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Die Farben Schneewittchens

von

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Eltern

Mit zitternden Fingern öffnete Jakob den Umschlag. Er enthielt einen mehrseitigen Brief aus dickem, edlem Büttenpapier.
 

Jakob schnupperte daran. Der Brief roch angenehm nach zu Hause ... er seufzte und Sehnsucht stieg in ihm auf. Sehnsucht nach daheim, nach dem Vater, dem lieben bleichen Gesicht der Mutter, ja selbst nach dem Bruder.
 

Mit klopfendem Herzen begann er, den Brief, in dem er die Schrift seines Vaters erkannte, zu lesen.
 


 

"Mein lieber Jakob. Du weißt, dass wir Vampire, wenn wir es wünschen, sehr eng miteinander verbunden sein können. Da du unser geliebter Sohn bist, und fern von uns, haben wir, deine Mutter und ich, diese Verbindung aufrecht erhalten.
 

Seit nunmehr einigen Wochen spüren wir, dass du dich veränderst und es dir nicht gut geht. Uns ist klar, dass du dich seit geraumer Zeit nur noch von Tierblut ernährst, und wir machen uns große Sorgen. Wir ahnen, was geschehen ist, denn du bist nicht der erste, dem das passiert: du hast Freunde unter den Menschen gefunden und möchtest sie daher nicht mehr als Jagdbeute betrachten.
 

Wir bedauern das sehr.
 


 

Denn wir wissen, was das bedeutet. Der Konsum von Tierblut, das weißt du, sorgt dafür, dass du langsam aber sicher immer schwächer wirst, und nach einer leidensvollen Zeit verblasst, wie ein Schatten, und stirbst.
 

Wir vermuten daher, dass du den schnelleren Weg wählen wirst: drei Neumonde ohne Jagd.
 

Wir wissen, dass du einen starken Willen hast und wir dich nicht davon abhalten können.
 


 

Jakob, wir lieben dich, und daher möchten wir natürlich nichts unversucht lassen, dich zu retten.
 

Wir bitten dich, komm zurück zu uns nach Hause. Du wärst hier sehr willkommen. Du hättest eine geachtete Stellung als erster Berater deines Bruders, des zukünftigen Königs.
 

Du müsstest dafür zwar gemeinsam mit uns auf die Jagd gehen, aber du wärst weit weg von den Menschen und vielleicht würde es dir dann leichter fallen.
 


 

Nun, wir vermuten, dass du dieses Ansinnen ablehnen wirst.
 

Also greifen wir zur letzten Möglichkeit.
 

Jakob, du kennst die Geschichte von Schneewittchen, weißt, wie die Menschen das Märchen erzählen. Sie haben es sich zurecht gebogen, wie sie solch eine Geschichte lieben.
 

Du jedoch weißt, das Schneewittchen eine Vampirin war.
 

Was war damals wirklich geschehen?
 

Nun, wie immer hatte der amtierende König auf die Geburt des ersten Sohnes gewartet. Das Kind wurde geboren, und es hatte die erwarteten Farben, es war schwarz wie Ebenholz, rot wie Blut und weiß wie Schnee. Aber - es war ein Mädchen.
 


 

Auch jener König trat vor den Rat. Der Rat diskutierte lange und kam zu dem Schluss: es könne keinen weiblichen König geben.
 

Schneewittchen wurde, als sie alt genug war, vor die gleiche Wahl gestellt, wie du.
 

Auch sie entschied sich, zu gehen.
 

Sie lebte eine Zeit lang bei den Bergleuten, die das Silbererz abhauen (dass wir Vampire ein Problem mit Silber hätten, ist nur eine weitere alberne Legende der Menschen, wie du weißt).
 

Auch sie fand Freunde und wollte nicht mehr auf die Jagd gehen. Auch Sie entschied sich für drei blutlose Neumonde.
 


 

Natürlich spürten auch ihre Eltern, was da im Busche war und versuchten, sie zu retten.
 

Vor dem ersten Neumond kam ihre Mutter, die Königin, zu ihr und brachte ihr einen Kamm aus Schildpatt. Ein Kamm, mit dem sie eine große Menge Schafswolle gekämmt hatte und der einen Zauber in sich trug, der bewirken sollte, dass Schneewittchen auf die Jagd gehen sollte, in dem Glauben, Schafe zu jagen, wo es doch in Wahrheit Menschen wären.
 

So etwas werden wir dir nicht antun, denn wir respektieren dich und deine Entscheidung.
 


 

Schneewittchen jedoch spürte den gut gemeinten Trick ihrer Mutter und wehrte sich gegen den Zauber. Es war schwer, aber sie schaffte es, wenngleich ihr dabei die Sinne schwanden und ihre Freunde, die Bergleute, sich große Sorgen um sie machten.
 


 

Vor dem zweiten Neumond brachte die Mutter einen Gürtel aus Rindsleder, und diesmal sollte Schneewittchen die Menschen, die sie jagte, für Kühe halten.
 

Doch sie widerstand erneut.
 


 

Vor dem dritten Neumond kam die Mutter erneut.
 

Diesmal brachte sie einen Apfel und sprach zu ihrer Tochter:
 

"Mein liebes Kind, dieser Apfel ist vergiftet. Er enthält ein Gift, das dich in einen tiefen und endlosen Schlaf sinken lässt. Er gleicht dem Tod, doch verwest man nicht, zerfällt nicht zu Staub. Man behält sein Aussehen, schneeweiß, blutrot und ebenholzschwarz, jahrhundertelang oder gar über Jahrtausende.
 

Beiße hinein, bevor der dritte Neumond kommt, denn es gibt eine Chance, aus diesem Schlafe erweckt zu werden und so dem Tod zu entgehen.“
 

Wie wir alle wissen, ist Schneewittchen dem Rat der Mutter gefolgt.
 


 

Die Bergleute behüteten sie in einem gläserne Sarg.
 

(Schon allein das müsste doch den Menschen klarmachen, dass sie eine Vampirin war – jemand, der in einem SARG liegt und so schön bleibt wie eh und je ... aber Menschen sind eben manchmal etwas langsam im Denken.)
 


 

Und dann geschah, was geschehen musste, um Schneewittchen aus diesem Schlafe zu erwecken.
 

Und genau hier, lieber Jakob, liegt das Problem.
 

Wir wissen nicht, was.
 

Die alten Schriften, die die Schneewittchenlegende beinhalten, enden hier, und die entscheidende Stelle fehlt.
 

Schneewittchen jedoch erwachte, und hatte die Chance, von da an, das Leben eines MENSCHEN zu führen. Das ist zwar wesentlich kürzer als das Leben eines Vampirs. Aber ... es ist besser, als Hungers zu sterben und zu Staub zu zerfallen.
 


 

Jakob, wir wissen nicht, ob wir dir hiermit helfen können. Aber wir werden dir vor dem dritten Neumond den Apfel zusenden. Den Apfel mit dem Gift, denn das Rezept dafür ist in den Schriften zu finden.
 

Wir bitten dich, uns zu vertrauen.
 

Und wir hoffen, dass die Freundschaft der Menschen auch tatsächlich das wert ist, was man immer behauptet. Denn wir wünschen uns nichts mehr, als dass es dir gelingt, das Rätsel mit Hilfe deiner Freunde zu lösen. Denn das wäre deine Chance.
 


 

In tiefer Liebe und Verbundenheit
 


 

Mutter und Vater.“



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