Großstadtgeflüster von lady_j ================================================================================ Kapitel 10: Overdressed & underfucked ------------------------------------- Es war still im Großraumbüro. Die Zeit der Sommerurlaube hatte begonnen, und so war es ungewöhnlich leer. Außerdem hatten sie Anfang der Woche endlich das umfangreiche Update der App umgesetzt. Da viele von ihnen sich zuvor die Nächte um die Ohren geschlagen hatten, kamen sie nun etwas später zur Arbeit. Kai hielt nichts davon, seine Routinen aufzugeben. Wenn er später anfing endete es meistens sowieso nur damit, dass er auch länger blieb. Und so saß er wie immer seit kurz vor neun an seinem Computer und tippte vor sich hin. Die Mailflut war zum Glück abgeebbt, doch nach dem Release war vor dem Release, und so plante er bereits die nächsten Schritte. Allerdings genoss er die Ruhe, die heute herrschte. Etwas weiter weg stand eines der Fenster zum Innenhof offen und er konnte den leichten Zugwind spüren. In den letzten Tagen war es immer wärmer geworden, sie standen an der Schwelle zu einem äußerst heißen Hochsommer. Die Erfahrung der letzten Jahre hatte gezeigt, dass es durchaus Sinn ergab, dann noch früher anzufangen, um zum Zeitpunkt der größten Hitze am späten Nachmittag das Büro verlassen zu können. Kai war dieses Wetter durchaus gewöhnt, auch in Japan war der Sommer heiß, doch dort gab es überall Klimaanlagen. Aus für ihn unverständlichen Gründen war das in Europa, zumindest nördlich der Alpen, nicht der Fall. Wahrscheinlich war es nur noch eine Frage von Wochen, bis die ersten in peinlichen Cargoshorts im Büro auftauchten, oder noch schlimmer, in Flip-Flops. Irgendwann kam Giancarlo, dessen Büro in einem Zwischenstockwerk, das in den hohen Raum gezogen worden war, lag, die Treppe herunter und lief direkt auf ihn zu. „Hey Kai”, grüßte er, „Sag mal, wollen wir unseren Jour Fixe heute etwas vorziehen? Ich habe gerade Zeit.” „Meinetwegen”, sagte Kai. Der wöchentliche Termin mit Giancarlo war nicht gerade sein liebster, und so war er durchaus froh, ihn einfach hinter sich bringen zu können. Also stand er auf und folgte seinem Chef zunächst in die Küche. Während Giancarlo die Kaffeemaschine bediente und das laute Zischen und Brummen die Stille zerriss, nahm Kai sich eine Flasche Mate aus dem Kühlschrank. „Wie läuft es denn so?”, fragte er. Giancarlos Reaktion auf diese Frage war ungewöhnlich. Statt wie immer einfach drauflos zu reden, schüttelte er kaum merklich den Kopf. „Lass uns oben reden.” Neugierig geworden folgte Kai dem anderen in dessen Büro. Der große Kunstdruck, der seit Kurzem hinter dem Schreibtisch hin, war schrecklich. Außerdem schien es hier oben noch heißer zu sein, denn es mangelte an Fenstern. Der Ventilator in der Ecke schaffte es gerade noch, die warme Luft durcheinanderzuwirbeln. Sie setzten sich einander gegenüber auf die knallbunten Polstermöbel, zwischen denen ein niedriger Glastisch stand. Kai wartete, damit Giancarlo wie immer als erster das Wort ergriff. „Also”, fing der an, „Erst mal vielen Dank noch einmal für die tolle Arbeit - der Release war ein voller Erfolg. Wir bekommen gerade sehr viele positive Rückmeldungen!” Es ging eine Weile so weiter; Giancarlo war gut darin, Positives so überschwänglich zu präsentieren, dass es klang, als wären keine Wünsche mehr offen, bei niemandem. Würde Kai seine Strategien nicht kennen, er würde mit einem Gefühl aus diesem Meeting gehen, dass sie auf dem Weg waren, das nächste Tinder zu werden. Aber leider war nach seiner Einschätzung so ziemlich das Gegenteil der Fall. „Danke für die Blumen”, meinte er schließlich, als Giancarlos Sprechfluss verebbte, „Aber das ist doch nicht alles, oder?” Sein Gegenüber hielt inne. „Du bist immer so schrecklich direkt”, stellte er fest, dann seufzte er. „Nein, das ist nicht alles. Es gibt ein großes Aber.” „Und das wäre?” „Unser neuer Investor ist abgesprungen.” Kai verzog keine Miene, obwohl er durchaus erstaunt war. Dieses Problem war weitaus größer als er angenommen hatte. Längere Verhandlungen, klar, weniger Geld, okay - aber ganz abgesprungen? Das war schlecht. Für Jürgens-McGregor war ihr Unternehmen nicht lukrativ genug, als dass sie Alleininvestoren bleiben würden. Der Plan war, wie immer, das Unternehmen irgendwann zu einem ordentlichen Preis zu verkaufen. Sollte das aus irgendeinem Grund nicht gehen, dann drehten sie lieber komplett den Geldhahn zu als sich noch länger mit ihnen herumzuschlagen. Kurzum: Sie waren ganz schön am Arsch und Giancarlo würde sich um Kopf und Kragen reden müssen, um Ralf davon zu überzeugen, den Laden noch eine Weile am Laufen zu halten. „Tja”, sagte Kai schließlich. „Shit.” „Die meisten wissen noch nichts davon”, fing Giancarlo an, „Ich spreche diese Woche mit dem mittleren Management, und später könnt ihr es auch euren Teams sagen. Es ist noch nicht klar, was passiert, aber” Er warf ihm einen Blick zu und senkte ein wenig die Stimme, „Falls du Vorbereitungen treffen willst, fang an, dich umzusehen.” „Hat Ralf die Sache nicht gut aufgenommen?”, hakte Kai nach, obwohl ihm die Antwort eigentlich schon klar war. Giancarlo lachte freudlos auf. „Kann man wohl so sagen. Und Johnny ist noch weniger begeistert davon. Um ehrlich zu sein, ich bin froh, dass er gerade nicht hier ist.” „Denkst du, es wird bald Entlassungen geben?” „Es ist zu früh, um das zu sagen”, antwortete Giancarlo. „Ich weiß noch gar nicht, wie es weitergehen soll. Ob ich einen neuen Investor suchen darf oder…” Er beendete den Satz nicht. Kai dachte an sein Team, vor allem an Giulia. Einfache Angestellte wie sie waren meist die ersten, die rausflogen. Zum Glück hatten die meisten einen EU-Pass, was ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichterte. Personen wie Max allerdings durften überhaupt nur im Land bleiben, wenn sie einen Job hatten. Ihn würde eine Kündigung besonders hart treffen. Giancarlo hingegen würde höchstwahrscheinlich in irgendeinem anderen Jürgens-McGregor-Unternehmen einsteigen; genau wie Kai selbst. „Was meinst du, wann Ralf und Johnny entscheiden werden?”, fragte er schließlich. Giancarlo hob die Schultern. „Innerhalb der nächsten Wochen, vermute ich. Bis Ende Juni wird wohl eine Entscheidung da sein.” Kai nickte. Er freute sich nicht gerade darauf, dem Team sein Wissen über Wochen vorenthalten zu müssen. Zumal sie alle noch dachten, dass dank des Releases alles wunderbar war. Für sie würde das Aus wie aus dem Nichts kommen; mit ein wenig Pech würden die meisten von ihnen nicht einmal eine Abfindung erhalten. Diese Gedanken verfolgten Kai, als er Giancarlo wieder verließ. Kurz sah er sich im Büro um, wo nun ein paar mehr der viel zu jungen, viel zu begeisterungsfähigen Mitarbeitenden saßen und sich den Rücken krumm machten für ihr eigentlich viel zu abgeklatschtes Produkt. Mit einem Mal schrie alles in ihm nach frischer Luft. Kurzentschlossen stopfte er sein Portemonnaie in die Hosentasche und beschloss, eine verfrühte (und vermutlich auch verlängerte) Mittagspause zu machen. Auf der Straße stand die Luft. Nichts vermochte die Menschen von der Hitze zu schützen, die von den Häusern, dem Asphalt, den Gehwegplatten abprallte. Touristen verschafften sich Erleichterung in den heruntergekühlten Edelboutiquen und standen Schlange vor dem Coffeeshop. Kai seufzte, dafür hatte er jetzt keine Geduld. Um die Ecke gab es einen Streifen Grün, zu klein, um Park genannt zu werden, aber immerhin. Dorthin zog es ihn nun. Es hieß zwar, dass Berlin eine grüne Stadt war, doch in seinem Arbeitsalltag merkte er davon nichts. Der Weg zu seinem Büro verlief zum größten Teil durch Mitte, und dort verschwanden gerade die letzten Bäume zugunsten von immer mehr neuen Gebäuden. Die wenigen verbliebenen Grünflächen waren uninteressant und daher meistens leer. Aber genau deswegen kam Kai gerne hierher. Er setzte sich auf eine bereits gräulich verfärbte Holzbank in den Schatten und sinnierte eine Weile über das, was er soeben erfahren hatte. Wie er es auch drehte und wendete, immer kam er zu dem Schluss, dass Giancarlo es einfach vergeigt hatte. Die Firma war eigentlich schon zum Scheitern verurteilt. So wie Kai Ralf und Johnny kannte, hielten sie sich nicht lange mit einer Datingplattform auf. Der Markt für Angebote wie ihres war sowieso schon gesättigt und die Konkurrenz wesentlich etablierter. Giancarlo hatte nicht per se allein falsch gehandelt, die Situation war allgemein schon sehr angespannt und es hätten wahrscheinlich schon vor Jahren andere Entscheidungen getroffen werden sollen. Es war leicht, das im Rückblick zu behaupten. Ein bisschen tat es ihm Leid für Giancarlo, vor allem, da dieser gerade seine große Liebe in Olivier gefunden hatte. Klar, Ralf und Johnny konnten ihm ein anderes Angebot machen, doch Berlin war nun nicht gerade eine Start-up-Wiege, und so würde er vielleicht sogar in ein anderes Land ziehen müssen. Es sei denn, er hatte einen alternativen Plan, aber das bezweifelte Kai. Und er selbst? Ob sein Großvater ihn zurücknehmen würde - jetzt schon? Vielleicht war das alles ein sehr glücklicher Zufall, um seiner Karriere wieder Schwung zu geben. Doch wenn Kai ehrlich zu sich war, so glaubte er nicht daran. Wahrscheinlich war, dass Ralf auch ihn irgendwo anders hinschickte, zu irgendeinem anderen langweiligen Unternehmen in einer Stadt, die … nicht Berlin war. Zum ersten Mal löste dieser Gedanke etwas in ihm aus. Unbehagen. Hatte er sich etwa doch an die Stadt gewöhnt? Klar, ihm würden seine Leute fehlen: Takao und Hiromi, Giulia und Raoul, Rei und Lai… Und ja, verdammt, Yuriy auch. Kai seufzte vernehmlich. Da hatte er den Schlamassel, in den er nie hineingeraten wollte. Über ihm raschelte das Laub in einer der selten aufkommenden Brisen. Er lehnte sich zurück und starrte eine Zeit lang einfach nur nach oben in die sich überschneidenden Blattschichten. Staubiges Grün. Das Geräusch des Verkehrs begann in seinen Ohren zu dröhnen. Es roch nach benutzter Erde, Asche und Beton, und wie immer auch irgendwie nach Pisse. Kai dachte an nichts, und dann irgendwann an die Party am Wochenende, an die Aussicht vom Dach. An den sauren Geschmack des Sekts. An Boris’ Stimme, die so leicht den dröhnenden Bass übertönen konnte, wenn er mit leuchtenden Augen von Einspritzventilen sprach. An Yuriy, wie er am Balkongeländer lehnte und den Kopf in den Nacken legte. Er erinnerte sich, wie hungrig der Ausdruck in Garlands Gesicht bei diesem Anblick geworden war, und wie er den starken Wunsch verspürt hatte, in dafür vom Balkon zu werfen. Nein, das war nicht gut. Unbewusst verzog Kai den Mund, dann rappelte er sich auf. Schluss mit der Grübelei. Mit ein bisschen Glück war die Schlange vor dem Coffeeshop jetzt kürzer, dann konnte er sich noch einen Matcha Latte mit ins Büro nehmen. Der Andrang war tatsächlich nicht mehr allzu groß, also reihte er sich hinter einer Gruppe Mädchen ein und checkte schon mal seine E-Mails, während er wartete. Giulia hatte es jetzt auch an ihren Platz geschafft, denn sie hatte das Protokoll eines der letzten Meetings verschickt. Zwei weitere Terminanfragen waren ebenfalls aufgetaucht. Ob es irgendwo ein Unternehmen gab, bei dem weniger Wert auf Meetings gelegt wurde? „Kai? Hey Kai! Was für ein Zufall!” Die fremde Stimme riss ihn aus seinen Gedanken und er blickte auf. Am Eingang stand Brooklyn und strahlte ihn an. Kai konnte sein Erschrecken nur verbergen, weil in diesem Moment sein Matcha Latte über die Theke gereicht wurde. Doch dann blieb ihm nichts anderes übrig, als in Brooklyns Richtung zu gehen. Dieser schien niemals die Absicht gehabt zu haben, sich hier etwas zu kaufen, denn als Kai den Laden verließ, schloss er sich einfach an. Jedoch nicht, ohne ihn einmal von oben bis unten zu mustern. „Im Licht bist du sogar noch hübscher”, stellte er fest und überspielte Kais Überrumpelung mit einem Lachen. „Garland, der Idiot, hat seinen Hausschlüssel vergessen”, erklärte er dann ungefragt, „Also bin ich ein guter Mitbewohner und bringe ihn vorbei.” „Nett von dir”, murmelte Kai in seinen Becher und musterte seinerseits Brooklyn aus den Augenwinkeln. Er sah etwas gediegener aus als im Club. Außerdem trug er einen Anzug, das Sakko hatte er aufgrund der Hitze über den Arm gelegt. Sein Hemd saß tadellos. „Es tut mir übrigens leid, dass ich dich im Zentrum neulich so stehen gelassen habe”, fuhr Brooklyn fort, „Es hat eine Weile gedauert, bis ich den Typen gefunden hatte. Und dann habe ich mich auf dem Klo verlaufen. Wirklich, es war wie verhext.” „Kein Ding.” Inzwischen waren sie beim Eingang des Gebäudes, in dem sich Kais Büro befand. Er hielt seinen Chip vor den Türöffner und ließ Brooklyn dann den Vortritt. „Trotzdem schade.” Sein Begleiter war ihm einen Blick über die Schulter zu und zwinkerte. „Ich hätte dich gern näher kennengelernt.” Kai blinzelte. Er war absolut nicht daran gewöhnt, dass jemand außerhalb eines Clubs so schamlos mit ihm flirtete. Klar, Yuriy hatte auch immer einen Spruch parat, aber er war Berliner und außerdem war er nicht … so. Umso mehr erstaunte es ihn allerdings, dass Brooklyn ihn weniger aus der Fassung brachte als erwartet. Vielleicht fühlte er sich sogar ein ganz klein wenig geschmeichelt. „Dann solltest du beim nächsten Mal besser nüchtern sein”, entgegnete er also. Dann deutete er in Richtung Treppe. „Garland sitzt unten im Keller, ich muss nach oben. Also dann.” „Kai, warte.” Er hatte sich schon halb umgedreht, doch Brooklyns Stimme ließ ihn innehalten. Sein Tonfall hatte sich geändert, es lag kein Spott mehr in seinen Worten. Kai sah ihn fragend an und für einen Moment wirkte es, als würde sein Blick Brooklyn verunsichern, doch der hielt ihm stand. „Ich hab mich aufgeführt wie der letzte Arsch”, sagte Brooklyn. „Das tut mir leid. Ich hatte einen wirklich beschissenen Tag und musste mich einfach mal abschießen. Hätte ich gewusst, dass ich dich dort treffe…” Er beendete den Satz nicht, sondern lächelte Kai so entwaffnend an, dass der sich fragte, ob er ihn im Zentrum vielleicht doch falsch eingeschätzt hatte. Er konnte es niemandem verdenken, sich eine Nacht lang das Hirn wegballern zu wollen, womit auch immer - ihm ging es ja gerade nicht anders. „Ich hab mich tagelang darüber geärgert, wie es gelaufen ist”, fuhr Brooklyn schließlich fort, „Deswegen bin ich auch so froh, dass ich dich heute gesehen habe. Ehrlich” Er machte eine Pause und atmete hörbar ein. „Das war ernst gemeint. Ich würde dich wirklich gern besser kennenlernen.” Schon wieder wusste Kai nicht, was er sagen sollte. Zu behaupten, dass Brooklyns Worte nicht bei ihm ankamen, wäre gelogen. Der Junge hatte Charme, das musste man ihm lassen. Trotzdem, er hatte nicht vergessen, was Giulia über Garland und Brooklyn gesagt hatte, und außerdem war er nun wirklich nicht leicht zu haben. „Das ist süß”, sagte er also, „Aber ich muss jetzt weiterarbeiten.” Manch anderer wäre wohl beleidigt gewesen, nicht aber Brooklyn. Zwar weiteten sich seine Augen angesichts dieser Abfuhr, er fing sich jedoch sehr schnell. „Okay, hey, kann ich dir wenigstens meine Nummer geben?” Er grinste schon wieder so unschuldig. „Dann kannst du mich erreichen, wenn du es dir anders überlegst.” Nun konnte Kai ein ungläubiges Auflachen nicht verhindern. Der hatte echt Nerven! Er hob die Schultern. „Wenn es dich glücklich macht…” Brooklyn strahlte. Von irgendwoher zog er einen winzigen Notizblock und einen Stift und kritzelte seine Telefonnummer hin. Den Zettel riss er vorsichtig ab, bevor er ihn an Kai weitergab. „Cool.” „Cool”, wiederholte Kai und schob den Zettel in seine Gesäßtasche. „Dann bis irgendwann mal.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)