Großstadtgeflüster von lady_j ================================================================================ Kapitel 16: Schöne neue Welt ---------------------------- „Yura?” Boris streckte den Kopf aus seinem Zimmer, als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen ließ. „Alter, ich wollte schon die Bullen anrufen. Warst du heute in der Schule?” „Ja.” Er streifte sich schwerfällig die Schuhe ab, „Hätte mich krank melden sollen…” Boris lachte dreckig und trat jetzt ganz in den Flur, um Yuriy in dessen Zimmer zu folgen. Dort zog er sich seinen Schreibtischstuhl heran, während Yuriy sich aufs Bett warf. „War wohl eine lange Nacht? Ich schließe daraus, dass du dich wieder mit Kai versöhnt hast.” „Ja”, brummte Yuriy, „Aber nicht so, wie du denkst. Wir hatten Wein. Und Döner. Und Wodka.” Weil dummerweise gleich neben dem Dönerstand ein Späti war. „Geht doch nichts über einen Hauch Knoblauchscharfalles beim Knutschen, was”, spottete Boris. Yuriy seufzte und murmelte etwas Unverständliches in sein Kissen, bevor er die Hand hob, um seinem Mitbewohner den Finger zu zeigen. Hinter seiner Stirn hämmerte es. Über den Tag war sein Kater immer schlimmer geworden, während er panischen Teenagern zuhören musste. Auch ohne Exzesse am Sonntagabend waren Montage am Schuljahresende immer besonders schlimm, denn inzwischen spürte er auch seine eigene Erschöpfung deutlich. Wurde Zeit, dass die Ferien anfingen. „Was war denn nun los mit ihm?”, fragte Boris in die Stille hinein. Yuriy atmete hörbar aus und drehte sich wieder auf den Rücken, starrte die Decke an. Kurz überlegte er, was er Boris erzählen konnte, basierend auf dem, was der schon über Kai wusste. Doch die ganze Sache war so verzwickt, dass er wohl alle Fakten auf den Tisch legen musste - auf die Gefahr hin, dass es dieses Mal Boris war, der ihm einen langen, anstrengenden Vortrag über Kapitalistenschweine hielt, nicht umgekehrt. Dafür hatte er weder die Nerven noch die Geduld. Andererseits würde es gut tun, es sich von der Seele zu reden; und außerdem brauchte er Boris in dieser Sache sehr wahrscheinlich noch. „Hat Kai dir jemals von seiner Familie erzählt?”, fragte er also, doch der andere hob nur die Schultern. „Nein, wieso?” „Okay. Pass auf, was ich dir jetzt erzähle, ist vertraulich. Und du wirst es nicht mögen. Aber bitte halte dich mit Meinungsäußerungen zurück, sonst ticke ich aus.” „Alles klar.” Yuriy drehte den Kopf zur Seite, sodass er Boris ansehen konnte. „Kai ist der Enkel von Soichiro Hiwatari, dem CEO von Hiwatari Enterprises.” An Boris’ Gesicht war deutlich abzulesen, wie ihm Stück für Stück die Bedeutung dieser Worte aufging: Seine Augen wurden langsam größer, dann öffnete sich sein Mund ein Stück. „Verfickte Scheiße.” Eine Pause. „Hiwatari Enterprises? Gegen die wir gerade noch demonstriert haben weil sie irgendwo in Kreuzberg Immobilien aufkaufen wollten?” „Genau die”, bestätigte Yuriy. „Jetzt machen sie in Start-ups.” Boris blinzelte. „Also”, sagte er langsam, „Mein erster Impuls ist, mich ins Auto zu schwingen und Kai aufs Maul zu hauen. Aber da du hier seelenruhig liegst beschleicht mich der Verdacht, dass mehr hinter der Sache steckt. Willst du mich aufklären?” „Ja.” Schwerfällig setzte er sich auf. „Aber zuerst mache ich mir einen Tee. Willst du auch einen?” Zehn Minuten später saßen sie auf dem Balkon, in ihren Tassen schwammen Zitronenscheiben im Schwarztee, Boris legte sein Drehzeug auf den Tisch, rührte es aber nicht an. Yuriy erzählte ihm die Geschichte, wie er sie von Kai gehört hatte, machte nur hier und da ein paar Ausschweifungen, wenn es um den verpatzten Deal in Russland und die daraus folgenden Konsequenzen ging. An Boris’ Gesicht konnte er die Emotionen ablesen, die er selbst fühlte: Verwirrung, Ärger, Erstaunen, Ungläubigkeit in einem steten Wechsel. Jetzt, nüchtern und am helllichten Tag, wurde das Ganze sogar noch ein Stück absurder. „Tja, und deswegen wollen wir uns mit Giancarlo zusammentun, um Jürgens-McGregor und Hiwatari Enterprises eins auszuwischen”, beendete er schließlich seine Ausführungen. Boris hielt seinen Blick noch für eine Sekunde, dann griff er endlich nach seinem Drehzeug und machte Anstalten, ein paar Kippen zu produzieren. „Ihr habt euch echt gerade noch gefehlt”, sagte er schließlich, „Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erlebe, an dem du tatsächlich jemanden findest, der mit dir das System stürzen geht. Ich bin fast ein bisschen gerührt.” Er machte eine Pause, um das Paper anzulecken. „Habt ihr schon einen Plan?” Yuriy stützte den Kopf in die Hand. „Nein”, nuschelte er, „Wir wissen ja auch noch gar nicht, ob Giancarlo auf unserer Seite ist. Wir wollen uns nächstes Wochenende ihm und Olivier treffen. Gneisenaustraße. Sieh mich nicht so an, ein anderer Termin war nicht möglich.” Boris’ Blick sprach Bände. Am nächsten Wochenende fand der Karneval der Kulturen statt, und ja, sie trafen sich ausgerechnet an der Gneisenauer, weil Olivier unbedingt dorthin wollte. „Und dann geht’s zum KdK?”, fragte Boris feixend. „Ich bin sicher, wir werden einen Grund zum Saufen haben, wenn wir mit dem Treffen fertig sind.” Der Karneval gehörte nicht unbedingt zu den für Yuriy besonders wichtigen Terminen im Jahr, aber wenn er schon mal in der Nähe war, konnte er auch mit den anderen hingehen. Es gab dort eine ganz unterhaltsame russische Ecke, vor allem aber Unmengen von Essen und Alkohol. „Sag mal”, fuhr er fort, während seine Augen auf Boris’ Händen ruhten, „Ist Sergeij noch mit dieser Mieterbewegung verbandelt? Ich wollte da mal ein paar Infos einholen…” Die Parade war längst vorbei und der Mehringdamm lag im Chaos. Vor sämtlichen Spätis standen die Leute Schlange, und über den Buden weiter oben rund um die Amerika-Gedenkbibliothek stieg der Rauch auf. Die Straße war ein Trümmerfeld. Kai und Yuriy lösten sich aus dem Strom der Menschen, die zum Karneval wollten, und liefen stattdessen ein paar Schritte auf der Gneisenaustraße weiter, bis sie zu einem Café kamen, das im Vergleich zu seiner Umgebung grotesk ruhig wirkte. Drinnen war von dem ganzen Trubel erst recht nichts zu bemerken. Giancarlo und Olivier waren schon da, sie saßen in der hintersten Ecke und tranken Wein. Kai konnte es ihnen nicht nachsehen, er verspürte selbst das starke Bedürfnis nach etwas stärkerem als Kaffee. Sie setzten sich den anderen beiden gegenüber an den Tisch. „Das ist Yuriy Ivanov”, stellte Kai seinen Begleiter an Giancarlo gewandt vor, „Ich glaube, ihr habt euch flüchtig im Zentrum gesehen.” „Ich erinnere mich.” In Giancarlos Augen blitzte kurz der Schalk, dann wurde er wieder ernst. „Was soll das hier, Kai? Ich will ganz ehrlich sein, ich bin nur hier, weil Olivier mich darum gebeten hat.” „Und ich habe es getan, weil Yuriy auf mich eingeredet hat”, ergänzte Olivier, der jedoch weitaus entspannter wirkte als sein Freund. „Du kannst ganz schön hartnäckig sein, Großer.” „Danke, dass ihr hier seid”, sagte Kai, um dem Geplänkel ein Ende zu machen. „Ich denke, es ist klar, was der Grund dafür ist. Giancarlo” Er sah den Blonden wieder an. „Ralf und Soichiro wollen uns beide verarschen. Glaub mir bitte, wenn ich sage, dass ich davon nichts gewusst habe. Ralf hat nur ein paar Tage vor dir mit mir gesprochen.” „Du wurdest verarscht?”, giftete Giancarlo, „Soweit ich weiß ist dir doch gerade meine Firma in den Schoß gefallen. Sieht doch ganz so aus, als wärst du hier der große Gewinner.” Kai schnalzte mit der Zunge. Er war sehr froh, dass in diesem Moment die Bedienung kam und ein Glas Wein vor ihm auf den Tisch stellte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Yuriy sich zurücklehnte und an seinem Kaffee nippte. „Du kennst noch nicht die ganze Wahrheit”, sagte er schließlich. Giancarlo verdrehte die Augen. „Na dann schieß mal los. Mich kann jedenfalls nichts mehr schocken.” Yuriy neben ihm stieß die Luft aus, doch Kai war sich sicher, dass nur er etwas von seiner Belustigung mitbekam. Mal sehen, ob Giancarlo immer noch so dachte, wenn er ihm sein kleines Familiengeheimnis eröffnete. „Du denkst immer noch, dass ich irgendein entfernter Verwandter von Soichiro Hiwatari bin, oder?”, sagte er deshalb. „Tja, das stimmt nicht so ganz. Soichiro ist mein Großvater.” „Was zum-” Kurz wirkte es, als würde Giancarlo das Glas aus der Hand fallen, während Olivier eher so aussah, als lese er gerade eine schlimme Klatschgeschichte in der Zeitung. „Was zum Fick, Alter?! Das heißt, das in Russland - was Ralf und Johnny so witzig fanden - das warst du? - Oh, jetzt wird mir einiges klar”, fuhr er missbilligend fort, „Kein Wunder, dass ich gegen dich keine Chance habe. Was kommt jetzt, hm? Dass ihr das alles schon geplant hattet, als du bei mir angefangen hast?” „Oh mein Gott”, hauchte Olivier, „Das ist so...aufregend!” „Gianni. Nein”, sagte Kai nachdrücklich, „Wir haben ein noch viel größeres Problem als die Tatsache, dass ich deine Firma übernehmen soll. Was ich übrigens gar nicht will, falls du es noch nicht bemerkt hast. Der Punkt ist aber - Soichiro investiert nur, damit er später persönliche Daten unserer User weiterverkaufen kann.” „Aber das ist doch illegal!”, entfuhr es Olivier, während Giancarlos Augen sich weiteten und er sich automatisch vorbeugte. „Ja”, sagte mit Seitenblick auf Olivier, „Aber so wie wir aufgebaut sind, würde der alte Hiwatari damit sogar durchkommen. Unsere Zentrale ist zwar in Berlin, aber die Server stehen ganz woanders… Und wenn Hiwatari Enterprises uns übernehmen, sitzt der Mutterkonzern in Japan… Niemand wüsste, wen er jetzt wo überhaupt verklagen sollte, und alle können sich gleichermaßen rausreden.” Er machte eine Pause. „Oh Gott, Kai. Das ist schlecht.” „Das sage ich doch schon die ganze Zeit”, entgegnete Kai, „Und genau deswegen sollten wir es gar nicht erst soweit kommen lassen.” „Also willst du den Deal platzen lassen? Wir beide sagen einfach, nein ist nicht, und hauen ab?” Obwohl er noch sichtlich von allem, was er gerade erfahren hatte, geschockt war, besaß Giancarlo die Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und dafür war Kai ihm dankbar. Sie würden sich später die Zeit nehmen und ihre persönlichen Differenzen aus dem Weg schaffen. Jetzt galt es, zu handeln. Er wiegte den Kopf. „Es wäre sicher der einfachste Weg. Bestenfalls würde die Firma pleitegehen. Dann stehen aber alle Mitarbeitenden auf der Straße. Einige von ihnen haben Visa, die an einen Job gebunden sind. Max zum Beispiel. Das wäre also echt unverantwortlich. Auf der anderen Seite traue ich es Soichiro zu, dass er einfach einen anderen zum CEO macht, der dann die Drecksarbeit für ihn erledigt.” „Und du willst beides nicht”, schlussfolgerte Giancarlo. Er ließ Kais Worte noch ein wenig auf sich wirken, dann hob er die Schultern. „Verständlich. Aber was sollen wir tun?” Jetzt räusperte Yuriy sich und richtete sich wieder auf. „Ich glaube, das ist der Zeitpunkt, in dem ich was dazu sagen kann”, meinte er und wechselte einen Blick mit Kai, der ihn erstaunt ansah. „Was ihr braucht”, fuhr er fort, „Ist some good old German Arbeitsrecht.” Giancarlo hustete. „...Was bitte?” „Oh, ihr wisst schon - feste Arbeitszeiten und vor allem eine festgelegte Entschädigung für Überstunden. Faire Gehälter. Gesetzmäßige Kündigungen, und vor allem Klagen, wenn sie nicht gesetzmäßig sind…” Er machte eine Pause und sah in die Runde, während die anderen ihn anstarrten als hätte er soeben von Quantenphysik gesprochen. „Natürlich”, fuhr er fort, „Habt ihr Start-up-Schnösel davon keine Ahnung, und eure Mitarbeitenden fragen auch nie nach, weil sie so international sind, dass sie ihre Rechte sowieso nicht kennen. Woher soll denn ein Max aus den USA wissen, dass seine Überstunden entweder bezahlt oder in Gleitzeit abgegolten werden müssen, nicht wahr? Oder, dass er nur in Ausnahmefällen über zehn Stunden am Tag arbeiten darf, und das auch nicht ständig?” Jetzt waren es Kai und Giancarlo, die sich ansahen. „Mein Gott”, murmelte Giancarlo, „Wenn ich das alles so umsetzen würde, dann wäre die Firma schneller pleite als...oh.” Auch Kai ging in diesem Moment ein Licht auf. „Wir wirtschaften uns selbst mit fairen Arbeitsbedingungen runter?” „So ungefähr”, sagte Yuriy und hob den Finger. „Hier ist, was ich an eurer Stelle machen würde: Erstens, Kai sagt Ralf und seinem Großvater zu. Das verschafft euch mehr Zeit. Alles ist gut, der Übergang startet, das Geld fließt. Und dieses Geld gebt ihr mit beiden Händen aus. Gehälter, bezahlte Urlaubstage, bezahlte Überstunden, Boni - was euch so einfällt.” „Und anstatt, dass es dann richtig losgeht mit der Firma, ist das Geld plötzlich alle”, ergänzte Kai. „Soichiro wird nie und nimmer noch mehr zahlen wollen. Das ist es ihm nicht wert. Und Jürgens-McGregor geht es ähnlich. Wir werden also abgewickelt und… sie werden uns wohl alle rausschmeißen.” Womit sie wieder bei derselben beschissenen Ausgangslage wären. „Ja, aber hier ist der Trick”, fing Yuriy wieder an. „Als allererstes, noch vor allem anderen, lasst ihr eure Leute einen Betriebsrat gründen.” „Oh shit!”, entfuhr es Olivier, der wohl erkannt hatte, worauf Yuriy hinauswollte. Seine Augen glänzten vor Begeisterung. „Was macht ein Betriebsrat?”, fragte Giancarlo. „Unter anderem dafür sorgen, dass bei einer Kündigung durch den Arbeitgeber der Arbeitnehmer nicht benachteiligt wird”, erklärte Yuriy, „Der Betriebsrat verhandelt mit der Geschäftsführung im Sinne der Belegschaft. Wenn ihr einen Betriebsrat habt, müsst ihr in bestimmten Situationen auf ihn hören, das ist schon nicht ohne, deswegen wollen viele Firmen das erst gar nicht. Heißt im Klartext, wenn ihr euren Leuten kündigt, dann nur mit saftigen Ausgleichszahlungen. Und unter fairen Bedingungen, sodass sie auch Zeit haben, etwas Neues zu finden, ganz ohne Existenzängste. Denn mit weniger wird euch der Betriebsrat nicht davonkommen lassen.” „Und ganz nebenbei wird das Ganze so richtig schön teuer für die Firma”, fügte Kai hinzu, „Der letzte macht dann nur noch das Licht aus.” Sie schwiegen, jeder dachte über den vorgebrachten Plan nach. Es war nicht ganz so einfach, wie Yuriy es geschildert hatte, aber es würde gehen. Vermutlich mussten sie Ralf, Johnny und Soichiro nicht einmal anlügen, sie müssten nur ihre Zahlen etwas verschönern. Bis es dann kein Zurück mehr gab. Ja, die Abwicklung der Firma würde teuer werden, aber nicht so teuer wie ihre Rettung. Es würde auch weder Jürgens-McGregor noch Hiwatari Enterprises an den Rand des Ruins bringen, aber es würde ihnen wehtun. „Wie lange soll das dauern?”, fragte Giancarlo schließlich, „Bis wir pleite sind, meine ich.” Kai verzog den Mund. „Ein Jahr, vielleicht zwei. Was bedeutet, dass ich CEO werden muss. Was hat Ralf dir angeboten?” „Es gibt da etwas in Rom”, antwortete Giancarlo und seufzte, „Aber ich will hier bleiben.” Bei diesen Worten lächelte Olivier und lehnte kurz den Kopf an seine Schulter. „Verstehe”, sagte Kai. „Wir können einen Deal machen, damit du nicht mit leeren Händen dastehst, nur, weil du Ralfs Angebot nicht annimmst.” „Danke. Weißt du, am liebsten würde ich selbst gründen. Aber eine kleine Auszeit wäre auch nicht schlecht. Was ist mit dir? Was machst du, nachdem du das Licht ausgemacht hast?” Kai merkte, wie Yuriy sich bewegte, ein wenig auf seinem Platz hin und her rutschte. „Ich weiß nicht”, gab er schließlich offen zu. „Hiwatari Enterprises will einen Firmencampus in der Stadt eröffnen… Und wo die Firma ist, werde ich mich nach alledem nicht blicken lassen können. Also…” Er sprach nicht weiter. Es behagte ihm nicht. Vielleicht war Berlin ihm doch ans Herz gewachsen; jedenfalls hatte er noch keinen Gedanken daran verschwendet, wie es woanders weitergehen könnte. Er pochte einfach darauf, dass ihm innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre noch etwas einfallen würde. Die Stille zwischen ihnen hatte schon ein paar Sekunden lang angehalten, als Yuriy sich räusperte. „Woher bist du dir so sicher, dass Hiwatari Enterprises sich hier ansiedeln werden?” Kai wandte sich ihm zu und runzelte die Stirn. „Was willst du damit sagen? Natürlich werden sie das. Es gibt sogar schon ein potentielles Grundstück.” „Tja.” Das Grinsen, das Yuriy ihm zuwarf, hatte etwas Wölfisches. „Ich glaube, den Herr Großvater stellt sich das zu einfach vor. Ich habe meinen Freund Sergeij mal befragt, denn der ist bei einem Mieterschutzbund aktiv, der sich zufällig auch um die Belange eines gewissen Kreuzberger Großprojekts kümmert.” Er beugte sich kurz vor, um einen Zettel aus seinem Beutel zu ziehen und ihn auf den Tisch zu legen. „Und Sergeij hat mir freundlicherweise das hier überlassen.” Es handelte sich um eine Schwarz-Weiß-Kopie einer Karte, auf der händisch etwas in leuchtendem Grün eingezeichnet war. Die nähere Umgebung des Grünen war in ebenso leuchtendem Pink markiert. Kai reckte den Hals, um einen Blick darauf zu werfen. „Was ist das?” „Das Grüne”, sagte Yuriy und tippte mit dem Zeigefinger auf die Karte, „Ist das Grundstück, das Hiwatari will. Und das Pinke ist der Grund, warum er es nicht bekommen wird.” Er leckte sich über die Lippen, als wäre er drauf und dran, ein riesiges Geschenk auszupacken. „Milieuschutzgebiet.” Das Wort sickerte in Kais Gehirn. Er hatte es schon mal gehört, wusste im ersten Moment aber nicht viel damit anzufangen. Erst die Übersetzung, die er für sich im Stillen machte, ließ das Ganze etwas klarer werden. „Du meinst, das Gebiet steht unter besonderem Schutz, und deswegen ist es besonders teuer?” „Besser noch, er wird es vermutlich gar nicht erst kaufen können”, meinte Yuriy, „Denn dazu muss er erst mal viele, viele Anträge stellen. Und du weißt ja, die Deutschen lieben ihre Bürokratie. Die Chancen, dass seine Anträge durchkommen, sind ebenfalls sehr gering, denn alles was er vorhat, widerspricht den Prinzipien des Milieuschutzgebiets. Zusammen mit den Anwohnerprotesten und den Petitionen… Ich würde mal sagen, die Chancen stehen schlecht bis sehr schlecht, dass er das durchbekommt.” Daraufhin wusste Kai nichts zu sagen. Wenn Soichiro seinen Campus nicht bekam, würde es Jahre dauern, um ein alternatives Grundstück zu finden. Oder er blies die ganze Sache komplett ab und zog in einer ganz andere Stadt. Was bedeutete, dass Kai sich in Berlin frei bewegen konnte, auch wenn er seinen Großvater schon wieder auf den Schlips trat. Diese plötzlich so rosigen Aussichten verschlugen ihm schlichtweg die Sprache. Stumm sah er Yuriy an und war sich sicher, dass dieser alles an seinen Augen ablesen konnte, was er wissen musste. Giancarlo schien nicht minder beeindruckt von Yuriy zu sein. „Ähm...wer bist du noch mal?”, fragte er und drehte sich dann zu Olivier. „War er nicht eigentlich DJ?” „Er ist Sozialist”, entgegnete Olivier. „Marxist!”, warf Yuriy ein. „Solange du keinen Molotow-Cocktail in mein Büro wirfst…”, murmelte Kai. „Glaube mir, mein Lieber, in zwei Jahren habe ich dich von der Revolution überzeugt und dann wirfst du ihn selbst.” Er warf einen Blick in die Runde. „Also. Ist das unser Plan?” „Die Revolution?”, fragte Giancarlo. „Nein, der Sturz eurer Kapitalismusklitsche.” „Oh!” Das Lächeln verschwand von Giancarlos Gesicht. Er dachte eine Weile nach, dann nickte er langsam. „Ich meine, es wird meine Freundschaft mit Ralf und Johnny zerstören. Aber wer weiß. Vielleicht reißen sie sich ja wieder zusammen. Ich kann es ihnen jedenfalls nicht verzeihen, dass sie mich erst dieses Unternehmen aufziehen lassen, nur um es mir dann wieder wegzunehmen. Und das wiegt für mich gerade schwerer.” „Ich will ihnen einfach nur einen Arschtritt verpassen”, fügte Kai hinzu. „Ich bin dabei.” Olivier klatschte in die Hände. „Wunderbar! Dann gehen wir jetzt zum KdK, okay?!” Während sie langsam den Mehringdamm hinaufspazierten, beobachtete Yuriy Kai. Doch der verhielt sich nicht sonderlich auffällig angesichts der Tatsache, dass er soeben beschlossen hatte, sich erneut gegen seinen Großvater zu wenden und damit vermutlich jede Chance auf eine Karriere im Familienunternehmen verspielte. Es war auch keine Freude zu erkennen, vielmehr verbissene Konzentration auf das, was nun bevorstand. Wann hatte er Kai jemals locker erlebt? Auf der Tanzfläche vom Zentrum, als er ihn das erste Mal bewusst wahrgenommen hatte. Aber sonst? Irgendwie lag Kai immer auf der Lauer, als würde er erwarten, dass ihm im nächsten Augenblick jemand in den Rücken fiel. „Kai.” Er griff nach seinem Oberarm und hakte sich halb bei ihm unter, was angesichts ihres Größenunterschieds wahrscheinlich eher so wirkte, als würde er ihn irgendwohin verschleppen wollen. „Machst du diesen Sommer Urlaub?” Er fing sich einen fragenden Blick ein. „Ich glaube nicht, dass das eine meiner Prioritäten sein wird”, sagte Kai. „Dachte ich mir. Hör mal, Boris, Sergeij und ich fahren im September für ein paar Tage ans Meer. Komm doch mit.” Er spürte, wie Kais Schritte sich verlangsamten, dann fing sich der andere wieder. „Ich weiß nicht, ob ich Zeit haben werde. Vermutlich bin ich dann gerade erst CEO geworden und habe alle Hände voll zu tun.” Yuriy brummte, auch das hatte er sich schon fast gedacht. „Naja, wenn du Lust hast, sag einfach Bescheid. Das Angebot steht…” Noch während er sprach, spürte er, wie sein Handy anfing zu vibrieren. Just in diesem Augenblick beschlossen Giancarlo und Olivier, die ein Stück vorausgegangen waren, dass sie einen Abstecher machen wollten: Sie hatten einen Späti entdeckt, dessen Besitzer Cocktails zum Mitnehmen anbot. Auf der Straße vor dem Laden war ein Tapeziertisch aufgestellt worden, und auf ihm die Getränke. Während Kai sich den anderen beiden anschloss, machte Yuriy ein paar Schritte zur Seite und nahm den Anruf an. Die Nummer auf dem Display kannte er nicht. „Hey Yuriy!”, ertönte eine Stimme am anderen Ende, „Hier ist Kane, erinnerst du dich? Wir haben uns neulich im Don Quijote gesehen. Kannst du kurz sprechen?” „Ja. Ja klar.” Oh Gott. „Sorry, es ist gerade ein bisschen laut hier, ich hoffe, das stört nicht.” Er rückte noch ein wenig näher an einen Laternenpfahl heran, während der Strom der Menschen an ihm vorbeiglitt. Die Sonne wärmte seinen Rücken unter dem dunklen Shirt und seltsamerweise fiel ihm just in diesem Moment ein, dass er keine Sonnencreme dabei hatte. „Kein Problem.” Kane lachte. „Ich mach es ganz schnell: Ich hab mir euer Zeug angehört, ihr seid echt nice. Und deswegen dachte ich, wenn du Bock hast, kannst du den Opener für mich machen, wenn ich das nächste Mal im Bunker bin. In drei Wochen. Hast du Zeit?” Yuriy blinzelte, sein Mund stand ein kleines Stück offen. Dann fasste er sich. „Klar”, sagte er, obwohl er keine Ahnung hatte, ob er schon Pläne für nämliches Wochenende hatte. Aber das war eigentlich auch egal. „Sicher! Wow, danke!” „Ich hab vier Stunden und gebe dir die erste, okay?”, sagte Kane, „Ach, und noch was - Ich plane gerade eine kleine Partyreihe und eventuell passt ihr da auch gut rein. Wäre das cool für euch?” „Auf jeden Fall! Ich bin sicher, die anderen sind auch dabei”, antwortete Yuriy schnell. Vanja würde ausrasten. „Nice. Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Lass mal die Tage telefonieren und die Details absprechen, okay?” „Ja.” Auf einmal war sein Mund trocken. „Ja, bis die Tage.” Er legte auf und musste ein paarmal durchatmen. War das eben wirklich passiert? Vielleicht hatte er einen Hitzeschlag bekommen und es nur nicht gemerkt. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.” Plötzlich stand Kai vor ihm und drückte ihm einen kalten Plastikbecher in die Hand. „Caipirinha”, erläuterte er, „Das schien das einzig Trinkbare zu sein. Ich dachte, du kannst vielleicht auch einen vertragen.” „Oh, du weißt gar nicht wie sehr…”, entgegnete Yuriy. Dann begriff er endlich, was soeben passiert war: Seine Musikkarriere hatte wie aus dem Nichts einen ordentlichen Sprung nach vorn gemacht. Mit plötzlichem Elan trank er einen großen Schluck des wirklich schlechten Caipirinhas. „Meine Güte, schmeckt das scheiße. Gianni! Olli! Kommt, ich weiß was Besseres!” Dieser Tag musste gefeiert werden, und zwar richtig. Seine Erinnerung ließ ihn zum Glück nicht im Stich. Die russische Ecke des KdK war dort, wo sie immer war. Es gab einen riesigen Stand mit dem Namen Druzhba, golden ausgeleuchtet, alles überschattend, der Wodka und Pelmeni vertrieb. Und andere Dinge, aber die waren weniger wichtig. Daneben eine winzige Bühne, auf der ein Typ mit Schappka und Balalaika stand und russische Volkslieder sang, regelmäßig unterbrochen von Trinksprüchen. Die Menge war kaum zu durchdringen, doch Yuriy schaffte es, sich zum Druzhba durchzuschlängeln. Als er sich umdrehte, waren die anderen verschwunden. Erst einige Sekunden später tauchte Kais Haarschopf zwischen den Menschen auf. Sie wurden aneinandergedrängt. „Ich glaube, Gianni und Olivier haben spontan Angst bekommen”, rief Kai in sein Ohr, „Aber wir sollen ihnen was mitbringen.” Yuriy nickte und beugte sich ein Stück zu ihm herunter. „Salzgurke oder Kaviar?” „Was?” Er winkte resigniert ab und bestellte eine Runde Wodka mit Salzgurken. „Ich hab einen Auftritt im Bunker!”, rief er Kai zu, als er ihm zwei Shotgläser in die Hand drückte. „Wann ist das denn passiert? Geil!” „Gerade eben! Das war Kane vorhin am Telefon. Der legt ständig im Bunker auf.” Er konnte sein breites Grinsen einfach nicht länger unterdrücken. Dieser Tag war ziemlich großartig gelaufen bisher. Und viel war auch nicht mehr von ihm übrig, denn ganz allmählich wurde es dunkel. Selbst von Kais Schultern schien die Spannung langsam abzufallen. Sein Gesicht wirkte etwas rosig im Licht, vielleicht hatte er sich irgendwo einen Sonnenbrand geholt. Oder stieg ihm der Caipirinha schon in den Kopf? Als ihre Blicke sich über ihre Shots hinweg trafen, verzog Kai amüsiert den Mund. „An einem Tag die Revolution und die Zusage für einen Auftritt und Wodka. Vielleicht bist du tot und im Jenseits?” „In meinem Jenseits soll es neben der Revolution, Techno und Wodka bitte auch Sex geben”, meinte Yuriy, „Aber mehr brauche ich wirklich nicht.” Kais Lächeln wurde warm. Er hob einen der Becher. „Sollen wir darauf trinken? Wir können ja zwei neue holen.” In diesem Moment schallte wieder ein Trinkspruch von der Bühne zu ihnen herüber. „Jetzt müssen wir”, beschloss Yuriy. Sie prosteten sich zu - „Auf die Revolution, Techno, Wodka und Sex!”- und stürzten den ersten Shot herunter. Der Schnaps brannte, aber die Gurke machte es besser. „Alter ich glaubs nicht - Herr Ivanov?” Beinahe hätte Yuriy sich an seiner Gurke verschluckt. Er fuhr herum und fand sich Angesicht zu Angesicht mit Justus wieder. An seinem Arm hing ein hübsches, blondes Mädchen. Beide hielten ebenfalls Shotgläser in der Hand. Justus deutete feixend auf den zweiten Becher, den Yuriy trug. „Sie gehen ja ganz schön ab.” „Jo, der ist für meine Freunde. Was machst du hier überhaupt?” „Das gleiche wie Sie, nehme ich an.” Bei so viel Schlagfertigkeit konnte Yuriy nur die Augen verdrehen. Dann wandte er sich an das Mädchen. „Bist du Mascha?”, fragte er auf Russisch. Sie nickte. „Ist er gut zu dir?” „Die Blumen waren gelb, aber er hat sich Mühe gegeben.” Mascha drückte Justus’ Arm, denn der schien ein wenig nervös zu werden, weil er nichts verstand. Dann deutete er ziemlich ungeniert auf Yuriy. „Sie haben voll geile Tattoos, Herr Ivanov!” Oh. Das hatte er komplett vergessen. Natürlich trug er heute, anders als in der Schule, ein einfaches T-Shirt. In all den Jahren, die er nun schon in seinem Job arbeitete, war es tatsächlich noch nie passiert, dass er eines seiner Kids privat getroffen hatte. Das war ihm immer ganz lieb gewesen, denn er wusste ja, wie schnell sich Neuigkeiten auf dem Pausenhof verbreiteten. Was er sich gar nicht ausmalen wollte, war der Sturm, der aufkommen würde, sobald die ersten seiner Kids alt genug waren, um in die Clubs reinzukommen, in denen er auflegte. Manche von ihnen hatten jüngere Geschwister, die ebenfalls auf ihre Schule gingen. „Pass mal auf, Justus”, sagte er deswegen kurzentschlossen, „Wir machen das so: Du vergisst, dass du mich heute hier gesehen hast… Und ich vergesse, dass ich dich mit einem Wodkashot erwischt habe, obwohl du erst sechzehn bist. Deal?” Erst jetzt schien auch Justus die Tragweite ihrer Begegnung aufzugehen. Er wurde sehr kurz sehr blass, dann fing er sich wieder. „Geht klar, Herr Ivanov!” „Okay, dann - Abmarsch!” Justus und Mascha gehorchten und machten, dass sie davonkamen. Als Yuriy sich zu Kai umdrehte, stand die Belustigung deutlich in dessen Gesicht geschrieben. „Ich habe mich schon gefragt, wie du in der Schule so drauf bist”, meinte er, und nach einer kleinen Pause: „Herr Ivanov.” Yuriy streckte die Hand aus und fuhr ihm spielerisch durch die Haare. „Siehst du doch, sie lieben mich. Und jetzt lass uns neuen Wodka holen. Die anderen sitzen sicher schon auf dem Trockenen.” „Alles klar, Herr Ivanov.” „Nenn mich nicht so!” „Okay, Herr Ivanov.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)