Großstadtgeflüster von lady_j ================================================================================ Kapitel 6: Wir haben uns gerade noch gefehlt -------------------------------------------- Du willst gehen Doch der Boden zerfällt Ohne Gewicht Fliegst du durch die Welt Ich will reden Doch mir fällt kein Wort ein Und wir scheinen Langsam durchsichtig zu sein Yuriy erwachte, weil grelles Tageslicht ungehindert in sein Zimmer fiel. Sein erster Gedanke galt seinen Vorhängen, die er nicht zugezogen hatte, bevor er ins Bett gegangen war. Er öffnete die Augen, blinzelte gegen das Licht an. Als er den Kopf drehte, sah er ein paar Klamotten auf dem Boden liegen. Zwei Paar Jeans. Er war definitiv zu müde, um sich darüber jetzt Gedanken zu machen. Nach dem Schnaps gestern hätte er ein Glas Wasser trinken sollen, angesichts der Umstände war das aber nicht passiert. Sein Kopf fühlte sich schwer an. Seufzend schwang er die Beine aus dem Bett und strich mit einer geistesabwesenden Bewegung sein Shirt glatt, was dieses aber auch nicht mehr retten konnte. Kai saß auf dem Balkon und telefonierte. Er trug das Hemd von letzter Nacht, hatte aber die Ärmel hochgekrempelt. Seine Füße lagen auf dem Geländer, der freie linke Arm hing locker herunter, die Hand streifte fast den Boden, so weit hatte er sich zurückgelehnt. Wahrscheinlich blicke er nach oben in den lächerlich blauen Himmel. Die Tassen und Schnapsgläser standen noch auf dem Tisch. Yuriy betrachtete für einen Moment seine Gestalt und wie sich die Stadt im Hintergrund ausbreitete. Ein wenig Dunst hing in der Luft, die Sicht war bei weitem nicht so klar wie in der Nacht, doch hier und da glitzerten Glasflächen in der Sonne. Kais Stimme klang leise durch das Fenster; der Sprechrhythmus war ungewöhnlich. Sprach er Japanisch? Als er die Balkontür öffnete und nach draußen trat, sah Kai zu ihm hoch, ohne das Handy vom Ohr zu nehmen. Sie warfen sich ein kurzes Lächeln zu, dann sagte er wieder etwas in dieser anderen Wortmelodie. Der Wind war in den letzten Stunden eingeschlafen und so war es auf einmal sehr warm. Yuriy setzte sich und legte den Kopf in den Nacken, bis der andere sein Gespräch beendete. „Hey”, sagte Kai, nachdem er aufgelegt hatte, „Hab ich dich geweckt?” „Wie spät ist es?”, fragte Yuriy ohne die Augen zu öffnen. „Eins durch… glaube ich.” „Bist du schon lange wach?” „Nein”, antwortete Kai. „Vielleicht eine Viertelstunde, länger nicht.” Er hob das Telefon. „Das war ein Freund von mir, auch Japaner. Takao.” „Du hast mich nicht geweckt”, antwortete Yuriy endlich auf die vorherige Frage. Die Sonne machte ihn herrlich träge. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder aufsetzte und den Rücken durchstreckte. „Witzig, ich kenne auch einen Takao. Takao Kinomiya. War ein Kommilitone von mir.” Als er sich zu Kai drehte, bemerkte er, dass diesem der Mund ein wenig offen stand. „Du hast Sozialpädagogik studiert?” Yuriy blinzelte. „Wir sprechen vom selben Takao, oder?”, stellte er dann fest. „Ha, diese Stadt ist doch ein Dorf. Ja, ich habe Sozialpädagogik studiert. Takao und ich arbeiten manchmal zusammen, weil er in den Kiezen von meinen Kids unterwegs ist. Ich bin im wahren Leben Schulsozialarbeiter”, fuhr er fort und zwinkerte Kai zu. Der schien ein paar Sekunden zu brauchen, um diese Informationen zu verarbeiten. Bildete Yuriy sich das ein, oder wurde er dabei ein wenig rot im Gesicht? Er selbst fand es eher amüsant, dass sie - entgegen aller Annahmen - gemeinsame Bekannte hatten. Von Takao hatte er eine hohe Meinung - nach dem Studium war er Streetworker geworden. Für Yuriy war es sehr praktisch, dass sie sich kannten, denn so konnte er hier und da diskret herausfinden, was bei „seinen” Kindern zu Hause los war. Privat hatten sie allerdings so gut wie nichts miteinander zu tun. „Woher kennst du ihn denn?”, fragte er schließlich, um die seltsame Stille zu beenden, die von Kai ausging. „Hmm. Wir haben uns in einer Bar kennengelernt.” Kai unterbrach sich und runzelte die Stirn, als würde er sich über sich selbst ärgern. „Takao ist mein Exfreund”, sagte er dann mit fester Stimme. „Oh.” Nun war es Yuriy, der keine Erwiderung wusste. „Well, this is awkward”, murmelte er. Er kannte ähnlich seltsame Zufälle aus seinem Bekanntenkreis, hatte so etwas bisher selbst aber gut umschiffen können. Kai lachte freudlos. „Sagt der, der sich vor ein paar Stunden noch meinen emotionalen Ballast angehört hat, ohne eine Miene zu verziehen.” „Hey, ich hatte zwei Schnäpse getrunken. Danach bin ich immer total professionell.” Sie sahen sich einen Moment lang über den Tisch hinweg an, dann prusteten sie beide los, diesmal ganz ohne sich zu verstellen. Es tat gut, zu fühlen, wie sich die Spannung dadurch löste. „Kann ich einen Kaffee haben, bevor ich nach Hause fahre?”, fragte Kai. Kurz darauf stand Yuriy - immer noch lediglich in Shorts und sein T-Shirt gekleidet - in der Küche und warf die Kaffeemaschine an. Es dauerte keine fünf Minuten, bis Boris, angelockt vom Duft, ebenfalls hereinkam. Wie immer, wenn die Temperaturen über zwanzig Grad stiegen, trug er nichts als eine ausgeleierte Jogginghose. „Morgen”, grüßte er ungeachtet der tatsächlichen Tageszeit. „Bist du schon wieder allein?” „Kai ist unter der Dusche”, antwortete Yuriy und griff noch einmal in den Schrank, um eine dritte Tasse herauszunehmen. Boris warf einen Blick in den Kühlschrank, schloss ihn unverrichteter Dinge wieder und setzte sich an den Küchentisch. „Und?”, fragte er, „Ist noch was passiert?” „Wie meinen?” Sein Mitbewohner warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Junge, die Luft hat gebrannt zwischen euch. Ich hab gedacht, wenn ich mich nicht schnell verziehe, treibt ihr es vor mir auf dem Balkon.” „Ja, aber dazu kam es ja offensichtlich nicht”, sagte Yuriy, „Okay?” Boris hob eine Augenbraue. „Hör auf zu Fragen.” „Ist ja gut.” Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Kaffeemaschine, die gerade zum letzten Mal geröchelt hatte. „Krieg ich einen?” Yuriy stellte ihm die leere Tasse mit einer schwungvollen Geste vor die Nase. „Kannst du selber machen.” „Hey.” Bevor er sich wieder umdrehen konnte hatte Boris sich mit einer Schnelligkeit, die er ihm in seinem Zustand nicht zugetraut hätte, bewegt und sein Handgelenk gepackt. Es hatte in etwa den gleichen Effekt, als hätte er seine Hand auf der Tischplatte festgenagelt. „Yura”, sagte Boris mahnend, „Alles klar bei dir?” Sie sahen sich an. „Tut mir leid, wenn ich was Falsches gesagt habe.” Yuriy atmete langsam aus. „Schon gut”, murmelte er, „Ich bin nur müde, und deine Fragen haben genervt. Jetzt lass mich los.” Boris’ Lippen bewegten sich, doch er lockerte seinen Griff. Dann grinste er schon wieder herausfordernd und Yuriy überlegte flüchtig, ob er ihm seine eigene Kaffeetasse an den Kopf werfen sollte. In diesem Moment tauchte Kai im Türrahmen auf. Seine Haare waren noch ein wenig nass und tropften auf sein Hemd. Er nickte Boris kurz zu, hielt aber ein wenig Abstand, als wäre ihm erst jetzt bewusst geworden, dass er sich in einem fremden Haushalt befand. „Du kommst gerade richtig”, sagte Boris aufgeräumt, „Vielleicht kannst du mir ja sagen, was ihr gestern noch so getrieben habt?!” „Boris!”, sagte Yuriy, der so viel Dreistigkeit gerade nur schwer verarbeiten konnte. Kai verschränkte die Arme. „Wir haben geredet”, sagte er ruhig. „Geredet? Leute, so funktioniert das nicht. Wisst ihr, wenn man jemanden mit nach Hause nimmt, dann hört man normalerweise irgendwann auf zu labern und…” Der Blick, den Yuriy ihm zuwarf, brachte ihn zum Verstummen. Er wusste, dass er drauf und dran war, zu weit zu gehen. Also seufzte er nur ergeben und stand auf, um sich seine Tasse selbst zu füllen. Dabei stellte er sich provozierend dicht neben Yuriy, zwang ihm ein wenig Körperkontakt auf. Seine nackte Schulter rieb an seinem Oberarm und Yuriy nahm es als Friedensangebot, verdrehte aber noch einmal vielsagend die Augen. Zufrieden trollte Boris sich in sein Zimmer. „Er ist immer so”, sagte Yuriy unaufgefordert und goss nun endlich ihnen beiden ein. „Schon in Ordnung.” Kai nahm ihm die Tasse ab und schlenderte in Richtung des Kühlschrankes. Wahrscheinlich hatte er das alte Foto bemerkt, das dort hing, festgehalten von einem wirklich hässlichen Magneten, der in allen Souvenirläden Moskaus verkauft wurde. Das Bild zeigte Boris’ und Yuriys Väter Anfang der neunziger Jahre. Genau wie ihre Söhne hatten sie sich auf Anhieb gut verstanden, als sie sich kennenlernten. Ihre Schnauzbärte und die wallenden Haare ließen nichts mehr von ihrer militärischen Vergangenheit erahnen. Den Hintergrund bildete der Schrebergarten von Boris’ Familie. Vor ihnen auf dem Tisch stand eine Flasche mit klarer Flüssigkeit, dazu drei kleine Gläser - das war ein sicherer Hinweis darauf, dass Reis Onkel Stan und nicht etwa eine ihrer Mütter das Bild gemacht hatte. Dennoch war Yuriy sich sehr sicher, dass er, während dieses Foto entstanden war, keine fünf Meter weiter mit Boris um die Wette gebuddelt hatte. „Boris sieht seinem Vater ähnlich”, stellte Kai fest, der wohl sofort die richtigen Schlüsse gezogen hatte. „Ja, ich komme mehr nach meiner Mutter”, erklärte Yuriy. Er konnte nicht verhindern, dass sein Blick kurz über Kais Hintern glitt, als dieser sich vorbeugte, um das Bild noch einmal genauer zu betrachten. Er nahm einen Schluck Kaffee, und als er damit fertig war, hatte der andere sich schon wieder aufgerichtet. „Kann ich deine Nummer haben?” Die Frage rutschte ihm raus, er hatte sie eigentlich etwas eleganter platzieren wollen. Entsprechend überrascht sah Kai ihn auch an. Aber was soll’s, er meinte es ernst. Und dann nickte Kai bloß, stellte seine Tasse ab und streckte die Hand aus. „Gib mir mal dein Handy.” Yuriy beobachtete, wie seine Daumen sich über die Tastatur bewegten, wie er kurz zögerte, dann den Kopf schüttelte, wie um sich selbst zu tadeln, und weiter die Leerfelder ausfüllte. Als er fertig war, gab er ihm wortlos das Gerät zurück. Dabei war sein Gesichtsausdruck unergründlich. Yuriy musterte ihn noch einmal, bevor er schließlich den Blick auf das Display senkte. Dort standen eine Nummer und Kais Name. Sein voller Name. „Kai Hiwatari”, las er und ein unangenehmer Schauer überlief ihn. „Wie Hiwatari Enterprises?” Er sah auf. Es war einer dieser Momente, die erschreckend plötzlich sehr unwirklich wurden. Natürlich war ihm dieses Unternehmen ein Begriff - von Demonstrationen gegen es, an denen er teilgenommen hatte. „Ihr seid doch die, die vor ein paar Jahren versucht haben, ein Stück Spreeufer zu kaufen, oder?” Damals hatte es große Proteste gegeben, da zu dem Grundstück auch ein Teil des letzten Restes der Mauer gehörte. Einmal abgesehen davon, dass sich die Anwohner nicht von einem Glaspalast die Sicht versperren lassen wollten - dieses Stück Geschichte sollte erst recht nicht weichen müssen. Doch Yuriy wusste auch, dass das noch nicht alles war: „Und gerade spekuliert ihr auf ein Gelände in Kreuzberg, für einen - einen Firmencampus?” Erst neulich hatte er die Petition dagegen unterschrieben. Er sah, wie sich Kais Kiefer anspannte. „Ja, das ist Hiwatari Enterprises”, sagte er. Yuriy verschlug es nicht oft die Sprache, doch jetzt war es soweit. Er starrte Kai an und versuchte, das soeben erfahrene mit der Person zu vereinen, die er kennengelernt zu haben glaubte. Es funktionierte nicht, ergab einfach keinen Sinn. Und dann war da noch die Wut, die auf einmal in ihm aufwallte, Wut auf Kai, aber auch auf sich selbst. „Ich verstehe nicht”, sagte er schließlich und konnte nicht verhindern, dass es gepresst klang. „Bist du deswegen hier? Hat dich dein Großvater hierher geschickt, um sicherzugehen, dass die blöden Berliner ihm nicht wieder seine Pläne kaputt machen?” „Nein”, entgegnete Kai, und dann noch einmal mit Nachdruck: „Nein! So ist es nicht.” Er sah sich etwas hilflos in dem Raum um, bevor er schließlich auf den Tisch deutete. „Können wir uns hinsetzen? Kann ich es dir erklären?” Yuriy sagte zunächst nichts. Er fühlte sich komplett überfordert. Mit vielem hätte er gerechnet, nachdem Kai so geheimnistuerisch auf die Frage nach seinem Nachnamen reagiert hatte - aber nicht damit. Hiwatari Enterprises waren riesig, global - und keine Lakaien von Jürgens-McGregor, im Gegenteil: Sie waren weitaus bedeutender. Er nickte bloß und sie setzten sich einander gegenüber an den Tisch, die dampfenden Kaffeetassen standen zwischen ihnen. Kai rieb sich müde übers Gesicht, schien zu überlegen, wo er anfangen sollte. Yuriy wartete, musste sich stark zurückhalten, um ihm nicht einfach alle Fragen auf einmal zu stellen, die gerade durch seinen Kopf schwirrten. Oder irgendetwas sehr Falsches zu sagen, weil er wütend war und sich ausgenutzt fühlte. Warum zum Teufel hatte er auch so schnell nachgegeben, als Kai ihn an der Bar mit seinen Mörderaugen angesehen hatte? Das hatte er nun davon. „Mein Großvater, Soichiro Hiwatari, ist der CEO von Hiwatari Enterprises”, fing Kai an und Yuriy spürte schon jetzt, wie ihm flau wurde. Das war einfach zu krass. „Wir verstehen uns nicht gut”, sagte Kai. „Okay, das ist untertrieben. Inzwischen hassen wir uns. Offiziell gelte ich zwar noch als sein Nachfolger, aber ich glaube, er setzt gerade alles daran, um das zu verhindern.” „Hm”, machte Yuriy. Irgendwelche Zankereien innerhalb reicher Familien waren ihm aus Prinzip egal - wenn es denn nur das wäre. Danach klang es aber nicht. Er wollte sich Kais Geschichte zumindest einmal anhören. „Was ist passiert?” „Soichiro hat einige Leichen im Keller”, erzählte Kai. „Klar, jedes Unternehmen dieser Größe hat das, anders geht es wohl nicht. Aber ich wollte wohl immer nur das Beste darin sehen, zumindest bis zum Studium. Je mehr ich in der Uni gelernt habe, desto mehr ist mir aufgefallen, was in der Firma alles schief läuft. Und dann hat es noch einmal eine Weile gedauert, bis ich kapiert habe, dass mein Großvater überhaupt kein Problem damit hat.” Er machte eine Pause und sah über Yuriys Kopf hinweg an die Decke, schien zu überlegen, wie er fortfahren sollte. „Ich habe versucht, mit ihm darüber zu reden, aber er ist stur wie ein Esel. Und vor allem denkt er, dass niemand ihn für das, was er tut, belangen kann. Er denkt, er hätte das System - die Märkte - auf seiner Seite. Aber ganz ehrlich, wenn jemals etwas schief geht, dann gewaltig. Und zwar nicht nur für uns - da hängen tausende Arbeitsplätze auf der ganzen Welt dran. Also hab ich angefangen, aktiv zu intervenieren. Ich dachte, wenn ich ihn nur davon abhalte, sich noch mehr in diesen schmutzigen Geschäften zu verrennen, halten wir vielleicht noch etwas länger durch.” Wieder eine Pause, doch dieses Mal sagte Yuriy nichts, sondern wartete einfach ab. Kai seufzte. „Und dann hab ich eine Sache in den Sand gesetzt. So richtig. Es ging um einen Deal in Russland - große Investition, riesige Summen, jahrelange Verhandlungen. Sollte alles noch vor der Fußball-WM dort abgewickelt werden, und deswegen waren auch alle so scharf darauf. Tja. Ich bin jedenfalls Schuld daran, dass dieser Deal nie zustande gekommen ist.” Yuriy hob die Augenbrauen. „Hast du einen Fehler gemacht oder…?” „Es war volle Absicht”, entgegnete Kai trocken. Nun war Yuriys Interesse doch geweckt. Als Kai in der letzten Nacht Andeutungen ihm gegenüber gemacht hatte, war er voll und ganz davon ausgegangen, dass mit „in den Sand setzen” ein paar vergeigte Beziehungen gemeint waren. Nicht so etwas. Er beugte sich ein Stück vor. „Und dann?” „Der Alte war unglaublich wütend.”, sagte Kai. „Ich dachte, er setzt mich vor die Tür mit nichts als den Klamotten, die ich am Leib trage. Stattdessen hat er Ralf Jürgens angerufen und ihm gesagt, er soll mich für irgendeinen Idiotenjob in irgendeinem seiner Start-ups anstellen. Damit ich mich hocharbeite und zu schätzen lerne, was mir gegeben wurde.” Bei diesen Worten triefte seine Stimme vor Sarkasmus. „Und deswegen bin ich in Berlin.” Sie sahen sich über den Tisch hinweg an. Yuriy wartete einen Moment, doch ihm fehlten schlichtweg die Worte. „Hat dein Großvater dir den Geldhahn zugedreht?”, fragte er schließlich, „ Kai stieß die Luft aus. „Selbstverständlich. Ich hab in Giancarlos Laden als Market Researcher angefangen. War ein Scheißjob mit einem Scheißgehalt. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich es schon zum Projektmanager gebracht hab.” „Gut.” Yuriy hätte ihn nicht ernst nehmen können, wenn sich herausgestellt hätte, dass es sich nur um Familiengezanke bei voller Bezahlung handelte. „Ganz ehrlich”, sagte er, „Wenn das alles wahr ist, dann ist das die krasseste Geschichte, die ich jemals gehört habe. Und ich muss mir jeden Tag die Ausreden von Teenagern anhören.” „Warte.” Kai zog nun sein eigenes Handy heraus und schien etwas im Internet zu suchen. Dann hielt er es so, dass Yuriy sehen konnte, was auf dem Display stand. „Du sprichst doch Russisch, oder?” Yuriy nickte abwesend, seine Aufmerksamkeit war schon auf den Artikel gerichtet, den er vor sich hatte. Es handelte sich um irgendein russisches Wirtschafts-Nachrichtenportal. „Borg kappt Gelder für Großbauprojekt”, stand dort. Das Datum der Meldung lag etwa drei Jahre zurück; er las flüchtig etwas von einem Grundstück im Moskauer Zentrum und elaborierten Plänen, dort ein neues Sportstadion zu errichten. Zum Erstaunen aller Beteiligten hatte sich der größte Investor, eine Firma namens Borg, kurzfristig aus dem Projekt zurückgezogen und reines Chaos hinterlassen. „Borg war eine Tochter von Hiwatari Enterprises”, erklärte Kai, als Yuriy ihn wieder ansah. „Sie ist bei der ganzen Aktion leider unter die Räder gekommen.” So wie er das betonte, war er nicht wirklich traurig über diesen Verlust. Yuriy lehnte sich zurück und griff nach seiner Tasse. Der Artikel hatte Kais Erzählung tatsächlich noch einmal greifbarer, wirklicher gemacht. Wie sollte er bitteschön auf so etwas reagieren? „Ich fasse zusammen”, sagte er schließlich betont gelassen. „Der Typ, den ich gestern an der Bar aufgerissen hab, ist in Wirklichkeit der verstoßene Erbe eines Weltkonzerns. Und warum wurde er verstoßen? Weil er heimlich einen auf Robin Hood gemacht hat.” Selbst in seinen Ohren klang das ziemlich lächerlich. Er schüttelte den Kopf. „Ich brauch gleich noch einen Schnaps, Mann. Was soll ich dazu sagen?” „Glaubst du mir denn?”, hakte Kai nach. Yuriy hob die Schultern. „Ganz ehrlich, ich wüsste nicht, was es dir bringt, mich mit so was anzulügen. Also ja, denke schon.” „Danke”, sagte Kai. Er drehte seine Tasse in den Händen. „Es gibt nur sehr wenige Menschen, die diese Geschichte kennen. Nicht einmal Giancarlo weiß davon. Den meisten erzähle ich, dass ich nur ein entfernter Verwandter von Soichiro Hiwatari bin, das reicht denen dann. Aber…” Er warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Ich kann… will dich nicht anlügen. Auch auf die Gefahr hin, dass du nichts mit mir zu tun haben willst.” Yuriy schwieg und sah ihn an. In seinem Kopf ließ er die vergangene Nacht Revue passieren. So etwas wie mit Kai war ihm schon lange nicht mehr passiert. Und auch wenn ihre Leben unterschiedlicher nicht sein könnten - aus irgendeinem Grund hatten sie sich getroffen. Hier, in dieser Stadt. Vielleicht waren sie sich vorher schon begegnet, tausendmal über den Weg gelaufen, ohne voneinander zu wissen. Sein Gefühl sagte ihm, dass Kai in Ordnung war, und auf seine Intuition hatte er sich eigentlich immer verlassen können. Und außerdem brauchte der Junge echt Hilfe. Yuriy seufzte und streckte den Arm in Kais Richtung aus. „Handy”, sagte er knapp, bewegte auffordernd die Finger. Kai zögerte, legte es ihm aber ohne Fragen zu stellen in die Hand. Yuriy öffnete die Kontakte, fügte einen neuen hinzu und tippte seinen Namen und seine Nummer ein. Dann schob er das Gerät zurück über den Tisch. „Mein Nachname ist übrigens Ivanov”, sagte er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)