drehzeug auf den Tisch, rührte es aber nicht an. Yuriy erzählte ihm die Geschichte, wie er sie von Kai gehört hatte, machte nur hier und da ein paar Ausschweifungen, wenn es um den verpatzten Deal in Russland und die daraus folgenden Konsequenzen ging. An Boris’ Gesicht konnte er die Emotionen ablesen, die er selbst fühlte: Verwirrung, Ärger, Erstaunen, Ungläubigkeit in einem steten Wechsel. Jetzt, nüchtern und am helllichten Tag, wurde das Ganze sogar noch ein Stück absurder.

„Tja, und deswegen wollen wir uns mit Giancarlo zusammentun, um Jürgens-McGregor und Hiwatari Enterprises eins auszuwischen”, beendete er schließlich seine Ausführungen.

Boris hielt seinen Blick noch für eine Sekunde, dann griff er endlich nach seinem Drehzeug und machte Anstalten, ein paar Kippen zu produzieren. „Ihr habt euch echt gerade noch gefehlt”, sagte er schließlich, „Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erlebe, an dem du tatsächlich jemanden findest, der mit dir das System stürzen geht. Ich bin fast ein bisschen gerührt.” Er machte eine Pause, um das Paper anzulecken. „Habt ihr schon einen Plan?”

Yuriy stützte den Kopf in die Hand. „Nein”, nuschelte er, „Wir wissen ja auch noch gar nicht, ob Giancarlo auf unserer Seite ist. Wir wollen uns nächstes Wochenende ihm und Olivier treffen. Gneisenaustraße. Sieh mich nicht so an, ein anderer Termin war nicht möglich.”

Boris’ Blick sprach Bände. Am nächsten Wochenende fand der Karneval der Kulturen statt, und ja, sie trafen sich ausgerechnet an der Gneisenauer, weil Olivier unbedingt dorthin wollte. „Und dann geht’s zum KdK?”, fragte Boris feixend.

„Ich bin sicher, wir werden einen Grund zum Saufen haben, wenn wir mit dem Treffen fertig sind.” Der Karneval gehörte nicht unbedingt zu den für Yuriy besonders wichtigen Terminen im Jahr, aber wenn er schon mal in der Nähe war, konnte er auch mit den anderen hingehen. Es gab dort eine ganz unterhaltsame russische Ecke, vor allem aber Unmengen von Essen und Alkohol.

„Sag mal”, fuhr er fort, während seine Augen auf Boris’ Händen ruhten, „Ist Sergeij noch mit dieser Mieterbewegung verbandelt? Ich wollte da mal ein paar Infos einholen…”
 


 

Die Parade war längst vorbei und der Mehringdamm lag im Chaos. Vor sämtlichen Spätis standen die Leute Schlange, und über den Buden weiter oben rund um die Amerika-Gedenkbibliothek stieg der Rauch auf. Die Straße war ein Trümmerfeld.

Kai und Yuriy lösten sich aus dem Strom der Menschen, die zum Karneval wollten, und liefen stattdessen ein paar Schritte auf der Gneisenaustraße weiter, bis sie zu einem Café kamen, das im Vergleich zu seiner Umgebung grotesk ruhig wirkte. Drinnen war von dem ganzen Trubel erst recht nichts zu bemerken. Giancarlo und Olivier waren schon da, sie saßen in der hintersten Ecke und tranken Wein. Kai konnte es ihnen nicht nachsehen, er verspürte selbst das starke Bedürfnis nach etwas stärkerem als Kaffee.

Sie setzten sich den anderen beiden gegenüber an den Tisch. „Das ist Yuriy Ivanov”, stellte Kai seinen Begleiter an Giancarlo gewandt vor, „Ich glaube, ihr habt euch flüchtig im Zentrum gesehen.”

„Ich erinnere mich.” In Giancarlos Augen blitzte kurz der Schalk, dann wurde er wieder ernst. „Was soll das hier, Kai? Ich will ganz ehrlich sein, ich bin nur hier, weil Olivier mich darum gebeten hat.”

„Und ich habe es getan, weil Yuriy auf mich eingeredet hat”, ergänzte Olivier, der jedoch weitaus entspannter wirkte als sein Freund. „Du kannst ganz schön hartnäckig sein, Großer.”

„Danke, dass ihr hier seid”, sagte Kai, um dem Geplänkel ein Ende zu machen. „Ich denke, es ist klar, was der Grund dafür ist. Giancarlo” Er sah den Blonden wieder an. „Ralf und Soichiro wollen uns beide verarschen. Glaub mir bitte, wenn ich sage, dass ich davon nichts gewusst habe. Ralf hat nur ein paar Tage vor dir mit mir gesprochen.”

Du wurdest verarscht?”, giftete Giancarlo, „Soweit ich weiß ist dir doch gerade meine Firma in den Schoß gefallen. Sieht doch ganz so aus, als wärst du hier der große Gewinner.”

Kai schnalzte mit der Zunge. Er war sehr froh, dass in diesem Moment die Bedienung kam und ein Glas Wein vor ihm auf den Tisch stellte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Yuriy sich zurücklehnte und an seinem Kaffee nippte. „Du kennst noch nicht die ganze Wahrheit”, sagte er schließlich.

Giancarlo verdrehte die Augen. „Na dann schieß mal los. Mich kann jedenfalls nichts mehr schocken.”

Yuriy neben ihm stieß die Luft aus, doch Kai war sich sicher, dass nur er etwas von seiner Belustigung mitbekam. Mal sehen, ob Giancarlo immer noch so dachte, wenn er ihm sein kleines Familiengeheimnis eröffnete. „Du denkst immer noch, dass ich irgendein entfernter Verwandter von Soichiro Hiwatari bin, oder?”, sagte er deshalb. „Tja, das stimmt nicht so ganz. Soichiro ist mein Großvater.”

„Was zum-” Kurz wirkte es, als würde Giancarlo das Glas aus der Hand fallen, während Olivier eher so aussah, als lese er gerade eine schlimme Klatschgeschichte in der Zeitung. „Was zum Fick, Alter?! Das heißt, das in Russland - was Ralf und Johnny so witzig fanden - das warst du? - Oh, jetzt wird mir einiges klar”, fuhr er missbilligend fort, „Kein Wunder, dass ich gegen dich keine Chance habe. Was kommt jetzt, hm? Dass ihr das alles schon geplant hattet, als du bei mir angefangen hast?”

„Oh mein Gott”, hauchte Olivier, „Das ist so...aufregend!”

„Gianni. Nein”, sagte Kai nachdrücklich, „Wir haben ein noch viel größeres Problem als die Tatsache, dass ich deine Firma übernehmen soll. Was ich übrigens gar nicht will, falls du es noch nicht bemerkt hast. Der Punkt ist aber - Soichiro investiert nur, damit er später persönliche Daten unserer User weiterverkaufen kann.”

„Aber das ist doch illegal!”, entfuhr es Olivier, während Giancarlos Augen sich weiteten und er sich automatisch vorbeugte. „Ja”, sagte mit Seitenblick auf Olivier, „Aber so wie wir aufgebaut sind, würde der alte Hiwatari damit sogar durchkommen. Unsere Zentrale ist zwar in Berlin, aber die Server stehen ganz woanders… Und wenn Hiwatari Enterprises uns übernehmen, sitzt der Mutterkonzern in Japan… Niemand wüsste, wen er jetzt wo überhaupt verklagen sollte, und alle können sich gleichermaßen rausreden.” Er machte eine Pause. „Oh Gott, Kai. Das ist schlecht.”

„Das sage ich doch schon die ganze Zeit”, entgegnete Kai, „Und genau deswegen sollten wir es gar nicht erst soweit kommen lassen.”

„Also willst du den Deal platzen lassen? Wir beide sagen einfach, nein ist nicht, und hauen ab?” Obwohl er noch sichtlich von allem, was er gerade erfahren hatte, geschockt war, besaß Giancarlo die Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und dafür war Kai ihm dankbar. Sie würden sich später die Zeit nehmen und ihre persönlichen Differenzen aus dem Weg schaffen. Jetzt galt es, zu handeln.

Er wiegte den Kopf. „Es wäre sicher der einfachste Weg. Bestenfalls würde die Firma pleitegehen. Dann stehen aber alle Mitarbeitenden auf der Straße. Einige von ihnen haben Visa, die an einen Job gebunden sind. Max zum Beispiel. Das wäre also echt unverantwortlich. Auf der anderen Seite traue ich es Soichiro zu, dass er einfach einen anderen zum CEO macht, der dann die Drecksarbeit für ihn erledigt.”

„Und du willst beides nicht”, schlussfolgerte Giancarlo. Er ließ Kais Worte noch ein wenig auf sich wirken, dann hob er die Schultern. „Verständlich. Aber was sollen wir tun?”

Jetzt räusperte Yuriy sich und richtete sich wieder auf. „Ich glaube, das ist der Zeitpunkt, in dem ich was dazu sagen kann”, meinte er und wechselte einen Blick mit Kai, der ihn erstaunt ansah. „Was ihr braucht”, fuhr er fort, „Ist some good old German Arbeitsrecht.”

Giancarlo hustete. „...Was bitte?”

„Oh, ihr wisst schon - feste Arbeitszeiten und vor allem eine festgelegte Entschädigung für Überstunden. Faire Gehälter. Gesetzmäßige Kündigungen, und vor allem Klagen, wenn sie nicht gesetzmäßig sind…” Er machte eine Pause und sah in die Runde, während die anderen ihn anstarrten als hätte er soeben von Quantenphysik gesprochen. „Natürlich”, fuhr er fort, „Habt ihr Start-up-Schnösel davon keine Ahnung, und eure Mitarbeitenden fragen auch nie nach, weil sie so international sind, dass sie ihre Rechte sowieso nicht kennen. Woher soll denn ein Max aus den USA wissen, dass seine Überstunden entweder bezahlt oder in Gleitzeit abgegolten werden müssen, nicht wahr? Oder, dass er nur in Ausnahmefällen über zehn Stunden am Tag arbeiten darf, und das auch nicht ständig?”

Jetzt waren es Kai und Giancarlo, die sich ansahen. „Mein Gott”, murmelte Giancarlo, „Wenn ich das alles so umsetzen würde, dann wäre die Firma schneller pleite als...oh.”

Auch Kai ging in diesem Moment ein Licht auf. „Wir wirtschaften uns selbst mit fairen Arbeitsbedingungen runter?”

„So ungefähr”, sagte Yuriy und hob den Finger. „Hier ist, was ich an eurer Stelle machen würde: Erstens, Kai sagt Ralf und seinem Großvater zu. Das verschafft euch mehr Zeit. Alles ist gut, der Übergang startet, das Geld fließt. Und dieses Geld gebt ihr mit beiden Händen aus. Gehälter, bezahlte Urlaubstage, bezahlte Überstunden, Boni - was euch so einfällt.”

„Und anstatt, dass es dann richtig losgeht mit der Firma, ist das Geld plötzlich alle”, ergänzte Kai. „Soichiro wird nie und nimmer noch mehr zahlen wollen. Das ist es ihm nicht wert. Und Jürgens-McGregor geht es ähnlich. Wir werden also abgewickelt und… sie werden uns wohl alle rausschmeißen.” Womit sie wieder bei derselben beschissenen Ausgangslage wären.

„Ja, aber hier ist der Trick”, fing Yuriy wieder an. „Als allererstes, noch vor allem anderen, lasst ihr eure Leute einen Betriebsrat gründen.”

„Oh shit!”, entfuhr es Olivier, der wohl erkannt hatte, worauf Yuriy hinauswollte. Seine Augen glänzten vor Begeisterung.

„Was macht ein Betriebsrat?”, fragte Giancarlo.

„Unter anderem dafür sorgen, dass bei einer Kündigung durch den Arbeitgeber der Arbeitnehmer nicht benachteiligt wird”, erklärte Yuriy, „Der Betriebsrat verhandelt mit der Geschäftsführung im Sinne der Belegschaft. Wenn ihr einen Betriebsrat habt, müsst ihr in bestimmten Situationen auf ihn hören, das ist schon nicht ohne, deswegen wollen viele Firmen das erst gar nicht. Heißt im Klartext, wenn ihr euren Leuten kündigt, dann nur mit saftigen Ausgleichszahlungen. Und unter fairen Bedingungen, sodass sie auch Zeit haben, etwas Neues zu finden, ganz ohne Existenzängste. Denn mit weniger wird euch der Betriebsrat nicht davonkommen lassen.”

„Und ganz nebenbei wird das Ganze so richtig schön teuer für die Firma”, fügte Kai hinzu, „Der letzte macht dann nur noch das Licht aus.”

Sie schwiegen, jeder dachte über den vorgebrachten Plan nach. Es war nicht ganz so einfach, wie Yuriy es geschildert hatte, aber es würde gehen. Vermutlich mussten sie Ralf, Johnny und Soichiro nicht einmal anlügen, sie müssten nur ihre Zahlen etwas verschönern. Bis es dann kein Zurück mehr gab. Ja, die Abwicklung der Firma würde teuer werden, aber nicht so teuer wie ihre Rettung. Es würde auch weder Jürgens-McGregor noch Hiwatari Enterprises an den Rand des Ruins bringen, aber es würde ihnen wehtun.

„Wie lange soll das dauern?”, fragte Giancarlo schließlich, „Bis wir pleite sind, meine ich.”

Kai verzog den Mund. „Ein Jahr, vielleicht zwei. Was bedeutet, dass ich CEO werden muss. Was hat Ralf dir angeboten?”

„Es gibt da etwas in Rom”, antwortete Giancarlo und seufzte, „Aber ich will hier bleiben.” Bei diesen Worten lächelte Olivier und lehnte kurz den Kopf an seine Schulter.

„Verstehe”, sagte Kai. „Wir können einen Deal machen, damit du nicht mit leeren Händen dastehst, nur, weil du Ralfs Angebot nicht annimmst.”

„Danke. Weißt du, am liebsten würde ich selbst gründen. Aber eine kleine Auszeit wäre auch nicht schlecht. Was ist mit dir? Was machst du, nachdem du das Licht ausgemacht hast?”

Kai merkte, wie Yuriy sich bewegte, ein wenig auf seinem Platz hin und her rutschte.

„Ich weiß nicht”, gab er schließlich offen zu. „Hiwatari Enterprises will einen Firmencampus in der Stadt eröffnen… Und wo die Firma ist, werde ich mich nach alledem nicht blicken lassen können. Also…” Er sprach nicht weiter. Es behagte ihm nicht. Vielleicht war Berlin ihm doch ans Herz gewachsen; jedenfalls hatte er noch keinen Gedanken daran verschwendet, wie es woanders weitergehen könnte. Er pochte einfach darauf, dass ihm innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre noch etwas einfallen würde.

Die Stille zwischen ihnen hatte schon ein paar Sekunden lang angehalten, als Yuriy sich räusperte. „Woher bist du dir so sicher, dass Hiwatari Enterprises sich hier ansiedeln werden?”

Kai wandte sich ihm zu und runzelte die Stirn. „Was willst du damit sagen? Natürlich werden sie das. Es gibt sogar schon ein potentielles Grundstück.”

„Tja.” Das Grinsen, das Yuriy ihm zuwarf, hatte etwas Wölfisches. „Ich glaube, den Herr Großvater stellt sich das zu einfach vor. Ich habe meinen Freund Sergeij mal befragt, denn der ist bei einem Mieterschutzbund aktiv, der sich zufällig auch um die Belange eines gewissen Kreuzberger Großprojekts kümmert.” Er beugte sich kurz vor, um einen Zettel aus seinem Beutel zu ziehen und ihn auf den Tisch zu legen. „Und Sergeij hat mir freundlicherweise das hier überlassen.” Es handelte sich um eine Schwarz-Weiß-Kopie einer Karte, auf der händisch etwas in leuchtendem Grün eingezeichnet war. Die nähere Umgebung des Grünen war in ebenso leuchtendem Pink markiert.

Kai reckte den Hals, um einen Blick darauf zu werfen. „Was ist das?”

„Das Grüne”, sagte Yuriy und tippte mit dem Zeigefinger auf die Karte, „Ist das Grundstück, das Hiwatari will. Und das Pinke ist der Grund, warum er es nicht bekommen wird.” Er leckte sich über die Lippen, als wäre er drauf und dran, ein riesiges Geschenk auszupacken. „Milieuschutzgebiet.”

Das Wort sickerte in Kais Gehirn. Er hatte es schon mal gehört, wusste im ersten Moment aber nicht viel damit anzufangen. Erst die Übersetzung, die er für sich im Stillen machte, ließ das Ganze etwas klarer werden. „Du meinst, das Gebiet steht unter besonderem Schutz, und deswegen ist es besonders teuer?”

„Besser noch, er wird es vermutlich gar nicht erst kaufen können”, meinte Yuriy, „Denn dazu muss er erst mal viele, viele Anträge stellen. Und du weißt ja, die Deutschen lieben ihre Bürokratie. Die Chancen, dass seine Anträge durchkommen, sind ebenfalls sehr gering, denn alles was er vorhat, widerspricht den Prinzipien des Milieuschutzgebiets. Zusammen mit den Anwohnerprotesten und den Petitionen… Ich würde mal sagen, die Chancen stehen schlecht bis sehr schlecht, dass er das durchbekommt.”

Daraufhin wusste Kai nichts zu sagen. Wenn Soichiro seinen Campus nicht bekam, würde es Jahre dauern, um ein alternatives Grundstück zu finden. Oder er blies die ganze Sache komplett ab und zog in einer ganz andere Stadt. Was bedeutete, dass Kai sich in Berlin frei bewegen konnte, auch wenn er seinen Großvater schon wieder auf den Schlips trat. Diese plötzlich so rosigen Aussichten verschlugen ihm schlichtweg die Sprache. Stumm sah er Yuriy an und war sich sicher, dass dieser alles an seinen Augen ablesen konnte, was er wissen musste.

Giancarlo schien nicht minder beeindruckt von Yuriy zu sein. „Ähm...wer bist du noch mal?”, fragte er und drehte sich dann zu Olivier. „War er nicht eigentlich DJ?”

„Er ist Sozialist”, entgegnete Olivier.

„Marxist!”, warf Yuriy ein.

„Solange du keinen Molotow-Cocktail in mein Büro wirfst…”, murmelte Kai.

„Glaube mir, mein Lieber, in zwei Jahren habe ich dich von der Revolution überzeugt und dann wirfst du ihn selbst.” Er warf einen Blick in die Runde. „Also. Ist das unser Plan?”

„Die Revolution?”, fragte Giancarlo.

„Nein, der Sturz eurer Kapitalismusklitsche.”

„Oh!” Das Lächeln verschwand von Giancarlos Gesicht. Er dachte eine Weile nach, dann nickte er langsam. „Ich meine, es wird meine Freundschaft mit Ralf und Johnny zerstören. Aber wer weiß. Vielleicht reißen sie sich ja wieder zusammen. Ich kann es ihnen jedenfalls nicht verzeihen, dass sie mich erst dieses Unternehmen aufziehen lassen, nur um es mir dann wieder wegzunehmen. Und das wiegt für mich gerade schwerer.”

„Ich will ihnen einfach nur einen Arschtritt verpassen”, fügte Kai hinzu. „Ich bin dabei.”

Olivier klatschte in die Hände. „Wunderbar! Dann gehen wir jetzt zum KdK, okay?!”
 


 

Während sie langsam den Mehringdamm hinaufspazierten, beobachtete Yuriy Kai. Doch der verhielt sich nicht sonderlich auffällig angesichts der Tatsache, dass er soeben beschlossen hatte, sich erneut gegen seinen Großvater zu wenden und damit vermutlich jede Chance auf eine Karriere im Familienunternehmen verspielte. Es war auch keine Freude zu erkennen, vielmehr verbissene Konzentration auf das, was nun bevorstand. Wann hatte er Kai jemals locker erlebt? Auf der Tanzfläche vom Zentrum, als er ihn das erste Mal bewusst wahrgenommen hatte. Aber sonst? Irgendwie lag Kai immer auf der Lauer, als würde er erwarten, dass ihm im nächsten Augenblick jemand in den Rücken fiel.

„Kai.” Er griff nach seinem Oberarm und hakte sich halb bei ihm unter, was angesichts ihres Größenunterschieds wahrscheinlich eher so wirkte, als würde er ihn irgendwohin verschleppen wollen. „Machst du diesen Sommer Urlaub?”

Er fing sich einen fragenden Blick ein. „Ich glaube nicht, dass das eine meiner Prioritäten sein wird”, sagte Kai.

„Dachte ich mir. Hör mal, Boris, Sergeij und ich fahren im September für ein paar Tage ans Meer. Komm doch mit.” Er spürte, wie Kais Schritte sich verlangsamten, dann fing sich der andere wieder. „Ich weiß nicht, ob ich Zeit haben werde. Vermutlich bin ich dann gerade erst CEO geworden und habe alle Hände voll zu tun.”

Yuriy brummte, auch das hatte er sich schon fast gedacht. „Naja, wenn du Lust hast, sag einfach Bescheid. Das Angebot steht…” Noch während er sprach, spürte er, wie sein Handy anfing zu vibrieren. Just in diesem Augenblick beschlossen Giancarlo und Olivier, die ein Stück vorausgegangen waren, dass sie einen Abstecher machen wollten: Sie hatten einen Späti entdeckt, dessen Besitzer Cocktails zum Mitnehmen anbot. Auf der Straße vor dem Laden war ein Tapeziertisch aufgestellt worden, und auf ihm die Getränke. Während Kai sich den anderen beiden anschloss, machte Yuriy ein paar Schritte zur Seite und nahm den Anruf an. Die Nummer auf dem Display kannte er nicht.

„Hey Yuriy!”, ertönte eine Stimme am anderen Ende, „Hier ist Kane, erinnerst du dich? Wir haben uns neulich im Don Quijote gesehen. Kannst du kurz sprechen?”

„Ja. Ja klar.” Oh Gott. „Sorry, es ist gerade ein bisschen laut hier, ich hoffe, das stört nicht.” Er rückte noch ein wenig näher an einen Laternenpfahl heran, während der Strom der Menschen an ihm vorbeiglitt. Die Sonne wärmte seinen Rücken unter dem dunklen Shirt und seltsamerweise fiel ihm just in diesem Moment ein, dass er keine Sonnencreme dabei hatte.

„Kein Problem.” Kane lachte. „Ich mach es ganz schnell: Ich hab mir euer Zeug angehört, ihr seid echt nice. Und deswegen dachte ich, wenn du Bock hast, kannst du den Opener für mich machen, wenn ich das nächste Mal im Bunker bin. In drei Wochen. Hast du Zeit?”

Yuriy blinzelte, sein Mund stand ein kleines Stück offen. Dann fasste er sich. „Klar”, sagte er, obwohl er keine Ahnung hatte, ob er schon Pläne für nämliches Wochenende hatte. Aber das war eigentlich auch egal. „Sicher! Wow, danke!”

„Ich hab vier Stunden und gebe dir die erste, okay?”, sagte Kane, „Ach, und noch was - Ich plane gerade eine kleine Partyreihe und eventuell passt ihr da auch gut rein. Wäre das cool für euch?”

„Auf jeden Fall! Ich bin sicher, die anderen sind auch dabei”, antwortete Yuriy schnell. Vanja würde ausrasten.

„Nice. Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Lass mal die Tage telefonieren und die Details absprechen, okay?”

„Ja.” Auf einmal war sein Mund trocken. „Ja, bis die Tage.” Er legte auf und musste ein paarmal durchatmen. War das eben wirklich passiert? Vielleicht hatte er einen Hitzeschlag bekommen und es nur nicht gemerkt.

„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.” Plötzlich stand Kai vor ihm und drückte ihm einen kalten Plastikbecher in die Hand. „Caipirinha”, erläuterte er, „Das schien das einzig Trinkbare zu sein. Ich dachte, du kannst vielleicht auch einen vertragen.”

„Oh, du weißt gar nicht wie sehr…”, entgegnete Yuriy. Dann begriff er endlich, was soeben passiert war: Seine Musikkarriere hatte wie aus dem Nichts einen ordentlichen Sprung nach vorn gemacht. Mit plötzlichem Elan trank er einen großen Schluck des wirklich schlechten Caipirinhas. „Meine Güte, schmeckt das scheiße. Gianni! Olli! Kommt, ich weiß was Besseres!” Dieser Tag musste gefeiert werden, und zwar richtig.

Seine Erinnerung ließ ihn zum Glück nicht im Stich. Die russische Ecke des KdK war dort, wo sie immer war. Es gab einen riesigen Stand mit dem Namen Druzhba, golden ausgeleuchtet, alles überschattend, der Wodka und Pelmeni vertrieb. Und andere Dinge, aber die waren weniger wichtig. Daneben eine winzige Bühne, auf der ein Typ mit Schappka und Balalaika stand und russische Volkslieder sang, regelmäßig unterbrochen von Trinksprüchen. Die Menge war kaum zu durchdringen, doch Yuriy schaffte es, sich zum Druzhba durchzuschlängeln. Als er sich umdrehte, waren die anderen verschwunden. Erst einige Sekunden später tauchte Kais Haarschopf zwischen den Menschen auf. Sie wurden aneinandergedrängt. „Ich glaube, Gianni und Olivier haben spontan Angst bekommen”, rief Kai in sein Ohr, „Aber wir sollen ihnen was mitbringen.”

Yuriy nickte und beugte sich ein Stück zu ihm herunter. „Salzgurke oder Kaviar?”

„Was?”

Er winkte resigniert ab und bestellte eine Runde Wodka mit Salzgurken. „Ich hab einen Auftritt im Bunker!”, rief er Kai zu, als er ihm zwei Shotgläser in die Hand drückte.

„Wann ist das denn passiert? Geil!”

„Gerade eben! Das war Kane vorhin am Telefon. Der legt ständig im Bunker auf.” Er konnte sein breites Grinsen einfach nicht länger unterdrücken. Dieser Tag war ziemlich großartig gelaufen bisher. Und viel war auch nicht mehr von ihm übrig, denn ganz allmählich wurde es dunkel. Selbst von Kais Schultern schien die Spannung langsam abzufallen. Sein Gesicht wirkte etwas rosig im Licht, vielleicht hatte er sich irgendwo einen Sonnenbrand geholt. Oder stieg ihm der Caipirinha schon in den Kopf? Als ihre Blicke sich über ihre Shots hinweg trafen, verzog Kai amüsiert den Mund. „An einem Tag die Revolution und die Zusage für einen Auftritt und Wodka. Vielleicht bist du tot und im Jenseits?”

„In meinem Jenseits soll es neben der Revolution, Techno und Wodka bitte auch Sex geben”, meinte Yuriy, „Aber mehr brauche ich wirklich nicht.”

Kais Lächeln wurde warm. Er hob einen der Becher. „Sollen wir darauf trinken? Wir können ja zwei neue holen.” In diesem Moment schallte wieder ein Trinkspruch von der Bühne zu ihnen herüber.

„Jetzt müssen wir”, beschloss Yuriy. Sie prosteten sich zu - „Auf die Revolution, Techno, Wodka und Sex!”- und stürzten den ersten Shot herunter. Der Schnaps brannte, aber die Gurke machte es besser.

„Alter ich glaubs nicht - Herr Ivanov?”

Beinahe hätte Yuriy sich an seiner Gurke verschluckt. Er fuhr herum und fand sich Angesicht zu Angesicht mit Justus wieder. An seinem Arm hing ein hübsches, blondes Mädchen. Beide hielten ebenfalls Shotgläser in der Hand. Justus deutete feixend auf den zweiten Becher, den Yuriy trug. „Sie gehen ja ganz schön ab.”

„Jo, der ist für meine Freunde. Was machst du hier überhaupt?”

„Das gleiche wie Sie, nehme ich an.”

Bei so viel Schlagfertigkeit konnte Yuriy nur die Augen verdrehen. Dann wandte er sich an das Mädchen. „Bist du Mascha?”, fragte er auf Russisch. Sie nickte.

„Ist er gut zu dir?”

„Die Blumen waren gelb, aber er hat sich Mühe gegeben.” Mascha drückte Justus’ Arm, denn der schien ein wenig nervös zu werden, weil er nichts verstand. Dann deutete er ziemlich ungeniert auf Yuriy. „Sie haben voll geile Tattoos, Herr Ivanov!”

Oh. Das hatte er komplett vergessen. Natürlich trug er heute, anders als in der Schule, ein einfaches T-Shirt. In all den Jahren, die er nun schon in seinem Job arbeitete, war es tatsächlich noch nie passiert, dass er eines seiner Kids privat getroffen hatte. Das war ihm immer ganz lieb gewesen, denn er wusste ja, wie schnell sich Neuigkeiten auf dem Pausenhof verbreiteten. Was er sich gar nicht ausmalen wollte, war der Sturm, der aufkommen würde, sobald die ersten seiner Kids alt genug waren, um in die Clubs reinzukommen, in denen er auflegte. Manche von ihnen hatten jüngere Geschwister, die ebenfalls auf ihre Schule gingen.

„Pass mal auf, Justus”, sagte er deswegen kurzentschlossen, „Wir machen das so: Du vergisst, dass du mich heute hier gesehen hast… Und ich vergesse, dass ich dich mit einem Wodkashot erwischt habe, obwohl du erst sechzehn bist. Deal?”

Erst jetzt schien auch Justus die Tragweite ihrer Begegnung aufzugehen. Er wurde sehr kurz sehr blass, dann fing er sich wieder. „Geht klar, Herr Ivanov!”

„Okay, dann - Abmarsch!”

Justus und Mascha gehorchten und machten, dass sie davonkamen. Als Yuriy sich zu Kai umdrehte, stand die Belustigung deutlich in dessen Gesicht geschrieben. „Ich habe mich schon gefragt, wie du in der Schule so drauf bist”, meinte er, und nach einer kleinen Pause: „Herr Ivanov.”

Yuriy streckte die Hand aus und fuhr ihm spielerisch durch die Haare. „Siehst du doch, sie lieben mich. Und jetzt lass uns neuen Wodka holen. Die anderen sitzen sicher schon auf dem Trockenen.”

„Alles klar, Herr Ivanov.”

„Nenn mich nicht so!”

„Okay, Herr Ivanov.”

An einem Morgen um halb fünf

Kai fühlte sich ein bisschen an die verschwörerischen Treffen der Figuren aus „Harry Potter” erinnert, als er sich mit den anderen im „Black Lion”, dem neuen Restaurant von Lais und Reis Familie, traf. Die Tatsache, dass er zuletzt mit Ralf und Giancarlo hier gewesen war, machte es auch nicht besser. Rei, der an diesem Tag hier arbeitete, führte ihn zu einem großen Tisch in der hinteren Ecke, der gut vor Blicken geschützt war. Das beruhigte Kai ein wenig, obwohl sie eigentlich gar nicht so ein Geheimnis um ihr Treffen würden machen müssen. Ralf war gerade in Stuttgart, Giancarlo war eingeweiht und ansonsten interessierte sich niemand für ihre Belange.

Moses kam als erster. Kai kannte ihn nur flüchtig, denn er arbeitete wie Garland im Keller, und ihre Wege kreuzten sich kaum einmal. Moses war recht schweigsam, und so hatten sie selbst damit, ein wenig Smalltalk zu halten, ihre Schwierigkeiten. Es wurde einfacher, als kurz darauf Max erschien und sofort anfing, sie zuzutexten. Im Gegensatz zu Moses schien er sich überhaupt nicht zu wundern, warum Kai ihn aus heiterem Himmel zu einem gemeinsamen Mittagessen eingeladen hatte.

Als letztes erschienen Garland und Giulia. Das erste, was Kai auffiel, war, dass Garland weitaus ruhiger wirkte als noch vor ein paar Wochen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihn nach seinem Befinden zu fragen, doch sie sahen sich kurz in die Augen und Kai meinte, die Nachricht, die der andere ihm stumm zukommen ließ, zu verstehen. Auch Giulia lächelte und stellte schließlich als erste die Frage des Tages: „Also Kai, warum sind wir hier?”

Kai schmunzelte und griff nach der Speisekarte. „Wollen wir nicht erst mal bestellen? Geht auf mich.”

„Was? Sag bloß, du hast eine Gehaltserhöhung bekommen? Oder wurdest du befördert?”

„Weder noch”, murmelte er und vertiefte sich in die Auswahl der Hauptspeisen.

„Ach, ich weiß!”, sagte Giulia, „Du hast endlich Yuriy flachgelegt!” Bei diesen Worten hob Moses erstaunt den Kopf und von Garland kam ein unterdrücktes Schnauben. Einzig Rei, der just in diesem Augenblick vorbeikam, um ihre Bestellungen aufzunehmen, rettete Kai vor neugierigen Fragen.

Als alle ihre Wahl getroffen hatten, lehnte Kai sich auf seinem Stuhl zurück und blickte in die Runde. „Der Grund, warum ich euch heute hierher gebeten habe, ist tatsächlich nicht sehr feierlich, sondern hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere zukünftige Arbeit.” Er erntete verwunderte Blicke, doch niemand sagte etwas. „Ich möchte, dass wir einen Betriebsrat gründen.”

Während Max noch immer nicht zu verstehen schien, was gemeint war, hellte Moses’ Gesicht sich auf. „Das ist eine gute Idee!”, sagte er.

„Fangen wir von vorn an”, meinte Kai und nickte in Max’ Richtung. Während sie auf ihr Essen warteten, erklärte er noch einmal für alle, was die Aufgaben eines Betriebsrats waren und unter welchen Bedingungen er gewählt wurde. Moses wusste schon sehr viel und konnte hier und da Dinge ergänzen. Garland und Giulia hörten aufmerksam zu und Max wirkte, als würde sich ihm eine ganz neue Welt eröffnen. Als schließlich endlich ihre Teller vor ihnen standen und sie nach dem Besteck griffen, entstand eine kleine Pause, in der alle das soeben Gesagte verarbeiteten.

„Und warum sind jetzt ausgerechnet wir hier?”, fragte Garland schließlich in die Stille hinein.

„Ganz einfach”, sagte Kai, „Wir brauchen Leute, die diesen Job übernehmen wollen. Wenn wir einfach eine Wahl vom Zaun brechen und sich am Ende niemand bereit erklärt, im Betriebsrat mitzuwirken, dann war alles umsonst. Also dachte ich mir, ich spreche euch direkt an und frage, ob ihr euch das vorstellen könnt.”

Daraufhin schwiegen wieder alle.

„Oh...wow”, kam es dann von Max. „Das klingt total cool, Kai, aber ich weiß nicht, ob ich der Aufgabe gewachsen bin, um ehrlich zu sein.”

Kai nickte; ihm war klar, dass er hier keine Kleinigkeit verlangte. Doch solange mindestens drei Personen zusammen kamen, würde er zufrieden sein.

Garland stocherte noch ein bisschen in seinem Essen herum, dann sah er ihn direkt an. „Ich würde es machen”, sagte er. In diesem Moment spürte Kai die Gesamtheit aller Dinge, die zwischen ihnen standen. Ja, die Tatsache, dass Garland heute hier war, war auch irgendwie ein Friedensangebot von Kai. Er fühlte sich immer noch schuldig, weil er mit Brooklyn geschlafen hatte, und die Tatsache, dass Garland Yuriy geküsst hatte, ließ ihn leider auch nicht vollends kalt. Aber er war professionell genug, um diese Dinge zu überspielen. Garland war im Grunde kein schlechter Kerl, und der Abstand zu Brooklyn schien ihm gut zu tun.

„Ich würde mich freuen, wenn du dich zur Wahl stellst”, sagte er deshalb.

„Was ist mit dir selbst, Kai?”, fragte Giulia.

„Ah, das wäre keine gute Idee. Ich bin ja eigentlich schon leitender Angestellter und habe, wenn man es ganz genau nimmt, kein Mitspracherecht.”

„Verstehe. Ich würde es auch machen”, fuhr Giulia fort. „Wenn du willst, frage ich bei den anderen Frauen mal rum. Es wäre ja schön, wenn wir nicht nur eine Quotenfrau im Betriebsrat haben.”

„Guter Punkt”, erwiderte Kai.

Moses lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Danke für die Einladung”, sagte er noch einmal, „Wir kennen uns ja nicht so gut, umso mehr freut es mich, dass du an mich gedacht hast.”

„Eventuell habe ich einen Tipp bekommen”, gab Kai zu und Moses verzog amüsiert den Mund. „Jedenfalls. Ich würde es auch machen. Und Max könnte sich ja auch als Ersatzmitglied aufstellen lassen, wenn er möchte”, fügte er mit Blick auf den Genannten hinzu.

„Es können sich sowieso alle Angestellten zur Wahl stellen”, sagte Kai, „Aber mir wäre wohler, wenn es ein paar Leute gibt, die es ernsthaft versuchen und sich darauf vorbereiten. Start-ups haben nur in sehr seltenen Fällen Betriebsräte. Wir werden also eine Menge Informationsarbeit leisten müssen.”

Giulia wiegte den Kopf. „Und bei der Geschäftsführung werden wir das durchbekommen?”

„Gianni wird nichts dagegen haben”, sagte Kai fest. Vielleicht ein bisschen zu fest, denn es schien, als keimte in Giulia der Verdacht, dass mehr hinter der ganzen Sache steckte, als Kai zugeben wollte. Nun, sie musste ihm jetzt einfach vertrauen.

„Also”, sagte er und versuchte, zumindest ein bisschen dynamisch zu klingen, obwohl jetzt, da dieser wichtige Schritt geklärt war, endlich Erschöpfung über ihn kam, „Lasst uns zeitnah alles Weitere planen. Wer will Espresso?” Er gab Rei ein Zeichen, der daraufhin wieder zu ihnen kam. Als Kai die Espressi bestellt hatte, beugte Rei sich noch einmal zu ihm herunter. „Guck mal auf dein Handy”, sagte er leise, „Yuriy verteilt Gästelistenplätze für den Bunker.” Dann wandte er sich zum Gehen.

„Ist es schon so weit?”, rief Kai ihm hinterher.

„Nächstes Wochenende!”, entgegnete Rei, ohne sich umzudrehen.

Sieh an, dachte Kai, wie die Zeit vergeht. Während sich die anderen wieder zu unterhalten begannen, zog er sein Handy aus der Tasche. Er hatte tatsächlich nicht eine, sondern zwei Nachrichten von Yuriy bekommen.

Du. Freitag. Bunker. Und wenn du nicht reinkommst, klatscht’s, aber keen Beifall!!

Und etwas später:

Heute Nachmittag Minirave mit Salima, Tempelhofer Feld. Komm vorbei :)

Das klang tatsächlich nach einem verlockenden Angebot. Das Tempelhofer Feld war auch gar nicht so weit vom Büro entfernt, wenn es auch in einer komplett anderen Richtung lag als seine Wohnung. Aber mit dem Rad würde das schon alles gehen. Yuriys erste Nachricht löste allerdings Belustigung bei ihm aus. Womöglich ging dem Rothaarigen ganz schön die Muffe vor seinem großen Auftritt.

Das Handy unterm Tisch verborgen tippte Kai schnell seine Antwort: Oh nein, was soll ich bloß anziehen??
 


 

Wie immer im Sommer war auf dem Tempelhofer Feld ziemlich viel los. Auf dem Rollfeld schossen Kiteskater hin und her, aufgrund des recht starken Windes so schnell, dass nur wenige es wagten, sich auf ihrer Bahn zu bewegen. Die meisten zogen ihre Runden laufend oder auf dem Rad, Touristen machten auf dem Asphalt liegend Selfies oder bestaunten das alte Flughafengebäude hinterm Zaun. Über den Liegewiesen waberten die Rauchschwaden der Grills. Kai mochte diesen Ort; als er zum ersten Mal hier gewesen war, hatte er nicht fassen können, dass sich die Stadt eine derart große Brachfläche in ihrer Mitte leisten konnte. Denn es gab hier tatsächlich keine besonderen Attraktionen, abgesehen von den Führungen, die in der ehemaligen Schalterhalle stattfanden. Sonden bloß Raum und Weite für alle. Immer wenn Kai hier war, nutzte er die kilometerlange, hindernisfreie Bahn, um ordentlich zu beschleunigen und einfach nur den Fahrtwind zu spüren, den Fernsehturm im Augenwinkel.

Obwohl Yuriy ihm seinen Standort geschickt hatte, brauchte Kai eine ganze Weile, um das kleine Grüppchen zu finden. Sie hatten es sich etwas abseits vom Trubel gemütlich gemacht, auf dem Grünstreifen an der Südkante des Felds, wo alle paar Minuten eine S-Bahn vorbeiratterte. Hier spendeten ein paar junge Bäume Schatten. Eine begrünte Erhebung sollte den Wind abhalten, was mäßig gelang. Der Blick nach Norden auf die Stadt war dadurch versperrt, zumindest im Sitzen.

Salima hockte unter einem der Bäume auf einer Decke, vor sich ihren Laptop. Dieser war mit einem Lautsprecher verbunden, der zwar bei Weitem keine Clubgefühle aufkommen ließ, für ihre Zwecke aber vollkommen ausreichte. Um sie herum saßen Ivan, Boris, Yuriy, Mathilda und Giulia. Kai hatte sich schon gefragt, ob seine Kollegin auch eingeladen worden war, jedoch nicht die Zeit gefunden, sie darauf anzusprechen. Jetzt winkte sie ihm kurz zu, bevor sie sich wieder zu Mathilda drehte, während er sein Fahrrad neben zwei anderen auf den Boden legte. Ivan und Salima begrüßten ihn flüchtig. Sie hatten sich gemeinsam über den Laptop gebeugt und Salima schien Ivan irgendetwas zu erklären. Also schlenderte Kai zu Yuriy und Boris und drängte sich umständlich zwischen die beiden, um noch einen Platz auf der Decke zu ergattern. „Tag die Herren.”

„Na du kleiner Herzensbrecher”, sagte Boris übertrieben fröhlich, während Kai Yuriy flüchtig umarmte, „Hab da ganz unanständige Sachen über dich gehört.”

„Unanständig?”

„Glaub ihm kein Wort”, sagte Yuriy nah an seinem Ohr und Boris zwinkerte ihm bloß zu, statt zu antworten. Dann legte er sich auf die Seite, den Kopf in eine Hand gestützt. So hatten sie zu dritt mehr Platz und er hatte sie trotzdem gut im Blick. „Du hast nicht zufällig ein paar Bier mitgebracht?”, fragte er.

„Zufällig nicht”, entgegnete Kai, „Aber ich habe noch eine Flasche Wein im Büro gefunden. Ist in meinem Rucksack.” Auch er machte es sich nun bequemer, wobei der Abstand zu Yuriy etwas größer wurde. Da sie nur halb im Schatten saßen, trug Yuriy ein dünnes, langärmeliges Hemd über seinem Shirt. Die Jeans hatte er dafür bis zu den Knien hochgekrempelt. Auch Kai machte sich nun an den Beinen seiner Stoffhose zu schaffen, um sich etwas abzukühlen. Bei fast dreißig Grad durch die Stadt zu radeln war nicht schön.

„Gehen wir am Freitag zusammen in den Bunker?”, fragte Boris.

Kai hob den Kopf. „Dachte, du machst die Tür?!”

„Quatsch, ich will doch mit euch feiern! Wobei Yura ja schon Angst hat, dass wir nicht reinkommen…”

„Schwör, wenn ihr das verkackt, dann schläfst du unter der Brücke!”, sagte Yuriy.

Kai schmunzelte. Der Bunker hatte eine harte Tür, aber sie planten, schon gegen Mitternacht dort zu sein, was früh genug sein sollte, um keine Schwierigkeiten zu bekommen. Und vielleicht half es ja, dass sie auf der Gästeliste standen.

„Wer kommt denn noch?”, fragte er. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Boris sich unauffällig nach seinem Rucksack streckte. Er kam nicht ganz heran, war aber wohl zu faul, um aufzustehen.

Yuriy seufzte und begann aufzuzählen: „Du, Boris, Serjoga, Salima, Vanja, Mattie, Giulia, Raul, Lai, Rei, Mao, Garland, … ein paar Studienkollegen, aber keine Ahnung, ob die pünktlich sein werden, wahrscheinlich tauchen die um drei Uhr früh auf und kommen nicht rein. Bisschen peinlich, Kane hat gesagt, ich kann zehn bis zwanzig Leute organisieren, so viele kenn ich gar nicht. Jedenfalls keine guten.”

„Zwanzig Leute für lau in einem der besten Clubs der Stadt?”

„Jaah”, sagte Yuriy langgezogen, „Es kommt schon gut rüber, wenn du als Opener dafür sorgst, dass die Tanzfläche nicht völlig leer ist. Selbst im Bunker, wie es scheint. Ich glaube ja, Kane will mich ein bisschen antesten, aber was soll’s.”

Kai nickte und streckte die Beine aus. Die Musik, klangvoll mit einem seichten Beat, waberte über ihn hinweg. Mathilda und Giulia standen auf, um sich neben dem Deckenlager im Takt zu wiegen. Für eine Weile beobachtete er sie; irgendwann ließ Boris sich auf den Rücken fallen und schloss die Augen. Yuriy konnte er nicht sehen, aber er spürte ihn neben sich.

„Wie bist du eigentlich DJ geworden?”, fragte er irgendwann ohne sich umzudrehen. In Yuriy kam Bewegung, ihre Arme streiften sich, als er sich vorbeugte und wieder in Kais Blickfeld kam.

„Lange Geschichte, um ehrlich zu sein”, sagte er. Dann strich er sich nachlässig die Haare aus dem Gesicht, als überlegte er, wie er beginnen sollte. „Ich glaube, angefangen hat es tatsächlich, als ich ein Kind war und im Fernsehen die Loveparade gesehen habe. Das war schon ziemlich irre. Wir haben ansonsten nicht viel davon mitbekommen, ich meine, das war Ende der Neunziger, da war ich gerade noch in der Grundschule. Aber es gab schon ein paar Raver - Boris, weißt du noch, die Gestalten?”

„Die waren vierundzwanzigsieben drauf”, brummte Boris, ohne die Augen zu öffnen.

„Ja”, sagte Yuriy und es klang wie eine gute Erinnerung, „Und dank denen gab es auch Turntables in unserem Jugendzentrum. Da war so ein Typ, der einen auf DJ gemacht hat. Der hat mir dann die Basics gezeigt, als ich so vierzehn war. Da war Techno eigentlich schon wieder out, stattdessen haben alle Rap gehört - und die Nazis halt ihren Rechtsrock, wie immer.”

„Wie wir bei denen gerannt sind”, kam es wieder von Boris, „Ich schwöre, hätten die am Ende der Hundert-Meter-Bahn gestanden, ich hätte eine Eins im Sprint gehabt.”

„In Weitsprung und Ausdauer auch”, bestätigte Yuriy, „Die waren echt nicht ohne. Aber genau deswegen war Techno auch irgendwie so gut für mich. Das war so ein bisschen mein Ding, das hat sonst kaum jemanden interessiert. Lange Rede, kurzer Sinn - nach den ersten Raves war die Sache eigentlich klar.”

„Sag mal, war das eigentlich Sergeijs Schuld?”, fragte Boris.

„Ja, schon.” Yuriy drehte sich zu Kai. „Sergeij hat Kontakte und hat mich damals mitgenommen. Beim ersten Mal war es noch so richtig mit nachts rausschleichen und bloß rechtzeitig wieder zurück sein, damit meine Eltern nichts merken.”

„Und dann hat er mich mit reingezogen!”, echauffierte sich Boris grinsend, „Dabei war ich voll der coole Hip Hopper! Weiter Pullover, weite Jeans, nur das Cappi hat gefehlt.”

„Hat doch sowieso nichts gebracht, die Nazis sind trotzdem hinter dir her”, sagte Yuriy.

Kai konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass Boris vor jemandem Reißaus nahm, aber früher hatte er mit Sicherheit noch nicht seine jetzige Statur gehabt. Seine Jahre als Teenager im Internat erschienen ihm im Vergleich auf einmal ziemlich monoton.

„Das ist...anders als meine Jugend”, sagte er schließlich, weil er zwar viele Fragen hatte, es aber auch nicht der richtige Zeitpunkt war, sich so sehr in das Thema zu vertiefen. Yuriy schien das nur Recht zu sein, denn er stieß ihn für diese Bemerkung in die Seite und beließ es dabei.

„He Yura, kriegst du das am Freitag eigentlich bezahlt?”, fing Boris in diesem Moment wieder an.

„Japp. Kane und ich teilen entsprechend der Zeit.”

„Ist das normal?”, fragte Kai neugierig. Er hatte keine Ahnung, wie DJs arbeiteten, selbst von Yuriy hatte er noch nicht so viel mitbekommen.

„Ja, schon”, antwortete der ihm, „Wenn du bekannter werden willst, bist du auf Leute wie Kane angewiesen, die dich unterstützen und auch mal Veranstaltern empfehlen. Wir haben mit Ostblocc inzwischen einen guten Stand in der Berliner Szene, aber eben mehr so in den kleineren Clubs. Kane kann uns da echt weiterhelfen. Die anderen profitieren übrigens auch davon”, fuhr er fort und nickte in Richtung von Salima und Ivan. „Kane plant nämlich gerade eine Partyreihe für den Herbst. Sieht so aus, als könnte er uns alle vier da gut unterbringen. Und das ist echt großartig.”

„Aber ganz ehrlich”, kam es von Boris, „Opener ist doch ein Scheißjob. Oder? Ich meine, niemand ist da und du mühst dir die ganze Zeit einen ab, die Tanzfläche voll zu kriegen. Wie so ein Animateur.”

„Naja, gut, aber das bin ich ja auch, oder?”, entgegnete Yuriy amüsiert. „Mein einziger Job ist es, die Leute zum Tanzen zu bringen. Du weißt doch, wie lange ich im Zentrum Opener für alle möglichen Leute war, Boris. Elf bis eins”, sagte er an Kai gewandt, „Schlimmste Zeit, wirklich. Aber man lernt unglaublich viel.”

„Unglaublich, Herr Ivanov.”

„Fängst du schon wieder damit an.”

„Wir haben ihn früher auch immer Herr Ivanov genannt”, kam es in diesem Moment von Mathilda, die immer noch mit Giulia tanzte. „Der kann das ab.”

Kai beobachtete eine Weile, wie sich die beiden Frauen wiegten, als wären sie ganz allein auf der Welt. Augenblicke wie dieser übermalten die weitaus unangenehmeren Dinge, die gerade in seinem Leben passierten. Das letzte Telefonat mit seinem Großvater beispielsweise, der sich natürlich diebisch über seine Zusage gefreut hatte. Immerhin hatte Kai nun wieder Zugriff auf einen Teil seiner Vermögenswerte. Einige von ihnen würde er möglichst schnell und unauffällig zu Geld machen müssen, damit er ein bisschen Kapital besaß, wenn er Hiwatari Enterprises endgültig den Mittelfinger zeigte. Von Soichiro befürchtete er weiter keine Gefahr; natürlich würde der Alte die Wände hochgehen, aber wann tat er das nicht? Jürgens-McGregor waren eine ganz andere Sache. Die waren in Berlin etabliert und konnten ihm das Leben schwer machen. Aber mit ein bisschen Glück ließ sich das klären. Kai hoffte inständig, dass Ralf zur Vernunft kam und erkannte, wie Soichiro auch ihn an der Nase herumgeführt hatte. Das allerdings war nicht seine oberste Priorität. Nun hieß es erst mal, mitzuspielen und es so aussehen zu lassen, als wäre alles in Ordnung. Und was sprach denn dagegen, ganz nebenbei den Sommer zu genießen?
 


 

Am Freitag standen Kai und Boris kurz vor Einlass vor dem Club. Sie mussten trotzdem eine halbe Stunde in der Schlange stehen, was aber weitaus weniger war als die durchschnittliche Wartezeit. Kai war sich wirklich nicht sicher, ob er reinkommen würde. Es hieß, mit Schwarz konnte man nichts falsch machen, und wenn das Outfit nicht nach Fetisch aussah, sollte es bloß nicht zu aufgetakelt sein. Er trug also ein älteres Paar Stoffhosen und ein schon etwas ausgeleiertes Shirt und versuchte, das fehlende Stilgefühl mit Attitüde wett zu machen. Als er sich umsah, bemerkte er jedoch, dass er ganz gut zum Rest der Wartenden passte. Auch Boris sah nicht unbedingt so aus, als hätte er sich Mühe gegeben, doch zum ersten Mal fiel Kai auf, dass der andere mehrere Piercings im Ohr trug. Kurz bevor sie am Eingang ankamen, tauchten Giulia, Salima und Mathilda auf. Und siehe da, die Türsteher winkten sie alle ohne zu murren rein.

Kai war schon einmal im Bunker gewesen, denn für Zugezogene war das eigentlich Pflichtprogramm. Doch das war nun schon mehrere Jahre her, und so konnte er sich nicht mehr an alles erinnern. Eines war klar: Dieser Club war riesig. Er befand sich ein einem alten Kraftwerk, die verschiedenen Dancefloors waren auf drei Ebenen verteilt. Ganz oben gab es eine Bar und einen House-Floor. Die Haupthalle befand sich auf der mittleren Etage. Unten gab es einen Zugang zum Außenbereich und vor allem die Darkrooms, die für einige wilde Gerüchte und anrüchige Geschichten sorgten. Wie viel davon stimmte, wusste Kai nicht; beim letzten Mal war er erst gar nicht so weit gekommen. Auch heute schenkten sie den dunklen Ecken keine Beachtung, sondern nahmen die Treppen zur Tanzfläche.

Vielleicht lag es daran, dass es noch recht leer war, vielleicht waren seine Erinnerungen doch verschwommener als er dachte - für Kai war es auf einmal, als wäre er wieder zum ersten Mal hier. Vor ihm öffnete sich der Raum, eine riesige Industriehalle mit einer Decke, die sich weit über ihnen wölbte, getragen von Betonsäulen. Auf einer der Längsseiten befand sich eine Bar, die im Vergleich zu ihrer Umgebung winzig wirkte. An der Stirnseite gab es eine Erhebung, die sicherlich auch als Bühne genutzt werden konnte, heute aber im Dunkeln lag. Aus den Boxen dröhnte schon Techno, jedoch weit weniger intensiv, als sie es gewöhnt waren.

„Das ist noch Dose”, sagte Boris in sein Ohr. „Müsste aber gleich losgehen. Sollen wir was zu Trinken holen?”

An der Bar trafen sie Garland, Lai und Raoul. Letzterer war, wie sich herausstellte, zum ersten Mal überhaupt in einem Technoclub und sah sich ständig um, als wäre er auf einem fremden Planeten ausgesetzt worden. Langsam strömten immer mehr Menschen in den Raum, die ersten bewegten sich schon zur Musik.

„Ich liebe diesen Club einfach!” Als Kai sich umdrehte, standen Mathilda und Giulia hinter ihm. Mathilda wirkte als fühlte sie sich hier wie zu Hause und grinste ihn breit an. Giulia beugte sich währenddessen über den Tresen und bestellte.

„Legst du auch bald hier auf?”, fragte Kai.

„Oh, ich hoffe doch!”, entgegnete Mathilda. „Ivan ist auch schon ganz versessen drauf. Aber erst mal hat Kane uns ein paar andere Gigs besorgt, das wird auch schon ziemlich gut.”

„Sag mir Bescheid, wenn es soweit ist!”

„Bin sicher, Yuriy hält dich auf dem Laufenden.” Sie zwinkerte ihm zu und drehte sich wieder zu Giulia, die ihr ein Glas in die Hand drückte. Kai stieß mit ihnen an. Während er trank, bemerkte er, wie sich die Musik veränderte. Der Bass wurde tiefer, spürbarer. Sehr langsam erhöhte sich die Geschwindigkeit. Sein Blick wanderte zur Bühne, wo er das DJ-Pult vermutete, aber dort war noch immer alles dunkel. Vermutlich sollte der Fokus auf der Tanzfläche liegen, nichts die Tanzenden von sich selbst ablenken.

Boris auf seiner anderen Seite bewegte sich. „Geht los!”, rief er in Kais Ohr, denn inzwischen war die Musik so intensiv geworden, dass sie alle Gespräche schluckte. Und die Leute verstanden den Wink: Die Tanzfläche wurde immer voller. Auch Giulia und Mathilda stürzten sich ins aufkommende Gedränge. Kurz darauf folgten Lai und Raoul ihnen. Garland blieb zurück, wippte aber schon ein wenig im Takt auf und ab. Kai beugte sich zu ihm. „Hörst du ihn heute zum ersten Mal?”

„Ja”, antwortete Garland, „Also, bis auf das eine Mal auf der Hausparty, aber das war ganz anders.”

„Stimmt.” Kai trank sein Glas aus. „Wie geht es dir?”, fragte er, obwohl der Zeitpunkt für so ein Gespräch denkbar ungünstig war. Das war vielleicht auch ein wenig Selbstschutz.

„Besser!”, sagte Garland knapp und beließ es dabei.

„Gut.” Er stieß Boris an. „Gehen wir tanzen?” Daraufhin exte auch sein Begleiter seinen Drink. Kurzentschlossen schob Kai die Hand unter Garlands Arm und zog ihn mit, während Boris vorausging. Sie schoben sich zwischen den Tanzenden hindurch (was zu diesem Zeitpunkt noch recht einfach war) und fanden sich irgendwann im vorderen Drittel des Floors wieder. Ein paar Lichter geisterten über ihre Köpfe, die jedoch weit weniger grell waren als in anderen Clubs. Die Musik dröhnte inzwischen durch den Raum, füllte ihn aus. Kai war, als könnte er jeden Ton körperlich spüren, und es fiel ihm leicht, sich dazu zu bewegen. Es erstaunte ihn höchstens ein kleines Bisschen, zu sehen, dass auch Boris ein geübter Raver war. Garland war noch etwas zurückhaltend, taute aber zusehends auf, vor allem, als die anderen wieder zu ihnen stießen und sich ihr loses Grüppchen etwas vergrößerte. Auf einmal ragte Sergeij neben ihnen auf, schlug mit ihnen ein, bewegte seinen großen Körper erstaunlich kontrolliert und Kai hegte nun keinen Zweifel mehr daran, dass er derjenige war, der Yuriy auf seine ersten Raves geschleppt hatte. Von irgendwoher tauchten jetzt auch Salima und Ivan, Rei und Mao auf. Sie sprachen nicht viel untereinander, genossen einfach nur die Gesellschaft bekannter Menschen um sich herum.

Kai meinte, heute einen Unterschied zu Yuriys sonstigen Sets zu bemerken. Es war unverkennbar sein Stil, doch er musste sich auch Kane anpassen, damit der Übergang zwischen ihnen gut passte. Ein allzu harter Bruch würde beim Publikum nicht gut ankommen. Außerdem hielt er sich sicherlich zurück, denn Kane war das Highlight des Abends und sollte nicht schon vor seinem Auftritt übertrumpft werden. Soweit Kai das beurteilen konnte, machte Yuriy seinen Job aber ziemlich gut, denn die Stimmung war entspannt und es wurde langsam voll um sie herum. Das führte auch dazu, dass sie sich mit der Zeit in alle Richtungen verstreuten. Für eine Weile waren Mathilda und Giulia eng umschlungen neben ihm, dann wurden sie von der Menge verschluckt. Er meinte, schon weit früher bemerkt zu haben, wie Raoul Lai in eine dunklere Ecke zog, war sich dessen aber schon nicht mehr sicher. Und selbst der große Sergeij war irgendwann nicht mehr auffindbar. Bald konnte er nur noch Boris in seiner Nähe sehen, der selbstvergessen tanzte. Auch Kai blieb für sich, behielt den anderen aber im Blick, um nicht gänzlich allein zu sein.

Er hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren, als die Lichter begannen, etwas wilder zu kreisen. Auch die Musik wurde noch ein Stück lauter, obwohl Kai das nicht für möglich gehalten hätte. Auf der Tanzfläche war hier und da kurzer Jubel zu hören. War etwa Kane schon dran?

Es musste so sein, denn plötzlich war auch die Bühne beleuchtet. Hinter dem Pult warfen Beamer psychedelische Visuals an die Wand, während die Menge mit neuem Elan weitertanzte. Dank der plötzlichen Helligkeit konnte Kai flüchtig sehen, wie voll es geworden war. Es wurde eng um ihn herum, und er suchte wieder Boris’ Nähe. Der griff nach seinem Ärmel und hielt ihn fest, während es sich anfühlte, als würde eine Welle durch den Raum gehen. Kane konnte gut mit der Stimmung arbeiten und nahm Yuriys dröhnende Baselines auf. Mit der Zeit regelte er ihre Wucht aber etwas runter. Anscheinend legte er etwas mehr Wert auf die höheren Klangebenen.

„Wir können gleich mal an die Bar gehen und gucken, ob wir Yuriy finden”, rief Boris ihm zu, als Kane sich eingespielt hatte.

Das mussten sie aber gar nicht. Nur ein paar Minuten später schlang sich plötzlich ein tätowierter Arm von hinten um seine Mitte, und als Kai sich umdrehte, sah er als erstes das breite Grinsen in Yuriys Gesicht. Auch er war, wie fast immer, komplett in Schwarz gekleidet. Ein leichter Schweißfilm ließ seine Haut glänzen, seine Haare waren zerwühlt. Er wirkte komplett elektrisiert.

„Bist du high?”, fragte Kai ihn.

„Es war so geil, Mann!” Dann entdeckte er Boris. „Boryaa!” Sie umarmten sich überschwänglich und schaukelten ein paar Takte hin und her.

„Shots und Tanzen?”, rief Yuriy. Boris nickte nur und zog ihn zur Bar. Kai musste sich beeilen, damit er sie nicht in der Menge verlor. Er hätte inzwischen nicht mehr genau sagen können, in welche Richtung die Bar lag, aber Boris hatte scheinbar einen unschlagbaren Orientierungssinn. Auf ihrem Weg dorthin sprang ihnen plötzlich Mathilda entgegen, die Yuriy ebenfalls fest umarmte und lautstark sein Set pries. In ihrem Gesicht stand derselbe Ausdruck wie in Yuriys, während sie sich nicht enden wollende Liebesbekundungen zuriefen. Als Boris das zu viel wurde, stieß er den anderen weiter voran, und so landeten sie schließlich doch noch am Tresen. Yuriy bestellte die erste Runde Shots.

„Dieser Raum ist der Hammer!”, sagte er, als sie getrunken hatten, „Du spürst den Bass überall! Überall!”

„Du sollst doch nicht das Pult ficken!”, sagte Boris, der schon die zweite Runde an sie verteilte.

„Ich war so kurz davor!”, rief Yuriy. „Weißt du, wie die hier ausgestattet sind? Technik vom Feinsten, Soundanlage vom Feinsten… Ich will wieder zurück.”

„Erst mal tanzt du mit uns!”, beschloss Boris.

Natürlich musste Kai auch noch eine Runde Shots spendieren, bevor sie irgendetwas anderes machten; dann packte Yuriy ihn am Arm und zog ihn wieder zurück auf die Tanzfläche. Boris ging voraus und bahnte ihnen den Weg. Schon nach ein paar Metern konnte Kai die Menschen um sich herum nicht mehr unterscheiden. Dafür war das Licht einfach zu schummrig, die Strahler zu flüchtig. Je näher sie der Bühne kamen, desto stärker pulsierte der Beat in seiner Brust. Es war unmöglich, sich zu unterhalten.

Schließlich blieb Yuriy stehen und ließ ihn los, damit sie beide ihren eigenen Rhythmus finden konnten. Kai, das fiel ihm erst jetzt auf, hatte Yuriy noch nie tanzen sehen. Und so erfreute er sich an dem Anblick, achtete gar nicht so sehr darauf, wie er sich selbst bewegte. Sei Körper fügte sich instinktiv der Musik. Er beobachtete, wie Boris sich Yuriy langsam näherte, ihn von den umstehenden Menschen abschirmte und irgendwann von hinten umarmte. Yuriy schien gar nichts dagegen zu haben, im Gegenteil: Er warf dem anderen einen kurzen Blick über die Schulter zu, dann fielen sie in einen gemeinsamen Takt. Boris wirkte tiefenentspannt; er hielt Yuriy in einem lockeren Griff und lehnte die Stirn an seinen Kopf, schloss die Augen. Und Yuriy streckte die Hand nach Kai aus. Seine Lippen formten „Komm!” und seine Finger krümmten sich lockend. Kai zögerte vielleicht eine Sekunde, dann setzte er sich in Bewegung. Yuriy zog ihn zu sich heran, legte die Arme um ihn und Kai erwiderte diese Geste. Seine Hände fanden Boris’ Shirt; gleichzeitig fühlte er, dass Boris nun sie beide hielt; und Yuriy war zwischen ihnen, ihre Verbindung, ihr Zentrum. Kais Wange berührte seine Schulter und er ließ sich noch ein wenig mehr auf die Umarmung ein, ignorierte, was um sie herum passierte, konzentrierte sich stattdessen auf die Wärme und die Bewegungen der anderen beiden. Die Gefühle, die dabei in ihm aufkamen, waren ein bisschen überwältigend. Zum ersten Mal nach sehr langer Zeit, vielleicht auch zum ersten Mal überhaupt in dieser Stadt, war er im Einklang mit sich selbst. Inmitten hunderter Menschen fühlte er sich auf einmal sicher. Und was sollte er bloß mit dieser ganzen Liebe anfangen, die durch ihn strömte?

Als sie sich nach einer ganzen Weile wieder auseinandergingen, erschien die Luft um ihn herum für einen Moment kühl, bevor wieder all die anderen Eindrücke auf ihn einprasselten. Inzwischen war das Gedränge so dicht, dass er regelmäßig von anderen Körpern angestoßen wurde. Doch heute, und besonders in diesem Augenblick, war ihm das beinahe willkommen. Er hatte Nähe nie als etwas Schönes empfunden, zumindest nicht die Nähe von Fremden; jetzt wollte er Menschen um sich herum fühlen, ein Teil dieses Ganzen sein. Noch etwas benommen beobachtete er, wie Yuriy sich zu Boris umdrehte, der sich vorbeugte und ihm einen Kuss auf den Mund gab. Dann löste er sich gänzlich von ihnen und verschwand in der Menge. Kai sah ihm nach, bis er auf einmal Yuriys Lippen an seinem Ohr spürte. „Haben wir dich überrannt mit unserer Liebe?” Jetzt klang er wirklich ein bisschen high.

„Mich kann nichts mehr erschüttern!”, gab er zurück. Seine Arme fanden wie von selbst ihren Weg um Yuriys Taille. Der strich ihm mit beiden Händen durchs Haar, kam ihm dann wieder näher: „Tanzt du mit mir?”

Statt zu antworten zog Kai ihn zu sich heran, vergrub das Gesicht in seinem Nacken, und Yuriy schlang die Arme um seine Schultern. Jetzt war alles dunkel und warm. Fast war er versucht, seine Empfindungen in Worte zu fassen; er wollte, dass Yuriy wusste, wie dankbar er dafür war, ihn im Chaos dieser Stadt gefunden zu haben. Nicht nur, weil er mit seiner Hilfe aus der schlimmsten Misere der letzten Jahre herauskommen würde, sondern auch, weil er sich endlich wieder mit seiner Umgebung verbunden fühlte. Aber irgendwie wurden seine Gedanken nicht klar genug, um sich verbal auszudrücken.

Er spürte, wie der Bass durch sie beide vibrierte. Yuriys Hände strichen über seinen Rücken, seine Arme, beinahe meinte er, fühlen zu können, wie der andere lächelte, denn seine Wange lag auf Kais Scheitel.

Oh Gott, er wollte ihn küssen. Nicht so, wie Boris vorhin, sondern lang und intensiv und innig.

Sein Puls wurde stärker als die Musik; wahrscheinlich bemerkte selbst Yuriy das, so nah wie sie sich waren. Kai lockerte seinen Griff ein wenig, um den Kopf wieder heben zu können. Sein Blick traf den des anderen, und auf einmal war er sich sicher, dass Yuriy genauso sehr wollte wie er. Er spürte seine Hand im Nacken, wie sie ganz leicht Druck auf ihn ausübte. Yuriy lächelte ihn an, und er konnte nicht anders, als dieses Lächeln zu erwidern, während sie sich aneinander festhielten. Dann fielen seine Augen sehr langsam zu, er presste die flache Hand in Yuriys Rücken und Yuriy beugte sich vor und ihm war, als könne er die Lippen des anderen auf seinen fühlen -

Jemand rempelte sie von der Seite her an. „Ha, gefunden!” Sie verloren beinahe das Gleichgewicht, Kai packte Yuriy instinktiv am Arm und merkte, wie dessen Finger sich in seine Schulter krallten. So wurde auch ihre Umarmung aufgelöst, denn sie wichen automatisch voneinander zurück, um den Störenfried anzusehen.

Es war Ivan, und er schien entweder sehr genau oder überhaupt nicht zu wissen, bei was er sie gerade unterbrochen hatte.

„Kane ist scheiße”, rief er ihnen entgegen, „Yuriy - dein Set war der Hammer. Du solltest Kane ausbooten, ehrlich. Deine Transitions sind viel sauberer als seine.”

„Und das hättest du mir nicht morgen sagen können?”, fragte Yuriy entgeistert. „Bist du drauf?”

„Nein, aber!” Ivan hob den Finger und grinste verschwörerisch, „Und das ist der eigentliche Grund, warum ich euch gesucht habe - Salima hat da ein bisschen Zeug gefunden und wir wollten fragen, ob noch jemand mitmacht. Na?”

Yuriy und Kai sahen sich an. Sie konnten wohl beide nicht so recht glauben, was hier gerade passierte. Yuriy prustete als erster los, dann steckte er Kai mit an. „Vanja, nein!”, rief er lachend, „Und jetzt verpiss dich, okay?!”

Konfetti und Yeah

Wir sehen rosarot

Lassen die Brille auf

Aus dieser Perspektive sieht das Leben irrer aus

Wir reißen Bäume aus

Pflanzen sie wieder ein

Um dann die Trauerweiden von ihren Leiden zu befreien

Und wir versetzen Berge

Mitten ins flache Land

Wir haben die Welt gekauft und fangen nochmal von vorne an

Am ersten Tag werden wir sie erst mal umarmen

Und dann erschaffen wir den allerhellsten Wahnsinn
 

Es wurde Juli. Die Stadt lag unter einer Staubglocke, der Beton atmete Sonnenwärme und der Himmel war nachts nur für drei oder vier Stunden wirklich dunkel. Dank der Urlaubssaison wurde die Rush Hour für ein paar Wochen erträglicher und der Gedanke, die Tage im Park oder am Kanal zu verbringen, wurde unglaublich verlockend. Für die meisten Berliner war es die beste Zeit im Jahr, und dieses Mal verstand auch Kai, warum.

Im Büro war es unerträglich, aber die Stimmung war besser als jemals zuvor. In einem beachtlichen Eilverfahren hatten sie den Betriebsrat gegründet, der auch sofort seine Arbeit aufgenommen hatte. Giancarlo hatte sich erst halbherzig (dafür sehr theatralisch) gewehrt und dann eine ganze Reihe von Änderungen durchgewinkt: Entfristungen, transparente Gehaltsstufen, mehr Urlaub, Regelungen zu Arbeitszeiten. Darüber hatten sie einige Mitarbeitende verloren; vornehmlich solche, die zuvor von ihrem undurchsichtigen Bonussystem profitiert hatten. Kai unmittelbares Umfeld schien darüber hinaus langsam zu merken, dass irgendetwas Größeres im Busch war, denn er verbrachte weitaus mehr Zeit als vorher in Giancarlos Büro. Außerdem war eine Stelle als PM ausgeschrieben worden, denn sobald er aufstieg, würde jemand anders seinen jetzigen Job übernehmen müssen. Er hoffte ein bisschen darauf, dass Giulia sich intern bewarb, aber da sie gerade erst in den Betriebsrat gewählt worden war, standen die Chancen dafür eher schlecht.

In der Woche vor dem Christopher Street Day saß Kai im Zugwind eines Ventilators am Schreibtisch, als wie aus dem Nichts Giancarlo vor ihm erschien und ihn dazu drängte, gemeinsam mit ihm in die Mittagspause zu gehen. Vor ein paar Wochen hatte ganz in der Nähe eine Espressobar eröffnet, die Giancarlo abgöttisch liebte; also schleppte er Kai dorthin, nötigte ihm ein Getränk und ein unglaublich süßes Gebäckteil auf und scheuchte ihn dann die Straße entlang, damit sie zumindest eine Ahnung von frischer Luft bekamen.

„Wir sollten Ende der Woche den Wechsel im Management bekannt geben”, sagte er, „Ich habe eine E-Mail entworfen, es wäre super, wenn du die nochmal checken könntest. Außerdem sollten wir eine Ansage im Weekly machen.”

„Okay”, sagte Kai und warf ihm ein Grinsen zu. „Du willst das vor dem CSD echt noch über die Bühne bringen, was?”

„Es ist nicht das schlechteste Timing, oder?”, entgegnete Giancarlo. „Ah, ich habe so gehofft, dass wir irgendwann mal einen Wagen auf dem CSD haben! Es würde zum Unternehmen passen, oder? Vielleicht kannst du es ja an meiner statt machen.”

„Was für ein Zufall, ich überlege schon, wie ich das Marketingbudget für nächstes Jahr in die Höhe treiben kann.”

„Tu es!”, rief Giancarlo aus, „Dann kannst du auch Yuriy und seine Leute fragen, ob sie dir die Musik machen. Wenn das so weitergeht bei denen, sind die bis dahin auch richtig teuer!”

„Gute Idee”, meinte Kai. Er würde das allerdings schnell klären müssen, denn erst neulich hatte er erfahren, dass Yuriy und Mathilda schon das zweite Jahr in Folge am CSD für das Zentrum auflegten - neben Olivia. Angeblich stand das schon seit mindestens einem halben Jahr fest. Was aber auch bedeutete, dass ihre Clique - ja, inzwischen konnte man schon davon sprechen - gute Chancen hatte, am Wochenende sehr nah am Geschehen zu sein. Olivia bespielte während der Parade den Wagen, und am Abend ging es zur Party in den Club, wo sie wie immer die Neunziger übernahm. Ostbloccs geliebter Elektrofloor war für diesen Abend allerdings umfunktioniert worden. Statt Techno würden Yuriy und Mathilda die Hits der letzten fünfzehn Jahre spielen. Sie schaukelten sich jetzt schon gegenseitig hoch, indem sie sich in der Trashigkeit ihrer Playlists übertreffen wollten.

Für Kai war es die erste Parade, die er nicht von der Seitenlinie sehen würde, aber inzwischen freute er sich darauf. Er war sich ziemlich sicher, dass er in der Menge nicht sonderlich viele Blicke auf sich ziehen würde, was ihm so ganz gut gefiel. Und die anderen waren ja auch noch da.

„Olivier und ich wollen übrigens gründen”, sagte Giancarlo in diesem Moment. Kai, der sich gerade den Zuckerguss seines Gebäcks von den Fingern leckte, sah ihn von der Seite her an. „Was denn?”

„Ein Online-Modeshop für alle”, erklärte Giancarlo. „Olivier kennt ein paar sehr gute Designer, die sich auf Drag spezialisiert haben. Und ich habe gute Kontakte nach Italien. Es gibt da eine ganze Reihe toller Menschen, die hier auf diese Art Fuß fassen könnten.”

Kai nickte anerkennend. „Das ist eine gute Idee. Wisst ihr schon, wie ihr das finanziert?”

„Größtenteils mit unserem Geld”, gab Giancarlo zu. „Wir wollen das Ganze erst mal zum Laufen bringen und dann zu den Investoren gehen. Nichtsdestotrotz…” Seine Schritte verlangsamten sich, und Kai war erstaunt, als er auf einmal nach seinem Arm griff. „Olivier und ich sind uns einig, dass es nicht schaden kann, noch jemanden ins Boot zu holen.”

Kai hob die Augenbrauen. „Mich?”

„Nur wenn du Lust hast”, sagte Giancarlo. „Und wir die ersten zwei Jahre überstehen. Ich hatte nur das Gefühl, dass du noch keinen Plan hast für… danach. Also wollte ich es dir zumindest anbieten.”

„Danke, Gianni. Wirklich.”

Sein Gegenüber grinste schief. „Es würde mich beruhigen, wenn wir irgendwann jemanden wie dich hätten, der mit Zahlen besser umgehen kann als Olivier und ich. Lass uns darüber im Gespräch bleiben, okay?”

„Ja”, entgegnete Kai, der sich noch ein wenig überrumpelt fühlte, „Auf jeden Fall!”

„Gut. Dann lass uns jetzt zurückgehen und das Wochenende einläuten!”

„...Gianni. Heute ist Mittwoch…”
 

Wir nehmen ein kleinen Schluck auf uns

'n großen auf die Menschheit

Dann schießen wir uns hinter den Mond

Und wir kommen erst wieder runter

Wenn sich's hier unten wieder lohnt
 

Wir leben hoch, leben hoch, leben hoch, leben hoch, leben höher

Wir leben hoch, leben hoch leben hoch

Konfetti und yeah
 

„Cascada”, sagte Yuriy mit Grabesstimme in sein Telefon. Mathilda am anderen Ende fing an zu gackern und Boris, der gerade irgendwas mit viel Protein in der Pfanne briet, prustete los. „Beste!”

„Die letzten fünfzehn Jahre waren echt schlimm”, sagte Mathilda, „Ich find’s nur schade, dass wir kein NDW auflegen können - wenn trashig, dann richtig.”

„Ich finde, Cascada deckt sehr viel ab”, beschied Yuriy, „Und es ist mega gay. Oder?”

„Ja, sehr gay, sehr. Was hast du noch?”

Yuriy warf einen Blick auf seine Liste. „Sämtliche Girlbands. Beyoncé. Gaga. Britney. Christina.”

„Oh!”, rief Mathilda, „Shakira!”

„Shakira…” Yuriy fügte den Namen ein. „Ich brauche Alkohol um das zu überstehen”, stellte er fest.

„Ach was, letztes Jahr gings doch auch ohne.”

Dazu sagte er nichts. Letztes Jahr hatte Mathilda sich lauthals darüber beschwert, dass sie nüchtern alte Chartmusik auflegen musste - aber letztes Jahr war sie auch Single gewesen. So schnell änderte sich die Welt. Yuriy bluteten schon jetzt die Ohren, aber solange er nicht irgendwelche dummen Sprüche in ein Mikro brüllen musste, um die Menge zu animieren, würde er es überleben.

„Da ist noch dieser eine Song”, fuhr sie jetzt fort, „Ich krieg die Künstlerin nicht mehr auf die Reihe. Kannst du dich erinnern? - Ich bin morgens immer müde, aber abends werd ich wach”, sang sie.

„Ja, Laing”, sagte Yuriy und schrieb sie auf die Liste.

„Richtig”, bestätigte Mathilda, „Dann können wir auch Görli, Görli mit raufnehmen, für die Sommervibes. Oh, ich freu mich drauf, mit dir aufzulegen!”

„Ich mich auch”, sagte er lächelnd. „Okay, lass uns morgen noch mal quatschen, ich bastel hier noch ein bisschen rum.”

Als er auflegte, richtete Boris sein Essen gerade an. „Cascada? Ohne Scheiß?”, fragte er, als er sich Yuriy gegenüber an den Tisch setzte. Der beäugte zweifelnd das beige Gemisch auf seinem Teller und verwarf den Gedanken, ihm etwas davon zu klauen. „CSD ohne Cascada geht nicht”, meinte er.

Ja, es würde schlimm werden, aber er hatte Mathilda nicht angelogen. Er freute sich wirklich darauf. Zumal er nicht einschätzen konnte, wann sie das nächste Mal zu zweit arbeiten würden. Der Kontakt mit Kane hatte sich wirklich ausgezahlt. Sie waren fest in dessen Partyreihe eingeplant, und seit sie offiziell im Line-up erschienen, hagelte es Anfragen. Sogar von außerhalb. In seinen kühnsten Träumen hätte Yuriy nicht erwartet, dass er mal über die Grenzen Berlins hinaus bekannt werden würde. Glücklicherweise hatten sie jetzt sogar Zeit, die Anfragen anzunehmen, doch ihm war schleierhaft, wie es weitergehen sollte, wenn die Schule wieder anfing. Die anderen schienen fest entschlossen, ihr Studienpensum herunterzuschrauben, aber er konnte nicht einfach seine Stunden ändern. Nun, ihm würde schon etwas einfallen. Jetzt galt es erst mal, die Gelegenheit zu nutzen und den Fuß in die Tür zu kriegen. So hatte es bisher ja auch funktioniert.

„Sergeij hat übrigens ein Ferienhaus gefunden”, sagte Boris in diesem Moment, „Für September. Weißt du schon, ob Kai mitkommt?”

„Noch nicht, aber ich bearbeite ihn. Er traut sich nicht so recht, weil er im September CEO wird. Aber Gianni meint, dass er ihn sowieso in den Urlaub schickt, bevor er seine Sachen packt. Also denke ich, das wird was.”

„Gut. Sergeij hat jedenfalls auch nichts dagegen. Der Kleine ist in Ordnung.”

Darauf sagte Yuriy nichts, warf seinem Mitbewohner aber einen bedeutungsschweren Blick zu. Es passierte nicht oft, dass Boris neue Leute in ihrem unmittelbaren Freundeskreis akzeptierte. Vielleicht lag es daran, wie unbeeindruckt Kai reagierte, wenn Boris in den Arschloch-Modus verfiel. Auf einer sehr verqueren Ebene verstanden sich die beiden jedenfalls, auch wenn selbst Yuriy nicht vollends nachvollziehen konnte, wie das funktionierte.

„Bitte, Yura”, sagte Boris, als würde er seinen Gedanken widersprechen wollen, „Ich wollte schon immer mal mit einem rich kid feiern. Kai kann uns so viel Alkohol spendieren, Mann. So viel!”
 

Wir haben ein Riesenrad ab, das völlig durchdreht

Wir knutschen alles ab was uns dabei im Weg steht

Wir heißen alles gut, denn das ist unser Name

Ein Toast auf jeden hier, wir sind die mit der bunten Fahne

Wir nehmen die Wellen auf den Brettern die die Welt bedeuten

Knipsen die Lichter aus, weil wir von alleine leuchten

Wir sind ein bisschen drauf und auch ein bisschen dran

Die Welt zu retten, aber damit fangen wir später an
 

Am Sonntag fand Kai sich in seinem Bett wieder, ohne zu wissen, wie er dort gelandet war. Er hatte die Rollläden nur halb heruntergezogen. Das Bisschen Tageslicht, das durchs Fenster fiel, stach ihm direkt ins Hirn. Er wollte aufstehen und den Raum abdunkeln, aber er konnte sich nicht bewegen. Ein unwilliges Brummen entwich ihm. Dann wurde endlich nicht nur seine Sicht sondern auch seine Gedanken klarer.

Kai hatte den Kater des Jahrhunderts. Und einen Sonnenbrand, oder jedenfalls fühlte es sich so an. Und vor allem war er nicht allein.

Langsam und sehr vorsichtig hob er den Kopf, zum einen, weil ihm sofort wieder die Sicht zu verschwimmen drohte, zum anderen, weil es viel zu kompliziert war, eines seiner anderen Körperteile zu bewegen. Sein Blick fiel als erstes auf das Sofa, das auf der anderen Seite des Raumes stand. Darauf Raoul und Lai. Lai schnarchte, was Kai erst jetzt bemerkte. Auf dem Teppich vor dem Sofa lag Boris, alle viere von sich gestreckt. Neben ihm hatte sich jemand in Kais Wolldecke eingerollt. Ein langer Pferdeschwanz lugte hervor, also war es wahrscheinlich Salima.

Als nächstes wandte er den Kopf nach rechts. Schräg unter ihm war Mathildas rosa Haarschopf, in dem noch einige bunte Spangen steckten. Darüber Giulias Gesicht. Schlieren ihres Make-ups zogen sich über den hellen Kissenbezug, doch einige der Pailletten, die sie gestern so sorgsam angeklebt hatte, glänzten immer noch auf ihren Wangen.

Der Arm, der quer über Kais Oberkörper lag, gehörte keiner der beiden. Zwischen den hellen Härchen auf ihm glitzerte es. Die Haut darunter wirkte sehr rot, etwas weiter oben begannen die ersten kräftigen, schwarzen Linien. Er hob den Blick: Auf seiner linken Seite schlief Yuriy. Es war ein Wunder, dass er noch nicht aus dem Bett gefallen war. Seine Haare waren zerwühlt und es hing etwas in ihnen, das sehr nach Konfetti aussah.

Seufzend ließ Kai den Kopf zurückfallen. Seine Position wurde nun wirklich unbequem, also begann er, sich ganz langsam aus Yuriys Griff zu winden. Das war schwieriger als gedacht, denn irgendwie waren sie beide auch noch in der Decke gefangen. Schließlich bewegte der andere sich, hob den Arm - jedoch nur, um die Hand auf Kais Gesicht zu legen. „Halt still”, murmelte er.

„Ich brauch Platz”, flüsterte Kai und zog Yuriys Hand zurück. „Hast du nicht neben Boris geschlafen?”, fiel ihm ein.

„Boden war zu hart”, nuschelte Yuriy, der jetzt doch die Augen öffnete und ihn müde anblinzelte. „Du glitzerst”, stellte er fest.

„Du auch.” Tatsächlich sah Yuriy so aus, als wäre er in ein ganzes Fass voller Glitzer gefallen. Kai erinnerte sich dunkel, dass er eventuell nicht ganz unschuldig daran war. Nach der Parade hatten sie ordentlich getrunken, und da Yuriy und Mathilda als einzige noch ein bisschen länger nüchtern bleiben mussten, waren sie zu ihren Lieblingsopfern geworden. Und mit steigendem Pegel hatte Kai Giulias Assortiment von Glitzerpulvern immer stärker fasziniert. Die verschiedenen Farben waren auf Yuriys Haut zu einem dunklen Silber verschmiert, was aber nicht bedeutete, dass die Partikel nicht noch immer schillerten. Das ganze Ausmaß wurde erkennbar, als Yuriy nun anfing, sich zu bewegen und seine langen Glieder zu entfalten. Jetzt wäre er doch beinahe von der Matratze gerutscht, konnte sich aber gerade so halten. Als er sich aufsetzte, rieselte es bunt aus seinen Haaren. „Oh mein Gott, ich bin fucking Tinkerbell”, sagte er. Dann stand er auf und schlich sich, diversen Gliedmaßen ausweichend, durch den Raum in Richtung Bad.

Auch Kai fühlte sich jetzt sicher genug, um sich aus der Horizontalen zu begeben, auch wenn ihm dabei immer noch etwas schwindelig war. Etwas benommen sah er sich noch einmal genauer um. Seine Wohnung versank im Chaos. Zwischen den Schlafenden lagen Kleidungsstücke, alles war voller bunter Papierschnipsel und auf seiner Küchenzeile reihten sich leere Sektflaschen aneinander. Auf dem Küchenboden lagen Takao und Hiromi.

Kai war nur kurz überrascht, die beiden hier zu sehen, denn seine Erinnerungen waren so verschwommen, dass er nicht sagen konnte, wann sie gestern dazu gestoßen waren. Aber was solls. Er ging in die Hocke und rüttelte sachte an Takaos Schulter. „Hey”, flüsterte er, als der die Augen öffnete und sich orientierungslos umsah. „Kai…?”

„Nein, Major Louis Armstrong”, entgegnete er grinsend. „Schnapp dir Hiromi und legt euch ins Bett, da ist noch Platz. Aber leise!”

Takao stellte keine weiteren Fragen, auch wenn er kurz so wirkte, als würde Kais Scherz ihn sehr verwirren. Gemeinsam weckten sie Hiromi, und dann sorgte Kai dafür, dass die beiden auf dem Weg zum Bett nicht jemandem auf die Hand oder das Gesicht traten. Als sie endlich neben Giulia und Mathilda lagen, kam auch Yuriy wieder aus dem Bad. Er schien versucht zu haben, sich das Glitzer herunterzuwaschen, was aber nur mäßig geglückt war.

„Duschen, dann Frühstück besorgen?”, schlug Kai vor.

Nach dem Duschen fühlten sie sich frischer, aber abgesehen davon, dass jetzt auch Kais Handtücher und das halbe Bad glitzerten, hatte sich auch ihr Anblick nicht wirklich verbessert.

„Okay, Edward Cullen”, meinte Yuriy, als sie vor der Haustür im strahlenden Sonnenschein standen und sich die Sonnenbrillen aufsetzten. „Dann wollen wir mal. Was brauchen wir?”

„Alles”, antwortete Kai. „Ich war nicht darauf vorbereitet, zehn Leute zu beherbergen. Ich habe nicht mal genug Kaffee und… oh Gott. Es ist Sonntag.”

Yuriy hob die Schultern. „Bäcker und Späti also.”

Obwohl es schon Mittag war, war alles sehr ruhig. Der Kiez stand generell spät auf, deswegen gab es auch kaum Cafés, die ein gutes Frühstücksangebot, oder Gott bewahre, Brunch, hatten. Auf die Bäcker und Spätis war dafür immer Verlass.

Während sie nebeneinander den Gehweg entlang schlenderten, wurde Kais Blick ein ums andere Mal von Yuriys glitzernder Haut angezogen. Bei Tageslicht kamen die Facetten gleich noch ein bisschen besser zur Geltung, beinahe wirkte es, als wären es Yuriys Sommersprossen, die die Sonne reflektierten.

„Ich glaube, ich habe einen kleinen Filmriss”, meinte er irgendwann, „Ich kann mich nicht erinnern, wann wir beschlossen haben, zu mir zu gehen.”

„Das weiß ich auch nicht so genau, ich wurde mitgeschleppt.” Yuriy schien das alles weitaus weniger ungewöhnlich zu finden als Kai. Dem blieb nichts anderes übrig, als ergeben den Kopf zu schütteln. Sah so also sein neues Sozialleben aus? Nun ja. Mit ein paar weniger verkaterten Wochenenden wäre das durchaus hinnehmbar.

„Kommst du nun eigentlich mit ans Meer?”, fragte Yuriy, als sie kurz darauf beim Bäcker ankamen. Sie blieben stehen und sahen sich an. Kai wollte rational denken, wollte ihm erneut erklären, dass seine beruflichen Verpflichtungen einen Kurzurlaub nicht erlaubten. Doch es war unglaublich schwer, dieses Argument zu bringen, verkatert und glitzernd wie sie waren.

„Tja…”, sagte er.

Yuriy hob die Hand. „Okay, verspielt. Du kommst mit. Zehnter September. Wir holen dich von der Arbeit ab. Pack eine Kotztüte ein, Boris fährt.”

Und Kai fühlte sich zu schwach, um sich dieser Bestimmtheit zu widersetzen.

„Müssen wir wirklich mit diesem grünen Ungetüm fahren? Ich könnte super easy einen Mietwagen kriegen.” Das war sein letzter Versuch, aufzubegehren. Doch Yuriy sah ihn nur bedeutungsschwer an. „Nur über Boris’ Leiche. Aber schön, dass du dabei bist!”

„Hey ich-” Der Rest seines Satzes ging ins Leere, da Yuriy in diesem Moment die Tür der Bäckerei hinter sich zu fallen ließ.
 

Am Abend saß Kai allein auf seinem Balkon und beobachtete, wie der Streifen rosa Lichts über dem Nachbarhaus immer dünner wurde. Die anderen hatten ihm noch beim Aufräumen geholfen, doch noch immer lag überall Konfetti herum, und er selbst würde wohl noch tagelang an Stellen glitzern, die niemals mit Glitzer in Berührung kommen sollten. Giulia hatte ihm das rote Pulver in den Schrank gestellt, ohne zu erklären, warum. Lai und Boris hatten sich über den Mangel an „Persönlichkeit” in seiner Inneneinrichtung ausgelassen und Raul vorgeschlagen, dass er ihm ein Wandbild malte. Anscheinend besaß der Junge ein paar versteckte Talente.

Erst nach ein paar Minuten, in denen er den Tag Revue passieren ließ, merkte Kai, dass sich ein breites Lächeln in seine Wangen grub. Wahrscheinlich sah er ein bisschen high aus, wie er hier saß und grinste. Ändern konnte, wollte er es trotzdem nicht.

Sein Handy, das vor ihm auf dem kleinen Balkontisch lag, leuchtete auf. Als Kai den Bildschirm entsperrte, blickte er auf ein Foto, das Yuriy geschickte hatte. Es war die Aussicht von seinem Zimmer: Die Stadt unter einem leuchtend roten Himmel, selbst der Fernsehturm winzig unter den dramatischen Wolkenschlieren.

Er hatte keine Worte, also antwortete er mit einem Herz.
 

Wir nehmen ein kleinen Schluck auf uns

'N großen auf die Menschheit

Dann schießen wir uns hinter den Mond

Und wir kommen erst wieder runter

Wenn sich's hier unten wieder lohnt
 

Wir leben hoch, leben hoch, leben hoch, leben hoch, leben höher

Wir leben hoch, leben hoch leben hoch

Konfetti und yeah
 

Boris parkte sein giftgrünes Ungetüm ziemlich dreist am Straßenrand, schenkte den aufgebrachten Gesichtern der Passanten um sie herum keine Beachtung. Yuriy schob die Sonnenbrille auf seiner Nase hoch und ließ das Fenster herunter. Nahm die Tür des Gebäudes auf der anderen Straßenseite ins Visier.

„Ich hoffe, sie überziehen nicht”, sagte er, „Bei Gianni kann ich mir das leider sehr gut vorstellen.”

„Wird schon”, brummte Boris. „Haben wir an alles gedacht?”

„Alles was auf der Packliste stand”, antwortete Yuriy.

Sergeij lachte auf und versuchte vergeblich, es wie ein Hüsteln klingen zu lassen. Er hatte sich auf die Rückbank gesetzt, sah dort aber so beengt aus, dass Yuriy beinahe Mitleid bekam. Der Weg zur Ostsee würde drei Stunden dauern. Vielleicht sollte er mit ihm den Platz tauschen. Andererseits war es auch für ihn (und vor allem seine Beine) nicht sonderlich bequem.

Mit einem Seufzen öffnete er die Beifahrertür. „Ich rauche noch eine”, behauptete er, in Wirklichkeit wollte er ein letztes Mal die Knie durchstrecken. Er lehnte sich gegen das Auto und warf einer Gruppe gaffender Touristen einen gelangweilten Blick zu, bevor er sich eine Zigarette anzündete. „Jo, Sergeij”, sagte er dann, „Du kannst auch vorne sitzen.”

„Damit du mit deinem Loverboy auf der Rückbank knutschen kannst?”, rief Boris.

„Fick dick, Borya.”

„Hab dich auch lieb.” Kurz darauf schaltete Boris die Anlage ein und beglückte sie und ihre unmittelbare Umgebung mit K.I.Z. Wenn jetzt nicht die Edelboutique von gegenüber die Polizei rief, dann glaubte Yuriy ab sofort an Wunder.

Eine Minute später ging die Tür, die er beobachtete hatte, auf und Kai kam heraus. Als er sie sah (und hörte) wirkte er kurz so, als wollte er sie ignorieren und einfach in eine andere Richtung davongehen. Doch dann kam er über die Straße. Yuriy trat seine Kippe aus und sie umarmten sich kurz. Während er Kais Reisetasche zu den anderen in den Kofferraum warf, beugte der sich zum Fenster herunter.

„Unauffällig ist nicht, was?”, fragte er Boris.

„Tach Chef”, entgegnete der Angesprochene laut über die Rapmusik hinweg, „Was macht das Leben, Chef? Alles cheffig?”

„Noch bin ich nicht Chef…”, murmelte Kai und trat zur Seite, weil Sergeij inzwischen ausgestiegen war, um mit Yuriy den Platz zu tauschen. Letzterer schob ihn mit etwas Nachdruck ins Auto. „Direkter Gehaltsvergleich sagt, du bist Chef, also halt die Klappe und kaufe uns Bier.”

„Ist ja gut.” Kai warf einen Blick über die Schulter, bevor er sich zurücklehnte. „Können wir jetzt endlich fahren? Die anderen kommen bestimmt auch gleich raus, und wenn ihr zukünftiger Chef in einem hässlichen Auto herumfährt, untergräbt das meine Autorität.”

„Aye aye Captain!”, sagte Boris und startete den Wagen. „Dann wollen wir den stinkenden Moloch mal hinter uns lassen.”

„Bis wir in einer Woche wieder zurückgekrochen kommen, weil’s ohne nicht geht…”, murmelte Yuriy und sah aus den Augenwinkeln, wie Kai lächelte.
 

Wir sehen rosarot

Lassen die Brille auf

Aus dieser Perspektive seht ihr alle irrer aus

Wir fahren zur Wolke 7 und nehmen euch mit

Uns scheint die Sonne aus ‘m Arsch ihr seid erleuchtet

Fade-Out

Kreuzberg, ein knappes Jahr später
 

Mathildas WG lag im obersten Stockwerk eines Altbaus in der Skalitzer Straße. Ihre Mitbewohnerin, ebenfalls Studentin, hatte sich gerade zusammen mit ihrem Freund und zwei anderen Paaren einen Kleingarten irgendwo am Rand des S-Bahnnetzes gekauft und verbrachte den ersten Mai lieber dort. Mathilda hatte die Fenster geöffnet, der Blick ging Richtung Straße, wo sich immer mehr Menschen ansammelten. Auf den Bürgersteigen standen Grills, von denen weiße Dampfwolken aufstiegen. An anderen Ecken wurde mehr oder minder legal Alkohol ausgeschenkt.

„Habt ihr gehört, dass sie den Görli dieses Jahr abgeriegelt haben?”, fragte Salima unbestimmt in den Raum, während sie zusammen mit Lai ein improvisiertes Buffet aufbaute. „Angeblich gibt’s Türsteher für den Park oder was?”

„Scheiß Kapitalismus!”, rief Yuriy, der gerade mit dem Arm voller Sektflaschen ins Zimmer trat. „Ich weiß nicht, worum es geht, aber es klang passend.”

„Dieses Mal stimme ich dir sogar zu”, sagte Salima und nahm ihm die Flaschen ab. „Meine Güte, wir sind so gut ausgestattet, wir brauchen gar nicht mehr raus.”

„Wenn der Görli zu ist lohnt sich das sowieso nicht”, kam es von Boris, der unter dem Tisch lag und versuchte, Mathildas DJ-Technik neu zu verkabeln, damit sie auch mal einfach so Musik hören konnten. „Und ob wir für die Demo heute Abend noch nüchtern genug sind… ich wage es zu bezweifeln.”

„Ihr habt doch heute schon im Namen von uns allen demonstriert, dachte ich?”, sagte Mathilda. Bevor Yuriy ihr antworten konnte, klingelte es jedoch an der Tür und sie eilte hinaus, um die nächsten Gäste reinzulassen. Nach ein paar Minuten kamen Giulia, Raul, Garland und Kai herein, alle mehr oder weniger keuchend, denn natürlich gab es im Haus keinen Fahrstuhl.

„Wolltet ihr nicht demonstrieren?”, fragte Kai, als sein Blick auf Yuriy fiel. Der verdrehte die Augen. „Waren wir doch! Gewerkschaftsdemo fängt um zehn an und ist dementsprechend früh vorbei.”

„Dann können wir ja jetzt feiern”, beschloss Mathilda, bevor sie Boris von ihrer Technik wegscheuchte und innerhalb von fünf Minuten das erledigte, womit er sich schon seit einer halben Stunde quälte. Kurz darauf tauchte sie wieder auf und fuhr sich durchs Haar. „Okay, wer will Musik anmachen?”

„Ich hab da was.” Kai beugte sich verschwörerisch zu ihr und steckte ihr einen USB-Stick zu. Was sie daraufhin besprachen, konnte niemand sonst hören, doch Mathilda fing an zu kichern, bevor sie den Stick in ihren Laptop schob.

„Oh nein!”, kam es von Yuriy, der sie beobachtet hatte, „Ist es das, was ich denke, dass es ist?” Im nächsten Moment schallten, sehr ungewöhnlich für ihre Runde, deutschsprachige Neunziger durch den Raum. Die Reaktionen darauf waren gemischt.

„Warum kenne ich den Text?”, rief Salima verzweifelt.

„Yura, ohne Scheiß - das hast du da raufgepackt?”, kam es von Boris, der natürlich auch sofort gemerkt hatte, worum es ging.

Lai und Rei grinsten nur, während Giulia, Raul und Garland äußerst verwirrte Blicke tauschten. „Almans”, seufzte Giulia.

Die nächsten Stunden vergingen so - mit reichlich Sekt und selbstgemachten oder zumindest selbstgekauften Snacks. Sie hielten die Musik eine ganze Weile aus, bis sich Mathilda endlich erbarmte und einen EDM-Mix spielte. Überall in der Wohnung hatten sich kleine Grüppchen gebildet und bisher schienen alle absolut zufrieden damit zu sein, ihre Zeit hier zu verbringen und nicht im Trubel auf der Straße.

Irgendwann ging Yuriy auf den winzigen Balkon hinaus, um zu rauchen. Die Geräusche der Menge schallten verzerrt zu ihm herauf, inzwischen konnte man den Asphalt kaum noch erkennen. Vor ein paar Jahren noch hatte er sich darüber aufgeregt, dass der Tag der Arbeit zu einem Tag des Straßenfestes verkam, aber inzwischen wusste er die Kombination aus Demonstration und Feiern durchaus zu schätzen. Obwohl er das Steineschmeißen durchaus vermisste. Damit hatte er ziemlich genau dann aufgehört, als er seinen Job an der Schule bekommen hatte. Bedeutete das, dass er jetzt wieder damit anfangen konnte? Oder war er vielleicht doch schon zu alt für diese Art von Protest?

„Hey.”

Kai, der ihn eine ganze Weile beobachtete hatte, trat nun zu ihm hinaus. Sie lächelten sich an, beide dankbar für ein paar Minuten einträchtiger Stille. Yuriy hielt ihm die Schachtel Zigaretten hin und Kai nahm sich eine, mehr, um einen Grund zu haben, etwas länger hier draußen zu bleiben als alles andere.

„Und?”, fragte er, nachdem er ein paar Züge genommen hatte, „Wie ist das Leben als Vollzeitmusiker?”

„Anders”, gab Yuriy zu. Er stützte sich auf das Balkongeländer. „Ich denke immer noch jeden Montag, dass ich in die Schule muss.” Ein bisschen wehmütig dachte er an seinen letzten Schultag, im wahrsten Sinne des Wortes, zurück. Das war vor den Osterferien gewesen, und seine Kids hatten alles daran gesetzt, ihn zum Weinen zu bringen. Was ihnen auch beinahe gelungen wäre. Schlussendlich hatte er aber die richtige Entscheidung getroffen. Auch Mathilda, die ihr Studium beendet hatte, war nun Vollzeit mit der Musik beschäftigt. Ivan schrieb halbherzig an seiner Bachelorarbeit, nur Salima balancierte beides irgendwie.

„Und du?”, gab Yuriy schließlich Kais Frage zurück, „Wie ist das Leben als CEO?”

Kai verdrehte die Augen. „Es läuft nach Plan. Das Schiff steuert langsam auf einen Eisberg zu. Aber ich denke, wir haben genug Rettungsboote.” Es war leichter als gedacht, seinem Großvater den guten Enkel vorzugaukeln. Nach und nach begann Kai nun, seine vertrautesten Mitarbeitenden in die Situation einzuweihen. Der Betriebsrat beispielsweise wusste nun davon und hatte ihm seine Unterstützung zugesichert. Wenn nicht noch eine Katastrophe passierte, würden sie das Ding schon schaukeln.

Er lehnte sich nun auch mit dem Rücken ans Geländer, sah in den Himmel hinauf, während Yuriys Blick zur Straße ging. Sie standen so nah beieinander, dass sie die Wärme des anderen spürten.

„Ist dir klar, dass wir uns jetzt ein Jahr kennen?”, sagte Kai irgendwann.

„Stimmt.” Yuriy schmunzelte. „Seit dieser fatalen Nacht im Zentrum. Krass, wie die Zeit vergeht.”

„Ich habe das Gefühl, ich war damals eine ganz andere Person.” Kai spürte, wie Yuriy ihn mit der Schulter anstieß. „Keine Sorge, du bist immer noch ein Arsch.”

„Hn.”

Yuriy warf ihm einen Blick zu. Kai hatte sich verändert, das war nicht zu leugnen. Selbst äußerlich. Seine Kleidung saß modisch-locker und seine Haare behandelte er jetzt etwas nachlässiger. Es stand ihm, sehr. Und auch seine Ausstrahlung war anders, seit er nicht mehr den Eindruck einer ständig geplagten Seele machte. Ein bisschen mehr so, wie damals, in dieser ersten Nacht.

Yuriy wusste nicht, ob es von der Zigarette kam, aber auf einmal war sein Mund trocken. Er räusperte sich. „Hör mal”, fing er an, ohne selbst zu wissen, worauf er eigentlich hinaus wollte. Sein Gesicht fühlte sich heiß an. Ob er schon wieder einen Sonnenbrand bekam? „Es gibt so ein paar Sachen, die ich im Nachhinein bereue”, fuhr er fort. „Dinge, die ich gesagt habe…”

„Oh, ja!”, unterbrach Kai ihn, „Ich hab mich auch daneben benommen! Keine Sorge, ich glaube, wir sind mehr als quitt.”

„Ja…”, murmelte Yuriy hilflos. Das war absolut nicht das, was er meinte. „Ja, du hast recht…”
 

Garland und Boris saßen drinnen auf dem Sofa und hielten den Balkon im Blick. Boris öffnete zischend eine Bierflasche - endlich was Ordentliches zu Trinken - und reichte sie an Garland weiter, bevor er sich selbst eine nahm.

„Meinst du, sie werden es irgendwann kapieren?”, fragte Garland.

Boris folgte seinem Blick. „Kai und Yuriy?” Er schnaubte. „Im Leben nicht. Keine Ahnung, warum sie es sich so schwer machen.”

Sie konnten nicht hören, was die beiden besprachen, aber anscheinend hatte Yuriy einen dummen Spruch gemacht, denn Kai boxte ihm in den Oberarm, bevor sie beide anfingen zu lachen. Boris grinste in sich hinein und nahm einen Zug aus der Flasche.

„Wer weiß”, urteilte er, „Vielleicht brauchen sie noch ein Jahr. Oder zwei. Oder fünf.”

Doch gerade, urteilte er bei sich, war es gut so.
 

Es dauerte einen Moment, dann fiel Boris auf, dass die seichte EDM schon wieder anderen Beats gewichen war. Eine Trompetenfanfare plärrte aus den Lautsprechern.

„Jo!”, brüllte er, „Wer hat schon wieder den verdammten Stick angemacht?”
 

Der Asphaltboden zitterte, es wummerte im Ohr

Als ich an einen dicken Beat mein junges Herz verlor

Seit damals gefällt mir die Stadt besser als zuvor

Wenn ich durch Berlin-City cruise is' Reggae mein Motor

Ich singe auf dem Fahrrad, mal Bass und mal Tenor

Zuhause dreh' ich Sound auf, die Nachbarn ha'm Humor

Die stehen auf frische Downbeats aus meinem Recordstore

Concrete Jungle, Supersonic, Soundsystemkultur

Wenn Party is', dann sind wir on the dance floor

Der DJ macht den Vers und die Jarvis den Chor

Du versinkst im Bass wie 'ne Moorleiche im Moor

Es zwingt dich in die Knie, denn der Riddim is Hardcore

Wir shaken, was wir haben bis morgens sieben Uhr

Woanders gibt's 'ne Sperrstunde, bei uns die Müllabfuhr

Dann bauen wir'n dickes Rohr, kommt dann schon mal vor

Und blasen dicken Smoke durchs Brandenburger Tor
 

Dickes B, oben an der Spree

Im Sommer tust du gut und im Winter tut's weh

Mama Berlin, Backstein und Benzin

Wir lieben deinen Duft, wenn wir um die Häuser ziehen


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich entschuldige mich für den holprigen Stil, ich hab das Kap echt schnell rausgehauen. Überarbeiten ist später, lol. Komplett anzeigen

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Von:  Phetonix
2023-07-25T17:47:34+00:00 25.07.2023 19:47
Eventuell habe ich diese FF viel zu schnell verschlungen, aber jede Sekunde davon genossen. Gerade aus dem Sommerurlaub gekommen, schließt sich der Vibe wunderbar an <3
Ich mag die Vorstellung von Yuriy als Marxisten und kleinen Revolutionär. Insgesamt war es schön von den Jungs auch mal ohne das Abteitrauma zu lesen. Die Fic hat was von einen lauen Sommernachtstraum den ich gern noch einmal träumen (oder lesen) will, chapeau.
Antwort von:  lady_j
03.08.2023 10:49
*insert gif of Leonardo DiCaprio sitting on the sofa pointing at a screen* DU BIST DAS.
Ich hab dich mit Nesuki auf insta gesehen und kriege jetzt erst die Verbindung klar. Ja Mensch, ich kenn dich doch xD

Und ja, vielen Dank für dein Lob für diese SommerFF. Sie hat mir damals durch die Pandemie geholfen, da wollte ich nicht so viel Drama. Schön, dass sie dich abholen konnte :)
Antwort von:  Phetonix
03.08.2023 11:41
Hahahaha, der Fandom ist klein xD *fingerguns*
Von:  Darkdragon83
2021-03-24T23:52:32+00:00 25.03.2021 00:52
Ich muss zugeben ich kenne beyblade nicht, aber die Story war trotzdem super zu lesen. Ich schließe mich keinen Vorrednern an, dass es aber sehr unbefriedigend ist nicht zu wissen was zwischen den beiden jetzt wirklich läuft. Ein paar mehr Details wären schon schön ;)
Von:  esperluette
2020-07-08T21:27:29+00:00 08.07.2020 23:27
Ich wusste nicht wie sehr ich diese Fic brauche, bis ich sie gelesen habe.
Der Knaller!

Also: Ich sage ich sei Purist, weil ich mit AUs kritisch bin und sie für gewöhnlich umschiffe, um nicht von mir selbst zu denken ich wär engstirnig und eingefahren, hahah XD

Desweiteren habe ich NULL Peilung von Berlin, DJ-Szene, Start Up Business oder Sozialberufen. Und bescheinige mir nicht mal sonderliches Interesse daran.

Und doch bin ich hier gelandet. Einmal quergelesen. Zweimal quergelesen. Durchgelesen. LOST.
Ich will auf den Rave!

Der Deal Saver ist eindeutig wieder dein Sprachstil.
Jedes Wort sitzt einfach.
Wie Atmosphäre und Charakterisierungen in jeder einzelnen Szene aufgebaut werden und spürar sind.
Du könntest glaub ich alle Folgen der Teletubbies nacherzählen, ich würds mir geben. (Aber bitte tus nicht. No offense ans Teletubby-Fandom...)
Special mention und random rant: Jour Fixe! Ich liebe dich dafür, dass dus so schreibst. Im real life wird dieses Wort derart malträtiert, sodass ich mich persönlich angegriffen fühle.

Was ich so spektakulär finde:
Wie du diese airy Kennenlernstory die mit derart schweren Themen verbindest, Job-Struggle, sozialer Background, Sozialarbeit, Konzernmachenschaften und alles was ich hier vergessen habe.
Der Plot. Tolltolltoll! Kompetent und konsequent durchgezogen.
Die Geschichte. Bittersüß.

Mein rationales Hirn versteht durchaus, dass der Charme der Story gerade von diesem Geplänkel herrührt.
Mein aufgebrachtes Fangirl_Herzmöchte diese beiden TROTTEL einfach nur schütteln und anschreien. Dagegen sind Boris' freundliche Hinweise zivilisiert. Wiesohohooooo?! Reißt euch mal zusammen! Echt.

Ich mein, all diese ARGH!-Momente, Gedanken, Äußerungen! Die ich sososo liebe!

Yuriys Blick in Kais Augen im ersten Kapitel.
Die erste Begegnung im Backstage.
Die Rettung an der Theke.
Die Balkonszenen. ALLE!
Auf welche Art sie im Bett landen.
Die Dachszene und wichtiger noch im Treppenhaus.
Kais Gedanken zum Verlassen der Stadt.
Die untersrückte Eifersucht.
Das Telefonat! Das Tape!
Die Auseinandersetzung und die Versöhnung.
Die Konspiration. Die Revolution. Der DANCEFLOOR.

Der bezeichnenste Satz für die ganze Story für mich: "Ja, dachte er und schüttelte den Kopf."

Ich hätte in einigen Momenten gern ein AU vom AU gehabt. Ne, Quatsch, so wie es ist, ist es gut.

Yuriy. Wie KLUG er ist. Und alles andere eh. Bisschen schade, dass er nicht mehr an der Schule ist aber, i know.
Kai. Der Einäugige ist König unter den Blinden. Liebe seine Arschochmomente.
Boris. Meinetwegen kann der nicht genug Primetime bekommen. Shirtless versteht sich. UGH. Ich liebe ihn.
Takao. Kann ich hier richtig gern leiden. Wobei mir die KaTa-Vorstellung nicht so beliebt. (S. o. haha)
Brooklyn & Garland. Okaaaaayy... ich verstehe deren Sinn und Zweck. Beiläufig durchgeknallt.
Ralf. Soft Spot.

Und jetzt findest du mich bei Metropolentänzer. Und damit: You got all my hopes up :)

Ich feier dich!

P. S.: Ich habe hier gelesen als DAS Update von Omniscient kam. Freude! Aber ich konnts nicht. Hab nach einem Absatz zu gemacht. Heb ich mir fürs Wochenende auf.


Antwort von:  lady_j
09.07.2020 07:33
Omg ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Ich liege noch im Bett und grinse vor mich hin xD
Jo, nicht mal ich habe am Anfang gedacht, wie sehr ich diese au brauche. Sie hat mich durch den "lockdown" gebracht, und da die Clubs immer noch nicht auf sind... Naja, es gibt metropolentänzer lol.
Liebe deine Auswahl der lieblingsszenen und deine Liebe für Ralf :D ich fand nämlich auch, dass er sich gut in die Story fügt. Boris braucht eigentlich sein eigenes Ding, true. Sowieso brauchen viele Figuren eigentlich mehr Story, aber dann wäre das Ding nie fertig geworden...
❤️
Von:  WeißeWölfinLarka
2020-07-05T11:34:50+00:00 05.07.2020 13:34
Was?!
Ein knappes Jahr später? Nichts zum Urlaub? Ahhhh!
Aber hey, Skalitzer Straße kenn ich (vom Namen her), der Band Großstadtgeflüster sei dank!

Oh, Yuriys Magic Stick kommt endlich zum Einsatz! :D
Wundervoll. Auch der Slang („Almans“ trifft es XD) Schön, dass einige verwirrt sind und die anderen ihrem Schicksal einfach ausgeliefert sind. Boris‘ Entsetzen… Zauberhaft!

>> Damit hatte er ziemlich genau dann aufgehört, als er seinen Job an der Schule bekommen hatte. Bedeutete das, dass er jetzt wieder damit anfangen konnte?<<
FUCK bedeutet das, er hat seinen Job als Sozialarbeiter verloren? Oder sogar aufgegeben, weil er jetzt als DJ bekannt(er) geworden ist?! Ich mein, good for him, andererseits vermisse ich sozialarbeiter Yuriy auch ein bisschen. ^^°
Ah, er ist Vollzeitmusiker. GOOD!
Jetzt möchte ich doch aber wissen, wie seine Kids es beinahe geschafft haben, ihn zum Weinen zu bringen! Das macht mich so neugierig!

Alles in allem mag ich, dass dieses Kapitel bisher einen sehr positiven und hoffnungsvollen Tenor innehat. Auch hinsichtlich von Kais Vorhaben, Hiwatari Enterprise vor den Bug zu hauen.

Was ist das? Ein flustered Yuriy? Omg!
Und Kai lässt ihn nicht ausreden! ARGH! Kai, halt die Gusch und hör zu! Statt zu labern! ARGH!
Ich finds sehr cool, dass GERADE Garland sich mit Boris über Yuriy und Kai unterhalten. Und Boris ist so weise? Aber HUAH, warum machen die beiden es sich so schwer?!

Fuck und schon ist es vorbei.

Ich mein, Hut ab vor Boris, der einfach erkennt, welche komischen Lieder auf dem Magic Stick sind, aber… Es ist vorbei… Ich muss wohl sofort zu Metropolentänzer wechseln.
Es ist ja wohl ein schönes Ende. Für eine Geschichte, die einfach eine zu gute Mischung aller Charaktere hat(te), und ich flipp halt einfach aus. feel good fic on main – das war und ist sie!
(Auch wenn mir immer noch YuKa-fix Auflösung fehlt ^^°)
DANKE für diese wundervolle Fanfic! Wirklich!

Antwort von:  WeißeWölfinLarka
05.07.2020 13:35
dann kann ich ja jetzt langsam alles speichern und es als Buch ausdrucken ;)
Von:  WeißeWölfinLarka
2020-07-05T11:17:29+00:00 05.07.2020 13:17
Neiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii~ Warum ist es schon das letzte Kapitel? Wiesoooooooou~ denn blouß? Warum tut sie souuuu~?!
Ahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh​hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh!!!

Kennst du das, wenn Boxer sich hypen, bevor sie in den Ring steigen? Das musste ich auch. Ich mein, es gibt ne Fortsetzung, ja! Darüber bin ich sehr beruhigt!
Aber… Hach. Ich hab keinen Plan was mich erwarten wird. Ich wird jetzt einfach loslegen.

Wait… bin ich verwirrt? Ich hatte gedacht, ich hätte das Kapitel schon mal eher kurz angelesen / reingelinst und es ginge um Katerhaftes Erwachen nach diesem beinahe Kuss. Warum Juli? Was da los?
Nnngh! Verwirrung, Verzweiflung, wtf!

Aber ich muss sagen, es passiert unglaublich viel und es ist auch sehr wichtig, die Änderungen im Job bei Kai zu beschreiben. (dennoch fehlt mir die Aufdröselung von Yuka? Sorry, ich bin so ein Schmachter! Es tut mir leid, wenn ich so ungeduldig bin!)

Lol, „Dann kannst du auch YURIY UND SEINE LEUTE fragen“ – Yuriy hat ne Gang ! es ist beschlossene Sache!
Und sie sind eine CLIQUE! LIEB!!!

Ich find es auch sehr lieb, dass Gianni sich mit Oli selbstständig machen will und dass er – gut, auch für seinen eigenen Vorteil wegen der Finanzen, weil Kai das drauf hat – an Kai als Unterstützung denkt, für die Zeit nach dem großen Coup. Solange sie in Berlin bleiben.
Hach.
XD Aber lachen musste ich dann doch. Man kann es Gianni nicht verübeln, manche Mittwochse fühlen sich an wie Freitage xD

Ich gackere auch über die Liederauswahl. Aber … ehrlich gesagt, sind alle genannten Bands / Interpreten meine heimlichen Guilty pleasures ^^°
Und soll der Hinweis darauf, dass Mathilda letztes Jahr Single war und jetzt nicht (CONGRATS to Mathilda und Julia, gooo girls! ) auch andeuten, dass Yuriy Alkohol braucht, eben weil er NOCH Single ist? WEIL ER UND KAI ES IMMER NOCH NICHT GESCHISSEN GEKRIEGT HABEN? ARRRRGH!!!!! ….. IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIVAAAAAAAAAAAAAN!!!! DEINE SCHULD!
Und… was zur Hölle hat sich Boris gekocht? Kartoffelbrei aus der Tüte?!

>>„Ich wollte schon immer mal mit einem rich kid feiern. Kai kann uns so viel Alkohol spendieren, Mann. So viel!”<<
Oh Boris, Baby…
Ich mag Yuriys Analyse über Boris‘ Akzeptanz zu Kai. Und dass sie dann einfach von diesem Satz oben getoppt wird. OmG.


Okay okay okay… warte warte warte!
JETZT kommt die Kater-szene? Was zum Fick, was ist passiert? OHHH ich bin vor Aufregung ganz kribbelig!
OMG OMG !!!
Es ist der Tag NACH dem CSD?!!!
Und Yuriy hat Sonnenbrand… („die haut unter dem Glitzer war rot“) Der arme. Aber Kai kann ihn ja eincremen ;) Ich mags dass Yuriy einfach dreist in Kais Bett gekrochen kommt.
Die ganze Schlaforgie bzw. die Zusammenstellung erinnert mich an einen Haufen Katzen, die überall, irgendwie, in den unmöglichsten Konstellationen pennen XD
Ich feiere die Glitzereskalation sehr. Yuriy als Tinkerbell… gott.. die sprüche…
… Und ist das dein Ernst, dass sie duschen gehen, und du uns die Duschszene vorenthältst? Ich leide. Was ist das hier für ein Slow Burn?! Duschen sie wenigstens zusammen? Kannst du mir das verraten? T______T
Tinkerbell und Edward Cullen, mit Sonnenbrillen inkognito, auf Mission. Ich komm aus dem Gackern nicht mehr raus. Und Yuriy hat bisher noch nicht einmal über den Sonnenbrand geklagt? Obwohl er darüber rubbeln musste, um den Glitzer abzuwaschen?! Hmmmmm…
Kai muss wohl eine Putzkolonne durch seine Wohnung jagen, anders wird er die Wohnung nie wieder vom Glitzer befreien können.
Ich mag es übrigens sehr, dass auch Hiromi und Takao da sind und dass Kai sich sorgt und beide in sein Bett schickt.

>>Pack eine Kotztüte ein, Boris fährt<<
Omg. Ich fürchte um ihrer aller Leben! XD Nein, nicht wirklich. Aber er sollte besser keine illegalen Straßenrennen veranstalten. XD
Ich lieb es sehr, dass Kai mit in den Urlaub kommt.


>>Er hatte keine Worte, also antwortete er mit einem Herz.<<
Ein so großartiger Satz.
Ja, ja, ich weiß ich beschwer mich, dass die nicht so vorankommen in ihrem – was auch immer sie haben, aber das, was sie haben ist so… intim und innig und… ist ja schon gut, ich bin einfach nur ungeduldig, aber ich liebe es, so sehr, wie du die Leben der beiden zeichnest, besonders, nachdem sie aufeinander getroffen sind und sich nun gegenseitig beeinflussen.

>>„Damit du mit deinem Loverboy auf der Rückbank knutschen kannst?”, rief Boris.<<
Gott ich hab so laut gelacht, denn dasselbe hab ich auch gedacht, als Yuriy über die Bewegungsfreiheit auf der Rückbank sinniert. XD Ich mein, dann säßen sie zusammen hinten. Wobei… die Warnung vor Boris‘ Fahrstil… besonders hinten könnte ich mir AUCH vorstellen, dass Yuriy eher Haare halten kann, statt zu knutschen…
Und ich hab echt Schiss, dass Kai sich jetzt noch rausschlängelt und NICHT mit in den Urlaub fährt. Fuck. Kai ist so einer, auch wenn er nicht abgesagt hat, wirklich zugesagt hat er auch nicht und wurde einfach „überrumpelt“
Bitte bitte, mach dass er mitfährt!
Er fährt tatsächlich mit!! HEIßAßA! Das war wirklich eine Sorge von mir.
Und Yuriy und Kai sitzen wirklich auf der Rückbank! ♥♥

Oh nein, jetzt kommt das letzte Kapitel… Mein Herz!

PS: ich mag den Songtext dazu sehr. Der letzte Ausschnitt ist sehr treffend gesetzt :)
Von:  Phoenix-of-Darkness
2020-06-21T05:37:53+00:00 21.06.2020 07:37
Das schreit so sehr nach FORTSETZUNG!!!!
Und ich liebe es ein bisschen, dass die beiden so lange brauchen
Von:  FreeWolf
2020-06-20T20:23:27+00:00 20.06.2020 22:23
AAAAW <3 Fortsetzung! Fortsetzung! Fortsetzung!
Von:  LittleLionHead
2020-06-20T19:20:51+00:00 20.06.2020 21:20
Argh. Was machst du nur mit mir? Kai und Yuriy haben es also nicht hinbekommen. Noch nicht. Das ist irgendwie traurig, vor allem weil Yuriy ja auf dem Balkon etwas sagen wollte... Und trotzdem ist es schön, so schön dass sie einander haben. Obwohl ich das Gefühl habe dass sie sich länger nicht gesehen haben - so nehme ich die Balkonszene jedenfalls wahr. Hach. Ich hab viele Gefühle in mir. Vor allem aber Liebe und (ich wiederhole mich) Dankbarkeit für dich, weil du diese wunderbare Geschichte mit uns teilst. Ich freue mich so sehr auf Teil 2. ❤️
Von:  Mitternachtsblick
2020-06-20T16:36:18+00:00 20.06.2020 18:36
Hach. ❤️ Scheiß Kommunismus! Almans! Yuriy und Kai als bekloppte Desaster! Erster Mai! Der Stick of Doom (oder doch der Stick of Joy)! Ich liebe alles daran. Ein wundervoller und sehr würdiger Abschluss. ❤️
Antwort von:  lady_j
20.06.2020 18:52
Psst, ich glaube, du meinst scheiß Kapitalismus :o
Antwort von:  Mitternachtsblick
20.06.2020 19:11
Gott JA, Schande über mein Haupt
Von:  LittleLionHead
2020-06-19T06:46:48+00:00 19.06.2020 08:46
Das letzte Kapitel. ABER ES GEHT WEITER 😍 Gott sei Dank. Jetzt bin ich zwar traurig, aber ich weiß dass ich mich auf etwas neues freuen kann. Und das Kapitel hat noch mal so vieles, bei dem mein Herz warm wird. Das geplante Modelabel - was für eine tolle Idee! Das aufwachen in der eigenen Wohnung mit vielen Menschen die dort eigentlich nicht hingehören - mega, so muss das. GLITZER. Überall Glitzer. Aber am allerliebsten habe ich die Abholszene mit Boris' Assikarre. Ich kann es fühlen. Und ich würde so, so gern von der Woche am Meer lesen. Hach. DANKE für diese Geschichte. Ich werde sie ganz bestimmt bald noch einmal lesen - komplett dann, in einem durch und ohne auf das nächste Kapitel zu warten. ❤️


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