Things That Should Not Be von Yuugii (Kunikida/Dazai) ================================================================================ Kapitel 5: Kapitel 5 -------------------- „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Dazai-san so etwas getan hat“, wisperte der Tigerjunge und zog die Beine näher an sich heran. Es wurde bereits Abend. Yokohama war in sanften Orangetönen getaucht, der Sonnenuntergang brach Melancholie mit sich und ein unabschüttelbares Gefühl der Einsamkeit, das mit jedem Herzschlag nur noch betrübender wurde. Plötzlich eine Hand, die über seinen Kopf streichelte. Er sah auf. Kyouka lächelte ihn an. Ein aufgesetztes Lächeln, mit dem sie ihn aufheitern wollte, doch er wusste, dass sie genauso mitgenommen war wie er. Umso mehr fühlte er sich schuldig. Wieso konnte er nicht von sich aus die Stärke finden, wieder aufzustehen und weiterzumachen? Warum quälten ihn seine eigenen Gedanken so sehr und wieso saß die Furcht Dazai zu verlieren, so tief in ihm? „Yosano-san sagte, dass manche Menschen so viel Leid erfahren haben, dass sie beginnen zu hassen. Sie wissen nicht wohin mit ihren Hass und verletzen sich selbst“, erklärte sie und warf einen Blick über den Spielplatz. Die bis eben lachenden Kinder verschwanden und verließen mit ihren Eltern den Platz. Die Abenddämmerung brachte ein nostalgisches Gefühl in ihm hervor. Ah, stimmt, kam es ihm in den Sinn und er schloss die Augen, erinnerte sich an die erste Begegnung mit Dazai. Er hatte diesen fremden Mann selbstlos aus dem Wasser gefischt. Obwohl er selbst auf sein eigenes Leben nicht klar kam, hatte er all seinen Mut zusammengefasst und war ins Wasser gesprungen, um jemanden zu retten, den er in seinem ganzen Leben noch nie begegnet war. Das Rot am Himmel erinnerte ihn an diesen einen schicksalshaften Moment, als er Dazai Osamu kennengelernt hatte. Verärgert hatte er mit der Zunge geschnalzt und war empört über seine Rettung. Er hatte es für einen Scherz gehalten. Geglaubt, dass Dazais Todeswunsch ein schlechter Witz war. Ich wollte einfach nur leben. Obwohl ich so viel Schmerz erlitten habe, habe ich nie sterben wollen. Wie sehr muss Dazai-san gelitten haben, dass er glaubt, dass der Tod die einzige Lösung ist? „Ich habe mir oft gewünscht, tot zu sein“, erklärte sie dann. Atsushi sah sie schockiert an, packte sie dann an den Schultern und sah sie flehend an. „Kyouka-chan?! Was redest du denn da?“, entfuhr es ihm und er sah sie bittend an. „Aber das hat sich geändert. Ich will nicht mehr sterben, sondern leben. Nur so lange ich lebe, kann ich für meine Verbrechen sühnen und zumindest etwas Gutes tun. Das ist es, was ich durch Dazai-san gelernt habe, dennoch kann ich es verstehen, wie es sich anfühlt sich selbst zu hassen und sich nicht verzeihen zu können. Diese Gedanken verschwinden nicht einfach“, sagte sie dann ruhig und sah Atsushi an, der immer noch voller Sorge war und nicht verstand, worauf sie hinauswollte. „Es ist nicht einfach, solche Gedanken abzuschütteln, aber weil du für mich da bist – und auch die anderen – spüre ich, dass es mehr in meinem Leben gibt und dass ich weitergehen kann, weil es ein Ziel gibt, das ich irgendwann erreiche. Ich will mir selbst verzeihen können und das kann ich nur, wenn ich kämpfe und lebe. Ich kann kämpfen, weil ich Kameraden habe.“ „Aber Dazai-san hat doch uns!“ Kyouka senkte den Blick. „Wir sind für ihn da! Reicht das denn nicht? Vertraut er uns denn nicht?“ „Das hat mit Vertrauen nichts zu tun. Manchmal sind die Wunden so tief, dass es nicht reicht, einfach nur da zu sein. Zumindest meinte Yosano-san, dass Dazai-san sehr viel verheimlicht und er mit seinen Traumata nicht umgehen kann. Er verdrängt seine Ängste und Erinnerungen, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen“, erklärte sie dann und schüttelte nun endlich Atsushi von sich. Atsushi nickte zustimmend. Von unaufgearbeiteten Traumata konnte er eine Menge erzählen. „Sein Abschiedsbrief“, hauchte Atsushi bedrückt. „Der Morgen ist immer grau. Immer gleich. Immer leer“, begann er. „Alles vergeht“, fügte Kyouka hinzu. „Dazai-san hat uns... aber das reicht nicht. Glaubst du, dass er Angst davor hat, dass wir einfach verschwinden? Ihn zurücklassen? Ich wünschte, ich könnte ihn verstehen.“ „Eine Dunkelheit, die alle Lichter löscht“, murmelte Kyouka und erhob sich nun von der Bank, tappte unbeholfen einige Schritte vor und zurück. Der Silberhaarige sah ihr dabei zu. „Wir sollten ihm eine Lampe schenken“, sagte sie dann und strahlte Atsushi an. „Eine Lampe?“, wiederholte er fragend. Irgendwie fühlte er sich so schwer, als würde ein Stein auf seinem Kopf liegen und ihn daran hindern, einen klaren Gedanken zu fassen. Entweder war Kyoukas Vorschlag so genial, dass er den Sinn dahinter nicht verstand oder aber so abwegig, dass er den Kontext beim besten Willen nicht erkennen konnte. „Dazai-san fürchtet, dass eine Berührung das Licht auslöscht, also braucht er eine Lampe, die ohne Berührung angeht. Wenn er eine Lampe mit Klatschfunktion hat, muss er keine Angst davor haben, dass das Licht ausgeht!“ Kyouka strahlte. „Ich glaube nicht, dass das eigentliche Problem ist, Kyouka-chan...“ ——————————— Mal wieder schwieg Ranpo und teilte seine Gedanken nicht mit dem blonden Ermittler. Es wurde bereits Nacht, die Straßenlaternen sprangen an und das Nachtleben Yokohamas lebte auf – bunte Neonschilder an allen Straßen und Ecken, die dazu einluden, die Etablissements zu besuchen und die besonderen Attraktionen der Stadt zu genießen. In der Ferne sah man das atemberaubende Riesenrad am Hafen, das in bunten Farben aufflackerte und in seiner prachtvollen Erhabenheit über die Stadt wachte. Kunikida atmete tief ein, folgte seinem Spürhund, der scheinbar immer noch auf der Fährte von irgendetwas war, das er nicht aussprechen wollte und seinen Blick nachdenklich hin und herschweifen ließ. „Ich verstehe nicht, was du suchst. Du sagtest doch, dass das Opfer der eigentliche Täter war und dann hast du Dazai Haare ausgerissen, weil du ihn verdächtigst. Wonach suchen wir dann eigentlich noch?“ „Wer sagt, dass der Täter allein war? Ich gehe zu 97% davon aus, dass Dazai das Opfer war, auch die Haarprobe, die er mich freundlicherweise hat nehmen lassen, war identisch zu den Haaren, die wir bei der Leiche gefunden haben. Aber ein Puzzleteil fehlt noch“, grummelte Ranpo und lehnte sich nun an das Geländer, warf einen missmutigen Blick über das bunt aufleuchtende Wasser, dessen Wellen sanft hin und her wogen. Etwas fehlte. Dazai ist weder dumm noch schwach. Einen einzelnen Gegner hätte er locker selbst ausgeschaltet oder zumindest überlisten und fliehen können. Also wird der Täter noch Verbündete gehabt haben. Was wollten sie von Dazai? Oder: was wollte Dazai von ihnen? Was ist so wichtig, dass er sich in Gefahr bringt? „Worüber wurde gehandelt und wer war am Deal beteiligt? Dass Dazai sich in der Unterwelt von Yokohama bestens auskennt, macht es ihm einfach, seinen Gegenüber zu durchschauen. Er wusste also, dass es sich um eine Falle handelt und ist das Risiko eingegangen, selbst verletzt zu werden, was wiederum heißt, dass die Information, die der Mittelpunkt des Ganzen ist, enorm wichtig ist. Es waren mindestens drei Leute am Tatort“, meinte er dann und seufzte. „Drei? Also hat die Leiche Verbündete gehabt und diese Information ist so brisant, dass Dazai eher sterben würde, als sie mit irgendwem zu teilen“, fügte Kunikida hinzu und grübelte weiter. „Die eigentliche Frage ist, mit was für eine Art von Information wir es zu tun haben. Wer ist betroffen? Was könnte so schlimm sein, dass Dazai auf keinen Fall will, dass irgendjemand etwas erfährt?“ Das war die alles entscheidende Frage. Was war es, das Dazai so sehr bedrückte, dass er es mit niemanden teilen wollte? Kunikida wusste nicht annähernd genug über den Brünetten, um dies mit Genauigkeit zu sagen. Wurde er erpresst? Aber von wem? Sein Kopf drehte sich bereits. Sollte er Dazai direkt darauf ansprechen? „Du fragst Dazai morgen, warum er diesen Mann getötet hat und was er für Informationen zurückhält“, unterbrach Ranpo seine Gedanken. „Wie bitte?! Dazai hat versucht sich umzubringen und ist psychisch labil! Es wäre absolut fahrlässig und taktlos, ihn jetzt damit zu behelligen!“ „Und wann ist deiner Meinung nach ein guter Zeitpunkt? Warten wir so lange, bis die Leiche verrottet ist und alarmieren nicht die Polizei, weil es Dazai aufwühlen könnte? Du wolltest doch die Polizei benachrichtigen und jetzt ist es dir egal?“ Kunikida fehlten die Worte. Ranpo hatte recht. Er ignorierte ein Verbrechen. „Wir wissen doch gar nicht, was passiert ist und vielleicht hat Dazai ihn gar nicht ermordet“, sagte er dann, doch im selben Augenblick, wo er diese Worte aussprach, peitschten sie ihm unnachgiebig ins Gesicht. Ein Verbrechen war ein Verbrechen. Ein Mensch wurde ermordet. Die Umstände dessen waren unwichtig. War es nicht gegen sein Ideal, nicht zu handeln? Tu, was getan werden muss waren die ersten Worte in seinem heiligen Notizbuch, das den dunklen Pfad des Lebens für ihn erhellte, also woran lag es, dass diese Worte, die er einst selbst niedergeschrieben hatte, nun so fremd klangen? Lag es daran, dass es sich um Dazai handelte? „Tut mir leid, Ranpo. Du hast recht. Ich habe mich von Gefühlen blenden lassen. Ich muss wissen, was geschehen ist, allein schon, um Dazai besser zu verstehen. Es ist nicht seine Art, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Was auch immer es war, was ihn so weit getrieben hat, es muss schrecklich gewesen sein. Das rechtfertigt natürlich nicht einen Mord, aber es würde mildernde Umstände mit sich bringen“, sagte er tonlos, schob seine Brille mit seinem Mittelfinger hoch, sodass sie im fahlen Licht der Laterne aufblitzte. „Gut, dann stürzen wir uns jetzt ins Nachtleben! Auf nach Koganecho[6]!“ Kunikida fiel aus allen Wolken und starrte den Schwarzhaarigen leblos an. Koganecho war eines der Rotlichtviertel Yokohamas. Eine ganze Straße gewidmet dem Verbotenen, Frauen und Männer, die in in die chon-no-ma[7] einluden. Selbstverständlich war Prostitution verboten und auch diese kleinen Läden waren ein Schandfleck, den es zu beseitigen gab, doch konnte Gesetz und Recht nicht überallhin kommen und so bestand dieser Bezirk seit Jahren. Über 60 Läden waren bis heute in Betriebsnahme. Kunikida verstand nicht, was Ranpo dort wollte. Vor allem weil der Bezirk dafür bekannt war, Yakuza und Kleinkriminelle anzuziehen. „Dort finden wir sicher Informationen~“, trällerte Ranpo vergnügt und marschierte drauf los. Kunikida zuckte zusammen, griff Ranpo an der Schulter und drehte ihn in die entgegengesetzte Richtung. Immer lief er ohne nachzudenken voraus und verwirrte sich. Koganecho war nicht unbedingt ein Ort, zu dem er hingehen wollte, aber wenn Ranpo der Ansicht war, dass es dort etwas zu finden gab, dann musste er ihm vertrauen. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Koganecho war kein Ort für einen rechtschaffenen und ehrlichen Mann, erst recht nicht für einen Ermittler, dessen Aufgabe es war, für Recht und Ordnung zu sorgen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Ranpos Plan und die Fährte, die er nun wieder verfolgte, sie beide in Gefahr brachte. ——————————— Die kleine Straße mit den vielen Frauen und Männern, die vor den Gebäuden standen und nach potentiellen Kunden Ausschau hielten, war gut beleuchtet und hieß jeden willkommen, der sich hierher verirrte. Kunikida konnte dieses Gefühl immer noch nicht abschütteln. Er sollte hier nicht sein. Es widersprach seinem Ideal. Ranpo hatte keinerlei Schwierigkeiten erhobenen Hauptes durch diese Straße zu gehen, doch der Blonde starrte stur auf den Boden, während er glaubte, dass sein Gesicht in Flammen stand. Selbst seine Ohren mussten bereits so rot glühen, dass man ihn mit einer Straßenverkehrsampel hätte verwechseln können. Immer noch fröhlich trällernd lief Ranpo voran. Plötzlich blieb er stehen und tippte einen Mann an der Schulter an, der sich dann umdrehte und eine Augenbraue in die Höhe hob. Missmutig musterte er den Schwarzhaarigen. „Hey, gehörst du zur Port Mafia?!“, fragte Ranpo dann selbstgefällig, als hätten diese Worte nicht mehr Gewicht, als würde er nach dem Weg zur nächsten Imbissbude fragen. Kunikida fiel aus allen Wolken. Schon wieder. Sein Körper verspannte sich. Der Mann vor ihnen legte nun den Kopf schief, immer noch sichtlich verwirrt über diese merkwürdige Frage. „Sag Mal Kurzer, solltest du um diese Uhrzeit nicht schon im Bett liegen?“, fragte er dann breit grinsend. Er trug einen weißen Anzug, ein auffällig grelles pinkes Shirt, das zur Hälfe aufgeknöpft war und seine beharrte Brust offenbarte, während die Sonnenbrille in seinem Gesicht die bunten Neonlichter der Schilder reflektierte. Sein kurzes Haar war nach hinten gegelt und er erfüllte jeden Punkt des klischeehaften Gangsters. Mit nur einem Blick konnte Kunikida sagen, dass dieser Mann gefährlich war. Kein normaler Mensch würde auch nur im Traum daran denken, einen solchen Kerl direkt in die Augen zu sehen oder gar auf derselben Straßenseite entlang zu laufen. Aber was war denn schon normal? In dieser Agentur hatten doch alle ein Rad ab und so konnte Kunikida nicht anders, als tief einzuatmen und das Schlimmste zu erwarten, während sein Gesichtsausdruck sich verfinsterte. „Hast du Bohnen in den Ohren?!“, schimpfte Ranpo und stampfte erbost auf. „Ob du in der Port Mafia bist, habe ich gefragt! Ja oder Nein! Kann doch nicht so schwer sein?!“, grummelte der Schwarzhaarige weiter und verschränkte nun verärgert die Arme. Sein Gegenüber drehte sich nun komplett um. Schwer zu sagen, wie wütend er war, da die dunkle Sonnenbrille die Hälfte seines Gesichts verbarg, doch ehe Kunikida eingreifen konnte, flog Ranpo nach hinten, strauchelte einige Meter und plumpste dann auf seinen Hinterteil. Fluchend rieb er sich den Hintern. Nun sprang Kunikida zwischen die beiden, doch in dem Moment, wo er sein Notizbuch herauszog, um eine Waffe erscheinen zu lassen, legte sich ein Arm um seinen Hals und schnürte ihm die Luft ab. Sein Buch landete auf dem Boden. Im Dreck. Wieder dieses gefährliche Zucken in seinem Auge. Von einer Sekunde zur nächsten bildete sich ein Personenkreis um sie herum. Einige lachten und jubelten, erwarteten wohl eine Schlägerei und die anderen waren offensichtlich dazu kommen, um ebenfalls den ein oder anderen Schlag auszuteilen. Kunikida hob seine Ellbogen, schlug nach hinten aus und rammte diese in die Brustgegend des ahnungslosen Mannes hinter ihm, dieser röchelte und lockerte den Griff, sodass Kunikida ihn problemlos packen und von sich wegschleudern konnte. Auch ohne sein Ideal konnte er kämpfen. Ranpo hatte sich in der Menge untergemischt und jubelte von all den Zuschauern am lautesten. Eine riesige Zornesader bildete sich auf Kunikidas Stirn, während sein kleiner Zopf zum Blitz mutierte, doch ehe er ein Machtwort sprechen konnte, kamen zwei Kerle auf ihn zu. Mit schnellen Bewegungen wich er ihnen aus, sodass sie aufeinanderprallten. Sie beschimpften sich gegenseitig und schlugen dann aufeinander ein. Noch ehe Kunikida realisieren konnte, was hier gerade geschah, kam der Mann im weißen Anzug auf ihn zu und wollte auf ihn einschlagen. Wieder wich Kunikida aus, machte einige Ausweichschritte nach hinten und hob seine Arme kampfbereit vor seine Brust. Der Fremde stand auf seinem Ideal. Scharf sog er die Luft ein. Wie konnte dieser Kerl es wagen auf sein Ideal zu treten? Wut flammte nun in Kunikida auf, ein Gefühl, das ihm neue Kraft verlieh und so tauschte er einige Schläge mit dem großgewachsenen Möchtegern-Gangster aus, während Ranpos laute Jubelschreie noch in seinen Ohren widerhallten. Die Menge tobte begeistert. „Frag ihn nochmal, ob er zur Port Mafia gehört!“, forderte Ranpo und nun riss Kunikidas Geduldsfaden. „Nur wegen dir stecken wir überhaupt in diesem Schlamassel!!“, brüllte der Blonde, vernachlässigte seine Deckung, sodass er umgeworfen wurde und das schwere Gewicht des Mannes nun auf seinem Brustkorb spürte. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn. Mehrmals schlug ihm der Kerl ins Gesicht, leicht benommen versuchte er ihn irgendwie abzuschütteln, doch die Schläge vernebelten ihm sein Umfeld und Schwindel machte es ihm unmöglich den Kerl von sich zu drücken. Irgendwie schaffte er es mit einer Hand an die Brusttasche seiner Weste zu kommen und den angeknabberten Stiel des Lutschers rauszuholen, den Ranpo zuvor achtlos auf dem Boden entsorgt hatte. Er hatte nur eine Chance. Alles oder nichts. Adrenalin rauschte durch seine Blutbahnen und er rammte den Stiel in das Auge des Mannes. Schreiend wandte sich dieser ab und warf sich auf den Boden, wimmerte und versuchte verzweifelt das lästige Stück Plastik aus seinem Auge herauszuziehen. Die Menge buhte ihn nun aus, doch Kunikida kümmerte sich nicht darum. Stattdessen spuckte er Blut und röchelte, rang nach Luft und drehte sich zur Seite. Er versuchte auf die Beine zu kommen, doch die Schläge, die er hatte einstecken müssen – was hauptsächlich Ranpos Schuld war, später würde er ihm gehörig die Ohren langziehen – führten dazu, dass er seine Umgebung nicht ganz klar wahrnehmen konnte. Kunikida fiel zurück auf den Boden, kniete im Dreck, sein Blick auf sein Ideal gerichtet. Er streckte seine Hand danach aus und hob es hoch. Er wollte einfach nur weg hier. Er hatte noch gar nicht realisiert, was geschehen war, doch nun schlugen die Zuschauer aufeinander ein und Massenschlägerei brach aus. Brüllend gingen die Leute aufeinander los. Hauptsächlich Männer, die hier als Kunden hergekommen waren und zu irgendwelchen Banden gehörten. Ranpo hielt ihm helfen eine Hand hin, wurde dann aber umgeschubst, fiel direkt in Kunikidas Arme. Fluchend rückte er sich seine Mütze zurecht. Und plötzlich war es still. Sämtliche Leute flogen in der Luft und wurden in einem warmen, roten Licht getaucht. Keiner bewegte sich mehr, hier und da Laute der Verwunderung, dann hörte man die extrem lauten Schritte eines Mannes, der in diese Richtung ging. Der Boden bebte und Kunikida schoss es durch den Kopf, dass die Erde selbst diese Person fürchtete. Vor ihnen stand der Executive der Mafia Nakahara Chuuya. Er schnipste mit den Fingern und alle Beteiligten der Straßenschlägerei landeten nun krachend auf den Boden. Die meisten wagten es nicht einmal den Rothaarigen anzusehen und verkrümelten sich, machten ihm den Weg frei. „Oh, da ist Mister Fancy Hat!“, meinte Ranpo und erhob sich nun, klopfte den Schmutz von seiner Kleidung. Kunikida wischte sich das Blut, das aus seiner Nase strömte, mit seinem Ärmel weg und rückte seine Brille zurecht und atmete tief ein. Ausgerechnet dieser Kerl! Bevor Ranpo weiter auf den Executive zulaufen konnte, packte Kunikida ihn am Kragen und hob ihn leicht an, sodass er in der Luft strampelte und nicht vom Fleck kam. Chuuya kam weiterhin näher, zog eine Augenbraue hoch und sah die beiden Eindringlinge nur empört an. Als er stehenblieb, streckte er seine Hand aus und ließ das kleine Notizbuch in seine Hand schweben, drehte es vorsichtig hin und her und klopfte den Schmutz und die Fußabdrücke vom Deckel. Dann ein tiefer, lauter Seufzer. „Was treibt ihr hier? Solltet ihr nicht wissen, dass dieser Bereich zur Port Mafia gehört?“ „Wissen wir! Deshalb sind wir hier!“, räumte Ranpo strahlend ein und grinste. Chuuya sah ihn ungläubig an und hauchte nur leise: „Was?“, legte dabei den Kopf schief, sodass sein Hut ein kleines Stückchen nach vorne rutschte. Lässig schob er ihn mit einer Hand wieder hoch und kam den beiden Ermittlern näher. Wortlos streckte er das Buch in Kunikidas Richtung, hielt es ihm hin und sah den Schwarzhaarigen nur fragend an. „Wollt ihr bei der Port Mafia einsteigen?“, wollte Chuuya wissen. „Nö! Auf keinen Fall! Ich bin da an etwas Großem dran und muss wissen, ob bei euch Mitglieder verschwunden sind!“ „Selbst wenn das der Fall wäre, würde ich dir das doch nicht verraten“, sagte Chuuya und musterte den Schwarzhaarigen, den Kunikida nun endlich losließ. Sie waren ungefähr gleich groß und redeten somit auf Augenhöhe. Wortwörtlich. Chuuya mochte es sehr, wenn seine Gesprächspartner kleiner waren als er selbst und somit nicht auf ihn herabblicken konnten. „AHA“, kam es siegessicher von Ranpo, der nun über beide Ohren strahlte. „Ist einer euer Informanten nicht zurückgekommen? Groß gewachsen, ganz kurze Haare und schicker Anzug – ich meine, ihr seht alle gleich aus in euren schrägen Anzügen, ach, darum geht’s ja gar nicht – und bewaffnet mit einer Colt M1911[8]“, ratterte Ranpo herunter, sodass Chuuya ihn erstaunt ansah. Aufgrund des scharfen Waffengesetzes gab es nur wenige Mafiamitglieder, die Schusswaffen mit sich herumtrugen, da dies zu Problemen führen konnte. Nur Informanten, die im Verdeckten arbeiteten oder bei direkten Bandenkämpfen wurden Waffen getragen. „Das ist merkwürdig spezifisch“, hauchte Chuuya und verschränkte die Arme. „Nur die ganz großen Mafiavereinigungen haben überhaupt Schusswaffen und die Port Mafia Mitglieder führen größtenteils Waffen dieser Marke mit sich, daher ist es sehr einfach auf euch zurückzuschließen“, meinte Ranpo grinsend. Kunikida sah ihn erstaunt an. Wieder ein Detail, das er in nur wenigen Minuten erkannt hatte. Und somit wieder etwas, das seinem Auge verborgen blieb. „Gut, einer unserer Informanten ist abtrünnig und meldet sich nicht mehr. Habt ihr etwa Informationen über seinen Standort und wollt mit uns verhandeln? Wenn das der Fall sein sollte, war es ganz schön dumm von euch, ausgerechnet in eines unserer Gebiete einzudringen.“ „Nee“, kam es lässig von Ranpo, der nur den Kopf schüttelte. „Warum seid ihr dann hier?“ „Oh, ich wollte nur wissen, ob die Leiche wirklich von euch ist. Aber das war alles, was ich wissen wollte“, erklärte Ranpo breit grinsend und drehte sich um, machte auf den Absatz kehrt. „OIII! Bleibst du wohl stehen!!“, keifte Chuuya und hielt ihn mit seiner Fähigkeit an der Stelle fest, ließ ihn zurück schweben und stellte ihn genau dort ab, wo er bis eben gestanden hatte. „Was denn?“, empörte sich Ranpo, der die Backen aufblies und sichtbar verärgert die Brauen herunterzog. „Ihr dringt in unser Gebiet ein, zettelt eine Massenschlägerei an und habt dann noch die Dreistigkeit hier Forderungen zu stellen! Seid ihr euch im Klaren, wer ich bin?“, begann Chuuya, wurde von Ranpo unterbrochen. „Ein kleingewachsener Kerl mit zu großem Ego für seinen verhältnismäßig winzigen Körper?“ Kunikida und Chuuya starrten den Schwarzhaarigen an. Chuuya atmete tief ein, ehe er etwas weiter sagen konnte, lenkte sich nun der Blonde ein und verneigte sich leicht vor dem Rothaarigen, entschuldigte sich mehrmals für die Worte seines frechen Kollegen, der nicht einmal den winzigsten Hauch von Reue zeigte. „Ich will ausnahmsweise so tun, als hätte ich nichts gehört“, kam es von Chuuya, der sich selbst dazu zwang, ruhig zu bleiben und nicht unnötig auf Provokationen einzugehen. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, dass nicht Ranpo sondern jemand anderes vor ihm stand. Dieser Ranpo-san und Dazai sind sich erschreckend ähnlich, dachte Chuuya und räusperte sich, verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich auf die Situation. Kunikida erzählte von der Leiche, die sie gefunden hatten. „Ich lasse euch lebendig gehen. Aber nur weil ihr mir eine Menge Ärger erspart habt. Wenn die Polizei die Leiche finden würde, könnten sie unserem Boss auf die Spur kommen und jederzeit eine Razzia durchführen, das können wir echt nicht gebrauchen.“ Chuuya schob seinen Hut erneut zurück. Ranpo glaubte, dass er das tat, weil er einen ungesunden Tick entwickelt hatte, sagte aber nichts, da Kunikida ihm diesen bitterbösen Blick von der Seite zuwarf. „Und jetzt haut ab, bevor ich es mir anders überlege“, zischte er dann, drehte sich um und verschwand in der nächsten Seitengasse. Es wäre ohnehin gegen unsere Abmachung. Ich würde meine Position gefährden, würde ich die Mitglieder der Detektei angreifen. Der Boss hat Kampfhandlungen ausdrücklich verboten, was auch immer er davon hat oder sich davon erhofft. Wäre doch viel einfacher, sie einfach auszuschalten. Das würde uns eine Menge Probleme ersparen und trotzdem verbietet es der Boss ihnen zu nahe zu kommen, überlegte Chuuya und machte sich auf den Weg zu einer der zahlreichen Yatai[9] der Stadt. Jetzt eine warme Schale O-den und gekochter Konbu. In seiner Hand hielt er zwei Tüten gefüllt mit Süßigkeiten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)