Großstadtgeflüster von lady_j ================================================================================ Kapitel 15: Doch ich hab da so ein Bauchgefühl, dass ich das alles gar nicht will --------------------------------------------------------------------------------- Es war längst hell, als Kai aufwachte. Zunächst kam es ihm nicht seltsam vor, allein zu sein, bis ihm auffiel, dass er sich nicht in seiner eigenen Wohnung befand. Er meinte, Stimmengewirr zu hören, konnte es aber nicht zuordnen. Sein Körper fühlte sich an, als hätte er ein langes Training im Fitnessstudio hinter sich. Seine Lippen waren zerküsst. Als er sich auf den Rücken drehte, entwich ihm ein leises Ächzen, das aber eher der allgemeinen Situation galt als seiner körperlichen Verfassung. Langsam kamen die Erinnerungen an die letzte Nacht zurück. Eins musste man Brooklyn lassen, im Bett nahm er keine Gefangenen. Sie hatten sich aufeinander gestürzt wie halb verhungerte Tiere. Ein paar Gegenstände waren dabei zu Boden gerissen worden - eine Stehlampe, eine leere Vase, die zum Glück heil geblieben war, ein paar Bücher. Seine Kleidung lag verstreut zwischen alldem. Er war noch immer nackt, hatte die Decke irgendwie um sich geschlungen. Neben ihm auf der Matratze lag eine leere Kondomverpackung. Der Sex war nicht schön gewesen, aber ausgiebig und, ja, in gewisser Weise auch befriedigend. Dunkel entsann er sich, dass sie alles andere als leise gewesen sein mussten, Brooklyn aber scheinbar kein Problem damit hatte, wenn die Nachbarn hörten, was er so trieb. Sie waren sich ziemlich schnell einig geworden, was ging und was nicht, wobei Kai das Gefühl hatte, er habe mehr Grenzen gesetzt. Außerdem war er sehr dankbar für Brooklyns großes Bett, denn als sie irgendwann nicht mehr konnten, hatte er lieber wieder etwas Abstand zwischen sich und den anderen gebracht. Sich mit ihm in allen möglichen Stellungen vergnügen, funktionierte - danach mit ihm zu kuscheln überhaupt nicht. Die Reue saß tief. Er hatte sie schon spüren können, als er die Wohnung betreten hatte - vielleicht sogar noch früher. Doch dann hatte er sie verdrängt, zumindest für die Dauer des Akts, nur, um sofort wieder von ihr eingeholt zu werden. Jetzt steckte sie in ihm wie ein Dorn. In einem Anflug von Überforderung legte Kai einen Arm über die Augen. Die Stimmen auf der anderen Seite der Wand wurden lauter. Es war, als würde im Nebenzimmer gerade ein Streit ausbrechen. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Mit einem Ruck setzte Kai sich auf und streckte schon die Hand nach seinen Klamotten aus. Wie hatte er so bescheuert sein und Brooklyn glauben können, als der ihm hatte weismachen wollen, dass Garland nicht zu Hause war? Während er sich in aller Eile etwas überwarf, wurde es vor der Tür immer lauter, und als er sie aufriss, schlugen ihm die Worte entgegen. Die beiden mussten in der Küche sein, doch diese Wohnung war einfach unglaublich hellhörig. Kai verstand nicht sofort alles, denn irgendwie verließen ihn seine Sprachkenntnisse, doch ein paar Sätze drangen zu ihm durch. „Du hast wirklich kein Schamgefühl, oder?” „Das fragst ausgerechnet du mich?” „Du konntest es noch nicht einmal vertragen, wenn ich jemand anderen auch nur angesehen habe! Und jetzt schleppst du hier irgendwelche Leute ab?” Kurz überlegte er, ob er die Gelegenheit nutzen und einfach abhauen sollte. Alles war besser, als hier zwischen die Fronten zu geraten. Doch er hatte nicht vergessen, was er über Brooklyn und Garland wusste. Und es wirkte, als würde ihr Streit gerade drohen, zu eskalieren. Ein Scheppern erklang in der Küche, das ihn zusammenzucken ließ. Kurz darauf Brooklyns Stimme: „Sag mal spinnst du?” Kai wusste, er konnte hier nicht weg. Er warf noch einen sehnsüchtigen Blick zur Eingangstür, die nur zwei Schritte von ihm entfernt war, dann drehte er sich um. Sobald er die Küche betrat, wandten sich zwei Augenpaare ihm zu. Der Tisch stand zwischen ihnen und auf ihm lagen ein paar Keramikscherben in einer Kaffeepfütze. Brooklyn strahlte eine Ruhe aus, die ihm angesichts dessen, was er gerade mit angehört hatte, unheimlich war, doch in Garlands Gesicht stand purer Schock. Dann wirbelte er zu Brooklyn herum: „Du hast es mit Kai getrieben? Er ist mein Kollege, verdammt!” Von Brooklyn kam nur ein abfälliges Geräusch. „Na und?” „Na und?!” Garland schien drauf und dran, nach der zweiten Tasse, die auf dem Tisch stand, zu greifen, doch Kai machte einen beherzten Schritt nach vorn und streckte die Hand aus. „Garland, warte!” „Halt dich da raus, Kai!” Er packte den anderen am Handgelenk. „Hör auf mit dem Scheiß.” „Ja, genau, Garland”, ertönte Brooklyns Stimme hinter ihm. „Hör auf mit dem Scheiß. Hör auf so zu tun, als wärst du unschuldig.” „Was soll das denn jetzt heißen?” Garland stieß Kai zur Seite, doch nur, um sich auf dem Tisch abzustützen und Brooklyn näher zu kommen. Kai atmete einmal durch. Es war offensichtlich, dass keiner der beiden Interesse an ihm hatte. Garland schien wütender über Brooklyns Fehltritt zu sein als über die Tatsache, dass Kai daran beteiligt war. Was die ganze Sache aber nicht einfacher machte. „Ganz ehrlich”, sagte Brooklyn und klang dabei gefährlich ruhig, „Wer hat denn Angefangen mit dem Scheiß, hm?” „Ich weiß nicht, wovon du sprichst”, fauchte Garland, warf Kai aber einen Seitenblick zu, den dieser nicht deuten konnte. Brooklyn schnaubte und schüttelte den Kopf, als könne er nicht fassen, was sich hier gerade abspielte. „Wer ist Yuriy Ivanov?”, fragte er dann. Aus Garlands Gesicht wich alle Farbe, auf einmal wirkte er grau. Kai spürte, wie sich sein Magen auf ungute Art zusammenkrampfte und er realisierte, dass er auf alles gefasst gewesen war, bis auf eines: Yuriys Namen aus Brooklyns Mund zu hören. „Du warst an meinem Handy”, sagte Garland. „Du hast es schon wieder gemacht! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst die Finger davon lassen?!” Brooklyn hob beide Hände. „Du hast mir keine andere Wahl gelassen…” Garland stieß einen wütenden Schrei aus. Es wirkte, als wolle er sich quer über den Tisch hinweg auf Brooklyn stürzen. Diese plötzliche Bewegung riss nun auch endlich Kai aus seiner Starre. „Das reicht jetzt.” Mit einem entschlossenen Schritt schob er sich vor Garland, sodass dieser ihn ansehen musste. Er spürte Brooklyn in seinem Rücken, oder zumindest seine Wut, aber er zwang sich, ihn nicht zu beachten. „Das geht nicht”, sagte er fest, „Ihr könnt nicht beide in dieser Wohnung bleiben.” „Misch dich da nicht ein, Kai!”, kam es nun von Brooklyn, doch Kai ignorierte ihn weiterhin. „Pack ein paar Sachen”, sagte er zu Garland, „Ich rufe Giulia an.” Sie und Raoul hatten eine große Wohnung, es würde schon irgendwie klappen. Zumal Raoul wahrscheinlich sowieso die ganze Zeit bei Lai war. Garland stieß die Luft aus. Es schien, als würde mit ihr auch sein Zorn entweichen und einer Mischung aus Enttäuschung und Trauer Platz machen. Er warf noch einen unsicheren Blick auf Brooklyn, dann verließ er die Küche. Und Kai wandte sich endlich zu dem anderen um. „Verfickte Scheiße noch mal”, sagte er, „Du hast gesagt, wir wären allein! Aber das war alles geplant, oder? Wieso machst du so was?” Brooklyn schnalzte mit der Zunge. „Weil ich es wollte, Kai. Weil ich dich wollte.” „Ja, und du wolltest Garland eifersüchtig machen.” „Was ist daran so schlimm? Du bist doch auch auf deine Kosten gekommen.” Kai wollte etwas erwidern. Er wollte ihm sagen, wie benutzt er sich plötzlich fühlte und wie das seine Reue nur noch verstärkte. Aber er brachte kein Wort heraus. „Du bleibst hier, bis wir weg sind”, sagte er stattdessen. Brooklyns Gesicht verzerrte sich in Wut, doch dann bekam er sich wieder unter Kontrolle. Grollend schob er die Hände in die Hosentaschen und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Da es den Anschein hatte, als würde er dort sitzen bleiben, trat Kai auf den Flur hinaus, um zu telefonieren, dabei behielt er Brooklyn weiter im Blick. Ignorierte sein eigenes Gefühlschaos. Eine Viertelstunde später war alles geklärt. Während Garland noch die letzten Dinge eingepackt hatte, war Brooklyn in sein Zimmer geschlichen und hatte die Tür geschlossen. Und über Kai war die Müdigkeit gekommen. Inzwischen fühlte er sich richtig elend. Das hier war der Gipfel der letzten beiden Wochen, und er spürte, dass er nicht mehr konnte. Er wollte nur noch nach Hause. „Ich bring dich noch zu Giulia”, sagte er leise, als sie vor der Wohnungstür standen. „Komm.” Yuriy wurde von seinem Handy geweckt. Sein erster Blick galt der Uhrzeit. Es war früher Nachmittag, was ihn nicht so sehr verwunderte wie der Name, der auf seinem Display stand. „Takao”, sagte er verschlafen, als er abgenommen hatte, „Was ist los?” „Yuriy, hey. Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.” Er setzte sich auf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Schon gut. Warum rufst du an?” „Hast du in den letzten Tagen von Kai gehört?” „Nein”, antwortete Yuriy und unterdrückte ein Seufzen. „Oh.” Takao zögerte. Ob er wohl von ihrer Auseinandersetzung wusste? „Mist. Ich glaube, ihm geht es gerade nicht so gut. Wir hatten ein seltsames Telefonat vor ein paar Tagen, aber ich bin nicht in der Stadt. Ich versuche heute schon die ganze Zeit, ihn zu erreichen, aber es klappt nicht.” Während Takao erzählte, wurde Yuriy langsam wach. Er runzelte die Stirn. „Machst du dir Sorgen?” „Schon ein bisschen”, gab der andere zu. „Sag mal, kannst du vielleicht nach ihm sehen?” „Hmm.” Der Gedanke behagte ihm nicht. Zumal er davon ausging, dass Kai einfach nur vor sich hinschmollte. „Hör mal”, sagte er schließlich, „Kai und ich hatten einen kleinen Streit. Ich habe schon länger nicht mehr mit ihm geredet. Vielleicht bin ich genau der Falsche, um nach ihm zu sehen.” „Ja, aber da ist noch mehr.” Die Art, wie Takao das sagte, ließ keinen Widerspruch zu. „Sorry Yuriy, aber nur wegen eines Streits mit dir würde er mich nicht derart ignorieren.” „Nein”, bestätigte er, „Irgendwas ist da los, aber ich habe auch nichts aus ihm herausbekommen. Deswegen haben wir uns ja gestritten. Ich glaube, er will seine Probleme lieber alleine lösen.” Von Takao kam ein Seufzen. „Das befürchte ich auch. Es wäre nicht das erste Mal. Also - Könntest du dir vorstellen, über deinen Schatten zu springen und nach ihm zu sehen?” Er stieß die Luft aus. Was sollte er darauf erwidern? Takao kannte Kai wesentlich besser als er selbst, und wenn er sich Sorgen machte, war das wohl begründet. Sein eigenes Gefühl sagte ihm allerdings, dass es vergebene Liebesmüh war. Er war müde, er hatte eine lange Nacht hinter sich, er wollte nicht quer durch die Stadt fahren müssen, um am Ende tatenlos vor irgendeiner Haustür zu stehen. Takao deutete sein Zögern wohl richtig, denn er setzte noch einmal an: „Bitte, Yuriy. Ich würde dich nicht fragen, wenn ich es nicht ernst meinte. Hör mal” Er holte noch einmal hörbar Luft. „Kai braucht ab und zu einen Tritt in den Arsch. Und er weiß das, glaub mir, er will es nur nicht einsehen.” „Und er wird mir nicht gerade dankbar dafür sein, schätze ich”, brummte Yuriy. „Hmm, das würde ich so nicht sagen. Er hat eine seltsame Art, seine Dankbarkeit zu zeigen, aber denk mal drüber nach… Es kann nicht schaden, wenn ein Kai Hiwatari in deiner Schuld steht. Oder?” „Gott, Takao, ich mache so was doch nicht, um mich zu bereichern! Fuck, Mann…” Er ächzte. „Ja, okay. Schick mir die Adresse. Ich überlege es mir. Aber versprechen kann ich nichts!” Er hörte, wie der andere ausatmete. „Danke, Mann! Du hast was gut bei mir!” Als sie aufgelegt hatten, musste Yuriy sehr stark den Drang unterdrücken, sich einfach wieder ins Bett fallen zu lassen. Er hatte keineswegs vor, jetzt sofort alles stehen und liegen zu lassen, um Kai zu besuchen. Zuerst brauchte er nämlich einen Kaffee. Oder zwei. Und eine Dusche. Und vielleicht wurde es dann ja schon dunkel und es lohnte sich nicht mehr, das Haus zu verlassen... Boris saß in der Küche, und er hatte dankenswerterweise schon eine Kanne Kaffee gekocht. „Na, wie war’s?”, fragte er, während Yuriy sich bediente, und so nahm er sich Zeit, um ihm ausführlich von der vergangenen Nacht zu erzählen. „Ja, wie geil ist das denn bitte?” Boris freute sich mindestens genauso sehr wie Yuriy selbst. „Ihr habt bald einen Gig im Bunker! Kannst du mich dann auf die Gästeliste schreiben?” „Wenn es dazu kommt, sicherlich.” „Natürlich wird es dazu kommen, warum sollte es das nicht?” Yuriy schmunzelte. „Ich liebe es, wie du mehr Vertrauen in unser Können hast als wir.” „Yura, ich höre seit bestimmt mehr als zehn Jahren zu, wie du Musik machst.” Boris zuckte mit den Schultern. „Du kannst das, Punkt. Wenn dieser Kane das nicht hört, ist er taub.” Er wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment fing sein Handy wieder an zu vibrieren. Die Nummer auf dem Display war ihm nicht bekannt, aber er dachte sofort daran, dass es Kane sein könnte. Daher nahm er ab. Es war Giulia. „Hey, es tut mir furchtbar leid, dass ich dich störe…” „Kein Ding”, sagte er, obwohl er ziemlich überrumpelt war. „Was ist denn los?” „Okay, ähm, das kommt jetzt vielleicht etwas plötzlich, aber gerade standen Garland und Kai vor meiner Tür. Anscheinend hatte Garland Streit mit Brooklyn, und Kai ist irgendwie dazwischen gegangen und hat ihn zu mir gebracht - aber Kai sieht total schrecklich aus, und deswegen wollte ich fragen, ob -” „Halt, nochmal von vorn”, unterbrach Yuriy, der das Gefühl hatte, nur die Hälfte von dem mitbekommen zu haben, was sie gesagt hatte. Er war eindeutig nicht wach genug für diesen Redeschwall. „Garland hatte Streit mit - mit wem?” „Brooklyn. Sein Ex.” „Alles klar. Und Kai war auch dort?” Das verwirrte ihn mehr als alles andere. „Was hatte er dort zu suchen?” „Keine Ahnung! Aber er hat mich von dort angerufen und gefragt, ob Garland bei mir bleiben kann. Für eine Weile. Und dann hat er ihn hergebracht.” „Das heißt, Garland sitzt jetzt bei dir”, schlussfolgerte Yuriy. „Und Kai?” „Der ist zu sich nach Hause. Aber Yuriy - Irgendwas ist mit Kai. Der war total komisch. Und hat sich seltsam benommen. Kannst du mal nach ihm sehen? Ich würde selbst gehen, aber Garland ist auch total fertig mit den Nerven…” Yuriy schnaubte; inzwischen war es um seine Ruhe auch geschehen. Boris, der sein Mienenspiel natürlich genau beobachtet hatte, sah ihn besorgt an. „Meine Fresse, was geht da bloß ab bei euch”, murmelte er und fuhr sich resigniert durch die Haare. „Ja. Ja, okay”, sagte er dann etwas lauter, „Ich geh’ zu ihm.” „Du bist ein Schatz, Yuriy!” Ihre Verabschiedung hörte er kaum noch, denn seine Gedanken hatten zu rasen begonnen. Spätestens jetzt fing er an, sich selbst Sorgen um Kai zu machen. Mit einem frustrierten Stöhnen vergrub er das Gesicht in den Händen. „Was ist denn los?”, fragte Boris. Yuriy sah ihn zwischen seinen Fingern hindurch an. „Ich muss zu Kai.” „Jetzt?” „Ja.” Er ließ die Hände sinken. „Gott, ich dreh durch. Kann ich eine Umarmung haben?” Von Boris kam ein leises Lachen, dann stand er auf, ging um den Tisch herum und legte die Arme um Yuriy, der die Nase in seinen Bauch drückte. Er spürte, wie Boris’ Finger durch sein Haar strichen und sein Puls sich beruhigte. „Ah. Besser.” „Was ist denn passiert?”, fragte Boris, doch Yuriy konnte nur den Kopf schütteln. „Keine Ahnung. Kai spricht ja nicht mit mir. Alles ganz, ganz großes Drama.” „Ha. Wie bist du da nochmal reingeraten?” Yuriy sah missmutig zu ihm hoch. „Er stand an der Bar und sah gut aus.” Das amüsierte Brummen seines Mitbewohners vibrierte unter Yuriys Handflächen. „Alles klar. Ich fahr dich”, sagte Boris. „Nein, du musst nicht…” „Doch. Mit der Bahn dauert das doch viel zu lange. Ist schon okay.” Und so stand er eine Stunde später vor dem Gebäude, in dem Kai wohnte. Wäre die Situation nicht so verfahren gewesen, hätte er darüber gelacht, wie verdammt richtig er gelegen hatte, als er im Zentrum wilde Annahmen über Kais Wohnsituation gemacht hatte. Das Haus war eines von diesen weißen, glatten Neubauten, die überall in der Stadt aus dem Boden schossen. Die Eingangstür war nur angelehnt, und so machte er sich nicht die Mühe, gleich unten zu klingen, sondern trat einfach so ein. Im Fahrstuhl klebte noch die Schutzfolie auf dem Spiegel, nichtsdestotrotz hatte sie schon jemand bekritzelt. Vor Kais Wohnung zögerte er. Er wusste nicht, was ihn erwartete. Aber jetzt war es zu spät, um umzudrehen, oder? Er klingelte. Halb rechnete er damit, dass Kai sich dort drin vergraben hatte und ihm sowieso nicht öffnen würde, doch dann hörte er Geräusche auf der anderen Seite und die Tür ging auf. Kais Augen weiteten sich, als er ihn sah. „Yuriy…” Er ließ den Blick über ihn wandern. Kai trug ein zerknittertes Shirt und abgetragene Jogginghosen, stand mit nackten Füßen auf dem Laminatboden seiner Wohnung. Unter seinen Augen hatten sich tiefe, dunkle Ringe gebildet. Der Raum hinter ihm lag in Dunkelheit, aber irgendwie glaubte Yuriy nicht, dass er geschlafen hatte. „Mann siehst du scheiße aus”, urteilte er. Kais Mundwinkel zuckten, aber nicht auf die gute Art. „Bist du nur vorbeigekommen, um mir das zu sagen?” Seine Stimme war leise und rau, als hätte er zu viel gefeiert. Yuriy verdrehte die Augen. „Ich bin hier, weil sowohl Takao als auch Giulia mich gebeten haben, nach dir zu sehen”, erklärte er, „Ich habe erst gedacht, sie übertreiben, aber jetzt… Meine Fresse, Kai, was ist los mit dir?” Der andere starrte ihn einfach nur an, lange genug, um so etwas wie Nervosität in ihm auszulösen. Dann öffnete er die Tür noch ein wenig mehr. „Komm rein.” In der Wohnung war es heller als erwartet. Die Rollläden waren unten, aber durch die Ritzen fiel noch das Licht herein. Ein paar Möbelstücke zeichneten sich im Zwielicht ab. Es war eine klassische, moderne Einraumwohnung mit integrierter Küchenzeile. Das Bett stand in einer Nische, es gab ein paar Regale und ein Sofa. Ansonsten nicht viel. Die Luft war etwas stickig, aber noch nicht abgestanden. Und es roch nach Kai. „Können wir ein bisschen Licht reinlassen?”, schlug Yuriy vor. Während er seine Schuhe im Eingangsbereich auszog, ging Kai zu den Fenstern und zog die Rollläden hoch. „Willst du ein Wasser oder so was?”, fragte er. „Weißt du”, meinte er, „Ich glaube, Wein wäre mir lieber.” „Okay. Setz dich.” Kai deutete flüchtig aufs Sofa, bevor er sich wieder an ihm vorbeischob, um zum Kühlschrank zu gehen. Während er dort herumhantierte, beobachtete Yuriy ihn. Wenn Kai seinen Blick bemerkte, so reagierte er nicht darauf - zumindest, bis er plötzlich seufzte und sich auf der Arbeitsplatte abstützte. „Hey”, sagte er zu den Fliesen an der Wand. „Ich habe mich letzte Woche echt daneben benommen.” Nun sah Yuriy doch in eine andere Richtung. „Du bist ein Arsch, weißt du das?” „Ja.” Er hörte, wie Kai sich bewegte, dann trat er in sein Sichtfeld. Reichte ihm ein Glas und setzte sich neben ihm auf das Sofa. „Du bist nicht der erste, der das sagt.” „Schon mal daran gedacht, das zu ändern?” Ein müdes Grinsen. „Eventuell. Aber es funktioniert nie.” „Hm. Dann Prost.” Er stieß sein Glas an Kais und nahm einen Schluck. Wartete darauf, dass der andere anfing zu sprechen, doch es schien nicht, als würde das in nächster Zeit passieren. Kai hatte sich halb weggedreht und starrte unbestimmt ins Nichts. Yuriy stützte den Arm auf der Rückenlehne ab und betrachtete ihn erneut. Das Licht verschärfte sein Profil und alle Zeichen der Müdigkeit, aber da war immer noch dieser feste Zug um seinen Mund, der ihn streng wirken ließ, obwohl seine Lippen sehr weich waren. „Du hast mich an einem ziemlich wunden Punkt getroffen, weißt du das?”, sagte er schließlich. „Ich hasse es, unterschätzt zu werden. Das ist mir einfach ein paarmal zu oft im Leben passiert. Liegt wahrscheinlich daran, wo ich aufgewachsen bin. Und wie. Wenn ich heute jemandem erzähle, wo ich herkomme, dann denken sie zuerst an Assis und dann an Nazis. Will nicht sagen, dass ich nie Ärger mit denen hatte. Und Boris sind seinem Adidas-Anzug wird auch jedem Klischee gerecht… Aber du weißt, was ich meine, oder?” Er drehte sein Glas in den Händen. „Mir ist klar, dass du das alles nicht wissen kannst, also sage ich dir das jetzt. Hör einfach auf, mich von oben herab zu behandeln, okay? Das machen schon genügend andere.” Es war immer noch schwer, darüber zu reden. Er wollte nicht daran denken, wie in seiner Jugend sich niemand so richtig für sie interessiert hatte, einfach weil alle glaubten, sie wären in so widrige Umstände hineingeboren worden, dass aus ihnen sowieso nie etwas werden würde. Ohne die Arschtritte seiner Eltern und die Freundschaft mit Boris wäre er wohl ganz woanders gelandet - was aber nicht bedeutete, dass ihn die Ressentiments anderer Leute nicht immer und immer wieder entgegenschlugen. In diesem Punkt hatte Yuriys Stolz einen ganz schönen Knick, und er hatte die Hälfte seines erwachsenen Lebens gebraucht, um zu lernen, damit umzugehen. Kai drehte sich zu ihm und sah ihn direkt an. Wieder einmal verfluchte Yuriy seine Augen; wie sie jeden seiner Blicke intensiver wirken ließen als er vermutlich war. „Das habe ich wirklich nicht gewusst”, sagte Kai, „Ich habe gemerkt, dass meine Worte dich getroffen haben, aber mir war nicht klar, wie.” Er zögerte kurz. „Es tut mir leid.” Yuriy konnte sein Erstaunen nicht gänzlich verbergen. Hatten sie sich wirklich eine Woche anschweigen müssen für etwas, das sie innerhalb von fünf Minuten hätten klären können? Er kam sich ziemlich dämlich vor, und irgendwie stimmte ihn das auch versöhnlich. „Schon gut”, murmelte er und lächelte müde. „Dann ist das damit erledigt?” „Meinetwegen.” „Okay. Willst du eine Umarmung oder so was?” Kai verzog den Mund. „Körperkontakt wäre schon nett gerade.” „Finde ich auch.” Ihre Umarmung wurde nicht ganz so seltsam, wie Yuriy erwartet hatte. Kais Haare kitzelten ihn an der Nase und seine Kleidung war sehr weich unter seinen Händen. Er musste den Drang unterdrücken, ihm über den Rücken zu streichen. Dann ließ Kai sich wieder zurücksinken und griff nach seinem Glas. „Jetzt zu den schwierigen Themen, nicht wahr?” Yuriy räusperte sich und trank ebenfalls noch etwas, einfach, um den Frieden zwischen ihnen noch ein bisschen länger zu halten. „Also schön”, sagte er schließlich, „Die aktuelleren Fragen zuerst. Was hattest du bei Garland zu suchen?” Kai schloss kurz die Augen. „Ich habe mit Brooklyn geschlafen.” „...Hä?!” Yuriy fiel aus allen Wolken. „Was zum Fick, Mann?” „Ich weiß, ich weiß, es war dämlich”, sagte Kai. „Er hat mir seine Nummer gegeben, schon vor einiger Zeit. Und gestern… Mir war nach Gesellschaft, niemand hatte Zeit, ich hab ihn angerufen, wir sind in eine Bar… Du weißt, wie so was läuft.” Er machte eine Pause. „Das heißt aber nicht, dass ich es nicht bereue. Sag nichts, bitte. Es war ein Fehler.” „War es wenigstens gut?” Kais wiegte den Kopf und Yuriy hob nur ungläubig die Augenbrauen. „Also, schlechten Sex hättest du auch von mir kriegen können.” „Falls du es schon vergessen hast, wir haben nicht miteinander geredet.” „Ja, und eben hast du dich entschuldigt. War nicht so schwer, oder?” Und endlich lächelte Kai. Vielleicht war es ihm peinlich, denn er legte die Hand über sein Gesicht und fuhr sich dann mit einer fließenden Bewegung durch die Haare. „Wie auch immer”, sagte er, „Es ist passiert und es war scheiße. Und heute Morgen bin ich in einen Streit zwischen Garland und Brooklyn geraten, der beinahe eskaliert wäre. Also habe ich Garland zu Giulia gebracht.” Yuriy nickte. Anders hätte er so eine Situation wohl auch nicht aufgelöst. Er war ein bisschen beeindruckt davon, wie klar Kai hatte denken können, obwohl er sicher seine eigenen Probleme im Kopf hatte. Mit dem Gedanken an Garland kamen aber auch Yuriys etwas unschöne Erinnerungen hoch. Nun war er es, der Kai nicht ansehen konnte; stattdessen sah er auf sein Glas hinab. „Ich hab Garland geküsst. An dem Abend, als ich bei euch im Büro war.” „Ich weiß. Giulia hat euch gesehen.” „Oh, na toll.” Kai sah zu ihm auf. „Ich glaube nicht, dass ich mich in der geeigneten Position befinde, um dir daraus einen Vorwurf zu machen”, sagte er, „Aber Brooklyn weiß inzwischen auch davon und er war… nicht angetan.” „Ganz ehrlich, die beiden brauchen Therapie. Dringend”, ächzte Yuriy und Kai nickte nur. „Ich werde es Garland vorschlagen, sobald sich die Wellen geglättet haben.” Danach schwiegen sie einträchtig für ein paar Minuten. Ab und an warf Yuriy einen Blick zu Kai, dessen Haare spätestens, seit der sie zerwühlt hatte, komplett durcheinander lagen. Er hätte gern nach der losen Strähne gegriffen, die ihm ins Gesicht hing. Doch bevor er diesem Impuls nachgeben konnte, stand der andere auf und streckte die Hand nach seinem Glas aus. „Mehr Wein?” „Bring doch einfach die Flasche.” „Ich hab zwei.” „Eine reicht. Fürs erste.” Er lehnte sich ein wenig zurück; je länger er hier saß desto mehr konnte er sich in der ihm fremden Wohnung entspannen. Und außerdem war das Sofa bequem. Hoffentlich würde der Wein ihn nicht schläfrig machen. Ob beabsichtigt oder nicht - als Kai zurückkam, setzte er sich ein Stück näher zu Yuriy und füllte ihre Gläser großzügig auf. „Auf dumme Entscheidungen?”, fragte er. „Auf dumme Entscheidungen und ihre noch dümmeren Konsequenzen”, ergänzte Yuriy, dann stießen sie an. „Und wo wir dabei sind…” Er streckte betont langsam den Arm aus, sodass dieser hinter Kai auf der Sofalehne lag. „Wie wäre es, wenn du mir jetzt endlich von deinem dunklen Geheimnis erzählst, das du seit einer Woche mit dir herumschleppst?” Es war erkennbar, dass Kai nachdachte. Er wollte wohl immer noch nicht so wirklich mit der Sprache rausrücken. Also beugte Yuriy sich noch ein bisschen vor, lächelte ihn freundlich an. „Raus damit”, sagte er leise, „Wir wissen beide, dass dich die Sache beschäftigt. Und wenn du jetzt nicht den Mund aufmachst, dann hau ich dir eine in die Fresse.” Weder wich Kai vor ihm zurück, noch blinzelte er. Stattdessen zuckten seine Augen über Yuriys Gesicht und beinahe dachte er, dass der andere ihm dieses winzige letzte Stück entgegen kommen würde, nur, um nicht reden zu müssen. Kai öffnete den Mund. „Ist ja gut”, murmelte er. „Also bitte.” Yuriy lehnte sich wieder zurück. Und Kai erzählte. Es war eine ziemlich irre Geschichte, zugegeben, und Yuriy verstand tatsächlich nicht jedes kleine Detail. Doch ihm wurde klar, dass in Kais Welt gerade ziemlich abgefuckte Dinge passierten - Dinge, von denen er immer gehofft hatte, dass sie nur im Fernsehen möglich waren. Kais Ton war sachlich, manchmal suchte er nach den richtigen Begriffen und blieb dann doch bei den englischen, aber das war wohl auch dem Geschäftssprech geschuldet. Trotzdem meinte Yuriy, dass ein leichtes Vibrieren von ihm ausging, als würden unter seiner glatten Fassade gerade sehr viele Emotionen hochkochen. Es erklärte, warum Kai so müde aussah. Niemand konnte so etwas lange in sich anstauen. Ihre Weingläser leerten sich erstaunlich schnell, während Kai sprach und Yuriy nur ab und zu nachhakte. Vielleicht war es der Stress. Als Kai schließlich zum Ende gekommen war, schenkte er ihnen nach. Unterdessen versuchte Yuriy, seine Gedanken zu sortieren. „Du glaubst also, es gibt im Augenblick nur zwei Optionen”, sagte er. „Entweder die Stadt verlassen oder dich deinem Großvater fügen. Und du willst beides nicht.” „Genau.” Kai rutschte wieder auf dem Sofa zurück und lehnte den Kopf an Yuriys Oberarm, den er immer noch auf der Rückenlehne abgestützt hatte. Wenn er sich jetzt ein wenig vorbeugte, würde seine Nase Kais Haare berühren, und wenn er sich darauf konzentrierte, nahm er den leichten Duft von Shampoo wahr. „Was denkst du?”, fragte Kai. Yuriy lenkte seine Gedanken wieder zu ihrem ursprünglichen Problem. „Das ist alles ganz schön verfahren”, urteilte er, „Aber wenn ich du wäre, würde ich mit Giancarlo sprechen.” „Giancarlo?” „Du hast gesagt, Jürgens-McGregor hat ihn genauso verarscht wie dich. Der Feind meines Feindes ist mein Freund, oder?” „Hmm.” Kai sah nachdenklich zu ihm hoch. „Daran habe ich noch nicht gedacht.” „Ja, weil du nämlich immer alles alleine machen willst”, konterte Yuriy amüsiert und strich kurz über Kais Schulter. „Du solltest irgendwie ein Treffen mit ihm arrangieren. Weit weg von der Arbeit, meine ich.” „Aber er ignoriert mich gerade. Vermutlich denkt er, ich stecke mit Ralf unter einer Decke - was ja nicht einmal verwunderlich wäre.” Yuriy trank und dachte nach, während Kai sich in eine etwas bequemere Position brachte, ohne allerdings den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern. An seinem Hals hatten sich ein paar rote Flecken gebildet, die wahrscheinlich vom Wein herrührten. Auch Yuriy spürte, wie ihm dieser langsam ins Hirn stieg. „Ich kann Olivier fragen”, sagte er. „Er hat noch was gut bei mir. Und wie könnte ich meine Schuld besser begleichen, als dafür zu sorgen, dass sein Liebhaber aus der Scheiße herauskommt, in der er steckt?” Kai verzog den Mund. „Du bist so selbstlos.” „Richtig. Übrigens sollte ich bei eurer kleinen Konspiration auch dabei sein.” „Warum?” „Weil ich der einzige von uns bin, der weiß, wie man Kapitalisten nachhaltig abfuckt.” „Hm, okay.” Kai schwenkte den letzten Rest Wein in seinem Glas, bevor er ihn theatralisch anblinzelte. „Du bist so sexy, wenn du von der Revolution sprichst.” „Du bist so sexy, wenn du dich gegen das System stellst, das dich erzogen hat.” „Ach komm, nicht nur dann.” Kai biss sich auf die Unterlippe und wirkte dabei ein wenig beschwipst. „Gib’s zu, du magst mich.” Yuriy brummte und sah noch einmal auf den anderen hinab, der es sich in der Kuhle, die sein Körper bildete, gerade richtig gemütlich gemacht hatte. Er stieß die Luft aus. „Du hast Recht. Ich steh voll auf dich.” Kurz hielt er inne. „Aber ich will ums Verrecken nicht mit dir zusammen sein.” Kai hob den Kopf und für ein, zwei Herzschläge sahen sie sich einfach nur an. Dann zuckte Kai mit den Schultern. „Fair.” Er griff nach seinem Handy, das irgendwann zwischen sie gerutscht war, und sah auf die Uhr. „Es ist jetzt sechs”, sagte er. „Was meinst du - Sollen wir uns Döner holen und die zweite Flasche Wein trinken?” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)