Großstadtgeflüster von lady_j ================================================================================ Kapitel 4: Ich brauche neue Freunde ----------------------------------- Das Pult vibrierte unter Yuriys Fingern, sprang ihm im Takt des Beats entgegen. Deswegen liebte er es so, im Club aufzulegen. Das Gefühl war einfach anders, echter. In seiner Wohnung musste er sich aus Platz- und Kostengründen auf einen Controller und den Laptop beschränken, hier war jeder Effekt mit Handarbeit verbunden. Der Mixer war wesentlich größer und ihnen standen mindestens vier Controller zur Verfügung. Jede Nacht, die sie in einem Club verbrachten, war gleichzeitig eine Gelegenheit, ihre Fähigkeiten an dem elaborierten Equipment zu trainieren und auszubauen. Inzwischen war er überzeugt, dass ihm die Übergänge live besser gelangen als am Computer, einfach weil konkrete Handbewegungen mit ihnen verbunden waren. Die Stimmung im Raum war überraschend gut. Yuriy konnte nicht viel erkennen, doch es sah voll aus. Innerhalb der letzten halben Stunde hatten sie das Tempo ziemlich hochgeschraubt, aber die Leute machten ohne zu murren mit. Jetzt, wo sie sich in ihrer Komfortzone befand, übernahm Mathilda mehr und mehr die Kontrolle. Yuriy trat einen Schritt zurück, griff nach seinem Becher Wasser und beobachtete seine Kollegin. Sie war voll auf ihre Musik konzentriert und presste ihren Kopfhörer stärker ans Ohr, bevor sie zufrieden nickte und im Takt zu wippen begann. Ein paar Sekunden später wechselte die Tonspur und von der Tanzfläche kamen ein paar begeisterte Ausrufe. Mathilda ließ sich davon nicht beeindrucken, wie immer zog sie einfach ihr Ding durch. Wahrscheinlich war sie in der Vergangenheit einfach zu oft unterschätzt worden. Sie gab nicht viel auf die Zustimmung der Menge; dank ihres Könnens konnte sie sich das allerdings auch leisten. Yuriy überließ ihr gern das gesamte Set, sie wusste sowieso viel besser, was sie jetzt noch alles rausholen konnte. Er beugte sich vor, um ein paar Einstellungen über seinen Laptop vorzunehmen und nach einigen Tracks zu suchen, die er später spielen wollte. Währenddessen warf er einen kurzen Blick auf die Tanzenden. Er stutzte: War das nicht der Typ von vorhin, den er da gerade im flüchtigen Scheinwerferlicht gesehen hatte? Als der Strahler das nächste Mal über die Menge wanderte, sah er genauer hin: Tatsächlich. Und keine Spur von Jürgens oder Olivias Verehrer. Hatte er sich etwa von den anderen abgesetzt? Yuriy verzog den Mund - er konnte es ihm nicht verübeln. Und wie es schien hatte Kai da unten auch seinen Spaß. Es war nicht leicht, zu elektronischer Musik zu tanzen und dabei gut auszusehen, vor allem dann, wenn irgendwelche Alt-Raver sich quer über die Tanzfläche fuchtelten. Die meisten Jüngeren wippten mehr oder weniger enthusiastisch auf und ab. Angesichts dieser Umstände holte Kai das Beste aus sich raus, fand Yuriy. Seine Bewegungen hatten eine Leichtigkeit, die er meist nur bei Menschen sah, die sich wirklich auf die Musik einließen. Es tat gut zu sehen, dass Mathilda und er so eine Wirkung auf ihr Publikum hatten. In diesem Moment drehte Mathilda sich zu ihm um. „Willst du übernehmen?”, brüllte sie ihm ins Ohr und er nickte nur, bevor er wieder ans Pult trat. Sie hatte die Geschwindigkeit noch einmal hochgeschraubt und ließ ihn mit der recht undankbaren Aufgabe zurück, diese wieder zu drosseln. Aber sie hatten zuvor schon einige Transitions ausprobiert und er wusste, was zu tun war. Das Display mit den BPM immer im Auge behaltend drehte er an einigen Effektreglern, bevor er eine kurze Sequenz dazu schaltete, die den Übergang untermalen sollte. Dann verlangsamte er das Ganze, um auf die Geschwindigkeit des neuen Tracks zu kommen. Ein paar Effekte und ein recht abruptes Crossfade später war er auf dem richtigen Kanal. Die Menge dankte es ihm mit ein wenig Jubel, doch er war schon vollauf damit beschäftigt, die nächste Transition einzuleiten. Manchmal sah er auf, seine Augen suchten Kai. Es war gut, sich bei jedem Auftritt ein bis zwei Menschen auszusuchen und zu beobachten, um die Stimmung etwas besser einschätzen zu können. Das war leichter, als die komplette Masse erfassen zu wollen. In diesem Bezug kam ihm sein neuer bester Freund da unten gerade recht. Unter seinen Händen schwang sich die Musik zum nächsten Raise auf, den er so lange wie möglich halten wollte, ohne dass ihm die Leute abhandenkamen. Doch offensichtlich hatte er sie komplett in den Bann geschlagen, denn die Bewegungen wurden schneller, unkontrollierter. Niemand schien die Absicht zu haben, den Floor in nächster Zeit zu verlassen. Seine Kopfhörer gaben schon jetzt wieder, was in ein paar Sekunden passieren würde und er erlaubte sich ein zufriedenes Grinsen. Dann nahm er die Hände von den Reglern und ließ es geschehen. Der Drop ins nächste Stück kam überraschend und mit einem Rhythmuswechsel, der für einigen Lärm auf der Tanzfläche sorgte. Bevor Yuriy sich wieder auf seinen Mix konzentrierte, sah er für einen Augenblick, wie Kai sich zu ihnen umdrehte. Mildes Erstaunen lag auf seinem Gesicht, dann schloss er sich wieder den Bewegungen der Masse an. Kai konnte nicht sehen, was am DJ-Pult vor sich ging, dafür war es zu dunkel. Aber was auch immer die beiden dort machten, es war gut. Normalerweise hielt er es nie wirklich lange auf einem Electro-Floor aus (oder zumindest nicht mit einem Pegel wie er ihn jetzt hatte), denn oft wurde es irgendwann einfach langweilig. Heute allerdings kamen die Wechsel zum richtigen Zeitpunkt und er hatte das Gefühl, dass sie sich langsam aber sicher in eine kollektive Trance tanzten. Die Dunkelheit hier half, sich etwas sicherer zu fühlen, denn es war unmöglich zu erkennen, ob er der einzige hier war, der allein tanzte. Sein Körper berührte andere, sie stießen zusammen oder streiften sich, manchmal war eine Hand an seinem Arm und drangen Wortfetzen an sein Ohr, die nicht für ihn bestimmt waren. Aber alles fügte sich in die Musik ein, ging in ihr auf. Das Tempo hatte sich schon vor geraumer Zeit erhöht und aus dem anfänglich entspannten Wogen der Masse war ein leises Brodeln geworden. Die Bewegungen waren intensiver, seltener musste er Platz machen für Leute, die sich an allen vorbeischlängelten und damit aus dem Rhythmus brachten. Bevor sie müde werden konnten, nahm die Geschwindigkeit wieder ab. Der Bass wurde tiefer und voller, dröhnte durch den Beton, von dem sie eingeschlossen waren, und hallte in Kais Brustkorb wieder. Die Musik kam in Wellen, und je kunstvoller diese gebrochen wurden, bevor sich eine neue aufbäumte, desto besser. Es gab einen Moment, indem Kai das Gefühl hatte, sich mit den Tönen zu erheben; und dann, genau im richtigen Augenblick, kam ein so treffsicherer Wechsel, dass ihm kurz der Mund offen blieb. Die Entscheidung, heute hierhergekommen zu sein, fühlte sich gerade verdammt richtig an. Wieder bemerkte er eine Hand an seinem Oberarm, doch anders als zuvor griffen die Finger fest zu. Kai öffnete die Augen und drehte sich um. Ihm gegenüber stand ein Kerl, den er kannte, aber nicht sofort einordnen konnte. Groß, wirres Haar, ruhige Augen. Über und über in das blaue Licht der Strahler getaucht. Dann fiel es Kai wieder ein: Der Typ war Garlands Mitbewohner. Oder sein Freund? Oder eher - sein Exfreund? Er erinnerte sich, dass Giulia ihm von Garlands ersten Schritten mit ihrer App erzählt hatte. Vor vielen Monaten hatte Garland ihn und ein paar andere Leute zu sich nach Hause eingeladen, um irgendetwas zu feiern. Dort Kai auch den anderen Kerl kennengelernt. Aber wie war bloß sein Name? Sein Gegenüber reichte ihm die Hand und beugte sich vor. „Was für ein Zufall!”, rief er ihm ins Ohr. „Kai, oder? Erinnerst du dich an mich? Ich bin Brooklyn.” Ach ja, genau. Kai nickte. Dann stellte er sich dumm: „Wo ist Garland? Ihr seid doch sicher zusammen hier.” Brooklyn schüttelte den Kopf. „Wir sind nicht mehr zusammen!” Die Worte waren kaum zu verstehen. Er nickte zur Bar. „Willst du was trinken?” Eigentlich wollte Kai nicht unbedingt von der Tanzfläche runter, aber er hatte Durst. Also sagte er zu und folgte Brooklyn, der dankenswerterweise einen Weg für sie durch die Menge suchte. Kurz darauf drängten sie sich an die Bar, mussten angesichts der anderen Menschen enger zusammenrücken, aber immerhin konnten sie sich jetzt besser sehen. Kurz ließ Kai den Blick über Brooklyn wandern, der weiße Jeans und ein dunkles Shirt trug und sich objektiv betrachtet nicht verändert hatte. Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was er machte - wahrscheinlich aber war, dass er bei einer Bank oder einer Versicherung arbeitete. „Schön dich zu sehen”, sagte Brooklyn und drückte ihm eine kühle Flasche in die Hand, bevor er mit seiner eigenen gegen sie stieß. Kai nickte und trank. „Ist schon eine Weile her. Wie geht es dir?” Die Frage war nur ein Vorwand, es interessierte ihn nicht wirklich. Während Brooklyn ihm unaufgefordert davon erzählte, wie Garland und er Schluss gemacht hatten und dass es ihm inzwischen natürlich viel besser ging, ließ Kai den Blick noch einmal über die Tanzfläche schweifen. Von seinem Standpunkt aus war noch weniger zu erkennen und die Musik klang etwas dumpfer, halb überdeckt von dem Gewirr der Stimmen um sie herum. Wie spät war es eigentlich? Sie hatten vorhin eine halbe Ewigkeit auf Olivias Floor verbracht und gerade beim Tanzen hatte er komplett das Zeitgefühl verloren. Als Brooklyn das nächste Mal gestikulierte, bemerkte er eine silberne Uhr an seinem Handgelenk. Unauffällig beugte Kai sich vor, um einen Blick auf das Ziffernblatt zu erhaschen. Drei Uhr? Wie war das denn passiert? Von der Tanzfläche schallten ein paar schräge Töne zu ihnen herüber, was die Menge aber ganz besonders zu feiern schien. „Tja, und jetzt bin ich hier”, beendete Brooklyn seinen Monolog. „Was ist mit dir? Du arbeitest doch mit Garland zusammen, oder?” Beinahe hätte Kai die Augen verdreht; es gab nichts Schlimmeres als während seiner Freizeit noch über die Arbeit reden zu müssen. Und keine Sorte Mensch war nerviger als diejenige, die das nicht respektierte. „Hmhm”, machte er deswegen unbestimmt und führte schnell wieder seine Flasche an den Mund. Der Beat auf dem Electro-Floor war inzwischen wieder gleichbleibend und etwas träge, alle anderen Tonspuren schienen leiser geworden zu sein. Ein paar Grüppchen machten sich auf, den Club zu verlassen und es wurde für ein paar Minuten etwas leerer um sie herum. „Hey, sag mal, rauchst du eigentlich?” Brooklyn berührte ihn kurz, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Dann kam er ihm näher. „Ich hab ein bisschen Gras dabei, wenn du willst.” Jetzt musste Kai sich wirklich anstrengen, um seine unverbindlich-freundliche Miene beizubehalten. Was wollte der Typ von ihm? Wenn das eine Anmache sein sollte, dann war sie mehr als holprig. Er seufzte und drehte sich halb von Brooklyn weg, stützte die Ellenbogen auf den Tresen. Gab es denn keine Möglichkeit, aus dieser Situation zu entkommen? In diesem Moment tauchte eine große Gestalt hinter Brooklyn auf, zwängte sich zwischen sie und ein anderes Pärchen an die Bar. Kai blinzelte, dann trafen sich ihre Blicke und er empfing ein amüsiertes Grinsen. Yuriy sah auf die Uhr, dann stieß er Mathilda an. „Es ist fast drei!”, rief er ihr zu und statt zu antworten hüpfte sie ein wenig auf und ab. „Was meinst du?”, fuhr er fort, „Sollen wir es tun?” Mathilda verdrehte die Augen. „Die Leute werden es feiern”, entgegnete sie, „Aber Miguel wird dich dafür hassen, wenn er dann übernehmen muss.” „Ach Quatsch, ich geb‘ ihm nächstes Mal einen aus, dann ist alles wieder gut!” Yuriy streckte die Hand aus und veränderte ein paar Einstellungen auf seinem Laptop. Ein neuer Track lief in seinen Kopfhörern an, der letzte für heute. Er blickte noch einmal zu Mathilda, die zwar die Augen verdrehte, aber genauso breit grinste wie er. Mehr Zustimmung brauchte er nicht. „Feierabend!”, beschloss er und bediente ein letztes Mal die Regler. Jetzt ist Feierabend Ich kann nicht mehr dieses elende Geseier haben Ich werde jede Forderung sofort im Keim erschlagen Die können morgen alle gern die alte Leier klagen Aber nicht mehr jetzt Denn jetzt ist Feierabend Sehen Sie die Uhr dort oben, wissen Sie die Zeiger sagen Dass ich Sie anzeige, wenn Sie mich jetzt noch weiter plagen Sie können alles weitere hier den Herrn Meier fragen Und nun verpissen Sie sich, denn jetzt ist Feierabend „Yuriy! Ich hasse dich!” Das war Miguel, der just in diesem Augenblick zu ihnen stieß, wie immer komplett gestresst und seine Geräte unterm Arm. „Wie soll ich das denn jetzt mischen, bitte?” „Lass halt ein paar Beats durchlaufen und dann ist gut”, wiegelte Yuriy ab, der schon dabei war, sein Equipment abzubauen. Miguel murrte viel, wenn der Tag lang war. Fakt war aber, ein paar von den Leuten auf der Tanzfläche gingen gerade noch mal richtig ab. Bis zum zweiten Refrain ließ er sie noch, dann drehte er den Song langsam ab, sodass er auch seinen Laptop abschließen und verstauen konnte. Mathilda war etwas schneller als er. „Hey, ist es okay, wenn ich schon abhaue? Ich bin morgen noch mit Salima verabredet und will ins Bett.” Er nickte und zog sie für eine kurze Umarmung an sich, dann winkte sie noch mal und verschwand zwischen den Tanzenden. Als Yuriy endlich alles eingepackt hatte, schulterte er seine Tasche und schlug mit Miguel ein. „Viel Spaß noch!” „Mach bloß, dass du wegkommst!” Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Einige der Leute merkten wohl, dass er gerade vom DJ-Pult gekommen war, denn sie klopften ihm auf die Schulter und riefen ihm gelalltes Lob entgegen, bevor sie weitertanzten. Yuriy hob jedes Mal dankend die Hand, hielt aber nicht an. Es war ein guter Auftritt gewesen, wenn auch nicht lang genug, um ihn zu ermüden. Kurzerhand steuerte er die Bar an, um sich mit einem Getränk zu belohnen, das ihm hoffentlich auch dabei half, seinen Adrenalinpegel etwas zu senken. Leider war er nicht der einzige mit dieser Idee, und so musste er ein wenig drängeln, um zu seinem Ziel zu kommen. Und dann fiel sein Blick auf eine bekannte Gestalt. Kai wirkte, als wäre er an jedem Ort der Welt lieber als hier, während der Kerl neben ihm ihm offensichtlich das Ohr abkaute. Wie hatte der Junge sich denn in diese Situation gebracht? Yuriy erhaschte einen Platz direkt neben ihnen und bestellte sich ein Bier, bevor er über den rotblonden Schopf des Fremden hinweg zu Kai sah. Sein Blick traf auf die dunklen Augen, deren Ausdruck sich veränderte, als er ihn erkannte. Die Barkeeperin stellte ihm sein Getränk hin und er gönnte sich einen Schluck, bevor er sich wieder Kai zuwandte. Er machte eine kleine Kopfbewegung in Richtung des Kerls zwischen ihnen, der immer noch redete, und verdrehte theatralisch die Augen. Kais Mundwinkel zuckten und er zog kaum merklich eine Augenbraue hoch. Yuriy wartete. Kai schien eine Weile zu überlegen, dann griff er in einer beherzten Geste nach der Schulter seines Gesprächspartners. Das brachte diesen zum Schweigen. Was Kai daraufhin sagte, konnte Yuriy nicht hören, doch er deutete dabei unbestimmt in den Club hinein. Der andere reagierte mit aufgeregtem Nicken, dann stürzte er plötzlich davon. Schon nach wenigen Schritten hatte ihn die Menge verschluckt und Yuriy fand sich Kai direkt gegenüber. „Wie bist du ihn so schnell losgeworden?”, fragte er. Kai hob die Schultern. „Er fing an von Gras zu reden. Da habe ich ihm erzählt, ich wüsste jemanden, der MDMA vertickt. Drüben im Raucherraum.” „Stimmt das?” „Natürlich nicht - aber es würde mich nicht wundern, wenn er trotzdem jemanden findet.” „Das wird er ganz sicher. Prost.” Ihre Flaschen klirrten aneinander, sie tranken in einvernehmlichem Schweigen. „Wo hast du deinen Anhang gelassen?”, fragte Yuriy dann. „Oh, ich bin sicher, die beiden tragen auf Olivias Floor gerade ein großartiges Lip Sync Battle zu irgendeinem Song von den Backstreetboys aus”, meinte Kai, „Da würde ich nur stören. Außerdem hat es mir hier ganz gut gefallen.” „Ganz gut, aha.” Yuriy hob die Augenbrauen. „So nennst du das.” Darauf erwiderte Kai nichts. Sein Gesicht gab nicht Preis, was er dachte, aber Yuriy konnte es sich in etwa vorstellen. Wahrscheinlich hielt Kai ihn für unter seiner Würde und gab sich nur mit ihm ab, um nicht zurück zu Jürgens zu müssen. Solange sie höflich zueinander waren, störte ihn das nicht. Und außerdem mochte er einen kleinen Flirt hier und da. „Also”, fing er schließlich wieder an, „Wo kommst du her?” Jetzt zogen sich Kais Brauen doch zusammen. „Uh, Japan”, antwortete er, „Tokio.” Yuriy lachte in sich hinein. „Ich meine den Kiez, Mann.” „Oh.” Die Anspannung, die sich bei der Frage in Kais Körper geschlichen hatte, fiel sichtbar von ihm ab. „Friedrichshain.” „Verstehe.” Yuriy stützte sich seitlich auf den Tresen und legte den Kopf schief. „Lass mich raten. Du wohnst irgendwo Ecke Warschauer Straße, Revaler Straße. Einraumwohnung, aber kein Altbau. Eher so eine von diesen modernen Wohnungen, bei denen die Küche direkt im Raum integriert ist. Einbauküche, Dusche statt Badewanne, Balkon, aber keine Pflanzen.” So, wie sich Kais Gesichtsausdruck veränderte, traf er voll ins Schwarze. Aber da ging noch mehr. „Keine Haustiere. Aber ein Fahrrad. Oder ein Auto? Hm, nein, eher nicht... Du arbeitest in Mitte, das ist schon mal klar. Bestimmt bei irgendeinem von Jürgens-McGregors Start-ups. Und du bist, wie nennt man das? Irgendwas mit Manager im Titel. Jemand, der verzweifelt versucht, den Kahn über Wasser zu halten, obwohl dein Chef ihn gerade gegen einen Eisberg gesteuert hat. Na?” Kai ließ ihn ein paar Sekunden warten, während er einen Zug aus seiner Flasche nahm. „Stalkst du mich?”, fragte er dann. „Ich kenne meine Stadt”, entgegnete Yuriy schlicht. „Okay. Ich bin dran.” Kai verschränkte die Arme und musterte ihn noch einmal eingehend. „Du wohnst im Wedding, in einer WG. Altbau. So eine wie sie alle wollen: Hohe Decke, bisschen Stuck, Dielenboden. Aber nicht renoviert und daher extrem günstig. Außerdem hat sie einen komischen Grundriss, wahrscheinlich ist eure Dusche in der Küche oder so was. Du hast zwei Mitbewohner. Vielleicht zwei Frauen. Eine davon hat eine Katze. Ihr kifft immer zusammen auf dem Balkon und am Sonntag guckt ihr Tatort, um euch darüber lustig zu machen. Du hast auch noch einen anderen Job. Der nichts mit Musik zu tun hat. Aber vielleicht mit Technik. IT oder so.” Jetzt konnte Yuriy sich nicht mehr zurückhalten und prustete los. „Nicht richtig?”, fragte Kai. „Es ist unglaublich, wie falsch du liegst!” „Hmm.” Es war ein warmer, tiefer Klang, der seine Kehle verließ und an ganz seltsamen Stellen bei Yuriy ankam. Kai wandte sich halb von ihm ab und begann, mit dem Daumen die Banderole von seiner Flasche zu kratzen. „Dann musst du mir wohl was von dir erzählen”, meinte er und warf Yuriy einen Seitenblick zu. „Zum Beispiel?” „Zum Beispiel - Warum Ostblocc?” „Das ist leicht”, antwortete Yuriy und hob die Schultern. „Wir kommen aus den ehemaligen Ostblockstaaten. Außer Salima, die kommt aus Neukölln.” „Das heißt, du bist auch nicht hier aufgewachsen?” Er schüttelte den Kopf. „Meine Geburtsstadt ist Moskau. Aber wir sind dann gleich ‘92 hierhergekommen.” Kai nickte, und anders als andere, mit denen Yuriy dieses Gespräch schon geführt hatte, schien er zu verstehen, wovon er sprach. Vielleicht war er ein kleiner Geschichtsnerd. Sie tauschten ein paar weitere Kleinigkeiten über sich aus und ihre Unterhaltung entwickelte sich in eine durchaus angenehme Richtung. Anfangs rechnete Yuriy noch jeden Augenblick damit, dass Kais Verehrer von vorhin wieder zurückkam, aber das tat er nicht. Womöglich hatte er wirklich irgendwo einen Dealer gefunden und hatte nun andere Prioritäten. Auch ihre Flaschen leerten sich mit der Zeit, doch selbst das war kein Grund für sie, sich voneinander zu verabschieden. Für Yuriy war das eine Abweichung von der Norm; nach der Arbeit blieb er nie lange im Club, sondern wollte immer möglichst schnell nach Hause, um ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Das führte allerdings auch dazu, dass er nur noch selten neue Bekanntschaften schloss, und so war Kai eine nette Abwechslung. Und außerdem wurde er ihm gerade immer sympathischer. Er sprach ziemlich langsam, aber fast ohne Akzent, was Yuriy beachtlich fand für jemanden, der erst seit zwei oder drei Jahren hier lebte. Seine Körpersprache war unaufgeregt, entspannt. Die Augen allerdings - vor denen musste man sich in Acht nehmen. „Aber verrate mir doch mal”, sagte Yuriy irgendwann, als sie beide schon mutiger geworden waren, „Warum gibt sich jemand wie du mit Leuten wie Jürgens ab? Du musst doch wissen, dass der nur an seine Kohle denkt.” „Was bringt dich zu der Annahme, dass ich nicht auch nur an meine Kohle denke?”, schoss Kai zurück. „Ich bin ziemlich sicher, du weißt, wie du deine Finanzen zusammenhältst, keine Sorge”, sagte Yuriy, „Aber du machst nicht den Eindruck, als würdest du dich grundlos bereichern wollen.” Er unterbrach sich, überlegte, ob er die Gedanken aussprechen sollte, die ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf schwirrten. Doch dann warf er alle Vorsicht über Bord: „Ansonsten wärst du nicht so eine kleine Leuchte bei Olivias Macker. Du hast mehr im Kopf als er, das ist ziemlich offensichtlich. Und ich schätze mal, Jürgens hat mehr Respekt vor dir als vor ihm. Also warum zum Teufel bist du nicht der Chef von dem Laden? Typen wir ihr wollen doch immer nur möglichst schnell aufsteigen. Du nicht. Warum?” „Oh, ich werde aufsteigen”, sagte Kai, „Nur eben nicht so schnell, wie alle erwarten.” Yuriy horchte auf. Nicht umsonst arbeitete er mit Jugendlichen; er wusste, auf welchen Tonfall er achten musste, hatte ein Gespür dafür, wann sich die Stimmung eines Gegenübers änderte. „Alle - oder jemand bestimmtes?”, hakte er nach. Zum ersten Mal an diesem Abend schien Kai wirklich verunsichert. Er dachte eine ganze Weile nach, bevor er antwortete: „Man könnte sagen, Ralf schuldet meiner Familie noch einen Gefallen. Das ist der Grund, weshalb ich hier bin. Aber das bedeutet nicht, dass ich ihm auch irgendwie beispringen muss.” „Wow.” Yuriy konnte sich angesichts dieser filmreifen Erklärung etwas Sarkasmus nicht verkneifen. „Wie heißt denn dein Clan?” Kai biss sich auf die Lippe. „Ist es okay, wenn ich dir das nicht sage?” Natürlich machte ihn diese Antwort nur umso neugieriger. Doch ob nun beabsichtigt oder nicht, Kais Charme erweichte ihn. Also hob er nur die Schultern und meinte: „Das klingt ein wenig nach Mafia-Drama, da halte ich mich lieber raus. Will ja nicht mit einbetonierten Füßen im Landwehrkanal enden.” Kai verzog den Mund, ihm schien jedoch nicht nach Lachen zumute. Und Yuriy fing jetzt doch an, zu überlegen, wie er das Gespräch retten konnte. Vielleicht sollte er Kai noch ein Bier kaufen, schließlich machte Alkohol alles besser… Der Gedanke hatte es noch gar nicht zu seinem Mund geschafft, als Kais Augen plötzlich groß wurden. „Shit!”, stieß er aus und duckte sich hinter Yuriy weg. Der drehte sich um, damit er sehen konnte, was Kai in solche Aufregung versetzte. Es waren Jürgens und der Italiener. Sie standen am anderen Ende des Tresens und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihr verlorengegangenes drittes Rad entdecken würden. „Ich glaub, du bist gefickt, Kai”, meinte er, als er sich wieder seinem Gesprächspartner zuwandte, „Dich sehen sie vielleicht nicht, aber ich falle ein bisschen auf. Und wenn sie sich an mich erinnern, kommen sie sicher rüber.” „Ja, ganz toll”, erwiderte Kai, der den Hals reckte, um nach den anderen zu sehen, bevor er sich schnell wieder aus ihrem Blickfeld bewegte. „Ich hab echt keine Lust, mit denen nach Hause zu gehen.” „Du könntest dir auch einfach ein Taxi nehmen”, schlug Yuriy vor. „Sicher. Der erste Abend seit Monaten, an dem ich ausgehe, und er endet damit, dass ich vor Ralf Jürgens und Giancarlo Tornatore in einem Taxi nach Hause fliehe.” „Okay, ich gebe zu, das klingt armselig.” Trotzdem musste Yuriy schmunzeln. „Hast du eine bessere Idee?” Kai schwieg für ein paar Sekunden, dann blickte er zu ihm auf. „Wo wohnst du?” „Marzahn.” „Ich war noch nie in Marzahn.” Zugegeben, diese Wendung überraschte ihn. Aber nur kurz. „Na dann wird’s ja mal Zeit”, entgegnete er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)