Großstadtgeflüster von lady_j ================================================================================ Kapitel 5: Deine Nächte fressen mich auf ---------------------------------------- Irgendwie gelang es ihnen, an Ralf und Giancarlo vorbeizukommen, ohne dass diese es bemerkten. Da sie ihre Jacken jedoch im Backstage-Bereich gelassen hatten, mussten sie erst einen Abstecher dorthin machen, bevor sie wirklich gehen konnten. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, wurde es deutlich stiller, von der Musik blieb nur noch ein dumpfes Wummern und das Stimmengewirr wurde zu einem Rauschen. Zunächst war es dunkel, dann knackte der Bewegungsmelder und grelles Licht erfüllte den Korridor. Kai war darauf nicht vorbereitet und fühlte sich ein wenig überrumpelt von der Klarheit, mit der er Yuriy nun sehen konnte. Ihm war vorher nicht bewusst gewesen, dass dessen Haare wirklich leuchtend rot waren. An der Bar und auch bei ihrer ersten Begegnung vor ein paar Stunden hatten sie dunkler gewirkt. Sein Begleiter nahm von seinem musternden Blick keine Notiz, sondern zog sein Handy aus der Tasche und rief jemanden an. „Borya, wann bist du fertig? Jetzt? Super, bin gleich da.” Er wandte sich an Kai. „Mein Mitbewohner ist mit dem Auto hier, er nimmt uns mit.” Kai murmelte noch eine Zustimmung, dann blieben sie beide wie angewurzelt im Türrahmen von Olivias Garderobe stehen. Diese war nämlich nicht, wie sie angenommen hatten, leer. „Sieh an.” Olivia, die gerade dabei war, sich nachzuschminken, blickte sie durch den Spiegel an, dann drehte sie sich zu ihnen um. „Gianni und Ralf haben schon nach dir gesucht.” Ihr Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. „Soll ich ihnen verraten, dass du mit dem DJ durchgebrannt bist?” Wenn Kai eines sicher wusste, dann, dass wenn Giancarlo das genauso von Olivia hörte, bis spätestens nächsten Dienstag das gesamte Unternehmen davon erfahren haben würde. „Du könntest ihnen sagen, dass er nach Hause gegangen ist und sie nicht auf ihn warten sollen”, schlug Yuriy vor. „Sicher. Was bekomme ich dafür?” „Was auch immer, Olivia”, sagte Yuriy ungeduldig und ging nun endlich ins Zimmer hinein, um ihre Jacken zu holen. „Du hast offiziell was gut bei mir.” „Glaub mir, Schatz, das werde ich mir merken.” Sie streckte den Arm aus, sodass Yuriy nichts anderes übrig blieb, als sie zum Abschied zu umarmen und dabei einen Wangenkuss abzubekommen. Kai hingegen winkte nur linkisch, bevor sie den Raum endlich wieder verließen. „Lass ihn nicht deine Seele stehlen, Süßer!”, rief sie ihm hinterher. Yuriy neben ihm stieß einen Seufzer aus und verdrehte die Augen. Kurze Zeit später standen sie draußen. Die kalte Luft war erfrischend und die ersten Amseln schrien die Morgendämmerung herbei. Doch noch immer gab es ein paar Gestalten, die jetzt erst in den Club hineingingen. Yuriy lief schnurstracks auf einen der Türsteher zu und winkte Kai zu sich. „Kai, das ist Boris. Boris, Kai. Er kommt mit uns mit.” Die grünen Augen musterten ihn genauso kühl wie vorhin beim Einlass, doch jetzt lag etwas mehr Interesse in ihnen. Kai sagte nichts; angesichts der Statur seines Gegenübers kam erschien ihm das die klügere Entscheidung. Yuriy war schon groß, aber dieser Boris überragte ihn noch und war darüber hinaus wesentlich breiter. Beinahe hätte er den Kopf geschüttelt, so absurd kam ihm diese Situation vor: Er war drauf und dran, mit einem DJ und einem Türsteher nach fucking Marzahn zu fahren. Wenn er das später erzählte, würden alle glauben, er hätte sich zugekokst und den Anschluss verloren. Boris wandte sich an den Rothaarigen. „Was zum Fick, Yuriy? Du schleppst doch sonst niemanden ab.” „Was willst du?”, entgegnete der, „Er ist mir zugelaufen!” „Zuge- Sag mal, seid ihr drauf oder was?” „Ich hatte ein Glas Sekt vor vier Stunden und ein Bier. Und er muss jetzt hier weg.” „Hat er kein Zuhause?” „Alter Boris, jetzt tu nicht so als hättest du noch nie Leute mit nach Hause genommen…” Während sich die beiden in ihren Schlagabtausch verstrickten, blickte Kai ein ums andere Mal über die Schulter zurück. Sie standen noch gut sichtbar im Eingangsbereich des Clubs, und mit ein bisschen Pech würden Ralf und Giancarlo, oder noch schlimmer, Brooklyn, ihnen über den Weg laufen. Inzwischen machten sich nämlich viele auf den Heimweg. „Hey.” Er berührte Yuriy am Arm. „Ich kann mir auch ein Taxi nehmen, schon in Ordnung.” „Nichts da”, unterbrach der andere ihn, bevor er sich wieder zu Boris umdrehte. „Und du - Maul halten. Wo ist deine Karre?” Boris verzog den Mund, sagte aber nichts mehr. Stattdessen verabschiedete er sich kurz von seinen Kollegen und ging dann voran, führte sie um den Club herum zu einem Parkplatz, der von einer einsamen Laterne erhellt wurde. Dort stand als ein aufgetuntes Ungetüm von Fahrzeug, dessen Scheinwerfer kurz aufleuchteten, als Boris die Türen entsperrte. „Das ist das hässlichste Auto, das ich jemals gesehen habe”, murmelte Kai. „Noch so ein Ding und du kannst laufen!” „Boris, chill, wir fahren”, sagte Yuriy und hielt die hintere Tür auf, „Kai, rein mit dir.” Sobald er saß, war Kais erster Instinkt, sich anschnallen zu wollen. Nur leider schien die Rückbank des Wagens keinen Gurt zu haben. Nach ein paar Sekunden ließ er sich also unverrichteter Dinge nach hinten gegen die Rückenlehne sinken und hoffte nur, dass sie nicht von der Polizei angehalten wurden. Währenddessen hatte Boris schon ausgeparkt und bog jetzt in die Straße ein, sehr vorsichtig, damit der tiefergelegte Boden nicht über den Bordstein schrammte. Dabei grummelte er schon wieder unverständlich vor sich hin; wahrscheinlich war für ihn die Sache noch nicht erledigt. Yuriy, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu. Dann streckte er die Hand aus und drehte am Radio. „Ich weiß den perfekten Song jetzt.” Ein Intro setzte ein, Yuriy drehte die Lautstärke auf und Boris stöhnte. “Komm aus’m Club, war schön gewesen Stinke nach Suff, bin kaputt, ist’n schönes Leben Steig über Schnapsleichen, die auf meinem Weg verwesen Ich seh die Ratten sich satt fressen im Schatten der Dönerläden” „Alter…”, ächzte Boris, der das Auto inzwischen auf der Karl-Marx-Straße nach Norden lenkte, bevor er Richtung Nordosten abbog. Der Rothaarige schien seine Bemerkung als Aufforderung zu verstehen, denn auf einmal fing er an, recht theatralisch mitzusingen: „Guten Morgen Berlin, du kannst so hässlich sein, so dreckig und grau. Du kannst so schön schrecklich sein, deine Nächte fressen mich auf. Es wird für mich wohl das Beste sein, ich geh nach Hause und schlaf mich aus. Und während ich durch die Straßen lauf wird langsam Schwarz zu Blau.” „Ich schmeiß dich in die Spree!”, rief Boris, doch Yuriy lachte nur. Kai schwieg, doch in der sicheren Dunkelheit grinste er in sich hinein. Die beiden waren auf jeden Fall unterhaltsamer als Giancarlo und Ralf. Kurz fragte er sich, ob sie ein Paar waren, so vertraut, wie sie miteinander umgingen. Eventuell versetzte ihm der Gedanke einen kleinen Stich; doch dann fiel ihm ein, dass Yuriy bisher immer nur von Boris als seinem Mitbewohner gesprochen hatte. Was auch immer hier los war, er war sicher, dass er es im Verlauf der Nacht noch herausfinden würde. Die Gegend, durch die sie fuhren, war ihm vage bekannt. Sie waren nicht allzu weit weg von seinem Kiez. Die Straße wurde breiter, dann waren sie plötzlich auf der Elsenbrücke, die sich über die Spree schwang. Wo einst nur Brachland war, gab es heute ganze Straßenzüge neuer Apartmentkomplexe und die ersten Bürotürme der Mediaspree, eines Großprojekts, gegen das sich Anwohner schon seit Jahren wehrten. Kai drehte den Kopf nach links und blickte Richtung Innenstadt: Das abstrakte Gebilde des Molecule Man im Vordergrund, weiter weg die Oberbaumbrücke und, wie immer, der Fernsehturm im Hintergrund. Dann hatten sie die Brücke hinter sich gelassen, fuhren am Bahnhof Ostkreuz vorbei und dann irgendwann auf der Frankfurter Allee weit, weit nach Osten. Die Straße war sechsspurig, gehörte zu den acht Ausfallstraßen, die sich vom Zentrum durch den Ostteil der Stadt zogen. Als Kai gerade ein paar Monate hier gewesen war, war er zur Aussichtsplattform des Fernsehturms hinaufgefahren und war diesen Straßen, die den Prospekten in Moskau so ähnlich sahen, mit Blicken gefolgt. Später, nachdem er seine Wohnung in Friedrichshain gefunden hatte, war er zum Frankfurter Tor gelaufen, um sich die ehemaligen Arbeiterpaläste anzusehen, die dort die breite Straße säumten, welche zeitweilig Karl-Marx-Allee und sogar Stalinallee geheißen hatte. Das hatte er freilich nicht von Anfang an gewusst, sondern sich später neugierig angelesen. Jetzt fuhr Boris in die entgegengesetzte Richtung, die Türme des Frankfurter Tores befanden sich in ihrem Rücken und vor ihnen war nur eine große Fläche Himmel, deren Unterkante schon heller zu werden schien. Links und rechts hoben sich die Umrisse von Plattenbauten scharf ab. Die Beleuchtung war von einem warmen Orange. Außer ihnen und ein paar Taxis war kaum jemand unterwegs. Eine seltsame Ruhe legte sich über sie; Yuriy und Boris hatten ihren Schlagabtausch längst beendet und die Musik wieder ausgeschaltet. Schließlich drehte Yuriy sich halb zu ihm um. „Willkommen in Marzahn. Möchtest du eine historische Einführung?” „Nicht nötig”, entgegnete Kai, „Ich weiß, dass der Bezirk in den siebziger Jahren praktisch aus dem Boden gestampft wurde. Es war damals das größte Projekt des sozialistischen Wohnbauprogramms, oder?” „Da hat jemand seine Wikipediaseite richtig gelesen”, kommentierte Boris. „Ha”, meinte Yuriy, „Ich wusste, du bist ein Geschichtsnerd. Hast du das studiert?” „Nein”, entgegnete Kai, „Aber ich interessiere mich für die Geschichte Osteuropas. Vor allem, seit ich hier lebe.” „Guter Junge. Wir sind übrigens gleich da.” ‘Gleich’ war in diesem Falle eine Untertreibung, denn inzwischen hatte Kai das Gefühl, sie wären längst aus der Stadt hinausgefahren. Die Straße schlängelte sich zwischen Brachflächen hindurch, jedoch tauchten immer mal wieder gruppierte Plattenbauten auf. Er fragte sich, ob seine beiden Begleiter wirklich jeden Tag so eine lange Strecke auf sich nahmen. Mit dem Auto war das sicher zu bewerkstelligen, aber selbst die S-Bahn brauchte eine Weile, um von hier ins Zentrum zu kommen. „Und hier ist meine Lieblingsstraße”, sagte Yuriy in diesem Moment. „Sie trägt den schönen Namen ‘Allee der Kosmonauten’. Hat aber leider sonst nicht viel damit zu tun.” „Du bist schon so ein Kosmonaut”, brummte Boris, dann setzte er den Blinker und fuhr ab in eine Nebenstraße, die vor einer wirklich riesigen Platte endete. „Raus mit euch. Ich stell die Karre noch in die Garage.” Als Kai aus dem Wagen kletterte, fiel ihm als erstes die Stille auf. Ein wenig Verkehrslärm kam von der Straße, was aber kein Vergleich war zu dem, was man in der Innenstadt erlebte. Außerdem schien es hier ein, zwei Grad kühler zu sein. Wie spät war es überhaupt? Es musste schon auf fünf zugehen. Kein Wunder, dass es langsam hell wurde. Er zog seine Jacke etwas enger um sich und blickte an der Fassade des Hauses nach oben, eine glatte Fläche mit eingestanzten, schwarzen Fenstern, Symmetrie, die ihn schwindeln ließ. Die oberen Stockwerke verschwanden in der Dunkelheit und im Licht der Laternen war nicht zu erkennen, ob der Putz weiß, grau oder gelb war. Kurz darauf stand er Yuriy zum ersten Mal nach ihrem abrupten Aufbruch wieder gegenüber, und zwar im klapprigen Fahrstuhl, der sie langsam in den zehnten Stock brachte. Dieser hatte einen Spiegel und das Licht war erbarmungslos; als Kai sein eigenes Gesicht erblickte, wandte er sich schnell wieder ab. „Bereust du schon, dass du mitgekommen bist?”, fragte Yuriy. „Nein”, antwortete Kai ehrlich, „Eigentlich wollte ich mich gerade für die Rettung im Club bedanken. Obwohl ich zugeben muss…” Er unterbrach sich, da in diesem Moment die Türen aufgingen und er Yuriy hinausfolgte, „...dass ich so was noch nie gemacht habe.” „Noch nicht mal für einen One Night Stand?” Der Rothaarige schloss eine Tür auf und ließ ihn eintreten. Kai atmete den Geruch der fremden Wohnung ein, sein erster Blick erfasste die etwas karge, auf ihre Art aber behagliche, Einrichtung. „Nein”, sagte er schließlich erneut. „Das ist nicht so mein Ding.” „Meins auch nicht.” Yuriy hatte schon Jacke und Schuhe ausgezogen und die schwere Tasche mit seinem Equipment abgestellt. Nun ging er den Flur entlang. Es gab zwei Türen zu jeder Seite und eine direkt gegenüber dem Eingang. Bevor er in das Zimmer hinten rechts ging, deutete er in ein anderes hinein. „Du kannst es dir auf dem Balkon gemütlich machen. Willst du Schnaps oder Tee? Boris und ich nehmen meistens beides.” „Klingt gut…”, murmelte Kai, der kurz zu Yuriy gesehen hatte, nur um festzustellen, dass dieser in der Küche stand und schon hinter der Tür eines Hängeschranks verschwunden war. Nun stand er mitten in dem dunklen Zimmer, zu dem der Balkon gehörte und war sprachlos angesichts der Aussicht, die sich ihm bot: Der Blick reichte weit über die Stadt, in der es so gut wie keine Hochhäuser gab. Und so erhob sich der Fernsehturm wie eine leuchtende Nadel im Zentrum des Panoramas, während ihm alles andere wie eine glitzernde Masse zu Füßen lag. Darüber blinkten ein paar Flugzeuge, die Lichtverschmutzung verlieh dem Himmel einen rostroten Schimmer. In der unmittelbaren Nähe gab es ein paar schwarze Brachflächen wie Leerstellen, die Stadt faserte hier schon aus. Es gab wenige Orte, von denen man so eine Aussicht hatte, und so verharrte Kai für ein paar Minuten und nahm einfach nur alles in sich auf. Er hörte, wie Boris in die Wohnung kam und zu Yuriy in die Küche ging. Erst als sie sich laut zu unterhalten begannen, konnte er sich losreißen und öffnete endlich die Balkontür, um nach draußen zu treten. Dort standen ein Tisch und zwei Stühle, alles wahllos zusammengewürfelt. Eine kalte Brise wehte ihm entgegen. Auf dem Tisch ein voller Aschenbecher. „Boris, bring mal noch einen Stuhl mit.” Yuriys Stimme erklang dicht hinter ihm, dann drängte der Rothaarige sich an ihm vorbei und stellte zwei dampfende Tassen und eine Flasche auf den Tisch. Er wies einladend auf einen der Stühle, bevor er sich auf den anderen fallen ließ. Aus seiner Jackentasche holte er drei altmodische Schnapsgläser, die er neben der Flasche aufreihte. Kurz darauf kam auch Boris nach draußen, zwängte seinen Stuhl neben Yuriys und hob seine Tasse. „Zum Wohl. Mann, ist das kalt heute.” Kai griff nun ebenfalls nach einer Tasse und trank einen Schluck. Es war starker Schwarztee mit einem guten Schluck Zitronensaft. Die Wärme tat gut. Sie schwiegen eine Weile; Boris zündete sich eine Zigarette an und Yuriy tippte auf seinem Handy herum, während Kai einfach noch etwas die Aussicht genoss und an gar nichts dachte. „Mattie hat aus Versehen eins von meinen Kabeln eingepackt”, murmelte Yuriy irgendwann. Seufzend legte er das Handy auf den Tisch und lächelte Kai an. „Alles klar?” „Ja”, antwortete er. „Danke nochmal.” Sie hielten den Blick für einen langen Moment, bevor Yuriy nach Boris’ Zigaretten griff und sich selbst eine anzündete. Während Kai ihn dabei beobachtete, überkam ihn eine Ruhe, wie er sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gespürt hatte. Vielleicht lag es an diesen beiden großen Typen oder an ihrer erhöhten Position - der Welt entrückt in dieser seltsamen Konstellation, die sie bildeten. Oder es waren nur die letzten Reste des Alkohols in seinem Blut. Was auch immer, es war gut so. Boris blies Rauch in die Nacht. „Wie kommt es, dass du mit Ralf Jürgens feiern gehst?”, fragte er. Kai hob die Schultern. „Er ist der Boss meines Bosses. Aber wir kennen uns von früher. Ich habe mit ihm und Johnny McGregor in London studiert.” Boris zog die Mundwinkel nach unten, was man vielleicht als anerkennend interpretieren konnte; Kai hatte aber das Gefühl, dass auch ein wenig Sarkasmus in dieser Mimik lag. „London. Nobel.” Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Ob die anderen beiden überhaupt studiert hatten? Yuriy vielleicht, der erschien ihm klüger als gut für ihn war. Aber auch Boris war nicht auf den Kopf gefallen, wenngleich Kai ihn sich nicht in einem Hörsaal vorstellen konnte. Er räusperte sich. „Jedenfalls haben die beiden damals schon begonnen, ihr Geschäft aufzuziehen. Die sind keine Gründer, sondern Investoren. Und damit haben sie früh angefangen. So ist Jürgens-McGregor entstanden.” „Das erklärt aber noch nicht, was du mit der Sache zu tun hast”, sagte Yuriy und Kai fühlte sich in seiner Theorie über dessen Auffassungsgabe bestätigt. Er seufzte. „Lange Geschichte. Wollt ihr nicht den Schnaps trinken?” „Gute Idee.” Yuriy behielt die Zigarette im Mund, während er ihnen eingoss, dann prosteten sie sich kurz zu. Der Alkohol brannte, brachte aber noch ein wenig mehr Wärme mit sich. Kais Blick schweifte noch einmal über das Panorama, bevor er sich dazu durchrang, weiterzusprechen: „Ich komme aus einem Familienunternehmen. Mein Großvater ist Mitinvestor bei einigen von Jürgens-McGregors… Anschaffungen. Nach dem Studium sollte ich ursprünglich gleich in der Firma anfangen, aber er hielt es für klüger, mich nach Deutschland zu schicken. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was Großvater vorhat, aber ich glaube, er sieht das Ganze als eine Art Prüfung. Immerhin werde ich seinen Laden irgendwann schmeißen.” Ein weiterer Schwall Rauch verließ Boris’ Mund. „Verdammt, Mann”, sagte er, „Wie alt bist du?” Kai verzog das Gesicht. „Siebenundzwanzig.” „Junge. Du solltest einpacken und abhauen.” „Tja.” Ihm war ein wenig nach Lachen zumute, aber es reichte nicht, um es wirklich zu tun. „Jedenfalls ist das der Grund, warum ich mit Ralf Jürgens meine Zeit verbringe. Er kommt alle paar Monate nach Berlin, und dann muss ich ihn natürlich treffen. Wahrscheinlich redet er hinter meinem Rücken mit meinem Großvater über mich, also sollte ich auch dafür sorgen, einen guten Eindruck zu hinterlassen.” „Na, das hat heute schon mal nicht geklappt”, warf Yuriy ein, „Du bist einfach mit zwei Russen durchgebrannt, das gibt Ärger. Schnaps?” Kai hielt ihm wortlos sein Glas hin, aber Boris hob abwehrend die Hand. Yuriy goss erneut ein und sie stießen zu zweit an. „Vielleicht hatte ich ja Spaß, weil du so gute Musik gemacht hast”, sagte Kai dann leichthin. Er fing einen wissenden Blick von Boris und ein Lächeln von Yuriy ein. Irgendwo in einem Stockwerk unter ihnen öffnete jemand ein Fenster. Das Geräusch hallte ungewöhnlich weit in der Stille des Morgens. Erst in diesem Moment fiel Kai auf, dass an den Rändern seines Blickfeldes Licht über den Horizont kroch. Der Balkon ging Richtung Westen, und so hatten sie den Sonnenaufgang im Rücken. Wann hatte er das letzte Mal eine Nacht durchgemacht? Vermutlich nicht auf einer Party, sondern beim Verfassen irgendeines irrelevanten Berichts für die Arbeit. „Also gut.” Boris erhob sich. „Ich hau mich aufs Ohr. Wir sehen uns später?” Dabei sah er sie beide an. „Sicher”, entgegnete Yuriy und ersparte Kai damit eine Antwort. Boris nickte und hob noch mal die Hand, dann bahnte er sich einen Weg durch das dunkle Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Allein mit Yuriy zu sein machte Kai nervös, aber auf eine gute Art. „Kann ich einen Zug haben?”, fragte er und deutete auf die fast abgebrannte Zigarette des anderen. „Kannst aufrauchen.” Yuriy reichte sie ihm und ihre Hände berührten sich. Ihre Finger waren kalt. Kai nahm einen Zug und für einen Moment waren seine Sinne voller Rauch. Dann blies er ihn in die Nacht, die sich nicht von der Stadt lösen wollte. Es war ihm ganz lieb so. Tageslicht, fand er, wäre jetzt vollkommen unangebracht. „Also”, sagte er, „Wenn das hier kein One Night Stand wird - was dann?” „Hm”, machte Yuriy. „Sag du es mir.” Aus irgendeinem Grund fühlte er sich durchschaut. Er konnte nichts sagen, sondern sah einfach nur Yuriy an, der diesen Blick irgendwann erwiderte. Dieses Mal ohne dabei frech zu Grinsen. Oh, wo war er hier nur reingeraten? „Yuriy, ich…”, fing er an und unterbrach sich, denn es war seltsam, aber so gut, diesen Namen auf der Zunge zu spüren. „Ist dir kalt?”, unterbrach ihn der andere. Kai schloss den Mund, dann nickte er. Drückte die Zigarette in den Aschenbecher. „Lass uns reingehen”, sagte Yuriy. In der Wohnung war es noch stiller, wenn das überhaupt möglich war. Sobald sie die Balkontür schlossen, verstummten das Vogelgezwitscher und alle anderen, unbestimmten Nebengeräusche. Erst als Yuriy eine Stehlampe anschaltete, wurde Kai bewusst, dass dies hier sein Zimmer sein musste: Ihm fiel sofort das Mischpult auf, das einen ziemlich prominenten Platz einnahm. Neben der Tür stand der Kleiderschrank, dahinter das Bett. Am Fenster der Schreibtisch und auf der anderen Seite des Raumes ein Bücherregal. Langsam wurde ihm wieder warm. „Willst du noch was?” Ja, dachte er und schüttelte den Kopf. Sie setzten sich auf das Bett, Yuriy ans Kopfende, Kai ihm gegenüber, die Beine angezogen. „Es ist seltsam”, fing er an, „Ich habe das Gefühl, wir kennen uns schon viel länger als ein paar Stunden.” „Manchmal ist das so”, entgegnete Yuriy, „Es gibt Menschen, die sind einem sofort vertraut.” „Also geht es dir auch so?” Sein Gegenüber verzog nur den Mund. Auf einmal wirkte er erschöpft von der langen Nacht. Und Kai ertappte sich bei dem Wunsch, ihn zu berühren, und zwar mehr als nur flüchtig. Vielleicht war das von Anfang an der Grund gewesen, weshalb er in Boris’ Auto gestiegen war, auch wenn er sich selbst eingeredet hatte, einfach nur weg von den anderen zu wollen. Und jetzt war er hier und könnte sich einfach vorbeugen und alles ignorieren, was er vorhin von sich behauptet hatte. „Hör mal, Kai”, sagte Yuriy in diesem Moment. Er hatte ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen, doch jetzt senkte er den Blick. „Ich bin kurz davor, etwas sehr Gutes oder sehr Dummes zu tun. Also… wenn es etwas sehr Dummes sein sollte… dann musst du es mir jetzt sagen.” Kais Mund wurde trocken. Ein Teil von ihm, den er in letzter Zeit sehr vernachlässigt hatte, begann, nach Aufmerksamkeit zu schreien. „Es ist nicht dumm, aber...” Es war schwer, das in Worte zu fassen. „Ich weiß nicht, Yuriy. Das würde gerade einiges durcheinander bringen. Ich… ich kann das einfach nicht!” Ihm war sehr bewusst, dass er hier gerade alles kaputt machte; am liebsten wäre er einfach aufgesprungen und rausgegangen, aber wohin dann? „Ich meine, fuck, ich weiß doch noch nicht einmal, wie lange ich in dieser Stadt bleiben werde!” Seine Stimme war lauter geworden und er brach ab, war selbst erstaunt, welche Gefühle gerade in ihm zum Vorschein kamen. Yuriy sagte nichts, er sah ihn einfach an, wenn auch seine Augenbrauen etwas nach oben gewandert waren. Kai fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und atmete durch. „Ich glaube, ich bin gerade sehr frustriert”, sagte er. „Weil ich seit über zwei Jahren hier bin und sich gerade nichts bewegt. Ich habe… ein paar Dinge ganz schön in den Sand gesetzt. Und gerade funktioniere ich einfach nur. Das kann so nicht weitergehen. Aber vielleicht bedeutet das, dass ich einfach hier weg muss.” So genau hatte er noch nicht darüber nachgedacht. Aber manchmal, wenn ihm alles zu viel wurde und er seinen Großvater dafür verfluchte, ihn hierhergeschickt zu haben, wollte er einfach alles hinschmeißen. Zurück nach London, oder noch besser, nach Hause. Weg von diesen grauen, europäischen Wintern, den verkniffenen Gesichtern und der Einsamkeit, die er hier erlebt hatte. „Und wenn jetzt irgendwas passieren würde - mit dir - das würde mir nicht helfen.” Es würde alles nur noch viel schlimmer machen, da war er sich sicher. „Vielleicht brauchst du neue Freunde”, sagte Yuriy. Beinahe hätte er gelacht. Wenn es doch nur so einfach wäre. Der Rothaarige bewegte sich, er hielt ihm die Hände entgegen. „Komm her.” Kai zögerte, dann griff er nach Yuriys Hand und ließ sich zu ihm ziehen, in eine umständliche Umarmung, bei der er halb auf ihn fiel. Yuriy war warm, er roch ein bisschen nach Rauch und Haargel und frischer Luft. Wie lang war er nicht mehr so umarmt worden? Mit diesem Gedanken gab er ein wenig mehr nach, und ihm war, als würde auch Yuriy diese Nähe brauchen, wenn auch aus anderen Gründen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)