Großstadtgeflüster von lady_j ================================================================================ Kapitel 8: Schick gemacht, Sektpulle in der Hand ------------------------------------------------ „Es gibt noch hundert andere Restaurants in dieser Gegend - Warum gehen wir immer ins White Tiger?”, fragte Kai, als er am Mittwochabend Giulia und Raoul vor seiner Haustür traf. „Weil es nur im White Tiger einen Kellner gibt, den es sich lohnt, anzusehen”, erklärte Raoul ihm im Brustton der Überzeugung. Kai zog die Augenbrauen hoch und sah Giulia an, die nur die Schultern hob. „Raoul hat sich verguckt. Und mir hat er versprochen, dass er heute zahlt, also ist mir eigentlich egal, wo wir hingehen.” Das erklärte natürlich alles. Kai hatte sich schon gefragt, warum die beiden sich nicht mehr nur mit dem Bier vom Späti begnügten, sondern in letzter Zeit immer gleich auf einem ganzen Abendessen bestanden. Ihm sollte es recht sein, er kochte nicht sonderlich gerne, vor allem nur für sich allein. Außerdem kannte er Rei und Lai. Aber so gut man sich mit ihnen auch unterhalten konnte, so langsam wurde es langweilig. Für heute ließ er sich noch einmal breitschlagen, beugte sich aber kurz zu Giulias Ohr. „Wer ist denn der Glückliche? Rei?” Sie schnaubte. „Quatsch! Es ist Lai. Hast du das nicht gemerkt?” Absolut nicht; und Kai war auch nicht bekannt dafür, immer den neuesten Klatsch und Tratsch zu kennen, das müsste Giulia eigentlich wissen. Er schüttelte leicht den Kopf und beschleunigte seine Schritte, denn Raoul war inzwischen schon weiter vorausgeeilt. Es ging jetzt auf Ende Mai zu. Die Tage wurden immer länger und Regen war selten geworden. Die Sonne strahlte ungehindert auf Straßen und Häuser, die abends ihre Wärme abgaben, sodass sie ohne Jacken draußen sitzen konnten. Die Restaurants hatten Fenster und Türen geöffnet und das Leben zog wieder auf die Straße, wo es den ganzen Sommer über bleiben würde. Man konnte auf dem Gehweg kaum geradeaus gehen, ständig musste man Tischen, Stühlen und Menschen ausweichen. Auch das White Tiger hatte noch ein paar Sitzgelegenheiten mehr nach draußen gestellt. Dort war jedoch schon alles besetzt, weshalb sie sich von Rei drinnen eine ruhige Ecke zuweisen ließen. Lai war auch da; Kai sah ihn flüchtig auf der anderen Seite des Raumes hin und her eilen. Wahrscheinlich hatte er sie noch gar nicht bemerkt. Raoul hingegen starrte schon sehr ungeniert. Er und Giulia setzten sich mit dem Rücken zur Wand, sodass sie das Geschehen gut im Blick hatten (Giulia beobachtete einfach gern Leute). Kai saß ihnen gegenüber, was ihm aber ganz Recht war, denn er wollte wirklich nur essen und wieder gehen. Sein Tag war lang gewesen, wie schon die ganze Woche, und er sehnte sich nach seinem Bett. Anscheinend war auch sein Körper nicht mehr an das Feiern gewöhnt, denn ihm war, als spürte er den Schlafmangel vom Wochenende noch immer. „Wunderschönen guten Abend!” Eine Hand tauchte in Kais Blickfeld auf und legte Speisekarten auf den Tisch. Er wollte sich nickend bedanken, als sein Blick an dem dazugehörigen Unterarm hängen blieb, über den sich die bunten Flächen einer Tätowierung zogen. Er erkannte ein paar Sterne, die Umrisse eines Sputniks und am Handgelenk ein Play/Pause-Zeichen. Diese Motive kamen ihm auf einmal erschreckend bekannt vor. Er zuckte zurück und drehte sich um. „Yuriy!” Es war tatsächlich der Rothaarige, der hinter ihm stand und ihn angrinste. Offensichtlich hatte er ihn schon wesentlich früher bemerkt und sich einen Spaß daraus gemacht, ihn nicht sofort anzusprechen. Kai musterte ihn flüchtig; er trug ein schwarzes Hemd und eine einfache, ebenfalls schwarze Hose und sah grundsätzlich weniger wild aus als im Club. An seinem Gürtel hing eines der Smartphones, die die Kellner hier für die Aufnahme der Bestellungen benutzten. „Wie viele Jobs hast du eigentlich?”, fragte Kai, dem auf die Schnelle nichts Besseres einfiel. „Im Augenblick drei”, entgegnete Yuriy, „Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.” Zu behaupten, diese Begegnung überrumpelte Kai, wäre eine Untertreibung. Verwirrt stellte er fest, dass Yuriy ihn auch im nüchternen Zustand völlig vereinnahmen konnte. Er freute sich, ihn zu sehen, natürlich - gleichzeitig machte es ihn nervös, und wenn er an das Wochenende zurückdachte, fühlte er sich auch ein wenig peinlich berührt. Es war einfach zu viel in zu kurzer Zeit zwischen ihnen passiert, als dass Yuriy jetzt einfach so aus heiterem Himmel vor ihm stehen konnte. Er hoffte, dass es seinem Gegenüber wenigstens auch ein bisschen so ging - wenn, dann sah man es ihm nicht an. Doch auch Kai wäre nicht Kai, wenn er sich seine Unsicherheit auch nur im Geringsten anmerken lassen würde. „Findest du nicht, dass du in einem Irish Pub besser aufgehoben wärst?”, stichelte er. Yuriy verdrehte die Augen. „Rate mal, wie oft ich mir den Spruch schon anhören durfte.” „Bestimmt nicht so oft wie Bitte, bitte stiehl mir nicht meine Seele!” „Richtig. Aber fast so oft wie Bist du untenrum eigentlich auch rothaarig?” Angesichts von Kais pikierter Miene, die er bei diesen Worten aufsetzte, grinste Yuriy selbstgefällig, dann ließ er den Blick über Giulia und Raoul schweifen. „Sorry. Wir kennen uns.” „Kein Ding.” Giulia lächelte Yuriy breit an, und Kai ahnte, dass sie wohl gern die Antwort auf die letzte Frage gewusst hätte. Yuriy griff resolut nach dem Smartphone. „Okay, wollt ihr schon was?” Dank ihrer vielen Besuche kannten Kai, Giulia und Raoul die Karte wahrscheinlich besser als er. Es war klar, dass er noch nicht lange hier arbeitete, denn er brauchte eine Weile, um alles zu finden. Nach ein paar Minuten hatten sie schließlich alles bestellt und Yuriy zog weiter zum nächsten Tisch. Er war kaum weg, als Giulia sich schon vorbeugte. „Okay, Kai”, raunte sie, „Wer ist das, woher kennst du ihn und warum flirtet ihr so hart?” Kai hob eine Augenbraue, was am ehesten der letzten Frage galt. „Yuriy ist nebenbei DJ. Er hat am Samstag im Club aufgelegt.” Giulias Mund formte ein fast perfektes O und auch Raoul, der sich einmal mehr im Raum umgesehen hatte, wandte sich nun dem Gespräch zu. „Du hast den DJ klargemacht?!” „Und wenn es so wäre, das geht euch nichts an”, sagte Kai und seufzte, weil er ahnte, dass es damit nicht getan war. „Giancarlos Neuer hat uns vorgestellt, und später sind wir ins Gespräch gekommen, weil ich Brooklyn abschütteln musste.” In diesem Moment tauchte Lai auf, um ihnen ihre Getränke zu bringen. Seine Augen waren auf Raoul fixiert, dessen Bewegungen auf einmal sehr fahrig wurden. Beinahe blind stellte Lai ihnen die Gläser hin. „Bitteschön”, sagte er zu Raoul, der ihn anstrahlte. Giulia und Kai warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Als Lai wieder ging, verfolgte Raoul jede seiner Bewegungen und Kai war sich sicher, zu wissen, wo genau er hinsah. Kurz fragte er sich, ob Yuriy bereitwillig mit ihm getauscht hatte, damit sein Kollege mit Raoul flirten konnte. „Sag das nochmal, Kai”, fing Giulia wieder an. „Du hast Brooklyn Masefield im Club getroffen? Den Ex von Garland?” „Ja, genau den.” Auf einmal wirkte sie alarmiert. „Hat er dich angegraben?” „Hm. Keine Ahnung, was er wollte. Wieso fragst du?” Giulia zögerte und drehte ihr Glas auf der Tischplatte. Sie schien zu überlegen, was sie sagen konnte und was nicht. Kai erinnerte sich, dass sie sich ganz gut mit Garland verstand; die beiden gingen öfter zusammen in die Mittagspause. „Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll”, sagte sie. „Garland hat mir ein paar Dinge über ihn erzählt, und um es kurz zu machen, das klang schon ein wenig seltsam. Ich glaube, der ist irgendwie komisch drauf.” Kai brummte. „Da war nichts”, sagte er. „Und außerdem… Ich weiß, du magst Garland, aber er ist auch nicht ganz ohne.” Garland war grundsätzlich sehr entspannt, konnte aber, wenn es denn einmal dazu kam, richtiggehend jähzornig werden. Wahrscheinlich war er einfach nicht sehr stressresistent. Ein oder zwei ihrer Praktikantinnen hatten das schon am eigenen Leib erfahren müssen. Giulia machte eine flüchtige Bewegung mit der Hand. „Ich weiß. Und seit er nicht mehr mit Brooklyn zusammen ist, ist es schlimmer geworden. Wusstest du, dass die beiden noch in derselben Wohnung leben?” Er schüttelte den Kopf und nahm endlich einen Schluck von seinem Tee. Ihn interessierte wirklich nicht, was sein Kollege für Probleme hatte. Flüchtig sah er über die Schulter zurück, doch Yuriy war nirgends zu sehen. Verdammt, es war komisch, ihn im Rücken zu wissen. Giulia hingegen war fest entschlossen, ihn in den neuesten Klatsch einzuweihen. „Garland findet einfach keine neue Wohnung. Er will unbedingt im Prenzlauer Berg bleiben, aber dort ist es gerade besonders schwierig”, erzählte sie. „Deswegen sitzt er bei Brooklyn fest. Zwar behauptet er immer, dass sie gut miteinander klarkommen, aber ganz ehrlich, ihre Definition von gut ist auch weitab von der Norm. Was bei den beiden abgeht… das ist nicht gesund.” „Wieso, was ist denn da los?”, fragte Raoul neugierig. „Ach, es gibt da ein paar unschöne Geschichten. Brooklyn kann, glaube ich, richtig übel eifersüchtig werden. Aber Garland macht auch gern Drama. Die beiden müssen sich die Hälfte ihrer Zeit nur angeschrien haben.” „Vielleicht stehen sie drauf”, meinte Kai leichthin. Flüchtig dachte er an ihre Begegnung im Zentrum zurück; Brooklyn hatte definitiv einen an der Waffel, war ihm aber doch recht harmlos erschienen. Allerdings hatten sie auch nicht länger als eine Viertelstunde miteinander gesprochen, also was wusste er schon. Es war schon alles gut, so, wie es gelaufen war. „Psst, Yuriy!” Er war gerade zum Tresen zurückgekommen, immer noch grinsend aufgrund von Kais Gesichtsausdruck, als Lai ihn in eine dunkle Ecke winkte. Verwundert trat er näher. „Alles klar bei dir?” „Das ist er!”, zischte Lai. Yuriy wollte schon fragen, wen er meinte, da sprach er weiter: „Der Spanier!” „Hä, wo?” In diesem Moment stieß auch Rei zu ihnen, der sich über Lais Gebaren genauso amüsierte wie Yuriy. „An deinem Tisch”, erklärte er. „Ach!” Yuriy machte einen langen Hals, wurde aber schnell von Lai wieder zurückgezogen. „Das ist dein Angebeteter?”, raunte er. „Ja doch! Sag mal, kennt ihr euch?”, fragte Lai. „Ich kenne nur Kai, und das auch erst seit letztem Wochenende.” „Oh”, machte Rei, „Ich hab mich schon gewundert, warum ihr so vertraut miteinander seid.” Yuriy runzelte die Stirn und wollte etwas erwidern, doch da seufzte Lai schwer. „Mist. Und ich dachte, ich finde endlich einen Grund... „ Er blickte Yuriy traurig an. „Können wir wenigstens die Tische tauschen?” Der winkte ab. „Tu was du nicht lassen kannst. Sieh mal, da sind schon ihre Getränke, kannst gleich loslegen.” Lais betrübte Miene hellte sich schlagartig auf. Mit neuem Elan nahm er das Tablett und rauschte zu dem Tisch davon, an dem Kai und die beiden Spanier saßen. Rei und Yuriy sahen ihm feixend hinterher. „Schade eigentlich”, meinte Rei, „Ich gönne es ihm, dass sie sich näher kommen. Der Kleine scheint ja auch nicht abgeneigt zu sein.” „Aber was hält ihn denn dann ab?”, fragte Yuriy. „Ich glaube, Lai fällt einfach kein Grund ein, ihn ordentlich anzusprechen. Und außerdem kriegt er wohl immer Blackouts, wenn der Kleine ihn anguckt. Es ist schon fast nicht mehr schön.” Yuriy brummte. Wenn Lai so weiter machte, kam er nie an den Spanier ran, das konnte auch ein Blinder sehen. Dabei hatte Rei durchaus Recht; der andere sandte ihrem Freund eindeutige Signale. „Sag mal”, meinte er nach einer Weile an Rei gewandt, „Ihr habt doch Freitagabend gerade immer frei, oder?” Nachdem er Rei seinen Plan unterbreitet und seinen Segen bekommen hatte, kümmerte Yuriy sich wieder um ihre Gäste. Es war ganz schön hektisch und er wusste, dass Onkel Stan ihn beobachtete. Der Alte kannte ihn vielleicht schon seit seiner Kindheit, doch das hieß nicht, dass er ihm blind vertraute. Er musste sich ranhalten, wenn er einen guten Eindruck hinterlassen wollte. Dass Rei Kai kannte hatte ihn überrascht, aber nach allem, was in den letzten Tagen passiert war, wunderte ihn eigentlich nichts mehr. Und sie schienen nun auch nicht beste Freunde zu sein; jedenfalls sahen sie sich außerhalb des Restaurants wohl nie. Also was soll’s. Im Vorbeigehen warf er ein ums andere Mal flüchtige Blicke auf Kais Rücken, doch wenn der ihn auch ansah, so verpassten sie sich. Yuriy war nur halb so selbstsicher wie er sich gab, in Wirklichkeit machte Kais Anwesenheit ihn nervös. Er hatte nicht damit gerechnet, ihn so früh wieder zu treffen. Das Telefonat mit Takao Anfang der Woche hatte ihn nachdenklicher gestimmt als ihm lieb war. Also war sein abschließendes Urteil über den anderen noch lange nicht gefällt. Dennoch hatte er ihren kleinen Schlagabtausch vorhin genossen, es war sofort wieder ein Gefühl von Vertrautheit zwischen ihnen gewesen. Und ihm war erschreckend schnell klar geworden, dass er nichts dagegen hatte, mehr Zeit mit Kai zu verbringen. Was ihn schlussendlich auch auf die Idee gebracht hatte, die er ihm und seiner Begleitung unterbreiten wollte. Er passte Lai ab, als dieser den dreien ihre Rechnung bringen wollte. „Lass mich abkassieren”, sagte er. Lai runzelte die Stirn und Yuriy hob die Hände. „Vertrau mir, ich hab da was vor.” Dann nahm er ihm das Kartenlesegerät ab und lief zu Kai und den anderen hinüber. Das Restaurant hatte sich inzwischen geleert, und so zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich. „Hey! Getrennt oder zusammen?” „Du schon wieder.” Kai schmunzelte, warf einen Blick auf die Rechnung und reichte ihm seine Karte. „Zusammen.” Yuriy nickte und schob die Karte ins Lesegerät, das wie immer eine Weile brauchen würde, um den Betrag zu verbuchen. Währenddessen drückte Lais Angebeteter Kai ein paar Scheine in die Hand. „Also”, fing Yuriy an, „Was macht ihr am Freitagabend?” „After Work im Büro”, sagte Kai und verdrehte vielsagend die Augen, „Aber das geht nicht so lang. Wieso fragst du?” Das Gerät spuckte die Quittung aus und Yuriy riss sie schwungvoll ab, um sie Kai, zusammen mit dessen Karte, zu geben. „Ich bin mit einem Kollegen von Ostblocc verabredet”, erklärte er dann, „Wir machen eine kleine Drum and Bass Session bei ihm zu Hause und haben ein paar Leute eingeladen. Wollt ihr nicht auch kommen?” Dabei sah er direkt den Spanier an. Dieser verzog ein wenig das Gesicht. „Das ist ja nett, aber elektronische Musik ist so gar nicht meins…” „Ich bin ziemlich sicher, Rei und Lai sind auch da”, sagte Yuriy. „Oh! Wir kommen!” Na bitte, geht doch, dachte er und sah nun wieder Kai an. „Du auch?” „Naja”, schaltete sich die Frau ein, die wohl sofort Kais Zögern bemerkt hatte. „Wir können ja schlecht dort auftauchen, wenn wir noch niemanden kennen. Also musst du wohl mitkommen, Kai.” Dieser hatte den Mund geöffnet, schloss ihn aber nach einem Blick in die Runde wieder und zuckte nur mit den Schultern. „Meinetwegen.” „Cool.” Yuriy stand auf. „Das ist in Neukölln, ich schicke dir die Adresse.” „Warte mal.” Kai rollte einen der Geldscheine in seiner Hand zusammen und streckte den Arm aus, um ihn in Yuriys Hosentasche zu schieben. „Für den Service”, sagte er mit einem frechen Grinsen. „Fick dich”, sagte Yuriy freundlich. „Wir sehen uns Freitag.” Das freitägliche After-Work-Treffen im größten ihrer Konferenzräume war unnötig und nervig, aber Giancarlo und der Rest des oberen Managements bestanden darauf. Die meisten Mitarbeitenden erschienen brav jede Woche, fanden es wahrscheinlich sogar lustig. Kaum jemand hatte Familie, ein Großteil der Belegschaft war jung und zugezogen und knüpfte außerhalb des Büros sowieso kaum Freundschaften. Sie arbeiteten zusammen, sie gingen zusammen feiern, sie landeten miteinander im Bett. Sie wechselten den Arbeitgeber und trafen über kurz oder lang immer wieder auf dieselben Leute. Die Berliner Start-up-Szene war klein und sehr intim. Kai kam als einer der letzten in den Raum und nahm sich ein Bier aus einem der Kästen, die wie immer neben der Tür gestapelt waren. Nach dem offiziellen Teil gab es meistens Pizza; wahrscheinlich machten sie den Lieferanten ihres Vertrauens gerade reich. Inzwischen hing ihm das Zeug schon zum Halse raus, aber da er heute nicht wie gewohnt nach Hause gehen würde, kam er nicht darum herum. Zuvor musste er allerdings Giancarlos Ansprache über sich ergehen lassen. Wie immer berichtete ihr CEO überschwänglich von allen noch so kleinen Fortschritten, die sie gemacht hatten: Soundso viele neue Mitglieder, Klicks und Downloads. Soundso viel Umsatz mit Bezahlservices, die nun endlich freigeschaltet worden waren. Auf den ersten Blick sah alles sehr gut aus; viel interessanter war allerdings, was nicht zur Sprache kam. Was war eigentlich aus der letzten Finanzierungsrunde geworden? Wie hoch war ihr Marktanteil, ihre Beliebtheit? In Kai keimte der Verdacht, dass vielleicht nicht alles so rosig war, wie es schien, doch es war noch zu früh, um das gänzlich beurteilen zu können. Also lehnte er sich nur still an die Wand und trank sein Bier. Etwa eine Stunde später befand er, dass es nun nicht mehr unhöflich war, zu verschwinden. Er sah sich nach Giulia um, mit der er gemeinsam nach Neukölln fahren wollte. Mit ein bisschen Glück würden sie Raoul in der U-Bahn, allerspätestens aber an der Hermannstraße treffen. Sie saß in einer Ecke, zu seinem Leidwesen mit Garland, der ihr mal wieder sein Herz auszuschütten schien. Jedenfalls wirkte ihre Unterhaltung recht ernst. Erst als Kai schon direkt vor ihnen stand, sahen beide zu ihm auf. „Wir müssen los”, sagte er zu Giulia. „Oh, alles klar”, entgegnete sie. „Meinst du, Garland kann mitkommen?” „Hm?” Er hob eine Augenbraue, während Giulia schon aufstand und ihre Flasche auf dem Tisch abstellte. Sie beugte sich zu ihm. „Bitte, Kai, er hat schon wieder Ärger mit Brooklyn und keinen Bock, nach Hause zu gehen.” Kai brummte. „Macht doch was ihr wollt.” Yuriy und die anderen würden wahrscheinlich sowieso nichts dagegen haben, in dieser Stadt schienen House Partys generell unter dem Motto „je mehr, desto besser” zu laufen. Sie klauten noch ein paar Flaschen Bier, für die Fahrt und als Mitbringsel, dann machten sie sich auf den Weg. In der U-Bahn saß Kai den anderen beiden gegenüber und beobachtete Garland. Sie kannten sich nicht allzu gut; Garland war Scrum Master und arbeitete gerade an einer ganz anderen Sache als Kai. Zusammen mit seinem Entwicklerteam steckte er irgendwo im Keller fest, während Kai in der dritten Etage arbeitete. Aber auch im privaten Bereich waren sie bisher über ein wenig Smalltalk und diesen einen Abend bei Garland zu Hause nicht hinausgekommen. Er hatte ja nicht einmal von seiner missglückten Beziehung gewusst. Doch wenn er ehrlich war, so sah sein Kollege durchaus mitgenommen aus. Vermutlich schlief er zu wenig, vielleicht feierte er auch ein bisschen zu hart - jedenfalls wirkte er ausgezehrt, aber trotzdem hungrig nach dem nächsten Kick. Es war irgendwie seltsam, ihn so zu sehen, denn Kai hatte Garland immer als zurückhaltend eingeschätzt. Ob das nur eine Maske war, die er für die Arbeit aufsetzte? Sie mussten einmal umsteigen, sammelten dabei Raoul ein und kamen nach einer halben Stunde endlich bei ihrem Ziel an. Yuriy hatte Kai die Adresse am Vorabend geschickt, gleich mit dem Hinweis, dass die Wohnung im Hinterhaus lag und wo er klingeln musste. Das Gebäude war eines, bei dem durch mehrere Renovierungen nichts mehr von der ursprünglichen Dekoration geblieben war, und so gingen sie zunächst durch das karge, kalt beleuchtete Vorderhaus und über einen winzigen Innenhof, in dem für nichts Platz war als einem Haufen Fahrräder und ein paar Mülltonnen. Das Hinterhaus war noch unscheinbarer, und wären die Klingelschilder nicht beleuchtet, hätten sie nicht einmal die gefunden. Von weiter oben schallte aber schon Musik zu ihnen herunter, die Bestätigung, dass sie hier richtig waren. Kai klingelte bei „Melek/Papov” und nach ein paar Sekunden knackte es in der Gegensprechanlage. „Vierter Stock!” Dann summte die Tür und er stieß sie auf. Natürlich gab es keinen Fahrstuhl, und so quälten sie sich die steile Treppe hinauf. Je höher sie kamen, desto lauter wurde die Musik, was die anderen Hausbewohner allerdings nicht zu stören schien. In der vierten Etage stand eine Tür offen, doch niemand war da, um sie zu begrüßen. Sie traten in eine recht typische Studierenden-WG ein: Im Eingangsbereich ein ungeordneter Berg Schuhe und Jacken, dann ein langer, schmaler Flur, der in ein Zimmer führte, aus dem Stimmengewirr zu ihnen herüber schallte. Dort musste auch der Ursprung der Musik liegen. „Hey.” Aus einem der anderen Räume kam eine zierliche Frau mit rosa gefärbten Haaren. Kai erinnerte sich, sie im Zentrum gesehen zu haben, sie erkannte ihn jedoch nicht wieder. „Ich bin Mathilda. Zu wem gehört ihr?” „Yuriy hat uns eingeladen. Ich bin Kai.” Auch die anderen stellten sich vor und Mathilda nickte. Ihre Augen blieben kurz an Kai hängen und sie murmelte ein leises „Aaah”. Dann winkte sie sie mit sich. „Getränke gibt’s in der Küche. Hier ist das Bad. Yuriy und Vanja sind schon voll dabei, nehmt euch was zu trinken und geht einfach nach hinten durch.” Kaum waren sie wieder allein griff Giulia nach Kais Arm. „Die ist ja niedlich!”, flüsterte sie. „Sie ist auch ein Mitglied von Ostblocc”, erzählte Kai, „Hat am Wochenende mit Yuriy zusammen aufgelegt… Was zur Hölle ist das?”, fragte er, da in diesem Moment ein böser Bass durch die Wohnung schallte. Er war wohl nicht der einzige, der davon überrascht war, denn die Stimmen wurden lauter und jemand sagte sehr deutlich „Vanja!” Was aber nicht hieß, dass die Musik sich änderte. Als sie in das abgedunkelte Zimmer traten, hatte Kai zunächst einige Schwierigkeiten, Details zu erkennen. Das Fenster musste offen sein, denn ihm strömte kalte Luft, gemischt mit dem Geruch von Zigarettenrauch, entgegen. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das gedimmte Licht. Schräg gegenüber stand ein Sofa an der Wand, auf dem, wie Kai in diesem Moment erkannte, Boris saß und sich mit einem weiteren Typen unterhielt, der noch einmal größer und breiter war als er. Die Mitte des Raumes war leer bis auf einen dunklen Teppich, auf dem weitere Leute saßen. Kai sah Lai und Rei, die ihm kurz zuwinkten (Lai fixierte einen Punkt links von ihm und Kai war sich sicher, dass Raoul dort stand). Auf dem Fensterbrett hockte eine Frau mit sehr langen Haaren und rauchte. Ihre Gestalt hob sich vom noch immer hellen Himmel ab, über den nur sehr langsam die Nachtschwärze nach unten kroch. Überall standen leere Gläser und Flaschen, anscheinend hatten sie hier früh begonnen. In der Ecke neben dem Fenster entdeckte Kai schließlich den Ursprung der Musik, denn dort war ein kleines DJ-Pult aufgebaut, dessen verschiedene Regler bunt leuchteten. Es war mit einem Laptop und mehreren Boxen verbunden. Der Monitor warf kaltes Licht auf Yuriys Gesicht, der sich in diesem Moment vorgebeugt hatte und nebenbei etwas zu seinem Kollegen sagte. Das musste dann wohl Ivan sein, ein sehr kleiner Typ, dessen Stimme aber bis zu ihnen durchdrang, als er nun etwas erwiderte. Wie sie so direkt nebeneinander standen, mutete der Größenunterschied der beiden DJs beinahe grotesk an. „Hey Vanja, hör auf, ständig Noisia zu mixen und lass Yuriy ans Pult!”, rief die Frau am Fenster in diesem Moment. „Aber Yuriy macht immer so Gute-Laune-Mucke, das nervt!”, brüllte Ivan zurück und kassierte dafür einen Hieb von dem Genannten. Dann streckte er jedoch die Hand aus und drehte seinen Track herunter. Auch Yuriy fing nun an, ein paar Regler zu betätigen, und nach einer kurzen Übergangsphase wich der Bass hellen Synthesizer-Klängen, während der typische Beat des D’n‘B erhalten blieb. Ivan verzog das Gesicht. Er hatte durchaus Recht: Die Klangwelt wandelte sich von aggressiv zu energetisch. Yuriy allerdings achtete schon nicht mehr auf ihn. Er schien ganz in seinem Element und bewegte sich ein wenig im Rhythmus der Musik hin und her. Zwischen seinen Fingern glomm eine Zigarette auf, an der er zwischendurch immer mal wieder zog. „Hi Kai.” Rei war aufgestanden und zu ihnen herüber gekommen. „Super, dass du auch da bist! Wollt ihr euch zu uns setzen?” Aus den Augenwinkeln sah er, wie Raoul heftig nickte. „Ich komme gleich”, sagte er, „Will noch kurz zu Yuriy.” Er stieß Garland in die Seite, dessen Blick, wie er erst jetzt bemerkte, immer noch an dem Genannten hing. „Komm mit, ich stell dich vor.” Gemeinsam gingen sie zum Pult. Yuriy sah erst auf, als Kai direkt vor ihm stand, doch sein Gesichtsausdruck wandelte sich beinahe sofort. „Hey”, sagte er langgezogen und ehe Kai reagieren konnte, hatte er ihn umarmt. „Schön dich zu sehen!” „Ja… gleichfalls”, murmelte er und war sich sicher, dass Yuriy ihn dank der Musik nicht hören konnte. Er räusperte sich und beugte sich zu seinem Ohr. „Das ist Garland, ein Kollege von mir.” „Hey, Mann.” Yuriy nickte ihm kurz zu und sie schlugen ein. Falls ihm auffiel, dass Garland ihn noch immer ansah, als wäre er eine Erscheinung, dann ließ er sich das nicht anmerken. Kai war an seiner statt irritiert und bereute langsam, Giulia gegenüber so schnell nachgegeben zu haben. „Seit wann seid ihr heute schon dabei?”, fragte er schließlich und beschloss, Garland ebenfalls einfach zu ignorieren. „Seit sechs oder so”, rief Yuriy zurück, den es im Gegensatz zu Kai kein bisschen zu stören schien, dass er ständig die Musik übertönen musste. Kai sah, wie Ivan die Gelegenheit nutzte und wieder näher an den Controller trat, während Yuriy noch mit ihm beschäftigt war. Doch das schien diesem ganz gelegen zu kommen. „Ich könnte mal eine Pause vertragen”, sagte er, „Kennst du die anderen schon?” Kai schüttelte den Kopf. „Okay, da am Fenster ist Salima, die ist auch bei Ostblocc. Neben Boris ist Sergeij, der hat bei uns um die Ecke eine Autowerkstatt. Wahrscheinlich reden die beiden schon wieder nur über Karren. Nicht zu empfehlen. Über Vanja brauchen wir nicht sprechen, der ist nervig.” „Fick dich!”, rief Ivan. „Rei und Lai kennst du ja… und Mathilda? Die solltest du eigentlich im Zentrum gesehen haben.” Er sah sich noch einmal um, wie um sich zu vergewissern, ob er niemanden vergessen hatte. „Ich glaube, später kommen noch ein paar mehr.” Während er sprach hatten sie sich vom DJ-Pult wegbewegt und somit auch Garland zurückgelassen. Kai fragte sich, ob das Absicht war, doch in diesem Moment standen plötzlich Boris und Sergeij neben ihnen. Boris bot ihm die Hand und sie schlugen ein, als würden sie sich schon ewig kennen. „Wir wollen mit Salima aufs Dach, bisschen rauchen”, erklärte Boris dann, „Kommt ihr mit?” „Klar”, sagte Yuriy, bevor Kai auch nur reagieren konnte. Er hatte allerdings auch nichts dagegen, den anderen zu folgen; ein bisschen frische Luft würde nach einem Tag wie diesem gut tun. Während die anderen sich schon ihre Schuhe anzogen, machte Yuriy noch einen kleinen Abstecher in die Küche und kam mit einer Flasche Sekt zurück. „Gibt’s was zu feiern?”, fragte Kai amüsiert, kassierte aber nur einen Blick, der sich jede Frage dieser Art verbat. Sie stiegen noch zwei Stockwerke höher, Salima ging voran und schloss die Tür zum Dachboden auf. Von dort gelangten sie durch ein Fenster auf das Mansarddach, das oben abgeflacht war und zu beiden Seiten schräg abfiel. Die Häuser hier waren alle ehemalige Wohnkasernen, und so folgte in einer endlosen Reihung Dach auf Dach, getrennt durch Schornsteine. Der Innenhof lag zu ihrer Linken, rechts war die Straße. Wie immer war der Blick auf den Fernsehturm unverstellt. Der Himmel war groß über ihnen, spannte sich von Horizont zu Horizont, irgendwo in seiner Mitte hingen der Mond und zwei, drei der hellsten Sterne. Nur im Westen, direkt vor ihnen, leuchtete der letzte Rest Blau. Es dauerte keine zwei Minuten, bis der Geruch von Gras in Kais Nase stieg. Boris, Sergeij und Salima setzten sich an die Kante des Daches und blickten nach Norden zum Stadtzentrum, während sie den Joint kreisen ließen. Yuriy nestelte an der Sektflasche herum, bis sich der Korken mit einem lauten Ploppen löste und in die Dunkelheit flog. Dann winkte er Kai heran und sie nahmen neben Boris’ Platz. Den Joint lehnte Kai ab, aber von dem Sekt nahm er einen Schluck. Es war seltsam, ihn direkt aus der Flasche zu trinken, aber irgendwie schien das hier Gang und Gäbe zu sein. Ein kühler Wind wehte ihnen entgegen und für eine Weile waren sie alle still. Die Musik von ihrer Party war noch immer zu hören; anscheinend hatte Ivan wieder komplett die Kontrolle übernommen. Dann finden Salima und Sergeij an, leise zu reden, kurz darauf fiel Boris mit ein. Kai saß so dicht neben Yuriy, dass ihre Schultern sich berührten. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie hatten sich nicht geschrieben und auch sonst nicht unterhalten, weder vor noch nach ihrem Treffen am Mittwoch. Trotzdem war das Schweigen zwischen ihnen nicht unangenehm. „Seid ihr immer so?”, fragte er irgendwann, als die Flasche einmal mehr an ihm vorbeiwanderte und er sie an Yuriy zurückgab. „Was meinst du?”, entgegnete der. „Naja, so… so!” Kai machte eine knappe Geste, die alles mit einschloss: Die Musik, die irgendwie niemanden in der näheren Umgebung zu stören schien; die Tatsache, dass sie auf einem Hausdach saßen, als gehörte ihnen der ganze verdammte Kiez; der billige Sekt, der viel schneller in den Kopf stieg als gut sein konnte. Ob Yuriy ihn verstand, wusste er nicht, doch er sah mit seinen geduldigen, hellen Augen auf Kai hinab und drückte ihm noch einmal die Flasche in die Hand. Dann breitete er die Arme aus. „Sieh es dir an, Simba”, sagte er theatralisch. „Das ist unser Königreich. Alles, was das Licht berührt.” „Boah Yuriy du kriegst keinen Zug mehr”, kommentierte Boris. „Wow! Also dann gehört das alles uns?”, rief Salima in der gleichen dramatischen Stimmlage. „Alles was das Licht berührt!”, sagte Yuriy. Kai schmunzelte. „Und was ist mit dem schattigen Land dort drüben?” Yuriy ließ die Arme sinken und sah ihn ernst an. „Das ist Spandau”, antwortete er mit sehr tiefer Stimme. „Das liegt jenseits unserer Grenze. Dort darfst du niemals hin.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)