Großstadtgeflüster von lady_j ================================================================================ Kapitel 9: Jeder Weg führt wieder hierher ----------------------------------------- Boris, Sergeij und Salima waren schon wieder nach unten gegangen. Yuriy hatte sich anders hingesetzt, die Beine angezogen, damit er Kai direkt ansehen konnte. Die fast leere Sektflasche stand zwischen ihnen. Er spürte, wie langsam die beruhigende Wirkung des Grases einsetzte und die Nervosität vertrieb, die manchmal von ihm Besitz ergriff. Zusammen mit Alkohol konnte der Effekt überwältigend sein, aber der Tag bisher war gut verlaufen, und so fühlte er sich auf der sicheren Seite. Er betrachtete Kai und versuchte einmal mehr, zu ergründen, was er von ihm hielt. Ihm gefiel was er sah, natürlich, und es ließ sich nicht leugnen, dass eine gewisse Spannung zwischen ihnen herrschte, die ihn ständig dazu verleitete, spitzfindige Bemerkungen zu machen. Manchmal gab es Momente, in denen sie sich ohne Worte verstehen konnten - das wiederum war ihm ein wenig unheimlich. Er ahnte, dass Kai und er ähnlich tickten, wenn sie auch auf ganz unterschiedliche Erfahrungen zurückgriffen. Und darüber hinaus? Yuriy fragte sich, ob er ihm vertrauen konnte. Kai hatte ihm bisher keinen Grund gegeben, es nicht zu tun. Trotzdem: Hinter seinem eigenen freundlichen Gebaren und seinen Flirts stand Wachsamkeit. So sympathisch ihm der andere auch war, er hatte nichts von dem vergessen, was Takao ihm erzählt hatte. „Eine Sache ist mir nicht ganz klar, weißt du”, sagte er schließlich. Kai drehte den Kopf zu ihm, seine Augen wie dunkle Abgründe in seinem Gesicht und trotzdem klar, auch wenn er schon etwas angetrunken sein musste. „Du hast gesagt, du weißt nicht, ob du noch lange hier bleiben willst”, fuhr Yuriy fort, „Aber wohin würdest du gehen wollen? Etwa wieder zu deinem Großvater?” Anstatt zu antworten griff Kai nach der Flasche und nahm noch einen Schluck. Dann hielt er sie auf dem Schoß fest. „Ja, wahrscheinlich schon”, sagte er leise. „Ich dachte, ihr hasst euch.” „Oh ja.” Kai verzog den Mund. „Aber so dumm es klingt, ich vermisse es, mit ihm zusammenzuarbeiten. Als ich noch bei Hiwatari Enterprises war, hatte ich das Gefühl, tatsächlich etwas bewegen zu können. Das hat mich über das gesamte Studium angetrieben. Aber jetzt?” Er schnaubte und trank noch ein bisschen mehr. „Unsere Firma macht eine verdammte Dating-App, Yuriy.” „Das wusste ich nicht.” Yuriy konnte nicht anders als kurz aufzulachen und Kai fiel mit ein. „Lächerlich, oder?” „Allerdings!” Kais Schultern bebten noch einmal kurz, bevor er wieder ernst wurde. Das Lächeln in seinem Gesicht wurde zu einem seltsamen Abklatsch. „Eigentlich ist es dumm”, sagte er. „Ich habe mir selbst den Weg verbaut. Ursprünglich sollte ich Geschäftsführer von Borg werden, weißt du.” Yuriy erinnerte sich an den Namen. „Das war doch die Firma, die bei deinem versauten Deal in Russland bankrottgegangen ist, oder?” „Richtig”, bestätigte Kai. „Also selbst wenn ich vor meinem Großvater zu Kreuze krieche - ich weiß nicht, ob ich bei ihm überhaupt eine Aufgabe hätte.” Er ächzte einmal sehr laut, und Yuriy schon diesen offenen Gefühlsausbruch ein bisschen auf den Alkohol. „Ich bin nutzlos!” „Ja, aber…” Yuriy griff nun selbst nach der Flasche. „Aber du kannst doch nicht alles nur von deinem Job abhängig machen. Ich meine-” Es war nur noch ein letzter Schluck drin, den er kurzerhand austrank, „Hast du kein Hobby?” Kai sah ihn stumm an. „Junge, was machst du mit deiner Freizeit?”, fragte Yuriy entgeistert. „Ich habe kaum welche”, antwortete Kai schlicht. „Und wenn doch, dann gehe ich tanzen und lande am Ende in einer Platte in fucking Marzahn bei irgendwelchen Russen. Ich weiß ja auch nicht, wie das immer passiert.” Yuriy grinste müde. „Okay.” Er beugte sich vor und tippte an Kais Stirn. „Erste Lektion: Beschäftige dein Hirn mit irgendetwas anderem als deiner Arbeit. Ich weiß, dass in deinem Oberstübchen so einiges drin steckt. Benutz es mal wieder.” Mit diesen Worten erhob er sich, um endlich das Dach zu verlassen. „Sagt der, der sich sein eigenes Hirn gerade vernebelt hat!”, rief Kai ihm hinterher, doch Yuriy konnte hören, wie er sich ebenfalls aufrappelte und ihm folgte. Er hielt die Tür auf und wartete, bis Kai an ihm vorbei nach drinnen gekommen war, bevor er sie zufallen ließ. Augenblicklich standen sie in kompletter Dunkelheit. Kai hielt inne und fluchte leise. Hinter ihm sah Yuriy die kleine Lampe des Lichtschalters leuchten, machte sich aber nicht die Mühe, diesen auch zu betätigen. „Hey Kai?”, sagte er in die Schwärze hinein und spürte, wie der andere sich bewegte, ihn kurz streifte. „Hm?” Er fragte sich, ob die nächsten Worte angebracht waren. Aber Scheiß drauf. „Bleib doch einfach noch ein wenig in Berlin, ja?” Von Kai kam ein amüsiertes Geräusch. „Ich hatte nicht vor, morgen abzureisen.” Er machte eine Pause, dann klang seine Stimme vollkommen ernst: „Aber ja. Ist okay.” Sie begannen, die Treppen hinab zu steigen, und als sie ein Stockwerk tiefer waren ging plötzlich das Licht an. Ein paar andere Gäste kamen gerade an, sie trafen sich an der Wohnungstür. Yuriy kannte sie nur flüchtig, er meinte, es wären Freunde von Salima. In der Wohnung war es schon etwas voller geworden. Ivan quälte die Leute mit Industrial. In der Küche saßen Raoul und Lai und sahen sich tief in die Augen. Im Flur unterhielt sich Mathilda mit Raouls Schwester und Reis Freundin Mao, die Yuriy kurz in eine Umarmung zog, als er an ihr vorbeiging. Boris und Sergeij hatten wieder ihren Platz auf dem Sofa eingenommen und Kai ging nun festen Schrittes auf die beiden zu, um sich zu ihnen zu gesellen. Yuriy hoffte inständig, dass er sich mit seinen Bemerkungen über Boris’ Auto zurückhielt, sonst würde er am Ende doch morgen die Stadt verlassen müssen. „Na”, sagte Ivan, als er sich wieder neben ihn ans Pult stellte, „Fertig mit Knutschen?” „Knutschen?” „Das war doch der Typ vom letzten Wochenende, oder? Boris hat gesagt, du hast ihn mit nach Hause genommen.” „Oh mein Gott”, stieß Yuriy aus und hob den Kopf, um seinen Mitbewohner quer durch den Raum böse anzustarren. Boris musste den Blick körperlich gespürt haben, denn er drehte sich bereits nach ein paar Sekunden zu ihm um. Versuchte unschuldig zu gucken, doch Yuriy machte eine fahrige Handbewegung in Kais Richtung, dann zu Ivan, und breitete fragend die Arme aus. Kai, der bemerkt hatte, dass es um ihn ging, hob die Augenbrauen. Boris legte wie getroffen eine Hand auf sein Herz und zwinkerte ihm mit einem dreckigen Grinsen zu. Yuriy zeigte ihm den Finger. „Ach komm, Yura, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn”, sagte Ivan, dem die kleine Interaktion natürlich nicht verborgen geblieben war. „Haltet doch einfach alle die Schnauze”, murmelte Yuriy und würgte aus Rache Ivans Track ab, um wieder seinen eigenen Mix zu starten. „Ey, sag mal hackt’s?”, rief Ivan. Yuriy war versucht, irgendetwas sehr Dämliches anzuspielen, aber eigentlich hatte er etwas anderes vor. „Wart doch erst mal ab, der hier ist gut…” Es war der neue Song eines DJs, den sie beide mochten und den er sich erst vor kurzem heruntergeladen hatte. Er hielt das für ein ziemlich gutes Ablenkungsmanöver, und tatsächlich: Nach ein paar Sekunden kam der erste Bass Drop und versetzte nicht nur die Boxen und ihr Pult in Vibrationen, sondern anscheinend gleich das ganze Zimmer. Ivan riss die Augen auf und presste sich die Faust vor den Mund. Dann bot er Yuriy die Hand zum High Five und sie schlugen ein, ungeachtet der Tatsache, dass Salima sich schon wieder beschwerte, diesmal über sie beide. So war ihre Freundschaft wiederhergestellt; und auch Boris reckte beide Daumen in die Luft, als Yuriy das nächste Mal in seine Richtung sah. In den nächsten Minuten trieben sie es ziemlich auf die Spitze. Mit Ivan konnte es eigentlich nie zu wild oder zu hart werden, und so sehr Yuriy die Clubs auch liebte, es war nicht möglich, dort alles zu spielen was er wollte. Also mussten die Gehörgänge ihres Freundeskreises darunter leiden - zumindest solange, bis ihm jemand auf die Schulter tippte. Es war der Typ, den Kai mitgebracht hatte. Er forderte Yuriy mit einer Geste auf, sich zu ihm zu beugen, damit er in sein Ohr sprechen konnte: „Die Polizei stand gerade vor der Tür!” „Whoops.” Yuriy stieß Ivan an und drehte die Musik herunter. „Sorry, Bullen”, sagte er in den Raum hinein. Von Boris kam eine abfällige Bemerkung, die er geflissentlich ignorierte. Besser so, als wenn in einer halben Stunde zwei Wachtmeister in der Wohnung standen und sie das Gras verschwinden lassen mussten. Die meisten anderen schienen aber sowieso dankbar zu sein, dass sie sich wieder in einer normalen Lautstärke unterhalten konnten. Er drehte sich wieder zu Kais Kollegen um. „Danke, äh…” „Garland.” „Garland, richtig. Hast du sie abgewimmelt?” „Ja, war ganz leicht.” Sein Lächeln wirkte recht unverbindlich, mehr wie eine höfliche Geste. Trotzdem blieben seine Augen wachsam auf Yuriy gerichtet. Garland trug die Haare in einem glatten Pferdeschwanz. Der Körper in dem engen, schwarzen Shirt war wie in Stein gemeißelt, sodass Yuriy sich kurz fragte, ob sein Gegenüber wohl eine zweite Karriere als Athlet verfolgte. „Danke”, sagte er noch mal, „Hoffen wir, dass sie nicht so schnell wiederkommen.” Es war trotzdem traurig, dass ihre Session ein so jähes Ende gefunden hatte. Er hatte sich gerade erst wieder warm gespielt. Garland hob die Flasche, die er in der Hand hielt. Sie war fast leer. „Willst du auch noch eins?” Yuriy nickte in einem spontanen Entschluss. „Lass uns in die Küche gehen.” Er folgte dem anderen, lief dann aber beinahe in ihn hinein, als er plötzlich wie angewurzelt im Türrahmen stehenblieb. Über Garlands Schulter hinweg sah er Lai und Raoul, die wild knutschend an der Anrichte lehnten. Er räusperte sich einmal vernehmlich und schob sich dann an Garland vorbei. Die beiden anderen nahmen keine Notiz von ihm, selbst dann nicht, als er direkt neben ihnen den Kühlschrank öffnete, zwei Bierflaschen herausnahm und Garland mit einer Kopfbewegung zum Balkon lotste, der sich an die Küche anschloss. Von dort aus blickten sie in den Innenhof hinab, in dem es nun, nachdem sie die Musik abgedreht hatten, wesentlich stiller war. Nur noch weniger Fenster rundherum waren erleuchtet. Auf einmal roch es nach Regen, fast wie eine Ahnung. Der Wind war kühler geworden. Die Blumenkästen am Balkongeländer waren leer bis auf eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug. Yuriy bediente sich, doch Garland hob ablehnend die Hand, als er ihm die Schachtel hinhielt. „Also”, sagte er, während der erste Strom Rauch seinen Mund verließ, „Was treibst du so?” Garland gehörte zu den Menschen, die sehr ausführlich über sich selbst sprechen konnten, wenn man sie nur ließ. Er war gebürtiger Brite, seine Eltern ursprünglich aus Indien. Studiert hatte er in London, allerdings nicht zusammen mit Kai oder Jürgens. Diese hatte er erst hier in Berlin kennengelernt, als er bei Giancarlo eingestiegen war. So weit, so langweilig. Bei der ein- oder anderen Schleife, die sein Karriereweg geschlagen hatte, kam Yuriy nicht mehr mit, nickte aber brav, während er sich auf seine Zigarette und sein Bier konzentrierte und die immer noch vorherrschende Leichtigkeit in seinem Hirn, die von all dem und der Musik herrührte. Garlands Stimme war durchaus angenehm, sehr tief mit einer weichen Aussprache. Und wenn er schon nichts Interessantes zu sagen hatte, so boten immerhin seine Armmuskeln bei jeder Bewegung eine nette Show. Man musste sich auch mal mit den kleinen Dingen zufrieden geben. Schließlich hatte Garland genug über sein Leben gesprochen und stellte nun seinerseits Yuriy Fragen. Also erzählte er, was er immer erzählte, und sein Gegenüber reagierte so, wie er es gewöhnt war. Ihr Gespräch war vielleicht ein bisschen bedeutungslos, aber durchaus angenehm. Es inspirierte Yuriy genug, um sich irgendwann eine zweite Zigarette anzuzünden, auch wenn er heute Nacht schon mehr als genug geraucht hatte. Er ahnte, dass es ihm morgen schrecklich gehen würde und er deswegen lieber früher als später Boris einsammeln und nach Hause fahren sollte. Garland sprach gerade über die vielen Freizeitbeschäftigungen, denen er in seinem Leben schon nachgegangen war, aber Yuriy achtete erst wieder auf ihn, als das Wort „Gesangsausbildung” fiel. „Du kannst singen?”, hakte er nach. Garland schien sich zu freuen, dass er überhaupt auf seine Worte reagierte, druckste dann aber ein wenig herum. „Naja, wie schon gesagt, ich war im Unichor, aber das war eigentlich schon alles…” „Ja. Pass auf.” Mit neuem Elan drückte Yuriy seine Zigarette aus. „Ich suche Leute, mit denen ich Vocals aufnehmen kann. Für meine Tracks. Es ist auch nicht viel, ich meine, du kennst die Musik.” Er gestikulierte in die Wohnung hinein. „Vielleicht vier bis sechs Verse pro Song, mehr nicht. Meine Leute habe ich schon genug ausgebeutet. Und gerade bin ich es Leid, das immer selbst machen zu müssen.” „Das heißt, du singst auch?”, entgegnete Garland und wirkte nun doch interessiert. „Autotune ist mein bester Freund”, antwortete Yuriy grinsend (und wusste, dass genau dieses Grinsen das Zünglein an der Waage werden könnte). „Also, was meinst du?” „Hm, warum nicht…” „Yuriy?” Er drehte den Kopf und sah Kai, der an der Balkontür stand, die sie angelehnt hatten. Yuriy streckte die Hand aus und stieß sie auf, damit Kai zu ihnen herauskam. Auf der kleinen Plattform wurde es mit einem Mal ziemlich eng. „Bei Raoul und Lai geht’s ja ganz schön ab”, sagte Kai mit gesenkter Stimme, sobald er neben ihm stand, und wies mit dem Daumen über seine Schulter zurück in die Wohnung. „Knutschen sie immer noch?”, flüsterte Yuriy. „Kein Ende in Sicht.” Kais Mund verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. „Und Giulia ist auch komplett hingerissen von Mathilda. Habt ihr irgendwas ins Bier gemixt?” „Drum and Bass ist ein Aphrodisiakum”, behauptete Yuriy im Brustton der Überzeugung und legte den Kopf in den Nacken, um den beiden anderen nicht den Rauch ins Gesicht zu pusten. Seine Stimme war schon ganz rau. In diesem Moment spürte er nicht einen, sondern zwei intensive Blicke auf sich, wie zarte, elektrische Schläge, die über ihn zuckten. Seine eigenen Bewegungen wurden ihm mit einem Mal viel bewusster als zuvor. Manchmal, wenn er entspannt war und ein bisschen benebelt, liebte er diese Art von Aufmerksamkeit. Kai räusperte sich. „Eigentlich wollte ich mich verabschieden. Sonst komme ich morgen gar nicht aus dem Bett”, sagte er, während Yuriy den Kopf wieder senkte. „Garland, kommst du auch mit?” Der Angesprochene schien zu überlegen, dann nickte er jedoch. „Schade”, sagte Yuriy zu Kai und breitete die Arme aus, damit sie sich kurz umarmen konnten. „Schreib mir, okay?!” Er fing den spöttischen Blick der dunklen Augen ein, dann machte Kai eine unbestimmte Bewegung mit dem Kopf, die vielleicht ein Nicken war. Er hob noch einmal die Hand, dann drehte er sich um und schlich durch die Küche zurück. „Also dann.” Yuriy wandte sich wieder an Garland. „Komm gut nach Hause.” Sein Gegenüber zögerte sehr offensichtlich, als würde er überlegen, ob er seine Gedanken wirklich aussprechen sollte. „Soll ich dir meine Nummer geben?”, fragte er schließlich, „Dann kannst du mich kontaktieren, wenn du meine Stimme brauchst.” Das hatte Yuriy jetzt fast vergessen. „Klar, sicher”, murmelte er zerstreut und reichte ihm sein Handy, damit er sich eintragen konnte. Der Regen, der am nächsten Morgen einsetzte, war eine Erleichterung. Die Sommer in der Stadt konnten kräftezehrend sein, wenn wochenlang die Sonne schien, nur selten unterbrochen von abendlichen, heftigen Gewittern, denen stundenlanges Wetterleuchten vorausging. Die Menschen sammelten so viele Sonnenstunden wie möglich, denn sie wussten, dass der Winter lichtlos und trüb werden würde. Trotzdem - nach der ersten Euphorie wurde diese Getriebenheit manchmal zur Last. Und so lag Yuriy verkatert in seinem Bett, beobachtete, wie die grauen Wolken trieften und war froh, dass es wirklich keinen Grund für ihn gab, die Wohnung verlassen zu müssen. Er konnte damit leben, an diesem Wochenende keinen Job zu haben - dank seiner Schichten im White Tiger musste er nicht sofort fürchten, in Geldnot zu geraten. Er hörte, wie Boris durch die Wohnung lief und irgendwann ins Bad ging, um zu duschen, konnte sich aber nicht erinnern, ob sein Mitbewohner heute etwas vorhatte. Das Rauschen des Wassers machte ihn schläfrig, und so döste er wieder ein, bis Boris schließlich an seine Tür klopfte. Er brummte und richtete sich auf, als der andere die Türklinke mit dem Ellenbogen bediente und hereinkam, zwei Teetassen in der Hand. „Guten Morgen.” Yuriy war selbst erschrocken über seine Stimme. Sie war kratzig und rau wie Sandpapier. „War ein bisschen viel, was?”, fragte Boris und reichte ihm eine Tasse. Dann setzte er sich ans Fußende des Bettes. Der Duft seines Duschgels wehte wie eine kleine Welle über Yuriy hinweg, der sich augenblicklich sehr ungepflegt fühlte. „Hast gestern geraucht wie ein Schlot, ich wollte mir schon Sorgen machen.” Yuriy zog die Beine an und lehnte sich gegen die Wand. Er runzelte die Stirn. „Es haben überall Kippen gelegen, Borya, überall! Ich konnte nicht anders.” Der Tee tat seiner Kehle gut, auch wenn er noch ein bisschen zu heiß war. „Hast du Lai und seinen Kleinen gesehen?” „Flüchtig”, entgegnete Boris. „Ich war abgelenkt von der Schwester. Mann, was ein Gerät.” „Hat Mathilda auch festgestellt.” „Ha. Kann ich ihr nicht verdenken.” Boris grinste in seine Tasse. „Meinst du, Kai hat noch mehr heiße Kollegen?” „Frag ihn”, murmelte Yuriy und schloss kurz die Augen, versuchte, zu entscheiden, ob er eine Schmerztablette brauchte. Aber eigentlich war er zu faul, um aufzustehen. „Apropos Kai”, sagte er, „Was hast du Vanja für einen Scheiß über uns erzählt?” Boris wirkte ertappt, hob aber beide Hände. „Nichts, er hat gefragt wie es letzten Samstag war, ich hab ihm erzählt was los war. Weiter nichts. Walla!” Er grinste schon wieder. „Und außerdem - was soll ich denn sagen? Du sprichst ja selber nicht darüber, was passiert ist.” „Weil es euch ausnahmsweise mal nichts angeht”, entgegnete Yuriy. „Okay.” Das war das Angenehme mit Boris: Wenn er klare Bitten an ihn formulierte, hielt er sich auch daran. Sie tranken schweigend ihren Tee und Yuriy merkte, wie er langsam wacher wurde. Er hatte gestern mehr geraucht als getrunken, und obwohl seine Stimme für die nächsten zwei Tage wohl so bleiben würde, dürfte der Kater nicht allzu lange anhalten. Alles in allem war er noch gut davongekommen. Er erinnerte sich an ganz andere Wochenenden, an denen sie weitaus länger und wilder gefeiert hatten. Boris und er waren ziemlich anstrengende Teenager gewesen, nie zu Hause und immer mit Dingen beschäftigt, die sie eigentlich nicht hätten machen sollen. Ein Wunder eigentlich, dass sie nicht komplett abgerutscht waren. Die Standpauken seiner Mutter klangen bis heute in Yuriy nach; sie wirkten eindrücklicher auf ihn als die Arschtritte seines Vaters. Als er die Musik für sich entdeckt hatte, waren seine Eltern zunächst genervt, dann aber froh, dass er fortan mehr Zeit in den eigenen vier Wänden verbrachte als draußen. Dass sie in der Konsequenz Boris halb adoptieren mussten, nahmen sie stillschweigend hin. Sein Blick wanderte zu seinem besten Freund, der inzwischen auch weiter auf sein Bett gerutscht war und mit dem Rücken zur Wand saß. Normalerweise war Yuriy es, der ihn so lange bedrängte, bis er alle dreckigen Details seiner Eskapaden gestand. Er ahnte, dass genau aus diesem Grund Boris auch nicht aufhören würde, ihn nach Kai zu fragen. Rachegelüste und Neugier, eine wirklich ungünstige Kombination. „Und dieser andere Typ?”, fragte Boris in diesem Moment. „Wen meinst du?” „Den Kai mitgebracht hat. Lange Haare, Körper wie Bruce Lee?” „Ach ja!” Yuriy seufzte. In seiner Erinnerung waren die letzten Stunden auf der Party etwas verschwommen. „Garland. Der hat mich ziemlich zugetextet. Aber angeblich kann er singen, also nehme ich vielleicht ein paar Vocals mit ihm auf.” „Vocals.” Boris zog die Augenbrauen hoch und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Ja.” Yuriy sah zurück. „Was?” „Junge. Der Kerl hat dich gedanklich schon ausgezogen. Was der mit dir vorhat, hat mit Musik nichts zu tun.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)