The show must go on von yamimaru ================================================================================ Kapitel 12: Klappe, die Zwölfte ------------------------------- „Es ist bereits nach fünf! Was an ‚seid mindestens eine halbe Stunde vor Drehbeginn an der Lokation‘ habt ihr eigentlich nicht verstanden?!“   In der Sekunde, als Yukke und er den Strand betreten hatten, hatte sich ein Mörderblick vom Feinsten auf sie gerichtet und der kleine Regisseur war durch den feinen Sand so schnell auf sie zugeeilt, dass man hätte glauben können, er hätte sich einfach vor ihnen materialisiert. Und wenn Tatsuro ehrlich war, musste er zugeben, dass, wäre dies irgendeinem Menschen auf der Welt möglich, dieser Mensch wohl Miya heißen würde. Er musste sich ein Grinsen verkneifen. Manche Dinge änderten sich eben nie, doch nach all dem Unerfreulichen, was der Nachmittag für ihn und vor allem für Yukke bereitgehalten hatte, war dieser Umstand gerade seltsam tröstlich. Sein Drehpartner hatte auch schon den Mund geöffnet, wohl um den vor Wut schäumenden Produzenten zu besänftigen, bevor dieser sich noch komplett in Rage reden konnte, bekam jedoch nicht die Chance, auch nur einen Ton von sich zu geben.   „Ich hab euch mehr als einmal gesagt, dass wir den Strandabschnitt nur für zwei Stunden für uns haben. Verdammt, ihr bringt den ganzen Dreh in Gefahr!“   „Tut mir leid, Miya. Das war meine Schuld.“ Tatsuro war in seinem Leben noch nie so dankbar für sein schauspielerisches Talent gewesen, dass es ihm in diesem Augenblick erlaubte, seine Worte tatsächlich reuevoll über die Lippen zu bringen und auch seinen Gesichtsausdruck diesem Gefühl anzupassen, obwohl er am liebsten einfach nur mit den Augen gerollt hätte. „Wenn Yukke und ich jetzt sofort in die Maske gehen, schaffen wir die Aufnahmen in der verbleibenden Zeit, das garantiere ich dir. Wir sind doch Profis, nicht wahr?“   Entweder war das genau das, was Miya von ihm hatte hören wollen, oder er hatte es tatsächlich einmal geschafft, den kleineren Mann aus der Fassung zu bringen. Denn ohne noch ein weiteres Wort an sie zu richten, scheuchte Miya sie in Richtung eines weißen Unterstands, wo Yumiko und andere Mitglieder der Crew diversen Beschäftigungen nachzugehen schienen.   „Es wäre nicht nötig gewesen, den Ritter zu spielen“, schaltete sich Yukke ein, als sie schnellen Schrittes den Regisseur hinter sich gelassen hatten und für den Moment noch allein waren. „Er hätte Verständnis für den Grund unserer Verspätung gehabt.“   „Möglich“, murmelte Tatsuro und ließ nun doch das Schmunzeln zu, welches schon die ganze Zeit über an seinen Mundwinkeln zupfte. „Ist es denn so schlimm für dich, wenn ich mich ritterlich verhalte?“   „Nein … wüsste ich nicht genau, dass du das nur getan hast, um Miya eins auszuwischen.“   „Infame Unterstellung“, protestierte er, was Yukke jedoch nur mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte. „Ich hab es nur gut gemeint, immerhin ist Miya nicht ausgelastet, wenn er sich nicht wenigstens einmal am Tag über mich ärgern kann.“   Yukke blieb für einen kurzen Moment stehen, schüttelte den Kopf und lachte leise, was sein Herz für einen Schlag aussetzen ließ. Dieses Lachen. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie sehr er es vermisst hatte.   „Dann bleibt mir wohl nur, meinem Ritter tiefsten Dank auszusprechen“, redete der andere weiter und flatterte gespielt mit den Wimpern. Wo waren dumme Sprüche und schlagfertige Antworten, wenn man sie wirklich einmal brauchte? Ausgeflogen, wie sollte es auch anders sein.   „Nicht deswegen“, hörte er sich sagen und hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt, wie dünn seine Stimme gerade klang. Yumiko war es schließlich, die ihn davor bewahrte, einen noch größeren Idioten aus sich zu machen, als sie zu ihnen trat und ihn energisch am Ärmel packte.   „Tatsue! Was stehst du hier herum, wie ein Ölgötze? Es ist ja nicht so, als hätte ich nicht noch einiges zu tun. Himmelherrgott, hier hat wirklich niemand auch nur das Mindestmaß an Zeitgefühl.“   Tatsuro war seiner aufgebrachten Stylistin gerade deutlich dankbarer, als er jemals freiwillig zugegeben hätte, dass sie ihn nun rigoros hinter sich herzog, bis sie ihn auf einen Stuhl vor einer improvisierten Makeup-Station platzieren konnte. Ohne Yumikos Intervention hätte das gerade ziemlich peinlich für ihn werden können. Doch auch so verzog er innerlich das Gesicht, als Yukke wenige Momente später ebenfalls den Unterstand betrat und es nicht lassen konnte, ihm ein unendlich selbstzufriedenes Lächeln über den Spiegel hinweg zu schenken, bevor er von seiner eigenen Stylistin in Beschlag genommen wurde. Na großartig.   „Wo zum Geier hast du dich schon wieder herumgetrieben?“, zischte ihm Yumiko im Flüsterton zu und schaffte es damit, ihn aus seinen Gedanken zu reißen. „Miya ist auf hundertachtzig.“   „Das war das Erste, was ich mitbekommen habe, seit wir wieder hier sind. Du erzählst mir also nichts Neues“, nuschelte er, während die andere ihm mit feuchten Tüchern übers Gesicht wischte und im Anschluss begann, sein Make-up erneut aufzutragen.   „Ach ja? Dann wundert es mich wirklich, dass du überhaupt noch einen Kopf auf den Schultern hast, den ich jetzt herrichten kann.“   „Da siehst du mal, niemand kann meinem Charme widerstehen, auch Miya nicht.“   Yumiko prustete los und auch, wenn er ihren demonstrativen Unglauben normalerweise nicht unkommentiert gelassen hätte, war er gerade nur froh, sie mit seinem Kommentar genug abgelenkt zu haben, dass sie sich die nächsten Minuten schweigend ihrer Arbeit widmete. Er griff nach dem Drehbuch, das wie immer für ihn bereitlag und schlug es auf den Seiten auf, welche die folgende – und letzte – Szene im Detail beschrieben. Statt sich jedoch in den geschriebenen Worten zu vertiefen, starrte er diese nur an, während sich die Ereignisse des Nachmittags in seiner Erinnerung wie ein Film erneut abspielten.   Seek hatte wirklich schlimm ausgesehen. Das Gesicht blass und eingefallen, mit einem dicken Verband um den Kopf und von seinen grün gefärbten Haaren keine Spur mehr. Ein Infusionsschlauch hatte in seiner Armbeuge gesteckt und die Kabel der Elektroden, welche auf seiner Brust klebten, hatten sich bis zum Herzmonitor gezogen, der ein regelmäßiges Piepen von sich gegeben hatte. Zum Glück war er nicht beatmet worden, schien wenigstens so weit auf der Höhe zu sein, dass das nicht nötig gewesen war. Der Mensch, der dort im Krankenbett gelegen war, hatte mit dem lebenslustigen und quirligen Reporter, den er vor Wochen im Café flüchtig kennengelernt hatte, wirklich kaum noch etwas gemein gehabt. Tatsuro schluckte, als ihm das schlechte Gewissen das Atmen schwermachte. Er hatte wirklich geglaubt, Seek hätte all diese Halbwahrheiten über ihn an seinen Verlag weitergegeben, um sich zu profilieren, und diese ungerechtfertigte Verdächtigung seinerseits nagte nun ziemlich an ihm. Er schnaubte und schüttelte sacht den Kopf, was Yumiko mit einem unwilligen Knurren und einem festen Griff um sein Kinn kommentierte.   „Halt still und schau nach oben, sonst hast du die Wimperntusche überall hängen.“   „Ist ja gut.“ Er seufzte und sah zur weißen Plane des Unterstands empor, die ihm den Blick auf den Himmel verwehrte. Wieder huschten Fragen durch seine Gedanken, die er schon die ganze Zeit nicht losgeworden war. Wer war dafür verantwortlich, dass der Reporter nun im Krankenhaus lag? War es wirklich nur ein Raubüberfall gewesen, wie die Polizeibeamten Seeks vollkommen aufgelösten Eltern versichert hatten, oder steckte womöglich mehr dahinter? Vermutlich übertrieb er und sah Gespenster, wenn er diesen Zwischenfall nun auch mit seinem Stalker in Verbindung brachte, aber was, wenn nicht?   ‚Ich habe die Macht, dir alles zu nehmen, was dir lieb und teuer ist.‘   Wie aus weiter Ferne hörte er wieder diese Worte, die ihm regelmäßig Albträume bescherten, als sich Yukkes vor Trauer und Schuld verzerrtes Gesicht erneut vor sein inneres Auge schob. Der andere hatte so elend ausgesehen, als er neben Seek Platz genommen und nach seiner Hand gegriffen hatte. Am liebsten wäre er zu ihm gegangen und hätte ihn in den Arm genommen, ihm auf irgendeine Art Trost gespendet, alles, nur um diesen Ausdruck von seinem Gesicht verbannen zu können. Stattdessen jedoch war er vor dem Zimmer geblieben, hatte nur durch das Besucherfenster geblickt und sich unendlich hilflos gefühlt. Aber es war nicht an ihm gewesen, sich zu den Menschen um Seeks Bett zu gesellen. Dessen Eltern und Yukke hatten es verdient, sich ungestört ihren Sorgen hinzugeben. Und so hatte er versucht, es sich auf den ungemütlichen Besucherstühlen einigermaßen bequem zu machen, den kaum zu genießenden Kaffee getrunken und wenige, meist einsilbige Gesprächsfetzen mit Kenta geführt, um mit aller Macht zu versuchen, seine Paranoia nicht die Oberhand gewinnen zu lassen.   Kenta. Noch so ein Detail, welches ihm ständig vor Augen führte, wie desolat sein Leben im Augenblick wirklich war. Der Leibwächter hatte erneut in seiner Nähe Stellung bezogen und wenn sich Tatsuro nicht ganz täuschte, glitt sein überwachender Blick nicht nur stetig zwischen dem Eingang des Unterstands und ihm hin und her, sondern fixierte sich auffällig häufig auch auf Yukke. Ob Kenta ähnliche Schlüsse zog, wie er selbst es tat?   Der Stalker wusste von Yukke. So wie er über alles informiert zu sein schien, was in Tatsuros Leben vor sich ging. Wusste er also auch um die Gefühle, die er für seinen Drehpartner empfand? Und war dieses Wissen allein schon Grund genug, um einen unbeteiligten Außenstehenden lebensbedrohlich zu verletzen? Beinahe hätte er die Augen zusammengekniffen, als sein Herz schmerzhaft in seiner Brust stach. Wieder wurde ihm bewusst, dass er alle hier, jeden einzelnen Menschen, den der Stalker mit ihm in Verbindung bringen konnte, gefährdete. Sein Atem beschleunigte sich und er spürte einen Schweißtropfen, der ihm ekelhaft langsam über den Rücken rann.   „Tatsuro? Ist alles in Ordnung mit dir?“   „J… ja“, krächzte er mit belegter Stimme, „Ich glaub, ich muss nur mal was trinken.“   „Hier, Iwakami-san.“   Die Hand, die sich von der Seite her in sein Blickfeld schob und ihm eine ungeöffnete Wasserflasche entgegenhielt, war eindeutig die seines Personenschützers. Dennoch zuckte er unwillkürlich zusammen und starrte den Gegenstand für einen langen Moment nur wie versteinert an. Mit einem resigniert klingenden Seufzen griff er schließlich doch danach und während er einen großen Schluck des wohltuend kalten Wassers trank, wurde ihm ein weiteres Mal schmerzhaft bewusst, was ihm der Stalker bereits jetzt schon alles genommen hatte.   ~*~   Seine Haare, die Yumiko eben noch sorgfältig geglättet hatte, wurden ihm nun von der frischen Seebrise ins Gesicht geweht. Der Drang, sich über die kribbelnde Nase zu reiben, war fast übermächtig, aber noch hatte ihm Miya nicht das Zeichen gegeben, dass die Nahaufnahme seines Profils zufriedenstellend im Kasten war. Seine Hand zitterte leicht, als er sich nun, dem Fingerzeig des Produzenten folgend, einige Strähnen hinters Ohr strich und die Einkaufstasche anhob, die seine Figur, Akihiko, eben noch auf dem Boden vor der hüfthohen Steinmauer abgestellt hatte, die den Strand von der Straße abtrennte. Ein langes Seufzen kam ihm über die Lippen und sein sehnsuchtsvoller Blick hing für einen Moment am Horizont, wo sich die tief hängende Sonne in den herrlichsten Orange- und Rottönen im Meer spiegelte. Er machte Anstalten, die idyllische Szenerie hinter sich zu lassen, war gerade im Begriff, sich herumzudrehen, als sich seine Aufmerksamkeit auf eine Gestalt richtete, die langsam am Strand entlang ging und eindeutig seinen Blick suchte. Akihiko entglitten die Gesichtszüge, als er zu erkennen glaubte, wer dort unten stand. Der Schmerz, den diese Erkenntnis in ihm auslöste, war nur zu deutlich in seinen dunklen Augen zu sehen und seine angespannte Körperhaltung machte klar, dass er sich nicht entscheiden konnte, ob er fliehen oder voller Sehnsucht auf den Mann zueilen sollte, der nun eine Hand hob und ihm zuwinkte.   „Junji“, flüsterte er und der Wind frischte auf, trug den Namen seiner Liebe davon, als hätte er ihn nie ausgesprochen. Ein Ruck ging durch den schlanken Körper, als Akihiko mit steifen Schritten an der Strandpromenade entlang ging, bis er zu der Stelle in der mauer kam, wo einige, wenige Stufen zum Strand hinunterführten.   Tatsuro wusste nicht, wie er sich fühlen sollte, als er langsam auf Yukke zuging. Noch immer spukten ihm so derart viele Gedanken und sorgen im Kopf herum, dass er sich kaum auf den Dreh konzentrieren konnte. Aber noch hatte Miya nicht abgebrochen, noch schien er seine Rolle perfekt zu spielen, doch würde dem auch noch so sein, wenn er seinen Text herunterbeten musste? Gefühlte hundertmal in den letzten Wochen hatte er sich über die miesen Dialoge im Drehbuch beschwert, aber diese Schlussszene war es, die ihm jedes einzelne Mal, da er sie lesen musste, die Haare zu Berge stehen ließ.   „Akihiko.“ Junji lächelte ihn an, ein Ausdruck grenzenloser Erleichterung auf dem markanten Gesicht. „Ich wusste, dass du es bist.“   Innerlich hätte Tatsuro am liebsten die Augen verdreht. ‚Ich wusste, dass du es bist‘. Eine dümmere Begrüßung hätte dem Autor des Drehbuchs nicht einfallen können, oder?   Akihiko schwieg und anders, als er es sich in seinen träumen immer ausgemalt hatte – Träume, von denen das Publikum übrigens durch Einblendungen in diversen Zeitraffereinstellungen erfahren würde – ging er nicht weiter auf Junji zu, warf sich auch nicht in seine Arme und gestand ihm nicht unter Tränen, wie sehr er ihn vermisst hatte. Nein, Akihiko blieb stehen und erwiderte den Blick des kleineren Mannes stumm und regungslos. „Aki~?“   Der Kosename schmerzte und mit verzogener Miene wandte Akihiko den Blick ab, richtete ihn stattdessen erneut in die Ferne, bevor er leise, kaum hörbar wisperte: „Was tust du hier?“   „Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen …“ Junji machte einen Schritt auf ihn zu, aber er hob die Hand und schüttelte den Kopf als Zeichen, dass er sich fernhalten sollte. Akihiko brauchte eine gewisse Distanz zwischen ihnen, sonst würde er dem anderen doch noch einfach in die Arme fallen und all den Schmerz vergessen, den er ein Jahr lang in seinem Herz getragen hatte.   „Ein Jahr, Junji. Ein ganzes Jahr, in dem du dich nicht ein einziges Mal gemeldet hast. Und nun tauchst du hier einfach so auf?“ Er wischte sich in einer unwirschen Geste die Haare aus dem Gesicht, welche der Wind jedoch sogleich wieder durcheinanderbrachte. „Was willst du?“   Tatsuro schluckte und wartete nur darauf, ein lautes ‚Cut!‘ von schräg hinter sich zu hören, denn das Drehbuch sah eigentlich vor, dass Akihiko seinem Gegenüber mit einer gewissen Resignation und Trauer entgegentrat, doch die Frage, die ihm soeben über die Lippen gekommen war, war einem wütenden Ausruf gleichgekommen, der vielmehr seine innere Unruhe repräsentierte, als das, was der Autor für die Szene vorgesehen hatte. Aber ein Tadel blieb aus und Yukke passte sich seiner Improvisation erneut wie ein wahrer Profi an.   „Du weißt, warum ich gehen musste und auch, dass ich einfach keine Zeit hatte …“   „Keine Zeit?“ Akihiko machte eine derart aufgebrachte Handbewegung, dass man glauben mochte, er wolle die Worte ohrfeigen, die soeben Junjis Mund verlassen hatten. „Du hattest keine Zeit, dich auch nur ein einziges Mal bei mir zu melden? Mir zu sagen, wie es dir geht oder verflucht … einfach nur ein Lebenszeichen von dir zu geben?“ Er atmete schwer, schmeckte das Salz des Meeres auf seinen Lippen, als er sie mit der Zunge benetzte. „Du machst dir doch selbst etwas vor, Junji, und wenn du glaubst, was du soeben gesagt hast, bist du nichts weiter als ein Lügner.“ Akihiko schüttelte den Kopf, war im Begriff sich herumzudrehen und den Strand, den Mann, den er zu lieben gedacht hatte, endgültig hinter sich zu lassen.   Tatsuro legte einen verzweifelten Ausdruck der Zerrissenheit auf sein Gesicht, als er für einen kurzen Moment das Auge der Kamera suchte, bevor er sich doch noch einmal zu seinem Drehpartner wandte.   „Alles, was du mir gesagt hast, war doch nichts weiter als ein Vorwand. Der Deal in Übersee, die Investoren, all das waren doch nur durchaus praktische Gründe für dich, mich zurücklassen zu können.“   „Das ist nicht wahr! Und du weißt das.“ Junji schüttelte energisch den Kopf und in seinen dunklen Augen stand nur zu deutlich geschrieben, wie sehr er hoffte, Akihiko wenigstens ein wenig Verständnis für seine Situation abringen zu können.   Tatsuro grinste innerlich, freute er sich doch ungemein darüber, dass Yukke so gut mitspielte und sie dem langweiligen und vorhersehbaren Dialog wenigstens etwas Pfiff einhauchen konnten.   „Weiß ich das, ja? Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass du feige bist.“ Akihikos Worte hingen schwer zwischen ihnen und man sah Junji an, wie sehr sie ihn getroffen hatten. Wieder leckte er sich über die spröden Lippen, rieb sich kurz über die Oberarme, da sich der anhaltende Wind unter seine leichte Jacke stahl und ihn frösteln ließ. Akihiko suchte den Blick seines Gegenübers und fuhr resigniert fort: „Du hattest einfach nicht den Mut, zu mir zu stehen. Dir waren die Meinungen deiner Investoren wichtiger als die Zeit, die wir miteinander verbracht haben. Ich verstehe das, wirklich, das tue ich.“ Wieder schob er seine Haare hinters Ohr und erneut war dies ein Versuch, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war. „Dennoch hättest du wenigstens so fair sein müssen, mir die Wahrheit zu sagen. Du hättest mir sagen müssen, dass das mit uns keine Zukunft hat. Wenigstens das …“ Akihikos Stimme brach und er musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. „Dann hätte ich mir keine Hoffnungen gemacht.“ Jetzt erst drehte er sich wirklich herum und begann, seinen eigenen Fußabdrücken im Sand zurück zur Strandpromenade zu folgen.   „Aki~!“ Ein verzweifelter Ausruf, den er mit aller Macht zu ignorieren versuchte, folgte ihm, doch erst eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn innehalten. „Warte.“ Junji atmete schwer, als wären es nicht wenige Schritte, sondern unzählige Meilen gewesen, die er hatte überwinden müssen. „Bitte, warte. Du hast recht. Himmel, Aki, du hast mit allem recht.“   Als Akihiko sich zögerlich herumdrehte, stockte ihm der Atem. Junjis ausdrucksstarke Augen schwammen regelrecht voller Verzweiflung und er konnte die Angst in ihnen erkennen. Angst, ihn endgültig verloren zu haben. Es schnürte ihm die Kehle zu, den sonst so selbstsicheren Geschäftsmann nun derart gebrochen zu sehen.   „Junji …“, entkam es ihm flüsternd, mit einer Spur Unglauben in der Stimme.   „Du hast recht“, wiederholte der andere und schüttelte den Kopf, als könnte er so seine Gedanken sortieren. „Ich bin ein Feigling gewesen und habe mein Ansehen, meine Karriere über dich und die Gefühle gestellt, die ich für dich empfinde. Aber …“ Er rieb sich übers Gesicht und Tatsuro glaubte, tatsächlich ein empörtes Aufseufzen von Yukkes Stylistin über den Wind hinweg zu hören. Tja, echte Improvisation forderte ihre Opfer. Er blinzelte, als sein gegenüber die Hand an seine Schulter legte, als hätte Yukke gemerkt, dass er drohte aus seiner Rolle zu fallen. Beinahe hätte er ihm dankbar zugelächelt, verkniff sich im letzten Moment jedoch jegliche Regung und erwiderte den Blick aus bittenden Augen nur stumm. „Aki, mir ist in diesem einen Jahr so viel klar geworden. Mit jedem Monat, der verstrichen ist, habe ich dich mehr vermisst und deutlicher gespürt, dass ich einfach nicht ohne dich sein kann.“   Okay, das war nun vielleicht ein wenig dick aufgetragen, aber auch wenn Tatsuro selbst hierauf mehrere gute Erwiderungen eingefallen wären, Akihiko hatte dieses Geständnis erst einmal mundtot gemacht. So öffnete er auch nur die Lippen, ohne jedoch, dass ihm auch nur ein Wort über selbige gekommen wäre.                        „Ich brauche dich, Aki, mehr als ich Ansehen, Investoren oder zukünftige Projektabschlüsse brauche. Es hat gedauert, mir das einzugestehen, aber …“ Junjis Hand glitt von seiner Schulter weiter nach oben, bis sie sich erstaunlich warm an seine Wange legte. Ohne, dass er es bewusst hätte beeinflussen können, schmiegte Tatsuro sich in diese wohltuende Berührung und blickte den anderen durch halb geschlossene Lider an.   „Es tut weh, Junji“, wisperte er mit Akihikos rauer Stimme. „Es tut einfach nur schrecklich weh, zurückgelassen und vergessen zu werden.“   „Nein“, wisperte Junji, energisch den Kopf schüttelnd. „So ist es nie gewesen.“ Er strich mit dem Daumen die Nässe hinfort, die sich unter Akihikos nun geschlossenen Lidern ihren Weg suchen wollte. „Ich hab dich nie vergessen, bitte glaub mir das, keine Sekunde lang.“ Der kleinere Mann überbrückte auch noch den letzten Abstand zwischen ihnen und umfasste mit der freien Hand seinen Oberarm in einer fast schon besitzergreifenden Geste. Überrascht öffnete Akihiko die Augen, ließ eine Träne frei, die sich träge seine Wange nach unten stahl. „Ich weiß, dass es noch nicht zu spät für uns ist.“ Er konnte den warmen Atem des anderen an seinen Lippen spüren, so nahe waren sie sich mittlerweile, und ohne, dass er es gewollt hätte, zeigte die Gänsehaut an seinem Hals den Schauer, den diese Beinahe-Berührung ausgelöst hatte.   „Du glaubst wirklich, das wäre alles so einfach? Eine Entschuldigung, ein paar nette Worte und alles ist vergessen?“ Akihikos Stimme hätte vorwurfsvoll klingen sollen, aber das Feuer war aus ihr verschwunden und in den dunklen Augen stand nur zu deutlich geschrieben, dass er Junji glauben wollte. Angst und Sehnsucht schienen in ihnen einen Kampf auszufechten, den erst die nächsten Worte des kleineren Mannes für sich entschieden.   „Nein, Aki.“ Junji lächelte zerknirscht – ein Ausdruck milder Selbstironie und ungewohnter Verunsicherung, der ein schmerzliches Ziehen durch Akihikos Magen jagte. „Du wärest nicht du, wenn du es mir so einfach machen würdest.“ Wieder streichelte Junjis Daumen über seine Wange. „Ich will für dich da sein, um dich kämpfen und dir jeden Tag aufs Neue beweisen, dass ich zu dir stehen werde, egal was auch kommt. Kannst …“ Junji leckte sich über die Lippen und wie automatisch fixierten sich Akihikos Augen auf die nun leicht glänzende Haut. „Kannst du mir noch eine zweite Chance geben?“   Akihiko atmete zittrig ein, bevor er sich auf die Unterlippe biss und heftig nickte. Der andere erwiderte diese Geste mit einem sanften Lächeln, aus dem unendliche Dankbarkeit und Freude sprach, bevor er wisperte: „Ich liebe dich, Akihiko, und ich werde nie wieder so dumm sein, das infrage zu stellen.“   „Junji …“   Und endlich trafen sich ihre Lippen in diesem einen Kuss, den Tatsuro seit Beginn der Dreharbeiten so sehr gescheut hatte und der sich nun einfach nur unendlich richtig anfühlte. Ohne sein bewusstes Zutun glitten seine Finger in Yukkes Haar, hielten ihn an Ort und Stelle, um einen zu frühen Rückzug zu verhindern. Aber der andere machte keine Anstalten, sich befreien zu wollen, ganz im Gegenteil. Yukke drängte sich noch näher und gerade, als eine forschende Zunge auffordernd gegen seine Lippen stupste, riss sie ein anzügliches Pfeifen und das heitere Grölen der Filmcrew aus ihrer Zweisamkeit.   „Fuck“, schnaufte sein Drehpartner, grinsend die Hand auf seine Brust gepresst, unter der sein Herz vermutlich ebenso schnell schlug, wie Tatsuros gerade. Nur wusste er nicht, ob sein fliegender Herzschlag daher rührte, dass er sich erschreckt hatte oder einen ganz anderen und viel tiefer gehenden Grund hatte.   „Cut!“, rief Miya und schüttelte den Kopf. „Nur noch mal für alle, die es nicht mitbekommen haben.“ Nun grinste der kleine Regisseur und kam mit langsamen Schritten und klatschend auf sie zu. „Ich hätte es ja nicht für möglich gehalten, aber die Szene ist im Kasten. Fünf Minuten Pause, dann schießen wir noch die Aufnahmen für den Abspann, bevor uns der Sonnenuntergang ganz flöten geht.“ Yukke und er hatten sich mittlerweile aus ihrer Umarmung gelöst, sodass Miya ihnen beiden auf die Schultern klopfen konnte. „Gut gemacht.“   Tatsuro blickte ihm hinterher, als Miya an ihnen vorbeiging um sich mit Takahashi, dem Mann für die Nahaufnahmen, zu unterhalten.   „Ein Lob von Miya und das heute schon zum zweiten Mal? Ich glaub, die Apokalypse naht“, murmelte er und schob sich mal wieder seine Haare hinter die Ohren, was der Wind jedoch nicht zulassen wollte und sie ihm gleich wieder ins Gesicht blies. „Argh.“ Yukke neben ihm lachte leise und rempelte ihn leicht an.   „Er ist nur erleichtert, das meiste jetzt abgedreht zu haben. Warte ab, ihm fallen bestimmt noch Kleinigkeiten ein, an denen er herummeckern kann.“ Yukke setzte sich in Bewegung und Tatsuro folgte ihm automatisch. „Gut improvisiert, übrigens. Ich werde es vermissen, mit dir zu arbeiten.“   Bei diesen Worten zog sich ein harsches Stechen durch sein Herz und er musste sich zusammenreißen, nicht das Gesicht zu verziehen. Verdammt, sie hatten den Film gerade tatsächlich beendet. Das hier und heute würde der letzte offizielle Drehtag sein, eine Tatsache, die ihm jetzt erst so richtig bewusst wurde. Aus dem Augenwinkel schielte er zu Yukke hinüber, der jedoch gerade voll und ganz damit beschäftigt war, seine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche zu fischen. Was würde das nun für sie beide bedeuten? Ihm war zwar durchaus bewusst, dass er den anderen in den nächsten Wochen und Monaten noch des Öfteren zu Gesicht bekommen würde – Filme zogen dahingehend immer ihre Kreise und die Schauspieler bekamen meist mehr Gelegenheiten, als ihnen lieb waren, ihre Kollegen vom Set wiederzusehen – aber das würde nicht das Gleiche sein. Ein eigenartiges Gefühl zog sich durch seinen Magen, das er entfernt als Verlust bezeichnen würde, als sich seine Blicke erneut auf den kleineren Mann richteten.   „Yukke …“ Der Angesprochene zündete sich gerade eine Zigarette an und brummte fragend, die kippe lässig im Mundwinkel hängend. „Das gerade eben … ich …“ Ja, wo war nun seine Schlagfertigkeit? Sein Talent, zu improvisieren? Tatsuro rang nach Worten, suchte krampfhaft nach ihnen, aber sobald er glaubte, seine Gedanken ausreichend sortiert zu haben, fielen sie erneut in sich zusammen wie ein Kartenhaus, das vom Wind ergriffen wurde. Yukke lächelte nur, dieses milde, wissende Lächeln, welches Tatsuro weiche Knie beschert hätte, würden sich seine Gelenke nicht ohnehin schon wie Wackelpudding anfühlen.   „Ich hab Karten für die Ghibli-Ausstellung am Wochenende …“, ergriff der andere schließlich das Wort und schaute ihn fragend an. „Willst du mitkommen?“ Für einen Sekundenbruchteil stand Tatsuros Mund nur ungläubig offen, dann schüttelte er den Kopf und erwiderte den Blick des anderen mit einem schiefen Grinsen.   „Du versuchst es wirklich immer wieder.“   „Natürlich. Aber diesmal sogar mit Ankündigung. Also, was meinst du? Immerhin sind wir genau genommen ab sofort keine Kollegen mehr.“   „Dann … könnte man das also als Date bezeichnen?“   „Mh, ich würde sagen, ja.“ Wieder zog Yukke an seiner Zigarette und zwinkerte ihm keck zu. „Und diesmal ein Richtiges. Kein Abendessen unter Arbeitskollegen.“ Er zuckte die Achseln und kam seinem Ohr dann so nahe, dass er die Wärme seines Atems dort spüren konnte. „Vorausgesetzt natürlich, du möchtest das auch.“   Jetzt war es an ihm, ein erheitertes Lachen von sich zu geben, in dem die Erleichterung vermutlich doch recht deutlich herauszuhören war.   „Na und ob. Mit Ghibli kannst du mich immer ködern.“ ‚Würdest du selbst mir nicht ohnehin genügen‘, dachte er, behielt diese aber doch recht schnulzigen Gedanken dann lieber für sich.   „Gut zu wissen.“   „Hey, Vivian!“, rief eine ihm nur allzu bekannte Stimme aus und fast zeitgleich landete die Hand seines Managers nicht gerade sanft auf seinem Rücken.   „Gara, was machst du denn hier?“, erwiderte er und versuchte, Yukkes fragenden Blick zu ignorieren. „Solltest du dir nicht deinen Hintern auf dem Bürostuhl plattsitzen und einen neuen Job für mich an Land ziehen?“   „Und mir das große Finale entgehen lassen? Wo denkst du hin.“ Gara grinste breit und Tatsuro ahnte, was nun kommen würde. „Ich finde ja, eure Neuauflage von ‚Pretty Woman‘ ist euch wirklich sehr gut gelungen und das ganz ohne, dass du anschaffen gehen musstest.“   „Anschaffen gehen?“ Yukkes rechte Augenbraue wanderte nach oben, bis sie unter den wirren Strähnen seines Ponys verschwand und sein Lächeln war plötzlich so anzüglich, dass sich auf Tatsuros Unterarmen schlagartig eine feine Gänsehaut breitmachte. „Jetzt wird’s interessant. Klärt mich mal jemand auf, worüber genau ihr redet?“ Auch, wenn der andere ihrem Gespräch offensichtlich nicht ganz folgen konnte, weil ihm notwendige Informationen dafür fehlten, schien er das Ganze doch mindestens so amüsant zu finden, wie Gara es tat. Tatsuro verdrehte die Augen, musste dann aber ebenfalls lachen.   „Gara wird dir bestimmt mit Freuden lang und breit erklären, was er meint, da bin ich sicher.“ Er schnippte seinem Manager gegen die Stirn und griff nach Yukkes Zigarette, die noch immer in dessen Mundwinkel baumelte. Für einen Moment betrachtete er das träge vor sich hin rauchende Tabakröllchen, aber widererwartend waren die Skrupel, seine Askese der letzten Jahre nun zu brechen, nicht stark genug, um ihn von seinem Vorhaben abzuhalten.   „He~!“   „Dankeschön“, feixte er, unterstrich dies noch mit einer neckenden Verbeugung und trat einige Schritte zurück, um sich die wenigen Züge des geklauten Glimmstängels schmecken zu lassen. „Wie ist eigentlich der Plan für heute noch?“   „Plan, was meinst du?“ Gara drehte sich zu ihm herum und Tatsuro beglückwünschte sich innerlich, den anderen für den Moment von dieser ganzen ‚Pretty Woman‘ Sache abgelenkt zu haben.   „Na, wird es eine Feier zum Drehschluss geben oder ist das bei der BLP nicht üblich?“   „Das …“ Gara zuckte die Schultern, aber noch bevor er weiterreden konnte, hakte Yukke ein.   „Normalerweise sollte es da heute Abend schon was Kleines geben. Immer vorausgesetzt, Miya hatte Zeit, unseren Assistenten mit der Organisation zu beauftragen“, nuschelte er, bereits wieder eine Zigarette zwischen den Lippen und steckte sich diese, des anhaltenden Winds wegen mit etwas Schwierigkeiten, an.   „Kaisuke? Stimmt, den hab ich heute den ganzen Tag über noch nicht gesehen. Na, hoffentlich hat der Kleine einen Riecher dafür, was Anständiges für heute Abend zu organisieren. Mir steht der Sinn danach, diverse Hirnzellen abzutöten.“   „Das sollte ja nicht allzu lange dauern, bei den Zweien, die du nur noch hast.“ Gara lachte heiter auf und hob beide Hände, als Tatsuro ihn bitterböse aus den Augenwinkeln heraus anfunkelte. „Gnade?“   „Nie im Leben.“ Gerade als er den letzten Zug der Zigarette nahm und den Filter achtlos zu Boden fallen ließ, rief Miya nach ihm und verlangte nach seiner Anwesenheit. „Dein Glück“, maulte er mit ausgestrecktem Zeigefinger in Garas Richtung und erhaschte noch kurz Yukkes erheiterten Blick, bevor er sich herumdrehte, um die letzten Aufnahmen für heute auch noch über die Bühne zu bringen.   ~*~   Yukke blickte dem hochgewachsenen Mann hinterher, folgte den langen, schwarzen Strähnen, die der Wind umher wehte mit den Augen und musste sich ein leises Seufzen verkneifen. Seine Gedanken jagten von einem Ereignis zum anderen und konnten sich nicht entscheiden, ob die Sorge um Seek oder die um seinen … Freund? Ex-Kollegen? Vielleicht-Lover? Überwiegen sollte.   „Du siehst beunruhigt aus“, stellte Gara leise fest, während auch seine Aufmerksamkeit wie gebannt an Tatsuros verschwindender Form hing. „Ist heute Nachmittag etwas vorgefallen?“   Yukke schnaubte und zog an seiner Zigarette, bevor er mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme antwortete: „Ja, irgendwie kann man das wohl so sagen.“ Mit wenigen Worten berichtete er von ihrem Aufenthalt im Krankenhaus und dem schlechten Zustand, in dem sich sein Freund Seek im Moment befand. „Ich weiß nicht, ob es paranoid von mir ist, aber irgendwie …“ Yukke seufzte und rieb sich über die Augen. „Findest du nicht auch, dass es …“   „… Ein eigenartiger Zufall ist, dass ausgerechnet der Reporter, dessen Chefin Tatsuro mit dem Zeitungsartikel verleumdet hat, nun mit einem schweren Schädelhirntrauma im Krankenhaus liegt? Und dass eben jener Reporter rein zufällig ein Freund des Mannes ist, dem Tatsuro schon seit Wochen schöne Augen macht?“ Gara musterte ihn und Yukke spürte, wie sich bei dessen letzten Worten eine leichte Röte über seine Wangen gelegt hatte. „Nein, leider kann ich daran absolut keinen Zufall mehr sehen.“ Er schüttelte den Kopf und fuhr sich durch sein dunkelblondes Haar. „Wenn mich das paranoid macht, sitzen wir wohl im selben Boot.“   „Ja … das hatte ich befürchtet.“   „Yukke!“   Er schnippte seine Zigarette nachlässig fort und gab Miya ein kurzes Handzeichen, dass er ihn gehört hatte, bevor er weitersprach: „Die Arbeit ruft …“   ~*~   Der Club, den Kaisuke für ihre Feier gebucht hatte, lag unweit der BLP im Industrieviertel der Stadt. Tatsuro vermutete, dass er in früheren Zeiten einmal eine Art Abfüllanlage gewesen sein musste, zumindest sprachen die Förderbänder und großen Kupferbehälter davon, die hier und da von der früheren Einrichtung übrig geblieben und in das neue Konzept integriert worden waren. Alles in allem erinnerte ihn das Ambiente der Lokalität an die wenigen Steampunk-Romane, die er in seiner Teenagerzeit ab und an gelesen hatte. Viel Metall, viele ihm gänzlich unbekannte Gerätschaften und alles mit dunklen Stoffen, Netzen und Ketten behängt. Irgendwie eine durchaus interessante Mischung, auch wenn er von sich aus diesen Club vermutlich nie betreten hätte. Aber die Musik war gut, das großzügige Buffet war umsonst und selbst die Getränke gingen heute auf Miya. Was wollte er also mehr?   „Erde an Tatsue! Wo bist du mit deinen Gedanken, mh?“   „Argh!“, schnappte er und zuckte von der eiskalten Bierflasche zurück, die ihm Sato gerade in den Nacken gelegt hatte. Einige Tropfen Kondenswasser rannen an seinem Rücken hinunter und er presste sich gegen die Rückenlehne seines Stuhls, um diesem unangenehmen Gefühl zu entgehen. „Arschkeks“, murrte er, erwiderte jedoch Satochis Grinsen wie automatisch. „Was?“   „Du hast rein gar nichts von dem mitbekommen, was ich dir seit zehn Minuten zu erzählen versuche, oder?“   „Sato …“ Er atmete theatralisch ein und legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. „Vermutlich hat dir das noch niemand gesagt, aber dir hört nie jemand zu.“ Er lachte, als ihm nach der durchaus erwarteten Kopfnuss nun die Haare wirr ins Gesicht hingen, machte aber vorerst keine Anstalten, sie sich wieder aus Selbigem zu wischen. Stattdessen zog er Satochi geschickt die Flasche aus der Hand und genehmigte sich einen großen Schluck, gefolgt von einem befreienden Aufstoßen.   „Schulz“, war alles, was sein Bruder dazu zu sagen hatte, bevor er ihm das Bier wieder entwand und es selbst in erstaunlicher Geschwindigkeit leerte. Tatsuros anhaltendes Grinsen wandelte sich zu einem verstohlenen Lächeln – es war immer wieder schön mit anzusehen, wenn es seinem Bruder mal richtig gut ging. Für einen Moment ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, nahm die ausgelassene Stimmung in sich auf, die nach getaner Arbeit nun herrschte. Wirklich die komplette BLP schien heute anwesend und in Feierlaune zu sein und er erblickte mehr als ein Gesicht, das er tatsächlich nicht oder nur flüchtig kannte. Immer wieder erstaunlich, wie viele Arbeitsplätze an so einem popligen Film hingen. „Danke“, murmelte er ein paar Minuten später, nachdem Satochi Getränkenachschub für sie beide geholt hatte, und nahm die kühle Flasche zwischen die Hände, ohne jedoch einen weiteren Schluck zu trinken. Ja, alle Anwesenden schienen ausgelassen zu feiern und ihren Spaß zu haben, nur er selbst hing wie so oft in seinen Gedanken fest. Und dabei gäbe es viel bessere Dinge, an denen zumindest seine Augen festhängen könnten. Yukke zum Beispiel, der sich auch gerade etwas von der Bar geholt hatte und ganz den Anschein machte, zu ihm herüberkommen zu wollen. Als sich ihre Blicke trafen, machte sein Herz einen kleinen Hüpfer und hätte er in den letzten Stunden nicht ausreichend Zeit gehabt, sich endlich einzugestehen, dass er diesen Mann wirklich, wirklich haben wollte, hätte er diese Reaktion seines verräterischen Körpers vermutlich vehement geleugnet. So jedoch strich er sich nur endlich die wirren Haare aus dem Gesicht und … brummte im nächsten Moment missmutig, als Miya den Weg seines Lo… Yukkes Weg kreuzte und ihn sogleich in Beschlag nahm. Er lächelte zerknirscht und hob die Hand, als der andere ihm im Vorbeigehen zuzwinkerte, bevor er wieder überaus aufmerksam dem lauschte, was ihm der abgebrochene Gartenzwerg eines Regisseurs gerade Wichtiges zu sagen hatte.   „Hach, das ist echt besser als jeder Film“, säuselte Satochi in sein Ohr und klimperte angetan mit den Wimpern, als er den Kopf drehte, um ihm empört ins Gesicht schauen zu können.   „Was du wieder zu sehen glaubst.“ Er rollte übertrieben mit den Augen und widmete sich seiner Bierflasche. „Mich würde viel mehr interessieren, was die beiden so unglaublich Wichtiges zu besprechen haben. Plant Miya jetzt schon seinen nächsten großen Film mit Yukke oder sieht der nur immer so bierernst aus?“   „Ernst ist Miyas Standardgesichtsausdruck.“ Sato zuckte lächelnd die Achseln. „Aber, wenn ich das richtig verstanden habe, hat er eine Fortsetzung von ‚Ame no orchestra‘ zumindest schon mal in der Hinterhand, sollte der Film jetzt gut anlaufen“, führte sein Bruder weiter aus und schlug ihm dann leise lachend gegen den Oberarm. „Und jetzt guck nicht so, als hätte er dir dein Lieblingsspielzeug geklaut.“   Tatsuro ignorierte den viel zu akkuraten Nachsatz und rieb sich über die Schulter, bevor er seine Verwunderung mit einem leisen „Echt jetzt?“ unterstrich. Ehrlich verblüfft schaute er Satochi an. Zum einen, weil seine Frage gerade eine rhetorische gewesen war, auf die er keine Antwort erwartet hatte und zum anderen, weil Satochi doch tatsächlich mal gut informiert zu sein schien. Das kam wahrlich nicht oft vor. Er grinste seinen Bruder schief an und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Hat schon so seine Vorteile, wenn man mit dem Boss anbandelt, mh?“   „Geschmeidig, Iwakami, sehr geschmeidig. Da musst du schon früher aufstehen, um mich mit so einer plumpen Frage zu überrumpeln.“   „Ach komm schon, Satochi, ich bin dein Bruder. Hab ich nicht ein Recht darauf zu wissen, was da zwischen euch läuft?“   „Sobald du mir sagst, was genau das mit Yukke und dir ist, können wir darüber reden.“   „Pfff.“ Tatsuro machte dicke Wangen und stieß die Luft prustend wieder aus. „Nichts da.“   „Na, dann halt nicht.“ Satochi zeigte sich gänzlich unbeeindruckt, stand auf und informierte ihn darüber, dass er dem Keramikgott mal eine Opfergabe bringen würde.   „Du sollst mir interessante Dinge erzählen und nicht, dass du auf den Pott musst.“ Tatsuro lachte heiter auf und erhob sich ebenfalls. „Nimm mich mit, dann kann ich gleich mal eine rauchen gehen. Das mit dem generellen Rauchverbot ist wirklich selten dämlich.“   „Hättest du vorhin nicht aus heiterem Himmel beschlossen, dein Nichtraucherdasein aufzugeben, hättest du das Problem jetzt nicht.“   „Ach komm, hör auf, den großen Bruder heraushängen zu lassen. ich kann jederzeit wieder aufhören.“   „Ich sag nur die Wahrheit und … das musst du mir erst einmal beweisen.“   „Ja, ja.“ Tatsuro schüttelte schmunzelnd den Kopf und genoss es wirklich ungemein, mit dem anderen einfach mal wieder so ungezwungen beisammen sein zu können.   Gerade, als Satochi zu den Toiletten abgebogen war und er schon die Tür zum Hinterausgang vor sich sah, bemerkte er eine Person, die ihm folgte. Ein langes Seufzen kam ihm über die Lippen und sein „Kenta, ich hätte es wissen müssen“ hörte sich vermutlich nicht nur in seinen Ohren ziemlich resigniert an. „Kann ich jetzt nicht mal mehr für eine Zigarettenlänge vor die Tür, ohne, dass du mir nachläufst?“   „Ich tue nur meinen Job, Iwakami-san.“   „Ja, ja.“ Seine gute Laune stürzte gerade im freien Fall in den Keller und es gab nichts, was er dagegen hätte tun können. Er hasste es, in seiner Freiheit eingeschränkt zu werden und wenn es auch nur die Freiheit war, allein sein zu können, wenn er das wollte. Energischer, als es nötig gewesen wäre, drückte er die stabile Feuerschutztür nach außen auf und trat auf den kaum beleuchteten Parkplatz hinaus. Er atmete tief ein und versuchte, seine Frustration nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Die Temperatur war weiter gesunken und eine gewisse Spannung lag in der Luft, die vermuten ließ, dass es später noch mal gewittern würde. Na, dann würde er heute Nacht wenigstens gut schlafen können. Immerhin gab es für ihn nichts Beruhigenderes als die Geräusche, die so ein richtig schönes Unwetter mit sich brachte. Apropos Geräusche – war dieses seltsame Ächzen gerade von Kenta gekommen? Tatsuro grinste böse und der Teil in ihm, der sich tierisch bevormundet fühlte, hoffte sehr, dass der Leibwächter vielleicht in etwas überaus Unschönes getreten war. Würde ihm recht geschehen. Er atmete erneut durch und richtete seinen Blick gen Himmel. Dicke Gewitterwolken verdeckten den Mond und spiegelten seinen Gemütszustand wirklich perfekt wider. „Ich mache ehrlich drei Kreuze, wenn dieser ganze Mist endlich vorbei ist und ich wieder meine Ruhe habe“, nuschelte er um den Filter der Zigarette herum, die er sich gerade angesteckt hatte, und stapfte auf den Parkplatz hinaus. In Schlangenlinien, der vielen großen und kleinen Pfützen wegen, die vom nachmittäglichen Regenschauer übrig geblieben waren, entfernte er sich immer weiter vom Club. Ein bisschen Bewegung würde ihm guttun und wenn Kenta etwas dagegen hatte, würde der sich schon melden.   Als er seine Zigarette bereits über die Hälfte geraucht hatte und noch immer keine Reaktion seines Leibwächters gekommen war, stieg langsam doch ein seltsames Gefühl in ihm hoch. Er wollte es zwar nicht, aber der Gedanke, dass hier irgendwas nicht stimmte, wurde mit jeder verstreichenden Sekunde lauter in seinem Kopf. „Kenta?“ Tatsuro drehte sich herum, aber von seinem Personenschützer war nichts zu sehen. „Ist ja typisch. Erst den Pflichtbewussten mimen und sich dann doch aus dem Staub machen.“ Er rollte mit den Augen und zog an seiner Kippe, das Zittern seiner Hand und das nervöse Flattern seines Pulses ignorierend. Wieder ließ er den Blick über den verwaisten Parkplatz gleiten und ein eisiger Schauer rann ihm über den Rücken. „Das war der Wind“, flüsterte er, ließ die Zigarette fallen und rieb sich über die Oberarme. „Das war nur der Wind.“ Eilends setzte er sich wieder in Bewegung, lief schon beinahe, als sich ihm plötzlich jemand in den Weg stellte. Ein unterdrückter Schrei entkam ihm, so sehr hatte er sich erschreckt und reflexartig hatte er die Arme schützend vor sein Gesicht gehoben. Einige Momente verstrichen, in denen er nur seine Augen fest geschlossen hielt und nach Atem rang.   „Tatsuro-san?“   Er blinzelte und blickte dann in das vollkommen überrumpelte Gesicht Kaisukes, der ihn hinter seinen dicken Brillengläsern aus großen Augen anstarrte.   „Kaisuke“, echote er und räusperte sich, während er sich mit beiden Händen durchs Haar fuhr, als wäre das die ganze Zeit über genau das gewesen, was er vorgehabt hatte. „Mit dir hätte ich jetzt nun wirklich nicht gerechnet.“ Selbst in seinen Ohren hörte sich sein Auflachen absolut gekünstelt an, aber so dünn, wie sein Nervenkostüm gerade war, war ihm das vermutlich nicht zu verübeln. „Du hast nicht zufällig meinen …, äh, Kenta gesehen?“   „Nein“, antwortete der junge Assistent seltsam unsicher und beinahe betrübt wirkend. „Es tut mir leid.“   „Ach …“ Tatsuro winkte jovial ab. „Das braucht dir doch nicht lei… ugh!“   Mit unerwarteter Schnelligkeit hatte Kaisuke einen Satz nach vorn gemacht, ihm ein Tuch über Mund und Nase gepresst und hielt seinen Kopf mit der anderen Hand so, dass er ihn nicht wegziehen konnte. Ein beißend süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase und ein unangenehmes Kribbeln jagte durch seinen Körper. Sein Geist fühlte sich mit einem Mal wie in Watte gepackt an und seine Gedanken trieben nur noch träge in seinem Kopf herum. Selbst die Panik, die gleich zu Beginn des Übergriffs wie ein Blitz durch ihn gezuckt war, verpuffte, als hätte es sie nie gegeben und ließ nur eine eigenartige Gleichgültigkeit zurück. Seine Knie zitterten, gaben schließlich nach und während er in Kaisukes Armen langsam zu Boden sank, glaubte er ein anderes, ihm nur allzu bekanntes Gesicht über sich schweben zu sehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)