Großstadtgeflüster von lady_j ================================================================================ Epilog: Fade-Out ---------------- Kreuzberg, ein knappes Jahr später Mathildas WG lag im obersten Stockwerk eines Altbaus in der Skalitzer Straße. Ihre Mitbewohnerin, ebenfalls Studentin, hatte sich gerade zusammen mit ihrem Freund und zwei anderen Paaren einen Kleingarten irgendwo am Rand des S-Bahnnetzes gekauft und verbrachte den ersten Mai lieber dort. Mathilda hatte die Fenster geöffnet, der Blick ging Richtung Straße, wo sich immer mehr Menschen ansammelten. Auf den Bürgersteigen standen Grills, von denen weiße Dampfwolken aufstiegen. An anderen Ecken wurde mehr oder minder legal Alkohol ausgeschenkt. „Habt ihr gehört, dass sie den Görli dieses Jahr abgeriegelt haben?”, fragte Salima unbestimmt in den Raum, während sie zusammen mit Lai ein improvisiertes Buffet aufbaute. „Angeblich gibt’s Türsteher für den Park oder was?” „Scheiß Kapitalismus!”, rief Yuriy, der gerade mit dem Arm voller Sektflaschen ins Zimmer trat. „Ich weiß nicht, worum es geht, aber es klang passend.” „Dieses Mal stimme ich dir sogar zu”, sagte Salima und nahm ihm die Flaschen ab. „Meine Güte, wir sind so gut ausgestattet, wir brauchen gar nicht mehr raus.” „Wenn der Görli zu ist lohnt sich das sowieso nicht”, kam es von Boris, der unter dem Tisch lag und versuchte, Mathildas DJ-Technik neu zu verkabeln, damit sie auch mal einfach so Musik hören konnten. „Und ob wir für die Demo heute Abend noch nüchtern genug sind… ich wage es zu bezweifeln.” „Ihr habt doch heute schon im Namen von uns allen demonstriert, dachte ich?”, sagte Mathilda. Bevor Yuriy ihr antworten konnte, klingelte es jedoch an der Tür und sie eilte hinaus, um die nächsten Gäste reinzulassen. Nach ein paar Minuten kamen Giulia, Raul, Garland und Kai herein, alle mehr oder weniger keuchend, denn natürlich gab es im Haus keinen Fahrstuhl. „Wolltet ihr nicht demonstrieren?”, fragte Kai, als sein Blick auf Yuriy fiel. Der verdrehte die Augen. „Waren wir doch! Gewerkschaftsdemo fängt um zehn an und ist dementsprechend früh vorbei.” „Dann können wir ja jetzt feiern”, beschloss Mathilda, bevor sie Boris von ihrer Technik wegscheuchte und innerhalb von fünf Minuten das erledigte, womit er sich schon seit einer halben Stunde quälte. Kurz darauf tauchte sie wieder auf und fuhr sich durchs Haar. „Okay, wer will Musik anmachen?” „Ich hab da was.” Kai beugte sich verschwörerisch zu ihr und steckte ihr einen USB-Stick zu. Was sie daraufhin besprachen, konnte niemand sonst hören, doch Mathilda fing an zu kichern, bevor sie den Stick in ihren Laptop schob. „Oh nein!”, kam es von Yuriy, der sie beobachtet hatte, „Ist es das, was ich denke, dass es ist?” Im nächsten Moment schallten, sehr ungewöhnlich für ihre Runde, deutschsprachige Neunziger durch den Raum. Die Reaktionen darauf waren gemischt. „Warum kenne ich den Text?”, rief Salima verzweifelt. „Yura, ohne Scheiß - das hast du da raufgepackt?”, kam es von Boris, der natürlich auch sofort gemerkt hatte, worum es ging. Lai und Rei grinsten nur, während Giulia, Raul und Garland äußerst verwirrte Blicke tauschten. „Almans”, seufzte Giulia. Die nächsten Stunden vergingen so - mit reichlich Sekt und selbstgemachten oder zumindest selbstgekauften Snacks. Sie hielten die Musik eine ganze Weile aus, bis sich Mathilda endlich erbarmte und einen EDM-Mix spielte. Überall in der Wohnung hatten sich kleine Grüppchen gebildet und bisher schienen alle absolut zufrieden damit zu sein, ihre Zeit hier zu verbringen und nicht im Trubel auf der Straße. Irgendwann ging Yuriy auf den winzigen Balkon hinaus, um zu rauchen. Die Geräusche der Menge schallten verzerrt zu ihm herauf, inzwischen konnte man den Asphalt kaum noch erkennen. Vor ein paar Jahren noch hatte er sich darüber aufgeregt, dass der Tag der Arbeit zu einem Tag des Straßenfestes verkam, aber inzwischen wusste er die Kombination aus Demonstration und Feiern durchaus zu schätzen. Obwohl er das Steineschmeißen durchaus vermisste. Damit hatte er ziemlich genau dann aufgehört, als er seinen Job an der Schule bekommen hatte. Bedeutete das, dass er jetzt wieder damit anfangen konnte? Oder war er vielleicht doch schon zu alt für diese Art von Protest? „Hey.” Kai, der ihn eine ganze Weile beobachtete hatte, trat nun zu ihm hinaus. Sie lächelten sich an, beide dankbar für ein paar Minuten einträchtiger Stille. Yuriy hielt ihm die Schachtel Zigaretten hin und Kai nahm sich eine, mehr, um einen Grund zu haben, etwas länger hier draußen zu bleiben als alles andere. „Und?”, fragte er, nachdem er ein paar Züge genommen hatte, „Wie ist das Leben als Vollzeitmusiker?” „Anders”, gab Yuriy zu. Er stützte sich auf das Balkongeländer. „Ich denke immer noch jeden Montag, dass ich in die Schule muss.” Ein bisschen wehmütig dachte er an seinen letzten Schultag, im wahrsten Sinne des Wortes, zurück. Das war vor den Osterferien gewesen, und seine Kids hatten alles daran gesetzt, ihn zum Weinen zu bringen. Was ihnen auch beinahe gelungen wäre. Schlussendlich hatte er aber die richtige Entscheidung getroffen. Auch Mathilda, die ihr Studium beendet hatte, war nun Vollzeit mit der Musik beschäftigt. Ivan schrieb halbherzig an seiner Bachelorarbeit, nur Salima balancierte beides irgendwie. „Und du?”, gab Yuriy schließlich Kais Frage zurück, „Wie ist das Leben als CEO?” Kai verdrehte die Augen. „Es läuft nach Plan. Das Schiff steuert langsam auf einen Eisberg zu. Aber ich denke, wir haben genug Rettungsboote.” Es war leichter als gedacht, seinem Großvater den guten Enkel vorzugaukeln. Nach und nach begann Kai nun, seine vertrautesten Mitarbeitenden in die Situation einzuweihen. Der Betriebsrat beispielsweise wusste nun davon und hatte ihm seine Unterstützung zugesichert. Wenn nicht noch eine Katastrophe passierte, würden sie das Ding schon schaukeln. Er lehnte sich nun auch mit dem Rücken ans Geländer, sah in den Himmel hinauf, während Yuriys Blick zur Straße ging. Sie standen so nah beieinander, dass sie die Wärme des anderen spürten. „Ist dir klar, dass wir uns jetzt ein Jahr kennen?”, sagte Kai irgendwann. „Stimmt.” Yuriy schmunzelte. „Seit dieser fatalen Nacht im Zentrum. Krass, wie die Zeit vergeht.” „Ich habe das Gefühl, ich war damals eine ganz andere Person.” Kai spürte, wie Yuriy ihn mit der Schulter anstieß. „Keine Sorge, du bist immer noch ein Arsch.” „Hn.” Yuriy warf ihm einen Blick zu. Kai hatte sich verändert, das war nicht zu leugnen. Selbst äußerlich. Seine Kleidung saß modisch-locker und seine Haare behandelte er jetzt etwas nachlässiger. Es stand ihm, sehr. Und auch seine Ausstrahlung war anders, seit er nicht mehr den Eindruck einer ständig geplagten Seele machte. Ein bisschen mehr so, wie damals, in dieser ersten Nacht. Yuriy wusste nicht, ob es von der Zigarette kam, aber auf einmal war sein Mund trocken. Er räusperte sich. „Hör mal”, fing er an, ohne selbst zu wissen, worauf er eigentlich hinaus wollte. Sein Gesicht fühlte sich heiß an. Ob er schon wieder einen Sonnenbrand bekam? „Es gibt so ein paar Sachen, die ich im Nachhinein bereue”, fuhr er fort. „Dinge, die ich gesagt habe…” „Oh, ja!”, unterbrach Kai ihn, „Ich hab mich auch daneben benommen! Keine Sorge, ich glaube, wir sind mehr als quitt.” „Ja…”, murmelte Yuriy hilflos. Das war absolut nicht das, was er meinte. „Ja, du hast recht…” Garland und Boris saßen drinnen auf dem Sofa und hielten den Balkon im Blick. Boris öffnete zischend eine Bierflasche - endlich was Ordentliches zu Trinken - und reichte sie an Garland weiter, bevor er sich selbst eine nahm. „Meinst du, sie werden es irgendwann kapieren?”, fragte Garland. Boris folgte seinem Blick. „Kai und Yuriy?” Er schnaubte. „Im Leben nicht. Keine Ahnung, warum sie es sich so schwer machen.” Sie konnten nicht hören, was die beiden besprachen, aber anscheinend hatte Yuriy einen dummen Spruch gemacht, denn Kai boxte ihm in den Oberarm, bevor sie beide anfingen zu lachen. Boris grinste in sich hinein und nahm einen Zug aus der Flasche. „Wer weiß”, urteilte er, „Vielleicht brauchen sie noch ein Jahr. Oder zwei. Oder fünf.” Doch gerade, urteilte er bei sich, war es gut so. Es dauerte einen Moment, dann fiel Boris auf, dass die seichte EDM schon wieder anderen Beats gewichen war. Eine Trompetenfanfare plärrte aus den Lautsprechern. „Jo!”, brüllte er, „Wer hat schon wieder den verdammten Stick angemacht?” Der Asphaltboden zitterte, es wummerte im Ohr Als ich an einen dicken Beat mein junges Herz verlor Seit damals gefällt mir die Stadt besser als zuvor Wenn ich durch Berlin-City cruise is' Reggae mein Motor Ich singe auf dem Fahrrad, mal Bass und mal Tenor Zuhause dreh' ich Sound auf, die Nachbarn ha'm Humor Die stehen auf frische Downbeats aus meinem Recordstore Concrete Jungle, Supersonic, Soundsystemkultur Wenn Party is', dann sind wir on the dance floor Der DJ macht den Vers und die Jarvis den Chor Du versinkst im Bass wie 'ne Moorleiche im Moor Es zwingt dich in die Knie, denn der Riddim is Hardcore Wir shaken, was wir haben bis morgens sieben Uhr Woanders gibt's 'ne Sperrstunde, bei uns die Müllabfuhr Dann bauen wir'n dickes Rohr, kommt dann schon mal vor Und blasen dicken Smoke durchs Brandenburger Tor Dickes B, oben an der Spree Im Sommer tust du gut und im Winter tut's weh Mama Berlin, Backstein und Benzin Wir lieben deinen Duft, wenn wir um die Häuser ziehen Hosted by Animexx e.V. 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