Großstadtgeflüster von lady_j ================================================================================ Kapitel 14: Komm mir nicht mit "Komm mal runter" ------------------------------------------------ Die folgende Woche verschwamm in Kais Kopf zu einem Strom aus Arbeit und Grübelei. Im Büro gab es immer genug zu tun, dort ging es einfach weiter, als hätte niemand das dräuende Unwetter über ihren Köpfen bemerkt. Und für die meisten war es wohl auch so und würde es so bleiben, wenn Soichiro das Geld fließen ließ. Einzig in seinem wöchentlichen Jour mit Giancarlo hatte er diesem deutlich anmerken können, dass Ralf ihn inzwischen über alles in Kenntnis gesetzt hatte. Allerdings schien er davon in etwa so begeistert zu sein, wie Kai selbst. Sie hatten sich also mehr oder weniger angeschwiegen, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Und dann war es weitergegangen: Mails, Meetings, nach Hause fahren, die Wand anstarren. So oder so ähnlich. Er hatte sich nicht bei Yuriy gemeldet - und Yuriy sich nicht bei ihm. Kai hätte auch gar nicht gewusst, was er zu ihm sagen sollte. Klar, wenn er genauer darüber nachdachte, dann ahnte er schon, dass er sich bei dem anderen würde entschuldigen müssen. Auch wenn er dessen heftige Reaktion auf seine Worte noch immer nicht vollständig verstand. Es hatte ihn überrascht, als Yuriy ihn einfach sitzen ließ, aber natürlich gab er sich in solchen Situationen nie die Blöße, das auch zu zeigen. Und dann war da noch die andere Sache. Irgendwann war Yuriy verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Kai hatte sich nicht viel dabei gedacht, bis Giulia irgendwann neben ihm stand, mit diesem seltsamen Ausdruck im Gesicht. Sie wollte erst nicht darüber sprechen, doch dann erzählte sie ihm doch, was sie gesehen hatte. Seitdem war er noch verwirrter als zuvor. Garland hingegen gab sich wie immer, selbst Kai gegenüber. Ob er annahm, Kai wisse von nichts? Oder einfach davon ausging, dass es schon okay für ihn war? Kai wusste nicht, ob er es okay fand. Er hatte sich nicht erlaubt, allzu sehr über Yuriy und Garland nachzudenken, schließlich gab es wirklich wichtigeres. Wie auch immer er es drehte und wendete, es schien zu diesem Zeitpunkt nur zwei Möglichkeiten zu geben, wie er weitermachen konnte: Sich Soichiro fügen und zumindest sein Leben ungefähr so weiterleben wie bisher. Oder sich komplett verweigern. Womit Berlin aber zu verbrannter Erde wurde. In einer Stadt, in der Soichiro nicht nur Verbündete durch Jürgens-McGregor hatte, und Immobilien, und bald auch eine quasi eigene Firma, würde er nicht einfach sein Ding machen können. Er würde wegmüssen, in größere, wichtigere Städte. Und was hatte er schon zu verlieren? Gerade sah es ja wirklich so aus, als gäbe es hier bald nichts mehr für ihn. Irgendwann rief Takao an. „Hey Kai, ich wollte mal hören, wie es dir geht, wir haben ja schon eine Weile nichts mehr voneinander gehört.” „Es ist okay”, antwortete er und merkte selbst, wie müde er klang, „Nur ein bisschen stressig gerade.” Takao brummte und Kai bereute es augenblicklich, den Anruf überhaupt entgegengenommen zu haben. Sein Exfreund hatte einen sechsten Sinn für seine Gefühlslagen, es war unheimlich, wie gut sein Gespür inzwischen war. „Bist du sicher?” Er seufzte. „Nein”, gestand er, „Aber ich komme damit klar. Wirklich.” Für eine Sekunde war er versucht, Takao alles zu erzählen, einfach, um es loszuwerden. Andererseits würde der andere ihm wohl schwer helfen können, also was hatte er schon davon? „Was machst du am Wochenende?”, fragte er, um vom Thema abzulenken. Und vielleicht, ganz vielleicht, hoffte er, dass Takao Zeit hatte und sie sich zumindest kurz sehen konnten. Wenn es auch nicht zur Lösung seines Problems beitrug, so würde es ihn zumindest einmal auf andere Gedanken bringen. Doch nun war es Takao, der zögerte. „Ich fahre morgen früh auf ein Festival. Mit Hiromi. Wir sind erst Sonntag wieder da.” Kai gab sich reichlich Mühe, seine Enttäuschung in Überraschung umzuwandeln. „Gute Idee, wirklich!”, sagte er, „Wie ist es mit Hiromi?” „Gut, ich mag sie sehr.” Takao machte eine Pause. „Es fühlt sich komisch an, mit dir über sie zu sprechen.” „Schon gut”, entgegnete Kai, „Ich freu mich für dich. Genieß das Wochenende!” „Ja… Sollen wir uns nächste Woche treffen?” „Warum nicht? Schreib mir, wenn du wieder in der Stadt bist, okay?” Er beeilte sich, das Gespräch zu beenden, denn er war sich nicht sicher, wie lange er noch gute Miene machen konnte. Als Takao aufgelegt hatte, fuhr er sich einmal übers Gesicht. Gott, wie müde er von alldem war. Schwerfällig stand er vom Sofa auf, um duschen zu gehen. Als er sein Shirt über den Kopf gezogen hatte und in den Wäschekorb werfen wollte, merkte er allerdings, dass dieser schon zum Bersten gefüllt war. Seufzend starrte er den Haufen Wäsche an, dann nahm er so viel wie er tragen konnte aus dem Korb heraus und trug sie zur Waschmaschine. Wie immer drehte er alle seine Hosentaschen auf links, bevor er sie in die Trommel stopfte, denn seit er einmal aus Versehen eine Speicherkarte voller wichtiger Informationen mitgewaschen hatte, war er ein gebranntes Kind. Und tatsächlich: Neben ein paar Münzen fand er heute auch den USB-Stick, den Yuriy ihm gegeben hatte. Eine Weile hielt er ihn in der Hand und sah auf ihn hinab. Er hatte nicht vor, sich in nächster Zeit damit zu beschäftigen; es war einfach alles zu viel. Also legte er den Stick etwas schroffer als beabsichtigt auf die Arbeitsplatte über der Waschmaschine. Als nächstes zog er einen zusammengefalteten Zettel aus einer anderen Tasche. Erst als er ihn glattstrich und sein Blick auf die Nummer fiel, die auf ihm vermerkt war, erinnerte er sich an seine Begegnung mit Brooklyn. Er konnte nicht verhindern, dass er in diesem Moment wieder an Garland und Yuriy dachte. Dann schüttelte er energisch den Kopf und legte den Zettel irgendwo hin, um ihn später wegzuwerfen. Nachdem er aber die Waschmaschine gefüllt und angestellt hatte, war dieser Vorsatz allerdings längst vergessen. Mathildas Stimme klang sehr hoch am Telefon und Yuriy wusste sofort, dass sie etwas von ihm wollte. „Na, was los?”, fragte er. „Sag mal, würde es dir was ausmachen, wenn ich nicht mit dir mitkomme, sondern mit Salima ins Morgen gehe?” Er hob die Augenbrauen, konnte sich aber schon denken, woher der plötzliche Sinneswandel kam. „Sag bloß, Giulia mag das Morgen lieber als das Don Quijote?” Es konnte keinen anderen Grund geben, denn die Musik im Morgen passte nicht wirklich zu Mathildas Stil. Sie war ihr viel zu gechillt. Doch Dank Salima bekamen sie auch von dort regelmäßig Anfragen, und solange das Geld reinkam beschwerten sie sich nicht. Für Salima war es sicher auch mal eine Abwechslung, nicht allein arbeiten zu müssen. „Ja...wir sind verabredet”, erklärte Mathilda. „Wie süß.” Sein Tonfall war vielleicht spöttisch, doch er war ehrlich froh, dass es zwischen den beiden Frauen so funkte. Ein bisschen hatte er es auf der Party bei Ivan und Salima schon geahnt, aber es war doch erstaunlich, wie schnell die Sache gerade durch die Decke ging. Anscheinend schickten sich Giulia und Mathilda ellenlange Chatnachrichten, seitdem er Liebesbote für ihre Telefonnummern gewesen war. Und weil er der letzte war, der dem jungen Glück im Wege stehen würde, erklärte er sich schlussendlich großmütig mit Mathildas Vorschlag einverstanden. Sein letzter Auftritt allein war schon eine Weile her und die Bühne wesentlich kleiner gewesen. Das Don Quijote zählte zu den größeren Technoclubs in Berlin, und im Gegensatz zum Zentrum wurde dort ausschließlich elektronische Musik gespielt. Seine Nervosität hielt sich aber in Grenzen, denn wenn er ehrlich zu sich war, war ihm diese jüngste Entwicklung sogar ganz lieb. Nur er und die Musik, für die der hohe Raum ein perfekter Klangkörper sein würde - das war es, was er jetzt brauchte. In der Schule ging es nun langsam auf die Sommerferien zu, was natürlich mit dem damit verbundenen Stress einherging. Er hatte alle Hände voll zu tun und konnte auch außerhalb seiner Arbeitszeit nur an wenig anderes denken als seine Kids. Einige von ihnen gerieten richtiggehend in Panik angesichts der bevorstehenden Zeugnisvergabe. Anderen wiederum musste er extrem gut zureden, damit sie sich überhaupt noch blicken ließen. Wenn er nach Hause kam, reichte es meist gerade noch für eine Runde Fernsehen mit Boris, bevor ihm die Augen zufielen. Die Arbeit im White Tiger hatte er fürs erste wieder beendet, denn das würde ihn momentan einfach umbringen. Es war jedoch gut, zu wissen, dass er jederzeit dort wieder anfangen konnte. Zugegeben, ein Auftritt stellte momentan eher eine zusätzliche Belastung dar als einen Ausgleich, aber darauf wollte er nun wirklich nicht verzichten. Außerdem brachten vier Stunden im Don Quijote eine schöne Stange Geld ein. Den Schlafmangel nahm er dafür gern in Kauf. Boris arbeitete an diesem Abend in einem Club in Kreuzberg und musste außerdem wesentlich früher aus dem Haus als Yuriy. Deswegen machte er sich gegen Mitternacht allein auf den Weg. Das Set sollte um halb zwei anfangen, was ebenfalls gut war, denn eigentlich begann es erst um diese Zeit in den Clubs interessant zu werden. Um zum Don Quijote zu kommen, musste man eigentlich nur der Trasse der Ringbahn folgen, sobald man ausgestiegen war. Etwas weiter weg stand ein riesiges Hotel in dem Nichts, das sich hier ausbreitete - es war die uninteressante Ecke Neuköllns, die noch nicht gentrifiziert worden war. Direkt hinter dem Club begann das Brachland einer riesigen Baustelle. Die beiden Hälften der Stadt, die so lange voneinander getrennt gewesen waren, wurden jetzt mit grober Nadel zusammengenäht. Es war eine Sisyphusaufgabe. Die Schlange vor dem Eingang war so lang, dass sie beinahe den Bahnhof erreichte, und Yuriy fühlte nun doch sein Herz flattern. Heute würde es voll werden und er war allein für den Main Floor verantwortlich. Eigentlich Wahnsinn, dass sie es schon so weit gebracht hatten. Klar, sie hatten unzählige Klinken dafür putzen müssen. Die letzten zwei, drei Jahre hatten sie auf halbprivaten Raves, Demos, Hauspartys und in winzigen Diskos aufgelegt und so ziemlich alle ihre Kontakte ausgenutzt (was, zugegeben, nicht wenige waren). Nun endlich trug die ganze Rennerei Früchte. Die Türsteher kannte er nicht, wurde aber ohne zu murren reingelassen. Drinnen wurde er von einer Frau in Empfang genommen, die ihn über Schleichwege zum DJ-Pult führte. Dort legte noch jemand anderes auf, den er vielleicht vom Sehen kannte, aber er war sich nicht sicher. Sie schlugen ein und hielten ein bisschen Smalltalk, während Yuriy aufbaute. Ab und zu warf er einen Blick auf die Menge. Die Stimmung schien gut, wenn auch etwas zurückhaltend. Doch es war auch früh für eine Clubnacht. Es stellte sich heraus, dass sein Kollege noch am Anfang seiner Karriere stand und dankbar war, überhaupt hier sein zu dürfen. Wieder hatte Yuriy das seltsame Gefühl, erfolgreicher zu wirken als er es eigentlich war. Irgendwann war es dann an der Zeit, das Mischpult zu übernehmen. Er schaffte einen relativ eleganten Übergang von seinem Vorgänger, und das, obwohl dieser eine ziemlich helle Klangumgebung geschaffen hatte. Yuriy war heute nicht nach hell und freundlich. Ihm war nach tiefen Bässen, Dunkelheit und Dreck - das passte sowieso viel besser zu dieser Stadt. Und so stürzte er sich mit den Tönen hinab. Schon bald pulsierte der Beat wie Herzschlag im Clubraum, in den sich mehr und mehr Menschen drängten. Und Yuriy wusste, dass sie keine großartigen Rhythmuswechsel brauchten, nur hier und da mal eine Klangveränderung. Es ging ihnen bloß darum, sich in Trance zu tanzen. Das kam ihm nur gelegen. Er wollte die vergangene Woche vergessen und erst recht das Wochenende davor, denn noch immer wurde er wütend, wenn er an seine Auseinandersetzung mit Kai dachte. Das war etwas, was er einfach nicht gebrauchen konnte. Am meisten ärgerte es ihn, dass es ihm nicht gelang, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Bei den meisten Personen war ihm egal, was sie zu ihm sagten oder von ihm hielten. Er hatte seinen Freundeskreis, mehr brauchte er nicht. Aber Kai… der kleine Ficker hatte sich einfach in seinem Hirn festgesetzt. Mit der Zeit gelang es ihm, zumindest seine Wut abzuschütteln. Die Musik half ungemein. Die Lautstärke, das Gefühl des Basses in seinem Körper, das springende Mischpult vor ihm nahmen seine volle Aufmerksamkeit ein. Die ersten drei Stunden vergingen so wie im Flug. Entgegen seiner Gewohnheit achtete er nicht allzu sehr auf sein Publikum, doch die Stimmung schien sich nicht ins Negative zu verändern, denn das hätte er sicher gemerkt. Ab und an hatte er das Gefühl, als würde er sich in seinen Tonspuren versteigen, doch es gelang ihm immer wieder, zurück in geordnete Bahnen zu finden. Das einzige, was er wirklich bereute, war, dass er nicht rauchen konnte. Das hätte seinen Abend nahezu perfekt gemacht. Als er schließlich auf das Ende seines Sets zusteuerte, fühlte er sich ausgelaugt. Nun hätte er gerne etwas Ruhigeres aufgelegt, aber er wusste, dass die Party hier noch lange nicht vorbei war, wenn er nach Hause ging. Also musste er wohl bis zum bitteren Ende durchziehen. Seine Nachfolgerin, eine alteingesessene DJane namens Sara, die er flüchtig kannte, würde sicher auch bald auftauchen. Statt ihrer stand auf einmal Kane neben ihm. Yuriy hatte nicht gewusst, dass er heute hier sein würde. Sie waren sich noch nie persönlich begegnet, aber Kane legte regelmäßig im Bunker auf, weshalb vor allem Ivan neidisch auf ihn war und ständig über ihn lästerte. Sie alle kannten sein Gesicht, denn Ivan stalkte quasi seine Webseite. „Hey”, rief Kane ihm ins Ohr, sobald er seine Kopfhörer abgesetzt hatte, „Du bist von Ostblocc, oder?” Yuriy nickte und reichte ihm die Hand. „Freut mich.” „Geiles Set!”, sagte Kane, „Hat mir echt gefallen! Sag mal, habt ihr Soundcloud oder ne Webseite oder so?” „Ja, sicher”, antwortete Yuriy, „Aber wir sind zu viert und machen ganz unterschiedliche Sachen.” „Kein Ding, ich will nur mal reinhören.” Kane kramte in seinen Taschen herum und reichte Yuriy schließlich sein Handy. „Schreib mir mal deine Kontaktdaten auf, ich würde gern in Ruhe bei euch reinhören. Vielleicht hab ich dann was für euch.” Yuriy versuchte, sich sein wachsendes Interesse nicht anmerken zu lassen und tat wie ihm geheißen. „Wo denn?”, fragte er als er dem anderen das Handy zurückgab. „Im Bunker”, sagte Kane. „Aber ich kann nichts versprechen, okay? Das heute war aber echt geil! - Heey, Sara!” Die DJane war gerade angekommen und schlug nun bei ihnen beiden ein. Sie wechselten ein paar Worte, dann machte Kane Anstalten, wieder zu verschwinden. Er legte Yuriy noch einmal die Hand auf die Schulter. „Ich melde mich, okay?! Bis dann!” Yuriy konnte nicht verhindern, dass ich auf seinem Gesicht ein Grinsen ausbreitete. Ivan würde ausrasten, wenn er ihm davon erzählte. Und wenn sie tatsächlich einen Gig im Bunker bekamen… das war groß. Aber so richtig. Seine Hände bewegten sich beinahe wie gesteuert, als er seine Sachen zusammenpackte, während Sara schon das Pult übernahm. Seine Gedanken kreisten ausnahmsweise einmal nicht um Kai oder die Arbeit, sondern um seine Musikkarriere. Das war doch alles Wahnsinn! Draußen vor dem Club schlug ihm die Morgenluft entgegen. Es war schon hell, ein dünner Strom Menschen torkelte zur S-Bahn. Yuriy folgte ihnen. Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile fühlte er sich so zufrieden wie die Feiernden, die nun nach Hause gingen. So viele schräge Outfits, so viel Glitzer. Und er mittendrin. Während er die Treppe zu den Gleisen nahm, schlurften andere in Richtung des Dönerstands, der wahrscheinlich schon gegen Mittag den Tagesumsatz erreicht haben würde. Manche setzten sich auch irgendwo hin und rauchten noch eine. Ah, Zigaretten. Yuriy tastete seine Taschen ab, fand nichts, schnorrte sich kurzentschlossen eine Kippe bei ein paar jungen Frauen, die augenblicklich zu kichern anfingen. Die Kippe war rosa und schmeckte nach Vanille. Kai wollte die Wände hochgehen. Es war nicht auszuhalten. Seine Wohnung engte ihn ein und die Geräusche, die durch die offenstehende Balkontür nach innen drangen, machten ihn langsam aber sicher verrückt. Er gehörte nicht zu den Menschen, die sich über Großstadtlärm beklagten, aber das konstante Stimmengewirr eines Samstagabends - alle glücklich, alle entspannt - war einfach zu viel. Manchmal ertrug selbst er die Einsamkeit nicht mehr. Takao wäre seine erste Wahl gewesen, doch der war nicht in der Stadt. Giancarlo wagte er nicht anzurufen, das würde einfach nicht gut gehen. Er wusste ja nicht einmal, ob sein Noch-Chef ihn überhaupt noch ausstehen konnte. Im schlimmsten Fall dachte Giancarlo, dass Kai aktiv an der ganzen Sache beteiligt war. Blieb also Giulia. Sie nahm schon nach wenigen Sekunden ab. „Hi Kai, was ist los?” „Hey”, sagte er und musste sich räuspern. Seine Stimme fühlte sich an, als hätte er sie schon lange nicht mehr gebraucht. „Ich wollte fragen, ob du Bock auf ein Spätibier hast.” „Oh!” Das Zögern war deutlich zu hören. „Du, tut mir echt leid. Ich mache mich gerade fertig, weil ich nachher mit Mattie verabredet bin. Sie legt heute im Morgen ist auch noch ein Tag auf.” „Ah, verstehe.” Die nächsten Worte rutschten ihm einfach so heraus und er bereute sie augenblicklich: „Ist Yuriy auch dort?” „Nein, der ist heute in einem anderen Club”, antwortete Giulia. „Aber wenn du willst, frage ich Mattie, wo genau!” Er überlegte, aber nein, eigentlich war das keine Option. „Schon gut, kein Problem. Dann sehen wir uns Montag?” „Ja. Bis Montag.” Sie klang traurig, doch er machte es ihr leicht und legte einfach auf. Seufzte einmal tief. Also war es Zeit für Plan B: Sich alleine betrinken und vielleicht eine dieser beknackten Serien gucken, die seit Monaten auf seiner Watchlist standen. Vielleicht konnte er die Rollläden herunterlassen, damit es zumindest so wirkte, als wäre es schon spät. Irgendwie konnte er sich nicht so wirklich auf dem Sofa entspannen, wenn es draußen noch hell war. Das gab ihm immer das Gefühl, noch irgendetwas machen zu müssen. In seinem Kühlschrank fand er nicht eine, sondern zwei Flaschen Wein und beglückwünschte sich stumm zu diesen, auch wenn er sich nicht mehr erinnern konnte, wann er sie gekauft hatte. Das erste Glas trank er in einem Zug. Während er das zweite eingoss, schien es ihm, als könnte er sich langsam mit einem weiteren Abend allein anfreunden. Als er das Glas abstellte, um nach etwas Essbarem zu suchen, fiel sein Blick jedoch auf zwei Dinge, die auf der ansonsten leeren Arbeitsfläche lagen: Yuriys USB-Stick und der Zettel mit Brooklyns Nummer. Kai hielt inne. Schloss den Kühlschrank und streckte die Hand nach diesen beiden Gegenständen aus. Drehte den USB-Stick zwischen den Fingern, lange, zögernd. Legte ihn wieder weg. Nahm den Zettel. Starrte die saubere, etwas schräg stehende Schrift darauf an. Augenblicklich fühlte er sich schuldig, aber wenn er ganz ehrlich zu sich war, wusste er nicht, wieso. Als könnte er sich nicht mal eine absurde Idee erlauben. Wenn diese Idee überhaupt so absurd war… Wahrscheinlich war, dass er diese Schuld sich selbst gegenüber empfand. Es war ja nicht so, als wüsste er nicht, dass er drauf und dran war, einen riesigen Fehler zu begehen. Aber verdammt, nach allem, was passiert war, war das ganz sicher das kleinere Übel. Er war erwachsen. Er hatte Bedürfnisse. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer. „Masefield, hallo!”, erklang Brooklyns Stimme. „Ich bin’s, Kai”, sagte er und hörte ein Rascheln auf der anderen Seite. „Kai!”, wiederholte Brooklyn und klang, als könne er es nicht fassen. „Ja. Hast du Lust, irgendwo was mit mir trinken zu gehen?”, fragte er geradeheraus und hätte schwören können, dass Brooklyn scharf die Luft einzog. „Das ist kein Date”, schob er hinterher, „Ich könnte nur etwas Gesellschaft vertragen.” „Was für ein Zufall. Geht mir genauso.” Sie trafen sich am Rosa-Luxemburg-Platz und gingen in die erstbeste Bar. Hier war sowieso alles voller Menschen. Anders als zu Hause war der Lärm Kai jetzt egal, schließlich war er mittendrin. Brooklyn, stellte er fest, sah durchaus gut aus. Er trug einen Blazer über einem dunklen Shirt, dazu enge Jeans. Kai hatte sich auf die Schnelle komplett schwarz gekleidet und beim Rausgehen nach seiner Lederjacke gegriffen. Noch war es für diese viel zu warm, aber nachts würde sie ihm sehr wahrscheinlich zunutze sein. Es war ein bisschen seltsam, dieses Treffen. Als er noch in London gelebt hatte, hatte er tatsächlich für eine Weile Datingplattformen benutzt, und jetzt fühlte er sich an diese halbblinden Dates erinnert. Sie kannten sich höchstens flüchtig, aber eigentlich wollte er nur Gesellschaft für ein paar Stunden, also was soll’s, vielleicht wurde es ja gut. Sie ergatterten einen Platz am Tresen und bestellten Bier. Brooklyn prostete ihm mit einem spöttischen Grinsen zu. „Auf deine Langeweile”, sagte er. Kai hob die Augenbrauen, trank aber trotzdem. „Jetzt aber mal ehrlich”, fuhr Brooklyn fort, „Ich habe nicht erwartet, noch einmal was von dir zu hören. Woher der Sinneswandel?” „Wieso Sinneswandel?”, stellte er die Gegenfrage. „Ich habe nichts gegen dich, Brooklyn. Und da du dich auch so nett für dein Verhalten im Zentrum entschuldigt hast… Warum sollte ich dich nicht anrufen?” Brooklyns Grinsen verschwand nicht, als er nun nickte, aber es war offensichtlich, dass er ihm nicht glaubte. „Alles klar”, murmelte er. Dann stützte er den Arm auf dem Tresen ab und das Kinn in die Hand. „Ich will nur eins klarstellen: Heute werde ich mich benehmen.” „Gut”, sagte Kai, „Denn es kann sein, dass ich dafür austicke.” „In diesem Fall kaufe ich dir gern weiter Getränke.” Nun war es an Kai, ein süffisantes Grinsen aufzusetzen. Sie spielten miteinander, das war glasklar. Aber er würde lügen, wenn er behauptete, nicht gern zu spielen. Er ließ den Blick durch den Raum wandern, der voller hipper junger Menschen war (sie waren nur einen Katzensprung vom Alexanderplatz entfernt, es war also nicht verwunderlich),dann fühlte er eine Berührung am Arm. Als er sich umwandte, sah er direkt in Brooklyns grüne Augen. „Was ist los?”, fragte dieser und ließ seine Hand wieder sinken, legte sie aber sehr dicht neben Kais Arm auf den Tresen. Kai öffnete den Mund, unsicher, was er sagen sollte. Fakt war, er wollte es sich von der Seele reden, zumindest einen Teil von dem ganzen Mist, der gerade passierte. „Ich wechsle vielleicht bald den Job”, antwortete er schließlich, „Und das gefällt mir nicht.” „Musst du aus Berlin weg?” „Das weiß ich noch nicht. Aber vielleicht. Und ja, das ist auch ein Grund, weshalb mir das alles nicht gefällt.” Brooklyn griff wieder zu seiner Flasche. „Du bist gern hier!”, stellte er fest. In diesem Moment drängten sich noch mehr Menschen in die Bar. Es wurde noch enger und sie mussten ein Stück näher zusammenrutschen. Kai meinte, Brooklyns Aftershave riechen zu können, ein leichter, frischer Duft. Brooklyn war größer als er, wenn auch nicht so groß wie Yuriy, dafür aber auch nicht so extrem schlank wie dieser. Schnell trank er ein paar weitere Schlucke Bier und merkte enttäuscht, dass die Flasche beinahe leer war. „Ja, ich bin gern hier”, sagte er dann, und es schien ihm, als wäre dies das erste Mal, dass er das so offen zugab. „Auch wenn es in letzter Zeit etwas schwierig war.” „Warum?” Brooklyn gab der Barkeeperin ein Zeichen, um neue Getränke zu bekommen. Kai merkte, wie sich ein Gefühl von Leichtigkeit in seinem Kopf ausbreitete, was sicher nicht nur am Bier, sondern auch am Wein von vorhin lag. Er musste langsamer trinken. „Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem Freund”, sagte er schließlich vage. „Aber das ist doch kein Grund, die Stadt verlassen zu müssen.” Er schnaubte. „Nein. Aber es ist nicht schön. Es beschäftigt mich.” „Verstehe.” Nun war es Brooklyn, der ihr Umfeld musterte. Er schien über irgendetwas nachzudenken, seine Stirn war gerunzelt. Dann sah er Kai wieder an. „Darf ich dir was erzählen?”, fragte er und es war erkennbar, dass es sich nicht um eine schöne Anekdote handelte. Kai hob unverbindlich die Schultern und trank, um sich nicht festlegen zu müssen. Natürlich wertete Brooklyn das als Ja. „Du weißt sicher, dass Garland und ich zusammenwohnen. Und dass wir bis vor ein paar Monaten zusammen waren”, sagte er und Kai nickte. „Das hast du mir im Club erzählt.” „Richtig, entschuldige.” Brooklyn seufzte. „Ganz ehrlich, es ist schwierig. Wir waren so lange zusammen, und jetzt ist auf einmal alles anders und … dann auch wieder nicht.” Er verzog den Mund. „Das wäre alles noch aushaltbar. Aber ich glaube, er hat jemanden kennengelernt.” Kai zog die Augenbrauen hoch und hoffte, dass in seiner Miene nicht abzulesen war, was in ihm vorging. Denn natürlich wanderten seine Gedanken sofort zu Yuriy. „Warum denkst du das?”, fragte er. „Ich weiß nicht”, sagte Brooklyn und sah ihn nachdenklich an. „Er benimmt sich anders. Es ist so ein Gefühl. Ich habe ein ziemlich gutes Gespür für ihn, weißt du.” „Das glaube ich dir sofort”, meinte Kai. In seiner Stimme schwang ein wenig Sarkasmus mit, den Brooklyn aber zu ignorieren schien. „Mein Exfreund hat auch gerade jemand neues”, fuhr er dann fort. „Aber das ist okay.” „Bist du nie eifersüchtig?” Kai überlegte kurz. „Nein”, sagte er ehrlich, „Aber wir sind auch schon länger auseinander. Und es gab einige mehr vor dieser neuen Person - am Anfang war ich eifersüchtig, klar. Jetzt nicht mehr.” „Darauf trinke ich”, sagte Brooklyn und nahm einen tiefen Zug aus der Flasche. Kai konnte nicht verhindern, dass er noch einmal an Garland und Yuriy dachte. Was Giulia ihm erzählt hatte, klang nicht, als wäre es ernst zwischen den beiden. Und Yuriy hatte selbst gesagt, dass er kein Interesse an Garland hatte. Oder hatte er gelogen? „Hör mal, ich weiß, dass Berlin nicht für alle die geilste Stadt der Welt ist”, sagte Brooklyn plötzlich. „Ich bin jetzt seit, hm, zwanzig Jahren oder so hier. Es ist manchmal echt scheiße.” Er zwinkerte ihm zu. „Und ich meine, gerade jetzt bin ich in einer wirklich beschissenen Situation. Aber ich würde trotzdem nicht wegziehen wollen.” Kai öffnete den Mund zu einer Erwiderung, als ihm jemand einen Stoß von hinten gab, sodass er gegen Brooklyn stolperte. Der verschüttete daraufhin ein wenig von seinem Getränk über sein Shirt. „Whoops”, machte Kai und hob beide Hände. „Sorry.” Schnell brachte er wieder einen Schritt mehr zwischen sich und den anderen. Doch Brooklyn lächelte nur. „Kein Problem. Sollen wir vielleicht woanders hingehen? Hier wird es gerade echt voll.” Als Kai zögerte, nickte er in Richtung Tür. „Wir können ein Stück spazieren gehen. Hier sind ja überall Spätis, da gehen uns die Getränke schon nicht aus.” Schließlich ließ Kai sich überreden. Sie traten nach draußen in die kühle Nacht. Inzwischen war es merklich dunkler geworden, auf der Straße herrschte aber immer noch reges Treiben. Sie begannen, etwas ziellos in eine Richtung zu schlendern, nebeneinander, nur manchmal mussten sie anderen Gruppen ausweichen. Irgendwann machten sie Tatsächlich noch einen Abstecher in einen Späti, bevor sie ihren Weg fortsetzten. Kai kannte sich nicht sehr gut in dieser Gegend aus, aber es gab überall Tramstationen, und zur Not würde er mit dem Handy schon wieder nach Hause finden. Oder ein Taxi nehmen. Außerdem war Brooklyns Gesellschaft bei weitem nicht so unangenehm, wie er befürchtet hatte. Sie konnten sich unterhalten, und das tat verdammt gut. Und ja, Kai bemerkte auch den Ausdruck in Brooklyns Augen, wenn der ihn musterte. Es war offensichtlich, dass er dem anderen gefiel. Und das wiederum gefiel ihm selbst. „Vielleicht solltest du Garland einfach darauf ansprechen”, schlug er irgendwann vor. „Ihn fragen, ob er jemanden hat, meine ich. Es ist ja klar, dass es dir unangenehm ist, wenn ihr noch zusammenwohnt. Ich glaube, da müsst ihr einfach mal drüber reden.” „Hm.” Schon wieder traf ihn dieses Brooklyn-Grinsen, das wirklich nur das war, ein Grinsen, ohne tiefere Bedeutung. Er konnte nicht sagen, ob den anderen diese Worte irgendwie trafen. Anstatt zu antworten blieb Brooklyn stehen. Kai machte noch ein paar Schritte, bevor er sich zu ihm umdrehte, ihn fragend ansah. Sie waren in einer Nebenstraße gelandet, und bis auf ein lautes Grüppchen weiter vorn war niemand zu sehen. „Ich glaube, ich möchte lieber mit dir über etwas reden”, sagte Brooklyn. Kai legte den Kopf schief. „Und worüber?” Er bewegte sich nicht, als Brooklyn auf ihn zukam und sehr dicht vor ihm stehen blieb. Hinter seinem Bauchnabel zog sich etwas zusammen, aber auf die gute Art. Deswegen tat er auch nichts, als Brooklyns Finger seine Wange streiften und er sich vorbeugte, um etwas in Kais Ohr flüstern zu können. „Darüber, dass ich dich gern mit nach Hause nehmen würde.” Dann brachte er wieder etwas Abstand zwischen sie. Kai ließ den Blick über ihn schweifen. Überlegte. Er wusste, es sprach einiges dagegen, mit Brooklyn mitzugehen. Aber er hatte verdammt nochmal keinen Bock mehr darauf, das Richtige zu tun. Er wollte nur eins: Ablenkung. Er leckte sich kurz über die Lippen. „Ich habe dir doch gesagt: Das hier ist kein Date.” „Wie praktisch, dass ich nicht romantisch bin”, entgegnete Brooklyn, dessen Blick an Kais Mund hängen geblieben war. „Ich dachte, du wolltest mich kennenlernen.” Sein Gegenüber hob die Schultern. „Ich nehme, was ich kriegen kann. Auch einen kleinen, unverbindlichen Fick.” Kai schnaubte amüsiert. Manche Dinge auf dieser Welt waren immer noch so verdammt einfach. Dann hob er den Kopf und sah Brooklyn direkt an. „Okay.” Hosted by Animexx e.V. 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