Angelo von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: Glück im Spiel ------------------------- „Faites vos jeux. Bitte das Spiel zu machen.“ Die Aufforderung des Croupiers hatte ein reges Setzen der anderen Spieler am Tisch zur Folge. Alle hatten die Augen auf den grünen Tisch gerichtet und verteilten hektisch oder auch weniger hektisch, je nach Anzahl der vor ihnen liegenden Chips, ihre Einsätze auf dem nummerierten Feld. Michael klickte seine letzten zwei Jetons gegeneinander. 15 Dollar. 15 verdammte Dollar waren alles, was er noch hatte. Die kleine, weiße Kugel, die jetzt anfing geräuschvoll durch die Rinne am Rand des Rouletterades zu laufen, hasste ihn heute Abend offensichtlich. Er presste die Kiefer aufeinander und überlegte. Michael war im Grunde genommen kein Spieler. Niemals im Leben hätte er sich an einen der Black Jack oder Poker Tische gesetzt, denn die ganze Sache mit den Karten war ihm suspekt. Auch den lauten Würfelspielen konnte er nicht wirklich etwas abgewinnen. Sportwetten langweilten ihn und die unzähligen Slot Machines, die im vorderen Teil des Casinos vor sich hin blinkten und piepten, reizten ihn erst recht nicht. Das fühlte sich zu sehr nach etwas an, das Kinder taten. Oder alte Damen mit ihren Bechern voller Kleingeld, das sie Münze auf Münze in die Schlitze der Spielautomaten steckten, als wären sie selbst ebenfalls nicht mehr als Maschinen. Nein, Michael kam ins Casino wegen der Atmosphäre. Er liebte es, den Menschen zuzusehen, während er sich einen Drink oder auch zwei genehmigte, um sich dann unter sie zu mischen und ein wenig sein Glück zu versuchen. Beim Roulette. Immer nur beim Roulette. Das war einfach. Man nahm einen Plastikchip, setzte ihn auf eine Zahl oder Farbe und je nachdem, wo die Kugel landete, gewann oder verlor man. Für Michael hatte es heute Abend jedoch immer nur „Leider verloren“ geheißen und seine Jetons waren einer nach dem andren vom Tisch geräumt worden. Nun hielt er die letzten zwei Stücke seines Einsatzes in der Hand und es war noch nicht einmal halb zehn. Wenn das so weiterging, wurde das ein kurzer Abend. Natürlich hätte er noch mehr Geld einwechseln können, aber er hatte ein festes Limit. Nicht mehr als 200 am Abend. Meist machte er bereits bei der Hälfte Schluss, weil es zu spät wurde und er ja schließlich nicht nur zum Spielen hierhergekommen war. Aber heute? Heute lächelte Lady Luck auf jeden Fall jemand anderem zu. Mit einem Seufzen nahm er die beiden verbleibenden Jetons und wollte sie auf rot setzen – immerhin kam schon eine ganze Weile schwarz, da musste ja mal wieder eine andere Zahl fallen – als ihm plötzlich der Zehn-Dollar-Jeton aus den Fingern rutschte und auf den Tisch purzelte. Michael wollte gerade danach greifen, als der Croupier ausrief: „Rien ne vas plus. Nichts geht mehr.“ Scheiße. Michael fluchte leise in sich hinein und starrte missmutig auf das kleine Plastikteil, das fast vollständig auf der 24 lag. Ausgerechnet eine schwarze Zahl. War ja klar. Die würde mit Sicherheit nicht kommen. Er schüttete den Rest seines Drinks in sich hinein und schob sich vom Tisch zurück. Zeit zu gehen. Vielleicht konnte er noch ein bisschen Zeit rausschinden, wenn er den letzten Jeton doch in Münzen für die Spielautomaten umtauschte. Seinen unbeabsichtigten Einsatz würde er ohnehin nicht wiedersehen. Er hörte, wie die Kugel mit einem Klackern aus der Rille sprang und anfing, zwischen den Zahlen hin und her zu hüpfen. Als das Geräusch verstummte, war er bereits einen Schritt vom Tisch weg. Mit halbem Ohr lauschte er noch der angesagten Zahl. „Vignt-Quarte. 24. Die 24 gewinnt.“ Michael tat noch einen weiteren Schritt, bis das Gesagte in sein Gehirn vordrang. Hatte der Typ gerade „24“ gesagt?“ „Monsieur, Ihr Gewinn.“ Es klimperte hinter ihm, als der Croupier die Jetons über den Tisch schob. Michael fuhr herum und starrte auf den Haufen bunten Plastiks. Da lagen doch tatsächlich 350 Dollar. Fast das Doppelte von dem, was er heute Abend bereits ausgegeben hatte. Der Mann, der neben ihm gesessen hatte, drehte sich zu ihm herum. „ Na Sie sind ja ein Glückspilz. Los, kommen Sie, ich gebe Ihnen einen aus.“ Michael trat zurück an den Tisch und wollte sich schon wieder setzen, als er es sich plötzlich anders überlegte. Er sah den Mann, einen übergewichtigen 50-jährigen, entschuldigend an. „Danke, aber ich glaube, ich werde mein Glück heute Abend nicht weiter strapazieren.“ Der Mann lachte. „Wahrscheinlich haben Sie recht. Man muss wissen, wann man aufhören sollte. Wäre meiner Frau sicherlich auch lieber. Dann machen Sie es gut. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“ Michael nickte beflissen freundlich, warf einen der Jetons als Trinkgeld auf den Tisch und strich die restlichen ein, um sie in seiner Jacketttasche zu versenken. Die Tasche beulte sich aus unter der schieren Masse. Er tauschte normalerweise immer nur wenig, damit er sich genau mit diesem Problem nicht belasten musste. Nach den letzten zwei Wochen, in denen er quasi ständig mit einer Tasche oder einem Musterkoffer in der Hand herumgereist war, genoss er es, heute Abend einfach mal frei zu haben. Frei von allem, sogar davon, Gepäck mit sich herumzutragen.   Er sah noch einmal zum Tisch zurück. Der Croupier, der sein Trinkgeld inzwischen eingestrichen hatte, war bereits wieder voll auf das nächste Spiel konzentriert. Es war ein junger Mann, vielleicht Anfang 20, gut aussehend auf eine jungenhafte Art und Weise. Das weiße Hemd und die schwarze, enganliegende Weste ließen die Form seines Körpers unter dem Stoff erahnen. Wenn Michael ehrlich war, war er derjenige gewesen, weswegen er den Tisch mit dem 10-Dollar-Limit angestrebt hatte, statt wie üblich an einen der niedriger limitierten Tische zu gehen. Er war ihm ins Auge gesprungen und Michael hatte nicht widerstehen können, sich schon ein wenig Appetit zu holen für das, was ihn nach dem Spielen erwarten würde. Denn neben dem Trinken und dem Spielen lockte noch etwas Michael nach Las Vegas und das war die Aussicht auf eine Nacht in netter Begleitung. Männlicher Begleitung. Es gab hier genug Clubs, in denen er auf Fischzug gehen konnte. Und wenn es gar nicht anders ging, konnte man sicherlich auch in den Nebenstraßen nach jemandem suchen, der am Ende Cash dafür sehen wollte. Normalerweise ging Michael nicht so weit, zumal die Augen der Polizei quasi überall waren und er ungern seine Nacht in einer Zelle verbringen und eine saftige Geldstrafe abdrücken wollte. Aber jetzt, wo ihm die Jetons ein Loch in die Tasche brannten, überlegte er ernsthaft daran herum. Es würde ihm eine Menge Zeit sparen und mit dem Gewinn wäre die Nacht quasi umsonst. Die letzten zwei Wochen waren anstrengend gewesen. Nicht nur, dass er unzählige Stunden im Auto verbracht hatte, nein, seine Kunden waren auch allesamt auf dem Arschloch-Trip gewesen. Er hatte endlos auf harten Plastikstühlen warten müssen, sich mit biestigen Sekretärinnen und vergessenen Terminen und nicht zuletzt mit jeder Menge kritischen Fragen auseinandersetzen müssen. So langsam zweifelte er daran, dass es eine gute Idee gewesen war, sich auf den neuen Job in der frisch hochgezogenen Firma einzulassen. Sicherlich, es hatte sich verlockend angehört. Die Arbeitsbedingungen waren gut – besser als in seinem vorherigen Job – es gab Krankenversicherung, humane Arbeitszeiten, Sozialleistungen. Alles nicht von schlechten Eltern. Trotzdem war er sich nicht sicher, ob nun ausgerechnet er derjenige sein würde, der dem deutschen Unternehmen mit dem grinsenden, gelben Bären als Identifikationsfigur in den Vereinigten Staaten zu Ruhm und Bekanntheit verhelfen würde. Zumal er das Zeug, das er verkaufte, auf den Tod nicht leiden konnte. Wahrscheinlich ging es seinen Kunden nicht anders. Sinnierend strich er über die Tasche mit den Jetons. 350 Dollar. Kein riesiges Vermögen, aber auch nicht zu verachten. Selbst, wenn er den ursprünglichen Einsatz abzog, blieb immer noch genug für jede Menge Spaß übrig. Er schwankte. Eigentlich war es noch früh genug und er konnte es sich leisten, zunächst einmal die Bars abzuklappern. Vielleicht ließ sich ja da etwas finden.   Michael ließ sich seinen Gewinn auszahlen und verließ die hell erleuchteten Hallen des Casinos mit ihrem ewig gleichen Licht, den fehlenden Uhren und der ständigen Beschallung mit Klimpern, Rasseln und jubelnden Stimmen. Sieh nur her, schien es rings um ihn herum sirenengleich zu singen. Sieh her, hier kannst du Spaß haben. Hier kannst du gewinnen. Hier bist du ein gerngesehener Gast. Bleib solange du willst. Trink, spiel, hab Spaß! Die moderne Version des klassischen „Panem et circenses“ nur mit weniger Löwen. Natürlich ging das Konzept auf. Millionen und Abermillionen Spielwütiger konnten sich nicht irren. Die zahlreichen Leuchtreklamen, blinkenden Lichter und allgemein das, was man als das „Paradies in der Wüste“ bezeichnete, konnten so verkehrt nicht sein. Wenn Gott Geld gehabt hätte, hätte er die Erde so gebaut wie Las Vegas, hatte mal einer der Casino-Milliardäre behauptet und Michael war geneigt, ihm zuzustimmen. In Vegas gab es nichts, was es nicht gab, und kein Wunsch blieb unerfüllt. Wenn man genug Geld hatte.   Er trat aus dem Casino und stand im nächsten Moment auf dem Strip. Hinter ihm buhlten die unzähligen Lichter der riesigen Leuchtschrift um neue Kunden, die ebenso zahlreich hinein wie hinausströmten. Es war viel los heute. Kein Wunder an einem Freitagabend. Die schwülwarme Luft um ihn herum war erfüllt von Stimmen, Lachen, dem Klang der Musik und den Motorengeräuschen der vorbeifahrenden Autos. Hier steppte der Bär, hier tanzten die Puppen, hier pulsierte das Leben. Es war schwer, sich der Wirkung der Stadt zu entziehen. Doch Michael hatte das auch gar nicht vor. Er ließ sich treiben in dem Strom der Passanten, die ihn an den bunten Lichtern und künstliche bewässerten Palmen, den Fontänen und hell erleuchteten Springbrunnen, den Pyrotechnikeinlagen und zahlreichen Anwerbern vorbei immer weiter in Richtung des nächsten Vergnügens zogen. Derweil überlegte er, wo er hingehen sollte. Es gab einige Läden zur Auswahl. Das „Malibu“, das „Blue Oyster" oder die „Rainbow-Bar“ waren beliebt und zogen wechselndes Publikum an, zwischen dem sich für jeden Geschmack etwas finden ließ. Michael wusste genau, wonach er suchte. Er mochte junge, knabenhafte Männer, nicht zu alt und möglichst nicht zu aufmüpfig. Wenn man so wollte ein Gegenstück zu ihm selbst. Er war mit seinen 1,95 m, den breiten Schultern und kräftigem Körperbau, muskulösen Armen und ebenso durchtrainierten Beinen nicht gerade das, was man einen Gartenzwerg nannte. Dadurch, dass auch sein Gesicht unter dem fast schon militärisch kurz geschnittenen, dunklen Haaren nicht unbedingt unansehnlich war, konnte er sich meist eines der Schnittchen aussuchen, um es für eine Nacht mit unter die Bettdecke zu nehmen. Eine Nacht wohlgemerkt und nicht mehr. Denn morgen würde er aufstehen, sich in seinen Wagen setzen, die eintönige Strecke nach Salt Lake City zurücklegen und in die liebenden Arme seiner Frau zurückkehren. Gabriella würde ihn sicherlich nicht vor dem Abend erwarten, aber er hatte vor, sie zu überraschen und bereits gegen Nachmittag einzutreffen. Er vermisste sie und freute sich, noch ein nettes Wochenende mit ihr zu verbringen. Aber heute Abend gehörte noch ihm allein wie jedes Mal, wenn er von einer Geschäftsreise zurückkam.   Seine Füße trugen in den Strip entlang Richtung „Malibu“. Dort gab es oft eine Menge Latinos und ihm war, wie er feststellen musste, heute anscheinend nach ein bisschen Exotik. Es war nicht so, dass er auf die jungen Kerle, die er altersmäßig meist um gut zehn Jahre überbot, herabsah. Im Gegenteil. Er war immer sehr zuvorkommend und legte großen Wert darauf, dass auch sein Bettpartner auf seine Kosten kam. Aber er machte auch keinen Hehl daraus, dass er sie nicht für mehr als das Eine aus der Bar abzuschleppen gedachte. Wer in Vegas seine große Liebe suchte, hatte sowieso irgendwas ganz gründlich missverstanden. Hier kam man her um sich unverbindlich zu amüsieren, Party zu machen und es sich gutgehen zu lassen, solange die Geldbörse es eben hergab. Vor dem Malibu rückte er noch einmal die Krawatte zurecht, überlegte kurz und band sie dann ab, um sie in der Tasche verschwinden zu lassen. Hier brauchte er nicht mehr den erfolgreichen Geschäftsmann zu mimen. Hier war er einfach nur ein großer Mann auf der Suche nach einem warmen Körper und etwas Spaß. Dann mal nichts wie rein ins Vergnügen, dachte er bei sich und begab sich in die bunt beleuchtete Gay Bar.     „Ich kann mit meiner Zunge Sachen anstellen, die dir die Schuhe ausziehen.“ Der kleine Latino mit dem femininen Auftreten und dem knallpinken T-Shirt wickelte sich förmlich um ihn herum. Michael hob den Arm, um über seinen Kopf hinweg an sein Glas zu kommen, und trank den letzten Schluck Whiskey. Das Getränk brannte in seiner Kehle und er merkte, dass er langsam genug hatte. Genug zu trinken und genug von Pablo, Paco oder wie auch immer er hieß. Eigentlich war es gut gelaufen. Er hatte sich an die Bar gesetzt und sich die Auswahl angesehen, die sich zu heißen Salsaklängen über die Tanzfläche bewegt hatte. Das Vögelchen, das ihm da gerade unter das Jackett kroch, war ihm gleich aufgefallen und nach einer mehr als aufreizenden Tanzeinlage, hatte er ihn zu sich gewinkt und in ein Gespräch verwickelt. Wenn man es denn so nennen konnte, denn Paco – er beschloss, ihn jetzt einfach mal so zu nennen – hatte sich nicht gerade durch außerordentlich intelligente Antworten ausgezeichnet. Ob das jetzt echt oder nur gespielt war, wusste Michael nicht. Fakt war jedoch, dass es ihn nervte und zwar mehr, als er gedacht hatte. Vielleicht deswegen, weil ihn Pacos Augen an die seiner Frau erinnerten. Gabriella mochte vieles sein, aber dumm war sie nicht. Michael seufzte. Es war mittlerweile spät geworden auf seiner inneren Uhr und das hier wurde nicht besser, wenn er es noch herauszögerte. „Also schön, Paco ...“ „Ich heiße Rico.“ Als ob das wirklich sein richtiger Name wäre. Michael verkniff sich ein Schnauben. „Okay, Rico, pass auf. Ich muss morgen früh raus und würde jetzt gern in mein Hotel zurückkehren. Hast du Lust, mich dahin zu begleiten?“ Rico leckte sich über die Lippen, die nach irgendeinem synthetischen Kirschzeug rochen. „Was zahlst du?“ Michael glaubte, sich verhört zu haben. „Wie bitte?“ „Du hast schon verstanden. Wie viel zahlst du? Wenn ich mitkommen soll, muss mindestens ein Fünfziger drin sein, ansonsten lohnt sich der Weg nicht. Alternativ gehen wir hinters Haus und ich blas dir einen, dann bist du mit 20 dabei.“ Fuck, ich hab einen Stricher erwischt. Michael hätte fast gestöhnt. Dass die Kerle inzwischen auch das Innere der Bars unsicher machten, war ihm neu. Normalerweise guckten die Besitzer danach, dass ihre Läden sauber blieben. Aber entweder war Rico neu oder er hatte sich den Gefallen erkauft. Vermutlich in Naturalien. Die Tatsache, dass er Geld für seine Dienste wollte, blieb jedoch und wurde auch nicht dadurch besser, dass Rico jetzt seine Hand über Michaels Oberschenkel in Richtung seines Schritts schob. „Also was ist, Daddy? Blowjob oder willst du richtig einen wegstecken?“ Michael schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Natürlich hätte er … Rico jetzt einfach mitnehmen können. Das Etablissement, in dem er sich eingemietet hatte, gehörte eher zur niedrigen Preisklasse und den Portier würde eher interessieren, dass er seine Rechnung bezahlte und nicht das Mobiliar zerdepperte, und weniger, wen er heute Nacht mit in sein Bett nahm. Aber irgendwie widerstrebte es Michael heute, eine dieser Straßenkatzen anzuheuern, die sich für ein paar Dollar an den nächstbesten verkauften, der es nötig hatte. Das war wirklich nur etwas für richtige Notfälle. Er griff in seine Jacketttasche und holte blind einen Geldschein heraus. Einen Fünfziger, wie er feststellen musste. Nun ja, auch egal. Er hatte heute genug gewonnen. Michael pflückte Ricos Hand von seinem Oberschenkel, wo sie schon gefährlich nah an der Endzone gewesen war, und drückte ihm unauffällig den Schein in die Hand. „Hier, nimmt das“, sagte er und versuchte, nicht zu gönnerhaft zu wirken. „Kauf dir davon was zu essen und geh für heute Abend nach Hause. Wenn's dir hilft, stell dir einfach vor, ich hätte dich für die Nacht mitgenommen.“ Rico schielte nach dem Schein in seiner Hand und seine Augen wurden groß. „Im Ernst jetzt? 50 Dollar? Einfach so?“ „Ja, einfach so“, knurrte Michael. „Und jetzt verschwinde. Ich hab schon genug Zeit mit dir vergeudet.“ Rico schien kurz zu überlegen, aber dann beschloss er wohl, lieber die Beine in die Hand zu nehmen, bevor der komische Kauz für sein Geld doch noch eine Gegenleistung verlangen konnte. Er drehte sich herum und strebte, ohne sich noch einmal umzusehen, dem Ausgang zu. Irgendjemand rief ihm noch etwas nach, aber er hob nur grüßend die Hand, bevor seine schmale, pinke Silhouette in der Nacht abtauchte. Michael überlegte, ob er noch einen Drink ordern sollte, doch dann stand er lieber auf und machte sich ebenfalls auf den Weg nach draußen. Die Stimmung für das „Malibu“ war ihm heute verdorben. Vielleicht fand sich ja im „Rainbow“ was Passenderes. Er trat auf die Straße und sah sich um. Die Menschenströme waren, auch wenn das unglaublich schien, noch dichter geworden und strebten an ihm vorbei in Richtung Strip. Michael wäre fast von einem älteren Pärchen umgerannt worden, das sich lauthals in irgendeiner fremden Sprache stritt. Es klang, als würden sie sich gegenseitig mit Blechbüchsen bewerfen. Er blickte ihnen noch kurz nach und traute dann seinen Augen nicht, als er an der nächsten Ecke einen pinken Fleck ausmachen konnte. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen und sah genauer hin. Das war ziemlich eindeutig Rico, der von einem größeren Kerl, der ihm typmäßig ähnlich sah, am Arm festgehalten wurde. Wie es aussah, stritten die beiden sich. Michael wollte sich schon abwenden, weil ihn das immerhin nichts anging, als er sah, wie Rico dem größeren etwas aushändigte. Wenn Michael hätte wetten sollen, hätte er auf seinen 50-Dollar-Schein getippt.   Michael merkte, wie sich ohne sein Zutun seine Faust ballte. Er konnte solche Typen nicht leiden, die Kleinere schikanierten. Hatte er noch nie gemocht. Nur weil man groß war, hieß das ja nicht, dass man andere herumschubsen konnte, wie es einem passte. Und dass der blöde Wichser seinem Vögelchen gerade das Milchgeld abnahm, ging ihm ganz gewaltig gegen die Hutschnur. Ohne besonders viel Rücksicht auf die anderen Passanten zu nehmen, bahnte sich Michael seinen Weg auf die beiden Latinos zu, die immer noch stritten. Anscheinend hatte Rico noch nicht genug abgeliefert und sein Zuhälter oder wer auch immer der größere Kerl war, wollte ihn wieder losschicken. Aber ohne Michael. „Hey!“, rief er, als er nur noch ein paar Schritte entfernt war. „Lass den Kleinen in Ruhe.“ Die beiden drehten sich zu ihm um und Ricos Augen wurden noch größer als zuvor, als er den Schein erhalten hatte. Er flüsterte dem großen etwas zu und der schien zu fluchen. Er schubste Rico von Michael weg den Fußweg entlang und fing selbst an, in die gleiche Richtung zu gehen. Das hast du dir so gedacht, knurrte Michael in Gedanken und wurde ebenfalls schneller. Der Zuhälter drehte sich um. Als er sah, dass Michael dabei war aufzuholen, ließ er alle Vorsicht fahren und begann zu laufen. Dabei zog er Rico mit sich und die beiden drohten im Gewühl zu verschwinden. Michael gab dennoch nicht so schnell auf. Er beschleunigte seine Gangart erneut und als die beiden Jungen an der nächsten Ecke abbogen, lief er ohne viel nachzudenken hinterher.   Kaum hatten sie den Strip hinter sich gelassen, begannen die beiden Jungen ohne jede Vorsicht zu rennen. Michael jagte hinter ihnen her und holte zusehends auf. Gleich würde er den Großen erwischen und dann konnte der sich schon mal auf was gefasst machen. Er streckte im Laufen die Hand aus, als sein Ziel plötzlich einen Haken schlug und in eine Seitengasse davonstürzte. Rico, der von all dem nichts mitbekommen hatte, rannte weiter geradeaus. Michael entschied sich innerhalb von Sekunden. Er wollte den Kerl mit seinem Geld erwischen. Also stürmte er ebenfalls in die schmalere Gasse, wo der Zuhälter inzwischen schon wieder an Boden gewonnen hatte. Michael lief, seine Beine griffen weit aus und langsam kam er wieder näher heran. Gleich, gleich würde er ihn haben. Da schoss auf einmal ein Auto vor ihm über die Straße und hupte wild, als es ihm fast die Zehen abfuhr. Michael konnte gerade noch bremsen, um nicht mit voller Wucht gegen die Karosserie geschleudert zu werden. Er schickte dem Fahrer einen saftigen Fluch hinterher und sah sich um. Von dem Zuhälter war nichts mehr zu sehen und auch ansonsten schien es hier plötzlich niemanden mehr zu geben außer ihm. Er stand schwer atmend auf der Kreuzung und wusste nicht, in welche Richtung der Scheißkerl verschwunden war. Selbst von dem Auto gab es keine Spur mehr. Michael stützte sich auf seine Oberschenkel und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er trieb durchaus Sport, wenn er zu Hause war. Joggen, Schwimmen und gerne auch mal eine Runde Basketball, da war er dabei. Nur weil er kein Football mehr spielte, hieß das ja nicht, dass er deswegen zur Couch-Potato mutieren musste. Trotzdem hatte ihn der Sprint ziemlich unvorbereitet erwischt. Diese viele Autofahrerei war einfach der Killer für jede Kondition. Sitzen ist das neue Rauchen, dachte er und streckte den Rücken durch. Sein Geld und vor allem den Typen konnte er wohl vergessen. Den würde er in diesem Gewirr von unbekannten Straßen und Gassen nicht mehr finden.   Er sah sich um und stellte fest, dass ihn die kleine Verfolgungsjagd weiter von der gut erleuchteten Vergnügungsmeile weggetragen hatte, als angenommen. Um ihn herum war nichts mehr von den bunten Leuchtreklamen und der hellen Scheinwelt erkennbar, für die Vegas so berühmt war. Hier gab es Wohnhäuser mit riesigen, ratternden Klimaanlagen, überquellende Mülltonnen und die Leiche eines Autos, von dem er in der Dunkelheit nicht mehr erkennen konnte, ob es abgebrannt oder nur ausgeschlachtet war. Ein Fahrrad ohne Räder und eigentlich auch sonst ohne alles, was man zum Fahren brauchte, war noch mit einer rostigen Kette an die Laterne neben ihm gekettet. Deren heller Lichtkreis hob sich deutlich gegen die Dunkelheit ab und ihm wurde klar, dass er sich gerade ziemlich auf dem Präsentierteller befand. Er knurrte noch einmal und setzte sich dann in Bewegung, um den Rückweg anzutreten.   Die Gegend hier war wirklich nicht die Beste. In den Ecken lag Müll und Unrat und als ein Schatten über die Straße huschte, war er sich nicht sicher, ob es eine sehr kleine Katze oder doch eher eine sehr große Ratte gewesen war. Man riet den Touristen nicht umsonst, sich nach Anbruch der Dunkelheit quasi nicht mehr vom Strip zu entfernen, denn hinter der glitzernden Fassade war Vegas eine dreckige, alte Schlampe, die ihre Kinder langsam aber unaufhaltsam fraß. Oder sie fraßen sich gegenseitig. Manchmal hatte Michael das Gefühl, dass, wer es irgendwo anders zu nichts gebracht hatte, nach Vegas kam, um hier noch ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Vermutlich war das der Grund, warum auch er immer wieder hier aufschlug. Damit er sich noch ein bisschen besser vorkommen konnte als diejenigen, die hier tatsächlich lebten. In der Ferne konnte er die Lichter sehen, die ihm den Weg wiesen. Er kannte also die ungefähre Richtung. Das Dumme war nur, dass anscheinend keine Straße gewillt war, in diese Richtung zu führen. Er konnte lediglich die ganze Zeit geradeaus laufen. War das auf dem Hinweg auch schon so gewesen? Er schnaubte. Nun, verlaufen würde er sich schon nicht und es war ja auch nicht so, dass er ganz wehrlos war. Er atmete trotzdem auf, als er in der Ferne endlich eine Kreuzung auftauchen sah, an der eine Straße endlich wieder Richtung Strip führte. Er wollte gerade in einen leichten Trab fallen, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Es klang wie ein lautes Scheppern, gefolgt von mehreren Stimmen, die dreckig lachten und sich angeregt unterhielten. Er blieb stehen und lauschte. Irgendetwas an dem Stimmengewirr, das er nicht so ganz identifizieren konnte, ließ ihn aufhorchen. Langsam und ohne es wirklich zu merken, ging er wieder ein Stück die Straße zurück, den Kopf schräg gelegt und mit den Augen nach der Quelle des Lärms suchend. Die Stimmen wurden lauter und inzwischen konnte er immerhin erkennen, dass sie wohl kein Englisch sprachen. Was im Grunde nicht verwunderlich war, denn in Vegas herrschte, was die Wahl der Sprache anging, relative Meinungsfreiheit. Es war nicht erforderlich, sich in der offiziellen Landessprache ausdrücken zu können, um hier wohnen und arbeiten zu dürfen. Wenn man in der Lage war, drei Kreuze unter einen Vertrag zu schmieren, reichte das vollkommen aus.   Michael blieb jetzt vor einer Einfahrt stehen, an der er gerade schon einmal vorbeigekommen sein musste. Hinter dem Hoftor mit der abblätternden weißen Farbe und großen Roststellen konnte er jetzt deutlich die Stimmen von mindestens vier oder fünf Männern hören. Wahrscheinlich schacherten sie gerade um irgendwelche Waffen oder Drogen und es wäre das Beste für ihn gewesen, sich möglichst schnell aus dem Staub zu machen. Dann allerdings hörte er einen Laut, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war eine helle Stimme, die eindeutig nicht zu den rau lachenden Gesellen gehörte. Eine Stimme, die jetzt ein gequältes „No! Vi prego. Lasciami in pace!“ von sich gab. Als Antwort gab es nur ein lauteres Lachen und ein Geräusch mit anschließendem Schmerzenslaut, das auf einen Schlag hindeutete. Michaels Gedanken begannen zu rasen. Er hätte nicht mit einer gebürtigen Italienerin verheiratet sein müssen, um zu verstehen, dass dort drinnen jemand in Not war. Und dass, wenn niemand eingriff, sicherlich etwas Furchtbares passieren würde. Aber in dieser Stadt, ach was, in diesem Land passierte alle paar Sekunden irgendjemandem etwas Furchtbares und meist fuhr man besser damit, wenn man einfach nicht hinsah und sich um seinen eigenen Kram kümmerte. Nur leider war Michael niemand, der das besonders gut konnte. Gabriella witzelte oft, dass er doch hätte zur Polizei gehen sollen. Er wäre sicherlich einer dieser „guten Cops“ geworden, die versuchten, für Recht und Ordnung zu sorgen, nur um dann noch vor ihrem 40. Geburtstag an der Flasche zu hängen, weil sie es nicht mehr ertragen konnten, wie sehr das System doch alle Anflüge von Moral und Anstand unter seiner Schuhsohle zermalmte. Aber seit dem Unfall damals, der ihn seinen besten Freund, seine Karriere und beinahe sein linkes Bein gekostet hatte, war er nicht eben gut auf Uniformträger zu sprechen. Noch weniger gut allerdings auf Leute, die sich an Schwächeren vergriffen. Ohne lange zu überlegen, griff Michael nach dem nur angelehnten Tor und stürmte in den Innenhof.   Das Bild, das sich ihm bot, war in etwa das, was er erwartet hatte. Fünf zwielichtige Gestalten, seines Dafürhaltens nach mussten es Mexikaner oder Kubaner sein, hatten sich in dem Hinterhof um ihr Opfer versammelt, das am Boden lag und von dem er nicht mehr erkennen konnte, als das es offensichtlich nicht hierher gehörte. Kaum war er um die Ecke gekommen, sah er sich auch schon mit dem mutmaßlichen Anführer der fünf konfrontiert, der ihm brüsk den Weg vertrat. Eigenartigerweise war es nicht der Größte in der Runde, sondern ein relativ schmales Hemd, das Michael gerade mal bis zur Brust reichte und zum Glück überrumpelt genug war, um nicht gleich eine Waffe zu ziehen. Als Michael dieser Gedanke kam, wurde ihm erst bewusst, wie sehr er sich gerade in die Scheiße geritten hatte. Jetzt half nur noch die Flucht nach vorn. „Hey, was geht hier vor? Lasst ihn in Ruhe!“ Er hatte keine Ahnung, ob die Typen ihn verstanden, aber so, wie er aufgetreten war, war das wohl schwerlich misszuverstehen. Einer der restlichen vier schnaubte belustigt. „Eh, Alejandro! Lo matamos?“ Der Angesprochene hob die Hand, als wolle er seinen Kumpanen ein Zeichen geben, noch zu warten. Er knurrte etwas, das sich nach einer Drohung anhörte. Michael hatte keine Ahnung, worum es ging. Er selbst sprach kein Spanisch, das merklich über „Buenos Días“ und die Frage nach dem Weg zur nächsten Tankstelle hinausging. „Ich hab gesagt, ihr sollt ihn gehen lassen“, wiederholte er, denn inzwischen war er sich ziemlich sicher, dass es sich bei dem Opfer um einen jungen Mann handelte. Der hatte die Beine an den Körper gezogen und wimmerte leise. Der Mexikaner grinste und entblößte dabei einen unglaublich klischeehaften Goldzahn. „Pass auf, Gringo, ich mache dir einen Vorschlag“, schnarrte er und Michael stellte fest, dass er nicht nur einen starken Akzent hatte, sondern zudem auch noch furchtbar lispelte. „Du verschwindest von hier und gehst dorthin zurück, wo deinereiner hingehört, und wir vergessen, dass wir dich hier gesehen habe. Was hältst du davon?“ Wer immer der Kerl war, er hatte offensichtlich mit Hilfe von Bugs Bunny Cartoons Englisch gelernt. Anders konnte sich Michael dieses Geschwafel nicht erklären. Andererseits war Michael niemand, der einem geschenkten Gaul allzu lange ins Maul schaute. Die Typen hatten ihren Standpunkt klargemacht, dass sie ihr Opfer nicht gehen lassen würden. Und Michael würde Ärger bekommen, wenn er blieb. Somit blieb ihm nur eine Wahl. Er ballte die rechte Hand zur Faust und schlug zu.   Die Wirkung des Schlags war so überwältigend, dass er es selbst gar nicht glauben konnte. Der Anführer der Bande sah ihn für einen Moment völlig entgeistert an, bevor sich seine Augen verdrehten und er bewusstlos nach hinten umkippte. Unter seinen Kumpanen herrschte für einen Augenblick fassungsloses Schweigen, bevor die sprichwörtliche Hölle losbrach. Gleich zwei der Kerle versuchten sich auf Michael zu stürzen, behinderten sich dabei aber zum Glück gegenseitig, sodass er ihnen ausweichen und einen von ihnen noch aus dessen Angriffsbewegung heraus gegen die nächste Wand schicken konnte, wo er dankenswerterweise liegenblieb. Der zweite hatte sich geduckt und knurrte ihn an. Das Geräusch sorgte dafür, dass sich die Haare in Michaels Nacken aufstellten. Irgendetwas war damit definitiv nicht in Ordnung. Als er erneut angriff und nach Michaels Beinen schnappte, um ihn zu Fall zu bringen, hieb Michael ihm mit der Handkante in den Nacken. Im nächsten Moment verzog er schmerzverzerrt das Gesicht. Seine Hand fühlte sich an, als hätte er damit gegen Beton geschlagen, während der andere sich nur schüttelte wie ein Hund, der gerade aus dem Wasser kam. Er umkreiste Michael und bleckte die Zähne, die im Mondlicht weiß aufblitzten. Zu seinem Glück hatten die zwei restlichen Gestalten nicht so viel Kampfesmut. Einer von ihnen hatte sich des Anführers angenommen, während der andere den zweiten Verletzten auf die Beine zerrte. „Salgámonos de aquí“, zischte er. „Volveremos más tarde.“ Der Knurrer schüttelte den Kopf. „No le va a gustar al jefe." Doch der Kerl, der dem immer noch ziemlich benebelten Wandknutscher auf die Beine geholfen hatte, gab ein Fauchen von sich, das den Knurrer anscheinend in seine Schranken wies. Er winkte seinen Kumpanen. „Vámonos!“ Sie stürzten zur Tür hinaus, jedoch nicht ohne, dass der Faucher Michael noch einmal einen spöttischen Blick zuwarf. Seine Augen schienen von innen heraus zu glühen und ein böses Lächeln umspielte seine schmalen Lippen. „Du weißt nicht, in was du dich hier einmischst, Gringo. Ich wünsche dir viel Spaß mit dem Ángel.“ Er lachte noch einmal heiser und das Geräusch jagte erneut eine Gänsehaut über Michaels Rücken. Dann waren sie verschwunden und Michael stand plötzlich allein in dem verwaisten Innenhof. Das hieß, nicht ganz allein. Da war immer noch das zitternde Bündel Mensch, das sich inzwischen vollkommen zu einer Kugel zusammengerollt hatte und eigenartige Laute von sich gab. Michael atmete tief durch und näherte sich dem am Boden Liegenden langsam. „Hey, du kannst aufstehen. Sie sind weg“, sagte er und beugte sich gleichzeitig zu dem jungen Mann hinunter. Als er seine Hand auf dessen Rücken legte, hätte er sie beinahe wieder zurückgezogen. Der schmale Körper stand förmlich in Flammen, obwohl er mit dem weißen T-Shirt und der hellen Jeans nicht eben übermäßig dick bekleidet war. Michael warf einen Blick auf seine Füße und stellte fest, dass er keine Schuhe trug. Was war hier los? Hatten die Bohnenfresser ihn etwa ausgeraubt? Aber warum hatten sie ihn dann nicht einfach liegenlassen und waren mit ihrer Beute abgezogen. In ihm keimte ein unschöner Verdacht …   Er fasste den Jungen an der Schulter und drehte ihn mit sanfter Gewalt in seine Richtung. Als dessen Kopf zu ihm herumrollte, gab Michael einen überraschten Laut von sich. Der junge Mann war außergewöhnlich gutaussehend. Ein schmales, beinahe edel wirkendes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem fein geformten Mund wurde umrandet von einem Kranz aus weißblonden, leicht gelockten Haaren, die ihm ein wenig unordentlich ins Gesicht hingen. Das Auffälligste waren jedoch seine Augen, die sich jetzt auf Michael richteten. Für einen Augenblick hatte der das Gefühl in einen kristallblauen Bergsee zu tauchen, dessen Kälte und Klarheit ihm schier den Atem raubten. Die Wirkung wurde jedoch ein wenig davon getrübt, dass in den den aquamarinblauen Iriden zwei dicke, schwarze Punkte schwammen. Die Pupillen waren derart erweitert, dass sie die blaue Farbe fast verschluckten und nur noch alle klaren Gedanken verschlingende Schwärze hinterließen. „Verdammt“, fluchte Michael. Er wusste, was das hieß. Die Schweine hatten dem Kleinen irgendwelche Drogen verpasst, sodass dieser nicht mehr Herr seiner Sinne war. Eine schmale Hand klammerte sich an sein Revers. „Aiutatemi“, flüsterte der Junge und seine Augen nahmen, so denn möglich, einen bittenden Ausdruck an. Michaels Gedanken überschlugen sich. Er konnte den Jungen sicherlich in ein Krankenhaus bringen, aber wenn es etwas gab, das in Las Vegas noch schlimmer war, als die korrupte und gewalttätige Polizei, dann war es die örtliche Gesundheitsversorgung. Neue Silikon-Titten, kein Problem. Mit einem echten Notfall hingegen schlug man sich vermutlich lieber zum nächsten Krankenhaus in 300 Meilen Entfernung durch, bevor man sich von einem der ortsansässigen Quacksalber behandeln ließ. Aber so viel Zeit hatte der Junge nicht. Bis dahin würde sein Körper schlapp machen. „Fuck!“, fluchte Michael und sah dem Jungen direkt ins Gesicht. „Du stehst unter Drogen. Verstehst du mich? Drogen.“ Er kramte in seinen rudimentären Italienisch-Kenntnissen. „Stupefacenti. Capice? Ich muss dich in ein Krankenhaus bringen. Du stirbst sonst.“ Der Junge sah ihn an und seine Lippen bewegten sich, als wolle er die Worte nachsprechen, die Michael gerade gesagt hatte. Einen Augenblick später schüttelte er den Kopf. „Nein, kein Krankenhaus. Ich brauche ...“ Sein Körper zuckte zusammen und aus seinem Mund kam ein derart tiefes Stöhnen, das es Michael durch Mark und Bein fuhr … und dann direkt zwischen seine Beine. Oh scheiße! Das durfte doch nicht wahr sein. Der Junge klammerte sich jetzt noch fester an ihn und sein stoßweiser Atem ließ plötzlich keinen Zweifel mehr an seinem Zustand. Sein Gesicht hatte sich inzwischen gerötet und in seine Augen war ein hungriger Ausdruck getreten. Ein Ausdruck, der Michael vollkommen auf dem falschen Fuß erwischte. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde, während der Junge immer näher kam. „Hilf mir“, flüsterte der noch einmal, bevor er seine Lippen auf Michaels presste.   Kapitel 2: Brennende Begierde ----------------------------- Eiskristalle an gefrosteten Fenstern. Ein Sonnenaufgang über dem Meer. Das Gefühl von Seide zwischen seinen Fingern. Der Geschmack von Akazienhonig. Der Geruch eines Sommermorgens. Das Rascheln von Federn und Glockengeläut. All das und mehr schoss durch Michaels Wahrnehmung, während die Lippen des Jungens auf seinen lagen und ihn scheu und doch so fordernd küssten. Die Eindrücke waren so überwältigend, dass Michael den Kuss im nächsten Moment unterbrach und überrascht nach Luft schnappte. Was zum Teufel ...? Die Augen des Jungen öffneten sich und der Ausdruck darin drückte Michaels Herz zusammen. „Hilf mir“, wiederholte er nun schon zum dritten Mal. „Es brennt. Es brennt in mir. Die Flammen, sie werden mich verzehren. Die Hitze frisst mich auf.“ Seine Finger begannen, fahrig über seinen Körper zu gleiten. Er zerrte am Stoff seines T-Shirts, als würde es ihm körperliche Schmerzen bereiten. Michael konnte die unglaubliche Wärme fühlen, die der schmale Körper ausstrahlte. Sie mussten ihn dringend runterkühlen, damit er nicht schlappmachte. Sie mussten vor allem hier weg, bevor die Kerle es sich anders überlegten und zurückkamen. Vielleicht mit Verstärkung. Oder mit Waffen. Er machte Anstalten aufzustehen, als der Junge plötzlich Michaels Hand nahm und sie gegen seinen Schritt presste. „Hier“, wisperte er mit fiebrigen Blick. „Hier wütet das Feuer am meisten.“ Michael schluckte. Das, was er fühlte, war nicht eben dazu geeignet, seine Gedanken in eine keusche Richtung zu lenken. Vor allem nicht, da der Junge jetzt begann, sich gegen ihn zu drängen, während er kleine, bettelnde Laute von sich gab. Michael spürte, wie sein eigener Schwanz auf das feste Gefühl unter seinen Fingern reagierte. Himmel, er musste damit aufhören. Der Junge war ja nicht bei Sinnen. Mit einiger Anstrengung zog er seine Hand aus der Gefahrenzone, doch der Junge wollte ihn nicht loslassen. Er krallte seine Finger in Michaels Handrücken und wollte ihn wieder in die Richtung ziehen, von der er sich offenbar Erlösung versprach. „Bitte“, flüsterte er. „Es bringt mich sonst um.“ Michael wusste, dass er so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Jungen hätte bringen sollen. Die Bilder, die ihm jetzt durch den Kopf geisterten, waren definitiv nicht mehr jugendfrei und die Vision von seinem Schwanz zwischen den so einladend geöffneten Lippen überfiel ihn mit geradezu überwältigender Heftigkeit. Er will es doch, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Er will, dass du ihn nimmst. Ihn auf deinem Schwanz reiten lässt. Dass du ihn vögelst, bis er die Englein singen hört. Na los! Was ist denn dabei? Niemand wird es wissen, niemand erfahren. Ob du nun ihn oder einen anderen Jungen nimmst, es bleibt sich doch gleich. Und mit diesem hier könntest du so viel Spaß haben. Er wäre der Fick des Jahrzehnts. Ein echter Glückstreffer. Du musst nur zugreifen. Sieh nur, wie willig er sich dir anbietet. Na los, fick ihn endlich! Unfähig sich zu erheben, aber gleichzeitig angewidert von seiner eigenen Schwäche, zog Michael den Jungen in seine Arme, sodass er ihm den Rücken zudrehte. Er nahm dessen Hände und verschränkte sie vor seiner Brust. „Das sind nur die Drogen, die da aus dir sprechen“, erklärte er mit zittriger Stimme. „Sie … sie erregen dich. Das geht gleich wieder vorbei. Du musst nur noch ein bisschen durchhalten. In ein paar Minuten ist alles wieder vorbei.“ Der Junge stöhnte tief und kehlig und fing an, sich gegen Michaels Umklammerung zu wehren. Dass sein Hintern dabei an Michaels Schritt rieb, ließ dessen Begierde nur noch stärker aufflammen. Er war inzwischen vollkommen hart und die Bewegungen des Jungen brachten ihn beinahe um den Verstand. „Halt still!“, herrschte er ihn schärfer an, als er beabsichtigt hatte. Er hörte sich selbst keuchen, als der Junge in seinen Armen zuckte. „Du musst gleichmäßig atmen, dann wird es besser.“ „Aber es brennt“, wimmerte der Junge. Seine bloßen Füße scharrten über den Boden und hinterließen Spuren auf dem sandigen Untergrund. „Ich weiß“, flüsterte Michael in sein Ohr. Die blondgelockten Haare klebten inzwischen feucht an seinem Kopf und ließen Michael Salz auf seinen Lippen schmecken. „Ich weiß, aber du musst durchhalten. Es wird gleich besser werden. Gleich ist es vorbei. Komm, erzähl mir was von dir.“ Und lenk mich bitte, bitte davon ab, wie gut du dich anfühlen würdest, wenn ich mich bis zum Anschlag in dir versenken würde. „Wie heißt du? Woher kommst du?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich … ich weiß nicht. Das Feuer …“ „Ja, ich weiß, es brennt. Aber du schaffst das. Ich bin ja da, ich helfe dir. Mein Name ist übrigens Michael.“ „Michael.“ Als sein Name von den Lippen des Jungen perlte, hätte er sich beinahe vergessen. Verdammt, er wollte ihm jetzt und hier auf der Stelle die Kleider vom Leib reißen und ihn ficken. Scheißegal, ob er noch Jungfrau war oder gar nicht auf Kerle stand oder nur wegen irgendwelcher Drogen hechelte wie eine läufige Hündin. Das Einzige, was Michael wollte, war sein Schwanz in diesem süßen Arsch, der sich so wunderbar gegen ihn drückte und seine Sinne vernebelte. Er erhöhte den Druck auf den Brustkorb des Jungen und merkte gerade noch rechtzeitig, dass dieser jetzt nicht mehr nur vor unerfüllter Lust keuchte. Sofort lockerte er seinen Griff wieder etwas. „Tut mir leid, aber das hier ist für uns beide nicht einfach. Also sag schon, wie kann ich dich nennen?“ „Ich weißt nicht.“ So langsam begann die Wut in Michael hochzukochen. Da tat er hier gerade alles Menschenmögliche dafür, dieses in allen Tonlagen stöhnende, blonde Bengelchen nicht an Ort und Stelle zu nehmen, und alles, was der für ihn übrig hatte, war ein lausiges „Ich weiß nicht“? Da hörte sich doch wirklich alles auf. „Verdammt nochmal, jetzt reiß dich zusammen“, schnauzte er und drückte noch einmal zu. „Wir sitzen hier in irgendeinem dreckigen Hinterhof und so leid es mir tut, das ist definitiv nicht der Ort, an dem du oder ich Sex haben sollten. Weder miteinander noch sonst irgendwie. Also hör endlich auf, dich wie ein Aal zu winden, sonst kann ich nämlich für nichts mehr garantieren. Hast du mich verstanden?“ Der Junge erbebte in seinen Armen, aber er hörte auf, sich gegen ihn zu pressen. Stattdessen nickte er kaum merklich. „Also schön, hör mir zu. Ich lasse dich jetzt los und dann machen wir beide, dass wir hier wegkommen, bevor deine mexikanischen Freunde wieder auftauchen. Hast du das verstanden?“ Erneut antwortete ihm ein schwaches Nicken. Finger für Finger löste Michael seinen Griff. Er wollte ihn nicht gehen lassen. Nicht wirklich. Im Gegenteil wollte er ihm noch viel näher sein. Viel näher als gut oder schicklich war. Aber er wusste, dass das hier einfach nicht richtig war. Und dass es verdammte Probleme mit sich bringen würde, wenn sie nicht bald von hier wegkamen. Der Junge keuchte und zitterte immer noch. Was immer die Mexis ihm gegeben hatten, musste ziemlich stark sein. Soweit Michael wusste, hielten solche Drogen normalerweise nur ein paar Minuten an. Doch statt langsam abzuflauen, schien sich die Wirkung dieses Mittels mit jedem Augenblick noch zu potenzieren. Vielleicht hatten sie ihm auch verschiedene Sachen gegeben. Ein heimtückischer Cocktail. Ich muss ihn hier wegbringen. „Kannst du laufen?“, fragte er und erhob sich. Der Junge stöhnte und versuchte gehorsam, auf die Füße zu kommen. Als er nicht schnell genug machte, kam Michael ihm zu Hilfe und zog ihn hoch. Dabei musste er feststellen, dass der Bursche größer war, als er gedacht hatte. Schlank ja, kurz vor der Grenze zu dünn, aber so groß, dass er Michael locker bis zur Schulter reichte. Als er sich jedoch komplett aufrichten wollte, sank er mit einem Schmerzenslaut wieder zusammen. „Was ist?“, wollte Michael wissen und stützte ihn. „Ich … ich weiß nicht. Mein Fuß tut weh.“ Michael bückte sich und untersuchte ihn flüchtig. Er konnte äußerlich nicht viel erkennen, allenfalls eine leichte Schwellung am Gelenk. Vielleicht hatte er sich den Knöchel verstaucht. Damit zu laufen würde auf jeden Fall schmerzhaft werden. Und da war ja auch noch das Problem mit den fehlenden Schuhen. Weit würde der Junge damit nicht kommen. „Dann eben anders“, knurrte Michael. „Halt dich an meinem Hals fest.“ Er griff dem Jungen mit dem linken Arm unter die Achseln und legte dann den rechten in seine Kniekehlen. Im nächsten Moment hob er ihn hoch und spürte, wie sich der Griff um seinen Nacken verstärkte. Der Junge sah aus großen Augen zu ihm auf. „Bilde dir bloß nichts ein“, brummte Michael, während er das Gewicht noch einmal auf seinem Arm zurechtrückte. „Ich will hier nur möglichst schnell weg und du kannst nicht laufen. Also trage ich dich.“ „Ja, Michael“, antwortete der Junge und erneut lief ein Schauer über Michaels Rücken. Er spürte, wie sehr der Junge in seinen Armen glühte, sah das Fieber in seinem Blick. Im Gegensatz zu vorher, machte er jedoch keinen Versuch mehr, sich Michael zu nähern, sondern bettete lediglich seine heiße Wange an dessen Schulter. Michael schob mit dem Fuß das Hoftor auf, bevor er auf die Straße trat. Er wusste natürlich, dass es bessere Arten gab, einen Verletzten zu transportieren. Allerdings hätte das im Zustand des Jungen sicherlich zu höchst schmerzhaften Quetschungen geführt.   Draußen angekommen, sah Michael sich um. Die Straße lag immer noch verlassen da und so machte er sich ohne weitere Verzögerung auf den Weg in Richtung Strip. Wenn sie erst wieder unter Menschen waren, konnte er fast sicher sein, dass die Peiniger des Jungens sie nicht noch mal angriffen. Und dann … nun ja. Was dann? Wo sollte er mit ihm hin? Wir müssen zu einem Arzt. Was auch immer durch seine Adern kreist, wird früher oder später seinen Kreislauf lahmlegen. Wir müssen … Michaels Gedanken stockten, als auf der verheißungsvollen Kreuzung am Ende der Straße die Silhouette des drittschlimmsten Dings auftauchte, dass er sich vorstellen konnte. Den ersten belegte mit Abstand Godzilla, gefolgt von den fünf Mexis, die aber zum Glück tatsächlich das Weite gesucht zu haben schienen. Das hier war jedoch fast genauso schlimm und ebenso unausweichlich. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch beobachtete er, wie der Streifenwagen abbog und das Blaulicht einschaltete. Ein kurzer Sirenenton ließ ihn wissen, dass sie ihn ebenfalls entdeckt hatten. Jetzt gab es kein Zurück mehr. „Du hältst den Mund“, zischte er dem Jungen zu, der wie tot in seinen Armen lag. Einzig die Tatsache, dass sich sein Brustkorb in einem ungesund schnellen Takt hob und senkte und sein Körper drohte, ein Loch in Michaels Hemd zu brennen, ließ darauf schließen, dass noch Leben in ihm steckte. Das Polizeifahrzeug hielt in einiger Entfernung und auch Michael blieb stehen, um möglichst keine unschöne Reaktion zu provozieren. Wie er sich schon gedacht hatte, verließen beide Cops das Auto, der eine die Waffe im Anschlag. „Stehenbleiben“, rief der andere. „Heben Sie die Hände so, dass wir sie sehen können.“ „Ah, Officer. Gut, dass Sie kommen“, rief Michael. „Ich hatte ...“ „Ich sagte, Sie sollen die Hände heben.“ Der zweite Cop begann, genauer mit seiner Waffe zu zielen. Michaels Gedanken rasten. Wenn er sich jetzt bückte, um den Jungen abzulegen, würden sie das womöglich falsch verstehen. Also versuchte er, so deutlich wie möglich seine Handflächen in ihre Richtung zu strecken, ohne seine kostbare Fracht dabei fallen zu lassen. Als er das tat, senkte sich die Waffe um einige Millimeter. Michael atmete auf. Die Gefahr, eine Kugel abzubekommen, war allerdings nicht vollkommen gebannt. Zudem blieb das Problem, dass er hier einen völlig weggetretenen, bis zum Scheitel mit Drogen vollgepumpten Jungen in den Armen hatte, den er den Cops auf gar keinen Fall überlassen wollte. Das Einzige, was die mit ihm machen würden, war, ihn über Nacht in eine Zelle zu sperren zu echten Kriminellen. Was dann von ihm übrigblieb, konnte Michael sich an drei Fingern abzählen. Vermutlich hätte er sogar nur zwei gebraucht.   „Können Sie sich ausweisen?“ Michael lächelte entwaffnend. „Natürlich. Mein Führerschein ist in meiner Jacketttasche. Wenn Sie möchten, hole ich ihn heraus?“ Auf eine zustimmende Geste hin, versuchte Michael, seine innere Jacketttasche zu erreichen. Als es ihm gelang, hielt er die kleine Karte gut sichtbar nach oben. „Bitte sehr, Sir.“ Der Cop ohne Waffe kam auf ihn zu und leuchtete den Führerschein mit einer Taschenlampe an. Im schwachen Schein der Lichtquelle konnte Michael erkennen, dass er schon etwas älter war und einen Schnauzbart trug. Vielleicht einer der wenigen, ortsansässigen Cops, die nicht nur ihre Ausbildung hier absolvierten, bevor sie irgendwann in einer richtigen Stadt ihren Dienst antraten. Der Mann brummte etwas und sah dann auf den Jungen in Michaels Armen. „Und was ist mit ihm?“ Michael hob entschuldigend die Schultern. „Ich fürchte, sein Ausweis ist gestohlen worden. Zusammen mit seinem Geld und den Schuhen. Er ist irgendein Cousin zweiten Grades meiner Frau. Ich wollte ihm ein bisschen Vegas zeigen, aber kaum hatte ich mich umgedreht, war er verschwunden. Als ich ihn endlich hier wiederfand, war er vollkommen betrunken und hatte nicht mehr als Hose und T-Shirt am Leib. Meine Frau wird mich umbringen, wenn sie das erfährt. Die nächsten drei Monate verbringe ich wohl auf der Couch.“ Michael versuchte ein Lachen. Der Cop machte ein verstehendes Geräusch. Seinem Alter und seiner Statur nach vermutete Michael, dass er entweder ebenfalls verheiratet oder zumindest geschieden war. Auf jeden Fall standen die Chancen gut, dass er etwas von nörgelnden Ehefrauen verstand, die nicht müde wurden, einem einen Fehler noch Wochen, Monate oder gar Jahre später unter die Nase zu reiben. Einfach weil sie es aufgrund der kleinen, goldenen Fessel am Finger konnten. „Heißt das, Sie wollen Anzeige erstatten?“ Die Frage war nicht besonders freundlich und Michael schaltete schnell. „Nein, natürlich nicht. Es war ja unsere eigene Dummheit. Kein Grund, Sie mit Papierkram zu belästigen, Officer. Die Sachen sehen wir eh nicht wieder. Ich schaffe das Bürschchen einfach ins Hotel zurück und lasse ihn seinen Rausch ausschlafen. Ob Sie uns wohl hinbringen könnten? Oder ein Taxi rufen?“ Flucht nach vorne. Niemand, der etwas ausgefressen hatte, würde sich freiwillig in einen Streifenwagen setzen. Mit Chance hatten die beiden Cops da ebenso wenig Lust drauf wie er. Leider hatte er seine Rechnung ohne den jüngeren der beiden gemacht. „Wir sollten seine Daten aufnehmen und ihn dann im Hotel abliefern. Ich will wissen, ob er da wirklich ein Zimmer hat.“ Geh doch und grab dir irgendwo ein Loch. „Aber natürlich, Sir, ich gebe Ihnen gerne die Adresse. Man wird Ihnen die Reservierung sicher bestätigen können.“ Immer schön weiterschleimen und freundlich sein, aber nicht übertreiben. Er blieb stehen, als der junge Polizist zu ihm herüberkam. Michael bemühte sich um ein harmlos wirkendes Lächeln. Schließlich war er nur ein argloser Tourist, nicht wahr? „Ich bringe den da schon mal zum Wagen“, verkündete der Cop und wollte nach dem Jungen greifen. Geistesgegenwärtig bohrte Michael seine Finger in dessen Seite, sodass er ein Stöhnen von sich gab. „Ich weiß nicht, Officer. Ich möchte nicht, dass er sich auf Ihnen übergibt. Ihm scheint ziemlich schlecht zu sein.“ Der Cop wich ein Stück zurück und verzog das Gesicht. So wirklich überzeugt schien er allerdings nicht. Michael biss die Zähne zusammen und lächelte weiter. Ausgerechnet heute musste er so einen übermotivierten Akademie-Abgänger erwischen, der vermutlich mit dem Polizei-Handbuch unter dem Kissen schlief. Wahrscheinlich war das seine erste Woche hier. „Wie heißt er eigentlich?“, fragte der junge Cop aus dem Blauen heraus. Michael sah ihn dümmlich an und dieses Mal war der Gesichtsausdruck nicht gespielt. „Er, äh … sein Name ist ...“ Er sah auf den blonden Jungen herab. Was hatte der Bohnenfresser gesagt? Viel Spaß mit dem Ángel. Das passte doch eigentlich. „Angelo. Sein Name ist Angelo. Er stammt aus Italien. Meine Frau Gabriella ist gebürtige Italienerin, müssen Sie wissen.“ Der junge Cop musterte ihn noch kurz misstrauisch, bevor er zum Wagen zurückging. Er setzte sich hinein und hielt sich das Funkgerät an den Mund. Michael wartete leicht nervös. „Angelo“ hatte wieder angefangen, sich zu bewegen. Seine Augenlider flatterten und vermutlich würde er gleich aufwachen. Wenn die Cops bemerkten, was wirklich mit ihm los war, würden sie mit Sicherheit beide in die Arrestzelle wandern. „Also schön, ich habe alles“, verkündete der ältere Cop in diesem Moment und reichte Michael seine Papiere zurück. Er ruckte mit dem Kopf Richtung Wagen. „Dann mal rein mit Ihnen. Wir bringen Sie zu Ihrem Hotel.“ Michael bugsierte den Jungen und sich auf den Rücksitz des vergitterten Streifenwagens und nahm mit einem dankbaren Lächeln die Tüte entgegen, die ihm der junge Cop wortlos reichte. Ohne zu zögern, hielt er sie Angelo vor das Gesicht und hob einen Daumen. „Vielen Dank, Sir. Das ist wirklich nett von Ihnen. Ich wüsste nicht, was wir ohne Sie gemacht hätten.“ Michael erhielt keine Antwort. Als die Autotüren zuschlugen und der ältere Cop den Wagen startete, sank er ein wenig auf dem Sitz zusammen. Diese Schauspielerei zerrte stärker an seinen Nerven, als er angenommen hatte. Angelo bewegte sich an seiner Seite. Heiße, schmale Finger glitten über seinen Brustkorb. „Michael?“, fragte er mit schwacher Stimme. „Ja, ich bin da. Keine Angst, du bist in Sicherheit.“ Er strich ein wenig die verschwitzten Haare zurück und drückte den Jungen wieder an sich. Vor dem Fenster glitten die Häuser und die leuchtenden Fassaden der Casinos und großen Hotels vorbei. Sie tauchten das Innere des Wagens in wechselnde, bunte Lichter und für einen Augenblick erlaubte Michael sich, Hoffnung zu schöpfen. Vielleicht würden sie ja tatsächlich unbeschadet aus all dem hier herauskommen.   Als der Streifenwagen vor dem Hotel hielt, musste Michael abwarten, bis der ältere Cop ihm die Tür geöffnet hatte. Er stieg aus und griff gleich darauf nach dem Jungen, um ihn wieder auf seinen Arm zu laden. Als er stand, zauberte er ein dankbares Lächeln auf sein Gesicht. „Das war wirklich sehr nett von Ihnen, Officers. Es ist gut zu wissen, dass Leute wie Sie hier Ihren Dienst versehen. Das zeigt einem doch, dass in diesem Land noch nicht alles verloren ist.“ Genau die richtige Prise Patriotismus, die man bei so einem alten Haudegen noch oben drüber streuen musste, um ihn einzulullen. Der ältere Cop nickte nur. „Passen Sie in Zukunft lieber besser auf. Las Vegas ist kein ungefährliches Pflaster.“ „Ich werde es mir merken, Sir.“ Der junge Cop hatte wieder sein Pokerface aufgesetzt. Offenbar schmeckte ihm die ganze Sache immer noch nicht. Er warf noch einen Blick auf den Jungen in Michaels Armen und rief plötzlich laut: „Hey, Angelo!“ Der Junge schreckte hoch und sah den Mann aus großen Augen an. „Sì? Che c'è?“ Erst, als der junge Cop sich ohne ein weiteres Wort abwandte, wurde Michael klar, dass er ihm die ganze Zeit nicht geglaubt hatte. Zum Glück hatte der Junge genau so reagiert, wie es nach Michaels Geschichte zu erwarten gewesen war. Er dankte welcher Gottheit auch immer dafür. Die Lichter des Polizeiautos blinkten auf, bevor es sich ohne große Rücksichtnahme wieder in den Verkehr eingliederte. Als der Wagen in der Ferne verschwand, erlaubte Michael sich erleichtert auszuatmen. „Das war verdammt knapp“, sagte er zu dem Jungen, der mit geröteten Wangen und glänzenden Augen zu ihm aufblickte. Es war unübersehbar, dass die Wirkung der Drogen noch nicht abgeklungen war. Vielleicht … vielleicht war es doch am besten, wenn er ihn erst mal ins Hotelzimmer brachte. Die Leute begannen schon, sich nach ihnen umzudrehen, und so nahm Michael kurzerhand Kurs auf die Hotelhalle.   Er hatte, entgegen der Warnungen, die überall im Hotel aushingen, seine Schlüsselkarte mitgenommen, um sich bei seiner Rückkehr nicht noch mit dem Portier rumschlagen zu müssen. Natürlich hatte er dabei eigentlich gedacht, dass die Art seiner Begleitung anderer Natur sein würde. Wobei … vielleicht nicht vollkommen anderer Natur. Eigentlich war der Junge sogar genau das, was er vorgehabt hatte, heute Nacht hier mit herzubringen. Der Gedanke ließ ihn unruhig werden. Während Michael dem Portier nur kurz zunickte, der ihn verwundert beobachtete, als er mit seiner Fracht durch das Foyer stapfte, und anschließend auf den Aufzug wartete, wurde ihm erst wirklich bewusst, wie sehr er sich gerade selbst in Bedrängnis brachte. Er wusste, was mit dem Jungen los war. Und er konnte nicht leugnen, dass er ihn ausgesprochen attraktiv fand. Das war eine absolut explosive Mischung, die eigentlich nur zu einem Ergebnis führen konnte. Einem Ergebnis, das Michael nicht gefiel. Du wirst die Finger von ihm lassen, schwor er sich selbst, während die Nummernanzeige des Aufzugs langsam nach oben kletterte. Es wäre nicht richtig, es auszunutzen. Es liegt nur an den Drogen, dass er dich so ansieht, als könne er es gar nicht abwarten, von dir durch die Laken gezogen zu werden. Reiß dich zusammen!   Vor dem Zimmer angekommen, ließ er Angelo ein wenig widerwillig runter, um die Schlüsselkarte aus der Hosentasche ziehen zu können. Eigentlich hätte er ihn auch ganz loslassen können, aber aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht entschließen, den Arm, den er um ihn gelegt hatte, endgültig zurückzuziehen. Er wusste, dass er das Unvermeidliche nur hinauszögerte. Aber statt Angelo einfach selbst ins Zimmer gehen zu lassen, hob er ihn wieder auf seinen Arm und trug ihn über die Schwelle. Das Zimmer war angenehm kühl. Die Klimaanlage irgendwo an der Außenseite arbeitete vermutlich auf Hochtouren. Umso stärker wurde Michael bewusst, wie warm der Körper des Jungen war. Wo er ihn überall berührte und wie sehr er sich wünschte, diese Berührung zu intensivieren. Es würde sich so gut anfühlen ... „Wir ...“ begann er und merkte selbst, dass seine Stimme bemitleidenswert dünn war. Er räusperte sich. „Wir sollten erst mal versuchen, dich abzukühlen. Ich werde … ich werde am besten feuchte Handtücher holen.“ Er legte Angelo auf das Bett und wandte sich abrupt ab, um ins nebenan gelegene Badezimmer zu stürzen und sich dort zunächst einmal kaltes Wasser ins Gesicht zu schütten, bevor er eines der weißen Handtücher damit tränkte und wieder ins Zimmer zurückging. Angelo lag noch genauso da, wie er ihn verlassen hatte. Michael trat neben das Bett. Seine Finger bohrten sich nervös in den feuchten Frotteestoff. „Du … ähm … du solltest dir vielleicht die Hose ausziehen. Ich … Wadenwickel. Die helfen bei Fieber.“ Angelo bewegte sich nicht, sondern blickte lediglich zu ihm auf. Michael biss sich auf die Innenseite der Wange. Er konnte doch jetzt nicht … „Hilfst du mir?“, fragte Angelo plötzlich und sein Ton war sanft. Bittend. Michael schluckte. Ohne es wirklich zu wollen, sank er zu Boden und streckte seine Hände nach dem Hosenbund des Jungen aus. Angelo beobachtete ihn genau und in seinen Augen loderte ein nur mühsam unterdrücktes, blaues Feuer. Als Michael ihn am Bauch berührte, atmete der Junge hörbar ein. Michael zögerte kurz. Er wusste, was ihn erwarten würde, und konnte nicht verhindern, dass sich seine Atmung etwas beschleunigte. Vorsichtig öffnete er den obersten Knopf und zog Stück für Stück den Reißverschluss nach unten. Als er damit fertig war, seufzte Angelo leise. Die Hose, die er anhatte, war wirklich verboten eng. Mit zittrigen Fingern griff Michael danach und begann, das störrische Teil langsam nach unten zu ziehen. Angelo half ihm, indem er das Becken leicht anhob. Michael bemühte sich wirklich, nicht hinzusehen, als er den Bund schließlich losließ, und stattdessen am Fußende der Jeans zu ziehen begann, um sie irgendwie von Angelos unendlich langen Beinen zu bekommen. Als er es geschafft hatte, ließ er das Kleidungsstück zu Boden gleiten und griff nach dem Handtuch. Ohne seinen Blick zu erheben, griff er nach Angelos Unterschenkel, stellte das Bein leicht auf und wickelte den feuchten Stoff darum. „Ich … ich werde noch ein zweites Handtuch holen. Für dein anderes Bein.“ Als er sich erheben wollte, legte sich eine Hand auf seinen Arm. „Michael?“ Er atmete tief durch und sah Angelo ins Gesicht. Als sein Blick die leicht geöffneten Lippen streifte, musste er an den Kuss denken. Den Kuss, der so verheißungsvoll geschmeckt hatte. Er schluckte. „Ich … ich sollte wirklich noch ein Handtuch …“ „Wird es das Feuer löschen?“, fragte Angelo und auf seinen Zügen lag keinerlei Argwohn. „Nun …“ Michael musste erneut schlucken, als sein Blick kurz zwischen Angelos Beine wanderte. Das, was sich da unter dem Stoff der hellgrauen Shorts abzeichnete, war wirklich unglaublich verlockend. „Vermutlich nicht. Dafür solltest du vielleicht ...“ „Ja?“ Michael räusperte sich. Meine Güte, er verhielt sich wie ein verklemmter Teenager. „Du solltest vielleicht … Also vielleicht solltest du einfach mal im Bad verschwinden und dir … du weißt schon.“ Oh ja, sehr erwachsen. „Ich glaube, ich verstehe nicht. Was soll ich tun?“ Michael glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Wollte der Junge ihn jetzt veralbern? Er war mit Sicherheit kein Kind mehr. Wenn Michael hätte raten sollen, hätte er ihn mindestens auf 18 oder 19 geschätzt. Bei seiner Größe vielleicht sogar älter. Es war unmöglich, dass er nicht wusste, wovon Michael sprach. Es sei denn … „Du bist nicht zufällig einer von diesen religiösen Spinnern, die auf Erlösung durch Beten und Arbeiten hoffen und bei denen Sex das Werkzeug des Teufels ist, oder? Du hast dich doch bestimmt schon mal selber angefasst. Wenigstens heimlich unter der Bettdecke.“ Angelo sah ihn an, als wisse er wirklich nicht, worum es ging. Stattdessen begann sich seine Atmung zu beschleunigen und Michael konnte sehen, wie die Röte wieder verstärkt in sein Gesicht stieg. Die Drogen hatten einen neuen Schub ausgelöst. Der Junge gab ein kleines, unterdrücktes Stöhnen von sich und seine Finger krallten sich in den Stoff des Bettüberwurfs. Michael kniff kurz die Augen zusammen. Er hörte die Laute, die Angelo von sich gab. Sie prallten einem steinernen Rammbock gleich gegen die Festung seiner guten Vorsätze und brachten sie gehörig ins Wanken. Wahrscheinlich war es wirklich das Beste, wenn er den Jungen eine Runde ins Bad schickte, damit der sich abreagierte, bevor auch Michael seine Triebe mit etwas Handarbeit unter Kontrolle brachte. Auf eine andere Gelegenheit dazu brauchte er heute Nacht ohnehin nicht mehr zu hoffen. „Na los“, sagte er, ohne Angelo nochmal anzusehen. „Du machst das am besten in der Dusche. Da kannst du dich gleich waschen und ein bisschen abkühlen.   Er stand auf und drehte sich um im Vertrauen darauf, dass Angelo das kurze Stück bis zum Bad schon würde allein zurücklegen können. Er stellte das Wasser an und versuchte, es auf eine angenehme Temperatur einzuregeln. Als er eine Bewegung hinter sich bemerkte, drehte er sich herum und stand so direkt vor Angelo. Der Junge trug immer noch das weiße T-Shirt und die engen Shorts. „Du … du solltest das ausziehen, damit es nicht nass wird“, sagte Michael mit belegter Stimme. Angelo machte Anstalten, zuerst die Shorts abzustreifen, aber als er versuchte, auf dem verletzten Knöchel zu stehen, wäre er beinahe umgekippt. Also warf Michael seine Bedenken über Bord und half ihm, die Unterwäsche abzustreifen. Als er sich wieder aufrichtete, bemühte er sich, nicht zu starren. Er tat es trotzdem. Angelos Erektion stand fast senkrecht in die Höhe und Michael kam nicht umhin zu bemerken, dass sie perfekt zu ihm passte. Lang, schlank, fast schon elegant. Nicht beschnitten. Wie er sich wohl anfühlen mochte? Mit einiger Anstrengung riss Michael seinen Blick los und lächelte. „Nur noch das Shirt, dann kannst du duschen.“ Er konnte nicht widerstehen, nach dem Saum des weißen Kleidungsstücks zu greifen und dabei ganz kurz über Angelos nackte Haut zu streichen. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen spürte er, wie der unter der flüchtigen Berührung erschauerte. Michael beeilte sich, um das Shirt endlich über Angelos Kopf zu streifen und erstarrte im nächsten Moment. „Was zum … Wie ist das denn passiert?“ Auf Angelos Oberkörper befanden sich drei lange, weiße Narben, die sich fast über den gesamten Brustkorb zogen. Sie mussten schon ziemlich alt sein, trotzdem zog sich Michaels Magen bei dem Gedanken, was diese Verletzungen verursacht haben mochte, zusammen. Es sah aus, als wäre der Junge unter eine wildgewordene Erntemaschine gekommen und von ihr fast in Stücke gerissen worden. Ohne sein Zutun näherten sich seine Fingerspitzen den entstellenden Malen. Erst, als er sie fast berührte, gelang es ihm, die Bewegung zu stoppen. Er spürte, wie sein Gesicht warm wurde. „Das … tut mir leid, das geht mich nichts an. Du kannst jetzt duschen und … na du weißt schon.“ Angelos Blick wurde fragend. Er sagte jedoch nichts, sondern sah Michael nur an. „Meine Güte“, platzte der heraus. „Ich meine, dass du dir einen runterholen sollst. Du weißt schon. Dir einen von der Palme wedeln, die einäugige Schlange beschwören, den Tiger zähmen, masturbieren. Irgendwas davon musst du doch schon mal gehört haben.“ Angelo schüttelte nur stumm den Kopf. Er öffnete den Mund und fragte leise: „Hilfst du mir?“   Michael fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Fuck, das war so verrückt. Entweder dieser Junge war das ausgekochteste Schlitzohr, dass er je getroffen hatte, oder er hatte wirklich keinen Schimmer, wovon Michael sprach. Und im zweiten Fall war es wirklich, wirklich verkehrt, wenn Michael auf seine Bitte einging. Aber er wollte es. Er wollte es wirklich. Er wollte diesen jungen Körper anfassen, ihn berühren, streicheln, ihm einfach nahe sein. Er wollte wissen, wie es war. Wie es sich anfühlte, ihn ganz zu besitzen. Aber gleichzeitig wusste er auch, dass es falsch war. Angelo war … zu jung. Er sollte mit jemandem in seinem Alter die ersten Erfahrungen machen und nicht mit einem alten Knacker, der sich nur an seinem Körper aufgeilte und ihm ansonsten keinerlei Gefühle entgegenbrachte. Andererseits … Ich war damals auch nicht anders. Als ich noch ein Teenager war, wäre es mir egal gewesen, wer meinen Schwanz angefasst hätte. Es hätte die alte Kassiererin aus dem Supermarkt sein können, ich hätte es geil gefunden. Aber es war nicht die Kassiererin gewesen, die ihn zum ersten Mal dort berührt hatte. Es war Jeff gewesen. Quarterback und Teamcaptain der Schulmannschaft, heimlicher Schwarm aller Mädels der Senior Class und sein bester Freund. Das Rauschen der Dusche des Hotelzimmers trat langsam in den Hintergrund und machte dem Rauschen einer ganz anderen Dusche Platz. Dem Rauschen der Dusche in den Umkleidekabinen der Cottonlake Highschool nach diesem einen, richtig miesen Trainingsspiel. Der Regen war den ganzen Tag in Strömen vom Himmel gefallen und hatte das Spielfeld in ein knietiefes Schlammloch verwandelt. Immer und immer wieder hatten sie die Spielzüge durchprobieren müssen, bis der Trainer sie endlich entlassen hatte. Alle bis auf Jeff, der sich noch eine Gardinenpredigt hatte abholen müssen, bevor er endlich zum Umziehen geschickt worden war. Michael hatte auf ihn gewartet.   Ich weiß noch, wie er ausgesehen hat. Von oben bis unten mit Schlamm bespritzt. Ich hatte mich gerade aus meiner Uniform geschält und wollte duschen gehen, als er reinkam. Er musterte mich mit meinem knappen Handtuch um die Hüfte. „Sexy“, attestierte er und ich zeigte ihm den Mittelfinger, bevor ich mich unter das warme Wasser stellte. Kurz darauf erschien Jeff neben mir. Ich hörte, wie er das Wasser anstellte. Als ich die Augen öffnete, sah ich aus den Augenwinkeln sofort den riesigen, blauen Fleck, der auf seinem Hintern prangte. „Ey, Alter, was hast du denn gemacht? Der ist ja größer als meine Faust.“ Zum Beweis legte ich meine Hand auf seinen nassen Hintern. Er zuckte zusammen und grinste mich an. „Wenn du mich anschwulen willst, musst du aber nach meinem Schwanz greifen.“ Ich grinste zurück. „Das hättest du wohl gerne.“ „Vielleicht? Aber du traust dich ja eh nicht.“ „Wollen wir wetten?“ Er drehte sich halb zu mir herum und ich … ich griff zu. Ich legte meine Hand um seinen Schwanz und sah ihn herausfordernd an. „Okay, das hätte ich jetzt nicht gedacht“, sagte er. Dabei blickte er mir direkt in die Augen. Ich war vollkommen gebannt. Unfähig, meine Hand wegzunehmen, begann ich, sie langsam zu bewegen. Er sagte nichts dazu, aber ich merkte deutlich, wie sehr es ihm gefiel. Sein Schwanz wurde hart, während ich einfach nicht aufhören konnte, ihn zu wichsen. Es war wie ein Zwang. Und plötzlich lag seine Hand auch auf meinem Schwanz und er fing ebenfalls an, mir einen runterzuholen. Wir sahen uns die ganze Zeit nur an und ich merkte kaum, wie sich Jeffs Höhepunkt ankündigte, bis sein Schwanz plötzlich zuckte und er mir seine Ladung gegens Bein feuerte. Ich war so überwältigt von dem Gefühl, ihn gerade zum Abspritzen gebracht zu haben, dass ich ebenfalls kam. Als wir fertig waren, sah er an sich herab. „Das nächste Mal zielst du mit deiner Wichse aber woanders hin“, sagte er nur und begann, sich die Spuren abzuwaschen. Ich schluckte und fragte: „Beim nächsten Mal?“ Er grinste nur und ich wusste plötzlich mit Sicherheit, dass es ein nächstes Mal geben würde. Dieses gegenseitige Wichsen wurde unser Ding. Wir haben es nie bei ihm oder mir zu Hause gemacht. Immer nur in der Umkleide beim Sport, wenn alle schon weg waren. Nach einem guten Spiel, nach einem Scheißspiel. Als seine Mutter mit einem anderen Kerl durchgebrannt war. Als mein Hund an Altersschwäche starb. Irgendwie fanden wir uns wieder unter den heißen Wasserstrahlen wieder und rieben uns gegenseitig die Schwänze. Danach gingen wir nach Hause, als wäre nichts passiert. Es grenzt an ein Wunder, dass uns nie jemand erwischt hat. Irgendwann hörte es auf. Erst hatte Jeff eine Freundin, dann ich. Wir brauchten keinen Kerl mehr, damit jemand uns anfasste. Das erledigten unsere Freundinnen für uns. Mädchen, mit denen wir uns in der Öffentlichkeit sehen lassen konnten und mit denen es nicht den Beigeschmack des Verbotenen hatte. Wir haben uns nie geküsst, Jeff und ich. Wir haben uns immer nur gegenseitig einen runtergeholt in der Dusche beim Sport.   Michael öffnete die Augen wieder und sah vor sich diesen Jungen, der nicht Jeff war. Beileibe nicht. Jeff war groß gewesen, dunkelhaarig, mit lustigen, braunen Augen und einem Lächeln, das die Frauen reihenweise in Entzücken versetzte. Angelo hingegen war kühl, fast schon entrückt mit diesen verdammten blauen Bergseen in seinem Gesicht, in denen Michael jetzt zu ertrinken drohte. Die Sehnsucht darin war nahezu körperlich spürbar. Angelo wollte es. Er wollte ihn. Aus Gründen, die Michael nicht verstehen konnte. Er atmete leise aus. „Geh … geh schon mal rein. Ich komme gleich.“ Angelo nickte und trat an ihm vorbei. Es spritzte, als die Wasserstrahlen seinen Körper trafen. Michael spürte die feinen Tropfen, die sein Gesicht besprühten und seine Kleidung durchnässten. Dennoch konnte er den Blick nicht abwenden von dem schlanken Körper, der jetzt unter dem Strahl der billigen Hoteldusche stand, als wäre es ein Wasserfall auf einer tropischen Insel. Der das Gesicht erhob und genießerisch die Augen schloss. Unzählige Wassertropfen rannen seinen Rücken hinab und luden Michaels Finger ein, ein jedem von ihnen zu folgen. Jeden Quadratzentimeter Haut unter den Kuppen zu spüren und zu liebkosen. Aber soweit würde er es nicht kommen lassen. Michael hatte einen Plan und an den würde er sich halten. Er zog sich Stück für Stück aus – nicht zu schnell – sodass er sich mit jedem Teil, das zu Boden fiel, noch einmal daran erinnern konnte, was er sich vorgenommen hatte. Er würde dem Jungen nur zeigen, wie es ging. Er würde ihn nicht anfassen, ihn nicht küssen oder sonst irgendwie bedrängen. Er würde ihm nur zeigen, wie er sich anfassen musste, um den Druck loszuwerden. Mit diesem Vorsatz im Hinterkopf trat Michael in die Dusche. Es war warm hier drinnen, als er die Tür der Kabine schloss. Sie war nicht besonders groß und so standen er und Angelo dicht beieinander. Erwartungsvoll sah der Junge ihn an. „Hier“, sagte Michael und gab eine gute Portion aus dem in der Wand integrierten Seifenspender auf seine Hand. Das Zeug roch nicht besonders, aber es würde für ihre Zwecke ausreichen. „Du brauchst das und dann … na ja, dann nimmst du deinen kleinen Freund in die Hand und fängst an zu reiben. So.“ Er demonstrierte, was er meinte und konnte gerade noch ein Aufstöhnen verhindern. Sein Schwanz freute sich über die Aufmerksamkeit, die ihm endlich zuteil wurde, und stand binnen Sekunden ebenso bereit wie der des Jungen. Dessen Augen klebten an Michaels Hand. „Los“, sagte er. „Seife nehmen und anfangen.“ Angelos Blick löste sich von Michaels Schritt und glitt zu seinem Gesicht. Zögernd streckte er die Hand nach dem Spender aus. Es schien fast, als habe er Angst, etwas falsch zu machen. Michael schenkte ihm ein Lächeln. „Komm, es ist ganz einfach.“ Er nahm Angelos Hand, drückte ihm ein wenig Seife darauf und führte sie dann zwischen seine Beine. Vorsichtig legte er die Finger des Jungen um dessen Erektion und fing an, seine Hand zu bewegen. Angelo atmete ein und ein Ausdruck des Erstaunens trat auf seine feinen Züge. Er sah Michael mit großen Augen und geöffnete Mund an. Michaels Lächeln wurde breiter. „Fühl sich gut an oder?“, raunte er. Der Drang, Angelo einfach in die Arme zu schließen, wurde immer größer. Er wusste, dass er seine Hand zurückziehen musste. Den Jungen seinen eigenen Rhythmus finden lassen. Das hatte bisher noch jeder Mann geschafft, der mehr als zwei Gehirnzellen hatte. Trotzdem konnte Michael sich nicht trennen. Langsam bewegte er die Finger des Jungen weiter, während er ihm tief in die Augen sah. „Du kannst es schneller machen oder langsamer. Mit mehr Druck oder weniger. Manche stehen auch drauf, wenn man mit dem Daumen über die Spitze reibt oder ein bisschen zudrückt. Andere fassen sich dabei noch an die Eier oder reiben nur die Spitze zwischen den Fingern. Es ist ganz dir überlassen, wie du das Spiel spielst.“ Angelos Atem wurde langsam schneller, er schloss die Augen und dann … dann ließ er plötzlich los. Im nächsten Moment fühlte Michael, wie sich schlanke Finger um seine legten und sich der pulsierende Schaft des Jungen gegen seine Handfläche drückte. Große, von Lust verschleierte, blaue Augen öffneten sich wieder und sahen ihn an.   Michael konnte förmlich hören, wie die Festung in seinem Inneren zusammenbrach. Palisaden und Holzsplitter flogen durch die Gegend, Mauern stürzten ein und der Burgfried begrub die letzten Verteidiger von Sitte und Anstand unter sich. Michael wagte kaum zu atmen. „Bist du dir sicher?“, flüsterte er fast unhörbar. Angelo nickte. Michaels Herzschlag hämmerte gegen seinen Brustkorb. Er war erregt, aber es war mehr als das. Er hatte das Gefühl, gerade etwas sehr Kostbares erhalten zu haben. Etwas, dass er im Grunde genommen nicht verdiente. Etwas, das kein Mensch besitzen sollte und schon gar nicht so jemand wie er. Und doch stand dieser Junge jetzt vor ihm und vertraute ihm sich vollkommen an. Michael betrachtete das junge Gesicht. Auf Angelos Wimpern glitzerten Wassertropfen und die blonden Haare lagen inzwischen nass und dunkler an seinem Kopf. Seine Lippen waren leicht geöffnet und glänzten feucht. Michael hätte sie gerne noch einmal geküsst. Stattdessen lehnte er sich an die kühle, gekachelte Wand der Dusche, drehte Angelo herum und zog ihn an sich. Die festen, wohlgeformten Backen des Jungen schmiegten sich an seinen Schwanz und Michael versuchte die Bilder zu ignorieren, die dabei durch seinen Geist zuckten. Hier ging es gerade nicht um ihn. Sein Fokus lag vollkommen darauf, sich um Angelo zu kümmern. Er legte einen Arm um ihn, während seine zweite Hand über den vernarbten Oberkörper, und den bebenden, flachen Bauch nach unten wanderten. Als er die Erektion des Jungen umfasste, hörte er, wie Angelo scharf einatmete, nur um gleich darauf leise zu stöhnen, als Michael begann, die Hand zu bewegen. Das Geräusch jagte eine Gänsehaut über Michaels gesamten Körper. Er spürte die wachsende Erregung des Jungen, als wäre es seine eigene. Das Gefühl von nackter Haut auf nackter Haut, das rhythmische Pumpen, das glühende Impulse durch seine Lenden sandte, der Drang, dieser feuchten Umklammerung mehr und mehr entgegenzukommen, um noch mehr, noch stärkere Reibung zu erhalten, das Bedürfnis endlich erlöst zu werden, fest verwoben mit dem Wunsch, dass dieser Zustand ewig dauern möge. Aber Michael wusste, dass das jetzt nicht der Zeitpunkt war, um noch langes Edging zu betreiben. Angelo war bereits so lange hart, dass es einer Folter gleichgekommen wäre, ihn noch länger hinzuhalten. Also erhöhte er das Tempo und trieb den Jungen immer weiter und weiter, bis der plötzlich den Kopf zurückwarf und sich mit einem erstickten Schrei gegen ihn presste. Der Schwanz in Michaels Hand zuckte und zuckte, als der Orgasmus den schmalen Körper überrollte. Ein Keuchen, das von Michael selbst zu kommen schien, hallte von den Wänden der Dusche wieder und mischte sich in Angelos helles Stöhnen und das Rauschen des Wasser, das auf sie niederprasselte. Es schien ewig zu dauern.   Nachdem er ihm auch noch den letzten Tropfen abgerungen hatte, nahm Michael seine Hand aus Angelos Schritt, drehte ihn wieder zu sich herum und schloss ihn in seine Arme. Er fühlte den trommelnden Herzschlag des Jungen gegen seine Brust hämmern und hörte ein Geräusch, das irgendwo zwischen einem Lachen und einem Schluchzen lag. Roh und rau, innerlich und äußerlich wund gerieben drückte Angelo sich an Michaels Brust und der wartete geduldig ab, bis die Emotionen des Jungen wieder so weit abgekühlt waren, dass er alleine stehen konnte. Als es so weit war, rückte er Angelo ein Stück weit von sich ab und sah ihm ins Gesicht. „Na, besser?“, fragte er mit einem vorsichtigen Lächeln. Angelo nickte nur. Seine Wangen waren immer noch gerötet, aber der rasende Hunger aus seinem Blick war verschwunden. Er sah ein bisschen fertig und gleichzeitig glücklich aus. „Gut.“ Michael wies mit dem Kopf in Richtung Schlafzimmer. „Willst du dann schon mal ins Bett gehen? Ich komme gleich nach.“ Angelos Blick flackerte kurz, bevor seine Augen an Michaels Körper nach unten wanderten. Er biss sich leicht auf die Lippen. „Und du?“, fragte er leise. „Ich komm ...“ Schon klar, wollte Michael noch sagen, als sich bereits schlanke Finger um seine pulsierende Härte legten. Er konnte ein Aufkeuchen nicht verhindern. „Angelo, du musst nicht...“ Zu spät fiel ihm auf, dass er den Jungen gar nicht gefragt hatte, ob er mit dem Namen überhaupt einverstanden war. Doch anscheinend hatte der gerade andere Sorgen. Seine Hand bewegte sich zögernd und forschend über Michaels Erektion und trotz der Kunstlosigkeit der Berührung schoss das Blut in Michaels Lenden. Er stöhnte leise. „Bitte, du musst das nicht tun.“ „Ich möchte aber“, flüsterte Angelo. „Du hast mich angefasst und ich möchte dich berühren. Bitte, Michael. Hilf mir, dass es gut wird.“ Er nahm Michaels Hand und legte sie über seine Finger. Michael spürte, wie er sanft zudrückte. Er wollte das. Er wollte Michael befriedigen, so wie dieser es bei ihm getan hatte. Konnte das falsch sein? Durfte er das genießen? Vermutlich nicht. Aber es fühlte sich so gut an. Michael schloss die Augen und begann, sich selbst mit der Hand des Jungen zu wichsen. Als er kam, versuchte er noch, sich wegzudrehen, aber der Höhepunkt kam so plötzlich, dass ein Gutteil davon auf Angelos Bauch landete. Michael betrachtete die weißlichen Spuren, die vom strömenden Wasser langsam fortgetragen wurden. Es fühlte sich an, als hätte er gerade irgendein Heiligtum entweiht. „War es nicht gut?“, hörte er Angelo fragen. Die großen, blauen Augen sahen ihn ein wenig unsicher an. Schnell versuchte Michael, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bekommen und in ein Lächeln zu verwandeln. Er merkte selbst, dass es ein wenig schief wurde. „Doch“, gab er zu und lachte nervös. „Es war fantastisch. Ich … ich weiß nur nicht, ob ich das hätte tun sollen. Du bist noch so jung und ich ...“ „Du warst für mich da, als ich dich gebraucht habe“, sagte Angelo schlicht, bevor er sich umdrehte und die Duschkabine aufschob. Er humpelte zum Handtuchständer und nahm sich eines davon. Während er sich abtrocknete, wanderte sein Blick wieder zu Michael, der immer noch unter dem endlosen Strahl der Dusche stand. Er lächelte und endlich war auch Michael in der Lage, sich wieder zu rühren. Er drehte das Wasser ab und kam ebenfalls aus der Kabine, wo ihm Angelo ein zweites Handtuch reichte. Sie schwiegen, während sie sich abtrockneten und schließlich beide nackt unter die weißen Laken schlüpften. Michael löschte das Licht und spürte im nächsten Augenblick, wie Angelo sich an ihn schmiegte und den Kopf mit den feuchten Haaren auf seiner Brust ablegte. Vorsichtig legte er den Arm und ihn und strich sanft mit den Fingerspitzen über seinen Rücken, bis die Atemzüge des Jungen tiefer und gleichmäßiger wurden. Was habe ich nur getan?, fragte Michael sich zum wiederholten Mal und konnte nur hoffen, dass der nächste Morgen darauf keine allzu unangenehme Antwort geben würde.         Ein vierfüßiger Schatten geisterte an der Wand entlang und entpuppte sich schließlich als Umriss eines durch und durch hässlichen Straßenköters. Das räudige Fell der Töle wies einen stumpfen Gelb-Braun-Ton auf und war gescheckt wie das einer Hyäne. Er schnüffelte und geiferte, als er ein weißes Tor mit großen Rostflecken erreichte. Mit einigem Aufwand quetschte er seinen vernarbten Kopf hindurch und jaulte auf, als er den Hof dahinter verlassen vorfand. Sein glühender Blick glitt über die sandige Fläche, aber außer ein paar Fußspuren war nichts mehr zu sehen. Ein tiefes Grollen drang aus seiner Brust. Das Tier begann, auf dem Boden zu schnüffeln und lief ein Stück die Straße entlang, bis er zu einer Stelle kam, an der die Spur, der er folgte, anscheinend endete. Er lief ein paar mal hin und her und knurrte leise, bevor er sich hinsetzte, um sich hingebungsvoll zu kratzen. Als er damit fertig war, nieste er zweimal, erhob sich wieder, drehte sich um und lief in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. An der nächsten Straßenecke hörte man das Geräusch von reißendem Fleisch und knackenden Knochen und der Schatten des Hundes lief plötzlich auf zwei Beinen weiter. Bräunliche Finger tippten auf den Tasten eines Wegwerfhandys herum. Es klingelte einmal und am anderen Ende meldete sich eine Frauenstimme. „911. Sie haben den Notruf gewählt. Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Ich möchte jemanden als vermisst melden“, schnarrte die Stimme des Anrufers mit unverkennbarem Akzent. „Einen Jungen, ungefähr 20 Jahre alt, blond, vielleicht 1,80 m groß.“ „Sir, ich fürchte, da müssen Sie sich an die örtliche Polizei-Dienststelle wenden. Wenn Sie mir sagen, wo Sie sind, kann ich Ihnen die Adresse geben.“ Der Mann mit dem Handy grinste und im Licht des Mondes konnte man einen Goldzahn aufleuchten sehen. „Ich bin in Las Vegas, Schätzchen. Also sag mir: Wen muss ich hier ficken, um meinen Ángel wiederzubekommen?“     Kapitel 3: Zwischen den Fronten ------------------------------- „So, Schluss für heute. Sag Wright, dass wir reinkommen.“ Ted Carter setzte den Blinker und fuhr in die nächste Seitenstraße, die sie zurück zum Revier bringen würde. Gehorsam griff Marcus nach dem Funkgerät. „Wagen 12 auf dem Rückweg.“ Es knisterte, bevor die dunkle Stimme des riesigen Schwarzen aus dem Lautsprecher drang. Andere mochten sich an der Bezeichnung stören, aber Jim Wright anders als „schwarz“ zu bezeichnen, wäre einfach so gewesen, als behaupte man, dass Gras nicht grün und der Himmel nicht blau sei. „Okay, bringt ihr Frühstück mit? Ich verhungere.“ „Klar, machen wir“, antwortete Marcus mit einem Seufzen. Er hatte das Schild des Donutladens schon von Weitem leuchten sehen. Carter parkte den Wagen und schnallte sich ab. „Für dich heute auch was, Reed?“ Marcus schüttelte den Kopf. „Nur Kaffee. Ich will gleich noch die Berichte fertig machen.“ Carter lächelte gutmütig. „Ich bin wirklich ein Glückspilz, dass sie mir so ein Arbeitstier als Partner verpasst haben. Also schön, einmal Kaffee ohne alles.“ Marcus nickte noch einmal und sah seinem Kollegen nach, der im Inneren des Ladens verschwand. Er bildete sich ein, den Geruch des Backwerks bis hierher riechen zu können und konnte nicht verhindern, dass ihm trotz seiner gegenteiligen Beteuerung das Wasser im Mund zusammenlief. Er liebte Süßigkeiten. Als Kind hatte er Tonnen von dem Zeug verschlungen, aber seit er herausgefunden hatte, woher diese Neigung stammte, hatte er Abstand davon genommen. Jetzt aß er nur noch Kuchen, wenn es sich nicht vermeiden ließ.   Die Tür des Donutladens öffnete sich wieder und Carter trat mit einem großen Karton auf dem Arm heraus. Als er näher kam, sah Marcus, dass er offensichtlich schon zugelangt hatte. Der Bauch unter der sandfarbenen Uniform kam nicht von ungefähr. „Du hast Puderzucker am Bart“, wies er seinen Kollegen auf die verräterischen Spuren hin, während er seinen Kaffee entgegennahm. Carter sah in den Rückspielgel und fuhr ein paar Mal mit den Fingern über den graumelierten Schnauzer. „Muss mir ja eins von den Schätzchen reservieren, sonst futtert mir Torres wieder alle weg. „Warum kaufst du nicht einfach mehr von der Sorte?“ „Weil es hier ums Prinzip geht. Ich bin der Dienstältere, also darf ich auch zuerst meinen Donut aussuchen.“ Marcus versuchte, nicht mit den Augen zu rollen. Er mochte Ted Carter, der eigentlich Theodor hieß und schon seit den Zeiten seinen Dienst in Las Vegas versah, als das Wünschen noch geholfen hatte. Er war ein anständiger Kerl, der allerdings für Marcus’ Geschmack ein paar Mal zu oft ein Auge zudrückte. Vermutlich überlebte man nicht so lange in dieser Stadt, wenn man es nicht tat. Vor allem nicht, wenn man wie Marcus mehr sah als normale Menschen. „War ne verrückte Nacht, oder?“ Carter hatte den Streifenwagen wieder in den Verkehr eingegliedert und fuhr ein wenig schneller, als eigentlich erlaubt war. Ein altes Pferd, das den Stall schon riechen konnte. „Erinnerst du dich an den Verrückten, der nicht von der Laterne herunterkommen wollte? Ich sag dir, das war ne Schau. Ne halbe Stunde hat der da oben gehangen. Oder den Kerl, den wir nördlich des Strips aufgegriffen haben? Den mit dem Jungen ohne Schuhe. Also in dessen Haut möchte ich morgen nicht stecken. Meine Elizah würde mir die Hammelbeine langziehen, wenn ich einen meiner Neffen so abstürzen lassen würde.“ Marcus lachte pflichtschuldig, wurde aber schnell wieder ernst. Der Zwischenfall, der sich am Anfang ihrer Schicht ereignet hatte, war ihm allerdings im Gedächtnis geblieben, wenngleich auch aus anderen Gründen als seinem Kollegen. Er war sich sicher, dass dieser Michael Thompson sie nach Strich und Faden belogen hatte, aber das war es nicht, was ihn stutzig gemacht hatte. Das, was ihn an der Sache beunruhigt hatte, war der unverkennbare Geruch von Dämonen gewesen, der den beiden angehaftet hatte.   Zuerst hatte Marcus gedacht, dass er es mit mindestens einem Exemplar dieser Kreaturen zu tun haben musste. Er hatte genauer hingesehen, aber keine weiteren Anzeichen entdecken können bis auf diesen penetranten Gestank nach Schwefel, verbranntem Haar und einer eigentümlichen Note, die ihn an Ziegenpisse hatte denken lassen. Bemerkenswert war jedoch, dass dieser Thompson nichts davon erwähnt hatte. Dafür gab es zwei Möglichkeiten: Entweder hatte er es nicht bemerkt, was bei der Penetranz des Gestanks eigentlich unmöglich war, da er auf einen engen, vermutlich sogar direkten körperlichen Kontakt hindeutete, oder er hatte es verschwiegen. Das wiederum warf die Frage auf, warum er das getan hatte. Hatte er etwas mit den Dienern des Bösen zu tun? Machte er mit ihnen Geschäfte? Da wäre er beileibe nicht der Erste. Und wie passte der Junge in die Geschichte hinein?   Als sie das Revier erreichten, gab es ein großes Hallo und Carter musste mehr als eine Hand beiseite schlagen, um den Karton mit den Donuts überhaupt in den improvisierten Pausenraum zu gelangen. Mit einer entschiedenen Geste stellte er die Schachtel neben die altersschwache Kaffeemaschine, die an guten Tagen die Zubereitung von etwas erlaubte, das Marcus als Zumutung zu bezeichnen pflegte. Er hob seinen Kaffeebecher und tippte sich an die Stirn. „Bin dann mal am Schreibtisch.“ Carter winkte huldvoll mit einem halben Donut. „Überarbeite dich nicht. Du weißt, dass du eigentlich bereits Feierabend hast.“ Marcus machte ein spöttisches Geräusch. „Als wenn es so was in Vegas wirklich geben würde.“ Das dröhnende Gelächter seines Kollegen begleitete ihn noch in den Gang hinaus, von dem die verschiedenen Büroräume abzweigten. Er hatte einen Platz ganz hinten in einem der Glaskästen, die von allen hier liebevoll „Affenställe“ genannt wurden. Manchmal fragte er sich, auf welcher Seite der Scheibe eigentlich die größeren Affen saßen. Routiniert ließ er auf dem Weg einen Blick zu den Annahmeschaltern gleiten. Dort draußen saßen jetzt nicht mehr viele Wartende und er wollte sich schon abwenden, um endlich die Berichte über die Einsätze der Nacht anzufertigen, als ihm plötzlich ein Geruch in die Nase stieg. Ein Geruch, den er heute Nacht schon einmal gerochen hatte. Dämonen, schoss es ihm durch den Kopf. Eigentlich nichts ungewöhnliches, das kam in Las Vegas öfter vor. Doch diese spezielle Duftnote war schon sehr charakteristisch. Vor allem, wenn man sie innerhalb so kurzer Zeit gleich zweimal roch. Marcus blieb stehen, um diejenigen, die auf der anderen Seite der dicken Panzerglasscheiben ihre Anliegen schilderten, ins Auge zu fassen. Da war eine ältere Dame, die gerade ihre gewaltige Handtasche nach irgendetwas durchforstete. Ein Mann mit einem Basecap, der sein Auto als gestohlen meldete, und ein Mann mit schwarzen Haaren, dunklem Teint und einem Goldzahn, der die Hilfsbeamtin auf Marcus’ Seite des Schalters gewinnend angrinste. „Schätzchen, ich will doch nur wissen, ob ihr wisst, wo er hingebracht wurde. Das kann doch nicht so schwierig sein herauszufinden.“ Die Hilfsbeamtin, die Marcus als Dorothy kannte, hob eine Augenbraue. „Also zunächst mal bin ich nicht Ihr Schätzchen, Sir. Und zweitens habe ich schlichtweg keine Meldung vorliegen, die zu Ihrer Beschreibung passt.“ „Aber ich habe doch genau gero... gesehen, dass er in einen Streifenwagen gestiegen ist. Irgendeiner von euch muss ihn also geschnappt haben.“ Dorothy seufzte abgrundtief. „Wann und wo war das denn?“ Der Mann mit dem Goldzahn nannte eine Adresse, die Marcus aufhorchen ließ. Das war die Gegend, in der sie diesen Michael Thompson aufgegriffen hatten. Ob der Kerl hier auch in die Sache verwickelt war? Das würde den Gestank erklären. Aber was wollte er hier? Allem Anschein nach war auch er ein Mensch, selbst wenn die Duftnote, die von ihm ausging, noch um einiges penetranter war als von den beiden anderen. „Das war heute Abend so gegen zehn, schätze ich. Könnte auch etwas später gewesen sein“, erklärte der Mann, dessen Akzent Marcus inzwischen irgendwo nach Mittelamerika eingeordnet hatte. Dorothy seufzte erneut, als säße sie auf dem Grund eines sehr, sehr tiefen Brunnens. „Sir, ich habe wirklich noch keine Meldung vorliegen. Wenn Sie uns eine Telefonnummer dalassen, können wir Sie im Fall der Fälle anrufen.“ „Was?“ Der Goldzahn verschwand zusammen mit dem Lächeln. „Das heißt, ich soll jetzt einfach rumsitzen und Däumchen drehen? Wollt ihr mich verarschen?“ Dorothy zuckte nur mit den Schultern. „Tut mir leid, Sir, so sind die Vorschriften. Einen schönen Tag noch.“ Sie drückte den Knopf, der die nächste Nummer an ihrem Display aufleuchten ließ. Ein Mann mit einem blauen Auge stand auf und kam mit hoffnungsvollem Gesicht zum Schalter. Er und Dorothy hatten allerdings ihre Rechnung ohne den Goldzahn gemacht. Der richtete sich jetzt zu seiner nicht eben stattlichen Größe auf und zischte wütend: „Irgendwer hat meinen Ángel und ich will wissen, wohin ihr ihn gebracht habt.“ Dorothy ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ich sagte doch bereits, dass wir Sie anrufen ...“ „Jetzt hör mir mal zu, du Schlampe“, fauchte der Mann wütend und entblößte dabei sein komplettes Gebiss. Er stützte sich auf den Tresen und Marcus konnte im Aufschlag seines karierten Hemdes ein Tattoo erkennen, das sich um seinen Hals wand. Es war eine Kette, deren Glieder in Flammen standen. „Wenn Sie nicht auf der Stelle gehen, werde ich Sie hinausbringen lassen, Sir“, drohte Dorothy und Marcus sah sich genötigt einzugreifen. Er wollte wissen, was hier gespielt wurde. „Gibt es Probleme?“ Er trat hinter Dorothy in die Kabine und stemmte die Hände in die Hüften. Der geifernde Mann auf der anderen Seite der Scheibe schien wenig beeindruckt. Dorothy hingegen war ihre Erleichterung anzusehen. „Officer Reed, dieser Herr möchte gerade gehen, glaube ich. Wenn Sie ihn vielleicht hinausbegleiten würden?“ „Was ist denn sein Problem?“ Marcus konnte sehen, dass ihr sein Vorgehen nicht schmeckte. Sie blätterte jedoch trotzdem gehorsam in ihren Unterlagen. „Eine Vermisstenmeldung. Ein blonder Mann, Anfang 20, ca. 1,80 m. Ist seit Anfang des Abends verschwunden. Ich habe ihm schon gesagt, dass er ...“ Marcus achtete nicht mehr auf sie. Sein Blick richtete sich auf den Mann mit dem Goldzahn. „Und in welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Vermissten?“ Der Goldzahn blinzelte verblüfft. „Verhältnis? Er ist, mein … äh … mein Neffe. Zweiten Grades. Mütterlicherseits.“ Marcus glaubte ihm kein Wort. Trotzdem war er sich sicher, dass der Mann diesen Angelo suchte. Aber er hatte ihn anders genannt. Ángel. Das spanische Wort für Engel. Das war für Marcus Geschmack ein wenig zu viel des Zufalls. Irgendetwas an der Sache stank ganz gewaltig. „Wir haben den Jungen, den Sie suchen, in Gewahrsam genommen. Er wird die Nacht in einer Zelle des Clark County Detention Center verbringen ebenso wie sein Begleiter.“ Marcus beobachtete die Reaktion des Mannes auf diese Ankündigung. Er schien außer sich, aber nicht überrascht. Allem Anschein nach wusste er von Thompson, was Marcus’ Verdacht erhärtete. „Was? Das kann doch nicht sein. Ich will meinen … äh … Neffen sofort wiederhaben.“ Marcus schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Sir, aber dem Jungen wird ein nicht unerheblicher Fall von Trunkenheit zur Last gelegt. Wir behalten ihn hier, bis er wieder ausgenüchtert ist.“ „Trunkenheit?“ Die Zunge des Goldzahns schien ihre Schwierigkeiten mit dem Wort zu haben. Er kaute es durch wie einen Kaugummi, bevor er es Marcus wieder vor die Füße spuckte. Ein Grinsen überkam sein Gesicht. „So kann man das natürlich auch nennen.“ Dorothy wollte gerade etwas sagen, aber Marcus brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Was er jetzt brauchte, war vor allem Zeit. Wenn dieser Kerl dachte, dass er den Jungen eingesperrt hatte, würde er vorerst nicht weiter nach ihm suchen. Eine Gelegenheit, die Marcus zu nutzen gedachte. „Wie meine Kollegin schon sagte, können Sie uns gerne eine Telefonnummer hinterlassen, dann rufen wir Sie an, wenn er entlassen wird.“ Der Goldzahn knurrte noch etwas Unfreundliches, bevor er Dorothy eine Nummer diktierte. „Ich brauche noch einen Namen“, sagte die und sah ihn erwartungsvoll an. Der Mann hob die Oberlippe und entblößte erneut seine Zähne. „Alejandro.“ „Und wie weiter?“ Dorothy hob abwartend den Kugelschreiber. „Nichts weiter. Wird ja wohl reichen, um mich anzurufen, oder nicht? Dazu braucht ihr ja wohl keinen Stammbaum von mir.“ Dorothy rang sich ein Lächeln ab. Partner der Gesellschaft, so lautete schließlich das Motto der Polizei in Las Vegas. Eine Farce, die sich irgendwelche oberen Etagen ausgedacht hatten, die von den wahren Zuständen auf den Straßen keine Ahnung hatten. Hier herrschte ein Krieg, bei dem die andere Seite verstärkt angefangen hatte, foul zu spielen. Marcus hatte sich daher mit voller Absicht nach Las Vegas versetzen lassen. Er wusste, dass seine speziellen Talente hier mehr gebraucht wurden als anderswo. Jetzt gerade schien er auf der richtigen Spur zu sein. Der Goldzahn erhob sich und musterte Marcus noch einmal. Für einen Augenblick stand offene Feindseligkeit in seinem Blick, bevor er sich abwandte und sich nach draußen trollte. Marcus folgte ihn mit den Augen, bis er die Meldestelle verlassen hatte, dann wirbelte er herum und ließ die immer noch reichlich verwirrte Dorothy zurück, um dem Mann zu folgen. Er musste durch einige Flure und einen langen Kellergang, bis er die Rückseite des Gebäudes erreichte. Vorsichtig öffnete er die Tür und versicherte sich, dass ihn niemand beobachtete, bevor er hinaus in die Dunkelheit des Hinterhofs schlüpfte. Hier draußen roch es nach Müll und anderen Dingen, über die sich Marcus lieber keine allzu großen Gedanken machte. Er nutzte die großen Container, um sich in ihrer Deckung bis zur Ecke zu schleichen, um dort um die Ecke zu spähen. Tatsächlich konnte er den Goldzahn entdecken, der sich im ärgerlichem Stechschritt den Bürgersteig entlang bewegte. Dabei sprach er wütend auf sein Handy ein. Marcus konnte die Worte nicht verstehen, wohl aber erkennen, dass es ganz offensichtlich um den vermissten Jungen ging. Anscheinend herrschte wirklich größeres Interesse an ihm. Vielleicht eine Entführung mit Lösegeld? Aber wer steckte dahinter? Die Mexikanische Mafia kam ihm in den Sinn. La Eme, wie sie auch genannt wurde, hatte entgegen dem, was der Name vermuten ließ, nicht viel mit den Kartellen jenseits der südlichen Staatsgrenze zu schaffen, sondern stellte vielmehr die wohl größte Organisation krimineller Machenschaften innerhalb der US-amerikanischen Gefängnismauern dar. Mitglieder wurden in der Regel mithilfe von Tattoos kenntlich gemacht. Auch der hispanische Einschlag des Mannes würde dazu passen. Allerdings war Marcus keine Bande bekannt, die eine brennende Kette als Symbol trug. Zudem lag Las Vegas nicht innerhalb ihres bevorzugten Einsatzgebiets, das sich zumeist auf Südkalifornien und große Teile von Texas erstreckte. Dazu kam noch die Sache mit dem eigenartigen Geruch. Marcus wurde das Gefühl einfach nicht los, dass hinter diesem schmierigen Kerl irgendetwas anderes stecken musste als „nur“ die Mafia.   Goldzähnchen hatte sein Gespräch inzwischen beendet und ihm war anzusehen, dass er über dessen Verlauf nicht eben glücklich war. Er fluchte und schien kurz davor, das Gerät in die Ecke zu schmeißen, bevor er sich eines Besseren besann und es einsteckte. Immerhin glaubte er ja, dass ihn morgen die Polizei darauf anrufen würde, um ihm den Jungen auszuhändigen. Marcus wollte schon aufatmen, als der Mann begann, direkt auf die Stelle zuzusteuern, an der er sich versteckt hatte. Eilig zog sich Marcus ein Stück zurück und drückte sich an die Wand hinter dem Müllcontainer. Die Schritte des Mannes kamen näher. Er ging an dem Versteck vorbei, ohne seinen Beobachter zu bemerken. Der war einerseits erleichtert, andererseits fragte er sich, was der Goldzahn hier wollte. Er konnte kaum hoffen, von dieser Seite in das Police Department hineinzukommen, denn die Tür, durch die Marcus gekommen war, ließ sich von dieser Seite nicht öffnen. Während Marcus noch überlegte, erklang plötzlich ein Jaulen, als hätte jemand einen Hund getreten. Die Schritte des Goldzahns waren verstummt, stattdessen konnte Marcus jetzt ein Hecheln hören und klackernde Laute, die langsam näher kamen. Eine Welle von Dämonengestank überrollte ihn. Es kratzte im Hals und biss in den Augen. Marcus blinzelte angestrengt, als sich ein vierfüßiger Schatten seinem Versteck näherte und mit eigenartig hoppelnden Schritten an ihm vorbeihuschte. Erst, als das Tier in das Licht der nahegelegenen Straßenlaterne trat, konnte er erkennen, um was es sich handelte. Auf den ersten Blick schien es ein ganz gewöhnlicher Straßenhund zu sein, wie es sie hier in der Gegend zu Dutzenden gab. Als Marcus genauer hinsah, konnte er jedoch die düstere Aura erkennen, die das Tier umgab. Um seinen Hals wanden sich die Glieder einer Kette, die unter einem inneren Feuer zu glühen schienen. Der Hund witterte kurz in seine Richtung und knurrte leise. Unwillkürlich hielt Marcus den Atem an und schloss die Augen. Er hörte den Hund noch einmal niesen, dann entfernten sich die merkwürdigen, klackernden Geräusche. Als sie endgültig verklungen waren, kletterte Marcus wieder aus seinem Versteck und sah sich nach dem Goldzahn um. Der Mann war verschwunden. Stattdessen führte von dem Platz, wo Marcus ihn als letztes vermutet hatte, eine schmale Fährte in Richtung Straße. Marcus ging in die Knie und musterte die Spur. Wo er eigentlich Pfotenabdrücke vermutet hatte, sah er jetzt ganz deutlich Hufspuren vor sich. „Was hat das nur zu bedeuten?“, murmelte Marcus vor sich hin. Er war sich jetzt ziemlich sicher, dass es sich bei dem Mann um eine Art Dämon handelte. Aber selbst, wenn einige dieser Kreaturen für kurze Zeit die Illusion einer menschlichen Gestalt erzeugen konnten, so hätte Marcus seine wahre Form eigentlich trotz der Verkleidung erkennen müssen. Somit war dieser Dämon entweder mächtiger, als Marcus zunächst angenommen hatte, oder etwas sehr, sehr Seltsames ging hier vor. Sollte dieser Dämon tatsächlich so stark sein, wie es momentan scheint, hat es keinen Sinn, ihm zu folgen. Allein und ohne anständige Waffen komme ich gegen ihn nicht an. Bleibt also noch die zweite Partei in diesem Spiel. Thompson und dieser eigenartige Junge. Marcus sah auf die Uhr. Es war kurz nach sechs. Am Horizont kündigte sich bereits der Sonnenaufgang mit leuchtenden Orangetönen an. Wenn er sich jetzt noch umzog und sein Auto holte, das in einer nahegelegenen Tiefgarage stand, würde er mindestens eine weitere, halbe Stunde verlieren. In der gleichen Zeit konnte er zu Fuß am Hotel sein. Zwar ging in der Regel in Las Vegas niemand zu Fuß, wenn es sich vermeiden ließ, aber in diesem Fall beschloss Marcus eine Ausnahme zu machen. Solange er die Uniform noch anhatte, würde ihm schon niemand einen Strafzettel wegen unerlaubten Überquerens einer Fahrbahn verpassen.           Michael erwachte von einem Knistern. Er blinzelte und brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, wo er war. Ach ja, das Hotelzimmer in Vegas … der gestrige Abend. Er schloss die Augen wieder und atmete tief durch, als erneut dieses Geräusch erklang. Es klang wie … Er richtete sich auf. Sein Blick irrte durch das Zimmer und blieb an der Gestalt hängen, die auf dem Boden saß, nackt wie Gott sie geschaffen hatte, und seinen Musterkoffer ausräumte. Als Angelo bemerkte, dass er beobachtet wurde, hob er den Kopf. Mit großen, blauen Augen sah er zu Michael auf, während er kaute. Er schluckte und wartete kurz, bevor er erneut in die Tüte griff und sich etwas des Inhalts in den Mund beförderte. Michael hob die Augenbrauen. „Hast wohl Hunger gehabt?“ Angelo nickte und wirkte dabei etwas ertappt. Michael lachte leicht. „Das verstehe ich. Aber bist du wirklich der Meinung, dass Gummibärchen ein geeignetes Frühstück sind?“ Angelo schluckte erneut, bevor er antwortete. „Ich mag den Geschmack“, sagte er mit ernstem Gesichtsausdruck. „Die Pfirsiche waren auch gut, aber die Beeren haben an den Zähnen geklebt mit diesen kleinen Perlen, deswegen habe ich sie nicht aufgegessen.“ Michaels Augenbrauen wanderten noch höher. „Willst du mir etwa erzählen, dass das bereits deine dritte Tüte ist?“ Angelo zog den Kopf zwischen die Schultern und sah aus wie das personifizierte, schlechte Gewissen. „Eigentlich die vierte. Ich hab mit den Kirschen angefangen.“ Für einen Augenblick war Michael sprachlos. Dann jedoch kam Leben in ihn. Er schlug die Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und war mit zwei Schritten bei Angelo. Mit strenger Miene nahm er ihm die Tüte ab. „Du wirst dich noch übergeben, wenn du den ganzen Süßkram in dich reinstopfst.“ „Aber er schmeckt gut.“ „Trotzdem. Das ist ...“ Plötzlich blieb Michael das Wort im Halse stecken. Die ganze Situation war so surreal, dass er einfach nicht wusste, was er jetzt sagen oder tun sollte. Er hatte diesen Jungen … ja was eigentlich? Gerettet? Aufgelesen? Sie hatten Sex gehabt, zumindest beinahe, und jetzt, jetzt stand er hier vollkommen nackt und hielt eine angefangene Tüte Gummitierchen in der Hand. Selbst der Bär auf der Packung schien irgendwie höhnisch zu grinsen. „Das geht einfach nicht“, schloss er seinen angefangenen Satz lahm. Er seufzte und legte die Tüte beiseite. Dann ging er zu seinem Koffer und holte frische Unterwäsche heraus. Während er sich anzog, hörte er, wie Angelo sich hinter ihm bewegte. Als er kurz über die Schulter blickte, sah er, wie sich auch der Junge etwas anzog. Anscheinend war ihm der Gedanke vorher nicht gekommen. Also vielleicht doch kein religiöser Spinner. Aber woher kommt er? Wo sind seine Eltern, seine Familie? Und was mache ich jetzt mit ihm? Ich kann ihn doch nicht einfach wieder auf die Straße setzen. Und das gestern … Ich hätte verhindern müssen, dass das passiert. Michael griff nach einem Polo-Shirt und zog es sich über den Kopf, bevor er in seine Hose stieg wie ein Ritter in seine Rüstung. Er presste die Lippen aufeinander und überlegte. Ob er das Thema noch einmal anschneiden sollte? Angelo hatte gesagt, es wäre in Ordnung gewesen, aber das schlechte Gewissen nagte an Michael. Er hatte die Lage des Jungen ausgenutzt, da biss die Maus keinen Faden ab. Auch wenn er vielleicht die bessere Alternative zu diesen Grobianen gewesen war, die sicherlich wer weiß was mit dem Jungen angestellt hätten. Trotzdem sollte er vielleicht noch etwas dazu sagen, oder nicht? Er räusperte sich. „Also, Angelo ... Ich darf dich doch Angelo nennen?“ Der Junge nickte und sah ihn aufmerksam an. Zum Michaels Glück war er inzwischen ebenfalls wieder vollständig bekleidet. „Wegen gestern … Ich … Ich wollte nur, dass du weißt ...“ Er verstummte, als Angelo sich auf ihn zu bewegte. In den Augen des Jungen lag ein eigenartiger Ausdruck, den Michael nicht so recht zu deuten wusste. Doch noch bevor er weitersprechen konnte, traf ihn Angelos körperliche Präsenz wie ein Hammerschlag, der sein Herz stolpern ließ. Wie war er nur so schnell so nahe gekommen? Michael meinte die Wärme spüren zu können, die sein Körper ausstrahlte, roch die Süße seines Atems, der über sein Gesicht streifte. Er konnte förmlich schmecken, wie es wäre, ihn zu küssen. Konnte die glatte Haut fühlen, die festen Muskeln, die langen Glieder, die sich um ihn schlangen und ihn vollkommen vereinnahmten. Die Weichheit der blonden Locken, als er seine Finger darin vergrub. Er spürte Angelos Haut unter seinen Lippen, die über den jungen Körper glitten und jeden Quadratzentimeter von ihm liebkosten, während sie langsam tiefer wanderten. Er meinte die samtene Härte in seiner Hand wahrzunehmen, glaubte die Laute zu hören, die Angelo von sich geben würde, das Salz und leichte Bitterkeit auf der Zunge zu schmecken, wenn er ihn in sich aufnahm. Und dabei würde es nicht bleiben. Danach würden sie … Michael atmete erschrocken ein und wich einen Schritt zurück. Er merkte, dass sich seine aufwallende Erregung bereits körperlich manifestiert hatte, und er wusste, dass, wenn er nicht schnell etwas dagegen unternahm, er wieder schwach werden würde. Irgendetwas an Angelo zog ihn an wie die Motte das Licht. Doch er wusste, dass er dem nicht nachgeben durfte. Es wäre nicht richtig. Nicht, weil Angelo es nicht wollte. Michael sah es in seinem Blick, dass er sich nur zu gern wieder Michaels Führung anvertraut hätte. Und er wäre vorsichtig mit ihm; er würde ihm nie wehtun. Aber das hier war anders als zuvor. Es war nicht einfach nur Sex. Michael wusste nicht, warum er sich dessen so sicher war, aber ihm war klar, dass, sollte er jetzt tatsächlich die Hand ausstrecken und Angelo berühren, würde daraus etwas erwachsen, dass er nicht kontrollieren konnte. Etwas, nach dem er sich gleichzeitig sehnte und es fürchtete. Denn er konnte das nicht. Es ging nicht. Er hatte es versprochen.   Mit einer fast schon rüden Bewegung wandte er sich ab und trat ans Fenster. Er spürte Angelos Blick auf sich und bemerkte mit Erstaunen, dass sein Hals wie zugeschnürt war und etwas in ihm beinahe körperlich schmerzte. Es fühlte sich an, als würde gerade etwas Unbezahlbares zwischen seinen Fingern hindurch gleiten und er … er machte keinerlei Anstalten, es aufzuhalten. Weil er nicht konnte. Nicht durfte. Er hatte es Gabriella versprochen. „Angelo, ich … ich muss dir etwas sagen.“ Er hörte die Worte, die aus seinem Mund kamen, und doch konnte er nicht wirklich glauben, dass er sie aussprach. Das hatte er noch nie getan. Es war nicht notwendig gewesen. Er hatte immer dafür gesorgt, dass die Fronten geklärt waren, bevor er sich auf jemanden einließ. Das hatte er dieses Mal versäumt. Ein fataler Fehler, wie er jetzt feststellen musste. „Ich … ich bin … ich habe ...“ Es fiel ihm so schwer, es zu sagen. Es war, als würde man mit einem Schlachtermesser hinter dem Rücken vor einem knuddeligen, weißen Kätzchen stehen, das einen mit großen Augen ansah und eine Streicheleinheit erwartete, während man vorhatte, es bei lebendigem Leibe zu häuten. Michael fühlte Übelkeit in sich aufwallen. Er trat noch näher ans Fenster und sah hinaus. Im Licht der aufgehenden Sonne konnte er die vorbeifahrenden Autos beobachten, die alle ihrem eigenen Ziel entgegenstrebten. Die Menschen dort unten hatten keine Ahnung davon, welche Tragödie sich hier hinter dem Fenster im fünften Stock gerade abspielte. Wie er dabei war, die Hoffnungen eines jungen Mannes mit drei einfachen Worten in nichtige Fetzen zu zerreißen. Unter anderen Umständen hätte er vermutlich über die Melodramatik seiner Worte gelacht, aber er wusste, dass es in diesem Fall die Wahrheit war. Er wusste, dass Angelo verstehen würde, was es hieß, wenn er ihm offenbarte, dass er …   Michaels Gedanken kamen zu einem abrupten Halt, als sein Blick an einer Gestalt hängen blieb, die sich zielstrebig auf das Hotel zubewegte. Michael hätte von hier oben eigentlich nicht erkennen sollen, dass es so war. Allerdings waren anhand der frühen Stunde nicht eben viele Passanten unterwegs und so wusste er mit untrüglicher Sicherheit, dass der Mann, der sich dort gerade in zügigem Tempo näherte, hierher kam. Genauer gesagt zu ihm und Angelo, denn Michael hatte ihn erkannt, obwohl das auf die Entfernung eigentlich nicht möglich sein sollte. Es war der junge Polizist, der sie am Vorabend fast verhaftet hatte. Michaels Herz begann zu klopfen. Er drehte sich zu Angelo herum. „Schnell, wir müssen hier weg.“ Der Junge schien anhand des plötzlichen Themenwechsels verwirrt. „Weg? Wohin?“ „Pack deine ...“ begann Michael, bevor ihm einfiel, dass Angelo ja nichts bei sich gehabt hatte. Also griff er kurzerhand nach seinem eigenen Kram und stopfte ihn mit fast schon brutaler Gewalt in seinen Koffer und ließ das Schloss zuschnappen. Er schlüpfte in seine Schuhe und öffnete die Tür. „Komm, wir gehen.“ „Wohin?“, fragte Angelo erneut, aber Michael antwortete ihm nicht. Stattdessen griff er nach seinem Handgelenk und zerrte ihn nicht eben sanft hinter sich her in den Hotelflur. Seine Gedanken rasten. Der Polizist würde gleich hier sein. Vermutlich hatte er das Hotel bereits betreten und war auf dem Weg zu den Aufzügen. Wenn sie dort hinunterfuhren, würden sie ihm direkt in die Arme laufen. Also wandte sich Michael nach links, wo ein Schild darauf hinwies, dass dieser Ausgang nur im Notfall zu benutzen war. Das hier ist ein Notfall, entschied Michael und drückte die schwere, stählerne Tür auf. Er schob Angelo in das Treppenhaus und gleich noch ein Stück die Treppe hinunter. „Schnell“, wies er ihn an. „Nach unten und dort wartest du.“ Anglo sah ihn aus großen Augen an, bevor er nickte und sich umwandte und begann, vorsichtig die Treppe hinabzusteigen. Sein Knöchel machte ihm anscheinend immer noch zu schaffen, aber darauf konnten sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Michael verharrte derweil an der Tür. Er lauschte in den stillen Hotelflur, wo nichts zu hören war bis auf das leise Summen der Klimaanlagen. Erst, als ein Klingeln, die Ankunft des Aufzugs ankündigte, zog er die Tür bis auf einen Millimeter zu. Jemand verließ den Aufzug und bewegte sich durch den Gang. Michael hörte ein Klopfen. „Metropolitan Police Department. Mr. Thompson, sind Sie da? Öffnen Sie die Tür!“ Michael hatte genug gehört. Er ließ die Stahltür los, die lautlos ins Schloss glitt, und stürzte dann, so schnell er konnte, die Treppe hinunter. Er wusste, dass es irrational war, dass er vor der Polizei flüchtete. Er hatte nichts getan. Aber irgendetwas an diesem Mann beunruhigte ihn und er hatte das Gefühl, dass er Angelo um jeden Preis von ihm fernhalten musste. Beschützerinstinkt hatte es sein Coach manchmal genannt. Du wirst auf deiner Position niemals den Ruhm ernten, der dir zusteht. Alle schauen immer nur auf den Ball und nicht auf den Mann, der unter fünf anderen Spielern begraben am Boden liegt. Trotzdem bist du derjenige, auf den es ankommt. Deine Aufgabe ist es, den Ballträger zu beschützen, egal was passiert. Und Gnade Gott denen, die versuchen, dich daran zu hindern.   Michael erreichte den Fuß der Treppe, wo Angelo schon auf ihn wartete. Der Junge wirkte nicht halb so nervös, wie Michael sich fühlte. Er erlaubte sich ein kurzes Lächeln, bevor er die Tür zur Hotelhalle öffnete. Wie er gehofft hatte, war hier noch alles ruhig. Er hetzte zum Schalter und zog schon im Laufen seine Kreditkarte heraus. „Ich würde gerne auschecken. Raum 515.“ Der Portier – es war ein anderer als gestern Abend – sah gelangweilt von seiner Zeitschrift auf. Er legte sie mit einem Seufzen zur Seite und griff nach der Karte. „Hatte Sie etwas aus der Minibar, Mister ... Thompson?“ Er stutzte. „Hier war doch gerade ein Officer, der zu Ihnen wollte.“ Michael lächelte unschuldig. „War ein Missverständnis. Eine Verwechselung. Und keine Minibar.“ Der Portier musterte ihn einen Augenblick lang misstrauisch, beschloss aber anscheinend, dass ihn das nichts anging und er lieber zusah, dass das Hotel sein Geld erhielt. Mit einer routinierten Geste zog er die Karte durch das Lesegerät. „Wenn Sie dann hier unterschreiben würd...“ Michael riss ihm den Zettel aus der Hand und setzte eilig seine Unterschrift unter die Abrechnung. „Alles klar, vielen Dank und auf Wiedersehen.“ Er drehte sich herum und hörte in diesem Moment, wie der Aufzug das Erdgeschoss erreichte. Er griff mit einer Hand nach seinen Koffern, mit der anderen nach Angelos Hand. Wenn sie Glück hatten, würden sie die Hotelhalle noch rechtzeitig … „Mister Thompson?“ Verdammt. „Nicht umsehen, lauf einfach weiter“, zischte er Angelo zu, während er seine Schritte noch einmal beschleunigte. Noch 20 Meter bis zur Tür. „Halt! Stehenbleiben! Polizei!“ Zehn Meter. Durchhalten. „Bleiben Sie stehen oder ich schieße!“ „Lauf!“ Michael ließ alle Vorsicht fallen und begann zu rennen. Plötzlich krachte ein Schuss durch den Raum. Im gleichen Augenblick entglitt ihm Angelos Hand. Er hörte sich selbst irgendetwas rufen, stolperte, verlor fast das Gleichgewicht, schlitterte herum und sah nur noch, wie der Polizist sich plötzlich zu Boden fallen ließ und den Kopf in den Händen vergrub. Angelo hingegen stand hoch aufgerichtet, die Arme in seine Richtung ausgestreckt. Mit einem Satz war Michael bei ihm. „Bist du verletzt? Hat er dich getroffen?“ Angelo schüttelte nur stumm den Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Gesicht eine bleiche Maske. Er schwankte plötzlich. Seine Hand streckte sich nach Michael aus, der ihn auffing, bevor er zu Boden gehen konnte. „Bitte, bring mich hier weg“, murmelte er, bevor er das Bewusstsein verlor. Michael überlegte nicht lange. Er ließ die Koffer fallen, nahm Angelo auf seine Arme und verließ das Hotel, so schnell ihn seine Beine trugen. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, bewegte er sich über den Parkplatz zu seinem Wagen, fischte die Schlüssel aus seiner Hosentasche, bettete den bewusstlosen Jungen auf den Rücksitz, bevor er sich selbst auf den Fahrersitz schmiss und den Motor anließ. Mit quietschenden Reifen raste er vom Hof und nur ein letzter Rest von Vernunft ließ ihn gerade noch so daran denken, dass es ein Tempolimit gab, dessen Überschreiten ihm schneller, als ihm lieb sein konnte, den nächsten Polizisten auf den Hals hetzen würde. So fuhr er gerade eben so schnell, wie es erlaubt war, und warf dabei immer wieder einen Blick in den Rückspiegel, in dem glücklicherweise keinerlei Verfolger zu sehen waren. Erst, als er die Stadtgrenze hinter sich gelassen hatte und die weite Wüste Nevadas sich um ihn herum ausstreckte, fing sein Herzschlag langsam an, wie in ein normales Tempo zu verfallen. Gleichzeitig begann sein Gehirn wieder zur arbeiten. Was hatte er da gerade getan?     Stöhnend kam Marcus wieder zu sich. Vor seinen Augen tanzten bunte Punkte und die Umrisse seiner Umgebung wurden nur langsam wieder scharf. Er sah, dass sich jemand über ihn beugte. „Ist alles in Ordnung mit ihnen?“ Der Hotelportier. Marcus hob abwehrend die Hand. „Danke, es geht schon.“ Er setzte sich auf und blinzelte, bis die flimmernde Helligkeit wieder einem normalen Bild wich. Der gelangweilte Portier sah ihn mit erhobenen Augenbrauen an. „Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?“ „Ja doch.“ In Wahrheit war gar nichts in Ordnung. Als er in das Hotel gekommen war, hatte der Portier ihm versichert, dass Thompson noch nicht ausgecheckt hatte. Als er jedoch auf der entsprechenden Etage angekommen war, war die Tür nur angelehnt und das Zimmer verlassen gewesen. Er hatte noch nachgesehen, ob sich jemand im Bad versteckt hatte, aber ihm war schnell klargeworden, dass die Vögel das Nest bereits verlassen hatten. Also war er wieder nach unten gefahren, nur um in der Hotelhalle auf Thompson und den Jungen zu stoßen, die sich gerade aus dem Staub machen wollten. Sie hatten nicht auf seine Aufforderung stehenzubleiben reagiert. Er hatte nur einen Warnschuss abgeben wollen, hatte auf die Beine des Jungen gezielt und dann … dann war die Welt explodiert. Ein weißblaues Licht war wie aus dem Nichts erschienen und auf ihn zugerast. Marcus hatte noch versucht, sich zu schützen, aber gegen das strahlendhelle Gleißen hatte ihm das nichts genutzt. Es hatte seine Sinne betäubt und ihn für einen Augenblick vollkommen paralysiert. Als er wieder zu sich gekommen war, waren die Verdächtigen bereits geflohen.   Mit einem Stöhnen erhob er sich, um sich langsam in Richtung Ausgang zu schleppen. Als er kurz vor der Stelle war, an der der Junge gestanden hatte, fiel sein Blick auf einen kleinen Gegenstand, der vor ihm am Boden lag. Er bückte sich und hob ihn auf. Es war die Kugel, die er abgefeuert hatte. Sie war vollkommen plattgedrückt, als wäre sie gegen eine massive Wand geprallt. Er betrachtete das Stück Metall und plötzlich wusste er, was ihn erwischt hatte. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte nicht sein. Ein Engelsschild, dachte er. Warum kann der Junge einen Engelsschild beschwören? Noch dazu einen derart mächtigen? Wo bin ich hier nur hineingeraten? Kapitel 4: Zucker und Salz -------------------------- Während die Sonne Stück für Stück über den Horizont stieg und der Wagen Meile um Meile fraß, drehten sich Michaels Gedanken immer nur im Kreis. Er hatte es vermasselt. So richtig. Er war auf der Flucht vor der Polizei, hatte einen Jungen gekidnappt und noch dazu sein komplettes Gepäck als Beweismittel hinterlassen. Was vermutlich nicht mal notwendig gewesen wäre. Immerhin hatten die Polizisten gestern seine Daten aufgenommen. Eigentlich erwartete er, jeden Moment die Blaulichter der Highway Patrol oder gar die drohende Silhouette eines Helikopters hinter sich auftauchen zu sehen. Stattdessen glitt lediglich die graubraune Landschaft mit den niedrigen Büschen und den in der Ferne liegenden Bergketten an ihm vorbei, während sich über ihm der weite Himmel öffnete, auf dem nicht eine einzige Wolke zu sehen war. Es hätte sich nach Freiheit anfühlen sollen, tat es aber nicht. Es schmeckte nach schlechtem Gewissen und Magenschmerzen. Nach etwas über einer Stunde, in der immer noch nichts passiert war, begann Angelo sich wieder zu regen. Michael warf einen kurzen Blick nach hinten. „Hey“, rief er leise. „Wieder wach?“ „Mhm“, machte Angelo und klang zum ersten Mal irgendwie menschlich. Es ließ Michael lächeln. Er beobachtete, wie der Junge sich aufsetzte und gegen die Helligkeit des begonnenen Tages anblinzelte. „Wo sind wir?“ „Auf der Interstate Richtung Norden. Ich … ich fürchte, ich habe dich entführt.“ Ein Scherz. Ein vorsichtiges Abtasten. Wie würde Angelo auf diese Neuigkeit reagieren? Ihre Blicke begegneten sich im Rückspiegel. Er sah, dass Angelo lächelte und konnte nicht widerstehen. Er musste sich umdrehen, um sein Gesicht zu sehen. Der Junge sah besser aus als zu dem Zeitpunkt, an dem sie losgefahren waren. Rosiger und nicht mehr so furchtbar blass. Das Lächeln stand ihm gut. Michael musste sich mit Gewalt von dem Anblick losreißen und sich wieder auf die Straße konzentrieren, wenn er sie nicht gegen den nächsten Truck setzen wollte. Trotzdem wäre es ihm lieber gewesen, er hätte das Ganze noch ein wenig länger genießen können. „Hast du was zu essen?“, fragte Angelo plötzlich. „Du hast schon wieder Hunger?“ Michael war ehrlich verblüfft. Eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, dass der Junge schon so bald wieder etwas zu sich nehmen konnte. Andererseits hatten so junge Kerle wohl einfach einen anderen Stoffwechsel. „Wir könnten frühstücken gehen.“ Auf eine Spur mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht an. Die Schilder am Straßenrand wiesen ihn darauf hin, dass er jetzt bald Nevada verlassen würde. Vielleicht war es nicht das Schlechteste, wenn sie sich vorher wirklich noch eine Rast gönnten. So langsam verlangte auch Michaels Magen nach etwas Nahrung und vor allem einem Kaffee. Also steuerte er kurzentschlossen die nächste Tankstelle an und füllte gleich noch das Benzin auf, bevor er neben Angelo trat, der an der geöffneten Wagentür stand und sich umsah. Mit etwas Unbehagen fiel Michael auf, dass der Junge immer noch keine Schuhe anhatte. Warm genug war es dafür, aber früher oder später würden sie so ungewollte Aufmerksamkeit erregen. Angelo selbst schien das nicht zu stören. Michael seufzte lautlos. „Komm, gehen wir was essen.“ Er bezahlte die Tankfüllung, während Angelo den Laden in Augenschein nahm. Michael beobachtete, wie er zwischen den Regalen umherging und alles ganz genau betrachtete. Vor dem Stand mit den Süßwaren, der direkt neben der Kasse platziert war, blieb er stehen. Seine Augen wanderten über die unzähligen bunten Packungen und Michael meinte hören zu können, wie sich sein Magen zusammen zog. Er schmunzelte. „Meinst du nicht, dass erst mal was Anständiges angesagt wäre?“ Angelo konnte sich augenscheinlich nur schwer von der riesigen Auswahl trennen. Michael legte ihm den Arm um die Schultern und schob ihn sanft in Richtung des hinteren Teils der Tankstelle, in dem sich ein kleines Restaurant befand. „Na komm. Wir nehmen nachher noch was mit. Erst mal bekommst du ein richtiges Frühstück.“   Angelos Vorstellung von einem „richtigen Frühstück“ unterschied sich zwar immer noch deutlich von dem, was Michael dafür gehalten hätte, aber mit Waffeln und Pancakes konnte er leben. Mit leichtem Amüsement verfolgte er, wie Lage um Lage des süßen Teigs in Angelos Mund verschwand, während er selbst sich an Kaffee und Rührei hielt. Es waren noch einige andere Gäste anwesend, aber für Michael gab es nur den blonden Jungen, der ihm gegenüber auf dem roten Kunstledersitz saß und mit sichtbarem Genuss bereits seinen vierten Pancake vernichtete. Als er auch den fünften und letzten mit großen, hungrigen Bissen verschlungen hatte, blickte er ein wenig enttäuscht auf die goldbraune Siruplache, die auf dem weißen Teller zurückgeblieben war. Noch bevor Michael etwas sagen konnte, hatte er die Gabel beiseite gelegt und den Zeigefinger hineingetaucht. Mit angehaltenem Atem verfolgte Michael, wie der Finger zwischen Angelos Lippen verschwand. Er konnte nicht verhindern, dass ihm dabei für einen Augenblick der Mund offen stehenblieb. Als Angelo seinen Blick bemerkte, lächelte er. Er fuhr noch einmal durch den Sirup und hielt Michael seine Beute hin. „Möchtest du mal probieren?“ Für den Bruchteil einer Sekunde war Michael versucht, der Einladung Folge zu leisten. Die süße Klebrigkeit von Angelos Fingern zu lecken, erschien ihm gerade wie die erstrebenswerteste Sache der Welt. Im nächsten Augenblick fiel ihm ein, wo sie waren und das ein solches Verhalten mehr als unangebracht wäre. Er schloss den Mund wieder und lächelte leicht. „Nein, vielen Dank. Ich bleibe beim Kaffee. Möchtest du noch etwas?“ Angelo verneinte. „Gut, dann sollten wir langsam weiterfahren. Je mehr Staatsgrenzen wir zwischen uns und diesen übereifrigen Polizisten bringen, desto besser. Ich glaube, der hat in uns ein neues Hobby gefunden.“ Angelo lachte auf und Michael genoss das Geräusch. Es weckte in ihm den Wunsch, es öfter zu hören. Notfalls dadurch, dass er es im wahrsten Sinne des Wortes aus ihm herauskitzelte. Eine Vorstellung, die seine Finger zucken ließ, als Angelo vor ihm her zu den versprochenen Süßigkeiten ging. Aber er beherrschte sich und wies stattdessen mit einem Kopfnicken auf die Flut der bunten Päckchen. „Also? Was brauchst du als Wegzehrung? Wir werden eine Weile fahren müssen.“ Angelo biss sich auf die Lippen und ließ den Blick über die Auslage schweifen. Die Entscheidung fiel ihm sichtlich schwer. Schließlich ging Michael kurzerhand einmal quer durch das Sortiment, um dann einen beträchtlichen Haufen vor dem Kassierer abzuladen. Der zog, ohne die Miene zu verziehen, alles ab und packte die Sachen sogar noch in eine Tüte, die er Michael über den Ladentisch reichte. Der gab sie an Angelo weiter, woraufhin dieser Michael anstrahlte wie ein Kind am Weihnachtsabend. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre ihm um den Hals gefallen. Michael fühlte eine Wärme in sich aufsteigen, die ihn lächeln ließ. Ihm war bewusst, dass er gerade so ziemlich alles falsch machte, was falsch zu machen war. Aber es fühlte sich gut an. Er mochte es, wenn Angelo so glücklich war, und er hätte sein letztes Hemd dafür gegeben, diesen Zustand andauern zu lassen. Sie setzen sich wieder ins Auto, diesmal mit Angelo auf dem Beifahrersitz, und fuhren los in Richtung des Virgin River Valley, durch das sich die Interstate hier zog. Links und rechts der kurvigen Straße türmten sich jetzt beeindruckende Felsformationen auf, aber Michaels Augen lagen nur auf Angelo, der sich gegen die Fensterscheibe presste, um die Details der Landschaft zu bewundern. Wann immer die Straße den Fluss kreuzte, sprang der Junge förmlich im Sitz auf und zeigte nach draußen, als habe er gerade das achte Weltwunder entdeckt. Michael nickte jedes Mal und genoss es, Angelos Begeisterung so hautnah miterleben zu dürfen. Es war, als würde auch er selbst die Welt ein bisschen mit neuen Augen sehen.   Nach und nach gingen die ausgewaschenen Felsen in sanftere Sand- und Geröllfelder über und nach einer letzten Flussüberquerung lag wieder die bekannte Wüstenlandschaft vor ihnen. Als sie die Staatsgrenze von Utah passierten und somit noch etwa 300 Meilen bis Salt Lake City vor sich hatten, fühlte sich Michael genötigt, doch noch einmal auf das Problem zu sprechen zu kommen, dass er so gut wie nichts über seinen Reisegefährten wusste. „Sag mal … erinnerst du dich eigentlich an irgendetwas, das vor gestern Abend war?“ Angelo wandte sich von den Büschen und Bäumen ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf Michaels Frage. Er runzelte die Stirn und dachte eine Weile angestrengt nach. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Nein, da ist nichts. Das Erste, an das ich mich erinnere, bist du.“ Michael fühlte eine irreale Freude über diese Aussage, hielt sich aber zurück, diese zu zeigen. Stattdessen fragte er: „Gar nichts?“ „Nein.“ „Nicht einmal an das, was die Kerle mit dir gemacht haben?“ Für einen Augenblick verdüsterte sich Angelos Miene. „Ich erinnere mich an Bruchstücke. Aber nichts, was wirklich Sinn ergibt. Ich glaube, es gefällt mir nicht, daran zu denken.“ Er sah wieder aus dem Fenster und Michael hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass er ihn so bedrängt hatte. Aber musste er nicht danach fragen? War es nicht seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es Angelo gutging. Dass er zu Freunden und Familie zurückfand, statt ihn irgendwohin zu verschleppen. Michael war sich ziemlich sicher, dass er nicht weggelaufen war. Niemand würde das ohne Schuhe tun und seine Kleidung war zu sauber, als dass er schon eine Weile draußen unterwegs sein konnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit gab es also irgendwo jemanden, der sich gerade große Sorgen um ihn machte. Es war somit Michaels Pflicht, sich darum zu kümmern, dass der Junge wieder nach Hause kam. Eine kleine Stimme versuchte zumindest ihm das einzuflüstern. Der Rest von ihm wollte Angelo einfach nur glücklich sehen und das Stochern in seiner Vergangenheit machte ihn offensichtlich nicht glücklich. Also ließ er es sein und schwieg. Sein Blick fiel auf das Radio. „Magst du Musik?“ Angelo zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht.“ Michael drückte den Schalter und im nächsten Augenblick plärrte ihm irgendein Countrysong entgegen. Er betätigte den Suchlauf, bis er etwas fand, dass zu ihrer Stimmung passte. Getragene Klavierklänge und eine Frau, die von Hoffnungen und Träumen sang, die zu erreichen man sich nur trauen musste. Nachdem sie eine Weile gefahren waren, spürte er plötzlich eine sanfte Berührung auf der Hand, die er auf seinem Oberschenkel abgelegt hatte. Erstaunt sah er zu Angelo herüber. Der wirkte ein wenig verlegen. „Tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein.“ Michael schob die Mundwinkel ein Stück nach oben. „Das warst du nicht. Ich … ich will nur helfen.“ „Das tust du bereits.“ Michael sah wieder nach vorn, ließ seine Hand aber, wo sie war. Die Stimme in seinem Hinterkopf beharrte zwar immer noch darauf, dass das hier der reinste Wahnsinn war, aber Michael zog es vor, sie zu ignorieren und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, wie sich Angelos Finger auf seinen anfühlten und wie sehr er seine Nähe genoss. Es mochte egoistisch und unvernünftig sein, aber es fühlte sich so gut an. So unglaublich gut, das er für eine Weile einfach vergessen wollte, was sie spätestens bei ihrer Ankunft erwarten würde.         Die Jalousien des Apartments waren heruntergelassen und ließen nur Spuren des unerbittlichen Sonnenlichts herein, das draußen die Temperaturen in Las Vegas auf ihr Mittagshoch zu bewegten. Hier drinnen herrschte ein schummriges Halbdunkel, das die umherliegenden Kleidungsstücke, nicht abgeräumten Teller und dreckigen Gläser zu Schatten ihrer selbst werden ließ. Ein schwerer Schreibtisch stand in Gesellschaft zweier aus allen Nähten platzender Bücherregale vor einem nur nachlässig geschlossenen Vorhang. Auf der Platte des Tischs lag ein wenig schräg ein aufgeschlagenes Buch. Es zeigte das Bild einer hundeähnlichen Kreatur, um dessen Hals sich eine rotglühende Kette wand. Cadejo, stand in antik anmutenden Buchstaben darunter. Der Cadejo erscheint in der Form eines riesigen, schwarzen Hundes mit Ziegenfüßen. Sein Name leitet sich vom spanischen Wort 'cadena' (Kette) ab, die er hinter sich herzieht. Ihm haftet ein strenger Geruch nach brennendem Schwefel und Urin an. Der Cadejo lauert des Nachts in dunklen Gassen und in der Nähe von Friedhöfen auf seine Opfer, die er zunächst in Angst und Schrecken versetzt, bevor er sie anfällt und tötet. Er ist ein Gesandter des Teufels, seine Augen und Ohren. Die bevorzugte Beute des Cadejos sind junge Männer, Betrunkene und Glücksspieler. Noch andere Bücher lagen in wirren Stapeln auf dem Tisch, so als hätte jemand etwas darin gesucht. Sie hatten Lücken in den Regalen gelassen, in denen sich neben Büchern auch einige andere Dinge fanden. Federn, Knochen, Kristalle und etwas in einem Einmachglas, das aussah, als wäre es mal ein sehr unglücklicher Frosch gewesen. Als die Tür geöffnet wurde, brach sich das Licht in einem Anhänger aus Rosenquarz.   Marcus trat ein und hatte ein weiteres Buch in der einen und einen frischen Becher Kaffee in der anderen Hand. Er las, während er durch den Raum ging und zielsicher allen Stolperfallen auswich, die sich auf seinem Weg befanden. Er wusste, dass er jetzt eigentlich schlafen sollte, doch seit seiner Heimkehr war er seinem Bett nicht nähergekommen als notwendig gewesen war, um sich aus dem Kleiderschrank ein frisches T-Shirt zu holen. Allein der Versuch sich hinzulegen wäre vergebene Liebesmüh gewesen. Er ließ sich in einen Sessel fallen und blätterte die nächste Seite auf, während er die Tasse zum Mund führte. In dem Buch war ein Wesen mit weißen Schwanenflügeln abgebildet und darunter stand eine lange Liste von Dingen, die Engel angeblich bewirkten. Unsterblich und wunderschön, konnten sie quasi alles von Zeitreisen über Wettermanipulation bis hin zu spontanen Heilungen aller Art. Marcus schnaubte innerlich bei den in die Zeilen eingewobenen Lobpreisungen. Für ihn standen Engel in etwa auf gleicher Stufe mit Dämonen. Übernatürliches Pack, das sich besser aus dem Leben der Sterblichen heraushalten sollte, wenn es nach ihm gegangen wäre. Es stand jedoch außer Frage, dass ihn a)niemand fragte und es b)besser war, sich auf unangenehme Überraschungen vorzubereiten. Dazu gehörte, seinen Feind ganz genau zu kennen, sowohl auf der einen wie auch auf der anderen Seite. „Engelsschwert … Engelsschrift … Engelsschild. Hier ist es ja.“ Er nahm noch einen Schluck Kaffee. „Ein Engelsschild besteht aus reiner Energie, die aus dem Engel selbst stammt. Es wird beschworen, um die Unschuldigen vor Gefahren zu schützen und alle Übel zurückzuwerfen. Ein Engelsschild ist undurchdringbar für Materie oder Zauber. Seine Größe richtet sich nach der Macht des ausübenden Engels.“ Er ließ das Buch sinken. Das Schild, das dieser Angelo beschworen hatte, war riesig gewesen. Man hätte einen Elefanten dahinter verstecken können, soweit Marcus das beurteilen konnte. Aber gleichzeitig zeigte er keine weiteren Anzeichen für irgendwelche anderen göttlichen Kräfte. Andernfalls wäre es ihm ein Leichtes gewesen, Marcus bereits am Abfeuern des Schusses zu hindern. Vermutlich hätte er ihn sogar mit Leichtigkeit töten können. Dass er es nicht getan hatte, legte den Schluss nahe, dass er entweder nicht mitbekommen hatte, was Marcus wirklich war, oder es war ihm schlichtweg egal gewesen. Oder er war kein Engel. „Ich werde einfach nicht schlau aus dem Burschen“, knurrte Markus und stürzte einen weiteren Schluck Kaffee herunter. Sein Blick glitt zu den beiden Koffern, die sich neben dem Sofa befanden. Sie gehörten diesem Michael Thompson, auf dessen Verhalten sich Marcus erst recht keinen Reim machen konnte. Was verbarg der Mann, der augenscheinlich ein ganz normaler Bürger war? Er hatte keine Vorstrafen; das hatte Marcus bei einer kurzen Stippvisite im Revier noch geprüft. Es gab lediglich einen älteren Unfallbericht, in dem dem Fahrer Drogenkonsum zur Last gelegt wurde, der Thompson als Zeuge aufführte. Der Mann besaß keine besonderen Kennzeichen, keine einflussreichen Beziehungen, nichts. Einzig die Tatsache, dass er als Vertreter für Süßwaren tätig war, hatte Marcus kurz eine Augenbraue hochziehen lassen. Soweit er wusste, waren Engel verrückt nach Zucker in jeglicher Form. Wahrscheinlich, weil sie sich im Himmel nur von Nektar und Ambrosia ernährten oder was auch immer. Jede Stubenfliege hatte mehr Selbstachtung, wenn Süßkram in der Nähe war. Blieb nur die Rückkehr zu diesem Alejandro. Der war, so weit war sich Marcus inzwischen sicher, ein Cadejo. Das Problem an der Sache war, dass diese Hundedämonen normalerweise eben genau das blieben: Hunde. Sie konnten nicht auf einmal als Mensch herumlaufen, auch wenn es Gerüchte gab, dass diese Kreaturen manchmal auf zwei Beinen kämpften. Natürlich gab es auch Dämonen, die menschliche Gestalt annehmen konnten. Vor allem diejenigen, die sowieso über eine humanoide Form verfügten, waren oft in der Lage, vorübergehend die Illusion eines ganz normalen Menschen zu erschaffen. Er selbst war einmal beinahe auf eine Cegua hereingefallen, einen Dämon, der sich die Gestalt einer attraktiven Frau mit langen, dunklen Haaren gab. Meist fand man ihn an Wasserstellen oder öffentlichen Brunnen, wo er vorgab, leicht bekleidet zu baden, nur um dann die sich nähernden Männer mit seinem wahren Anblick in den Wahnsinn zu treiben. Er selbst war noch ein Kind gewesen, als der Dämon versucht hatte, ihn vom Haus seiner Großmutter weg in den Wald zu locken. Allein die Tatsache, dass er sich darauf besonnen hatte, dass seine Mutter bereits tot war und somit nicht zwischen den Bäumen auf ihn warten konnte, hatte damals Schlimmeres verhindert. Er war sich auch ziemlich sicher, dass die bekannte Legende vom kopflosen Reiter in Wahrheit auf einen Akephalos zurückging, einen Dämon ohne Kopf, dessen Gesicht direkt zwischen seinen Schultern saß. Auch Mischwesen zwischen Menschen und Tieren waren bekannt wie etwa der stierköpfige Minotaurus oder die durch die modernen Märchen vollkommen verharmlosten Meerjungfrauen mit ihren Fischschwänzen. Und dann gab es eben reine Tierwesen wie den Cadejo, der sich seinen Platz mit einer ganzen Reihe absonderlicher Gestalten teilte, angefangen vom harmlosen Jackalope, einem Kaninchen mit einem Geweih, bis hin zu den ebenfalls romantisierten Drachen. „Vielleicht ist er ein Werwolf“, sinnierte Marcus. Aber die waren inzwischen so bekannt, dass jeder Depp wusste, wie man sie töten konnte, was die Zahl dieser Gestaltwandler auf ein Minimum reduziert hatte. Ähnliches galt auch für Vampire, wobei es eine nicht unerhebliche Anzahl von Dämonenwesen gab, die ebenfalls nach menschlichem Blut dürsteten. Die wirklich gefährlichen Dämonen waren jedoch jene, denen man nicht ansah, was in ihnen steckte, wenn man nicht wie Marcus die Gabe der Sicht hatte. Sie waren es, die die Welt langsam aber unaufhörlich in einen schlechteren Ort verwandelten. „Und momentan haben sie sich Las Vegas dafür ausgesucht.“ Die Rate an Gewalttaten und Drogendelikten war in den letzten Jahren in die Höhe geschnellt. So was kam immer wieder vor und deutete nach Marcus’ Erfahrung auf ein erhöhtes Dämonenvorkommen hin. Bisher hatte Marcus allerdings nicht herausfinden können, wer hinter all dem steckte. Er hatte einige niedere Kreaturen ausfindig machen können, jedoch aus keiner von ihnen brauchbare Informationen herausbekommen. Wer immer hier in Vegas die Fäden zog, die Dämonen hatten vor ihm mehr Angst als vor Marcus.   Marcus’ Blick fiel auf ein Foto, das auf dem Schreibtisch stand. Darauf war er mit seinen Großeltern zu sehen. Ein schlaksiger Junge mit unbändigen, schwarzen Haaren und einem mürrischen Gesichtsausdruck, der nur widerwillig in die Kamera blickte. An dem Anblick hatte sich eigentlich nicht viel geändert, nur dass man ihn heute vielleicht als „drahtig“ bezeichnen würde. Das Foto war kurz nach seinem 13. Geburtstag aufgenommen worden. Wobei er zu der Zeit nun wirklich allen Grund gehabt hatte, sauer aus der Wäsche zu gucken. Immerhin war ihm an dem Tag von seiner Großmutter offenbart worden, dass sein Vater kein Mensch war und er deswegen mit übersinnlichen Fähigkeiten gesegnet worden war. Marcus bezweifelte stark, dass das Ganze wirklich ein Segen war. Er ließ den Kopf zurücksinken und rieb sich mit den Fingern über die Augen. „Es passt alles vorne und hinten nicht zusammen. Ich werde diesem Alejandro wohl noch etwas auf den Zahn fühlen müssen, wenn ich weiterkommen will. Irgendwen in diesem verdammten Drecksloch werde ich doch zum Singen bringen können.“ Er wollte sich gerade erheben, um noch einmal seine Bibliothek zum Thema „Gestaltwandlung bei Dämonen“ zu durchforsten, als es an seiner Wohnungstür klopfte. Marcus’ aufkommende Müdigkeit war sofort wie weggeblasen. Er kannte so gut wie niemanden in der Stadt, wenn man von seinen Kollegen mal absah, pflegte keine Kontakte zu seinen Nachbarn und hatte auch keine weit entfernt lebenden Freunde, die zufällig vor seiner Tür stehen konnten. Das legte den Schluss nahe, dass der Besuch unangenehmer Natur war. Er griff hinter eines der Sofakissen und zog eine Pistole hervor. Mit zwei Schritten war er an der Türöffnung zum Flur und lauschte. Vor der Tür waren mindestens drei wenn nicht mehr Stimmen zu hören. Er schlich sich langsam in den Flur und drückte sich dort an die Wand. Der Türspion fiel ihm ins Auge. Vielleicht konnte er so herausfinden, wer dort draußen … „Komm schon. Wir wissen, dass du da drin bist. Wir können dich riechen.“ Marcus stockte für einen Augenblick der Atem. Das war der Cadejo. Wie hatte der ihn gefunden? Nun, diese Frage würde er auf später verschieben müssen. Das Interessante war, was er hier wollte. Und wer bei ihm war. Er wollte gerade die Waffe heben, als plötzlich die Wohnungstür mit lautem Krachen gegen die Wand flog, als wäre sie aus Pappe. Marcus blickte mit weit aufgerissenen Augen auf die Gestalt, die durch die Türöffnung trat. „Sieh an, der kleine Cop“, grinste Alejandro und sein Goldzahn blinkte im Licht der durch die Tür einfallenden Helligkeit. „Du hast nicht aufgemacht. Das hat mich ziemlich wütend gemacht. Und weißt du, was mich noch wütend gemacht hat? Dass du mich angelogen hast. Der Ángel ist überhaupt nicht im Gefängnis.“ Marcus wartete nicht ab, bis Alejandros Schergen die Wohnung betreten hatten. Er wirbelte herum und raste ins Wohnzimmer. Im nächsten Moment ging er zu Boden, als eine Gestalt direkt auf seinen Rücken sprang. Etwas fauchte über ihm. Er rollte sich herum und sah in das Gesicht eines ihm unbekannten Mannes, dessen Augen im Dunkeln zu leuchten schienen. Der Mann fauchte erneut und hieb mit der Faust nach seinem Gesicht. Marcus wich dem Schlag nur knapp aus. Er nahm seine Waffe und setzte sie dem Unbekannten von unten an die Kehle. Im nächsten Moment verteilte sich dessen Kopf in blutigen Fetzen auf Marcus’ Fußboden und ihm selbst. Der leblose Körper kippte zur Seite und Marcus strampelte sich unter den immer noch zuckenden Gliedmaßen hervor, um sich hastig rückwärtskriechend in Sicherheit zu bringen. Inzwischen waren nicht weniger als vier weitere Gestalten in den Raum getreten. Alejandro war einer von ihnen. Er knurrte wütend. „Du hast Kemen getötet. Dafür wirst du bezahlen.“ „War er auch ein Cadejo?“, fragte Marcus und schob sich langsam rückwärts. Er war sich inzwischen fast sicher, dass alle, die hier im Raum standen, Dämonen sein mussten. Der Gestank war überwältigend. Gegen so eine große Anzahl hatte er keine Chance. Er musste sich etwas einfallen lassen. Alejandro grinste. „Ah, nicht so dumm, wie du aussiehst. Nein, er war keiner von uns. Ein Balam.“ Marcus hatte von dieser Art Dämon noch nie gehört, aber er war sich sicher, dass es etwas Unangenehmes sein musste. Er hatte inzwischen den Couchtisch fast erreicht und auf dem befand sich etwas, das er unbedingt erreichen wollte. Alejandro schien inzwischen zum Plaudern aufgelegt zu sein. „Nachdem du nun also weißt, wer wir sind, wäre es da nicht höflich, dich uns auch vorzustellen?“ „Wozu?“, fragte Marcus und spürte die Kante des Tisches in seinem Nacken. „Ihr wollt mich doch sicherlich ohnehin töten.“ Alejandro schnaubte belustigt. „Als ob uns das etwas nutzen würde. Nein, wir wollen von dir nur wissen, wo unser Ángel ist, dann lassen wir dich in Ruhe.“ „Dann ist er also wirklich ein Engel?“ Zeit. Er brauchte Zeit. Der Goldzahn schimmerte auf. „Ich dachte, das wäre dir inzwischen klar. Kennst dich doch mit denen aus, oder?“ Marcus antwortete nicht. Stattdessen sprang er auf, griff nach der Dose, die auf dem Tisch stand, und schüttete den Inhalt großzügig um sich herum. Mit einem triumphierenden Grinsen zeigte er dem verblüfften Alejandro die Dose. „Siehst du das, Cadejo? Das ist Salz. Jetzt könnt ihr warten, bis ihr schwarz werdet. Aus mir bekommt ihr nichts raus.“ Alejandro sah ihn für einige Augenblicke einfach nur an. Dann begann er schallend zu lachen. Marcus sah zwischen ihm und seinen Kumpanen hin und her, die sich ebenfalls gut zu amüsieren schienen. Sie waren allesamt hispanischen Ursprungs, wenngleich die anderen drei jedoch wesentlich größer waren als ihr Anführer. Das ließ Marcus vorsichtig werden. Hatte er den Dämon etwa unterschätzt? Alejandro wischte sich derweil die Lachtränen aus den Augen. Er grinste. „Weißt du, du machst mir Spaß. Ich sollte dich vielleicht behalten. Als Haustier. Hab gehört, ihr seid ziemlich selten.“ Sein Grinsen wurde breiter. Marcus versuchte, sich nicht provozieren zu lassen. Er wusste, dass ihm innerhalb des Salzkreises nichts passieren konnte. Da mussten die Dämonen schon das Haus abreißen oder zumindest die Decke unter ihm einstürzen lassen. Und so mächtig waren sie nicht. Hoffte er.   Alejandro begann derweil, sich im Zimmer umzusehen. Dabei schnüffelte er wie ein richtiger Hund. Er betrachtete Marcus’ Bücherregale, schmunzelte, als er die Abbildung des Cadejo entdeckte und betrachtete eine Weile das Foto, bevor er es achtlos zur Seite warf. Marcus ballte die Fäuste, als er das Glas des Rahmens splittern hörte. Er konnte hier nicht weg und musste alles hilflos mitansehen. Plötzlich fiel sein Blick auf die Koffer, die neben dem Sofa standen. Das Blut gefror in seinen Adern, als er sah, dass an dem größeren der beiden ein Adressanhänger hing. Thompson würde doch nicht so dumm gewesen sein … „Mhm, was haben wir denn da?“ Alejandro hatte den Koffer nun ebenfalls entdeckt. Er hielt den Anhänger nach oben. „Michael Thompson. Aus Salt Lake City. Ist ja interessant.“ Er riss den Anhänger ab und steckte ihn ein. „Er wird nicht dort sein“, versuchte Marcus ihn abzulenken. „Er wäre verrückt, wenn er einfach mit dem Engel zu sich nach Hause fahren würde.“ Alejandros Grinsen wurde breiter, als ein menschliches Gesicht es eigentlich zulassen sollte. „Meinste? Wenn er schlau ist, tut er's nicht. Aber vielleicht sollten wir trotzdem mal nachsehen. Nur zur Sicherheit.“ Er trat jetzt ganz nahe an Marcus heran, bis er direkt am Rand des Salzkreises stand. „Ich rate dir eins. Komm uns nicht in die Quere. Wenn wir dich das nächste Mal sehen, reißen wir dich in Stücke.“ Er hob die Hand und tätschelte Marcus die Wange, bevor er sich umdrehte und etwas auf Spanisch knurrte, woraufhin sich die anderen drei in Bewegung setzten. Marcus blieb allein zurück mit der kopflosen Leiche und dem Geruch nach verbranntem Hundehaar. Das zu erklären würde sicherlich nicht ganz einfach werden. Die Spezialmunition, mit der er dem Dämon in die Umlaufbahn gepustet hatte, war nicht unbedingt etwas, dass man einfach so im nächsten Waffenladen um die Ecke bekam. Er griff sich an die Wange, der noch der Gestank des Cadejo anhaftete. Er rieb sich darüber, als er plötzlich in der Bewegung stockte. Er hatte ihn … angefasst. Das sollte eigentlich nicht möglich sein. Marcus’ Kopf ruckte nach unten und inspizierte den Salzkreis, aber der war undurchbrochen. Trotzdem hatte ihn der Dämon übertreten, als wäre er nichts. „Das ist nicht möglich. Salz hält sie auf. Er hätte nicht … Er …“ Das Wohnzimmer schien plötzlich zu schwanken. Mit letzter Kraft ließ sich Marcus auf das Sofa fallen. Er stützte den Kopf in die Hände und versuchte, seine verwirrten Gedanken zu ordnen. Das Ganze überstieg deutlich seine Fähigkeiten. Sicherlich, sie hatten ihn am Leben gelassen, aber das nächste Mal würde er nicht so glimpflich davon kommen. Und Dämonen, die einfach so Salzbarrieren überwanden und noch dazu unbedingt diesen Engel in die Finger kriegen wollten, das konnte er nicht einfach ignorieren. Aber er würde ihnen nicht alleine beikommen können. Er brauchte Hilfe und die würde er nur an einer Stelle bekommen. Von einem Mann, den er mehr hasste, als alles andere auf dieser Welt. Dem Mann, der seine Mutter auf dem Gewissen hatte. Marcus griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer. Es dauerte ziemlich lange, bis jemand abnahm. Am anderen Ende meldete sich eine Männerstimme, die Marcus aus tausenden wiedererkannt hätte. „Ja?“, sagte sie lediglich. Marcus presste die Kiefer aufeinander. Er hatte sich geschworen, ihn nie wieder zu sehen, aber jetzt blieb ihm keine Wahl. „Hi, Dad.“         Kurz bevor sie die Stadt erreichten, setzte Michael den Blinker und nahm die Ausfahrt, die sie zum Parkplatz des Great Saltair ganz in der Nähe des großen Salzsees brachte. Vor ihnen lag eine weite, wüste Ebene, auf der in der Ferne das blaugrüne Wasser in der Sonne schimmerte. Wenn man so hinaussah, konnte man kaum glauben, dass man sich schon kurze Zeit später am inmitten einer Berglandschaft befinden würde, an deren Ausläufern sich eine riesige Stadt malerisch ins Bild einfügte. Er wusste nicht genau, warum er irgendwann von der Interstate abgebogen und einer relativ wenig befahrenen Strecke zwischen Feldern und Bergen gefolgt war. Vielleicht, um die Landschaft zu genießen. Vielleicht, weil die Fahrt so noch ungefähr eine Stunde länger dauerte. Vielleicht, weil er gewusst hatte, dass er vorher noch einmal anhalten musste, um mit Angelo zu sprechen. Vielleicht, weil er den richtigen Rahmen dafür gebraucht hatte. Vielleicht alles zusammen oder nichts davon. Er stellte den Motor ab. Angelo kaute auf einer roten Lakritzstange herum. Als er Michaels Blick bemerkte, legte er die Süßigkeit weg und schluckte den letzten Rest herunter. „Ja?“, fragte er, als wüsste er genau, dass Michael nur angehalten hatte, um mit ihm zu sprechen. „Ich … ich dachte, wir vertreten uns nochmal die Beine, bevor wir ankommen.“ Der Satz machte überhaupt keinen Sinn, aber Angelo stieg trotzdem gehorsam aus dem Auto und folgte Michael zum Rand des Parkplatzes. Der körnige Sand knirschte unter Michaels Schuhen, während Angelos Schritte vollkommen lautlos waren. Sein Humpeln war inzwischen verschwunden. Es war warm und ein leichter Wind strich über sie hinweg. Auf einem Grünstreifen blühten irgendwelche Wildblumen, deren würziger Duft zu ihnen herüber getragen wurde. Michael warf noch einen Blick auf den einsamen Konzertsaal, den man hier mitten im Nirgendwo erbaut hatte. Das Ding sah mit seinen Zwiebeldächern ein bisschen so aus, als hätte irgendein arabischer Scheich sich hier niedergelassen. Der Himmel wusste, was sich die Erbauer dabei gedacht hatten, das Ding ausgerechnet hierher zu setzen. „Ich … Wir müssen reden“, rang sich Michael schließlich zu einem Anfang durch. Angelo stand ein Stück neben ihm und sah auf die weite, weißgraue Ebene hinaus. „Worüber?“, fragte er. „Ich ...“ Es wurde einfach nicht besser, je länger er es hinauszögerte. „Ich bin verheiratet.“ Jetzt war es endlich heraus. Michael warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf Angelo, der immer noch die Eindrücke der Landschaft in sich aufzunehmen schien. Leise sprach Michael weiter. „Meine Frau … Gabriella. Ich liebe sie und ich … ich möchte ihr nicht wehtun.“ Jetzt drehte sich Angelo doch zu ihm herum. „Warum fürchtest du, dass du das tun wirst?“ „Weil …“ Michael rang nach Worten. „Weil wir … eine Vereinbarung haben, sie und ich. Sie weiß, dass ich manchmal die Gesellschaft von jungen Männern suche, wenn du verstehst, was ich meine. Wir … wir haben darüber gesprochen. Es war eine schwierige Zeit, aber sie hat es irgendwann akzeptiert und ist damit einverstanden, dass ich ...“ Er verstummte kurz und sah Angelo ein wenig hilflos an. Der zeigte keinerlei Regung, sondern hörte ihm einfach nur weiter zu. Michael gab sich einen Ruck „Das Ding ist, dass ich ihr versprochen habe, dass ich diese Sache nicht vor unserer Haustür auslebe. Sie hat gesagt, es sei okay, aber sie wolle nicht, dass die Nachbarn davon erführen, und sie wolle es auch selbst nicht mitbekommen. Aber jetzt …“ „Jetzt hast du mich mitgebracht“, beendete Angelo den Satz. Sein Ton war freundlich und keinesfalls vorwurfsvoll. Trotzdem fühlte Michael sich schrecklich. Angelo legte den Kopf ein wenig schief. „Möchtest du, dass ich gehe?“ „Nein!“ Die Antwort hatte Michaels Mund verlassen, bevor er auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht hatte. Die Vorstellung, Angelo zu verlieren, war fürchterlich. Er kannte ihn keine 24 Stunden und doch bereitete ihm der Gedanke, ihn wieder aus seinem Leben zu entfernen, körperliche Schmerzen. Es war wundervoll und beängstigend zugleich. Angelo trat einen Schritt näher. Sein Kopf neigte sich zur anderen Seite und seine Lippen zeigten ein winziges Lächeln. „Dann werde ich nicht gehen.“ „Aber wenn ich dich mitnehme ...“ „Werden wir einen Weg finden.“ Der Junge klang so sicher, dass Michael sich automatisch etwas entspannte. Er drehte sich zu Angelo herum und sah ihm in die Augen. Jetzt, da er es endlich ausgesprochen hatte, schien ein ganzer Steinbruch von seinen Schultern gefallen zu sein. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie nahe sie beieinander standen. An einem Ort, an dem niemand außer ihnen beiden war. Es ließ Michaels Herz schneller schlagen. Er trat noch einen Schritt näher an Angelo heran, sodass sie sich fast berührten. Zögernd hob er eine Hand und streichelte damit ganz leicht über Angelos Wange. Die blauen Augen schienen ihn festzuhalten, ihn immer weiter zu dem blonden Jungen zu ziehen, bis er nicht mehr weiter widerstehen konnte. Sein Blick glitt zu Angelos Mund. „Ich … ich würde dich gerne küssen“, flüsterte er. „Erlaubst du es mir?“ Statt einer Antwort schlang Angelo seine Arme um Michaels Nacken und zog ihn zu sich herab. Als ihre Lippen sich berührten, konnte Michael noch Spuren der Lakritzstange an ihm schmecken. Vorsichtig kostete er die süßen Lippen. „Du schmeckst nach Erdbeere“, sagte er leise. Angelo lächelte gegen seinen Mund. „Ich glaube, es sollte Kirsche sein.“   An diesem Punkt endeten die Worte. Michael zögerte noch einen winzigen Moment, bevor er sich vorlehnte und in den Kuss fallen ließ. Ihm war, als würde er aus einem Flugzeug springen. Sein Magen sackte ihm in die Knie und er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Seine Arme schlossen sich um Angelo und hielten ihn fest, als fürchtete er, dass der Wind ihn vielleicht sonst davonwehen könnte. Das sanfte Streicheln ihrer Lippen schien ewig zu dauern. Es war alles und gleichzeitig nicht genug. Als Angelo schließlich den Mund öffnete, wagte Michael sich ein Stück weiter vor. Er fuhr mit der Zunge langsam über die unausgesprochene Grenze und wurde ebenso vorsichtig empfangen. Angelo ließ seine Zungenspitze über Michaels Unterlippe gleiten und fing diese dann sanft zwischen seinen eigenen Lippen ein. Die Berührung ging Michael durch und durch. Er unterbrach den Kuss und sah sich um. An einer Stelle, die etwas tiefer lag als der Rest der Ebene, hatte der Wind feinen Sand zwischen hohen Gräsern angehäuft. Es wirkte wie eine Einladung. „Komm.“ Er nahm Angelos Hand und führte ihn zu dem Fleckchen Strandersatz. Er ließ sich zu Boden sinken und zog Angelo mit sich. Kaum, dass sie im warmen, weichen Sand lagen, hatte er schon wieder seinen Mund auf Angelos gelegt. Immer noch vorsichtig wagte er, den Kuss ein wenig zu vertiefen. Angelo kam dem entgegen, reagierte auf die Berührung und plötzlich erwischte Michael sich dabei, wie er ihm die Hand unter das T-Shirt schob. Die warme Haut unter seinen Fingern erbebte unter einem schnellen Herzschlag und Angelos helle Wangen hatten sich ein wenig gerötet. Er sah Michael mit glänzenden Augen an. Im nächsten Moment richtete er sich auf und zog sein T-Shirt über den Kopf. Die drei Narben glänzten weiß im Sonnenschein. „Du auch“, verlangte er und zupfte an Michaels Polo-Shirt. Wo soll das nur hinführen, dachte Michael, während er sich ebenfalls halb entblößte. Angelos Finger glitten über seinen Oberkörper. Er folgte der Bewegung mit den Augen. „Du bist stark“, sagte er und fuhr bewundernd am Rand von Michaels Brustmuskulatur entlang. Als er eine der Brustwarzen streifte, atmete Michael scharf ein. Die Berührung schickte einen Schauer durch sein Rückgrat und direkt zwischen seine Beine. Angelo lächelte. Im nächsten Augenblick hatte Michael ihn zu Boden gedrückt und erstickte dieses unschuldige Lächeln mit einem leidenschaftlichen Kuss. Er lehnte sich über den schmalen Körper, während seine Hände daran herabglitten. Seine Finger gruben sich in Angelos Seite und zogen ihn näher an sich. Er hörte den Jungen keuchen, als er ihm seinen Oberschenkel zwischen die Beine schob. Michael nutzte die Gelegenheit, um den Kuss noch tiefer werden zu lassen. Er wollte nicht mehr vorsichtig sein. Er wollte Angelo in Besitz nehmen und ihm zeigen, wie sehr er ihn begehrte. Wie sehr es ihn anmachte, wenn er sich unter ihm wand, während sich sein Schwanz an Michaels Bein rieb. Hart und unnachgiebig wie Michaels eigene Erektion, die sich gegen Angelos Hüfte drückte. Michael spürte, wie eine Hand über seinen Bauch in diese Richtung wanderte. Er zögerte nicht, es Angelo gleichzutun. „Willst du?“, fragte er atemlos, als er am Rand des Stoffs angekommen war, und der Junge nickte nur. Mit fliegenden Fingern öffnete Michael die enge Jeans und zerrte sie ein Stück nach unten, um endlich an das Objekt seiner Begierde zu kommen. Als es samtig und fest in seiner Hand lag, begann er langsam zu pumpen. Angelos Augen schlossen sich und er legte den Kopf zurück in den Sand. Sein Mund stand offen und ein leises Stöhnen kam über seine Lippen. „Michael.“ In diesem Moment dachte Michael nicht mehr nach. Er senkte den Kopf und nahm Angelos pulsierende Erektion in sich auf. Finger krallten sich in seine Schulter und ein erstickter Laut kündete von Angelos Überraschung. Michael ließ ihn nicht zu Atem kommen. Er fuhr mit der Zunge über den Schaft und saugte kurz an der empfindlichen Spitze, bevor er sich wieder vollkommen über ihn gleiten ließ. Auf und ab bewegte er seinen Kopf, während er Angelo weiter und weiter in Richtung Höhepunkt trieb. Kurz bevor es soweit war, zog er sich zurück und beendete mit der Hand, was er angefangen hatte. Als Angelo kam, bäumte sich sein Körper auf und weiße Leidenschaft ergoss sich schubweise zwischen Michaels Finger. Er hätte sie am liebsten abgeleckt. Hätte gern gekostet, wie der Junge schmeckte und ob sein Samen ebenso süß war wie sein Mund. Aber er besann sich und zog stattdessen ein Taschentuch heraus, um sich und Angelo zu reinigen. Anschließend warf er es fort und ließ sich neben den Jungen in den Sand gleiten. Selbst immer noch voller unbefriedigter Leidenschaft, strich er ihm eine der blonden Strähnen aus dem Gesicht. „Du bist wunderschön“, wisperte er und verhinderte jede mögliche Antwort mit einem Kuss. Erst, als er merkte, dass Angelos Erregung langsam abflachte, entließ er ihn aus seiner Umklammerung. Angelo öffnete die Augen und sah zu ihm auf. „Das war ...“ Michael lächelte nachsichtig. „Hat es dir gefallen?“ „Sehr.“ Angelo biss sich auf die Lippen und senkte die Lider auf Halbmast. „Soll ich ...“ Michael küsste seine Stirn. „Nein. Irgendwann vielleicht mal, aber jetzt würde es mir genügen, wenn du ...“ Er sprach nicht weiter, aber Angelo verstand ihn auch so. Weitaus geschickter als noch beim ersten Mal schlossen sich kurz darauf seine Finger um Michaels Erektion, sodass auch er nicht lange brauchte, bis er mit Angelos Namen auf den Lippen kam. Als es vorbei war, küsste er ihn sanft. „Ich weiß gar nicht, womit ich dich verdient habe.“ Angelo antwortete nicht darauf. Er schmiegte sich an Michael und für einen Augenblick genossen sie noch den Sand, den Wind und die Stille, bevor sie die Wirklichkeit in Form eines Wohnmobils einholte. Zwei Kinder stürzten schreiend daraus hervor, kaum dass es angehalten hatte, und Michael beeilte sich, sich wieder in einen vorzeigbaren Zustand zu bringen, bevor er sich hinsetzte und so tat, als würde er einfach nur die Aussicht genießen. Angelo folgte seinem Beispiel und gemeinsam saßen sie höchst sittsam nebeneinander, als die Frau Michael bat, doch mal ein Foto von ihnen allen zu machen. Er tat ihr den Gefallen, während Angelo schon zum Auto schlenderte. Als Michael hinter das Steuer glitt, hatte er bereits wieder eine Lakritzstange im Mund und die sandverkrusteten Füße auf den Sitz gestellt. Michael sah es und kam nicht umhin zu bemerken, dass sogar dieser Teil von Angelo irgendwie hübsch war. Er machte sich normalerweise nichts aus Füßen, aber in diesem Moment konnte er sich ohne Probleme vorstellen, mit Genuss daran herumzuknabbern. Eine perverse und gleichzeitig irgendwie anregende Idee. Wahrscheinlich werde ich jetzt ganz einfach verrückt, dachte er bei sich, während er den Wagen startete, um sie nun endlich nach Hause zu Gabriella zu bringen. Er konnte es kaum noch erwarten, sie wiederzusehen.   Kapitel 5: Mittelmeerblau ------------------------- Als sie in die Straße einbogen, in der sein Haus lag, ließ Michael den Wagen langsamer werden. Es war, als wäre ihm jetzt erst klar geworden, was er gerade im Begriff war zu tun. Er sah die Häuser der Nachbarn mit den gepflegten Gärten und den großen Doppelgaragen. Vor einem halben Jahr waren an der Ecke eine Familie mit Kindern eingezogen. Die Gegend war dafür prädestiniert. Es gab Schulen, ein Schwimmbad, einen Park, in dem man sich am Wochenende zum Picknick traf, und natürlich eine Kirche. In Salt Lake City gab es immer eine Kirche. Man konnte quasi keine zwei Straßen weit fahren, ohne wieder auf eine zu stoßen. Immerhin stellte die Stadt das Glaubenszentrum der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ dar, wie sich die Anhänger des Buches Mormon selbst betitelten. Michael hatte mit all dem nie viel am Hut gehabt. Es lies sich allerdings nicht leugnen, dass sie als Nachbarn sehr angenehme Leute waren. Und mitten unter diese netten Menschen mit ihrem Gerede von Liebe, Harmonie und Rechtschaffenheit brachte er jetzt einen barfüßigen Jungen, den er irgendwo auf einem Hinterhof in Las Vegas aufgelesen hatte. Mit dem er Sex gehabt hatte. Zweimal. Hätte er sich rot angemalt und hätte nackt mit Teufelshörnern auf dem Kopf durch die Straße getanzt, hätte es vermutlich nicht schlimmer sein können. Er warf einen Blick zu Angelo. Der Junge sah aus dem Fenster und betrachtete seine Umgebung ganz genau. Michael räusperte sich. „Also wenn wir gleich ankommen, wäre es vielleicht gut, wenn du zuerst einmal im Wagen bleibst. Ich werde meine Frau erst ein wenig darauf vorbereiten müssen, dass ich einen … Gast mitgebracht habe.“ Michael hätte gerne noch hinzugefügt, dass er keine Angst zu haben brauchte, aber es wäre eine Lüge gewesen. Er hatte ja selbst eine Scheißangst davor, wie Gabriella reagieren würde. Diese Frau war sein Ein und Alles, sein Lebensglück. Nur dass er jetzt gerade vorhatte, dieses Glück mit einem Schlaghammer zu bearbeiten. Michael stoppte den Wagen vor der Garage und stellte den Motor ab. Er konnte sehen, dass sie zu Hause war. Die Fenster im ersten Stock waren geöffnet und er bildete sich ein, dass er von irgendwo Musik hörte. „Ich … ich bin gleich wieder da“, versprach er Angelo, bevor er ausstieg und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Mit langsamen Schritten ging er auf das Haus zu. Es war im Grunde genommen zu groß für sie zwei. Mit vier geräumigen Schlafzimmern, von denen sie eines in ein Büro und eines in einen Fitnessraum umgebaut hatten, den zwei Badezimmern und dem riesigen Wohnzimmer mit der offenen Küche, von dem man einen wunderbaren Blick auf den Garten mit dem eingelassenen Pool hatte, hätte es locker die doppelte Personenzahl beherbergen können. Gabriella hatte es über Beziehungen bekommen. Als Immobilienmaklerin musste man sich über so etwas natürlich keine Sorgen machen, auch wenn der Mann nicht eben die große Kohle nach Hause brachte. Michael öffnete die Haustür und ging hinein. Es war ein gutes Gefühl nach Hause zu kommen trotz allem. Er ging durch den kurzen Flur und fand Gabriella in der Küche, wo sie sich gerade etwas zu trinken eingeschenkt hatte. Als sie seine Schritte hörte, drehte sie sich um. „Michael.“ Das Erstaunen in ihrem Gesicht wich sogleich einem strahlenden Lächeln. „Du bist schon zurück?“ „Ja.“ Er blieb am Rand der Küche stehen und betrachtete sie für einen Augenblick. Sie war eine schöne Frau, zierlich, aber weiblich, mit langem, dunkelbraunem Haar, das ihr normalerweise in sanften Wellen um die Schultern fiel. Jetzt hatte sie es hochgebunden und auch ihre Kleidung ließ Michael vermuten, dass sie gerade Sport getrieben hatte. Die auberginefarbene Hose, die eine Handbreit über ihrem Knöcheln endete, fiel locker um ihre Hüften und ließ ihre Taille, die unbedeckt unter dem engen, schwarzen Top saß, noch schlanker wirken. Ihre festen Brüste wurden von dem Oberteil leicht angehoben und Michael kam nicht umhin, ihnen einen kurzen, bewundernden Blick zu schenken, bevor er ihr wieder in die Augen sah. „Ich hatte noch gar nicht mit dir gerechnet“, sagte Gabriella und stellte das Glas ab, bevor sie zu ihm herüberkam und ihm einen Kuss auf den Mund drückte. Er musste sich dafür zu ihr herunterbeugen und legte automatisch den Arm um sie, um sie an sich zu ziehen. „Ich habe dich vermisst“, murmelte er in ihr Haar und sog ihren Duft in sich auf. Es stimmte wirklich. Er hatte sich danach gesehnt, sie wiederzusehen. An anderen Tagen hätte er sie jetzt vielleicht auf den Arm genommen und ins Schlafzimmer entführt, aber heute ging das nicht. Heute hatte er noch eine andere Verpflichtung. „Wie war die Reise?“, fragte sie und lächelte ihn an. „Hast du was verkauft?“ „Mhm, ging so. Die Leute sind nicht eben aufgeschlossen, wenn es um deutsche Süßigkeiten geht. Ich glaube, die haben alle einen Lakritzschaden.“ Sie lachte. „Oh, mein armer, geplagter Mann. Wie wäre es, wenn wir es uns dafür heute Abend so richtig nett machen. Ich wollte nachher noch einkaufen gehen. Wenn du möchtest, kann ich was zum Barbecue mitbringen.“ „Das wäre toll“, antwortete er und wurde mit jedem Augenblick unruhiger. Er musste es ihr jetzt irgendwie erzählen, aber wie? Sie hatte inzwischen angefangen, den Inhalt des Kühlschranks zu inspizieren. Dabei summte sie vor sich hin und machte sich vermutlich im Kopf Notizen, was sie einkaufen wollte. Gabriella konnte das, während er schon einen Zettel brauchte, wenn er mehr als drei Dinge besorgen sollte. „Schatz“, begann er schließlich, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Ich … ich muss dir etwas sagen.“ Er sah, wie die Fingerknöchel der Hand, die sie um die Kühlschranktür gelegt hatte, weiß wurden. Hatte sie schon etwas geahnt? „Ist was passiert?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen. „Nein“, beeilte er sich zu versichern. „Oder doch, ja, aber nichts ...“ Nichts schlimmes, wollte er sagen, aber er war sich nicht sicher, ob das auch die Wahrheit war. Als sie sich umdrehte, war ihre Miene undurchdringlich. Sie warf ihm einen Blick zu, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte, bevor sie sich wieder um ein Lächeln bemühte. „Na dann rück mal raus mit der Sprache. Was hast du angestellt?“ Michael stand immer noch neben dem Küchentresen und kam sich seltsam verloren vor. Er wusste nicht wohin mit seinen Händen, und widerstand nur mühsam dem Drang, mit dem Autoschlüssel herumzuspielen, der neben ihm auf dem Tisch lag. Ihm fiel auf, dass er ihr normalerweise immer etwas mitbrachte, wenn er nach Hause kam. Entweder ein Mitbringsel von der Reise oder wenigstens ein paar Blumen. Das hatte er dieses Mal vergessen. Oder auch nicht, wie man es nahm. „Also weißt du, die Sache ist die. Ich war … in Vegas.“ Plötzlich hatte er Angst weiterzureden. Was, wenn sie es nicht verstand? Wenn sie ihm nicht zuhörte und ihn stattdessen rauswarf? Er dachte an Angelo, der draußen im Auto saß und straffte sich. Er konnte sich nicht verhalten wie ein Baby. Wenn sie ihn dafür hassen würde, würde es nicht besser werden, wenn er noch lange um den heißen Brei herumredete. „Ich habe dort jemanden kennengelernt.“ Als er sah, dass die Farbe aus ihrem Gesicht wich, hob er beschwichtigend die Hände. „Nein, nicht so. Ich will nicht … Ich habe nicht … Es war nur …“ „Er hat mich gerettet.“ Michael fuhr herum. Dort, mitten in seinem Wohnzimmer, stand Angelo und sah an ihm vorbei zu Gabriella. Er lächelte vorsichtig. Sie starrte den Jungen an, bevor ihr Blick zu Michael glitt. In ihrem Gesicht stand vollkommene Fassungslosigkeit. „Wer … wer ist das?“ Er atmete tief durch. „Das … ist Angelo. Seinen wahren Namen kennen wir nicht, aber irgendwie musste ich ihn ja nennen, also ...“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. Angelo trat einen Schritt näher. „Michael hat mich gerettet“, wiederholte er. „Ohne ihn wäre ich jetzt vielleicht nicht mehr am Leben.“ „Was?“ Gabriella hatte anscheinend beschlossen, den Jungen, der nicht da sein konnte, zu ignorieren, und wandte sich wieder an Michael. „Ich verlange eine Erklärung. Was macht er hier?“ Michael hob erneut die Hand und deutete auf die Couch. „Vielleicht sollten wir uns setzen, dann ...“ „Ich will mich aber nicht setzen. Ich will wissen, was hier los ist?“ In Gabriellas Augen war ein warnendes Funkeln erschienen, das Michael anzeigte, das er besser schnell redete. Das hier lief überhaupt nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Wobei er sich eigentlich auch davor gedrückt hatte, es sich vorzustellen. „Also schön, ich erklär's dir. Aber bitte hör mir bis zum Ende zu, bevor du nach den Messern greifst.“ Er atmete noch einmal tief durch und berichtete dann davon, was sich am Abend zuvor zugetragen hatte. Wie er nach dem Gewinn im Casino auf Umwegen in dem Hinterhof gelandet war, in dem Angelo gefangen gehalten worden war, und dass er ihn anschließend mit ins Hotel genommen hatte. An dieser Stelle unterbrach Gabriella ihn. „Aber warum seid ihr nicht zur Polizei gegangen? Die hätten sich doch darum kümmern können.“ „Weil …“ Michael warf einen Blick auf Angelo. Konnte er das erzählen oder wäre es dem Jungen peinlich? „Diese Typen hatten ihm was gegeben und er war ziemlich … neben der Spur. Ich hatte Angst, dass ihm im Gefängnis was passiert.“ „Was hätte ihm denn da passieren sollen?“ „Eine Vergewaltigung zum Beispiel?“ Gabriella klappte den Mund auf, wahrscheinlich um ihm zu sagen, dass das ausgemachter Blödsinn war, aber dann zögerte sie plötzlich. Sie sah Michael an, bevor sie in Angelos Richtung blickte. Er konnte förmlich sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Plötzlich wurden ihre Augen groß. „Sag nicht, dass ...“ „Ja. Sie hatten ihm irgendwelche Sexdrogen gegeben. Er war vollkommen willenlos. Die hätten ihn im Knast total auseinander genommen. Das konnte ich nicht zulassen.“ „Und stattdessen hast du dich um das Problem gekümmert?“ Es war vermutlich nicht so gemeint, wie Michael es verstand, aber die Wirkung des Kommentars blieb trotzdem nicht aus. Er merkte, wie seine ohnehin schon windige Verteidigung ins Wanken geriet. „Ich … ich wollte es nicht. Es ist einfach so passiert. Und dann ist am nächsten Morgen dieser Polizist aufgetaucht und ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Da bin ich einfach ins Auto gestiegen und losgefahren und … habe Angelo mitgenommen.“ „Du bist vor der Polizei geflohen?“ Michael schrumpfte in sich zusammen. „Er hat auf uns geschossen“, gab er kleinlaut zu bedenken, aber das zählte offensichtlich nicht besonders viel. Tiefdruckgebiet Gabriella hatte sich erfolgreich zusammengebraut und entließ nun ihre gesamte, aufgestaute Schlechwetterlage über seinem Kopf. „Was fällt dir eigentlich ein?“, fauchte sie ihn an. „Dass du mit dem Jungen ins Bett gestiegen bist, kann ich ja so gerade noch nachvollziehen, aber ihn hierher mitzubringen? In unser Haus? Und noch dazu, wo die Polizei hinter ihm her ist. Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Das wird uns in Teufels Küche bringen. Du gehst jetzt sofort ins nächste Revier und klärst das und dann ...“ „Bitte, keine Polizei.“ Angelos Stimme war leise, aber er brachte es trotzdem fertig, Gabriella für einen Augenblick aus dem Konzept zu bringen. Sie klappte den Mund auf, um noch etwas zu sagen, aber er fuhr bereits fort. „Wenn Sie möchten, dann gehe ich, Mrs. Thompson. Ich wollte ihnen wirklich keine Umstände machen. Es ist nur … ich weiß nicht, wo ich hingehen soll. Ich habe sonst niemanden.“ Angelos große, blaue Augen schienen um Verzeihung zu bitten. Gabriella blinzelte. „Wie meinst du das, du hast niemanden? Was ist denn mit deinen Eltern?“ Angelo hob die Schultern. „Ich erinnere mich nicht. Der einzige Mensch, den ich kenne, ist Ihr Mann.“ Er warf Michael einen Blick zu. Es war kein verschwörerisches Zuzwinkern sondern eher eine Art Rückversicherung. Für wen von ihnen beiden, war sich Michael in diesem Augenblick nicht ganz sicher. „Amnesie?“, fragte Gabriella jetzt. Ihr Ton schwankte irgendwo zwischen besorgt und misstrauisch. „Das kannst du doch deiner Großmutter erzählen. Raus mit der Sprache. Was hast du ausgefressen?“ „Er weiß es wirklich nicht“, kam Michael Angelo jetzt zur Hilfe. „Wenn er wenigstens eine Adresse oder irgendwas gehabt hätte, hätte ich ihn hingebracht. Stattdessen hatten wir lediglich einen schießwütigen Cop auf den Fersen. Er und sein Kollege haben uns gestern Abend ins Hotel gebracht.“ Gabriella runzelte die Stirn und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Lippen. „Das heißt, die Polizei weiß von ihm?“ „Ja.“ „Und sie haben unsere Adresse?“ „Ja.“ „Und es ist euch niemand gefolgt? „Nein.“ „Mhm.“ Gabriella begann, in der Küche auf und ab zu laufen. Dabei murmelte sie auf Italienisch vor sich hin. Michael verstand kein Wort davon, aber als sein Blick auf Angelo fiel, zeigte der ein leichtes Lächeln. Als er Michaels Blick bemerkte, wurde es breiter. „Tua moglie è una pirata.“ Gabriella blieb stehen und sah ihn erstaunt an. „Tu parli italiano?“ „Sì.“ Es war nicht abzusehen, ob diese Eröffnung Gabriella irgendwie beeinflusste. Die Tatsache, das sein Kopf noch auf seinen Schultern saß und auch noch kein Mobiliar zu Bruch gegangen war, nahm Michael aber als ein gutes Zeichen. Offensichtlich kam Gabriella besser damit klar, als er zu hoffen gewagt hatte. Das hieß jedoch nicht, dass sie ihm nicht später noch die Hölle dafür heiß machen würde. Als hätte sie seine Gedanken gehört, lächelte sie Angelo zuckersüß an. „Würdest du vielleicht gerne etwas trinken? Du kannst dich auf die Terrasse setzen.“ „Vielen Dank.“ Angelo nahm das Glas entgegen, das sie ihm reichte, und tappte dann in Richtung der große, Glastür. Dort angekommen, sah er sich noch einmal nach Michael um. Der hätte ihn am liebsten zurückgerufen. Es war eigenartig, ihn so weit weg von sich zu wissen. Aber Michael wusste, dass er sich jetzt zunächst einmal Gabriella stellen musste. Also nickte er Angelo zu, der ihm ein kleines Lächeln schenkte, bevor er sich durch den schmalen Türspalt nach draußen schob. Michael sah, wie er auf einem der Gartenstühle Platz nahm. „Du magst ihn.“ Gabriellas Stimme war schwer zu deuten. Sie war ruhig, aber irgendwo darunter lag eine leichte Anspannung, die Michael fast entgangen wäre, wenn er nicht diesen Zug um ihren Mund bemerkt hätte „Ich … ja“, gab er zu. „Ja, ich mag ihn sehr. Was total bescheuert ist, weil ich ihn ja im Grunde genommen kaum kenne, aber ...“ Er brach ab, als er den Ausdruck in Gabriellas Gesicht sah. Mit einem Schritt war er bei ihr und zog sie in seine Arme. Sie wollte sich wehren, aber im nächsten Augenblick lehnte sie sich gegen ihn und ließ die Umarmung zu. „Du hast es versprochen“, hörte er sie leise sagen. „Du hast mir versprochen, dass es zwischen uns nichts ändert. Und jetzt bringst du diesen Jungen mit. Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Michael war wie vor den Kopf geschlagen. Was sollte er dazu sagen? Sie hatte ja recht. Aber hatte doch nichts Böses im Sinn gehabt. Langsam strich er ihr über den Rücken. „Baby, ich liebe dich. Ich … ich wollte dir nicht wehtun. Ich wollte doch nur helfen. Aber wenn du willst, dann bringe ich ihn zurück. Ich schwöre es. Ich fahre gleich los und bringe ihn zurück nach Vegas und dann reden wir nie wieder ein Wort darüber.“ Gabriella schüttelte nur langsam den Kopf und seufzte. „Er ist kein Welpe, Michael. Du kannst ihn nicht einfach in der Zoohandlung umtauschen, nur weil mir die Farbe der Schleife um seinen Hals nicht gefällt.“ „Aber du hast doch gesagt ...“ „Ich habe nicht gesagt, dass er gehen soll.“ Michael wagte kaum zu atmen. „Dann darf er bleiben?“ Sie wand sich aus seinem Arm und sah ihn an. „Ich sage nicht, dass ich glücklich damit bin. Aber ich denke, ich bekomme es hin, ihn ein paar Tage hier zu ertragen. Er kann im Gästezimmer wohnen.“ „Danke!“ Ohne auf ihren Protest zu hören, hob Michael sie hoch und wirbelte sie einmal im Kreis herum. „Ich schwöre, dass er dir nicht zur Last fallen wird. Er ist wirklich ganz pflegeleicht. Das Einzige, was er in unglaublichen Mengen vertilgt, sind Süßigkeiten.“ Gabriella zog eine Augenbraue hoch. „Süßigkeiten?“ Michael lächelte schief. „Ja, schräg oder? Er hat auf dem Weg hierher eine ganze Halloween-Portion an Zuckerzeug vertilgt.“ Gabriella seufzte tief. „Ich würde sagen, dann muss ich die Einkaufsliste erweitern.“ Sie lächelte kurz, bevor sie wieder ernst wurde. „Aber du hast nicht vor, hier mit ihm …“ Sie beendete den Satz nicht. „Nein, natürlich nicht“, beeilte er sich zu versichern. „Ich … nein … nein wirklich nicht.“ Gabriella sagte nichts darauf und das fühlte sich an, als hätte sie stattdessen ein Messer aus der Schublade genommen und es durch sein Herz gebohrt. Er wollte nicht, dass sie so von ihm dachte. Er wollte nicht, dass sie dachte, dass er so von ihr dachte. Er wollte, dass sie glücklich war. Dass sie wusste, wie sehr er sie liebte. „Soll ich einkaufen gehen?“, fragte er vorsichtig. Gabriella wusste, dass er es hasste, sich an Samstagen durch das Einkaufszentrum zu quälen zusammen mit der Hälfte der restlichen Bevölkerung. Aber vielleicht … konnte er so wenigstens ein bisschen wieder gutmachen. Er lächelte ein wenig schief. „Du könntest hierbleiben und … keine Ahnung. Dir ein Bad einlassen oder so. Ich könnte Angelo mitnehmen …“ Er korrigierte sich schnell, als er ihren Blick sah. „Oder ich lasse ihn hier bei dir, damit ihr beide euch ein bisschen näher kennenlernt. Was hältst du davon?“ Sie schenkte ihm noch einen letzten, finsteren Blick, bevor sie Zettel und Stift hervorzog. „Ich mache dir eine Liste.“ Er lächelte. „Okay, ich sage nur Angelo schnell Bescheid.“ Als Michael auf die Terrasse kam, war Angelo nicht mehr da. Er sah sich um und entdeckte ihn im Schatten eines großen Baumes, wo er stand und nach oben sah. „Was suchst du da?“, fragte Michael, als er näher kam. „Da war ein Vogel“, erklärte Angelo. „Ich wollte sehen, ob er hier wohnt.“ „Hier in der Gegend gibt es eine ganze Menge Vögel. Liegt vermutlich am Park.“ „Mhm.“ Angelo legte den Kopf schräg und sah ihn an. „Deine Frau ist nicht glücklich“, stellte er fest. Michael seufzte leise. „Nein, sie … es war ein bisschen viel. Aber sie hat gesagt, dass du bleiben darfst.“ Angelo lächelte und wollte ein Stück auf Michael zukommen, doch der wich zurück und sah zu Boden. „Ich fürchte, das wird nicht gehen. Wir … wir können nicht miteinander … du weißt schon. Es wäre nicht richtig. Das hier ist ihr Zuhause.“ Für einige Augenblicke sagte niemand etwas. Schließlich ergriff Angelo wieder das Wort. „Ich verstehe“, sagte er leise. „Ich werde deinen Wunsch respektieren.“ Es tat Michael in der Seele weh, Angelo so zu sehen. Am liebsten hätte er ihn ebenso wie Gabriella in die Arme genommen und getröstet. Es war verrückt. Wann immer er bei einem der beiden war, fühlte er sich zu ihm hingezogen. Aber Gabriella war nun einmal seine Frau. Das war er ihr einfach schuldig. „Ich gehe einkaufen. Soll ich dir was mitbringen?“ Hoffnungsvoll sah Michael Angelo an. Er wusste, dass das nur ein schwaches Trostpflaster war für das, was sich der Junge eigentlich wünschte, aber mehr konnte, mehr durfte er ihm einfach nicht anbieten. Angelo wandte sich wieder dem Baum zu. „Ja, gerne.“ Michael fragte nicht weiter, was er wollte. Die leere Tüte im Wagen sprach für sich. Er widerstand dem Bedürfnis, Angelo noch einmal durch die Haare zu fahren, und drehte sich stattdessen abrupt um, um die Autoschlüssel von drinnen zu holen. Er wusste, dass er eigentlich froh sein sollte, dass alles bisher so glimpflich über die Bühne gegangen war, aber er fühlte sich jetzt schon wie ein Gummiband, das zu straff zwischen zwei Stühle gespannt war. Vielleicht hätte ich ihn doch nicht mitbringen sollen, dachte er noch, bevor er den Wagen aus der Ausfahrt setzte und in Richtung Einkaufszentrum davonfuhr. Gabriella hörte, wie das Auto in der Ferne verschwand. Sie wusste immer noch nicht so recht, was sie von all dem halten sollte. Es sah Michael nicht ähnlich, so kopflos zu reagieren. Eine Flucht vor der Polizei … das klang so gar nicht nach ihm. Michael hielt sich normalerweise an die Regeln. Andererseits hatte er ihr erzählt, dass er Cops grundsätzlich für dumm und unfähig hielt seit dieser Sache mit seinem besten Freund damals. Aber ob das wirklich der Grund war? Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass da jetzt ein blonder Jüngling in ihrem Garten saß und die Grashalme auf ihrem Rasen zählte. Langsam ging sie zur Terrassentür. „Angelo?“ Er hob den Kopf. Jetzt, wo sie ihn näher betrachtete, fielen ihr zum ersten Mal die großen, blauen Augen auf. Die Farbe war wirklich außergewöhnlich. Sie erinnerten sie an das Mittelmeer an einem Sommertag. „Ich … ich werde mich ein wenig frischmachen. Wenn du also etwas brauchst, dann …“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank Mrs. Thompson. Ich werde einfach hier sitzenbleiben, wenn ich darf.“ „Natürlich.“ Sie wollte schon hineingehen, als ihr noch etwas einfiel. „Sag mal, warum hast du mich vorhin eine Piratin genannt?“ Er lächelte. „Weil Sie eine sind.“ Sie lachte auf. „Ach? Und wie ist eine Piratin so?“ „Na so wie Sie. Wild und frei und wunderschön.“ Gabriella blieb für einen Augenblick der Mund offenstehen. Hatte er das jetzt gerade wirklich gesagt? Sie sah in sein Gesicht, ob sie dort irgendein Anzeichen für einen Scherz oder etwas in der Art sehen konnte, doch da war nichts. Es war für ihn anscheinend nur eine einfache Feststellung. Zögernd wandte sie sich zum Gehen. „Ich glaube, ich gehe dann besser rein.“ Er sah sie noch für einen Augenblick an, bevor er sich wieder dem Rasen zuwandte. Gabriella atmete noch einmal tief durch, bevor sie ins Haus ging. Im oberen Badezimmer stellte sie die Dusche an und begann sich auszuziehen. Sie wollte schon unter den warmen Wasserstrahl treten, als ihr Blick an dem großen Spiegel hängen blieb, der sie fast bis zur Hüfte hinab zeigte. Sie blieb stehen und betrachtete sich. Wild und frei und wunderschön.Die Worte geisterten durch ihren Kopf und sie stellte sich gerade vor den Spiegel hin. Sie wusste natürlich, dass sie nicht hässlich war. Sicherlich, da waren die ersten Fältchen um die Augen, das eine oder andere Kilo, das sie über die Jahre zugelegt hatte, aber sie mochte ihre Brüste, ihre Haare und Michael wurde nicht müde ihr zu sagen, wie bezaubernd er ihr Lächeln fand. Aber wunderschön das klang nach etwas, das man einer Geliebten sagte und nicht der Frau, die einen notgedrungen in ihr Haus aufgenommen hatte. Sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht liegt es an der Sprache“, überlegte sie. „Er weiß wahrscheinlich gar nicht, was er da sagt.“ Mit diesem Gedanken betrat sie nun endlich die Dusche. Als Gabriella wieder nach unten kam, war Michael noch nicht zurückgekehrt. Vermutlich würde er auch noch eine Weile brauchen. Angelo hingegen saß immer noch draußen im Garten. Sie überlegte. Vielleicht … vielleicht sollte sie schon einmal anfangen, das Essen vorzubereiten. Zutaten für einen Salat waren noch vorhanden. Sie begann, die Schränke zu öffnen und alles herauszunehmen, was sie für die Zubereitung brauchte. Als sie gerade das Gemüse aus dem großen Kühlschrank nahm, hörte sie hinter sich eine Stimme. „Signora Thompson?“ Angelo stand auf der anderen Seite des Küchentresens. „Posso esserle d'aiuto?“ Sie zögerte kurz, dann setzte sie ein schmales Lächeln auf. „Ja, das kannst du“, antwortete sie auf Italienisch. „Ich muss den Salat schneiden. Du kannst das Gemüse waschen. Weißt du, wie man das macht?“ Er nickte und war offensichtlich froh, dass sie seine Hilfe nicht abgelehnt hatte. Gabriella beobachtete, wie er ein Stück nach dem anderen unter das fließende Wasser hielt und dann beiseite legte, um das nächste in Angriff zu nehmen. Er behandelte alles mit einer Sorgfalt, die pedantisch hätte wirken können, aber es irgendwie nicht war. Stattdessen war er nur … aufmerksam. Ja, das war das Wort, das sie suchte. Eigenartigerweise musste sie dabei an ihren Großvater denken. „Wenn du etwas tust“, hatte er immer gesagt, „dann sei mit allen Sinnen dabei. Denke nicht an den nächsten oder gar den übernächsten Schritt, sondern nur daran, was du gerade tust. Nur so kann es richtig werden.“ Gabriella musste zugeben, dass das nicht ihre Art war. Natürlich war sie konzentriert bei ihrer Arbeit, aber es gab einfach zu viel zu tun in ihrem Leben. Ein Kunde, ein Angebot, das Haus, der Garten. Letzteren versorgte zwar ein Gärtner, aber Gabriella musste darauf achten, wann er kam und dass die Arbeiten richtig ausgeführt wurden, dass die Rechnung stimmte. Das Gleiche mit der Putzfrau, die zweimal die Woche kam. Am Montag das nächste Mal. Wenn Angelo dann noch da war, müsste sie sie anrufen, um ihr abzusagen. Oder sie müsste den Jungen derweil aus dem Haus schaffen. Oder sich eine Geschichte ausdenken, warum er hier war. Oder … „Ich bin fertig mit dem Waschen. Kann ich noch etwas helfen?“ Gabriella schreckte aus ihren Gedanken hoch. Sie hatte noch keinen Handschlag getan. „Ähm ... ja, du kannst die Paprika putzen, wenn du willst. Den Abfall tust du einfach in die Spüle.“ Angelo nahm eine der roten Schoten in die Hand und betrachtete sie. Langsam fuhr er mit dem Finger über die Schale und roch schließlich daran. Er runzelte die Stirn. Gabriella, die ihn beobachtet hatte, zog fragend die Augenbrauen nach oben. „Ist etwas damit?“ „Mhm, ich weiß nicht. Sie riecht ein wenig … eigenartig.“ „Zeig mal her.“ Sie ließ sich die Paprika geben und schnupperte. „Ich kann nichts feststellen.“ „Doch, da ist etwas. So ein … Geruch. Ich kann es nicht beschreiben.“ Er legte die beanstandete Schote beiseite und ging zum Kühlschrank. Bei seiner Rückkehr hatte er eine weitere Paprika in der Hand. Er hielt sie sich unter die Nase und schloss die Augen. Einen Moment lang passierte gar nichts. Gabriella wollte ihn schon fragen, ob alles in Ordnung sei, als er die Augen wieder aufschlug. Warmes Meeresblau. Er lächelte. „Diese hier ist besser. Hier, versuchen Sie.“ Mit einem leichten Zögern nahm sie die Paprika und roch daran. „Merken Sie es? Wenn Sie die Augen schließen, kann man ganz deutlich den Unterschied erkennen.“ Ein wenig zweifelnd schloss Gabriella die Augen. Sie konnte hören, wie Angelo sich neben ihr bewegte. Plötzlich griff er nach ihrer Hand und sie fühlte, wie er die zweite Paprika hineinlegte. „Riechen Sie zuerst an der einen und dann an der anderen“, forderte er sie auf. Seine Stimme war ganz nahe und Gabriella war kurz davor, diese Farce zu beenden, doch dann ließ sie sich darauf ein. Was sollte schon passieren? Es war ja nur Paprika. Langsam hob sie die erste Schote an die Nase. „Riecht wie Paprika“, sagte sie mit einem Schulterzucken. „Und jetzt die andere.“ Gehorsam roch sie an der zweiten Paprika. Der Duft war süßlich und leicht erdig. Er prickelte in der Nase und ließ einen an einen sonnendurchfluteten Garten denken. Die glatte Schale streifte ihre Lippen. „Riechen Sie es?“ Angelos Stimme war leise, fast beschwörerisch. „Die zweite ist viel aromatischer. Die erste lag zu lange im Kühlschrank. Die Kälte hat ihr Aroma zerstört und sie platt und künstlich werden lassen. Diese hier ist viel saftiger. Man kann sie quasi schon auf der Zunge schmecken. Die leichte Süße. Wie saftig sie ist. Knackig. Ich denke, wir sollten diese hier nehmen.“ Für einen Moment konnte Gabriella es sehen, schmecken, spüren. All das, von dem Angelo gesprochen hatte. Wie eine Erinnerung an ihre Kindheit, als sie die Früchte direkt vom Strauch gepflückt und hineingebissen hatte. Der warme Wind, der vom Meer her kam und sich in ihrer Kleidung verfing, als sie lachend mit bloßen Füßen durch den lockeren Sand des Gemüsegartens lief. Das Haar zusammengebunden mit einem roten Band. Rot wie die Paprika. Die Vision endete, als Angelo ihr die Paprika wieder aus der Hand nahm und zur anderen Seite des Tresens hinüberging. Langsam schlug Gabriella die Augen auf. Was war das gewesen? Angelo hatte sich ein Messer genommen und begonnen, die Paprika zu zerteilen. Als er ihren Blick bemerkte, sah er kurz auf und lächelte sie an, bevor er sich wieder ans Werk machte. Gabriella leckte sich über die trockenen Lippen. Sie brauchte jetzt dringend einen Schluck Wein. „Danke für den schönen Abend.“ Michael lag hinter ihr im Bett und vergrub seine Nase in ihrem Haar. „Es war wundervoll. Du warst wundervoll.“ „Ja, ich fand es auch schön.“ Sie schwieg und ließ die letzten Stunden noch einmal Revue passieren. Es war … ein wenig seltsam gewesen. Bei Abendessen hatte sie drei statt der üblichen zwei Schälchen mit Salat füllen müssen. Sie hatte Angelo fragen müssen, was er trinken wollte, statt einfach für sich und Michael ein Glas Wein hinzustellen. Sie hatte neben ihrem Mann gesessen, während auf ihrem Stuhl gegenüber ein junger Mann saß und sie aus mittelmeerblauen Augen musterte, so oft sie in seine Richtung sah. Sie hatte sich immer dagegen gesträubt, zu viel über Michaels Affären in Erfahrung zu bringen. Aus Angst es nicht ertragen zu können. Aus Angst, sich klein vorzukommen. Unwichtig. Jetzt zu sehen, dass der gesichtslose Fremde auf der anderen Seite ein ganz normaler Mensch war, der sich ihr gegenüber respektvoll und zuvorkommend benahm. Der lächelte, wenn er sie ansah oder wenn Michael einen Scherz machte. Der aufsprang, wenn sie ihn bat, ihr beim Abräumen zu helfen. Der zusammenzuckte, als sie den Knopf des Abfallzerkleinerers betätigte. Und der sich mit einem glücklichen Gesicht über die Riesenportion Eiscreme hermachte, die sie ihm zum Nachtisch vor die Nase gesetzt hatte. Es war eigenartig und beruhigend zugleich. Eigentlich gab es wirklich keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Angelo war nett und sie hatte ihm im Laufe des Abends sogar angeboten, dass er sie beim Vornamen nennen konnte. Trotzdem gab es da etwas, das sie beunruhigte. Über das sie mit Michael sprechen wollte, bevor es zu groß wurde, um es in Worte zu fassen. „Woran denkst du?“ Michaels Frage schreckte sie aus ihren Gedanken hoch. „Ich denke daran, dass wir Angelo unbedingt Schuhe besorgen müssen. Hast du gesehen, wie dreckig seine Füße waren?“ „Ja, habe ich. Schon eigenartig, dass er keine hatte.“ „Wurden vielleicht gestohlen.“ „Vielleicht.“ Eine Stille breitete sich aus, die voll von all dem war, was sie nicht aussprachen. Gabriella seufzte lautlos. Genau das hatte sie nie gewollt. Dass sie aufhörten, miteinander zu reden. Sie wappnete sich für die nächste Frage, die sie stellen musste. „Empfindest du etwas für ihn?“ „Was?“ Sie drehte sich herum und sah ihn jetzt gerade heraus an. Im Dunkeln konnte sie nicht viel erkennen, aber sie bildete sich ein, dass sie so ehrlicher zueinander sein konnten. „Ich habe gefragt, ob du etwas für ihn empfindest.“ „Wie kommst du denn auf so eine Idee? Ich kenne den Jungen ja kaum einen Tag.“ „Der Junge ist genauso alt wie du damals, als du mich kennengelernt hast. Und jetzt sieh uns an. Wir liegen hier im Bett als altes Ehepaar.“ „So alt nun auch wieder nicht.“ Sie lächelte leicht. „Du hast Recht. Aber trotzdem bin ich nicht blind, Michael. Ich sehe, wie du ihn ansiehst. Und ich sehe vor allem auch, wie er dich ansieht. War es vorher auch so mit den … anderen?“ Sie hörte, wie er im Dunkeln atmete. „Nein.“ Das war sie. Die Antwort, die sie gefürchtet hatte. Es tat weh, es zu hören. „Und jetzt?“ „Ich … ich weiß es nicht. Aber ich gehe nicht weg. Niemals. Du bist meine Frau und ich liebe dich. Ich würde dich niemals verlassen.“ Sie spürte, wie er den Arm um sie legte und bettete den Kopf auf seiner Brust. Es war gut, ihn zu spüren. Langsam ließ sie ihre Hand über seinen Körper wandern. Ließ sich in einen Kuss ziehen, der schnell tiefer wurde. Spürte die Wärme, die seine Berührungen in ihm auslösten. Die Vertrautheit, die es gut machte. Die für einige Zeit jeden Gedanken an den jungen Mann, der so plötzlich in ihr Leben getreten war, verschwinden ließ, bis sie schließlich gesättigt und zufrieden wieder in die Laken sank. Noch einmal küsste Michael sie. „Ich liebe dich. Mehr als alles auf dieser Welt. Mehr als mein Leben.“ Sie lächelte. „Ich liebe dich auch.“ Mit einem letzten Kuss drehte sie sich herum, schlang die Bettdecke und Michaels Arm um sich und lauschte seinen tiefer werdenden Atemzügen, bis sie schließlich selbst einschlief. In ihren Träumen hörte sie das Meer rauschen. Als alle Laute im Haus verstummt waren und der Mond bereits am Himmel stand, kam aus dem Gästezimmer, in dem Angelo untergebracht war, ein Rascheln. Das leise Tappen von Füßen folgte und eine schmale Gestalt betrat den Flur. Angelo trug eine kurze Hose und ein T-Shirt von Michael, das ihm ein ganzes Stück zu weit war. Leise schlich er über den Flur, bis er zum Schlafzimmer kam. Er öffnete die Tür und huschte in den dunklen Raum. Vorsichtig näherte er sich dem Bett. Michael und Gabriella schliefen bereits. Angelo trat ganz nahe an Michaels Seite heran und betrachtete ihn. Langsam streckte er die Hand aus, doch noch bevor er ihn berühren konnte, zog er sie wieder zurück. Sein Blick glitt zu Gabriella, die mit dem Rücken ganz nahe an ihrem Mann lag. Angelo sah sie noch einen Augenblick lang an, bevor er sich wieder umdrehte und in das Zimmer zurückging, in dem ihm ein Bett bereitet worden war Er schlüpfte unter die Decke und zog sie bis unter das Kinn. Mit geöffneten Augen lag er in der Dunkelheit, während die Zeiger des Weckers langsam weiterrückten. Kapitel 6: Kleine Funken ------------------------ Michael erwachte früh am nächsten Tag. Die Morgendämmerung war kaum heraufgezogen und eigentlich wollte er sich gerade noch einmal umdrehen, als er ein Geräusch hörte. Mit einem Mal war er hellwach. Gabriella lag noch neben ihm in tiefem Schlummer, aber es gab ja noch jemanden im Haus. Jemanden, der offensichtlich bereits wach war. Leise erhob Michael sich und ging zur Tür. Dort angekommen stutzte er kurz. Hatte er die gestern Abend offengelassen? Er erinnerte sich nicht. Mit einem Kopfschütteln tat er die Überlegung ab und trat in den Flur. Er warf einen Blick in Angelos Zimmer, aber das Bett war leer. Auch im Bad war niemand und so nahm er die Treppe nach unten ins Wohnzimmer. Schon während er die Stufen hinabstieg, konnte er Angelo sehen. Der Junge saß draußen auf der Terrasse auf dem Boden, die Füße an den Körper gezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Als Michael die Tür weiter aufschob, reagierte er nicht. „Hey“, rief Michael leise. „Du bist aber früh wach.“ Langsam erhob Angelo den Blick. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. „Was ist los? Du siehst furchtbar aus.“ Angelo wandte sich wieder dem Garten zu. Tautropfen benetzten die Rasenfläche. „Ich konnte nicht schlafen.“ „Warum nicht?“ Michael erhielt keine Antwort außer einem leichten Schulterzucken. Er seufzte lautlos. Das hier war schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. Michael ging zu Angelo und hockte sich neben ihn. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte ihn leicht am Arm. Als der Junge nicht reagierte, legte er die ganze Hand darauf. Die Haut war eiskalt. „Wie lange sitzt du schon hier?“ Wieder keine Antwort. Michael befühlte seine Beine und die Füße. Auch sie waren viel zu kühl. „Du musst reinkommen, sonst wirst du dich erkälten.“ Als Angelo immer noch nicht reagierte, wurde es Michael zu bunt. „Also entweder du stehst jetzt freiwillig auf oder ich packe dich und trage dich rein. Du hast die Wahl. Hier lasse ich dich auf jeden Fall nicht sitzen.“ Angelo sah zu ihm auf. Michael konnte sehen, dass er mit sich rang. Es machte ihn rasend. Warum tat Angelo das? Warum kam er nicht einfach mit ins Haus. Warum sagte er nicht, was ihn bedrückte? Weil du es ihm verboten hast, flüsterte eine kleine Stimme in seinem Kopf. Plötzlich ergab die geöffnete Schlafzimmertür einen Sinn, die Ringe unter Angelos Augen, die Tatsache, dass er hier saß, statt es sich drinnen bequem zu machen. Der Junge hatte so verzweifelt versucht, alles richtig zu machen. Aber es war nicht genug gewesen. Er hatte nicht bekommen, was er gewollt hatte. Auch der Abend, der Michael so wunderbar vorgekommen war, musste für ihn sehr anstrengend gewesen sein. Er und Gabriella waren eine Einheit und Angelo … er war allein gewesen. Natürlich hatte Michael sich wegen Gabriella dazu verpflichtet gefühlt, sich so zu verhalten. Er hatte es genossen, dass seine Frau ihn nach wie vor in ihre Nähe ließ. Das alles beim Alten geblieben war. Aber er hatte nicht darüber nachgedacht, wie das für Angelo war. Er war ihm ausgewichen, aus Angst seine Frau vor den Kopf zu stoßen und hatte dabei Angelo verletzt. Als ihm das bewusst wurde, hätte er sich am liebsten selbst geohrfeigt. Aber davon wäre es auch nicht besser geworden. Er musste sich jetzt um Angelo kümmern. „Komm“, sagte er bewusst sanfter als zuvor. „Wir gehen rein und …“ Er hob die Schultern und sah Angelo bittend an. Der musterte ihn für einen Augenblick, bevor er die ausgestreckte Hand ergriff und sich hochziehen ließ. Gemeinsam gingen sie nach drinnen, wo Michael eine Decke von der Sofalehne nahm und Angelo in eine Ecke der Couch bugsierte. Er setzte sich dicht neben ihn, legte sich seine Beine über den Schoß und wickelte ihn in die Decke ein. Anschließend legte er den Arm um Angelo und drückte ihn an sich. „So. Und so bleiben wir jetzt, bis dir wieder warm ist.“ Er merkte, dass Angelo immer noch angespannt war. Fast so, als würde er dem Frieden nicht trauen. Michael seufzte. „Hey, es tut mir leid, okay? Ich dachte, es läuft gut. Ich … ich habe nicht gemerkt, dass es gestern Abend für dich so schwer war.“ Angelo zögerte noch einen Augenblick, bevor er seinen Kopf gegen Michaels Schultern lehnte. „Das war es nicht. Es war … schön. Ich mag deine Frau. Aber …“ Er sprach nicht weiter. „Aber was? Komm schon, Angelo. Wenn das hier funktionieren soll, musst du mit mir reden.“ Er spürte, wie Angelo unter der Decke kleine Kreise mit dem Zeigefinger auf seine Brust malte. „Ich … ich habe euch gehört, als ihr … euch vereint habt.“ Michael durchfuhr es siedend heiß. Das hatte Angelo mitbekommen? Für ihn war das nur natürlich gewesen, dass er mit Gabriella schlief. Das taten sie immer, wenn er von einer Reise zurückkam. Aber das Angelo sie gehört hatte, war ihm unangenehmer, als er angenommen hatte. Er leckte sich über die Lippen. „Und … wie war das für dich?“ Angelo drängte sich noch ein wenig enger an ihn. Seine Stimme war fast nicht zu hören, als er antwortete. „Es hat wehgetan. Tief drin. Ich war …“ „Eifersüchtig?“ „Ja.“ Er zögerte, bevor er leise hinzufügte: „Ich wäre gerne dabei gewesen.“ „Dabei gewesen?“ Michael lachte auf. „Was redest du denn da?“ Angelo antwortete nicht, sondern fuhr nur fort, Kreise auf Michael zu malen. Nach einer Weile hob er den Kopf und sah ihn an. „Bist du böse?“ Anscheinend meinte Angelo das doch ernster, als er angenommen hatte. Michael überlegte. Natürlich war er nicht böse. Er war … überrascht. Bisher waren die Grenzen klar definiert gewesen. Es hatte seine Frau auf der einen und seine Ausflüge nach Las Vegas auf der anderen Seite gegeben. Doch jetzt waren diese Grenzen verwischt. Er selbst war derjenige gewesen, der die Regeln geändert hatte, ohne auch nur eine der anderen Parteien vorher zu fragen, was sie davon hielt. Durfte er sich da beschweren, wenn diese es genauso handhabten? Ihm wurde bewusst, dass Angelo ihn immer noch ansah. Er legte ein Lächeln auf. „Ich bin nicht böse. Aber du bist müde und frierst. Wärm dich erst mal auf und wir sehen später weiter.“ „Ist gut, Michael.“ Angelo legte seinen Kopf wieder auf seine Schulter und rückte noch ein wenig näher. Michael strich ihm langsam mit der Hand über die Beine, während er sich gegen ihn lehnte und ebenfalls die Augen schloss. Es fühlte sich gut an, so dazuliegen. Irgendwie vertraut.     Er musste eingedöst sein, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, stand Gabriella am Absatz der Treppe. Sie trug den knielangen Morgenmantel aus dunkelroter Seide, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, und musterte ihn mit unergründlicher Miene. Michael warf einen Blick auf Angelo. Offenbar war der Junge eingeschlafen. Er lächelte seine Frau ein wenig schief an. „Hey, Baby. Ich wollte dich nicht wecken.“ „Das hast du nicht.“ Gabriellas Stimme war schwer zu deuten. Er atmete tief durch. „Magst du herkommen?“ Es war eine Einladung. Er wollte keine Mauern errichten und die Grenzen nicht neu ziehen, ohne Gabriella zu fragen, wo sie sie haben wollte. „Ich störe nicht?“ „Was? Nein! Nein natürlich nicht. Komm her.“ Gabriella kam tatsächlich zu ihm herüber und setzte sich auf das gegenüberliegende Sofa. Michael seufzte. Er kam sich vor wie bei einem Drahtseilakt, bei dem er unweigerlich versagen würde. „Ich hab gemeint, dass du zu mir kommen sollst.“ Jetzt war es an Gabriella zu seufzen. „Und wo soll ich sitzen? Bei euch ist kein Platz für mich.“ Michael überlegte. Es stimmte schon. Wenn sie sich neben ihn setzte, würde sie sich unweigerlich mit Angelo ins Gehege kommen. Trotzdem ließ ihn der Gedanke nicht so recht los. Sie könnte vielleicht neben ihm sitzen auf der anderen Seite und … Ach es war zu verrückt. Er lächelte entschuldigend. „Du hast recht. Tut mir leid. Ich … es war nur … Ich hab nur laut gedacht.“ Er sah auf Angelo herab. „Und was mache ich jetzt mit ihm? Ich würde gerne mit dir frühstücken, aber ich denke, Angelo sollte noch ein wenig schlafen. Er sah gar nicht gut aus, als ich ihn heute Morgen gefunden habe. Hatte wohl eine ziemlich unruhige Nacht. Aber wenn ich ihn jetzt in sein Bett bringe, wird er wach werden.“ Michael wusste nicht, warum er das gesagt hatte. Er kam sich feige vor, dass er sich so vor einer Entscheidung drückte. Aber gleichzeitig war Gabriella die Einzige, mit der er darüber reden konnte. Mit der er darüber reden sollte, abgesehen von Angelo vielleicht. Gabriella schien zu überlegen. „Dann bring ihn doch in unser Bett. Vielleicht schläft er da besser.“ Michael sah seine Frau erstaunt an. Hatte sie das jetzt gerade tatsächlich vorgeschlagen? Sie schmunzelte. „Na man sagt doch, dass Welpen besser schlafen, wenn sie einen vertrauten Geruch in der Nase haben. Vielleicht funktioniert das ja auch mit diesem kleinen Streuner.“ Michael fühlte eine vertraute Wärme in sich aufsteigen. Das war sie, seine Frau. Die schönste und großherzigste Frau, die er kannte. Die immer zu ihm stand, egal was er tat. Er liebte sie so sehr. „Okay, ich versuch's. Und wenn er aufwacht?“ „Dann frühstücken wir eben zu dritt.“ Gabriella zeigte ein tapferes Lächeln. Angelo hatte wirklich recht. Seine Frau war eine Piratin. „Bis gleich“, hauchte er und griff unter Angelos Beine, um ihn hochzuheben und nach oben zu bringen.   Im Schlafzimmer schob er zunächst die Decke mit dem Fuß zur Seite, bevor er den Jungen sanft auf seiner Seite des Bettes ablegte. Angelo bewegte sich leicht und seine Augenlider begannen zu flattern. „Sch“, machte Michael und legte sich schnell neben ihn, bevor er aufwachen konnte. Er streichelte langsam über Angelos Rücken und küsste ihn auf die Stirn. „Ich bin ja da. Du kannst ruhig weiterschlafen.“ „Michael“, murmelte Angelo. Er öffnete die Augen einen Spalt breit und lächelte, bevor er sie wieder schloss und sich enger an Michael kuschelte. Der betrachtete ihn und fühlte, wie erneut ein warmes Gefühl in seiner Brust entstand. „Was machst du nur mit mir“, flüsterte er und hätte ihn am liebsten geküsst und mehr. Aber jetzt und hier war weder die Zeit und der Ort dafür. Also drückte er nur noch einmal kurz seine Lippen auf Angelos blonden Schopf, bevor er sich, möglichst ohne allzu viele Erschütterungen zu verursachen, erhob, vorsichtig die Decke über den Jungen ausbreitete und leise zur Tür hinausschlich. Er lehnte sie lediglich an und ging dann die Treppe hinunter.   Gabriella stand in der Küche und war dabei, das Frühstück vorzubereiten. Er trat hinter sie und legte die Arme um sie. „Guten Morgen. Noch einmal.“ Sie ließ sich rückwärts in seine Umarmung sinken. „Schläft er?“, fragte sie und fuhr fort, das Obst kleinzuschneiden, das er gestern eingekauft hatte. „Ja, wie ein Baby. Dein Trick hat funktioniert.“ „Fein.“ Sie sah ihn über die Schulter hinweg an. „Was möchtest du essen? Ich könnte dir ein Omelette machen?“ „Nein danke, ich nehme nur Toast. Hab irgendwie keinen Hunger.“ Sie lächelte ein bisschen verschmitzt und drehte sich zu ihm herum. „Ach, keinen Hunger? So so. Ich glaube, das hatten wir schon mal.“ Er blinzelte überrascht. „Was meinst du?“ „Na, ich erinnere mich an einen Kerl, der bei unserem ersten Date keine drei Bissen herunterbrachte, weil er so nervös war.“ Michael lachte. „Natürlich war ich nervös. Ich hatte eine superheiße Braut aufgegabelt, die noch dazu vier Jahre älter war als ich. Wer wäre da nicht nervös gewesen?“ „Aufgegabelt? Das habe ich irgendwie anders in Erinnerung.“ Sie schenkte ihm einen prüfenden Blick. „Und jetzt? Warum bist du jetzt nervös?“ Er seufzte. „Das weißt du doch genau.“ „Ja, aber ich will es von dir hören.“ Er seufzte noch einmal. „Weil du recht hattest. Weil das mit Angelo irgendwie … anders ist als bisher. Weil ich Angst habe, einem von euch wehzutun. Weil … weil ihr beide wichtig seid.“ Gabriella sah ihn einen Augenblick lang an, bevor sie nickte. „Ich hatte gehofft, dass du das sagst.“ „Was?“ „Hättest du mir jetzt beteuert, dass du nur mich liebst und Angelo nur ein Spielzeug für dich ist, hätte ich es nicht glauben können. Und ich hätte gefürchtet, dass du ihm umgekehrt das Gleiche erzählst.“ „Aber … wie soll das funktionieren?“ Sie atmete hörbar aus. „Das weiß ich auch nicht. Nachdem du heute morgen nicht da warst, wollte ich erst sauer sein. Es war eigenartig, dich mit ihm zu sehen. Aber dann fiel mir ein, wie es damals war. Erinnerst du dich? Bevor du mir erzählt hast, was los ist, hatten wir so gut wie keinen Sex mehr miteinander. Ich dachte, du findest mich nicht mehr attraktiv. Dass du eine andere hättest. Aber mit der Zeit habe ich verstanden, dass das nicht das Problem war. Du hast nur deine Bedürfnisse unterdrückt und damit auch das, was wir miteinander hatten. Ich denke, mit der Liebe wäre es ganz genauso. Wenn ich dich jetzt aus einem ersten Impuls heraus zwingen würde, dich für einen von uns zu entscheiden, würde am Ende niemand gewinnen und jeder wäre allein. Aber das will ich nicht. Ich will dich, Michael. Ich will, dass du glücklich bist. Und Angelo macht dich glücklich.“ Michael spürte, wie seine Augen zu stechen begannen. Das alles war so wunderbar, dass er es nicht in Worte fassen konnte. Er sah, dass auch Gabriellas Augen schimmerten. Also nahm er sie in die Arme und hielt sie ganz fest, bis er das Gefühl hatte, dass keiner von ihnen beiden gleich in Tränen ausbrechen würde. Er atmete tief durch. „Ich glaube, ich brauche jetzt einen Kaffee.“ Sie schniefte ein wenig. „Ich hatte zwar an Grappa gedacht, aber Kaffee wird es wohl tun.“ Er lachte und gemeinsam machten sie sich daran, den Frühstückstisch zu decken.     Gabriella beobachtete Michael. Er saß auf der anderen Seite des Tisches und bestrich gerade einen Toast mit Marmelade. Das allein war schon bemerkenswert, denn normalerweise bevorzugte Michael sein Frühstück herzhaft. Aber die Art und Weise, wie er es tat, war irgendwie … bezaubernd. Sie fand kein anderes Wort dafür. Es war, als hätte jemand die Zeit zwölf Jahre zurückgedreht. „Gibst du mir mal die Butter?“ Er sah auf und lächelte sie an, bevor er ihrer Bitte nachkam. Ob ihm wohl klar war, wie sehr er momentan strahlte? Es war nichts, worauf man wirklich den Finger legen konnte, aber es war unbestreitbar da. Plötzlich war sie glücklich, ein Teil davon sein zu können. Vielleicht hätte sie wütend sein sollen, aber wenn sie sah, wie gut ihm Angelo tat, konnte sie nicht anders, als sich mit ihm zu freuen. Außerdem konnte man sich schließlich nicht aussuchen, wann und in wen man sich verliebte. Wäre es so gewesen, wären sie und Michael vermutlich nie ein Paar geworden. Wie hätte sie ihm daraus also einen Strick drehen können? „Möchtest du zuerst ins Badezimmer oder soll ich?“ Michaels Frage riss sie aus ihren Überlegungen. Sie sah in ihre Tasse. „Geh du ruhig. Ich trinke noch meinen Kaffee aus.“ Er stand auf und drückte ihr noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er nach oben ging. Sie konnte hören, wie er die Dusche anstellte. Die Vorstellung, dass er sich jetzt gerade auszog, gefiel ihr irgendwie. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht überlegt, sich zu ihm zu gesellen. Plötzlich versetzte ihr dieser Gedanke einen kleinen Stich. Sich um eine weitere Person Gedanken machen zu müssen, war nicht nur angenehm. Aber sie konnte Angelo dafür nicht hassen. Er war ebenso wie sie alle irgendwie in diese Situation hineingeraten und nun würden sie das Beste daraus machen müssen.   Gabriella ließ den Frühstückstisch, wie er war. Immerhin würde Angelo auch noch etwas essen wollen, wenn er aufwachte. Sie würde sich ein paar Sachen aus dem Schlafzimmer holen und dann unten duschen. Auch hier wieder eine Einschränkung Angelo zuliebe. Normalerweise war es nicht notwendig, sich darüber Gedanken zu machen, ob sie hier im Haus unbekleidet herumlief. Aber schließlich wollte sie den Jungen ja nicht verschrecken. Als sie die Schlafzimmertür öffnete, sah sie, dass Michael die Vorhänge nicht zugezogen hatte. Die Sonnenstrahlen fielen durch die weißen Stores, die ihnen tagsüber als Sichtschutz dienten. Bei ihren Bekannten hatte diese Eigenart, die Gabriella aus ihrer Heimat mitgebracht hatte, immer wieder für Erstaunen gesorgt, aber sie konnte sich an diese nackten Fenster, wie ihre Nachbarn sie hatten, einfach nicht gewöhnen. Ihr Blick glitt von den Fenstern zum Bett. Es war nach wie vor unordentlich und entsprach weder dem italienischen noch dem amerikanischen Standard, denn es besaß zwei Decken, in die sich jeder von ihnen einwickeln konnte. Sie hatte dieses Prinzip während eines Urlaubs kennen und lieben gelernt. Jeder, der einmal versucht hatte, Michael nachts eine Decke wieder abzuringen, wäre ihrer Meinung gewesen, dass dies die einzig wahre Art zu schlafen war. Unter einer dieser Decken lag nun Angelo. Das hieß, nicht wirklich darunter. Der Junge hatte sich freigestrampelt und lag bäuchlings halb auf der Decke. Es sah aus, als würde er sie umarmen. Gabriella trat an das Bett und betrachtete ihn. Gestern waren ihr vor allem seine Augen aufgefallen, aber jetzt konnte sie ihn zum ersten Mal im Ganzen betrachten. Sie musste zugeben, dass das, was sie sah, ihr gefiel. Michael hatte einen guten Geschmack. Angelo hatte nicht nur ein hübsches Gesicht, sondern auch wundervolle Hände, einen nicht uninteressanten Körperbau und einen wirklich niedlichen Hintern. Ach du meine Güte, schoss es ihr durch den Kopf. Was denke ich denn da? Ich bin schließlich eine verheiratete Frau. Da kann ich wohl kaum … Sie unterbrach sich. Konnte sie nicht? Immerhin tat ihr Mann das andauernd. Oder nicht andauernd, aber zumindest ab und an. Sie selbst hatte allerdings noch nie den Drang verspürt, sich außerhalb ihrer Beziehung umzusehen, auch wenn Michael ihr diese Freiheit natürlich eingeräumt hatte. Der Gedanke war ihr bisher nur nie wirklich attraktiv vorgekommen. Doch wenn sie den jungen Mann auf ihrem Bett jetzt so betrachtete …   Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Angelo hatte sich bewegt und ein Wimmern von sich gegeben. Vorsichtig trat Gabriella noch einen Schritt näher. Ob er schlecht träumte? Sie versuchte, einen Blick auf sein Gesicht zu werfen, konnte aber nichts erkennen, da er es in der Decke vergraben hatte. „Angelo?“, fragte sie leise. Ob sie ihn wecken sollte? Nein, lieber erst mal sehen, was mit ihm los war. Vielleicht ging der Traum ja vorbei, ohne dass er aufwachte. Gabriella ging um das Bett herum und erklomm es von der anderen Seite. Langsam schob sie sich näher an Angelo heran, der jetzt angefangen hatte, sich stärker zu bewegen. Er krallte seine Finger in die Bettdecke, presste sich dagegen und stöhnte leise. Gabriella gefror in der Bewegung. Dieses Stöhnen war eindeutig nicht angsterfüllt gewesen, sondern … Oh Gott! Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie den Jungen an, dessen Bewegungen jetzt plötzlich sehr eindeutig waren. Die schnellen, flachen Atemzüge, das Stöhnen, die Art und Weise, mit der er seine Lenden nach unten presste. Gabriella spürte, wie sich ihr eigener Herzschlag beschleunigte und ein verräterisches Kribbeln über ihren Körper huschte. Das durfte doch nicht wahr sein. Sie … Sie musste hier schnellstens weg. Bevor er auf wachte. Bevor er … Auf einmal rollte sich Angelo auf den Rücken. Gabriella stockte der Atem. Sie wollte nicht hinsehen, aber ihr Blick wurde magisch von der Stelle angezogen, an der sich eine deutliche Ausbuchtung in Angelos Kleidung befand. Himmel, er war tatsächlich erregt. Sehr erregt. Er stöhnte erneut, seine Hüfte bäumte sich auf und dann … Es war wie ein Unfall. Sie konnte einfach nicht aufhören hinzusehen. Selbst als der feuchte Fleck auf seiner Hose größer wurde, fand sie nicht die notwendige Willenskraft, um sich endlich zu bewegen. In diesem Moment schlug er die Augen auf. Ihre Blicke trafen sich und auch wenn Angelo immer noch halb im Land der Träume weilte, so wusste Gabriella doch, dass er sie gesehen hatte. Sie konnte nicht mehr einfach so verschwinden. „Ich ...“, begann sie und wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Atem ging immer noch schnell. Angelo richtete sich auf. Als er sich hingesetzt hatte, glitt sein Blick zu seinem Schritt. Er sah Gabriella an und dann wieder nach unten. Auf seinem Gesicht stand Unverständnis. „Ich …“, begann sie erneut. Fast hätte sie gelacht. Wäre dies ein Film, wäre an dieser Stelle wohl der Satz 'Es ist nicht das, wonach es aussieht' gefallen. „Du hattest einen Traum“, sagte sie und versuchte locker zu klingen. „Kein Grund zur Beunruhigung. Das passiert manchmal.“ Er nickte langsam, dann sah er sich um. „Warum bin ich hier?“ „Ich habe Michael gesagt, er soll dich hierher bringen, damit du noch ein wenig schlafen kannst.“ Angelo schaute auf das Bett. Seine Hand glitt langsam über das weiße Laken. In seinem Blick lag etwas, das sie nicht so recht zu deuten wusste. Er wirkte fast ein wenig andächtig. „Ich habe davon geträumt“, murmelte er leise. Unter halb gesenkten Lidern sah er zu ihr auf. „Ist es unangebracht, davon zu träumen?“ „Wovon?“ Führte sie dieses Gespräch gerade tatsächlich mit dem Liebhaber ihres Mannes? „Davon in diesem Bett zu liegen.“ Gabriella wollte gerade etwas erwidern, als er hinzufügte: „Mit euch.“ „Mit … uns?“ Sie hatte die Worte gehört, aber der Sinn wollte nicht so recht in ihren Kopf vordringen. Sie wich vor ihm zurück. „Ich glaube, ich sollte gehen. Ich werde …“ „Gabriella!“ Angelo sah sie bittend an. „Falls ich etwas Falsches gesagt habe, tut es mir leid. Es ist nur so …“ Er suchte nach den passenden Worten. Sie stand vor dem Bett und drückte sich die Fingernägel in die Handflächen. Am liebsten wäre sie jetzt wieder zu ihm geklettert und hätte ihn in den Arm genommen. Stattdessen setzte sie ein Lächeln auf. „Nein, es ist okay. Du kannst ja nichts dafür, dass ich … dass wir …“ Sie brach ab, presste die Lippen aufeinander und schloss für einen Moment die Augen. Die Situation war eigenartig, aber sie würde es nicht besser machen, wenn sie jetzt panisch reagierte. Außerdem wollte sie nicht, dass Angelo ein schlechtes Gewissen hatte. Der Junge hatte nun wirklich genug durchgemacht. Und was war schon dabei? Er hatte einen feuchten Traum gehabt. In ihrem Ehebett. Kein Grund zur Beunruhigung. Sie öffnete die Augen wieder und sah, dass Angelo jetzt am Rand des Bettes saß. Er hatte ihr den Rücken zugedreht und starrte auf den Fußboden. In diesem Moment tat er ihr wirklich leid. Wahrscheinlich war ihm das Ganze sehr unangenehm und er würde wohl kaum wollen, dass Michael davon erfuhr. Also ging sie um das Bett herum und berührte ihn sanft an der Schulter. „Angelo?“ Er hob den Kopf und seine blauen Augen sahen sie an. Für einen Moment vergaß sie, was sie hatte sagen wollen. Er war so schön. Fast hätte sie ihm über die Wange gestreichelt, aber sie fing ihre Hand noch im letzten Moment ab. Tief durchatmen! „Möchtest du duschen? Ich bringe dir ein paar alte Sachen von Michael und stecke deine in die Wäsche. In Ordnung?“ Er nickte und wollte schon aufstehen, als sein Blick an ihr herabglitt. Sie wurde sich bewusst, dass der Gürtel ihres Morgenmantels sich gelockert hatte. Darunter kam das schwarze Negligee zum Vorschein, das sie in der Nacht getragen hatte. Der tiefe, spitzenbesetzte Saum entblößte einen Gutteil ihrer Brüste. Gabriella wagte nicht, sich zu bewegen und auch Angelo schien völlig gefangen von dem, was er sah. Mit leicht geöffneten Mund starrte er sie an und Gabriella konnte sehen, wie seine Augen dunkler wurden. Fast erwartete sie, dass er gleich die Hand ausstrecken würde und … Sie blinzelte und räusperte sich. „Ich glaube, du gehst jetzt besser nach unten. Ich … ich komme gleich nach und bringe dir, was du brauchst.“ Er sah auf und brauchte einige Augenblicke, bevor er reagieren konnte. „Ja, ist gut“, antwortete er und sie konnte hören, dass da etwas in seiner Stimme war. War es Bedauern? Sie lächelte ihm aufmunternd zu, bevor sie sich entschieden umdrehte und begann, im Wandschrank nach etwas passendem zu suchen. Sie spürte, wie er sie immer noch ansah. Seine Augen schienen über ihren Körper zu gleiten und sie bildete sich fast ein, die Berührung wirklich fühlen zu können. Als er endlich den Raum verließ, atmete sie erleichtert auf.   Sie hatte gerade eine alte Jeans und ein noch älteres T-Shirt ganz hinten aus dem Schrank gekramt, als plötzlich die Tür aufging und Michael hereinkam. Gabriella stieß einen kleinen Schrei aus. Ihr Herz raste und sie starrte ihren Mann aus großen Augen an. „Äh … buh?“, machte er und lachte ein wenig gekünstelt. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“ „Ja, nein, ich … ich habe nach Sachen für Angelo gesucht. Du hast mich nur erschreckt.“ Michael sah zum Bett. Ob er erkennen konnte, was sich hier abgespielt hatte? „Wo ist er?“ „Wer? „Na Angelo.“ „Ach so.“ Gabriella zwang sich ebenfalls zu einem Lachen. „Der ist unten. Er duscht. Würdest du ihm wohl das hier bringen?“ Sie hielt ihm die Kleidung hin und bekam dafür einen eigenartigen Blick. Er zögerte noch kurz, bevor er ihr die Sachen abnahm und sie auf das Bett legte. „Ich ziehe mich vielleicht vorher lieber an“, sagte er und ging betont langsam zum Kleiderschrank. Es schien fast, als würde er auf etwas warten. Als er sein Handtuch ablegte und begann, in seine Shorts zu schlüpfen, begriff sie auch endlich, worauf. Er hatte gehofft, dass sie sagen würde, dass er die Sachen gleich nach unten bringen solle. Aber sie hatte gestern gesagt, dass sie nicht wollte, dass er hier mit Angelo … Jetzt allerdings musste sie zugeben, dass die Vorstellung der beiden zusammen nicht unbedingt etwas war, dass sie abschreckte. Im Gegenteil. Sie leckte sich über die Lippen. „Vielleicht solltest du nochmal nachsehen, ob er auch wirklich ein Handtuch hat. Ich bin mir gerade nicht sicher, ob unten noch welche sind.“ Michael drehte sich halb herum und sah sie an. „Er wird vermutlich schon unter der Dusche stehen, wenn ich nach unten komme.“ Sie gab sich ahnungslos. „Ach, meinst du? Das könnte natürlich sein. Ist das denn ein Problem?“ Er blickte ein wenig unbehaglich zur Seite. „Ich weiß nicht. Es könnte eins werden. Ich meine, wenn du nicht willst, dass ich … und er …“ Gabriella atmete tief durch. „Ich glaube, ich war da etwas vorschnell. Mir hätte klar sein sollen, dass das nicht so einfach sein wird. Und ich bestimme die Regeln ja nicht allein. Wenn du also zu ihm gehen möchtest, bin ich damit einverstanden.“ „Im Ernst?“ Der Ausdruck, der auf seinem Gesicht erschien, zeigte ihr, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. „Ja, es ist mein voller Ernst. Aber bitte sieh zu, dass die Fenster geschlossen sind. Nicht dass die Nachbarn noch in Ohnmacht fallen, wenn sie davon was mitbekommen.“ Mit zwei Schritten war Michael bei ihr und hatte sie gegen den Schrank gepresst. Seine Lippen fanden ihre zu einem tiefen Kuss. „Oh, Baby“, stöhnte er und sie spürte, wie seine Hände sich unter ihren Morgenmantel schoben und ihre Brüste liebkosten. „Wenn du wüsstest, wie sehr du mich anmachst.“ Seine Hände wanderten langsam tiefer, doch sie stoppte ihn, bevor er weiter als bis zu ihrem Bauch kommen konnte. „Hattest du nicht gerade vor, jemand anderen zu beglücken?“ Er blinzelte überrascht. „Ja, ähm, also ...“ Mit einer entschlossenen Geste zog sie den Morgenmantel wieder zusammen, befreite sich aus seiner Umarmung und gab ihm noch einen Klaps auf den Po. „Na los, beeil dich, sonst ist er fertig, bevor du runterkommst.“ Er drückte ihr noch einen Kuss auf die Lippen, fast so, als könne er sich immer noch nicht trennen, bevor er in Richtung Tür lief. Als er fast dort angekommen war, rief sie ihn noch einmal zurück. Mit einem Schmunzeln deutete sie auf das Bett. „Die Sachen, Michael. Du hast sie liegenlassen. Und denk an ein Handtuch.“ „Handtuch, ja natürlich“, murmelte er, bevor er sich endgültig zur Tür hinaus trollte. Als sie hörte, wie er die Treppen hinunterging, schüttelte sie lachend den Kopf. „Er hat das Handtuch vergessen.“ Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie es ihnen noch bringen sollte. Allerdings war sie sich ziemlich sicher, dass unten tatsächlich noch ausreichend Handtücher vorhanden waren. Es wäre nur eine Ausrede gewesen. Trotzdem spielte sie noch mit dem Gedanken, als sie selbst endlich ins Bad ging und sich dort auszog, um zu duschen. Während sie unter dem warmen Wasserstrahl stand und das nach Magnolien und grünen Äpfeln riechende Duschgel auf ihrem Körper verteilte, weilten ihre Gedanken immer noch bei den beiden Männern. Was sie wohl gerade taten? Würden sie sich anfassen? Streicheln? Küssen? Vielleicht sogar … Eigentlich erwartete sie jeden Augenblick, dass die Eifersucht ihr hässliches Haupt erhob. Stattdessen fühlte sie nur unbefriedigte Neugier und noch etwas anderes. Wie von selbst glitt ihre Hand zwischen ihre Beine und fand dort weitaus mehr als nur Wasser und Seife. Mit reibenden Bewegungen wusch sie sich, bis die Spuren ihrer Erregung beseitigt waren. Ich werde mit ihnen darüber reden müssen, dachte sie noch, bevor sie das Wasser abstellte und aus der Dusche trat. Möglichst bald.         Der Schraubenzieher in Marcus’ Hand war fast so lang wie sein Unterarm. Es war kein besonders gutes Werkzeug, sondern lediglich ein billiges Utensil aus dem Baumarkt, das er sich besorgt hatte, um seine Tür zu reparieren. Er war gerade dabei, die letzte Schraube des neuen Scharniers festzuziehen, als er die Stimme hörte. „Hallo, Marcus.“ Seine Finger schlossen sich fester um den roten Plastikgriff. Der Drang, ihn dem Mann, der nur knapp zwei Meter von ihm entfernt auf der Galerie stand, in den Hals zu rammen, war für einen Moment übermächtig. Er wusste, dass er es nicht schaffen würde. Dazu waren die Reflexe seines Gegenübers zu gut. Trotzdem war die Vorstellung reizvoll. Er atmete tief durch und vollführte die letzte Drehung, bevor er aufstand und sich zu seinem Vater umdrehte. Der sah noch genauso aus, wie er ihn in Erinnerung hatte. Relativ groß, schlank, mit ebenso dunklen Haaren wie er selbst, glattrasiert, Mittelklasse-Anzug und mit dem gleichen, gutmütig herablassenden Gesichtsausdruck, den Marcus ihm so gerne aus dem Gesicht gewischt hätte. Der Mann musterte ihn für einen Moment. „Bist groß geworden.“ Marcus schnaubte. „Oh bitte, verschone mich. Ich hab dich nicht angerufen, um über alte Zeiten zu plaudern.“ „Und doch beschäftigen sie dich noch.“ Sein Gegenüber sah ihn prüfend an. „Du hast mir immer noch nicht verziehen.“ „Natürlich nicht“, brauste Marcus auf. „Du hast meine Mutter umgebracht!“ Der Mann räusperte sich. „Vielleicht sollten wir dieses Gespräch lieber nach drinnen verlagern. Darf ich reinkommen?“ Marcus Finger malträtierten den Griff des Schraubenziehers. „Bitte“, presste er zwischen den Zähnen hervor und trat von der reparierten Tür zurück. Sein Vater nickte ihm noch einmal zu, bevor er an ihm vorbei in den Flur trat. Jetzt. Jetzt hätte er es versuchen können. Der Rücken war ungeschützt und vielleicht war er schnell genug, um … „Du hattest Besuch“, sagte sein Vater und schnupperte. „Dämonen. Hast du deswegen angerufen?“ Er drehte sich so unvermittelt um, dass Marcus fast in ihn hineingerannt wäre. Für einen Augenblick konnte er ihn riechen. Diese Mischung aus Styrax und weißem Sandelholz, der allen Engeln anhaftete. Nicht, dass Marcus bisher viele von ihnen getroffen hatte. Aus gutem Grund wohlgemerkt. Meist machte er, sobald er ihre Aura bemerkte, schon auf dem Absatz kehrt und versuchte, möglichst viel Abstand zwischen sich und die Gotteskrieger zu bringen, die unerkannt auf der Erde wandelten. Die so taten, als wären sie ganz normale Menschen, und sich in das Schicksal der Welt einmischten. „Möchtest du darüber reden?“ Wieder dieser nachsichtige Blick. Er spürte, wie ihm der Schraubenzieher aus der Hand genommen wurde. „Du siehst aus, als könntest du einen Tee vertragen. Soll ich dir einen machen?“ Marcus wollte erwidern, dass er sich zum Teufel scheren sollte. Wortwörtlich. Aber er konnte es nicht. Stattdessen nickte er. Sein Vater verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. „Du weißt, dass es ein Unfall war.“ „Du meinst, dass ich ein Unfall war.“ Ein Seufzen antwortete ihm. „Wenn du es so ausdrücken willst: Ja. Es war nie geplant, dass deine Mutter und ich … Es hätte gar nicht passieren dürfen. Du weißt, dass Engel keine Begierde dieser Art empfinden.“ Markus presste die Kiefer aufeinander und sah zu, wie sich sein Vater wie selbstverständlich in seiner Küche zu schaffen machte. „Ja, das weiß ich“, knurrte er. „Es lag an dem Sukkubus, der dich angegriffen hat. Aber warum hast du dich nicht von ihr ferngehalten, als du infiziert wurdest? Warum bist du zu ihr zurückgegangen? Du hättest einfach warten können, bis die Wirkung des Gifts dich krepieren lässt.“ „Weil ich sie geliebt habe. Und weil ich nicht wusste, dass ich der Versuchung so wenig würde widerstehen können.“ Kalte Wut stieg in Marcus auf. Er wünschte sich den Schraubenzieher zurück. „Aber warum hast du sie dann geschwängert?“, schleuderte er ihm ins Gesicht. „Du hättest wissen müssen, dass sie die Geburt nicht überlebt. Himmel, wir leben im 21. Jahrhundert. Heutzutage gibt es Verhütung, verdammt noch mal.“ Jetzt war es an seinem Vater, verlegen zu Boden zu sehen. „Du hast recht. Ich war töricht. Aber du solltest nicht fluchen.“ „Ha!“, machte Marcus und ignorierte die Tasse, die sein Vater ihm reichen wollte. „Warum denn nicht? Weil der Big Boss dann böse wird? Was will er denn machen? Mich mit einem Blitz erschlagen? Den Boden aufreißen und mich verschlingen lassen? Oder eine neue Sintflut wie die, die damals alle Nephilim von der Erde getilgt hat, weil ihr Engel wie die Heuschrecken über menschliche Frauen hergefallen seid?“ „Ach das war ein ...“ „Unfall?“ Marcus schrie jetzt. „Komm mir bloß nicht damit. Diese ganze Geschichte um die Essenz von Lilith ist doch eine einzige Ausrede. Niemand hat das Zeug je zu Gesicht bekommen. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen darüber.“ „Es gab sie“, erwiderte der Mann, der immer noch mit der Tasse in der Hand in der Türöffnung stand. „Und nicht einmal die stärksten von uns konnten sich der Wirkung entziehen. Sie hat diejenigen, die von ihr betroffen waren, in unersättliche Bestien verwandelt. Nicht wenige von ihnen haben sich nie wieder von der Wirkung erholt. Sie sind gefallen und …“ „Verschone mich damit, Vater!“ „Erik.“ Marcus blinzelte überrascht. „Was?“ „Mein Name. Du kannst mich Erik nennen. Oder Erithriel, wenn du denn darauf bestehst.“ Marcus’ Gesicht verfinsterte sich. „Warum sagst du mir das?“ „Weil du kein kleiner Junge mehr bist, der sich schreiend und um sich tretend auf den Boden wirft, nur weil er seinen Willen nicht bekommt. Du bist zu einem Mann herangewachsen, Marcus. Zu einem Mann, auf den deine Mutter sicherlich stolz wäre, wenn sie dich jetzt sehen könnte. Und ich schwöre dir, wenn ich könnte, würde ich mit Freuden mein Leben für ihres hergeben. Aber ich kann nicht. Ich darf es nicht. Du weißt, was dann passiert.“ „Ja. Du fällst und die dunkle Seite erhält einen neuen Krieger für die letzte Schlacht.“ Er schnaubte abfällig. „Obwohl ich nicht glaube, dass du eine große Bereicherung für sie wärst. Du bist kein besonders mächtiger Engel.“ Erik verzog das Gesicht. „Autsch. Aber das habe ich wohl verdient.“ Er sah sich in der verwüsteten Wohnung um. „Erzählst du mir jetzt, warum du angerufen hast? Unser letzter Kontakt ist immerhin schon eine Weile her.“ „7 Jahre“, gab Marcus zurück. Es kam ihm immer noch nicht lange genug vor. Aber sein Vater … Erik hatte recht, er konnte es sich nicht leisten, wegen seines persönlichen Grolls auf die einzige Hilfe zu verzichten, die er bekommen würde. Nicht schon wieder. „Hier waren tatsächlich Dämonen“, erklärte er und wies auf die Gestalt, die unter einem alten Bettlaken neben seinem Sofa lag. „Das da ist … war ein Balam. Eine Mischung aus Mensch und Jaguar.“ Erik nickte. „Hab von denen gehört. Unangenehm mit den Krallen und Zähnen und so.“ Er stutzte. „Hast du den etwa alleine erledigt? Ich dachte ...“ „Was? Dass ich zu schwach dazu bin? Sollte man annehmen, oder? Keine übermenschlichen Kräfte, nur ein bisschen außersinnliche Wahrnehmung und leicht beschleunigte Wundheilung. Du warst nicht eben großzügig bei der Weitergabe deiner Fähigkeiten.“ „Aber wie konntest du dann den Balam erledigen?“ „Hab ihm den Kopf weggesprengt. Scheint eine relativ effektive Methode zu sein.“ Eriks Mundwinkel zuckten. „Also ist doch alles unter Kontrolle. Du lebst, ein Dämon weniger, wo liegt also das Problem?“ „Das Problem liegt darin, dass er nicht allein war. Er wurde von einer Rotte Cadejo begleitet.“ „Diese Hunde-Dämonen? Das erklärt den Gestank. Aber warum beunruhigt dich das?“ „Weil sie aussahen wie normale Menschen.“ Erik atmete hörbar ein. Marcus bemerkte es mit grimmiger Zufriedenheit. „Und das ist noch nicht alles“, fuhr er fort. „Ich hatte mich mit Salz geschützt, aber der Anführer … Er hat den Schutzkreis einfach durchbrochen. Es war so, als wäre der Zauber vollkommen wirkungslos.“ Hinter Eriks Stirn schien es zu arbeiten. „Das sind allerdings beunruhigende Neuigkeiten. Und du bist dir ganz sicher, dass es Dämonen waren?“ „Ja, ich habe gesehen, wie er sich verwandelt hat. Aber das ist noch nicht alles.“ Marcus machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. „Sie jagen einen Engel.“ Eriks Kopf ruckte nach oben. „Was sagst du da?“ „Sie jagen einen Engel“, wiederholte Marcus. „Glaube ich zumindest. Ich … ich habe ihn gesehen. Irgendwas an ihm ist seltsam. Ich konnte keinerlei Spuren göttlicher Macht an ihm wahrnehmen. Keine Aura, kein Geruch, nichts. Und doch hat er ein riesiges Engelsschild beschworen, als ich ihn angegriffen habe.“ „Du hast ihn angegriffen? Bist du wahnsinnig? Er hätte dich töten können.“ Marcus wusste, dass Erik recht hatte. Ein Nephilim wie er wurde als Abscheulichkeit angesehen und von den Kriegern der himmlischen Heerscharen getötet, sobald sie einen entdeckten. Allein die Tatsache, dass er einfach nicht besonders talentiert und deshalb nie aufgefallen war, hatte ihm vermutlich bisher das Leben gerettet. Im direkten Kontakt mit einem Engel jedoch würde dieser sofort merken, was er vor sich hatte, und wäre verpflichtet, ihn zu liquidieren. „Du hättest mich auch töten können damals“, sagte er plötzlich. „Warum hast du es nicht getan?“ Er sah, wie Erik seinem Blick auswich. „Ich wollte es. Als ich von dir erfuhr, wollte ich es zu Ende bringen. Das Zeugnis meines Versagens tilgen. Aber ich konnte es nicht. Du warst noch so jung und du hattest … du hast ihre Augen. Ich habe es nicht übers Herz gebracht.“ „Stattdessen hast du beschlossen, dich mir zu offenbaren und mich umfassend über diese ganze Scheiße, die zwischen Himmel und Hölle abläuft, zu informieren. Wenn du das nicht getan hättest, wäre ich jetzt nicht hier mit einem toten Balam in meinem Wohnzimmer.“ Jetzt lächelte Erik wieder. „Darf ich dich daran erinnern, dass du derjenige warst, der mich damals gerufen hat. Du wolltest Antworten und Antworten hast du bekommen. Ich kann nichts dafür, dass sie dir nicht gefallen. Das ist das Problem mit euch Menschen. Ihr …“ „Wenn du jetzt irgendeinen dämlichen Spruch zum Baum der Erkenntnis machst, probiere ich aus, wie lange Engel ohne Kopf überleben.“ Sein Vater lachte auf. „Du bist wirklich ein zorniger, junger Mann, Marcus. Aber sei’s drum. Wir haben größere Probleme. Wenn du sagst, dass mit diesen Dämonen etwas nicht stimmt, werde ich dem nachgehen. Aber zunächst einmal werde ich mich um diesen verirrten Engel kümmern. Hast du eine Ahnung, wo ich ihn finden kann?“ Marcus ging zum Schreibtisch, schrieb eine Adresse auf einen Zettel und reichte sie Erik. „Die einzige Spur, die ich habe, führt hierher zu einem gewissen Michael Thompson. Er hat den Engel mitgenommen, als ich versucht habe, ihn zur Rede zu stellen.“ Erik nickte und steckte die Adresse ein. „Gut. Ich werde sehen, was ich tun kann. Mir ist zwar nicht bekannt, dass einer von uns zur Erde gesandt werden sollte, aber wenn du sagst, dass es sich um einen Engel handelt, dann glaube ich dir. Wir werden dafür sorgen, dass er wieder dorthin zurückkommt, wo er hingehört.“ Er näherte sich Marcus, der unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Das Letzte, was er wollte, war eine väterliche Umarmung oder etwas in der Art. Er hatte nichts mit diesem Mann zu schaffen und je weniger er ihn an sich heranließ, desto besser. Man sah ja, was das seiner Mutter eingebracht hatte. Erik verzog keine Miene, aber Marcus sah trotzdem, dass er enttäuscht war. Er seufzte leise. „Also gut, wie du willst.“ Sein Vater wandte sich zum Gehen, aber in der Tür blieb er noch einmal stehen. Er sah Marcus an. „Tu mir einen Gefallen, Sohn. Halte dich von diesen Dämonen fern. Ich weiß, dass du darauf brennst, dich zu rächen. Aber diese Rache wird dich mehr kosten, als du wahrhaben willst. Ich würde nur ungern irgendwann gegen dich antreten müssen.“ Marcus nickte lediglich, doch kaum, dass Erik verschwunden war, konnte er den Funken des Widerwillens spüren, den die Worte seines Vaters in ihm gesät hatten. Sicherlich, diese Dämonen waren eigenartig, aber sie waren auch verwundbar. Und wenn sein Vater zuerst diesen Engel suchte, würden die Dämonen vielleicht ungeschoren davonkommen. Das konnte er nicht zulassen. Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck ging er zum Bücherregal und suchte darin nach einem bestimmten Buch. Als er es gefunden hatte, nahm er auf dem Sofa Platz und begann zu lesen.     Kapitel 7: Trigonometrie ------------------------ Die Sonne fiel durch das gewölbte Kuppeldach des Einkaufszentrums und brach sich in dem kleinen Wasserlauf, den die Erbauer in dessen Mitte angelegt hatten. Er floss über Steine und Stufen an üppigen Grünpflanzen und künstlich errichteten Felshöhlen vorbei und mündete schließlich in einer Art Teich, an dessen Rand diverse Mütter dabei waren, ihre Kleinkinder daran zu hindern, sich kopfüber hineinzustürzen. Es war laut, es war belebt, es war voller Menschen. Eigentlich hätte Michael genug damit zu tun haben sollen, sich durch das Gewühl zu drängen und dabei nicht die Nerven zu verlieren. Eigenartigerweise war er sehr entspannt, was vielleicht daran lag, dass er mehr Augen für seine zwei Begleiter hatte als für die anderen Besucher der Mall, die wie unwichtige Statisten an ihm vorbeiglitten. Er war nahezu vertieft in den Anblick von Angelo und Gabriella, die zwei Schritte vor ihm liefen und sich prächtig unterhielten. Auf Italienisch, sodass er maximal Bruchstücke verstand. Ihm war die Aufgabe zugefallen, die Einkaufstüten zu tragen, aber er fühlte sich wohl in seiner Rolle als Packesel. Und so viel hatten sie ja im Grunde auch nicht gekauft. Einige Shirts, die Angelo nicht um drei Nummern zu weit waren, zwei Hosen und vor allem Schuhe, die der Junge nicht bei jedem Schritt zu verlieren drohte. Angelo war zwar nicht unbedingt begeistert davon gewesen, welche anziehen zu müssen, aber nachdem ihm der Zugang zur Eisdiele verwehrt worden war mit dem Hinweis, dass sein nicht vorhandenes Schuhwerk ein Hygiene-Problem darstellte, hatte er sich schnell dazu überreden lassen, wenigstens ein Paar leichte Turnschuhe an seinen Füßen zu ertragen. Auch die eng geschnittene Jeans und das hellblaue T-Shirt standen ihm sehr viel besser als das, was Gabriella ihm vorhin rausgesucht hatte. Vor allem, weil Angelo in einem Iron-Maiden-Shirt einfach nur seltsam ausgesehen hatte. Michael erinnerte sich noch daran, als er ihm die Sachen gebracht hatte. Er war nervös gewesen, obwohl er sich in seinem eigenen Haus befunden hatte und der Anblick, der ihn erwartet hatte, ihm ja nicht unbekannt gewesen war. Es war trotzdem aufregend gewesen, die Tür der Duschkabine zur Seite zu schieben, um Angelo zu fragen, ob er Hilfe brauchte. Zunächst hatte der Junge ihn ziemlich erschrocken angestarrt, fast so als habe er ein schlechtes Gewissen. Aber sobald Michael ihm gesagt hatte, dass Gabriella ihre Erlaubnis dazu gegeben hatte, war seine Scheu von ihm abgefallen und er hatte sich gern in Michaels kundige Hände begeben. Michael hatte jedoch gar nicht das Bedürfnis verspürt, unbedingt sehr intimen Kontakt mit ihm zu haben. Es hatte ihm gereicht, Angelo den Rücken zu waschen, ihn dabei sanft zu küssen und zu streicheln und ihn hinterher in ein flauschiges Badetuch zu hüllen, bis nur noch seine Nasenspitze herausgeguckt hatte. Erst, als Angelo dann in seinen alten Sachen vor ihm gestanden hatte, hatte Michael sich dazu hinreißen lassen, ihn in einer Ecke gegen die Wand zu drängen und ihn tief und innig zu küssen, bis sie beide nach Luft geschnappt hatten. Als Gabriella dann die Treppe hinunter gekommen war, hatten sie beide schnell ihre Kleidung in Ordnung gebracht, aber Gabriellas wissendem Blick hatte Michael entnommen, dass sie sehr wohl mitbekommen hatte, was sie getrieben hatten. Und jetzt ging diese wunderbare Frau in ein weitschwingendes, knielanges Sommerkleid gehüllt vor ihm, dessen Farbe beinahe die gleiche war wie die von Angelos T-Shirt. Man hätte die beiden für ein Paar halten können. Der Gedanke plätscherte noch ein wenig dahin wie das Wasser des künstlichen Baches, bis Michael endlich darauf aufmerksam wurde, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war. Angelo und Gabriella? Ein Paar? Das war eigenartig zu denken, aber jetzt, wo er genauer hinsah, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die beiden gerade ziemlich heftig miteinander flirteten. Das hieß, eigentlich flirtete Gabriella und Angelo bemühte sich, irgendwie mit ihr Schritt zu halten. Der Gesichtsausdruck jedoch, mit der er ihr jetzt sein Eis hinhielt und auf ihre Lippen starrte, während sie diese genüsslich um die weiche Vanillemasse stülpte, war schon ziemlich … eindeutig. Hätte irgendein anderer Kerl seine Frau so angesehen, hätte er wohl damit rechnen müssen, von Michael kopfüber in den nächsten Mülleimer befördert zu werden. Angelo drehte sich zu ihm um und schickte ihm einen Blick, der Michael unter die Haut ging. Sieh nur, schien er zu sagen. Sie mag mich. Das ist toll! Michael schickte ihm ein Lächeln zurück und bedachte auch Gabriella, die ihm lachend zuwinkte, mit dem gleichen Gesichtsausdruck. Eine Frau, die sie beobachtet hatte, runzelte leicht die Stirn, aber als er ein wenig länger in ihre Richtung sah, drehte sie sich schnell wieder weg und kümmerte sich um ihren eigenen Kram, ganz so wie Michael es ihr mit Blicken nahegelegt hatte. Das hier war gut und er würde es sich nicht von irgendwelchen blöden Gaffern kaputtmachen lassen. Was wussten die denn schon?   Als die großen Glastüren am Ende der Mall in Sicht kamen, blieb Gabriella stehen und sah auf die Uhr. „Mhm, es ist eigentlich schon längst Zeit für’s Lunch. Hat einer von euch Hunger? Ich stelle mich nämlich bestimmt nicht in die Küche.“ Michael wiegte den Kopf hin und her. „Ich weiß nicht, viel Hunger habe ich nicht. Woran hattest du gedacht?“ „Sushi?“ „Wäre ich dabei.“ Sie drehten sich beide zu Angelo herum. „Und du?“, fragte Gabriella. „Magst du Sushi?“ Angelo sah zwischen ihnen beiden hin und her. Michael bemerkte, dass ihm noch ein wenig Eiscreme im Mundwinkel klebte und hätte diese nur zu gerne abgeleckt. Als Gabriella seinen Blick bemerkte, stieß sie ihn in die Seite und flüsterte: „Hey! Du siehst aus, als würdest du ihn gleich in Sojasoße tauchen und vernaschen.“ „Ach“, wisperte er zurück. „Das sagt ausgerechnet die, die seinem Eis einen regelrechten Blowjob verpasst hat.“ Gabriella sah ihn entgeistert an und wurde tatsächlich ein bisschen rot. „D-das ist mir gar nicht aufgefallen.“ „Mir aber.“ Sie starrten sich noch einen Augenblick lang an, bevor sie beide gleichzeitig anfingen zu lachen. Angelo blickte immer noch verwirrt drein. „Habe ich etwas verpasst?“, wollte er wissen. „Nein, nicht wirklich. Erklären wir dir nachher“, antwortete Michael gönnerhaft. „Aber jetzt gibt es erst mal was Richtiges zu essen. Du hast schon kaum gefrühstückt. Nicht, dass du uns noch vom Fleisch fällst.“ Angelo öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber dann schloss er ihn unverrichteter Dinge wieder. Sein Blick huschte für einen Moment zu Michaels Lippen und der konnte den Wunsch des Jungen verstehen. Er hätte ihn jetzt wirklich zu gerne geküsst. Stattdessen lehnte er sich vor und flüsterte ihm ins Ohr: „Nicht hier. Das wird nicht so gerne gesehen. Aber wenn wir wieder zu Hause sind …“ Er ließ offen, was sie dann tun würden, aber das Funkeln in Angelos Augen zeigte ihm, dass dieser ebenfalls nicht abgeneigt war. Der Gedanke machte Michael ganz kribbelig. Er war kurz davor, das Lunch doch ausfallen zu lassen, als Gabriella seine Hand nahm und ihn einfach in Richtung Sushi-Palace zog. Er sah zu Angelo zurück und hob die Schultern. „Was will man machen? Sie ist der Boss.“ Angelo grinste zum ersten Mal, seit Michael ihm begegnet war, und schlenderte dann betont langsam hinter ihnen her. „Verräter“, knurrte Michael, als sich der blonde Junge kurz darauf neben ihn auf einen der orangen Plastikstühle an der langen Theke der Sushi-Bar sinken ließ. „Ich dachte, du bist auf meiner Seite.“ Angelo bedachte ihn mit einem Blick aus seinen großen, blauen Augen und Michael drehte sich betont weg. „Versuch jetzt nicht die Hündchen-Nummer bei mir. Die zieht gerade nicht, du Kameraden-Schwein.“ „Michael, ich muss doch sehr bitten. Wir sind hier in der Öffentlichkeit.“ Gabriellas tadelnder Ton war leider nur zum Teil gespielt. „Er hat angefangen“, murrte Michael und betrachtete ein wenig missmutig die Speisekarte. Als er sah, dass Angelo nicht dergleichen tat, sondern stattdessen das Restaurant und die anderen Gäste in Augenschein nahm, stieß er ihn unauffällig an. „Hey, war nur ein Scherz. Wenn du kein Sushi magst, haben die hier auch Suppen.“ „Nein, schon in Ordnung. Ich würde es gerne mal probieren.“ Sein Blick wanderte trotzdem weiter durch den Raum, sodass Michael beschloss, ihm einfach eine kleine Auswahl an verschiedenen Sorten zu bestellen. Im Notfall konnten sie die Reste ja mit nach Hause nehmen. Der junge Asiat hinter der Theke nahm ihre Bestellung auf und nickte freundlich, bevor er in Richtung Küche verschwand, um ihre Wünsche weiterzugeben. An der Tür, die in den hinteren Bereich des Restaurants führte, traf er mit einer weiteren Service-Kraft zusammen. Sie begannen, sich zu unterhalten, wobei die Konversation zunehmend unfreundlicher wurde. Schließlich beendete die erste Bedienung die Unterhaltung mit einem entschiedenen Wort, woraufhin die zweite mit langem Gesicht loszog, um die Tische abzuwischen, die im Seitenteil der Sushi-Bar standen. Michael grinste Angelo an. „Worüber die wohl gestritten haben? Bestimmt hat einer dem anderen seine Pokémon-Karten geklaut oder so.“ Angelo schüttelte den Kopf, während er seine Limonade durch einen Strohhalm zog. „Er hat vergessen, den Kühlraum richtig zuzumachen. Jetzt sind ihnen zwei komplette Thunfisch-Seiten verdorben und es kommt erst morgen neue Ware. Da Thunfisch mit zu den beliebtesten Sorten gehört, hat das vermutlich ziemliche Umsatzeinbußen zur Folge. Der am Tisch bekommt den Verlust vom Lohn abgezogen.“ Angelo nahm noch einen Schluck Limonade. Michael blinzelte dreimal. „Du verarschst mich doch.“ Angelo sah ihn an, als wüsste er nicht, wovon Michael sprach. „Aber du hast sie doch gehört. Laut genug waren sie ja.“ „Ja, aber die haben Japanisch oder was auch immer gesprochen und das auch noch ziemlich schnell. Das kannst du unmöglich verstanden habe.“ „Hab ich aber.“ Michaels Augenbrauen wanderten in Richtung seines Haaransatzes. Er drehte sich zu Gabriella herum. „Angelo behauptet, er spräche Japanisch.“ „Ja und? Viele Leute tun das. Japaner zum Beispiel.“ „Ja aber Italienisch und Japanisch? Ist das nicht ein wenig seltsam?“ Gabriella runzelte die Stirn. „Ja schon ein wenig. Aber da wir ja nicht wissen, woher er kommt, könnte das ein Hinweis sein. Vielleicht ist er mit seinen Eltern viel gereist. Diplomaten eventuell?“   Michael drehte sich wieder zurück und betrachtete Angelo eingehend. Der nuckelte immer noch an seinem Strohhalm und sah Michael fragend an. „Beweis es mir“, forderte Michael plötzlich. „Ich will sehen, ob du wirklich Japanisch sprichst.“ Angelo zögerte einen Augenblick, bevor er von seinem Stuhl herunter rutschte und zu der Bedienung ging, die jetzt begonnen hatte, die Tische neu einzudecken. Als er ihn ansprach, wirkte der junge Mann zunächst überrascht und nickte dann jedoch freundlich. Zusammen mit Angelo kam er wieder zurück zur Bar. „Ihr Freund bat mich, Ihnen zu bestätigen, dass er Japanisch spricht. Ich kann nur sagen, dass seine Aussprache wirklich hervorragend ist.“ Michael sah den lächelnden Mann an und zog die Augenbrauen zusammen. „Okay, vielen Dank“, murmelte er. „Keine Ursache und guten Appetit.“ Angelo setzte sich wieder, als wäre nicht das Geringste passiert. Mit einem Blick auf Michael steckte er sich den Strohhalm in den Mund. Der gab ein amüsiertes Geräusch von sich. „Du bist wirklich ’ne ganz schöne Wundertüte, weißt du das?“ Angelo überlegte einen Augenblick. „Ist es eigenartig, so viele Sprachen zu sprechen?“ „Nicht unbedingt“, gab Michael zu. „Ich hatte es nur irgendwie nicht erwartet.“ „Ich auch nicht“, erwiderte Angelo mit einem Lächeln, bevor er sich wieder auf seine Limonade konzentrierte, die schon fast geleert war. Michael schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Lass noch Platz für das Sushi.“ Angelo sah ihn einen Augenblick lang an, bevor er das Getränk zur Seite stellte und die Augen niederschlug. Michael seufzte innerlich.   Sie mussten nicht lange auf das Essen warten, denn schon kurz danach wurden drei appetitlich angerichtete Teller vor ihnen auf der Theke abgestellt. Die Bedienung auf der anderen Seite verbeugte sich. „Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Thunfisch leider aus ist. Möchten Sie eine andere Sorte nachbestellen?“ Michael schüttelte nur den Kopf und sah zu Angelo. Der betrachtete gerade ein wenig hilflos die Stäbchen, die neben seinem Teller lagen. „Wie benutzt man die?“ Michael begann zu grinsen. „Du sprichst fließend Japanisch, kannst aber keine Stäbchen benutzen? Also jetzt bin ich mir sicher, dass du mich veralberst.“ Angelo sah ihn ein wenig unglücklich an. „Ich weiß wirklich nicht, woher ich das kann. Bitte, Michael, das musst du mir glauben.“ Michael lächelte. „Das tue ich. Und ich zeige dir, wie man richtig mit Stäbchen isst.“ Angelo sah ihn dankbar an und ging dann daran, Michaels Anweisungen zu folgen, sehr zu Erheiterung von Gabriella, die sie beobachtete, während sie selbst lediglich ihr Sushi in den Mund schob und genüsslich kaute. Michael schickte ihr einen Luftkuss, bevor er sich wieder darauf konzentrierte, Angelo nicht hungrig sterben zu lassen.   Als sie nach Hause kamen, kümmerte sich Gabriella darum, ihre Einkäufe zu verstauen und sich ein wenig frisch zu machen, während Michael und Angelo ins Wohnzimmer gingen. Michael ließ sich auf eines der Sofas fallen und streckte die Beine aus. „Oh, dieses langsame Herumgeschlendere ist nichts für mich. Das ist anstrengender als zwei Stunden Sport.“ Er angelte nach der Fernbedienung und warf er sie Angelo zu. „Hier. Vielleicht findest du ja heraus, dass du auch noch Mandarin sprichst oder etwas in der Art.“ Angelo nickte gehorsam und begann, sich durch die Programme zu schalten. Michael beobachtete ihn dabei. Der Junge schien vollkommen gefesselt und die bunten Bilder spiegelten sich in seinen Augen. Ab und zu bewegten sich seine Lippen und Michael kam nicht umhin zu denken, dass das doch alles ziemlich seltsam war. Spätestens morgen würde er sich um das Problem kümmern müssen, wo Angelo herkam. Aber jetzt … jetzt war er einfach nur müde. Sein Blick glitt zum Bildschirm und die wechselnden Programme verschwammen zunehmend vor seinen Augen, die irgendwann endgültig zufielen.       Gabriella hörte die eigenartigen Töne, die aus dem unteren Stockwerk kamen. Als sie die Treppe hinunter kam, schlief Michael auf dem Sofa, während Angelo in das Studium einer Sendung vertieft war, deren Sinn sich Gabriella nicht ganz erschloss. Es schien eine Art Gameshow zu sein, die vollen Körpereinsatz der Kandidaten verlangte. Auf jeden Fall war einer von ihnen gerade dabei, in einen Kleiderbügel zu beißen. „Was siehst du dir da an?“, fragte sie und fiel automatisch wieder ins Italienische. „Er versucht herauszufinden, ob der Gegenstand aus Schokolade ist.“ „Indem er hineinbeißt?“ „Mhm-mhm.“ Der Kandidat war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass ihm der Bügel nicht schmeckte und wurde dafür vom Publikum mit Applaus belohnt. Gabriella ließ sich ebenfalls auf dem Sofa nieder und sah ein wenig amüsiert zwischen Angelo und dem Fernseher hin und her. „Und das gefällt dir?“ Angelo riss den Blick los und sah sie ein wenig schuldbewusst an. „Ich sollte eigentlich herausfinden, wie viele Sprachen ich noch spreche.“ „Und?“ „Bisher bin ich bei zehn, aber ich habe noch nicht alle Programme angesehen.“ Gabriella entwich ein Laut der Verblüffung. „Zehn verschiedene Sprachen? Aber das ist doch nicht möglich.“ Angelo sah sie nur an und wirkte unglücklich. Sie schob die Mundwinkel ein wenig nach oben. „Das kommt bestimmt wieder. Du musst dir Zeit geben.“ Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr. „Aber du weißt, dass wir morgen zur Polizei gehen müssen. Wir müssen melden, dass du hier bist. Du kannst nicht einfach hierbleiben.“ „Warum nicht?“ „Weil …“ Gabriella sah zum Bildschirm, wo jetzt jemand in einen Schuh biss, der tatsächlich aus einer Art Sirupmasse zu bestehen schien. „Weil irgendjemand da draußen dich sucht. Vermutlich sind deine Eltern krank vor Sorge.“ Angelo sah noch einmal zum Bildschirm, dann schaltete er den Fernseher ab und legte die Fernbedienung auf den Couchtisch. Anschließend faltete er die Hände in seinem Schoß. „Ich glaube nicht, dass ich Eltern habe“, sagte er leise. „Ich müsste mich doch an sie erinnern, oder? Aber da ist nur … so ein Gefühl. Ein Gefühl, dass mir sagt, dass ich nicht dorthin zurückkehren darf, wo ich herkomme. Nicht bevor …“ Er hob die Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich versuche ja, mich zu erinnern, aber da ist nichts.“ Angelo ließ den Kopf hängen. Gabriella rutschte zu ihm heran und griff nach seiner Hand. „Wir kriegen das hin, okay? Michael und ich helfen dir.“ Er sah sie verstohlen an, bevor er den Blick wieder senkte. „Ich fühle mich sehr wohl bei euch“, sagte er leise. „Ihr seid so … Es ist gut, wenn ich in eurer Nähe bin. Leichter.“ Sie strich sanft über seinen Handrücken. „Niemand ist gern allein.“ Er lehnte sich ein wenig an sie und sie war sich sicher, dass er am liebsten seinen Kopf auf ihre Schulter gelegt hätte, so wie er es bei Michael oft tat. So jedoch saßen sie lediglich Seite an Seite, die Hände auf seinem Schoß verschränkt, während Michael ihnen gegenüber schlief. Der Moment dauerte eine ganze Weile an, bis Angelo begann, langsam mit dem Daumen über ihren Handrücken zu streichen. Er öffnete die Hand und verflocht ihre Finger miteinander, während er sie nicht ansah. Trotzdem begann Gabriellas Herz mit einem Mal schneller zu klopfen. Die Erinnerung an den Morgen kam zurück und ihr fiel ein, was Michael gesagt hatte. Dass sie Angelo eindeutige Avancen gemacht hatte. Dachte sie etwa unbewusst wirklich darüber nach? Ihr Blick glitt zu ihrem Mann. Wie Michael wohl darauf reagieren würde? Würde er wütend darüber sein, wenn sie ihm gestand, dass sie Angelo attraktiv fand? Und was würde Angelo dazu sagen? Er war schließlich mit Michael hierher gekommen. Andererseits war da dieser Blick gewesen, mit dem er sie fast ausgezogen hatte. Sie sah zur Seite und bemerkte, dass er sich auf die Lippen biss. „Was ist los?“ Er zuckte ein wenig zusammen. „Nichts“, antwortete er und sie wusste sofort, dass er log. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Hat dir Michael nicht erzählt, dass ich einen eingebauten Lügendetektor habe? Du brauchst also gar nicht erst zu versuchen, mich anzuschwindeln.“ „Ich … ich musste an heute Morgen denken.“ Ein Schauer lief über Gabriellas Nacken. Sie räusperte sich. „Deswegen wollte ich eigentlich noch einmal mit dir sprechen. Mit euch beiden.“ Sie sah auf und blickte genau in Angelos blaue Augen. Einige Herzschläge lang geschah gar nichts, dann beugte er sich plötzlich vor und seine Lippen streiften ihre. Als er sich wieder zurücklehnte, sah sie genau, dass sich seine Pupillen erweitert hatten. Gabriella schluckte. „Angelo, ich glaube nicht, dass du …“ „Du bist schön“, unterbrach er sie. „Ich würde dich gerne … berühren.“ Gabriella konnte nicht verhindern, dass seine Worte eine Gänsehaut über ihren Körper schickten. Sie wünschte sich, ihn noch einmal zu küssen. „Ich glaube nicht, dass wir das tun sollten. Nicht bevor wir mit Michael gesprochen haben.“ Hatte sie das jetzt gerade tatsächlich gesagt? Wer war diese Frau, die lenkte, was aus ihrem Mund kam? „Und wenn er einverstanden ist?“ „Wenn wer womit einverstanden ist?“ Angelo und Gabriella fuhren gleichzeitig auf, als sie Michaels Stimme hörten. Der sah zwischen ihnen hin und her, bis er ihre verschränkten Hände bemerkte. Er hob leicht die Augenbrauen. „Wollt ihr mir etwas sagen?“ Gabriella sah Angelo an und dann wieder ihren Mann. Sie atmete langsam aus. „Ja, ich glaube, das ist überfällig. Ich denke, dass da etwas ist zwischen uns. Du darfst mich gerne korrigieren, Angelo, aber ich denke, die Tatsache, dass du mich gerade geküsst hast, spricht eine relativ eindeutige Sprache.“ Michael blickte jetzt zu Angelo. „Du hast meine Frau geküsst?“ „J-ja?“ Hinter Michaels Stirn schien es zu arbeiten. Plötzlich begann er zu grinsen. „Würdet ihr das noch einmal machen?“ Gabriella sah ihn erstaunt an. „Wie meinst du das?“ „Na, ob ich zusehen darf, wie ihr beide euch küsst. Ich stelle mir das irgendwie spannend vor.“ „Spannend?“ Gabriella lachte auf. „Wir sind doch hier nicht im Kino.“ Michaels Blick wurde weicher. „Ja, ich weiß. Aber ich würde euch einfach gerne die Gelegenheit dazu geben, es auszuprobieren. Wenn es nicht gut ist, hören wir einfach damit auf. Alles kann, nichts muss. Und nur, wenn ihr beide möchtet.“ Er sah zu Angelo hinüber, um auch sein Einverständnis einzuholen. Der Junge nickte nur leicht. Danach richteten sich die Blicke der beiden Männer auf Gabriella. Sie spürte, wie ihr Mund trocken wurde und ihr Herz begann, schneller zu klopfen. Das war so verrückt und gleichzeitig fühlte es sich unglaublich aufregend an. Sie fühlte sich so … begehrt. Dass Michael sie anziehend fand, wusste sie ja, aber dass auch Angelo so über sie dachte, sorgte für ein Kribbeln in ihrer Magengegend. Fast so, als würde sie am Fuß einer Achterbahn stehen und überlegen, ob sie bereit war, sich in einen der Waggons zu setzen. Aber anders als bei der Achterbahn konnte sie jederzeit aussteigen. Plötzlich merkte sie, dass sie sich schon längst entschieden hatte. „Okay“, sagte sie. „Aber nur Küssen, nicht mehr.“ Sie schenkte Angelo einen strengen Blick, der den Jungen erröten ließ. War er mit Michael auch so? Oder anders? War das wichtig? Störte es sie? Wie sollten sie anfangen? Sich auf Kommando zu küssen, kam ihr merkwürdig vor. Fast so wie früher beim Flaschendrehen. Sie lachte ein wenig zu laut bei dem Gedanken. „Das ist eigenartig.“ „Möchtest du, dass ich zu euch komme?“, fragte Michael. „Ich könnte mich neben dich setzen.“ Gabriella überlegte kurz, bevor sie nickte. Sie brauchte Michael jetzt in ihrer Nähe. Als sie seine gewohnte Präsenz hinter sich spürte, begann sie, sich zu entspannen. Er hauchte ihr einen Kuss auf den Nacken. „Du bist wunderschön“, murmelte er. „Findest du nicht, Angelo?“ „Ja, das ist sie.“ Angelos Augen glitten über ihren Körper, bevor er sich daran erinnerte, was sie gesagt hatte. Schnell sah er ihr wieder ins Gesicht. Er lächelte ein wenig scheu. „Darf ich dich jetzt küssen?“ Sie erwiderte sein Lächeln. „Natürlich.“ Als er nach wie vor zögerte, legte sie ihm die Hände in den Nacken und zog ihn an sich. Ihre Gesichter waren sich ganz nah und sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut. Ihre Finger fuhren durch den Ansatz seiner Haare. Wie weich sie waren. Ganz anders als bei Michael. Er roch auch anders, nicht schlecht, aber ungewohnt. Wie er wohl küsste? Gabriella legte den Kopf leicht schräg und streifte mit ihren Lippen seinen Mund. Angelo erzitterte unter der Berührung. Sie wiederholte die Geste und wieder erschauerte er. Das Spiel begann ihr Spaß zu machen. Sie ließ ihre Zungenspitze leicht aus dem Mund gleiten und fuhr damit an seiner Oberlippe entlang. Angelo entwich ein Keuchen. War das etwa schon zu viel für ihn? „Möchtest du aufhören?“ Sie musste das einfach fragen. „Nein.“ Seine Stimme war heiser und sein Atem ging schnell. War es möglich, dass diese wenigen, unschuldigen Berührungen ihn schon so aus dem Konzept gebracht hatten? Hatte er bereits Erfahrung mit Frauen? Wie weit war er mit Michael gegangen? Das war ja nicht einmal ein richtiger Kuss gewesen und doch war sie anscheinend in der Lage, ihn damit bereits aus der Fassung zu bringen. Sie lächelte leicht, bevor sie ihre Lippen vollends gegen seine presste. Er kam ihr entgegen, als hätte er nur darauf gewartet. Immer wieder küsste er ihre Lippen und rückte ihr ein Stück entgegen. Sie fühlte, wie er die Hand auf ihre Hüfte legte und den Druck seiner Lippen erhöhte. Sie begegnete ihm auf die gleiche Weise und öffnete gleichzeitig den Mund. Wieder ließ sie ihre Zunge ein wenig mit ihm spielen und lauschte entzückt, wie er daraufhin leise stöhnte. Anscheinend machte ihn dieser Kuss wirklich an. Gabriella konnte nicht leugnen, dass ihr das Gefühl gefiel. Das Blut rauschte durch ihren Körper und nur am Rande nahm sie wahr, dass mit einem Mal eine Hand auf ihrer Brust lag. Sie unterbrach den Kuss und sah, dass es Michaels war. „Stört es dich?“, raunte er und begann, mit dem Finger um ihre Brustwarze zu kreisen, während er wieder ihren Nacken küsste. „Wenn es dir nicht gefällt, höre ich sofort auf.“ Ihr Blick fiel auf Angelo, der sie aus großen Augen und mit geöffnetem Mund ansah. Auch sein Blick glitt kurz zu der Hand, die Gabriella liebkoste. „Mich stört es nicht, aber findest du es nicht ein bisschen unfair, wenn du darfst und er nicht?“ Sie spürte, wie Michael sich kurz versteifte. War sie jetzt zu weit gegangen, indem sie ihn so in seine Schranken wies? Immerhin war er ihr Mann. Dann jedoch glitt seine Hand von ihrer Brust weg und legte sich neben Angelos. „Du hast recht“, murmelte Michael. „Bitte verzeih. Ihr beide zusammen seid einfach heiß. Da habe ich mich für einen Augenblick vergessen.“ „Nun, dann sollten wir vielleicht für ein wenig ausgleichende Gerechtigkeit sorgen“. Gabriella lächelte hintergründig, griff nach Angelos Hand und legte sie auf ihre Brust. Seine blauen Augen wurden groß. „Aber …“ „Nichts aber“, sagte sie und zog ihn wieder an sich. „Ich erlaube es dir.“ Sie spürte, wie er vorsichtig über den Stoff ihres Kleides fuhr, die weiche Form darunter ertastete. Sie sah, wie sich seine Wangen röteten. Wie aufgeregt er war. Und plötzlich veränderte sich etwas. Sie war von der Rolle des Darstellers in die des Zuschauers gerutscht und auch wenn sie das Pulsieren zwischen ihren Beinen noch spüren konnte, war der Moment unweigerlich verflogen. Sie nahm seine Hand wieder weg und legte sie in seinen Schoß. Dann drehte sie sich um, gab Michael einen Kuss und erhob sich. „Ich glaube, jetzt seid ihr beide dran.“ Michael blinzelte verblüfft. „Wir beide?“ „Ja, ihr. Ich hatte jetzt genug Spaß für einen ersten Versuch. Ihr dürft aber gerne weitermachen.“ Mit diesen Worten nahm sie auf dem gegenüberliegenden Sofa Platz und schlug die Beine übereinander. Aufmunternd sah sie von einem zum anderen. „Was ist los? Wollt ihr nicht?“ Michael zögerte noch einen Augenblick, bevor er sich Angelo zuwandte. „Na los, eine schöne Frau soll man nicht warten lassen. Du möchtest doch noch, oder?“ Statt einer Antwort rückte Angelo näher an Michael heran. Der zog den Jungen rittlings auf seinen Schoß. Seine Hände strichen über die Oberschenkel und den schmalen Hintern, während er zu Angelo aufsah. Der schien nur darauf gewartet zu haben und stürzte sich ohne Umschweife in einen leidenschaftlichen Kuss, bei dem Gabriella ebenfalls fast die Luft wegblieb. So vorsichtig Angelo gerade eben noch mit ihr gewesen war, so wild gebärdete er sich jetzt. Er begann, sich an Michael zu reiben. Sie konnte sehen, wie ihr Mann die Bewegungen unterstützte und ihre Körper näher zusammenbrachte, indem er Angelo mit den Händen an sich drückte. Wann immer er das tat, stöhnte Angelo leise in den Kuss. Gabriella ging das Geräusch durch Mark und Bein. Schließlich legte Angelo den Kopf in den Nacken, während die Bewegungen seines Beckens schneller wurden, sein Stöhnen lauter. Gabriella sah, dass Michael seine Hand vom Bein des Jungen nahm und sich stattdessen in seinem Schritt zu schaffen machte. Angelos Stöhnen wurde höher, seine Atmung abgehackter und einige Augenblicke später gab er einen heiseren Schrei von sich. Seine Hände krallten sich in Michaels Schulter. Für einen Moment verharrte er in dieser Position, bevor er mit einem erschöpften Seufzen regelrecht in sich zusammensackte. Gabriella beobachtete das alles mit klopfendem Herzen. Michael streichelte Angelo jetzt sanfter, küsste ihn sacht, bevor er ihn in eine Umarmung zog. Sein Blick traf sich mit Gabriellas. In seinen Augen lag eine tiefe Dankbarkeit und gleichzeitig konnte sie sehen, dass er immer noch erregt war. Plötzlich wünschte sie sich, an Angelos Stelle zu sein. Sie erhob sich und setzte sich an Michaels Seite. Angelos Blick streifte sie träge. „Du erlaubst, dass ich wieder übernehme?“, fragte sie. Angelo hob sein Bein von Michaels Schoß und ließ sich neben ihn auf das Sofa gleiten. Gabriella konnte sehen, dass seine Hose geöffnet war aber sein T-Shirt verdeckte alle weiteren Spuren. Gabriellas und Michaels Mund trafen sich zu einem Kuss. Er schmeckte eigenartig. Fremd und doch vertraut. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie Angelo an ihm schmecken konnte. Sie lächelte bei dem Gedanken. „Und? War es so gut, wie du es dir vorgestellt hast?“, fragte sie und zog sich etwas zurück. „Besser“, bestätigte Michael und winkte Angelo, sich von der anderen Seite an ihn zu kuscheln. Der Junge gehorchte und Gabriella erlaubte ihm, nach ihrer Hand zu greifen. Sie drückte sie leicht. Für einen Augenblick saßen sie schweigend da. Gabriella konnte nicht leugnen, dass sie bedauerte, dass es jetzt schon zu Ende war. Die Küsse mit Angelo zu tauschen, hatte nicht ausgereicht, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Der Rausch des Begehrens kreiste immer noch in ihr und das dumpfe Pochen zwischen ihren Beinen verlangte nach Aufmerksamkeit. Sie ließ Angelos Hand los und begann, mit dem Zeigefinger an Michaels Bein entlangzufahren. „Und jetzt?“, fragte sie, während ihr Finger wieder höher wanderte. „Verlegen wir den Rest der Veranstaltung ins Schlafzimmer?“ „Da bin ich dabei“, antwortete Michael sofort. Er stand auf und zog Gabriella mit sich auf die Füße. Seine Hand glitt besitzergreifend über ihren Po und sie unterdrückte ein Schauern, als er sie an sich drückte. Die Vorstellung jetzt gleich mit ihm zu schlafen, ließ ihre Begierde neu aufflammen. Sie sehnte sich nach seinen Berührungen und danach, sich mit ihm zu vereinen. Als Michael sie in Richtung Treppe dirigieren wollte, blieb sie stehen und sah ihn tadelnd an. „Du hast da jemanden vergessen.“ Gabriella drehte sich zu Angelo um. „Möchtest du mitkommen?“ Der Junge wirkte erstaunt, nickte aber. Sie sah Michael an. „Du bist doch einverstanden?“ „Absolut.“ „Na dann kommt.“ Gabriella schritt zuerst die Treppe hinauf und hörte, wie ihr eilige Schritte folgten. Im Schlafzimmer blieb sie vor dem Bett stehen. „Es müsste mir mal jemand das Kleid öffnen.“ Sie drehte sich nicht um, aber anhand der zitternden Finger konnte sie erahnen, dass Michael Angelo bei dieser Aufgabe den Vortritt gelassen hatte. Die Hände, die ihr daraufhin die Träger von den Schultern streiften, waren jedoch die ihres Mannes. Für einen Augenblick überlegte sie, wie es wohl wäre, mit verbundenen Augen mit den beiden zusammenzusein. Nicht zu wissen, wer was tat, sondern lediglich in einem Mehr an Körperteilen zu versinken, die sich gegenseitig Vergnügen bereiteten. Die Vorstellung kam ihr erregend und verboten zugleich vor. Sie hörte, wie hinter ihr Kleidung abgestreift wurde, während sie selbst noch in Unterwäsche dastand. Das änderte sich, als kundige Hände ihren BH öffneten und auch ihren Slip abstreiften, während Michael eine Spur von Küssen über ihren Körper zog. Als sie vollkommen nackt war, drängte er sich von hinten an sie. Sie spürte seine Hände auf ihrem Körper, ihren Brüsten, seine Erektion, die sich an ihren unteren Rücken schmiegte. Sie griff hinter sich und umfasste den festen Schaft. Er keuchte auf, während sie ihre Finger langsam daran auf und ab wandern ließ. Der Griff um ihre Brüste wurde stärker. Michael begann, sie zu massieren, sie zusammenzupressen, die empfindlichen Spitzen zwischen den Fingern zu zwirbeln. Die Berührung sandte eine Welle der Lust durch ihren Körper. Am Rande ihres Sichtfeldes bemerkte sie eine Bewegung. Als sie den Kopf ein wenig drehte, sah sie Angelo, der sie mit offenem Mund beobachtete. Er hatte lediglich seine Hose abgelegt und hielt sich taktvoll im Hintergrund, auch wenn seine Augen jede ihrer Bewegungen verfolgten. Für einen Augenblick war sie in Versuchung, ihn dazu zu holen. Die Vorstellung, ihn zu küssen und vielleicht sogar anzufassen, während Michaels Hände über ihren Körper glitten, zwischen ihre Beine. Dass er in sie eindrang, während sie Angelo … Gabriella entkam ein Keuchen. Sie drehte sich zu ihrem Mann herum und zog ihn zu sich herab, damit sie ihn küssen konnte. Dabei ließ sie sich von ihm in Richtung Bett schieben. Als die Bettkante gegen ihre Beine stieß, unterbrach sie den Kuss. „Unten oder oben?“, fragte sie atemlos. „Unten“, gab er zurück und ließ sich vor ihr auf das Bett gleiten. Sie folgte ihm und setzte sich auf ihn. Für einen Augenblick genoss sie den Anblick ihres großen, starken Mannes und raubte sich noch einen Kuss, bevor sie ihr Werk begann. Sie ließ ihre Hüften ein paar Mal vor und zurückgleiten und spürte, wie er unter ihr erzitterte. Dabei war sie sich vollauf der Blicke bewusst, die sie von der Seite des Bettes her trafen, aber sie widerstand der Versuchung, noch einmal hinzusehen. Es war berauschend, fast ein Gefühl von Macht. Sie bestimmte die Regeln und die beiden würden tun, was sie ihnen sagte. Gabriella lächelte und bewegten sich noch einmal aufreizend auf Michaels Schoß. Die Wirkung auf ihn entging ihr nicht. Er keuchte. „Jetzt, Baby. Komm zu mir.“   Immer noch lächelnd richtete sie sich ein wenig auf, positionierte seine Erektion vor ihrem Eingang und ließ sich dann langsam auf ihn gleiten. Zentimeter für Zentimeter versank er in ihr und sie genoss das ausgefüllte Gefühl, als er vollkommen in ihr war. Er stöhnte leise, als sie anfing, ihre Hüften in sanften Wellen über ihm zu bewegen. Gleichzeitig ließ sie ihre Finger zwischen ihre Beine gleiten. Sie fand die Stelle, an der ihre Klitoris verborgen lag, und begann, sie zu reiben. Michael griff derweil nach ihren Schenkeln, ließ seine Hände darüber an ihren Seiten entlang bis zu ihren Brüsten wandern. Sie beugte sich ein wenig zu ihm herab und spürte gleich darauf seine Lippen, die sich um ihre steifen Knospen legten. Wie er leicht zu saugen begann, während sie weiter den Rhythmus bestimmte. Sie ließ ihn einen Moment gewähren, bevor sie sich wieder aufrichtete und die Bemühungen ihrer Finger wieder aufnahm. Langsam aber stetig wuchs ihre Lust. Sie spürte jeden seiner Stöße, die die Empfindungen noch verstärkten. Die Wärme, die sich von ihrem Unterleib durch den ganzen Körper ausbreitete. Das zunehmende Kribbeln, das zu einem Brennen wurde wie ein Feuer, das um sich griff, dessen Flammen höher und höher schlugen, bis sie plötzlich taghell aufloderten und wie eine Eruption über ihr zusammenschlugen. Sie löste die Finger aus ihrem Schritt, während die Wellen des Orgasmus noch durch ihren Körper liefen, und begann, sich schneller zu bewegen. Ihr ganzer Körper summte und sang. Sie hörte Michael unter sich stöhnen, während sie ihn ritt und ihn mit schnellen Hüftschlägen immer weiter und weiter trieb und schließlich ebenfalls über die Klippe schickte. Er stieß noch einmal tief in sie, bevor er die Augen schloss und seine Finger sich mit einem erstickten Laut in ihre Schenkel bohrten. Sie lächelte ein wenig, als sie begann, die Muskeln in ihrem Inneren sanft anzuspannen und wieder zu entlasten und ihn so noch ein wenig mehr zu reizen. Er gab einen gequälten Laut von sich. „Fuck, Baby, hör auf. Ich bin vollkommen fertig.“ Sie lachte leise, bevor sie sich zu ihm beugte und seinen Mund mit einem tiefen Kuss verschloss. Seine Oberlippe war feucht und er schmeckte nach Salz. „Ich liebe dich“, murmelte sie gegen seine Lippen und ließ sich von ihm herab und neben ihn gleiten. „Ich dich auch“, antwortete er und küsste sie noch einmal, bevor er sich in die Kissen sinken ließ und dort schwer atmend liegenblieb. Gabriella wollte sich schon zu ihm gesellen, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass es da ja noch jemanden gab. Während der letzten Minuten hatte sie Angelo vollkommen vergessen. Sie sah, dass er immer noch in respektvollen Abstand zum Bett stand. Seine Wangen waren gerötet und seine Augen glänzten. Sie winkte ihm näherzukommen. „Na los, das Bett ist groß genug.“ Er lächelte ein wenig zaghaft. „Darf ich wirklich?“ „Sonst hätte ich es nicht gesagt.“ Gabriella rutschte noch ein Stück, sodass Michael Angelo Platz machen konnte. Ein wenig umständlich kletterte der Junge ins Bett und Gabriella beobachtete, wie er sich neben Michael legte und seinen Kopf an dessen Seite bettete. Michael schlang einen Arm um ihn und drückte ihn an sich. Den anderen Arm legte er um Gabriellas Rücken und sie machte es sich auf seiner Schulter bequem. Langsam ließ sie die Finger über seine Brust und seinen Bauch gleiten, während sie in sich hineinfühlte, ob Angelos Anwesenheit etwas für sie verändert hatte. Sie musste feststellen, dass es aufregend gewesen war, ihn aus der Reserve zu locken. Dass sie sich gut damit gefühlt hatte, ihn zu küssen und der Gedanke, ihn vielleicht das nächste Mal noch weiter gehen zu lassen, nicht so abschreckend war, wie sie zunächst gedacht hatte. Langsam streckte sie die Hand aus und fuhr durch das blonde Haar. Angelo hob daraufhin den Kopf und warf ihr einen fragenden Blick zu. Einem plötzlichem Impuls folgend, richtete sie sich auf, zog ihn am Kinn nach oben und küsste ihn noch einmal auf die bereits geschwollenen Lippen. Er brauchte einen Augenblick, bevor er auf den Kuss reagierte. Nach zwei, drei Küssen, ließ sie sein Kinn los und lehnte sich wieder zurück und auch Angelo bettete sein Haupt erneut an Michaels Seite. So lagen sie zusammen da, während draußen die Familien mit ihren Kindern im Garten spielten, ihre Hunde ausführten und ein Schwätzchen über Gott und die Welt hielten. Es hätte Gabriella nicht weniger interessieren können, wenn es nicht auf einmal unten an der Tür geläutet hätte. Sie richtete sich auf. „Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?“ Michael schüttelte den Kopf. „Keinen Schimmer. Vielleicht die Nachbarn? Am besten bleibt ihr hier, während ich nachsehen gehe.“ Gabriella sah zu, wie Michael eilig in Hosen und T-Shirt schlüpfte und das Schlafzimmer verließ. Sie und Angelo blieben allein zurück. Der Junge wirkte beunruhigt und auch Gabriella hielt es nicht aus, einfach nur untätig liegenzubleiben. Ohne darauf zu achten, dass sie noch vollkommen nackt war, stieg sie vom Bett, trat an das Fenster und spähte durch die weißen Gardinen. Auf dem Gehweg vor ihrem Haus stand ein ihr unbekannter Wagen.     Kapitel 8: Unangenehmer Besuch ------------------------------ „Sind Sie Michael Thompson?“ Der Mann auf der anderen Seite der Tür musterte ihn mit einem geschäftsmäßigen Interesse, bei dem sich unweigerlich Michaels Nackenhaare aufstellten. Er war fast ebenso groß wie er selbst, aber schmaler gebaut, hatte dunkle, glattgelegte Haare und trug einen Anzug, der geradezu offiziell schrie. Es hätte nicht die Marke gebraucht, die er Michael unter die Nase hielt, um ihn erkennen zu lassen, dass er es nicht mit einem Höflichkeitsbesuch zu tun hatte. „Agent Erik Hawthorne. FBI. Ich denke, wir sollten uns unterhalten.“ Sein Gegenüber setzte ein unverbindliches Lächeln auf. „Darf ich reinkommen?“ „Nein.“ Michael hatte unweigerlich seine Muskeln angespannt, als der Agent auf ihn zugekommen war. Für einen Moment lag offene Feindseligkeit in der Luft und es hätte Michael nicht gewundert, wenn der Mann eine Waffe gezogen hätte, um sich Zugang zum Haus zu verschaffen. Dann jedoch hob er beschwichtigend die Hände und trat einen Schritt zurück. „Ich glaube, hier liegt Ein Missverständnis vor. Ich bin nur hier, um mit Ihnen zu reden.“ Er sah sich um, bevor sein Blick wieder zu Michael zurückwanderte. „Wollen Sie dieses Gespräch wirklich vor Ihrer Haustür führen?“ „Ich will dieses Gespräch überhaupt nicht führen“, knurrte Michael „Was wollen Sie überhaupt von mir?“ Wieder antwortete ihm ein aalglattes Lächeln. „Ich denke, das wissen Sie genau, Mr. Thompson. Mir wurde zugetragen, dass Sie gestern Morgen in eine Schießerei in Las Vegas verwickelt waren. Sie sind von dort geflohen, aber Sie waren nicht allein. Der junge Mann, der bei Ihnen war …. Ich bin auf der Suche nach ihm. Wenn Sie ihn mir aushändigen, kann das hier alles vollkommen ohne Papierkram über die Bühne gehen. Ich nehme ihn mit und Sie bekommen Ihr Leben zurück. Ganz unkompliziert.“ Das Gefühl in Michaels Nacken wurde stärker, aber er zwang sich, ganz ruhig zu bleiben. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Hier ist niemand außer mir und meiner Frau.“ Er machte Anstalten, die Tür wieder zu schließen, aber die Stimme des Agents hielt ihn auf. „Wenn ich Sie wäre, würde ich das nicht tun.“ Michael verharrte mit der Tür in der Hand. Erstaunlich helle Augen musterten ihn. „Noch kann das Ganze glimpflich über die Bühne gehen, Mr. Thompson. Eine Sache zwischen Ihnen und mir. Aber wenn sie nicht kooperieren, bin ich gezwungen, andere Maßnahmen zu ergreifen. Also seien Sie vernünftig und holen sie den Jungen her. Es wäre das Beste für alle Beteiligten.“ Die Worte des Mannes ließen Michael innerlich die Fäuste ballen. Er hatte natürlich gewusst, dass sie sich irgendwann der Realität stellen mussten, aber er hatte eigentlich gedacht, dass er Zeit und Ort dazu selbst auswählen würde. Dass das Schicksal jetzt so unvermittelt an seine Tür klopfte, missfiel ihm sehr. Außerdem mochte Michael die Art des Mannes nicht. Er erinnerte ihn zu sehr an die Polizisten, die ihn damals vernommen hatten. Selbstgerechte Arschlöcher, deren Meinung bereits feststand, bevor sie ihre Frage überhaupt zu Ende gestellt hatten. Er wandte sich ab. „Vielen Dank, aber ich glaube, ich kann sehr gut selbst entscheiden, was das Beste für mich ist.“ „Ach ja?“ Die ohnehin nur mühsam gespielte Freundlichkeit war mit einem Mal aus Agent Hawthornes Miene gewichen und hatte gleichgültiger Herablassung Platz gemacht. „Dann ist es also das Beste für Sie, wenn man Sie morgen in Handschellen abführt? Und Ihre Frau ebenfalls? Wollen Sie das wirklich riskieren, Mr. Thompson? Für einen Jungen, den Sie kaum 48 Stunden kennen? Den Sie nach geltender Rechtslage entführt haben? Sie wissen sicherlich, dass das eine schwere Straftat ist. Das wird Sie Ihren Job kosten. Ihre Frau die Lizenz. Wollen Sie das wirklich?“ Michael ballte die Fäuste. „Wollen Sie mir etwa drohen?“ Sein Gegenüber kräuselte die Lippen. „Nein, Mr. Thompson. Ich will sie lediglich warnen. Der Junge wird mit uns gehen auf die eine oder andere Weise.“ Er wartete noch einen Augenblick ab, aber da Michael keine Anstalten machte, Angelo zu holen, seufzte er schließlich. „Wie Sie wollen, Mr. Thompson. Dann sehen wir uns also morgen früh.“ Der Mann drehte sich um und ließ Michael stehen. Der wäre ihm am liebsten hinterhergelaufen und hätte ihm eine verpasst. Stattdessen steckte er die Hände in die Hosentaschen, um sich selbst davon abzuhalten. „Damit kommen Sie nicht durch“, rief er ihm hinterher und kam sich in der gleichen Sekunde lächerlich vor. Agent Hawthorne blieb stehen und drehte sich noch einmal zu Michael herum. „Da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher. Gerade Sie müssten doch wissen, wie so was läuft.“ Er lächelte. „Einen schönen Tag noch.“   Michael sah dem Mann zu, wie er in seinen Wagen stieg und davonfuhr. Als er am Ende der Straße abbog, löste er sich endlich aus der Starre, die ihn bei den Worten des Agents überfallen hatte. Natürlich wusste er, wie es war, gegen Windmühlen zu kämpfen. Wie es war, wieder und wieder seine Unschuld zu beteuern, und doch überall nur auf Mauern aus Unverständnis und taube Ohren zu stoßen. Zuzusehen wie derjenige, der einem wichtig war, zwischen den Mühlsteinen der Gerechtigkeit zermalmt wurde auf der Suche nach der sogenannten Wahrheit. Er unterdrückte den Wunsch, die Haustür ins Schloss zu werfen oder mit der bloßen Faust gegen die Wand zu schlagen. Das würde nichts bringen außer unnötigen Schmerzen. Die Zeit, da er sich in so etwas flüchten konnte, waren unwiederbringlich vorbei.   Mit schweren Schritten ging er die Treppe hinauf und schob die Tür zum Schlafzimmer auf. Gabriella hatte sich inzwischen etwas übergezogen und saß mit Angelo zusammen auf dem Bett. Als Michael eintrat, stand sie auf. „Wer war das und was hat er gewollt?“ „Angelo“, antwortete er mit Grabesstimme. „Er hat gesagt, er wolle ihn mitnehmen und nach Hause bringen.“ Sein Blick fiel auf den Jungen, der ihn ängstlich ansah. „Er hat auch gesagt, wenn wir ihm Angelo nicht geben, würde er morgen wiederkommen und uns wegen Entführung verhaften.“ Michael seufzte schwer. „Vielleicht … vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn ...“ „Nein!“ Angelo war aufgesprungen. In seinem Gesicht stand ungewohnte Entschlossenheit. „Ich gehe nicht zurück.“ Michael hob die Augenbrauen. „Dann weißt du, woher du kommst?“ Angelos Blick begann zu flackern. „Nein. Aber ich weiß, dass ich nicht mit diesem Mann mitgehen darf. Etwas Furchtbares wird dann passieren.“ „Und was ist, wenn du hierbleibst?“ Michael merkte, wie er langsam lauter wurde. „Was willst du denn machen, wenn morgen das FBI vor der Tür steht, um uns Handschellen anzulegen? Willst du die dann auch mit großen, traurigen Augen ansehen und darauf hoffen, dass sie einfach so wieder abziehen? Tut mir leid, wenn ich dir das sagen muss, aber so läuft das nicht. Die spielen das Spiel nicht nach deinen Regeln. Die nehmen sich einfach, was sie wollen, und lassen dich in den Trümmern zurück. So läuft das in der Welt.“ „Dann gehe ich weg.“ Angelos Unterlippe zitterte. „Ich … ich will nicht, dass euch etwas passiert, aber ich kann nicht zurückgehen. Bitte, Michael, es geht nicht. Das musst du mir glauben.“ „Ach, muss ich das? Willst du mir jetzt auch noch Vorschriften machen? Wer weiß, vielleicht hast du mich ja doch belogen. Vielleicht hast du einfach nur einen Dummen gesucht, der auf dein hübsches Gesicht reinfällt, damit du dich aus dem Staub machen kannst, weil Mommy und Daddy dir kein Pony gekauft haben.“ „Michael!“ Gabriellas Stimme zerschnitt den Raum. „Jetzt ist es aber genug. Siehst du nicht, dass du ihm Angst machst?“ In der Tat war inzwischen alle Farbe aus Angelos Gesicht gewichen. Es tat Michael weh, ihn so zu sehen, aber er wusste, dass er jetzt nicht nachgeben durfte. Das hatte ihn ja erst in diese beschissene Lage gebracht. Weil er sich hatte einlullen lassen. Weil er nicht nachgedacht hatte und gehofft hatte, dass doch irgendwie alles gut werden würde. Aber das wurde es nicht. Das wurde es nie. Am Ende gewannen immer die anderen. Und war es nicht auch das Beste für Angelo? Der Junge musste doch erfahren, wo er herkam und was mit ihm passiert war. Und so gerne Michael ihm dabei geholfen hätte, er konnte es nicht. Er hatte sich eingebildet, dass er es konnte, aber er war kein Arzt, kein Polizist, kein Held. Er war nur ein einfacher Vertreter, der sich eine Zeit lang wie Superman gefühlt hatte, weil ein hübscher Junge mit großen, blauen Augen ihn angehimmelt hatte. Aber er war nicht Superman. Kein einsamer Held, der irgendwo im luftleeren Raum existierte und tun und lassen konnte, was er wollte. Er hatte eine Frau, der er verpflichtet war. Und er konnte Gabriella unmöglich zumuten, das Gleiche durchzumachen wie er damals bei der Sache mit Jeff, nur weil er sich weigerte, Angelo der Polizei zu übergeben. Er konnte sie nicht beide retten.   Michael presste die Kiefer aufeinander. Am liebsten hätte er seine bösen Worte wieder zurückgenommen, aber was hätte das gebracht? Es änderte nichts daran, dass Angelo sie verlassen musste. Das Ganze war von vornherein eine Schnapsidee gewesen. All die Begründungen, die er sich selbst geliefert hatte, waren nichts als Hirngespinste gewesen. Ja, er hatte ein paar Schlägern eins auf die Nase gegeben und damit vielleicht Angelo vor einer sehr unangenehmen Erfahrung bewahrt, an die er sich wahrscheinlich nicht einmal wirklich erinnert hätte. Aber mehr brachte er doch nicht zustande. Das, was Angelo jetzt brauchte, war etwas anderes. Etwas, das Michael ihm nicht geben konnte. Sie waren tatsächlich alle besser dran, wenn er ging. Michael wandte sich ab. „Ich gehe nach unten.“ Hinter sich hörte er ein Geräusch, das verdächtig nach einem Schluchzen klang, aber er drehte sich nicht um. Er war sich sicher, dass Gabriella sich darum kümmern würde. Er schämte sich dafür, dass es so war, aber wenn es Angelo half, ihn für ein Arschloch zu halten, dann würde er das eben ertragen.   Der restliche Abend verlief größtenteils schweigend. Gabriella machte zwar den einen oder anderen Versuch, ein Gespräch mit ihm anzufangen, aber er blockte sie ab. Er wollte nicht darüber reden. Insgeheim gab seine Frau ihm vermutlich sogar recht, denn sonst, da war er sich sicher, hätte sie ihm längst eine Lösung an den Kopf geknallt und verlangt, dass er sie durchzog. Aber von ihr kam nichts und so herrschte auch zwischen ihnen beiden gedrücktes Schweigen. Angelo ließ sich nicht blicken, sondern verkroch sich in seinem Zimmer und kam nicht einmal zum Essen herunter. Michael sah, dass Gabriella ihm einen Teller nach oben brachte. Der vorwurfsvolle Blick, den sie ihm zuwarf, als sie wieder die Treppe hinunterkam, sprach Bände. „Er weigert sich zu essen. Du solltest mit ihm reden.“ „Da gibt es nichts zureden. Er wird fortgehen und das war’s.“ „Ist das dein letztes Wort?“ „Mein allerletztes.“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr. Er nahm einen Schluck von dem Bier, dass er sich aufgemacht hatte, und starrte auf den Fernseher. Er hatte keine Ahnung, was er sich da ansah, aber das bunte Flimmern lenkte ihn davon ab, weiter darüber nachzudenken, was morgen passieren würde. Es fühlte sich an, als würde jemand sein Herz langsam in kleine Streifen schneiden. Aber er wusste einfach, dass er nicht nachgeben durfte. Er musste dafür sorgen, dass Angelo sein altes Leben wieder zurückbekam. Das war er ihm schuldig.         Gabriella erwachte mit dem Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie schlug die Augen auf und sah sich um. Michael lag neben ihr und schnarchte ein wenig. Er war erst lange nach ihr ins Bett gekommen und sie hatte sich nicht umgedreht, als er sich neben sie gelegt hatte. Ihr Mann war es somit nicht gewesen, der sie aus dem Schlaf geholt hatte. Plötzlich sah sie die schmale Silhouette, die in den Schatten vor dem Bett ausharrte und in ihre Richtung sah. „Angelo?“, flüsterte sie. Michael musste ja nicht unbedingt mitbekommen, dass er hier war. „Sì“, kam es leise aus der Dunkelheit. „Ich … ich wollte dich nicht wecken.“ „Schon in Ordnung. Ich komme.“ Gabriella erhob sich und folgte Angelo, der sie draußen auf dem Flur mit gesenktem Kopf erwartete. Als sie sah, dass er vollkommen bekleidet war, runzelte sie die Stirn. „Was wird denn das, wenn es fertig ist?“ Als er nicht antwortete, zählte sie zwei und zwei zusammen. „Du wolltest weglaufen?“ „Ja. Nein! Ich weiß nicht. Ich … ich wollte vor allem, dass Michael nicht mehr wütend auf mich ist.“ Er klang so verzweifelt, dass es Gabriella das Herz zusammenzog. Sie strich ihm über den Arm. „Er ist nicht wütend auf dich“, versuchte sie zu erklären. „Er ist nur wütend, weil er nicht weiß, was er tun soll. Er will dir helfen, aber er hat keine Ahnung, wie er das anstellen soll. Und ich, ehrlich gesagt, auch nicht.“ Gabriella hatte nicht gedacht, dass Angelo den Kopf noch tiefer hängen lassen konnte, aber er brachte es trotzdem fertig. „Ich mache euch nur Ärger.“ „Nein, das tust du nicht. Du bist ja nicht absichtlich in diese Lage geraten.“ Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. „Und was, wenn doch?“ Die Frage ließ sie aufhorchen. Wusste Angelo etwa mehr, als er zugeben wollte? Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. An Schlaf war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken. „Ich hole mir was zum Anziehen und dann erzählst du mir alles, was du weißt. Egal, wie unwichtig es dir erscheint. Vielleicht kriegen wir dieses Rätsel ja doch noch gelöst.“ Angelo nickte und schlich wie ein geprügelter Hund zurück ins Gästezimmer.   Als sie sich zu ihm gesellte, saß er auf dem Bett und blickte mit starrem Gesicht zu Boden. Sie ließ sich neben ihn sinken und versuchte so aufmunternd wie möglich zu klingen. „So, jetzt mal raus mit der Sprache. Was weißt du denn alles noch?“ Er atmete tief durch, bevor er begann zu erzählen. „Das Erste, an das ich mich erinnere, ist ein helles Licht. Nichts weiter, nur Licht. Keine Bilder. Und dann … dann falle ich. Es fühlt sich furchtbar an. Als würde etwas aus mir herausgerissen und in alle Winde verstreut. Das Gefühl ist wie Feuer und Eis und reißt mich entzwei und ich kann nicht einmal schreien, weil es so wehtut. Es ist, als würde ich sterben. Schließlich schreie ich doch, aber es ist niemand da, der mich hört. Ich kann nur noch hoffen, dass es irgendwann vorbei ist.“ Er erschauerte unter der Erinnerung. Gabriella griff nach seiner Hand, um sie festzuhalten. Seine Finger waren kühl und klamm, aber sie drückte sie trotzdem. Er schickte ihr einen dankbaren Blick. „Als nächstes verspüre ich Schmerzen. Nicht die Agonie, die ich vorher gefühlt habe, sondern echten Schmerz. Es ist rau und kalt und ich versuche, irgendwie die Augen zu öffnen, aber da sind plötzlich Stimmen und Schritte. Jemand lacht und auf einmal hält mich jemand fest. Er zieht mich nach oben und zwingt mich, den Kopf in den Nacken zu legen. Irgendetwas wird gegen meine Lippen gepresst. Flüssigkeit läuft in meinen Mund und ich … ich kann nicht anders, als sie zu schlucken. Als ich das getan habe, lassen sie mich los. Sie lachen wieder. Ich weiß, dass ich eigentlich verstehen müsste, was sie sagen, aber meine Ohren sind noch taub von meinen eigenen Schreien. Ich bitte sie aufzuhören, aber sie lachen nur weiter. Sie schlagen mich. Und dann fängt das Feuer an, in meinem Inneren zu wüten. Ich … ich habe keine Ahnung, was das ist. Ich weiß nur noch, dass ich jemanden suchen muss. Dass es unbedingt notwendig ist, dass ich ihn finde, aber das wird plötzlich alles unwichtig, weil ich nur noch … ich will nur noch ...“ Angelo verstummte und atmete angestrengt durch den Mund. Gabriella beugte sich zu ihm. „Was wolltest du?“ „Ich wollte … ich wusste in dem Moment nicht, was ich wollte. Ich habe es nicht verstanden, aber ich ...“ Er schloss die Augen. „Ich wollte, dass mich jemand berührt, so wie Michael es getan hat. Dass er dafür sorgt, dass das Feuer verschwindet, bevor es mich aufrisst. Ich konnte an nichts anderes mehr denken und als er dann kam, da wusste ich plötzlich, dass er derjenige war, auf den ich gewartet habe. Aber ich konnte es ihm nicht sagen. Ich konnte nur noch … ich wollte nur noch ...“ Gabriella unterbrach ihn. Sie erinnerte sich noch daran, was Michael über den Zustand gesagt hatte, in dem er Angelo gefunden hatte. „Du musst es nicht erklären, ich verstehe schon. Aber was bringt dich jetzt zu der Annahme, dass du irgendeine Schuld an all dem hast?“ Angelo atmete noch einmal tief durch. „Ganz am Anfang, als ich noch in dem Licht war, da … da wollte ich fallen. Ich bin freiwillig gegangen.“ Gabriella dachte einen Augenblick darüber nach. „Das heißt, du wolltest all diese Schmerzen erleiden? Wer um Himmels willen sollte so etwas wollen? Und warum?“ Angelo sah sie unglücklich an. „Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht mehr. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass es kein Zufall war, dass ich Michael getroffen habe. Irgendjemand hat dafür gesorgt, dass das passiert.“ Gabriella lachte auf. „Dann hätte derjenige dir vielleicht eine Anleitung mitgeben sollen, was du tun musst und an wen du dich wenden sollst. Meine Güte, Angelo, das klingt alles viel zu verrückt, um wahr zu sein.“ Sie schwieg einen Augenblick, aber die Frage, die ihr durch den Kopf ging, musste sie einfach stellen. „Warum hast du es uns nicht schon früher gesagt?“ „Ich war mir ja selbst nicht sicher, was ich davon halten soll. Und ich hatte Angst, dass ihr mich wegschickt. Dass Michael mich nicht mehr mag.“ Er vergrub den Kopf in den Händen. „Aber jetzt ist alles so furchtbar und dieser Mann will mich mitnehmen und ich weiß einfach, dass ich das nicht zulassen darf. Es ist so, wie ich die Männer in dem Restaurant einfach verstanden habe. Es ist da in meinem Kopf, aber ich komme nicht heran. Nicht ohne Hilfe. Das macht mich verrückt.“   Gabriella wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie war sich sicher, dass Angelo glaubte, dass er die Wahrheit sagte. Aber diese Wahrheit war womöglich noch eine Nachwirkung der Drogen. Oder von etwas, das ihm vorher widerfahren war. Etwas, dass alle seine Erinnerungen ausgelöscht hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie man so etwas behandelte, aber dafür gab es bestimmt Ärzte. Psychologen und so weiter. Ihnen blieb im Grunde keine Wahl, als ihn zur Polizei zu bringen. Allein die Tatsache, dass er so verzweifelt daran festhielt, dass das nicht ginge, ließ sie diese Entscheidung immer wieder anzweifeln. Sie seufzte. „Dich einfach wegzuschleichen, ist auf jeden Fall keine Lösung.“ Er ließ wieder den Kopf hängen. „Ich weiß.“ „Am besten legst du dich hin und schläfst noch ein wenig. Der Tag Morgen wird anstrengend werden. Aber was auch passiert, wir werden nichts unversucht lassen, um dir zu helfen.“ Er sah sie dankbar an und wurde im nächsten Augenblick ein wenig verlegen. „Würdest du vielleicht … würdest du noch ein bisschen bei mir bleiben?“ „Natürlich. Los, ab ins Bett mit dir. Ich bleibe, bis du eingeschlafen bist.“ Sie sah, dass er lächelte, bevor er sich zusammenrollte und den Kopf gegen ihren Oberschenkel legte. Gedankenverloren strich sie ihm mit der Hand durch das Haar. Wie es wohl in seinem Kopf aussah? Vermutlich herrschte da ziemliches Chaos. Verdenken konnte sie es ihm nicht. Auch ihr schwindelte von dem, was er ihr erzählt hatte. Jemand sollte Angelo zu Michael geschickt haben? Aber warum? Welches Interesse hatte dieser FBI-Agent an ihm? Ging es da wirklich nur um einen Jungen, der von zu Hause weggelaufen war oder steckte mehr dahinter? Und warum weigerte sich Angelo so hartnäckig, mit ihm zu gehen. Aus ihrer Sicht schien es dafür keinen Grund zu geben, es sei denn, er war in etwas Illegales verwickelt oder hatte zu Hause eine ungebührlich hohe Strafe zu erwarten. Da ihm jedoch die Erinnerung an sein Elternhaus fehlte, entbehrte auch diese Möglichkeit im Grunde jeglicher Logik. Irgendein Teil fehlte an diesem Puzzle und Gabriella konnte sich einfach nicht erklären, was es sein konnte.         Michael tastete im Dunkeln nach Gabriella. Er hatte einen wirren Traum gehabt, an dessen Ende sie ihn angebrüllt und mit Angelo nach Italien zurückgegangen war. Normalerweise gab er ja nicht viel auf Träume, aber heute ließ dieser ihn zusammen mit dem vorangegangenen Streit nicht wieder einschlafen. Ganz entgegen seiner Erwartung fand er die andere Seite des Bettes verlassen. Er wartete eine ganze Weile, aber Gabriella tauchte nicht wieder auf. Michael versuchte, sich einfach wieder umzudrehen, aber der Schlaf wollte nicht mehr zu ihm kommen. Sein Wecker zeigte Viertel nach zwei. „Ach verdammt“, knurrte er und befreite sich aus der Decke. Dann würde er eben noch das Bier wegtragen und es anschließend noch einmal versuchen. Vielleicht würde ihm dabei ja auch seine Frau begegnen.   Als er aus dem Badezimmer kam, sah er zu Angelos Zimmertür. Dahinter regte sich nichts. Dafür glaubte er plötzlich, etwas aus dem unteren Stockwerk gehört zu haben. Er ging zum Treppenabgang und lauschte. Aus der Tiefe strich lediglich ein kühler Luftzug um seine Füße. Ansonsten war es vollkommen still. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass da unten jemand war. Ob sich Gabriella noch etwas zu trinken geholt hatte? Langsam begann er, die Treppe hinunterzusteigen. Im Wohnzimmer und der Küche konnte er niemanden entdecken, aber als sein Blick auf die Terrassentür fiel, bildete sich ein eisiger Klumpen in seinem Magen. Er war sich ziemlich sicher, dass er sie am Abend zuvor geschlossen hatte, doch jetzt stand die Tür einen Spalt breit auf. Es waren also entweder Einbrecher im Haus oder jemand hatte die Tür von innen geöffnet. Aber wer und warum? Zögernd und jedes überflüssige Geräusch vermeidend schlich er weiter nach unten. Am Fuße der Stufen blieb er stehen und horchte wieder. War da nicht ein Geräusch gewesen? Wenn er hätte raten müssen, hätte er gesagt, dass es von draußen kam. Irgendjemand schlich durch den Garten. Michael wusste, dass es nicht klug war, was er gerade tat. Sollte es sich wirklich um einen Einbrecher handeln, täte er wohl gut daran, die Polizei zu rufen. Allerdings waren uniformierte Beamte gerade in etwa das Letzte, was er im Haus haben wollte. Vielleicht gab es ja auch noch eine andere Erklärung für die geöffnete Tür. Trotzdem war es vielleicht ratsam, einem möglichen Gegner nicht völlig wehrlos entgegenzutreten. Michael sah sich um und griff nach dem silbernen Kerzenleuchter, der auf dem Küchentresen stand. Es sah ein wenig lächerlich aus – schließlich hatte Michael nicht vor, den Einbrecher zu einem romantischen Diner einzuladen – aber das Ding war schwer genug, um es jemandem über den Schädel zu ziehen. Das musste ausreichen. Die improvisierte Waffe vor sich haltend schob er die Tür zum Garten noch etwas weiter auf und trat hinaus.   Draußen war es stockfinster. Der Mond hatte sich hinter dicken Wolken verkrochen und die Straßenbeleuchtung war längst erloschen. Lediglich die diffuse Lichtverschmutzung, die das Leben in einer Großstadt so mit sich brachte, ließ ihn gerade noch die Umrisse der Bäume erkennen. Die kühle Nachtluft strich über seine Haut und sorgte dafür, dass eine Gänsehaut über seinen Körper kroch. Es roch nach Tau und nassem Gras. Die Geräusche, die er hörte, kamen ihm vage bekannt vor, aber erst als er sah, woher sie kamen, wurde ihm klar, worum es sich handelte. Es jemand am Pool. Aber wer sollte sich zu dieser nachtschlafenden Zeit dort herumtreiben? Vorsichtig mit den Füßen vorwärts tastend ging Michael weiter, den Kerzenleuchter im Anschlag. Als er fast an der dunklen Wasserfläche herangekommen war, flammte plötzlich die Poolbeleuchtung auf. Geblendet schloss Michael für einen Moment die Augen und blinzelte gegen die auf ihn eindringende Helligkeit an. „Was zum …?“ Er schirmte die Augen ab und konnte nun endlich etwas erkennen. Im Pool schwamm zwischen den aufsteigenden Dunstschwaden des beheizten Beckens eine Gestalt. Sie drehte ihm den Rücken zu und ihre langen Haare rollten sich in geschmeidigen, dunklen Locken um ihren Kopf. Michael lachte erleichtert auf. „Gabriella? Baby, du hast mich erschreckt. Komm schon, lass uns wieder ins Bett gehen.“ Seine Frau antwortete nicht, sondern ließ sich nur weiter treiben. Unter der Wasseroberfläche konnte Michael nicht viel erkennen, aber er wusste, dass sie normalerweise beim Baden einen roten Bikini trug. Jetzt jedoch waren ihre Schultern unbedeckt und wie es aussah, trug sie auch sonst nicht viel am Leib. Er trat noch einen Schritt näher. „Schatz? Ist alles in Ordnung?“ Wieder antwortete sie nicht. Plötzlich kamen ihm Zweifel, dass es sich bei der Badenden wirklich um Gabriella handelte. War die Frau dort nicht etwas größer? Ihre Hüften ausladender? Außerdem war es sowieso sehr unwahrscheinlich, dass Gabriella mitten in der Nacht in den Pool stieg. Es musste sich also um eine Fremde handeln. Michael räusperte sich. „Äh, Miss? Würden Sie bitte aus dem Wasser kommen? Das hier ist Privatbesitz.“ Er stellte fest, dass er wie einer dieser fetten Wachleute in Horrorfilmen klang, die kurz darauf von irgendeiner blutrünstigen Bestie ins Dunkel gezerrt und in Stücke gerissen wurden. Zurück blieb meist nur die Taschenlampe oder in seinem Fall wohl eher ein Kerzenleuchter. Ein Lachen erklang aus dem Pool. Es war ein heller, perlender Laut, der ihm einen Schauer über den Rücken schickte. Einen angenehmen Schauer. „Te estaba esperando“, wisperte die Frau und ihr Tonfall war leicht und verführerisch. „Ven acá!“ Er verstand die Worte nicht, aber ihr Sinn hatte wohl doch irgendwie einen Weg in sein Gehirn gefunden. Ohne sein Zutun, fingen seine Füße an, sich auf die Unbekannte zu zu bewegen. Sein Blick klebte an dem Körper, der unter der Wasseroberfläche entlangstrich. Die Frau gluckste amüsiert und schwamm ein Stück auf die andere Seite des Pools, wo sie sich mit den Armen auf den Rand stützte und sich aus dem Wasser hob. Jetzt konnte er erkennen, dass sie tatsächlich noch ein dünnes, weißes Leibchen trug, das jedoch in seinem Zustand mehr enthüllte als es verdeckte. Michael fühlte, wie er schluckte. „Sie … Sie müssen wirklich gehen“, versuchte er es noch einmal, aber seine Stimme war auffallend dünn. Wie unter Zwang setzte er einen Schritt vor den anderen. „Ven acá“, wiederholte die Frau und Michael leistete ihrer Bitte nur zu gerne Folge. Er wollte sie berühren, ihre wundervolle, weiße Haut, die Brüste, die sich rund und voll gegen die Dunkelheit abzeichneten, den wohlgeformten Hintern, der fast so perfekt war die der von seiner Frau … Gabriella! Nur eine Armeslänge von der geheimnisvollen Schönheit entfernt blieb Michael wie angewurzelt stehen. Was tat er hier? Diese Frau war eine Einbrecherin, auch wenn sie fast nackt war. Entschlossen packte er den Kerzenleuchter fester. „Sie werden jetzt sofort von hier verschwinden, sonst ...“ Erneut vernahm er ein Lachen, doch dieses Mal überlief ihn bei dem Geräusch ein kalter Schauer. Es klang wie ein heiseres Gurgeln. Noch bevor er darauf reagieren konnte, hatte die Gestalt sich zu ihm herum gedreht und Michael wich entsetzt zurück. Dort, wo ein hübsches Gesicht hätte sitzen sollen, glotzte Michael die deformierte Schnauze eines toten Pferdes entgegen. Sie war übersät mit Narben, das Fleisch blutig und eingerissen. Quer über die Blesse zog sich eine eiternde Wunde und aus dem borkenbesetzten Maul ragten schwarze, abgebrochene Zähne hervor. Grünlicher Speichel tropfte von der wulstigen Unterlippe und die Augen leuchteten unter einem unheimlichen grauen Feuer.   Mit einem Laut des Entsetzens stolperte Michael rückwärts. Das Wesen wieherte auf und setzte ihm nach. Es griff nach Michael und die monströse Schnauze schnappte mit den verrottenden Zähne nach ihm. Er entging einem Biss nur mit Mühe und wurde sich endlich des Kerzenleuchters wieder bewusst. Er holte aus und schlug damit nach dem Pferdewesen. Es wich aus und sprang ihn im nächsten Augenblick an. Die Waffe wurde aus seiner Hand geprellt und flog in hohem Bogen davon, bevor sie sich ein ganzes Stück entfernt in den aufgeweichten Rasen grub. Michael wurde zu Boden geworfen und dann war die Kreatur über ihm. Spitze Fingernägel bohrten sich in seine Haut und ein Gewicht drückte seine Brust zusammen. Stinkender Atem rollte über ihn hinweg und ließen ihn würgen. Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Wieder kamen die Zähne des Wesens mit unglaublicher Geschwindigkeit näher. Dieses Mal zielten sie auf seine Kehle. In seiner Not griff Michael mit bloßen Händen zu und versuchte, die geifernde Schnauze von sich wegzudrücken. Seine Finger bohrten sich in das viel zu weiche Fleisch. Er fühlte, wie es unter seinem Griff nachgab. Matschige Fasern und schleimige Flüssigkeit klebten an seinen Händen, während der jetzt halb knöcherne Schädel immer noch versuchte, ihm die Gurgel zu zerbeißen. Schon spürte er, wie seine Hände von den glatten Knochen abglitten, die Zähne sich unaufhaltsam seinem Hals näherten. „Nein!“ Der Schrei schien von weit weg zukommen. Michael sah kaum, wie sich ihnen jemand näherte. „Angelo, komm zurück!“ Das war Gabriella! Er musste sie warnen, musste dieses Wesen von ihr fernhalten. Er musste ...   Plötzlich wurde das Gewicht von ihm herunter gestoßen. Der Druck auf seiner Brust wich und Michael konnte endlich wieder frei atmen. Hustend und würgend kam er auf die Knie und sah, wie sich Angelo dem Wesen in den Weg stellte. In seiner Hand hielt er den silbernen Kerzenleuchter. Die Pferdefrau wieherte noch einmal schrill, bevor sie plötzlich ihre menschliche Stimme wiederfand. Das liebliche Säuseln wirkte bizarr anhand der blutigen Schnauze, aus der es hervordrang. „Que bonito eres", gurrte das Wesen und kicherte mädchenhaft. Lasziv strich es sich über die Brüste und machte einen Schritt auf Angelo zu. „Quieres divertirte conmigo?“ „Lárgate!“, bellte Angelo und hob drohend den Kerzenleuchter. Die Pferdefrau kam näher. Sie schnalzte mit der Zunge und warf die Haare in den Nacken. Es war ein groteskes Bild. „Angelo, pass auf!“ Michael wollte aufspringen, aber das Pferdewesen war schneller. Es bleckte die schwarzen Zähne und duckte sich. Mit einem Satz war es an Angelo vorbei und steuerte wieder auf Michael zu. Der riss die Arme hoch und im nächsten Moment blendete ihn ein grelles Licht ein. Er hörte die Pferdefrau aufwiehern und etwas schlug schwer auf dem Boden auf. Ein hoher Klagelaut gellte durch die Nacht und ließ Michael die Hände auf die Ohren pressen. Es klang wie ein Pferd, dem man bei lebendigem Leib die Eingeweide rausriss. Als er hinsah, hielt sie sich den Oberschenkel. Unter ihren Fingern quoll grünliches Blut hervor. Michaels Blick raste zu Angelo, der in eine Aura aus weißem Licht getaucht war. Statt des Kerzenleuchters hielt er auf einmal ein Schwert in der Hand. „Lárgate!“, schrie Angelo noch einmal und hob drohend die Waffe, als wolle er dem Wesen im nächsten Moment den hässlichen Kopf vom Rumpf schlagen. „Lárgate y que jamás vuelvas!“ Die Pferdefrau heulte und spuckte, aber als Angelo einen Schritt auf sie zumachte, kroch sie schleunigst rückwärts. In den toten Augen schien plötzlich Angst zu stehen. „Te lo vas a arrepentir!“, jaulte sie, bevor sie sich aufrappelte und hinkend und stolpernd in der Dunkelheit verschwand.   Sie war kaum außer Sicht, als Angelo zu schwanken begann. Das Licht um ihn herum verlosch mit einem Flackern und das Schwert entglitt seiner Hand. Im nächsten Moment gaben seine Knie unter ihm nach. Michael kam gerade noch rechtzeitig, bevor er mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. „Angelo“, keuchte er und drehte den Jungen herum. Dessen Gesicht war leichenblass und schweißüberströmt. Sein Puls raste und seine Augen waren weit aufgerissen. „Oh Gott, Michael, was ist hier passiert?“ Gabriella stand wie aus dem Nichts neben ihm und griff nach Angelos Stirn. Er zuckte zusammen und wand sich in Michaels Arm. „Schnell“, sagte sie mit fester Stimme „Wir müssen ihn reinbringen, bevor dieses … Ding zurückkommt.“ Michael überlegte nicht lange. Er hob Angelo auf seine Arme und trug ihn, so schnell es ging, zum Haus. Dort legte er ihn auf das Sofa und ließ sich daneben auf die Knie sinken. In seinem Kopf drehte sich alles und er hatte das Gefühl, den Gestank der Pferdefrau immer noch in der Nase zu haben. „Angelo“, rief er. „Angelo hörst du mich?“ Gabriella kam mit einem Glas Orangensaft aus der Küche und drängte sich neben Michael. „Hilf mir, ihn in eine aufrechte Position zu bringen. Er muss das hier trinken.“ Michael tat, was sie verlangt hatte. Er legte den Arm in Angelos Nacken und zog ihn hoch. Im nächsten Moment presste Gabriella das Glas gegen Angelos Lippen. Er bäumte sich auf und warf den Kopf zur Seite. Der Inhalt des Glases schwappte zum Teil heraus und befleckte sein T-Shirt. „Ach verdammt“, fluchte Gabriella und schien fieberhaft zu überlegen. Sie sah Michael an. „Los, halt ihn fest.“ „Was?“ „Mach endlich.“ Widerwillig gehorchte Michael. Er spürte, wie Angelo sich aus Leibeskräften wehrte, während er seine Arme und Beine fixierte und Gabriella beruhigend auf ihn einredete. Erst, als die ersten Tropfen des Saftes irgendwie in seinen Mund geraten waren, erlahmte seine Gegenwehr plötzlich. Im nächsten Moment begann Angelo gierig zu trinken. Nach ein paar Zügen lehnte er sich in Michaels Arm zurück. Er atmete flach und hatte die Augen geschlossen. Michael konnte spüren, wie sein Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte. Unwillkürlich drückte er ihn ein wenig an sich und legte seinen Kopf gegen die verschwitzten, blonden Locken.   „Okay, das sollte reichen.“ Gabriella ließ das Glas sinken und stellte es sehr sorgfältig auf den Tisch. Als sie sich wieder umdrehte suchte sie Michaels Blick. Er saß mit Angelo im Arm da und starrte zurück. Niemand sagte ein Wort. „Was … was war das?“, brachte Michael nach einer schieren Ewigkeit heraus. „Unterzuckerung“, antwortete Gabriella. „Ich hab das schon mal während einer Führung erlebt.“ Er schüttelte den Kopf. „Du weißt, was ich meine." Sie sah ihn an und er bemerkte, dass sie immer noch ihr Nachthemd trug. Hatte sie geschlafen? Wo war sie gewesen? „Wir müssen …“ Er verstummte. Er hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun mussten. Er war von etwas angegriffen worden, dass es eigentlich nicht geben konnte. In ihrem eigenen Haus. Garten. Und Angelo, er hatte … Michaels Kopf weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Plötzlich erhob Gabriella sich. Er sah, wie sie zur Terrassentür ging, die sie in der Eile offen gelassen hatten. Doch statt sie zu schließen, machte sie Anstalten, in den Garten zu gehen. „Gabriella! Nicht!“ Plötzlich war die Panik wieder da. Das Grauen. Er wollte aufspringen, aber sie hob die Hand. „Ich bin gleich wieder da.“ Kraftlos ließ sich Michael zurück auf das Sofa sinken. Angelos Körper lag schwer in seinen Armen. Er zog ihn an sich.   Die Augenblicke dehnten sich zu Ewigkeiten. Michael konnte nicht viel mehr tun, als die dunkle Glasscheibe zu fixieren und darauf zu warten, dass Gabriella zurückkam. Endlich schälte ihre Gestalt sich aus der Dunkelheit. Michael atmete auf. Seine Frau trat durch die Tür und schob sie zu. Als sie sich umdrehte, sah er das Schwert in ihrer Hand. Sie kam zur Couch zurück und legte es auf den Tisch, bevor sie sich ihm gegenüber setzte. Da lag die Waffe jetzt neben dem leeren Glas und schimmerte silbrig im Licht der Deckenbeleuchtung. Michael hatte keine Ahnung von Schwertern. Das Ding sah aus, als wäre es aus irgendeinem Mittelalterfilm und war etwas länger als sein Arm. Am geriffelten Griff, der für mehr als eine Hand Platz bot, saß eine leicht geschwungene Querstange, in deren Mitte ein blassblauer Stein eingelassen war. Um die Einfassung rankten sich goldene Ornamente. Die Klinge wurde im unteren Drittel ein wenig breiter, bevor sie sich zum Ende hin wieder verjüngte und in einer scharfen Spitze endete. An der Schneide klebte noch das grüne Blut der Alptraumkreatur. „Das war mal ein Kerzenleuchter“, sagte Michael und konnte den Blick nicht davon abwenden. Gabriella starrte ebenfalls darauf, doch im Gegensatz zu Michael, dessen Kopf wie leergefegt war, schien es hinter ihrer Stirn zu arbeiten. „Ich gehe packen“, verkündete sie plötzlich und stand auf. „Was?“ Michael blinzelte überrascht. Hatte er sich gerade verhört? „Wir müssen hier weg“ , erklärte seine Frau und wirkte auf einmal als wisse sie, was sie tue. „Wir brauchen Kleidung, Bargeld, etwas zu essen. Wir nehmen mein Auto, das ist schneller und vollgetankt." Michael sah sie an wie eine Erscheinung. „Und wo willst du hin?“ „Keine Ahnung“, antwortete sie und wirkte dabei nicht minder entschlossen. „Aber hier können wir nicht bleiben. Was auch immer da draußen war, es wird zurückkommen. Das oder andere Dinge, die ich mir gar nicht ausmalen will. Außerdem steht hier morgen früh das FBI auf der Matte und ich habe nicht vor, ihnen zu erklären, warum unser Rasen voller Kampfspuren und Monsterblut ist. Ganz abgesehen hier von.“ Sie deutete auf das Schwert. „Aber Angelo …“ Er kam nicht weiter. „Angelo ist zu dir gekommen, Michael, damit du ihn beschützt. Vor dem da oder vor anderem. Er hat es mir selbst gesagt. Es war kein Zufall, dass ihr euch getroffen habt. Er hat dich gesucht.“ „Damit ich ihn beschütze?“ Michael konnte es immer noch nicht glauben. Wenn er sich richtig erinnerte, war Angelo derjenige gewesen, der ihm gerade das Leben gerettet hatte. „Ja, genau.“ Gabriellas Gesicht wurde weicher. „Denn das ist es, was du tust. Du beschützt Leute. Er braucht dich. Ich weiß nicht, warum ich mir dessen so sicher bin, aber für mich besteht kein Zweifel daran. Nenn es weibliche Intuition, wenn du willst. Ich denke, Angelo hat eine Aufgabe und er braucht unsere Hilfe, damit er sie bewältigen kann. Also werde ich jetzt nach oben gehen, eine Tasche packen und dann verschwinden wir von hier.“ Sie verzog den Mund noch einmal zu einem schmalen Lächeln, bevor sie die Treppe hinauf ging. Michael blieb mit Angelo zurück und versuchte zu begreifen, was seine Frau ihm gerade gesagt hatte. Angelo hatte ihn gesucht? All das sollte kein Zufall gewesen sein? Sein Kopf schwirrte durch die pure Möglichkeit, dass das tatsächlich stimmte. Andererseits war das auch nicht weniger wahrscheinlich als mitten in der Nacht von einer Frau mit einem Pferdekopf angegriffen zu werden. Oder Kerzenleuchter, die sich plötzlich in Schwerter verwandelten.   Angelo bewegte sich in seinem Arm. „Michael?“ Seine Stimme war ein heiseres Krächzen. „Ja, ich bin da““, versicherte Michael ihm und verstärkte seinen Griff um den schmalen Körper. „Ich bin da und passe auf dich auf.“ Er spürte, wie Angelo lächelte. „Danke“, flüsterte er, bevor sein Kopf wieder gegen Michaels Schulter sank. Der sah auf ihn herab und fühlte seine Brust anschwellen. Er konnte nicht sagen, dass ihm irgendwas von dem gefiel, was ihm heute Nacht passiert war. Aber die Tatsache, das Angelo bei ihm bleiben würde, war gut. Er spürte es tief in sich drin. „Ich hätte dich nie allein lassen sollen“, wisperte er und küsste Angelos Stirn. „Verzeih mir.“ Angelo antwortete nicht. Er war bereits eingeschlafen.   Als Gabriella die Treppe hinunter kam, trug sie zwei große Taschen und außerdem noch Michaels Kleidung auf dem Arm. Er beeilte sich, Angelo auf dem Sofa abzulegen, bevor er aufsprang, um ihr zu helfen. Schnell schlüpfte er in seine Hosen und brachte anschließend die Sachen zum Auto. Es war gut, etwas tun zu können. Draußen begannen bereits trotz der anhaltenden Dunkelheit die ersten Vögel zu singen. Er nahm Gabriella die dritte Tasche ab, in der sie eilig einige Vorräte zusammengeworfen hatte, und stellte sie hinter den Fahrersitz. Als nächstes ging er Angelo holen und legte ihn auf die Rückbank. Das längliche Paket, um das Gabriella eine Decke gewickelt hatte, schob er ganz unten in den Kofferraum. Als er sich hinter das Steuer setzen wollte, hielt seine Frau ihn auf. „Du gehst nach hinten zu Angelo. Ich will, dass jemand bei ihm ist, wenn er aufwacht.“ Michael zögerte einen Augenblick, bevor er die Autotür losließ und sich neben Angelo auf den Sitz glitt. Er bettete den Kopf des Jungen auf seinem Schoß, während Gabriella bereits den Motor anließ. Als sie aus der Einfahrt fuhren, sah er noch einmal zum Haus zurück. Auf einmal erschien es ihm seltsam fremd. Fast so, als würde jemand anderes hier wohnen. Vielleicht stimmt das ja auch, dachte er und versuchte das Gefühl zu ignorieren, dass dabei in seinem Magen entstand. Das hier machte ihm Angst und gleichzeitig hatte sich nie etwas richtiger angefühlt. Er atmete tief durch, bevor er seine Augen nach vorn richtete. Gabriella warf ihm im Rückspiegel einen Blick zu und ihr schien es ähnlich zu gehen. „Wir schaffen das“, sagte sie und er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er konnte nur hoffen, dass sie recht hatte.   Kapitel 9: Jäger und Beute -------------------------- Ein Wagen bog in die Straße ein und glitt nahezu lautlos an den Häusern der Menschen vorbei. In einigen Fenstern brannte schon Licht. Einzelne, kleine Leuchtfeuer im Grau der schwindenden Nacht. Der Fahrer hielt ein Stück entfernt vom Haus der Thompson und kurz darauf wurde eine Wagentür geöffnet. Eine Gestalt stieg aus und ging langsam ein Stück den Weg entlang, bis sie stehenblieb und den Blick nach oben richtete. Lange wird es nicht mehr dauern, dachte Erithriel. Der Zugriff war im Morgengrauen geplant. Ein Team war bereits auf dem Weg hierher, um Michael Thompson, seine Frau und den unbekannten Engel in Gewahrsam zu nehmen. Er seufzte leise. Eigentlich wäre es ihm lieber gewesen, so ein unangenehmes Szenario zu vermeiden. Allerdings war es unabdingbar, dass er diesen fremden Engel festsetzte, bevor noch Schlimmeres geschah. Allein die Tatsache, dass sein Kommen keiner Stelle bekannt gewesen war, die Erithriel kontaktiert hatte, war äußerst bedenklich. Genauer genommen legte es einen sehr, sehr unerfreulichen Schluss nahe, nämlich den, dass die es mit einem Gefallenen zu tun hatten. Einem Engel, der sich entgegen des göttlichen Willens zur Erde gestürzt hatte. In diesem Fall war es ihre Aufgabe, ihn unschädlich zu machen. Eine schreckliche Bürde, die jedoch notwendig war, um größeres Übel abzuwenden. Zum Glück war dies, soweit er wusste, seit Urzeiten nicht mehr vorgekommen. Ich hoffe nur, dass wir eine andere Erklärung finden, dachte er bei sich, aber im Grunde glaubte er nicht daran. Warum wohl sonst sollte dieser Engel vor ihm fliehen, statt sich hilfesuchend an ihn zu wenden? Zumal er anscheinend in einem solch geschwächten Zustand war, dass Marcus nicht einmal hatte erkennen können, dass es sich überhaupt um einen Engel handelte. Wenn er also nicht gefunden werden wollte, konnte das nur bedeuten, dass er sich gegen den Willen Gottes gestellt hatte und somit ein Feind der himmlischen Ordnung war. Alles andere war ausgeschlossen. Erithriels Blick wanderte wieder zum Haus der Thompsons, dass immer noch dunkel und seltsam ruhig dalag. Anscheinend hatten die Bewohner trotz der vor ihnen liegenden Ereignisse einen guten Nachtschlaf. Das war fast schon bewundernswert. Es sei denn … Misstrauisch ging er näher und sandte seine Sinne aus. Er empfing keinerlei Lebenszeichen. Wie es aussah, waren die Thompsons ausgeflogen. Sein Gesicht verdunkelte sich. Mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet. Im Gegenteil war er sich ziemlich sicher, bei diesem Menschen gestern einen Nerv getroffen zu haben. Warum also sind sie verschwunden. Was ist seit gestern Nachmittag passiert, dass … Er unterbrach sich, als er plötzlich etwas auffing, das ihm gar nicht gefiel. Mit einer unguten Vorahnung begann er, um das Haus herum in Richtung Garten zu gehen. Als er um die Ecke kam, blieb er wie angewurzelt stehen. Vor ihm lag ein Schlachtfeld. Auf dem Boden gab es eindeutige Spuren eines Kampfes. Platt gewalztes Gras, aufgewühlte Erde, zertrampelte Blumen. Es schien ein kurzes aber heftiges Gefecht gewesen zu sein. Das, was jedoch seine Aufmerksamkeit fesselte, war die Wolke feinen Silberstaubs, die flimmernd und flirrend über dem nassen Gras schwebte. Fast so, als könne er es nicht glauben, hob er eine Hand und streckte sie nach den winzigen Partikeln aus. Trudelnd wichen sie ihm aus und setzten unbeirrt ihren Tanz fort. Erithriel sog scharf die Luft ein. Was hat er getan? Sein Blick richtete sich wieder gen Boden. Er schritt auf die Stelle zu, wo die Spuren am deutlichsten waren. Akribisch suchte er jeden Quadratzentimeter ab, bis er schließlich fand, was er suchte. Er kniete sich hin und fuhr mit dem Finger über eine Stelle, an der grünliche Flüssigkeit das Gras benetzte. Er steckte den Finger in den Mund, verzog angeekelt die Lippen und spuckte aus. Kein Zweifel. Ein Dämon war in diesen Kampf verwickelt worden. Und der Engel, den er suchte, hatte ihn offenbar verletzt oder sogar getötet. Das an sich war noch kein Grund zur Beunruhigung. Es war eine Aufgabe, die sie als Engel wahrnahmen. Das Problem an der Sache stellte das Maß an Magie dar, die er dafür benutzt hatte. Die ganze Luft war von ihren Überresten durchsetzt. Was immer er getan hatte, es waren dabei gewaltige Mengen an Energie freigesetzt worden. Idiot, dachte Erithriel und bereute es, sich gestern nicht doch gewaltsam Zutritt zum Haus verschafft zu haben. Normalerweise verletzte er keine Menschen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Es war ihre Aufgabe, sie zu beschützen und nicht, sie umzubringen. Aber wenn sich jemand ihm so offensichtlich in den Weg stellte, hätte er eigentlich keine Gnade zeigen sollen. Vor allem nicht bei der Tragweite der Ereignisse. Er hatte trotzdem versucht, eine friedliche Lösung herbeizuführen und war ganz offensichtlich gescheitert. Mit dem Ergebnis, dass jetzt alles nur noch komplizierter war. Nun musste er nicht nur diesen Engel finden, er würde auch dafür sorgen müssen, dass das Ganze nicht an die Öffentlichkeit geriet. Wenn dieser Narr weiter so verschwenderisch mit seinen Fähigkeiten umging, würde es nicht lange dauern, bis irgendjemand darauf aufmerksam wurde. Normalerweise war Engelsmagie für Menschen unsichtbar, aber bei der puren Menge an Energie, mit der der fremde Engel hier um sich geworfen hatte, ließen sich visuelle Effekte nicht vermeiden. Effekte, auf die Menschen zumeist mit Hysterie reagierten. Das Letzte, was sie brauchen konnten, war öffentliche Aufmerksamkeit. Ich frage mich nur, warum er das gemacht hat. Es stand außer Frage, dass der Engel und vielleicht auch seine menschlichen Begleiter angegriffen worden waren. Den Spuren nach zu urteilen hatte es sich jedoch nur um einen einzelnen Gegner gehandelt. Um ihn in die Flucht zu schlagen, hätte ein viel geringerer Zauber ausgereicht. Die meisten Dämonen waren ohnehin feige und zogen sich beim geringsten Anzeichen von Widerstand zurück. Was also hatte den Engel veranlasst, so dermaßen überzureagieren? Zumal er so geschwächt war. Ein derart mächtiger Zauber musste ihn fast ausgebrannt haben. Warum benahm er sich so unvernünftig? Das alles erschien keinen Sinn zu geben. Wie er es auch drehte und wendete, Erithriel blieb nichts anderes übrig, als die drei Flüchtigen zur Fahndung auszuschreiben. Die Identität und die Motive dieses Engels mussten ans Licht gebracht werden, bevor noch weiterer Schaden entstand. Mit entschlossenem Gesicht drehte er sich herum und stapfte zurück zum Auto. Während er ging, zog er sein Handy aus der Tasche und begann zu wählen. Dieser Engel musste gefunden werden und zwar so schnell wie möglich. Koste es, was es wolle. „Ihr habt mich rufen lassen, Herr?“ Alejandro kniete mit gesenktem Kopf auf dem Boden, während er das sagte. Er hatte lernen müssen, dass sein Meister es trotz seines gefälligen Äußeren nicht liebte, von seinen Untergebenen angestarrt zu werden. „In der Tat. Du schuldest mir einen Engel, Alejandro. Ich darf annehmen, dass du ihn inzwischen eingefangen hast, ja?“ Die Stimme war wie Samt und Seide. Sie schmeichelte seinen Sinnen und weckte in ihm den Wunsch, sich seinem Herrn zu Füßen zu legen, um sich zwischen den Ohren kraulen zu lassen. „Alejandro? Ich habe dich etwas gefragt.“ Er zuckte zusammen. Unaufmerksam zu werden, war ebenfalls etwas, dass man in Anwesenheit seines Meisters nicht tun sollte. So etwas konnte einen leicht den Kopf, zumindest aber andere, wichtige Gliedmaßen kosten. Und Alejandro wusste, womit sein Herr dabei am liebsten anfing. „Es gab … einige Schwierigkeiten bei der Beschaffung.“ „Schwierigkeiten?“ Die Stimme probierte das Wort, als wäre es ein besonders vollmundiger Wein. „Welche Art von Schwierigkeiten? Als du mir das letzte Mal davon berichtet hast, klangst du zuversichtlich. Du hast behauptet, einen Engel gefunden zu haben. Rein zufällig hat er sich ausgerechnet dein Revier ausgesucht, um vom Himmel zu fallen. Tja und dann? Hast du ihn laufen lassen. Einfach so.“ „Das stimmt nicht, Herr“, wagte er zu widersprechen, obwohl er wusste, dass auch das nur sehr ungern gesehen wurde. „Ich habe ihm etwas von der Sukkubus-Essenz verabreicht, die Ihr mir gegeben habt. Ihr wolltet, dass ich sie an einem Engel teste.“ „Das ist richtig“, erwiderte sein Meister in einem Ton, der an das sanfte Schnurren einer Katze erinnerte. „Ich wollte, dass du für mich herausfindest, ob die Konzentration inzwischen stark genug ist.“ „Oh, das ist sie. Das ist sie!“ „Unterbrich mich nicht!“ Er zuckte zusammen, als die Katze mit ihren Klauen ausholte und ihm einen blutigen Striemen quer über die Nase verpasste, nur um dann übergangslos wieder in ein Schnurren zu verfallen. „Aber, mein lieber Alejandro, statt nun die Gelegenheit zu nutzen, uns dieses süße Geschöpf zu eigen zu machen, hast du was getan?“ Alejandros Nasenspitze berührte fast den Boden. „Wir haben ihn bei dem Menschen gelassen, Herr. Wobei das eigentlich nicht meine Entscheidung war. Kemen war derjenige, der … „ „Kemen ist aber nicht hier. Kemen ist tot. Ein Zwischenfall, der sich, nebenbei bemerkt, ebenfalls unter deiner Verantwortung ereignete. Sag, Alejandro, weißt du eigentlich, warum du der Anführer deiner Rotte bist?“ Alejandro atmete tief durch. „Ja, Herr, Ihr habt es mir gesagt.“ „Wiederhole es für mich.“ „Weil ich nicht der Beste bin.“ „Lauter.“ „Weil ich nicht der Beste bin.“ Er spürte ein sanftes Tätscheln auf seinem Kopf, während er weiter auf die Füße seines Meisters starrte. „Richtig, mein kleiner Cadejo. Du bist in allem maximal der Zweitbeste. Und weißt du, warum du trotzdem der Anführer bist? Weil der Zweitbeste sich immer mehr anstrengen wird als der Rest. Weil er rücksichtslos durchgreifen wird, wenn jemand versucht, ihm seine Position streitig zu machen und die Tatsache, dass dies permanent geschieht, macht ihn so gut. Aber weißt du … ein richtiger Anführer hätte wohl Kemen zu mir geschickt, nachdem er sich diese Fehlentscheidung geleistet hat. Stattdessen kamst du selbst und hast dich von mir dafür bestrafen lassen. Warum, frage ich mich, ist das so?“ Alejandro merkte, wie er begann, schneller zu atmen. Die Stimme seines Meisters war jetzt ganz nah an seinem Ohr. „Kann es sei, dass du es liebst, von mir bestraft zu werden?“ „Nein, Herr, natürlich nicht. Ihr seid grausam, wenn Ihr straft.“ „Und doch habe ich gesehen, wie du hart geworden bist, als ich dich ausgepeitscht habe das letzte Mal. Gib es ruhig zu. Eine Lüge würde ich nämlich sofort erkennen.“ Alejandros Atemzüge waren jetzt mehr ein heiseres Keuchen, als er fühlte, dass sich eine Hand auf seinen Hintern legte und langsam tiefer wanderte. Er stöhnte, als sie ihm brutal zwischen die Beine griff. „Siehst du, ich habe es ja gesagt. Du stehst darauf, vor mir im Staub zu kriechen und zu winseln. Du liebst es vielleicht sogar so sehr, dass du absichtlich Fehler machst.“ „Nein Herr.“ Er konnte nur noch wimmern, während die Hand erbarmungslos zudrückte. „Vielleicht sollte ich dir dieses schöne Spielzeug wegnehmen, was meinst du? Würde das deinem Gehorsam neuen Auftrieb verleihen?“ „Nein, Herr, bitte. Ich … ich weiß, wo der Engel ist. Ich hatte bereits jemanden geschickt, um ihn zu holen.“ Der Griff um sein Glied wurde nicht gelockert, aber sein Meister drückte auch nicht fester zu. „Wen hast du geschickt?“ „Eine Cegua, Herr. Sie wird den Mann erledigen und den Engel zu uns bringen. Ich habe sie angewiesen, ihm kein Haar zu krümmen.“ „Und warum bist du nicht selbst gegangen?“ Der Schmerz zwischen seinen Beinen stieg wieder an und er unterdrückte nur mit Mühe ein Aufjaulen. „Weil … weil …“ Er brachte es nicht fertig, es auszusprechen. Verbissen blinzelte er gegen die Tränen an, die drohten, sich in seinen Augen zu sammeln. „Weil du zu schwach bist?“, bot sein Herr ihm an und Alejandro nickte dankbar. „Weil du dich beim ersten Mal schon hast von dem Menschen übertölpeln lassen? Weil du eben nur ein erbärmlicher, kleiner Halbdämon bist?“ „Ja, Herr“, flüsterte er heiser. „Aber ich bringe Euch diesen Engel, versprochen. Er soll ganz Euch gehören.“ „So ist es brav, das wollte ich hören. Denn du weißt ja, was passiert, wenn du es nicht tust.“ Sein Meister drückte noch einmal kräftiger zu, bevor er ihn endlich losließ. Alejandro wagte nicht, sich zu bewegen. Zwischen seinen Beinen pulsierte es und das nicht nur vor Schmerzen. Aber er rührte keinen Finger und wartete nur ab, während sein Herr an ihm vorbei ging und sich auf dem weichen Lehnstuhl niederließ, auf dem er so gerne saß. Alejandro wusste, wie er dabei aussah. Er hatte ihn oft genug beobachtet. Heimlich natürlich. Die Art und Weise, wie er sich auf dem roten Samt rekelte, ein Bein über die Armlehne gelegt und seinen makellosen Körper zur Schau stellend, hatte etwas an sich, dass den Wunsch in Alejandro weckte, zu diesem Stuhl zu kriechen und sich gebrauchen zu lassen auf welche Weise auch immer es seinem Herrn und Meister gefiel. Notfalls hätte er sich damit zufrieden gegeben, dass dieser seine Füße auf ihm ablegte, wenn er ihn nur in seine Nähe ließ. Er hörte, wie sein Meister die Luft einsog. „Du stinkst bis hierher nach Geilheit“, urteilte er und schnippte mit den Fingern. „Los, bring mir etwas zu trinken.“ „Sofort Herr.“ Eilig rappelte Alejandro sich auf und hastete zu dem kleinen Tisch, auf dem verschiedene Karaffen standen. Er wusste, er würde keine Anweisung kriegen, welches Getränk er bringen sollte. Wenn es das falsche war, würde er jedoch bestraft werden. Er überlegte kurz und wählte die Kristallflasche mit dem französischen Rotwein, den sein Herr am liebsten trank. Seine Hände zitterten, als er etwas davon in ein bauchiges, mit roten Steinen besetztes Glas goss. Mit gesenktem Blick eilte er zurück zum Stuhl. Schlanke Finger legten sich um den Kelch des Glases, das er selbstverständlich nur am Stiel gefasst hatte, damit sein Meister es ihm abnehmen konnte, ohne ihn berühren zu müssen. Das Glas und die Hand verschwanden aus seinem Gesichtsfeld. Eisern hielt er den Kopf weiter gesenkt, um nicht etwa einen unerlaubten Blick zu riskieren. Auf diese geringe Entfernung hätte sein Herr das sofort bemerkt. „Mhm, vorzügliche Wahl. Das hast du gut gemacht, Alejandro. Und jetzt lauf und besorg mir diesen Engel.“ „Natürlich, Herr“, hauchte er und wusste nicht, ob er dankbar für das Lob oder enttäuscht über die ausgebliebene Strafe sein sollte. Andererseits sollte er die Geduld seines Meisters heute vielleicht nicht überstrapazieren. Am Ende büßte er dabei wirklich noch einen Schwanz ein. Er öffnete ohne Umschweife die dunkle Holztür, die zum Arbeitszimmer seines Herrn führte, trat hindurch und schloss diese wieder, ohne ein Geräusch zu verursachen. Dabei bemühte er sich, die Fassung wiederzufinden, die er da drinnen kurzzeitig verloren hatte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sein Herr sich so etwas wie ein Vorzimmer anschaffen können, in dem er einen Augenblick Atem schöpfen konnte, bevor er sich wieder den Blicken der anderen präsentieren musste. Aber es musste eben ohne gehen. Drei Paar Augen starrten ihn neugierig an. „Und? Wie ist es gelaufen?“, wollte Hugo wissen. „Geht dich einen feuchten Scheißdreck an“, knurrte Alejadro und fletschte zur Bekräftigung die Zähne. „Sagt mir lieber, ob die Cegua schon zurück ist.“ „Die Pferdefresse?“, fragte Paco und grinste breit. „Ist schon vor ’ner halbe Stunde wiedergekommen.“ „Und das sagt ihr mir erst jetzt? Idioten, alle miteinander. Nichts als Hundeflöhe im Kopf. Wenn ihr nicht schon kastriert wärt, würde ich das selbst machen und zwar mit einem rostigen Teelöffel.“ Er schubste Luis, den dritten der Runde, der immer noch dämlich glotzte, zur Seite und machte sich auf den Weg in den Keller. Das hieß, in den Keller unter dem Keller, besser bekannt als „das Verlies“. Schon von weitem konnte er die klagenden Laute hören, die durch die steinernen Gänge hallten. Begleitet wurden die schaurigen Klänge von einem Geruch, der einen Abdecker hätte vor Ekel erblassen lassen. Als er die Zelle erreichte, in der ein Abwasserkanal entlangfloss, sah er auf dem Boden eine Gestalt liegen. Sie ähnelte vom Körper her einer nur leicht bekleideten Frau, während ihr Kopf der eines verottenden Pferdes war. Aus dem ohnehin schon deformierten Gebilde blitzten weiße Knochen hervor. „Ah, Tila. Wie schön, dass du es einrichten konntest“, plauderte er scheinbar harmlos und trat durch die Gittertür. Drinnen angekommen ließ er den freundlichen Ton fallen. „Wo ist der Engel?“ Sie fauchte bedrohlich. „Dein beschissener Engel hat mich beinahe umgebracht. Du hast gesagt, er ist ungefährlich und dann? Zieht er auf einmal ein Schwert und hackt mich damit fast in Stücke. Ich konnte gerade noch so fliehen.“ „Fliehen?“ Alejandro blinzelte ein paar Mal. „Das heißt, du hast ihn nicht mitgebracht?“ „Hast du Tomaten auf den Ohren? Nein, natürlich nicht. Stattdessen habe ich das hier.“ Die Cegua hob ihr Bein, auf dem ein langer Schnitt prangte. Die Wundränder waren schwarz und und klafften auseinander, als sie sie losließ. Darunter wurde fauliges Gewebe sichtbar, aus dem grünes Blut sickerte. Alejandro merkte, wie seine Halsschlagader zu pochen begann. Er hatte keinen Engel. Er hatte verfickt nochmal keinen Engel und diese Kuh wagte es, ihm noch etwas vorzujammern. Knurrend hob er die Lefzen. „Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Ich will, dass du mir diesen Engel beschaffst. Ansonsten brauchst du gar nicht erst wiederzukommen.“ „Ach, und wer hätte dir dann erzählen sollen, dass dieses blonde Bengelchen nicht so wehrlos ist, wie du angenommen hast? Damit habe ich mir die Belohnung, die du mir versprochen hast, allemal verdient.“ Alejandro starrte sie aus hasserfüllten Augen an. Hatte sie jetzt tatsächlich gesagt, dass sie bezahlt werden wollte? So ein dreistes Verhalten konnte er sich nicht bieten lassen. Langsam griff er in seine Hosentasche und holte einen Gegenstand heraus. Es war ein kleines Metallrohr, ungefähr so lang wie sein kleiner Finger. Es hatte an einem Ende ein Loch und im oberen Drittel eine schräge Einkerbung. Langsam hob es es an die Lippen. „Du willst eine Belohnung? Dann sollst du sie bekommen.“ Mit einem Lächeln pustete er dreimal kurz in das Rohr. Die Cegua starrte ihn an und ihn ihrem hässlichen Gesicht stand Unverständnis. Erst, als sie das Hecheln und das sich nähernde Klappern hörte, das von hufbesetzten Pfoten herrührte, wurde ihr Ausdruck panisch. „Nein!“, wieherte sie und sprang auf, um sich auf ihn zu stürzen. „Das war so nicht abgemacht. Du hinterhältiges Stück Scheiße, ruf sofort die Hunde zurück.“ Er grinste und im schwachen Licht der Kellerbeleuchtung leuchtete sein Goldzahn auf. „Ich fürchte, das kann ich nicht. Sie warten schon lange darauf, sich mal wieder so richtig auszutoben. Außerdem weißt du doch, was man über große, böse Hunde sagt. Die wollen nur spielen.“ Immer noch grinsend wandte er sich ab und trat in den Gang, während drei schwarze Schatten an ihm vorbei in die Zelle vordrangen. Von drinnen hörte man ein Pferd in Todesangst wiehern. „Lasst sie leiden, Jungs. Ich möchte ihre Schreie bis oben hören.“ Tatsächlich begleitete ihn die süße Musik des Schmerzes bis er wieder vor der Tür seines Herrn stand. Dort angekommen, zögerte er plötzlich. Er hatte eigentlich vorgehabt, ihm vom Versagen der Cegua zu berichten und davon, dass er sie gleich dafür bestraft hatte. Allerdings ging ihm jetzt auf, dass dies auch bedeutete, dass er selbst seinen Auftrag immer noch nicht erfüllt hatte. Sein Meister würde sehr, sehr ungehalten darüber sein, wenn er ihm sagte, dass er noch länger würde warten müssen. Aber nur so ungehalten, dass er ihn bestrafte oder so ungehalten, dass er ihn ernsthaft verletzte? Das Risiko bestand durchaus. Aber wurde es wirklich besser, wenn er mit den schlechten Neuigkeiten noch länger hinter dem Berg hielt? Zumal er keine Ahnung hatte, wie er dem Engel beikommen sollte. Er brauchte die Hilfe seines Meisters. Langsam hob sich seine Hand zur Türklinke. Im Inneren erwartete ihn wie zuvor ein warmes Halbdunkel. Im Kamin brannte ein Feuer und warf einen flackernden Schein auf die unzähligen Bücherregale, die nur einen Bruchteil des Wissens, das sein Herr besaß, fassen konnten. Auf dem Fußboden lag ein üppiger, dunkelroter Teppich, die Möbel waren aus dunklem, fast schwarz erscheinenden Holz, die Decke mit ebensolchem Holz vertäfelt. Einzig das Mondlicht, das durch die großen Sprossenfenster hereinfiel, war silbrig, und doch hatte man fast den Eindruck, dass es kurz hinter der Scheibe abbrach, als fürchte es sich, die Höhle seines Herrn zu betreten. Der Mann selbst saß in eine enge, schwarze Hose und ein Hemd der gleichen Farbe gekleidet in seinem Stuhl und hatte sich scheinbar seit Alejandros Weggang nicht bewegt. Sein Blick war in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Er wirkte wie eine Statue. Nach einer Weile nahm er einen Schluck von seinem Wein und sagte mit schleppender Stimme: „Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür, meine Ruhe schon wieder zu stören.“ „Ja, Herr“, antwortete Alejandro und senkte den Kopf tiefer. „Die … die Cegua ist zurück.“ „Und hat sie den Engel mitgebracht?“ „Nein, Herr.“ Im nächsten Moment fand er sich gegen die Wand gedrückt wieder, mit der Hand seines Meisters an seiner Kehle. Spitze Nägel gruben sich in die empfindliche Haut und die dunkeln Augen seines Herrn durchbohrten ihn förmlich. „Und warum belästigst du mich dann mit deiner Anwesenheit, anstatt dort draußen nach dem zu suchen, was ich dir aufgetragen habe, mir zu beschaffen?“ Alejandro wollte antworten, aber die Hand an seinem Hals unterband jegliche Lautäußerung. Er versuchte zu atmen, sich zu rechtfertigen, aber er konnte nicht. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Sein Herr würde ihn umbringen. In seiner Wut würde er nicht mehr darüber nachdenken, ob ihm Alejandro noch irgendwie nützlich sein konnte. Er würde ihn erdrosseln und dann, ohne mit der Wimper zu zucken, durch irgendeinen anderen Emporkömmling ersetzen, der ebenso wie er sein Glück vermutlich nicht würde fassen können. Als seine Füße den Kontakt zum Boden verloren, begann er zu zappeln. Er wollte nicht sterben. Er wollte seinem Herrn weiter dienen. Ohne zu überlegen griff er sich an den Hals und versuchte, den steinernen Griff zu lösen, der ihn gefangen hielt. Sein Gegenüber lächelte spöttisch. „So, du willst also leben? Dann frage ich mich, warum du so dumm bist, mich dermaßen wütend zu machen.“ Im nächsten Augenblick war die Hand von seiner Kehle verschwunden und Alejandro sackte hustend und um Atem ringend auf dem Boden zusammen. Er wagte nicht, den Blick zu heben. Die Enttäuschung, die ihn in den wunderschönen Augen seines Meisters erwarten würde, war mehr, als er gerade ertragen konnte. „Herr, ich bitte Euch. Ich wollte euch nicht erzürnen. Aber die Cegua, sie hat berichtet, dass der Engel sie angegriffen habe. Sie hat gesagt, er hätte ein Schwert gehabt.“ „Ein Schwert?“ Der Tonfall seines Meisters ließ auf Interesse schließen. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren. „Ja, Herr, ein Schwert.“ „Wie sah es aus?“ Alejandro blinzelte verblüfft. „Ich … ich weiß nicht. Herr. Ist das wichtig?“ Ein Schnauben antwortete ihm. „Ob es wichtig ist? Natürlich ist es wichtig. Also geh los, und frage dieses Frauenzimmer, was sie gesehen hat.“ Alejandro wurde kalt. „D-das geht nicht, Herr. Ich … ich habe sie umbringen lassen.“ „Was?“ Für einen Augenblick schien sein Meister erneut die Fassung zu verlieren. Alejandro duckte sich und erwartete jeden Augenblick, geschlagen oder getreten zu werden. In diesem Zustand war sein Herr unberechenbar. Unzählige Augenblicke lang passierte gar nichts, dann hörte er, wie sein Meister begann, im Zimmer umherzugehen. Anscheinend dachte er nach. Das war gut … vermutlich. Wenn er nachdachte, würde er ihn nicht umbringen. Vorsichtig wagte Alejandro es, den Blick ein wenig zu haben. Sein Herr hatte tatsächlich die perfekt geschwungenen Augenbrauen zu einer grüblerischen Miene verzogen und die aristokratische Stirn unter den dunklen Haaren in Falten gelegt. Plötzlich ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und und sein Gesicht verfinsterte sich noch einmal. Sein Blick richtete sich wieder auf Alejandro, der nicht in der Lage war, den Kopf schnell genug wegzudrehen. Wie hypnotisiert blieb er sitzen und starrte seinen Herrn an. „Weißt du, was mir an dieser Sache nicht gefällt?“, fragte sein Meister, aber er war nicht so dumm, darauf zu antworten. Er wusste, dass sein Meister nur mit ihm sprach, um seine eigenen, großen Gedanken zu ordnen und nicht etwa, weil er annahm, dass Alejandro ihm, bei seinen Überlegungen von irgendeinem Nutzen sein konnte. Er hätte sich vermutlich auch mit der Standuhr unterhalten können, die hinten im Raum stand und mit schweren Pendelschlägen das Verrinnen der Zeit anzeigte. „Als du mir berichtet hast, dass dieser sogenannte Engel keinerlei Gegenwehr gezeigt hat und euch quasi schutzlos ausgeliefert war, hatte ich so meine Zweifel, ob du wirklich einen Engel gefunden hattest. Du hast selbst gesagt, dass sein Ankunftsort zwar voller Spuren göttlicher Macht war, ihm selbst aber nichts davon anhaftete. Und ich dachte mir: Gut, es wird so sein, dass er erst wieder Zugang zu seinen Kräften finden muss. Von einer rein astralen Erscheinung in das Gefängnis einer irdischen Gestalt gepresst zu werden, ist keine angenehme Erfahrung. Sie geht mit einem Verlust eines Teils der Macht einher, der äußerst schmerzhaft ist. Sicherlich, man erholt sich davon, man kann wieder zu Kräften kommen, aber der Vorgang, der dich von einem nahezu gottgleichen Wesen zu einem sich im Staub windenden Wurm macht, übersteigt fast das Maß dessen, was man aushalten kann.“ Sein Herr ballte die Hand zur Faust, als könne er so darin einen unbekannten Gegner zerquetschen. Als er weitersprach, war seine Stimme voller Bitterkeit. „Das war seine Rache dafür, dass wir uns gegen ihn erhoben hatten. Dass wir gewagt hatten, zu zweifeln an seiner Allmacht und Allwissenheit. Weil wir die uns von ihm verliehene Fähigkeit, eigenständig zu denken, genutzt haben, um Kritik zu üben an seinem Projekt, den Menschen. Diese mickrigen Kreaturen, die er erschaffen hat, um sich an ihnen zu erfreuen. Als wären wir nicht genug gewesen. Als hätte unsere Perfektion ihn gelangweilt, unserer Ergebenheit ihm nicht ausgereicht. Er brauchte die Schwachen, die Unvollkommenen, die Missgeburten, um sich auch ihrer Liebe zu versichern. Ich sage dir, Gott ist ein narzisstisches Arschloch.“ Er grinste jetzt und auf seinem schönen Gesicht lag echte Erheiterung. „Aber wir haben es geschafft, seine Kreaturen gegen ihn zu richten. Selbst die schier unendlich erscheinende Anzahl der Dämonen und Engel ist begrenzt und wenn einst die letzte Glocke läutet, wären wir hoffnungslos in der Unterzahl gewesen. Doch jetzt, sieh uns an. Wir holen auf, mein kleiner Cadejo. Mit jeder Seele, die wir erobern, wächst unsere Armee und wenn die letzte Schlacht einst kommt, dann wird es nicht die Schar der Engel sein, die triumphieren wird. Dann werden wir den Himmel einnehmen und er wird einsehen müssen, dass wir ihn geschlagen haben. Wir werden Gott von seinem Thron stürzen und es wird glorreich sein.“ „Das hört sich wundervoll an“, wagte Alejandro einzuwerfen. Der Anblick seines Meisters, der unter einem dunklen Feuer zu erglühen schien, ließ freudige Erregung durch seinen Körper wandern. Vielleicht, vielleicht würde er ja sogar … Der Gedanke verlor jeglichen Bedeutung, als sich auf einmal wieder harte Augen in seine bohrten. „Doch jetzt berichtest du mir, dass ein verdammter Krieger zur Erde geschickt wurde? Nicht einer von diesen Wischi-Waschi-Schutzengeln, die kaum mehr als eine Maus mit ihren Fähigkeiten in die Flucht schlagen können, sondern ein gottverdammter Gotteskrieger mit einem gottverdammten Schwert? Hast du eigentlich eine Ahnung, was das heißt?“ Alejandro schüttelte nur stumm den Kopf. Sein Herr ließ hörbar die Luft entweichen. „Ich auch nicht. Es macht nämlich keinen Sinn, einen solchen aller seiner Fähigkeiten zu berauben. Sicherlich, die Menschen halten die Anwesenheit eines mächtigen Engels nur sehr schwer aus. Der Anblick des Göttlichen lässt sie zwar in Ehrfurcht erstarren, aber es macht sie auch verrückt. Hat ne Weile gedauert, bis er das herausgefunden hatte. Und jetzt setzt er den Menschen seine Englein nur noch in der handzahmen Version vor. Man fragt sich wirklich, warum diese Idioten das eigentlich noch mitmachen. Spätestens jetzt müssten sie doch merken, dass sie nur noch die zweite Geige spielen, aber nein, es wird ja weiterhin schön gekatzbuckelt, während die Menschen … aber lassen wir das. Fakt ist, dass ein Krieger nur dann zur Erde geschickt würde, wenn wirklich eine echte Bedrohung vorliegt. Würden wir einen der Leviathane befreien und auf die Welt loslassen … na sagen wir mal, das wäre eventuell ein Grund. Ansonsten bleiben die schön da oben hocken und warten auf Armageddon, damit sie endlich mal wieder was zu tun haben. Früher, ja, da gab's ab und an nochmal ein Gemetzel zwischen uns und denen, aber heutzutage geht es nur noch darum, möglichst viele, menschliche Seelen zu sammeln. Man könnte sich fast die alten Zeiten zurückwünschen …“ Für einen Augenblick schwieg sein Herr, scheinbar versunken in Erinnerungen. Alejandro nutzte die Zeit, um ihn zu betrachten. Er war wirklich schön. Es fiel nicht schwer, ihn sich vorzustellen, wie er einst in seiner Engelsgestalt ausgesehen haben mochte. Fast hätte er diesem Gott dankbar sein können, dass er ihn gestürzt hatte, damit Alejandro jetzt hier bei ihm sitzen und ihn ansehen konnte. Ein schlanker Zeigefinger legte sich gegen den perfekten Mund seines Meisters und er sagte in nachdenklichem Ton: „Die Frage, die sich also stellt, ist, warum Gott nicht einfach einen weiteren Engel der unteren Ordnung geschickt hat, statt einen der hohen zu rupfen wie eine Weihnachtsgangs. Wenn er wirklich ein Krieger war, müssen die Schmerzen unvorstellbar gewesen sein. Der Prozess müsste ihn schier wahnsinnig gemacht haben. Welchen Nutzen sollte das haben? Was verspricht sich der Alte davon?“ Die dunklen Augen richteten sich jetzt wieder auf Alejandro, dessen Herz in freudiger Erwartung zu pochen begann, „Ich verstehe es nicht, aber ich habe vor, es herauszufinden. Also, mein kleiner Cadejo. Ich will diesen Engel, koste es, was es wolle. Du bekommst von mir dafür, was immer notwendig ist. Alles. Aber geh und finde ihn.“ Alejandro konnte sich gar nicht schnell genug verbeugen. „Sehr wohl, Herr. Er soll Euch gehören. Aber … ich werde Hilfe brauchen“ Sein Meister lächelte hintergründig und entblößte dabei einen etwas zu spitzen Eckzahn. „Natürlich, mein Lieber. Du wirst alle Unterstützung bekommen, die du brauchst. Ich habe da schon jemanden im Auge." Kapitel 10: Verstecktes Verlangen --------------------------------- „Ich brauche jetzt dringend einen Kaffee.“ Michael schreckte hoch. In der Stille des fehlenden Motorgeräuschs, das sie seit Stunden begleitete, war Gabriellas Stimme ungewohnt laut gewesen. Er blinzelte aus dem Fenster und sah eine winzige, verschlafene Stadt, die sich unauffällig in die Ausläufer einer Hügelkette einfügte. Eine Flut von Schildern versuchte, die Vorbeireisenden zum Anhalten und Bleiben zu animieren, bevor sie nach etwa fünf Minuten Fahrt die Stadt schon wieder verließen. „Wo sind wir?“ „In Austin.“ „Wir sind in Texas?“ So lange konnte er unmöglich geschlafen haben. Er hörte Gabriella lächeln. „Nein, in Nevada. Möchtest du nun auch einen Kaffee?“ Er nickte nur und nahm die neue Umgebung ein wenig mehr in Augenschein, während seine Frau ausstieg und auf ein kleines Café zulief. Die Stadt wirkte wie einer dieser typischen Wildweststädte, in denen sich das Leben rund um eine zentrale Straße abspielte, während dahinter nur weites, ödes Land lag. Es gab eine ganze Menge solcher Orte in dieser Gegend. Einige davon waren seit Jahrzehnten verlassen. Vielleicht sollten sie sich in einer dieser Geisterstädte einnisten, bis niemand mehr nach ihnen suchte. Sein Blick glitt auf den Sitz neben ihm, wo Angelo immer noch zusammengerollt schlief. Er sah inzwischen wieder besser aus und einige der blonden Locken waren ihm ins Gesicht gerutscht. Michaels Hand zuckte, um sie zurückzustreichen. Allein die Tatsache, dass er nicht wusste, wo sie jetzt standen, hielt ihn davon ab. Diese Nacht war … unglaublich gewesen. Was immer ihn dort angegriffen hatte, war definitiv nicht menschlich gewesen, und Angelo … was hatte es mit diesem Licht und dem Schwert auf sich? Was verbarg dieser Junge noch vor ihnen? Als hätte er Michaels Gedanken gehört, begann Angelo sich in diesem Moment zu regen. Er öffnete die Augen und ein verschlafener Blick traf Michael. Gleich darauf fuhr Angelo hoch. „Wo sind wir?“ „Austin, Nevada“, antwortete Michael mit einem vorsichtigen Lächeln. Angelo sah ihn an, als wäre er ein Gespenst. Michael erwiderte seinen Blick einige Augenblicke lang, bevor er in die Tasche griff, die zwischen den Sitzen stand. Er zog einen Schokoriegel heraus und reichte ihn Angelo. „Hier. Iss. Du wirst hungrig sein.“ Zögernd griff der Junge nach der angebotenen Schokolade. Er senkte den Blick und konzentrierte sich scheinbar vollkommen darauf, das gelbe Papier zu entfernen. Als er es geschafft hatte, biss er vorsichtig ein Stück ab und kaute langsam. Ganz kurz huschten seine Augen zu Michael, bevor er wieder nach unten sah. Michael räusperte sich. „War ’ne verrückte Nacht“, bot er als Gesprächseinstieg an. „Mhm“, machte Angelo und biss noch ein Stückchen Schokolade ab. „Möchtest du darüber reden?“ „Möchtest du denn?“ Es dauerte einen Augenblick, bis Michael endlich verstand, was los war. Er seufzte. „Hör mal, es tut mir leid, was ich gesagt habe. Dieser Agent Hawthorne hat … er hat ein paar sehr unschöne Erinnerungen geweckt. Erinnerungen an Dinge, die ich lieber vergessen würde. Ich war … ich hatte Angst. Um Gabriella und auch um dich. Aber ich … ich hätte dich nicht so wegstoßen sollen. Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du gehst.“ Jetzt endlich sah Angelo auf und in seinem Gesicht stand so etwas wie Hoffnung. „Dann bist du nicht mehr sauer?“ Michael musste lächeln. „Nein, natürlich nicht. Wie könnte ich? Du hast mir das Leben gerettet.“ Er streckte die Hand aus und Angelo zögerte nur kurz, bevor er zu ihm herüberrutschte und sich an ihn lehnte. Der schmale Körper fühlte sich angenehm warm an und Michael legte den Arm um ihn und hielt ihn fest. Für eine Weile sagten sie gar nichts. „Die Cegua hätte dich nicht getötet“, erklärte Angelo schließlich, nachdem er den Schokoriegel vollständig verzehrt hatte. „Nur verrückt gemacht.“ „Ce... was?“ „Cegua“, wiederholte Angelo. „Ein Dämon, der seine Opfer zunächst anlockt und verwirrt, um sie dann entweder zu Tode zu erschrecken oder eben in Schwachsinnige verwandelt. Sie leben in der Nähe von Gewässern.“ Ein Dämon? Michael hörte die Worte, aber sein Verstand weigerte sich immer noch, die Tatsache zu akzeptieren, dass es offensichtlich doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als er sich bisher hatte träumen lassen. „Und warum hatte das Vieh es auf mich abgesehen?“ Angelo warf ihm einen eigenartigen Blick zu, bevor er sagte: „Die bevorzugten Opfer von Ceguas sind kleine Kinder und … untreue Ehemänner.“ „Oh“, antwortete Michael trocken. „Das erklärt einiges.“ Er dachte daran, wie sich Angelo diesem Ding in den Weg gestellt hatte. Er hatte keinen Augenblick gezögert. „Und was ist mit dem Schwert?“ „Es ist meins.“ Michael glaubte, sich verhört zu haben. „Deins? Warum hast du ein Schwert?“ Angelo sah ihn von unten herauf an. „Zum Kämpfen?“, schlug er vor. Michael lachte. „Ach wirklich? Ich hatte gedacht, du nimmst es, um dir die Nägel zu schneiden.“ Er strich Angelo durch die Haare, bevor er ihn wieder ernster ansah. „Nun mal ehrlich, warum hast du ein Schwert? Und dieses Licht … was war das?“ „Eine Rüstung. Sie schützt mich im Kampf, aber sie … kostet ziemlich viel Energie.“ „Das erklärt dann wohl, warum du zusammengebrochen bist.“ Michael atmete tief durch. „Hat das alles mit diesem mysteriösen Auftraggeber zu tun?“ Angelo versteifte sich in seinem Arm. Michael machte ein beruhigendes Geräusch. „Hey, keine Angst. Ich reiße dir nicht den Kopf ab deswegen. Gabriella hat es mir nur erzählt, als wir losgefahren sind. Obwohl ich wirklich zu gerne wüsste, was derjenige sich dabei gedacht hat. Ich meine, ich soll dich beschützen? Das war wohl eher andersrum gemeint.“ „Aber ohne dich hätte ich das nicht geschafft.“ Angelos Stimme war leise, fast so als fürchte er sich vor dem, was er aussprechen würde. „Ich … ich habe gesehen, wie die Cegua dich angegriffen hat. Und ich konnte nur noch daran denken, dass ich dich retten muss. Der Rest kam ganz von allein. Ich … ich wusste einfach, was ich tun muss. Die Rüstung, das Schwert …. es war alles auf einmal da.“ Michael lachte noch einmal und schüttelte den Kopf. „Fehlt nur noch ein Schild, dann wärst du der perfekte weiße Ritter“, witzelte er. Angelo wurde daraufhin merkwürdig still. Misstrauisch sah Michael ihn an. „Was?“, fragte er ein wenig schärfer als beabsichtigt. Angelo wandte den Blick ab. „Erinnerst du dich an das erste Mal, als ich … ohnmächtig geworden bin?“ Michael runzelte die Stirn. Jetzt, wo Angelo es sagte, fiel es ihm wieder ein. Das war in dem Hotel, als dieser Polizist auf sie geschossen hatte. „Willst du damit sagen …?“ „Ja, ich habe einen Schild beschworen, um dich vor der Kugel zu schützen. Ich war mir plötzlich sicher, dass sie dich treffen würde und habe einfach reagiert. Ich … ich wusste es nicht bis zu dem Moment, in dem ich es getan habe. Es ist … verwirrend.“ „Verwirrend ist gar kein Ausdruck.“ Michael fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er wünschte, Gabriella käme endlich mit dem Kaffee zurück. „Und jetzt?“, fragte Angelo noch leiser als zuvor. „Was machen wir jetzt?“ „Ich habe keine Ahnung. Zunächst einmal müssen wir uns wohl eine Weile verstecken. Immerhin will das FBI uns verhaften. Und dann … dann sollten wir wohl herausfinden, warum du zu uns geschickt worden bist. Ich meine, viel schlimmer als tote Pferde im Pool wird es schon nicht mehr werden.“ Ernst sah er Angelo an. „Aber versprich mir, dass du mir in Zukunft die Wahrheit sagst. Die ganze Wahrheit, okay? Und keine Ohnmachtsanfälle mehr. Diese … Zauberei bringt dich irgendwann nochmal um.“ Angelo nickte leicht. „Ich versuch's. Obwohl ich glaube, dass ich es jetzt besser unter Kontrolle habe. Ich könnte …“ „Keine Magie!“ „Okay!“ Für einen Augenblick schien Angelo aufbegehren zu wollen, aber dann legte er nur seinen Kopf gegen Michaels Arm. „Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst.“ Michael überlegte, ob er noch etwas dazu sagen sollte, aber in diesem Augenblick öffnete sich die Autotür und Gabriella stand mit zwei großen Styroporbechern davor. „Ah, ich sehe, wir sind alle wieder wach“, sagte sie in bemüht heiterem Ton. Michael bemerkte, dass sie müde aussah. Natürlich. Sie war ja auch die ganze Strecke allein gefahren. Er lächelte entschuldigend und nahm ihr den Kaffee ab. „Ich glaube, ich sollte jetzt besser übernehmen, damit du dich ausruhen kannst.“ Sie musterte ihn einen Augenblick, dann trat sie von der Tür zurück und ließ Michael aussteigen. Er setzte sich jedoch nicht gleich ans Steuer, sondern legte zunächst seinen freien Arm um sie und drückte sie an sich. „Danke“, sagte er schlicht und wusste, dass sie ihn verstand. Sie lehnte sich in die Umarmung und atmete hörbar aus, bevor sie sich wieder von ihm löste und ihn mit einer ungeduldigen Geste in Richtung Steuer beorderte. „Wir sollten weiter. Das hier ist zwar nicht gerade eine viel befahrene Strecke, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sie auch hier nach uns suchen. Besser, wir bleiben in Bewegung.“ Er nickte und stieg ein. Im Rückspiegel beobachtete er, wie Gabriella sich anschnallte. Einem kurzen Blick zu Angelo entnahm er, dass der vermutlich nach ihrer Hand gegriffen hatte. Ein schmales Lächeln trat auf ihr Gesicht. „Schön, dass du wieder da bist“, sagte sie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Michael zu. „Also, wohin fahren wir? Ich hatte gedacht, dass wir vielleicht zu deinen Eltern ...“ „Auf gar keinen Fall!“ Gabriella schickte ihm einen amüsierten Blick. „Nein, das wäre vermutlich keine gute Idee. Allein deswegen, weil sie uns dort wohl zuerst suchen würden.“ „Wenn dieser Hawthorne gründlich war, wird er dort nicht seine Zeit verschwenden“, knurrte Michael. „Was trotzdem kein Grund ist, dorthin zu fahren. Allein die Vorstellung, mit Angelo bei ihnen vor der Tür zu stehen, ist einfach lächerlich. Also, wohin sonst?“ Gabriella nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. „Ich weiß nicht. Wenn wir ganz untertauchen wollten, wäre es wohl am besten, uns einfach ohne jede weitere Verbindung zur Außenwelt in irgendeiner menschenleeren Gegend zu verstecken. Wir bräuchten neue Pässe, eine neue Identität, vielleicht eine Möglichkeit, das Land zu verlassen.“ Michael blinzelte überrascht. „Du bist ja ziemlich gut informiert. Hast du so etwas etwa schon einmal in Erwägung gezogen?“ Gabriella lachte auf. „Nein, aber mein Vater ist Sizilianer, wie du weißt. Da bekommt man einiges mit.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Pirata“, murmelte Angelo und erntete ein neues Lachen. „Ja so in etwa. Aber ehrlich gesagt denke ich nicht, dass wir uns in irgendeiner Erdhöhle verstecken sollten. Wir haben schließlich ein Leben, Jobs, ein Zuhause. Ich habe nicht vor, mir das einfach so wegnehmen zu lassen. Zumal die Polizei ja nur die eine Seite ist. Dieses Vieh, das uns heute Nacht angegriffen hat, kam mit Sicherheit nicht vom FBI und irgendetwas sagt mir, dass wir vor dieser Art von Bedrohung auch in einer Hütte im Urwald von Borneo nicht sicher wären.“ Michael musste zugeben, dass ihm dieser Gedanke auch schon gekommen war. Sich mit den Gesetzeshütern anzulegen, war eine Sache. Es erschien ihm immer noch riskant, aber mittlerweile war der Funken des Widerstands, der durch den Schlagabtausch mit diesem Agent Hawthorne kurzzeitig erloschen war, wieder neu entfacht worden. Er hatte verdammt nochmal nichts falsch gemacht und er würde nicht einfach so klein beigeben. Außerdem hatte Angelo mehr als deutlich gemacht, dass er bei ihnen bleiben wollte. Es war vollkommener Humbug, ihnen deswegen eine Entführung anhängen zu wollen. Viel dringlicher war jedoch die Frage, was es mit den Geschehnissen der Nacht auf sich hatte. Da sie auf Unterstützung der Polizei aus offensichtlichen Gründen nicht zählen konnten, würden sie die Sache wohl selbst in die Hand nehmen müssen. Die Frage war nur, wo sie anfangen sollten zu suchen. Ob es im Telefonbuch wohl Einträge für Dämonenjäger gab? Er warf einen Blick zu Angelo, dem irgendwas im Kopf herumzugehen schien. „Was denkst du, was wir tun sollten?“, fragte er und erwartete fast nicht, eine Antwort zu bekommen. Er wurde überrascht. „Ich … ich glaube, wir sollten noch einmal nach Las Vegas fahren“, sagte Angelo nach einigem Zögern. Er biss sich auf die Lippen und sah Michael an. „Erinnerst du dich an diesen Polizisten? Der, der uns verfolgt hat?“ „Ja natürlich. Was ist mit ihm?“ „Ich … ich glaube, er könnte uns helfen.“ „Was?“ Michaels Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ausgerechnet der? Wie kommst du denn auf die Idee? Ich denke, der würde uns höchstens verhaften.“ „Vielleicht“, gab Angelo langsam zurück. „Aber ich glaube, dass er den Schild gesehen hat, den ich beschworen habe.“ „Woher weißt du das?“ „Ich … ich weiß es nicht. Es ist mehr so ein Gefühl. Die Art, wie er reagiert hat. Ich kann es nicht wirklich beschreiben. Es ging alles so schnell. Aber ich glaube, er könnte uns vielleicht einige unserer Fragen beantworten.“ Michael schwieg. Sein Kopf sagte ihm, dass das keine gute Idee war. Andererseits war es wenigstens ein Ansatzpunkt und wenn er noch so klein war. „Also schön“, sagte er schließlich. „Fahren wir nach Vegas. Aber was tun wir, damit uns niemand erwischt?“ „Das lass mal meine Sorge sein“, erwiderte Gabriella. „Ich habe da schon ein paar Ideen. Aber zunächst einmal sollten wir zusehen, dass uns die Highway Patrol nicht erwischt. Also runter von den großen Straßen. Ich habe überlegt, den Wagen zu wechseln, aber hier in der Umgebung gibt es keine Mietwagenfirmen. Also werden wir einfach vorsichtig sein müssen und uns in Vegas einen neuen Wagen besorgen.“ „Und wie bezahlen wir den?“ „Ich habe noch eine Kreditkarte, die auf meinen Mädchennamen läuft. Den werden sie hoffentlich nicht so schnell überprüfen.“ Michael wusste nicht, ob er weinen, lachen oder seine Frau küssen sollte. Er entschied sich, nichts von alldem zu tun und startete stattdessen den Wagen. Er verließ die breite Hauptstraße und folgte einer kleineren Route, die schließlich in eine Sandpiste überging und immer weiter in Richtung Süden trug. Als Marcus das Revier betrat, trafen ihn die Blicke seiner Kollegen. Sie standen zusammen und wenn Marcus es nicht besser gewusst hätte, hätte er gesagt, dass sie über ihn geredet hatten. Als er näherkam, setzte Ted Carter sich in Bewegung. „Hallo, Junge … du siehst … äh …“ Scheiße aus hätte jetzt wohl kommen müssen. Marcus hatte die Nacht über quasi nicht geschlafen und sich nach einem kleinen Ausflug in die Wüste in seinen Büchern vergraben. Mit dem Ergebnis, dass er nichts gefunden hatte. Er hatte zwar einig Einträge über Formwandler-Dämonen entdecken können, aber einen Cadejo, der sich in einen Menschen verwandeln konnte, gab es nicht. Oder anscheinend schon, aber es hätte ihn nicht geben dürfen. Irgendetwas stimmte da nicht. „Carter“, sagte er mit einiger Verspätung. „Was gibt’s?“ Er deutete mit dem Kopf auf die restlichen zwei, die es plötzlich sehr eilig hatten, zu verschwinden und beschäftigt zu tun. Marcus ahnte, dass etwas im Busch war. „Nun …“, sein älterer Kollege drehte ein wenig unbehaglich seine Kaffeetasse in der Hand. „Weißt du, wir haben da jemanden, der eine Aussage machen möchte und wir hatten gedacht, dass du das übernehmen könntest.“ „Klar, warum nicht.“ Marcus setzte seinen Weg in Richtung Umkleideraum fort und begann dort, seine Uniform anzuziehen. „Worum geht’s?“, fragte er seinen Kollegen, der jetzt in der Tür stand und immer noch unbehaglich aussah. „Vergewaltigung.“ Marcus stockte ganz kurz in der Bewegung, bevor er sich die Schuhe zuband. „Das übernimmt doch normalerweise Clevenger. Ist die krank?“ Carter nuschelte irgendetwas Unverständliches in seinen Kaffee. Marcus stellte seinen Fuß auf den Boden und richtete sich auf. Misstrauisch sah er seinen Kollegen an. „Was hast du gesagt?“ „Ist 'n Mann. Deswegen dachten wir, du könntest vielleicht ...“ Marcus Augenbrauen wanderten nach oben. „Ein Mann wurde vergewaltigt?“ Gut, das konnte vorkommen. „Aber warum soll ausgerechnet ich seine Aussage aufnehmen?“ „Na ja, ich und die Jungs haben uns gedacht, dass du dich da vielleicht besser auskennst. Bei dir fühlt er sich vielleicht nicht so … was?“ Marcus Augen waren zunächst groß und dann schmal geworden. „Was meinst du damit, dass ich mich da auskenne?“ Carter hielt seine Tasse wie eine Waffe vor sich. „Na weil du doch … also nicht, dass mich das stören wurde. Kann jeder in seiner Freizeit machen, was er will. Aber wissen will ich's nicht so genau.“ In Marcus’ Kopf hatte es angefangen zu arbeiten. Wollte Carter damit etwa andeuten …? „Ich bin nicht schwul, falls du das meinst.“ Jetzt war es an seinem Kollegen, große Augen zu machen. „Bist du nicht? Aber wir dachten, weil du doch keine Freundin …“ „Meine Güte, deswegen muss man doch nicht gleich schwul sein. Dafür kann's doch viele Gründe geben.“ Dass man total verkorkst war und außerdem eine etwas komplizierte Familiengeschichte hatte, dass man sich vollkommen auf seine Arbeit konzentrierte und dass sowieso einfach noch nie die Richtige vorbeigekommen war, weil solche Frauen selten bei einem zu Hause an der Tür klingelten. Momentan würde er noch Flecken von Dämonenblut auf seinem Fußboden mit auf die Liste setzen, aber immerhin lag keine Leiche mehr neben dem Sofa. Die hatte er heute Nacht erfolgreich entsorgt. „Tja … äh … ja … gut“, stammelte Carter und Marcus seufzte innerlich. Viel schlimmer konnte es ja schon nicht mehr werden. „Ich übernehme das trotzdem. Und du sorgst bitte dafür, dass dieses Gerücht aus der Welt geschafft wird. Ich hab keine Lust auf irgendwelche dummen Sprüche und anzüglichen Witze.“ „Natürlich, klar, mache ich.“ Sein Kollege beeilte sich, zu den anderen zurückzukommen, die ihn schon mit nur mühsam zurückgehaltener Neugierde erwarteten, während Marcus selbst sich zum Verhörraum begab. Mal sehen, was der Kerl zu berichten hatte. Als er den kleinen Raum betrat, der außer einem Tisch und vier Stühlen nicht viel enthielt, erwartete ihn die nächste Überraschung. Der Zeuge, ein dunkelblonder Mann etwa in Marcus’ Alter, war nicht allein. Ein zweiter Mann, etwas größer und mit dunklen Haaren, hielt ihn im Arm und redete beruhigend auf ihn ein. „Du schaffst das schon. Ich bin ja bei dir. Wir gehen nicht einfach nach Hause.“ Als er Marcus bemerkte, wurde seine Miene kälter. „Wird ja auch Zeit, dass mal jemand kommt. Wir warten hier schon seit Stunden.“ „Tut mir leid“, antwortete Marcus in geschäftsmäßigem Ton. „Wir sind unterbesetzt.“ „Das sah mir nicht so aus“, giftete der Typ feindselig, ließ sich aber trotzdem auf einem der Stühle nieder, während sein Freund auf dem zweiten zusammensank. Marcus sah, dass er ein bauchfreies T-Shirt trug. Ein schneller Check über die Garderobe des zweiten Mannes bestätigte ihm, was er vermutete. Die beiden hatten sich eindeutig zum Ausgehen herausgeputzt. Der Dunkelhaarige trug sogar Augen-Makeup. Die Tatsache, dass es bereits früher Nachmittag war, ließ darauf schließen, dass auch die beiden eine ziemlich lange Nacht gehabt hatten. Marcus schlug die Aktenmappe auf und sah, dass immerhin schon die Daten aufgenommen worden waren. Wenigstens das blieb ihm erspart. „Also, Mr. …Wagner. Sie wurden heute sexuell belästigt?“ „Vergewaltigt“, korrigierte der geschminkte Typ ihn sofort und fing sich dafür einen bösen Blick seines Freundes. „Lass es, Tom. Ich hab dir gesagt, mir geht es gut.“ „Das behauptest du jetzt“, fauchte der aufgebrachte Freund. „Aber übermorgen geht es dann los und du wirst jedes Mal zu einem heulenden Wrack, wenn ich dich anfassen will. Wir zeigen das jetzt an.“ Der Blonde murmelte etwas und sah Marcus entschuldigend an. „Sie hören es ja, Officer. Wir zeigen das jetzt an.“ Marcus klickte die Mine seines Kugelschreibers heraus. „Na dann erzählen Sie mal, was vorgefallen ist.“ „Wir waren heute Nacht im Rainbow unterwegs, aber auf dem Heimweg …“, ratterte der Dunkelhaarige los, bevor Marcus ihn unterbrach. „Ich würde das gerne von Mr. Wagner persönlich hören.“ Der Blonde warf noch einen unsicheren Blick auf seinen Freund, bevor er anfing zu erzählen. „Wir waren, wie gesagt, feiern. Es war lustig und wir hatten einiges getrunken. Auf dem Heimweg musste ich dann … na Sie wissen schon. Ich hab Tom gebeten zu warten und bin in einen Hinterhof gegangen, um mich zu erleichtern. Als ich fertig war, wollte ich wieder zur Straße gehen und da stand sie auf einmal.“ „Moment mal … sie?“ Marcus sah irritiert von seinem Bericht auf. „Siehst du, ich habe dir gesagt, dass das total lächerlich ist“, zischte das Opfer jetzt seinen Freund an. Der war offensichtlich anderer Meinung. „Du bist von dieser Frau zum Sex gezwungen worden. Das ist eine Vergewaltigung.“ „Aber …“ Marcus räusperte sich. „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Mr. Wagner, aber Ihr Freund hat recht. Sie sollten diese Dame anzeigen.“ Der Blonde verzog das Gesicht. „Ich glaube, Dame ist nicht ganz die richtige Bezeichnung. Sie sah mehr aus wie eine … eine …“ „Ja?“ „Eine Prostituierte.“ „Cam! Ich hab dir gesagt, dass du das nicht sagen sollst. Am Ende bekommst du noch die Anzeige.“ Das Opfer sank noch mehr unter den Tisch. „Aber wenn es doch stimmt. Sie hatte diese knappen Sachen an und sie hat mich eindeutig angemacht. Ich hab ihr gesagt, dass ich nicht interessiert bin, aber sie hat mich … sie hat mich einfach gegen die Wand gedrängt und geküsst. 'Du willst es doch auch' hat sie gesagt und dann … dann weiß ich nichts mehr. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist, wie sie von mir runtersteigt, das Kondom abzieht und mir noch einen schönen Abend wünscht.“ „Moment …“, wieder unterbrach Marcus seine Notizen. „Das heißt, sie hat in dem Hinterhof mit ihnen Sex gehabt, während ihr Freund brav an der Straße gewartet hat?“ „Nein, natürlich nicht“, widersprach besagter Freund. „Als Cameron nach ein paar Minuten nicht wiederkam, bin ich ihn suchen gegangen. Ich hab gedacht, ihm ist vielleicht schlecht geworden. Aber er war nicht da. Verschwunden. Er ging auch nicht an sein Handy. Ich hab ihn überall gesucht und war schon kurz davor, zur Polizei zu gehen, als er auf einmal anrief. Er befand sich in einer leerstehenden Wohnung drei Straßen weiter. Hab ihn gefunden, wie er völlig fertig auf dieser dreckigen Matratze hockte und mir die ganze Zeit beteuerte, dass er das nicht gewollt hat. Ich hab ihm dann gesagt, dass wir diese Schlampe anzeigen müssen. Die kann sich doch nicht einfach irgendwelche Kerle schnappen und mit ihnen Sex haben.“ Marcus’ Augen wanderten von einem zum anderen, bis sein Blick schließlich auf dem Opfer hängen blieb. „Und eine freiwillige Zusammenkunft ist vollkommen ausgeschlossen?“ „Ja!“, warf der Freund ein, aber Marcus beachtete ihn gar nicht. Sein Augenmerk galt nur dem blonden Mann, der jetzt anfing, unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. „Mister Wagner“, sagte Marcus eindringlich. „Wenn Sie sich diese Geschichte nur ausgedacht haben, damit ihr Partner nicht eifersüchtig wird, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um es zu sagen. Noch können wir das Ganze als Missverständnis durchgehen lassen.“ Der Mann senkte den Blick und sah auf seine verschränkten Hände. „Ich habe mir das nicht ausgedacht. Aber … Ich meine, es ist doch … Das Ding ist, ich steh nun mal nicht auf Frauen. Ich habe keine Ahnung, wie es dazu kommen konnte. Normal hätte ich angenommen, dass ich dazu gar nicht in der Lage wäre. Aber wenn wir Sex hatten … Das heißt doch wohl, dass es mir irgendwie gefallen haben muss, oder nicht?“ „So ein Quatsch“, begehrte jetzt der Freund wieder auf. „Wolltest du Sex mit ihr haben?“ „Nein!“ „Also ist es eine Vergewaltigung. Nur weil man erregt ist, heißt das ja nicht, dass man auch Sex mit demjenigen haben will. Stell dir mal vor, einer fasst dich an oder schiebt dir einfach seinen Schwanz hinten rein, nur weil du einen Ständer hast. Das wäre doch auch ganz klar eine Vergewaltigung.“ „Ich gebe ihrem Freund da recht“, fühlte sich Marcus genötigt einzuwerfen, obwohl ihm das ganze Thema nicht wirklich behagte. Vor allem aber leuchteten in seinem Kopf bereits eine ganze Menge Alarmzeichen auf. An dieser Vergewaltigung war noch einiges andere mehr als ungewöhnlich. Als Erklärung dafür fielen ihm zwei Varianten ein und keine davon war besonders angenehm. „Es ist richtig, dass Sie hergekommen sind, Mr. Wagner. Wir werden der Sache auf jeden Fall nachgehen. Wenn Sie mir jetzt vielleicht noch eine Beschreibung der Täterin geben könnten und die Adressen, an denen es passierte?“ „Sicher.“ Der Mann überlegte kurz. „Sie war blond, vielleicht 1,70 groß, hatte einen schwarzen Minirock an und schwarze Stiefel. Das Top war rot, ziemlich weit ausgeschnitten. Wo genau ich sie getroffen habe, weiß ich nicht. Das war irgendwo in der Nähe vom Strip. Aufgewacht bin ich Parkway Road 37 im dritten Stock.“ Marcus notierte sich alles. Als er fertig war, sah er den Mann noch einmal durchdringend an. „Ich habe nur noch eine Frage Mr. Wagner. Hat die Verdächtige Ihnen Geld oder irgendwelche Wertgegenstände abgenommen?“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein, es hat nichts gefehlt. Das Einzige, was sie mitgenommen hat, war das Kondom.“ Marcus notierte sich diesen Umstand noch und schloss dann den Aktendeckel. Mit dieser Information wurde eine der möglichen Erklärungen wahrscheinlicher, auch wenn er die zweite nicht vollkommen ausschließen wollte. Vielleicht war es auch eine Kombination von beidem. Er würde das überprüfen müssen. Wobei natürlich auch noch die Möglichkeit bestand, dass es sich einfach um eine durchgeknallte Verrückte handelte, die Männer aus dunklen Hinterhöfen verschleppte, um einfach nur so Sex mit ihnen zu haben. Allerdings ließ irgelndetwas Marcus an dieser Variante sehr zweifeln. Mit ernstem Gesicht wandte er sich noch einmal an das Opfer. „Mr. Wagner, ich danke Ihnen für Ihren Mut, diese Sache zur Anzeige zu bringen. Sie sollten sich noch zu einem Arzt begeben und auf eventuelle Spuren untersuchen lassen. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen eine Adresse.“ Dem Mann schien das unangenehm zu sein. Trotzdem versprach er, sich darum zu kümmern und wurde daraufhin von seinem Freund zur Tür begleitet. Marcus wollte sie schon hinauslassen, als ihm noch etwas einfiel. Er räusperte sich. „Und wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf, Mr. Wagner? Gehen Sie zu einem Psychologen. Das, was Sie erlebt haben, sollte man keineswegs auf die leichte Schulter nehmen. Es aus Scham zu verschweigen, wäre grundlegend falsch. Sie sind hier das Opfer und Ihnen sollte geholfen werden.“ Der dunkelhaarige Typ sah Marcus an und nickte ihm leicht zu. „Danke, Officer. Ich … ich bin froh, dass Sie die Sache so ernst nehmen.“ „Keine Ursache“, murmelte Marcus und war seinerseits froh, dass der Mann nicht ahnen konnte, wie ernst er die Sache wirklich nahm. Heute Nacht würde er vermutlich mal wieder nicht mit Schlafen verbringen. Michael hatte nicht viel erwartet, als sie auf den Parkplatz des schon ziemlich heruntergekommenen Motels gefahren waren. Auf dem Dach der Rezeption prangte die Werbetafel eines Anwalts, der sich auf Scheidungen und Unfälle spezialisiert hatte. Für Michael sagte das eigentlich schon alles. Da Motel befand sich an einer riesigen, stark befahrenen Straße und schien die Art von Gästen anzuziehen, die sich nicht viel in ihren Zimmern aufzuhalten gedachten. Allerdings war es billig und lag relativ zentral, weswegen es fast schon an ein Wunder grenzte, dass sie tatsächlich noch einen Schlüssel hatten ergattern können. Als er das Zimmer sah, war er sich jedoch nicht mehr so sicher, ob das wirklich ein Vorteil gewesen war. „Bist du dir sicher, dass wir in so einer Absteige hausen müssen?“, fragte er Gabriella, die bereits dabei war, in einer Tasche herumzukramen, die er auf einem der breiten Betten mit dem bunten Überwurf abgestellt hatte. Sie sah ihn an und seufzte. „Nein, bin ich nicht. Aber wir hatten ja besprochen, dass ein Hotel mit aufmerksamem Personal vielleicht nicht unbedingt das Richtige wäre. Zumal es in den meisten Hotels Kameras gibt. Hier gibt es nur eine einzige am Eingang und ich bin mir nicht mal sicher, ob das nicht nur eine Attrappe ist.“ Michael sah sich in dem Zimmer um. Auf den Fußboden lag ein Teppich in undefinierbarer Nicht-Farbe und an den Wänden hing nicht ein einziges Bild. Außer den zwei breiten Betten gab es noch einen altersschwachen Sessel und ein kleines Sideboard, auf dem ein winziger Flachbildfernseher stand, bei dem ein Einbrecher vermutlich aus Mitleid ein paar Scheine dagelassen hätte, anstatt das zerkratzte Ding zu klauen. Er seufzte innerlich. „So, ich werde mich jetzt auf den Weg machen, um noch ein paar Sachen zu besorgen“, verkündete Gabriella. „Wir sollten euch beide so gut wie möglich unkenntlich machen. Mützen, Sonnenbrillen und so weiter. Vielleicht sollten wir Angelo die Haare färben, damit er nicht so schnell wiedererkannt wird. Wenn wir unentdeckt bleiben wollen, müssen wir uns gut vorbereiten. Ich überlege noch, ob ich mir die Haare abschneiden sollte. Was meinst du dazu?“ Michael trat zu ihr und fuhr ihr durch die seidigen, dunklen Strähnen. „Ich glaube nicht, dass das notwendig ist, Baby. Dich kennt doch hier keiner. Und notfalls bindest du sie einfach hoch oder trägst eine Perücke. Ich würde dich ungern so verschandelt sehen.“ Gabriella seufzte. „Wahrscheinlich hast du Recht, aber eine Überlegung war es trotzdem wert.“ Sie griff nach ihrer Handtasche und wandte sich zum Gehen. „Na dann, ihr zwei, macht es euch ein bisschen gemütlich. Wie es aussieht, werdet ihr eine Weile hierbleiben müssen. Morgen werde ich zunächst einmal die Polizeireviere abklappern, um diesen Officer zu finden. Hoffen wir mal, dass er uns weiterhelfen kann.“ Sie küsste Michael noch kurz auf den Mund und schenkte Angelo ein aufmunterndes Lächeln. „Keine Angst, wir schaffen das schon.“ Als die Tür hinter ihr zuklappte, hörte Michael Angelo aufatmen. Er warf ihm einen fragenden Blick zu. „Was ist los? Stimmt was nicht?“ Angelo antwortete nicht. Stattdessen setzte er sich neben die Tasche auf das Bett und vergrub den Kopf in den Händen. Ein wenig unschlüssig trat Michael neben ihn. Als Angelo nicht reagierte, ließ er sich auf die Knie sinken und zog sanft an seinen Handgelenken. „Hey, rede mit mir. Du hast mir versprochen, mir ab jetzt immer die Wahrheit zu sagen.“ Angelos Mund verzog sich zu einer missmutigen Grimasse. „Ja, habe ich“, gab er zu und versuchte, sich Michaels Griff zu entwinden. „Mir geht einfach eine Menge im Kopf herum und ich … ich möchte nicht darüber sprechen.“ Michael ließ Angelo los. Der machte zwar keine Anstalten, sich weiter von ihm zu entfernen, wich jedoch seinem Blick aus und konzentrierte sich stattdessen auf die wackelige Stehlampe, die auf einem kleinen Tischchen neben dem Bett lag. Was genau war passiert zwischen dem hoffnungsvollen Zusammensein in Austin und dem Einchecken in diesen abgewrackten Motel, das Angelo so zugesetzt hatte? Auf der Fahrt hierher hatte er eigentlich noch ganz normal gewirkt, aber jetzt? Michael atmete tief durch. „Ich … ich glaube, ich werde erst mal duschen gehen. Ich habe das Gefühl, dass ich immer noch Fetzen von dieser Cegua unter den Nägeln habe.“ Er überlegte kurz. „Möchtest du mitkommen?“, fragte er betont unschuldig. Angelo antwortete nicht, aber Michael konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Schließlich sah er auf. „Du meinst, ob ich mit dir duschen komme?“ Michael zuckte die Schultern. „Vielleicht? Ein Versuch war’s wert, oder nicht?“ Ein schmales Lächeln stahl sich auf Angelos Lippen. „Meinst du, dass das eine gute Idee ist? Was ist, wenn Gabriella zurückkommt?“ „Dann können wir ausprobieren, ob auch drei Leute in die Duschkabine passen“, erwiderte Michael augenzwinkernd. Er stand auf und zog Angelo in die Höhe. Willig ließ sich der Junge von ihm ins Bad führen. Dort angekommen entfuhr Michael ein überraschter Laut. Das Bad war winzig und die Duschkabine nicht viel mehr als ein besseres Loch in der Wand. „Okay, das mit dem zusammen duschen können wir wohl vergessen. Da muss ich ja froh sein, wenn ich überhaupt allein reinpasse.“ Er drehte sich zu Angelo herum. „Tut mir leid. Ich … ich wollte dich nur ein bisschen aufmuntern. War vielleicht nicht die beste Idee.“ „Schon okay“, erwiderte Angelo und lehnte sich leicht gegen ihn. Michael wartete ab. Nach einigen Augenblicken hörte er ihn leise sagen: „Es ist nur … ich weiß noch nicht mal, wer ich eigentlich bin. In meinem Kopf ist nur ein Wirrwarr aus eigenartigen Fähigkeiten und merkwürdigen Erinnerungen. Und jetzt … jetzt soll ich auf einmal zu jemand anderem werden, damit mich niemand mehr wiedererkennt? Ich weiß nicht, ob ich das will.“ „Zu jemand anderem werden? Himmel, Angelo, wir wollen dich nur ein bisschen verkleiden.“ „Du meinst verschandeln“, grollte der Junge leise. Er sah Michael dabei nicht ins Gesicht. Der spürte, wie seine Mundwinkel zu zucken begannen. Ach darum ging es also. „Kann es sein, dass du was dagegen hast, wenn wir deine Haare färben.“ „Mhmpf“, machte Angelo gegen seine Brust. „Bist du etwa ein ganz kleines bisschen eitel?“ „Nein.“ „Ganz sicher?“ Ein verstohlener Blick aus großen, blauen Augen traf ihn. „Und wenn ich dann furchtbar aussehe? Wirst du mich dann noch … ich meine, magst du mich dann noch?“ Michael lächelte gutmütig. „Warum sollte ich dich dann nicht mehr mögen?“ „Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich komisch bin. Weil ich vielleicht ebenso ein Monster bin wie die Cegua. Eins, dass dich mit seinem hübschen Aussehen anlockt, um dann … ach ich weiß auch nicht. Entschuldige, dass ich davon angefangen habe. Ich habe heute so komische Gedanken im Kopf.“ Angelo wollte sich wegdrehen, aber Michael ließ das nicht zu. Er schlang seine Arme um ihn und hielt ihn fest. „Du bist kein Monster“, sagte er und drückte Angelo einen Kuss auf die Stirn. „Ich denke, das hätte ich inzwischen gemerkt.“ „Aber du weißt nichts über mich.“ „Oh, ich weiß eine Menge. Ich weiß zum Beispiel, dass du unglaublich verrückt nach Süßigkeiten bist. Dass du nicht dumm bist und über zehn verschiedene Sprachen sprichst. Dass du dich zu benehmen weißt und dass du höflich und zuvorkommend bist bis zu einem Grad, wo es manchmal schon fast albern wirkt. Dass du aber auch witzig sein kannst und dass dein Lachen mit das Schönste ist, was ich bisher gehört habe. Dass du mutig bist und tapfer, sonst hättest du dich wohl kaum diesem Vieh entgegengestellt und das für jemanden, den du eigentlich kaum kennst. Dass große Leidenschaft in dir steckt. Und dass du eine Abneigung gegen Schuhe hast. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass du die schon wieder ausgezogen hast?“ Angelo sah nach unten, wo seine bloßen Füße unter dem Saum der Jeans hervorsahen. „Nein, nicht wirklich. War irgendwie ein Reflex.“ „Tja“, sagte Michael und legte den Kopf ein bisschen schief. „Jetzt habe ich dir eine Dusche versprochen und du hast schon angefangen, dich auszuziehen. Vielleicht sollten wir das einfach fortsetzen und mal sehen, was daraus wird, mhm?“ „Und Gabriella?“ „Ich hab dir doch schon gesagt, dass sie es verstehen wird. Oder hattest du den Eindruck, dass sie etwas dagegen hat?“ „Nein, das nicht, aber …“ Angelo sah zur Seite. „Wenn sie wiederkommt, wirst du dann wieder mit ihr …?“ Michael runzelte die Stirn. „Was? Mit ihr schlafen? Keine Ahnung. Ich mache für so was normalerweise keine Termine.“ Das war bisher noch nie notwendig. „Das war eine dumme Frage. Bitte entschuldige. Ich habe kein Recht …“ Angelo atmete tief durch. „Es war nur so wunderbar, als ihr miteinander … geschlafen habt. Ich habe gespürt, wie sich eure Seelen dabei umarmt haben. Es war wunderschön und ich … ich hätte das auch gern.“ Michael unterdrückte ein Schmunzeln. Sich umarmende Seelen? Das klang ziemlich hochtrabend für ein bisschen Sex, selbst wenn er gut war. Aber vielleicht war es das Vorrecht der Jugend, Gefühle auf Hauswände zu schreiben statt auf Post-its. War er damals genauso gewesen? Er versuchte, Angelo in die Augen zu sehen, was gar nicht so einfach war, weil dieser hartnäckig versuchte, seinem Blick auszuweichen. Schließlich griff er ihm kurzerhand unter das Kinn und hob es an, damit er ihm wenigstens ins Gesicht sehen konnte. Er lächelte. „Soll das heißen, dass du gerne möchtest, dass wir beide … miteinander schlafen?“ Irrte er sich oder war Angelo gerade ein bisschen rot geworden? Jetzt schlug er die Augen nieder. „Das ist ein dummer Wunsch, oder? Wir haben so viel Wichtigeres zu tun und trotzdem denke ich an so etwas. Ich weiß auch nicht. Manchmal … manchmal wenn du mich ansiehst, dann möchte ich … ich möchte einfach nur in deinen Armen liegen und mich sicher fühlen so wie beim ersten Mal. Alles vergessen, wenigstens für eine Weile, denn wenn du und ich … dann ist es alles irgendwie leichter. Es fühlt sich gut an und ich mich nicht so … ungenügend.“ Michael beugte sich vor und platzierte einen kleinen Kuss auf seinen Lippen. „Nein, es ist kein dummer Wunsch. Auch wenn du bestimmt nicht ungenügend bist. Woher hast du nur solche Ideen? Aber vielleicht … vielleicht sollten wir noch ein bisschen damit warten. Wir sind beide gerade nicht besonders gut in Form und außerdem werden wir da etwas Equipment brauchen. So einfach wie bei Gabriella und mir ist das mit uns beiden nämlich nicht.“ „Warum nicht?“ Michael lachte leise. „Nun, es gibt da so gewisse, anatomische Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Um die müssen wir uns angemessen kümmern, wenn es Spaß machen soll.“ Er überlegte kurz. „Wenn du möchtest, kann ich dir aber schon mal einen kleinen Vorgeschmack geben. Würde dir das gefallen?“ Angelo sah ihn einen Augenblick lang an, bevor er sich auf die Zehenspitzen stellte und ihn küsste. Michael legte seine Hände auf Angelos Hüften und zog ihn an sich. Die Nähe fühlte sich gut an und als er eine Zunge über seine Lippen streichen fühlte, öffnete er bereitwillig den Mund und begrüßte das leidenschaftliche Spiel, das sich daraus ergab. Langsam rutschten seine Hände tiefer und bevor er wusste, was er tat, hatte er Angelo gegen den nächsten Türrahmen gedrückt. Dessen Reaktion bestand aus einem gedämpften Keuchen, das ansatzlos in den nächsten Kuss überging. Noch während seine Hände über Angelos Seiten strichen, gingen Michaels Gedanken bereits auf Wanderschaft. Das im Raum stehendeAngebot erregte ihn mehr, als er zugeben wollte. Erinnerungen an einen glühendheißen, sich windenden Körper, der sich verführerisch gegen ihn drückte, wurden in ihm wach und ließen ihn den Kuss weiter vertiefen, während er begann, Angelos Hose zu öffnen. Als er über die harte Erhebung darin strich, stöhnte der Junge offen auf. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sofort wanderten Michaels Lippen tiefer und als sich Angelos Hände mit sanftem Druck auf seine Schultern legten, verstand er plötzlich. Er lächelte gegen das Schlüsselbein, auf dem er gerade noch kleine Küsse verteilt hatte. Langsam ließ er seine Lippen den Hals mit der bebenden Schlagader nach oben wandern, bevor er ihm ins Ohr raunte: „Willst du etwas bestimmtes von mir?“ Er spürte, wie Angelo unter ihm erschauerte. Fühlte, wie er schluckte. „Ich … du hast … ich möchte …“ „Was?“, wisperte Michael und biss zart in Angelos Ohrläppchen, während seine Fingerkuppen erneut über die verlockende Härte strichen. „Möchtest du, dass ich dich hier mit meinem Mund berühre? Dass ich dich dort küsse und mit meiner Zunge all die Punkte erkunde, die dir Vergnügen bereiten?“ Ein schwaches Nicken antwortete ihm. Er lächelte leicht. „Gut. Dann lass uns ins Bett gehen.“ Er löste sich von Angelo, dessen hungrige Augen über seinen Körper glitten. Ein Schauer rieselte über Michaels Nacken und seinen Rücken hinunter, bis er sich zu einem anhaltendem Ziehen in seiner Lendengegend sammelte. Eiliger als noch vor einigen Augenblicken zog er den Bettüberwurf zur Seite und entdeckte zu seiner Erleichterung, dass die Laken in einem besseren Zustand waren, als der Rest des Zimmers vermuten ließ. Der Geruch von billiger Wäschestärke stieg ihm in die Nase, als er sich vorbeugte, um auch noch die Bettdecke zurückzuschlagen. Nicht perfekt, aber gut genug, um sich dieses Mal ein wenig mehr Zeit zu lassen. „Komm“, sagte er zu Angelo und als der zu ihm trat, griff er nach seinem T-Shirt und zog es ihm über den Kopf. Der schmale Oberkörper mit den langen Narben hob und senkte sich unter schnellen Atemzügen. Eine leichte Gänsehaut zog sich über seine Brust, als Michael die weißen Linien mit den Fingern nachfuhr. Ob sie wohl von einem Kampf stammten? Eigentlich war das nicht möglich. Diese Narben waren schon sehr alt und Angelo hätte noch ein Kind sein müssen, als er sie sich zugezogen hatte. Vielleicht doch nur ein Unfall. Er schob den Gedanken beiseite. „Die Hose auch“, erklärte er und begann, die restlichen Knöpfe zu öffnen. Angelo ließ es geschehen, während er Michael nur mit großen Augen ansah. In seinem Blick schwelte mühsam zurückgehaltenes Verlangen. Als Michael jedoch Schwierigkeiten hatte, ihn aus dem engen Kleidungsstück zu befreien, kam plötzlich Leben in ihn. Er übernahm die Aufgabe selbst und konnte den störrischen Stoff gar nicht schnell genug von den Beinen zerren. Ohne sich noch weiter damit aufzuhalten, zog er auch noch den Rest seiner Kleidung aus und stand im nächsten Augenblick vollkommen nackt vor Michael. Er hätte bloß und verletzlich wirken sollen, aber da war irgendetwas an ihm, das neu war. Michael konnte nicht wirklich den Finger darauf legen, aber er unterschied sich auf subtile Weise von dem Jungen, den er noch vor wenigen Tagen auf der Straße aufgelesen hatte. Kaum hatte er das gedacht, flackerte auf einmal Unsicherheit in Angelos Blick. „W-was ist los? War das unangemessen? Ich dachte …“ „Nein, alles in Ordnung“, beeilte Michael sich zu versichern. „Ich musste dich nur einen Augenblick ansehen.“ Er trat näher und legte seine Hand an Angelos Hüfte. „Es hat mir gefallen, was ich gesehen habe. Deswegen.“ Ein Lächeln antwortete ihm, bevor sich Angelos Lippen wieder auf seine legten. Auch Michaels Kleidung fand ihren Weg auf den Boden und kurz darauf lagen sie beide auf dem Bett. Der glatte, kühle Stoff unter ihm bildete einen bemerkenswerten Kontrast zu Angelos Körper, der sich warm und fordernd gegen ihn drängte. Michael spürte seine Erregung zwischen ihnen, die glatte Haut, unter der sich feste Muskeln bei jeder Bewegung verschoben. Er hörte das schneller werdende Atmen, als er seine Lippen von Angelos Mund löste und begann, sich langsam einen Weg in tiefere Regionen zu küssen. Er musste sich sehr zusammenreißen, um nicht einfach den Weg abzukürzen, aber er wollte sich Zeit lassen. Wollte, dass Angelo die Aufmerksamkeit bekam, die ihm zustand, auch wenn ihm offensichtlich etwas anderes lieber gewesen wäre, wenn Michael die aufreizende Bewegung richtig verstand, mit der er den Unterleib in seine Richtung hob. „So ungeduldig“, lachte er leise und hielt sich für einen Augenblick lang damit auf, an Angelos rechter Brustwarze zu lecken, bevor er sehr sanft hineinbiss. Ein scharfes Einatmen war das Ergebnis, gefolgt von einem leisen Wimmern und einer Hand, die sich zielstrebig auf Angelos Erektion zu bewegte. Gerade noch rechtzeitig fing Michael sie ab und hielt sie fest. Er hob sie an seinen Mund und begann, die Fingerspitzen zu küssen. „Michael …“ Angelos Stimme bebte. „Was denn?“ Er begann, seine Zunge um die Spitze des Zeigefingers kreisen zu lassen und schob sie schließlich in seinen Mund. Als er begann daran zu saugen, stöhnte Angelo auf. Die Bewegung, die Michael aus den Augenwinkeln wahrnahm verriet ihm, dass die Botschaft offensichtlich an der richtigen Stelle angekommen war. Er nahm sich noch einmal Zeit, Angelos Finger ganz tief in seinen Mund gleiten zu lassen, bevor er ihn wieder herauszog und seine Hand begleitet von einem letzten Kuss zurück auf das Bett drückte. „Und da bleibt sie jetzt“, warnte er den Jungen noch, bevor er sich ein wenig tiefer schob um sich Angelos Bauch zu widmen, den er mit flatternden Küssen bedeckte. Die weiche Bauchdecke zuckte vor seiner Berührung zurück, als er mit der Zunge darüber fuhr. Er wiederholte das Spiel ein paar Mal, bevor er eine Spur nach unten zog. Seine Wange streifte Angelos Erektion und er spürte, wie sie einen feuchten Fleck hinterließ. So weit war er also schon. Dann wurde es vielleicht Zeit, sich so langsam dem Wesentlichen zu widmen. Er griff nach der samtigen Härte und ließ seine Finger ein paar Mal über den Schaft wandern, bevor er fester zupackte und die Vorhaut nach unten zog. Mit der Zunge fuhr er langsam über die empfindliche Spitze, nur um sie im nächsten Moment in seinen Mund aufzunehmen. Angelo gab einen erstickten Laut von sich und wollte sich schon aufbäumen, aber Michael hielt ihn mit der anderen Hand fest, während er den Kopf ein paar Mal auf und ab bewegte. Es schmeckte ein wenig salzig und der Geruch, der von Angelo ausging, war intensiver als beim letzten Mal. Nicht unangenehm, aber unmissverständlich männlich. Michael musste sich zusammennehmen, um nicht automatisch in eine gröbere Gangart zu verfallen. Dieses intensive Vorspiel war auch für ihn neu und für einen winzigen Augenblick bedauerte er, dass er jetzt nicht weiter gehen konnte. Ein Blick auf Angelo genügte jedoch, um ihm zu zeigen, dass sich das hier absolut lohnte. Er fuhr mit seinem Tun fort, bis Angelo sich in die Kissen zurücklehnte und sich zunehmend entspannte. Als er sich sicher sein konnte, dass Angelo sich wirklich wieder gefangen hatte, ließ er die Erektion wieder zwischen seinen Lippen hervorgleiten. Er setzte noch einen Kuss darauf, bevor er von ihm abließ und sich ein wenig aufrichtete. Leichte Enttäuschung huschte über Angelos Züge. „Keine Bange, es geht gleich weiter“, erklärte Michael mit einem Lächeln. Er ließ seine Hand tiefer wandern und begann, Angelos Hoden zu liebkosen. Dabei beobachtete er dessen Reaktion genau. Es schien ihm zu gefallen, auch wenn er anscheinend ein wenig unsicher war, wo das hinführen sollte. Trotzdem ließ er zu, dass Michael seine Beine etwas weiter spreizte und sein linkes Knie anwinkelte. Als Michaels Finger dann jedoch tiefer wanderten, weiteten sich seine Augen ein wenig. Michael stoppte seine Bewegung. „Ist dir das unangenehm? Soll ich aufhören?“ Ein Kopfschütteln antwortete ihm. „Gut. Du sagst mir einfach, wenn es dir nicht mehr gefällt, okay? Wir gehen nur so weit, wie du es möchtest.“ Dieses Mal nickte Angelo. Michael fuhr fort, das Perineum mit sanftem Druck zu massieren, während er seine Lippen und Zunge ab und an über den samtigen Schaft gleiten ließ. Wieder begann sich Angelo nach einer Weile zu entspannen. Michael unterbrach seine Administration kurz, sammelte ein wenig Speichel in seinem Mund und benetzte zwei Finger damit. Als er sie dieses Mal noch weiter nach hinten schob, hörte er Angelo scharf einatmen. Er ging jedoch nicht darauf ein, sondern erhöhte noch einmal die Speichelmenge, bevor er jetzt mit festeren Strichen die Region um den Anus zu massieren begann. Gleichzeitig lehnte er sich ein wenig vor und ließ Angelos Erektion in seinen Mund gleiten. Der harte Schaft zuckte in seinem Mund und er spürte, dass dies nicht das einzige Zucken war, das durch seine Berührungen ausgelöst wurde. Er nutzte die Gelegenheit, um den festen Muskelring mit einem Finger zu durchbrechen und in die sengende Hitze im Inneren vorzudringen. Angelos Hand krallte sich in seinen Rücken, während er ein Keuchen von sich gab. Michael wartete einen Augenblick ab, bevor er begann, den Finger in sanfte, kreisende Bewegungen zu versetzen. Er zog ihn wieder heraus, gab noch ein wenig mehr Speichel darauf und ließ ihn wieder hineingleiten. Obwohl er Angelo dabei nicht sehen konnte, verriet ihm dessen schneller werdender Atem, dass seine Bemühungen anscheinend ihren Zweck erfüllten. Er schob den Finger noch ein wenig tiefer und ertastete die Stelle, die er gesucht hatte. Als er darüber strich, gab Angelo einen kehligen Laut von sich und drängte sich ihm noch ein wenig mehr entgegen. Michael lächelte leicht, während er fortfuhr und schließlich sogar noch einen zweiten Finger hinzunahm, mit dem er in zunehmend schneller werdendem Rhythmus in Angelo eindrang. Als er dann schließlich seine Lippen erneut um den festen Schaft legte und daran auf und ab glitt, während er tief in die glühende Enge stieß, war es schließlich um Angelo geschehen. Michael schaffte es gerade noch, sich von ihm zurückzuziehen, bevor sich sein Orgasmus in langen Schüben auf seinen Bauch entlud. Vorsichtig zog Michael jetzt auch seine Finger aus dem zitternden Körper und ließ sich neben Angelo auf die Matratze gleiten. Im nächsten Moment wurde ihm ein stürmischer Kuss aufgedrückt, der jedoch nicht lange anhielt, da sich Angelo um Atem ringend wieder zurücklehnte und ihn mit aufgewühltem Blick ansah, nur um ihn dann gleich noch einmal zu küssen. Erst dann ließ er sich wieder auf das Bett fallen und schnaufte erschöpft. Michael konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht ganz verkneifen. „Das heißt dann wohl, dass es dir gefallen hat?“ Statt zu antworten, schloss Angelo die Augen und lächelte. Michael beugte sich über ihn und küsste ihn sanft auf die verschwitzte Stirn. „Und das ist erst der Anfang“, raunte er und musste schon wieder lachen, als Angelo daraufhin ein Geräusch von sich gab, das wohl irgendwo zwischen „Oh ja bitte“ und „Das halt ich nicht aus“ lag. Im nächsten Moment rollte sich Angelo zu ihm herum und küsste ihn, während seine Hand zwischen ihre Körper wanderte und sich dort um Michaels Erektion schloss. Als er begann, sie zu bewegen, legte Michael den Arm um ihn und hielt und küsste ihn, bis auch er sich schließlich über Angelos Finger ergoss. Müde und befriedigt ließ er sich in die Kissen zurücksinken und zog Angelo mit sich. Er fühlte den schmalen Körper in seinem Arm, der sich an ihn schmiegte und für einen Augenblick war die Welt tatsächlich wieder in Ordnung. Kapitel 11: Eine heiße Spur --------------------------- Der Anblick, der sich Gabriella bot, als sie die Tür des Motelzimmers aufschloss, ließ sie für einen Augenblick innehalten. Auf einem der Betten lagen Michael und Angelo eng umschlungen und schliefen offensichtlich. Was sie davor getrieben hatten, ließ sich nur unschwer erraten, da sie beide immer noch nackt waren. Gabriella unterdrückte ein Schmunzeln, und beeilte sich, die Tür hinter sich zu schließen. Schließlich wollten sie so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen und der Anblick von zwei, zugegebenermaßen sehr attraktiven, aber eben absolut unbekleideten Männern, war sicher nicht dazu angetan, keine Aufmerksamkeit zu erregen. So leise wie möglich, stellte sie ihre Einkäufe auf den Boden und legte den Autoschlüssel des neuen Mietwagens sicherheitshalber auf den Sessel, um kein unnötiges Geräusch zu verursachen. Anschließend schlüpfte sie aus ihren Schuhen und schlich Richtung Badezimmer. Dort angekommen und atmete sie erst mal auf. Im Grunde genommen war es albern, dass sie so leise war. Es war immerhin bereits früher Abend und wenn die beiden jetzt schliefen, würden sie nachts vermutlich kein Auge zutun. Allerdings gab ihr das die Gelegenheit, zunächst noch ein wenig ihre Gedanken zu ordnen und vor allem aus ihren verschwitzten Sachen herauszukommen. Die Temperaturen in Las Vegas waren bereits deutlich höher als weiter im Norden und alles an ihr klebte ziemlich. Sie sehnte sich nach einer Dusche und der Möglichkeit, die Füße hochzulegen, doch zunächst einmal würde es genügen, einen Teil ihrer Kleidung auszuziehen, denn im Zimmer herrschte trotz der schon recht altersschwachen Klimaanlage, die unter dem Fenster vor sich hin brummte, eine relativ angenehme Temperatur. Sie seufzte, als sie den BH unter ihrem Top hervorzog und zu Hose und Bluse auf den Boden fallen ließ. Das war schon viel besser. Als sie sich zudem noch ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, fühlte sie sich fast schon erfrischt. Jetzt brauchte sie nur noch einen Pappbecher von dem Wein, den sie neben einem Haufen anderer Sachen besorgt hatte, und dann würde sie … Gabriella schrak zusammen, als sich plötzlich die Tür hinter ihr öffnete. Angelo betrat den Raum. „Oh“, sagte er und prallte zurück. „Ich … ich wusste nicht …“ Ihre Augen geisterten nach unten und erhaschten einen kurzen Blick auf die engen Shorts, die er inzwischen wieder trug, bevor sie an den großen Narben hängenblieben, von denen Michael ihr bereits erzählt hatte. Sie bedeckten wirklich den ganzen Oberkörper. Gabriella riss sich von dem Anblick los und beeilte sich, ein Lächeln aufzusetzen. „Kein Problem. Ich … Wolltest du …? Soll ich rausgehen?“ „Ja bitte“, murmelte er und schlug die Augen nieder, während sie an ihm vorbeihuschte und draußen mit klopfendem Herzen stehenblieb. Warum war sie nur so zusammengezuckt? Es war ja nicht so, dass sie etwas Verbotenes getan hatte. Sie atmete noch einmal tief durch und versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen. Aus dem Bad hörte sie leise Geräusche und beschloss, dass sie hier nicht stehenbleiben konnte. Sie trat daher aus der Nische, in der der Eingang zum Badezimmer lag, wieder zurück ins Zimmer. Michael schlief immer noch und nach kurzem Zögern entschloss sie sich, sich zu ihm aufs Bett zu setzen. Dann sah es nicht so aus, als wenn sie gelauscht hätte. Als sie gerade überlegte, ob sie sich vielleicht lieber wieder etwas mehr anziehen sollte, kam Angelo bereits aus dem Bad zurück und lächelte entschuldigend. „Ich … ich bin fertig. Es tut mir leid, dass ich dich so erschreckt habe. Ich habe gar nicht darauf geachtet, dass du wieder da bist.“ „Schon gut, ich lebe ja noch“, scherzte sie und musterte ihn, während er langsam zu ihr herüber kam und sich neben sie setzte. Sein Blick glitt kurz zu Michael und sie sah ihm an, dass er eigentlich vorgehabt hatte, sich wieder zu ihm zu legen. Aber jetzt, da sie wieder da war, fühlte er sich anscheinend verpflichtet, ihr Gesellschaft zu leisten. Schweigend saßen sie nebeneinander, bis Gabriella es nicht mehr aushielt. „Na los“, sagte sie und deutete mit einem Kopfnicken auf Michael. „Du willst doch zu ihm.“ „Ja schon, aber …“ Er hob ein wenig die Schultern. „Ich … ich möchte dich auch nicht verdrängen. Er ist dein Mann.“ Sie lächelte leicht. „Dann legen wir uns doch einfach beide zu ihm. Was hältst du davon?“ Ehrliche Erleichterung machte sich auf Angelos Zügen breit. Er krabbelte wieder auf das Bett und platzierte sich mit dem Rücken zu Michael, während Gabriella sich nun ihrerseits neben ihn legte. Als sie beide eine bequeme Position gefunden hatten, hatte Angelo bereits wieder diesen abwesenden Gesichtsausdruck auf dem Gesicht, mit dem er ins Bad gekommen und und der Gabriella einige Rückschlüsse ziehen ließ. Sie wusste, dass sie das Ganze vermutlich nicht kommentieren sollte, aber irgendein Teufelchen schien ihr heute auf der Schulter zu sitzen und sie zu einem Schabernack anzustiften. „Und?“, fragte sie in beiläufigem Ton. „Was habt ihr beide so gemacht, während ich weg war?“ Prompt schoss Angelo eine leichte Röte ins Gesicht und er wich ihrem Blick aus. „Wir … also … wir haben.“ „Angelo“, sagte sie und lachte. „Das war ein Witz. Ich weiß schon, was ihr gemacht habt. Ich wollte dich nur aufziehen.“ Sie lächelte sanft. „War es schön?“ Er nickte heftig und sah dabei so glücklich aus, dass sie nicht anders konnte, als laut zu lachen. Das Geräusch weckte Michael. Er schlug die Augen auf und seine Mundwinkel hoben sich. „Mhm, das nenne ich doch mal eine gelungene Überraschung. Aufwachen und die zwei liebsten Menschen in meinem Leben sehen.“ Er drehte sich ein wenig herum, griff über Angelo hinweg nach Gabriella und zog sie an sich, sodass sie notgedrungen näher an Angelo rücken musste. Der drängte sich noch ein wenig enger an Michael, um ihr Platz zu machen und am Ende lagen sie so dicht beieinander, dass sich ihre Körper unweigerlich berührten. Michael strich mit dem Mund an Angelos Nacken entlang und sah Gabriella mit funkelnden Augen an. „Also los, sag schon. Worüber habt ihr geredet?“ „Ach, er hat nur ein bisschen aus dem Nähkästchen geplaudert, was ihr so hinter meinem Rücken veranstaltet habt.“ „Was?“ Michael tat entrüstet. Er richtete sich auf und sah Angelo strafend an. „Stimmt das etwa?“ Angelo bekam große Augen. „Nein! Ich hab gar nichts gesagt. Ich hab doch nur …“ Erst, als er das nur mühsam zurückgehaltene Grinsen auf Michaels Gesicht entdeckte, lachte er erleichtert auf. Sein Blick wanderte wieder zu Gabriella. „Ihr veralbert mich“, beschwerte er sich. „Nur ein bisschen“, antwortete sie mit einem Lachen. „Du hast nur so begeistert ausgesehen, dass ich mich einfach ein bisschen mitfreuen musste.“ Sie strich mit dem Finger über Michaels Arm und ließ die Berührung weiter über Angelos wandern, der gleich daneben lag. Ganz kurz betrachtete sie noch einmal die Narben, bevor sie Angelo lieber wieder in die Augen sah. Warmes Mittelmeerblau. Michael hatte derweil begonnen, ihr mit der Hand leicht über den Rücken zu streichen. Es fühlte sich gut an, vertraut, obwohl Angelo zwischen ihnen lag und sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. Ein feines Kribbeln huschte über ihren Rücken, während sie urplötzlich überlegen musste, was die beiden wohl wirklich gemacht hatten. Sie leckte sich über die Lippen und beugte sich noch ein wenig weiter zu Angelo hinüber. „War er denn gut?“, fragte sie und musste kichern, als Michael sie in die Seite kniff. „Natürlich war ich gut. Was denkst du denn?“ „Ich will es aber von ihm hören.“ Angelos Nase wurde schon wieder von einer leichten Röte überzogen. „Ziemlich gut“, murmelte er und erntete dafür dieses Mal Lacher von beiden Seiten. „Und was hat er gemacht?“, fragte Gabriella weiter. Sie wusste, dass es gemein war, aber das Spiel begann ihr Spaß zu machen und wenn sie Michaels Gesichtsausdruck richtig deutete, ging es ihm ebenso. Angelo wand sich wie ein Aal. „Er hat … mich geküsst. Und er hat … oh muss ich das wirklich sagen?“ Sofort bereute Gabriella, dass sie damit angefangen hatte, aber Michael kannte nicht so viel Erbarmen. „Du meinst, dass ich dir meine Finger in deinen süßen, kleinen Hintern geschoben habe und es dir gefallen hat?“, raunte er Angelo ins Ohr und Gabriella konnte fühlen wie der Junge erschauerte. „Und dabei hatte ich deinen Schwanz im Mund und auch davon konntest du gar nicht genug bekommen, stimmt's?“ Angelo nickte und schluckte. Gabriella schnaubte belustigt „Na der Mann, der keinen Oralsex mag, muss mir erst noch unterkommen.“ „Mhm, das stimmt wohl“, gab Michael zurück, während er mit den Lippen über die nackte Haut vor ihm strich. „Wann ist eigentlich mal wieder Steak-und-Blowjob-Tag? Du weißt, das ist der höchste Feiertag im Jahr gleich nach Weihnachten und Thanksgiving.“ „Auf deinem Kalender vielleicht!“ Gabriella grinste. „Aber eventuell möchte Angelo sich ja revanchieren. Oder hat er das schon?“ „Nein.“ Michaels Stimme war rau und dunkel. Gabriella konnte sehen, dass er sich enger gegen Angelo drückte, der das mit einer unbewussten Gegenbewegung erwiderte. Die Stimmung zwischen den beiden war von einem auf den anderen Augenblick aufgeladen wie der Himmel vor einem Gewitter und als sich Angelo erneut bewegte, spürte sie seine Erregung an ihrem Bein. Die Berührung ging auch ihr durch und durch. Sie rutschte noch ein Stück näher an Angelo heran und wisperte in das Ohr, das Michael gerade hingebungsvoll bearbeitete. „Soll ich dir zeigen, wie er es am liebsten mag?“ Michael ließ von Angelo ab und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. „Meinst du nicht, dass er das selbst herausfinden kann?“ Sie lächelte spitzbübisch. „Schon. Aber dir würde es doch bestimmt gefallen, wenn wir es gemeinsam tun würden.“ Als Michael daraufhin einen Augenblick lang der Mund offen stehenblieb, ließ sie sich wieder zurücksinken und fuhr Angelo mit der Hand durch die Haare. „Oder aber, wir beide lassen Angelo entscheiden, wer von uns es besser kann. Würde dir das gefallen? Wenn Michael und ich dich gemeinsam verwöhnen würden? Oder nacheinander? Abwechselnd?“ Angelos Antwort bestand aus einem heiseren Krächzen, das nur einige Minuten vorher Gabriella vielleicht noch zum Lachen gebracht hätte. Jetzt jedoch nahm sie es zum Anlass, um ihn in einen tiefen Kuss zu ziehen. Die Vorstellung, Angelo tatsächlich anzufassen, zu berühren und zu erfahren, wie er wohl schmeckte, wie es war, ihn in ihrem Mund zu spüren, sandte einen Schauer ihr Rückgrat entlang. Sie merkte, wie Michael die Hand zwischen sie und Angelo schob und begann, ihn zwischen den Beinen zu massieren. Angelo stöhnte in den Kuss und drängte sich gegen die Hand und somit auch gegen Gabriella. Erregung schwappte durch ihren Körper und ließ die Stelle zwischen ihren Beinen kribbeln. „Oh fuck“, hörte sie Michael sagen, während er begann, Angelos Unterwäsche nach unten zu schieben. Gabriella überlegte nicht lange, sondern half ihm dabei und als sie dabei Angelos Erektion streifte, ließ sie für einen kurzen Augenblick sanft ihre Finger darüber gleiten. Er riss die Augen auf, als hätte sie ihm einen Stromstoß verpasst. Sturmwolken hetzten über das Meer. Sie sah ihn an und wiederholte die Berührung. Er atmete heftig, hielt ihren Blick jedoch mit seinem fest und im nächsten Moment spürte sie eine Hand, die von ihrem Bauch in Richtung ihrer Brust glitt. Ihr Herz klopfte so stark, dass Angelo einfach fühlen musste, wie ihr Brustkorb unter den Schlägen erzitterte. „Ist das … okay?“, fragte er und legte im nächsten Moment den Kopf in den Nacken wegen etwas, das Michael getan hatte. Gabriella konnte nur vermuten, dass sich dessen Finger schon wieder an höchst prekären Stellen befanden und der Gedanke allein löste eine neue Welle der Erregung in ihr aus. Ihre Theorie wurde bestätigt, als Michael jetzt Angelos Bein anwinkelte und in ihre Richtung schob. Sie strich mit der Hand darüber und hielt es fest, während sie Angelo erneut tief küsste. Der keuchte und sein Gesicht verzog sich kurz, als Michael anscheinend etwas zu stürmisch vorging. In diesem Moment fiel Gabriella etwas ein. „Wartet mal kurz.“ Sie wand sich aus Angelos Armen und ging zu den Tüten hinüber, die sie aus dem Drugstore mitgebracht hatte. Nach kurzen Suchen hatte sie die Packung und die kleine Tube gefunden, die sie bei ihrem Einkauf wohlweislich besorgt hatte. Normalerweise war Michael selbst für das Beschaffen von Gleitmittel und Kondomen zuständig, da er sie ja normalerweise in ihrer Abwesenheit benutzte, aber in diesem speziellen Fall hatte sie mal nicht so sein wollen. Sie schwenkte die Sachen wie die Beute eines erfolgreichen Raubzugs. „Hiermit wird’s bestimmt besser.“ Michael sah sie für einen Augenblick an wie eine Erscheinung, bevor er die Augenbrauen hochzog und fassungslos verkündete: „Ich habe diese Frau einfach nicht verdient.“ Sie grinste und warf ihm die Tube zu. Er fing sie und hauchte ihr einen Kuss in die Luft, bevor er sich an Angelo wandte. „Siehst du, jetzt sind wir ausgerüstet. Wenn du also noch willst?“ Der Blick, den Angelo Michael daraufhin zuwarf, sprach Bände und auch Gabriella verstand plötzlich. Hieß das etwa, die beiden hatten noch gar nicht …? Das erklärte die Spannung, die so schnell zwischen ihnen hochgekocht war. Sie erinnerte sich noch daran, wie es beim ersten Mal zwischen ihr und Michael gewesen war. Sie hatten es kaum bis zu ihrer Wohnungstür geschafft, als sie das berühmte, dritte Date in absoluter Rekordzeit hinter sich gebracht hatten. In dieser Nacht hatten sie dreimal miteinander geschlafen. Ein wenig unschlüssig stand sie mit den Kondomen in der Hand da, aber als Michael sich einfach wieder hinter Angelo legte und ihr einen auffordernden Blick zuwarf, ließ auch Gabriella sich wieder an ihre ursprüngliche Position gleiten. Atemlos beobachtete sie, was Michael mit Angelo anstellte. Wie er ihn leidenschaftlich küsste, während seine Hand wieder ihren Weg zwischen seine Beine fand und ihn dort vorbereitete. Als er den Kuss löste, um noch einmal nach der Creme zu greifen, nutzte Gabriella die Gelegenheit und eroberte Angelos Mund für sich. Sie küsste ihn und ließ ihre Zunge tief zwischen seine Lippen gleiten. Er reagierte auf die gleiche Weise und im nächsten Augenblick spürte sie wieder seine Hände auf ihrem Körper. Er stöhnte in den Kuss. Ob wegen dem, was Michael tat oder wegen ihr, konnte Gabriella nicht sagen, aber es war auch vollkommen egal. Auch ihre Finger gingen auf Wanderschaft und als sie sich über Angelos Bauch bis hin zu der samtigen Härte geschoben hatten, die sich ihr willig entgegenstreckte, legte sie sie einfach darum und begann zu pumpen. Angelo wimmerte auf. Seine Augen öffneten sich und er sah Gabriella direkt an. Sein Blick krallte sich in ihren, während sie nur am Rande mitbekam, wie Michael hinter ihm hantierte. Etwas knisterte und dann ... „Bist du bereit?“, wisperte er Angelo ins Ohr und der Junge nickte nur, während seine großen, blauen Augen Gabriella unentwegt ansahen. Sie hielt inne in dem, was sie tat, und konzentrierte sich ganz auf Angelo. Er atmete angestrengt durch die Nase und als Michael sich näher an ihn drängte, wurden seine Atemzüge plötzlich schneller. Für einen Augenblick glaubte sie, Panik in seinem Blick aufflackern zu sehen. „Sch“, machte sie, küsste ihn und streichelte seine Wange. „Entspann dich. Wir sind bei dir.“ Gabriellas eigenes Herz klopfte ihr bis zum Hals und in dem Moment, als Michael in Angelo eindrang, glaubte sie, es fast selbst fühlen zu können. Ihr Atem stockte für einen Augenblick, während sie das Spiel der Emotionen auf Angelos Gesicht betrachtete. Da war unbezweifelbar Lust, gemischt mit Erstaunen, einem Hauch von Unbehagen und vor allem aber ein Ausdruck, der ihr Herz zusammenpresste und im nächsten Moment explodieren ließ. Die Welt, die sich gerade noch in hastigen Stolperschritten vorwärts bewegt hatte, hielt für einen Moment an, um sich dann ganz langsam und behutsam weiterzudrehen. Gabriella spürte, wie Michael begann, sich sacht hinter Angelo zu bewegen. Sah, wie er ihn streichelte, und hörte, wie er ihm Dinge ins Ohr flüsterte. Beobachtete, wie Angelo den Kopf zurücklegte und den Rücken durchbog. Fühlte, wie er ihr entgegenkam und nach ihrer Hand griff, um seine Finger mit ihren zu verschränken. Spürte seine Lippen auf ihrem Mund, der sie sanft und gleichzeitig verlangend küsste, während sie die Bewegungen ihres Körpers den seinen anpasste. Sie nahm sich einen winzigen Augenblick, um ihr Top abzustreifen und schmiegte sich im nächsten Moment wieder an Angelo, der das mit einem hungrigen Blick zur Kenntnis nahm. Wie von selbst fanden seine Lippen ihre Brust, während sich Gabriellas Blick mit Michaels traf. Er lächelte, bevor er sich wieder Angelo zuwandte und sein Knie ein wenig anhob, um tiefer in ihn stoßen zu können. Angelo quittierte das mit einem Stöhnen und begann, sich an Gabriellas Bein zu reiben, das zwischen seinen Schenkeln lag. Für einen Augenblick stellte sie sich vor, wie es sich anfühlen würde, wenn er jetzt gleichzeitig in ihr wäre und die Vorstellung ließ sie unwillkürlich ihr Becken anheben und sich näher an ihn drängen. Haut streifte Haut und feiner Schweiß perlte von seiner Stirn, während sie die Finger in seinen Haaren vergrub, das Stöhnen von seinen Lippen trank und immer wieder in diese wunderschönen Augen sah, die sie gefangen nahmen und sie teilhaben ließen an dem Rhythmus, den Michael ihm vorgab. Ein vorsichtiger Tanz zu dritt, der, so ungeübt er war, mit so vielen Zwischentönen gefüllt war, dass sie sich wünschte, er würde nie aufhören. Da war so viel mehr, das es noch zu erfahren und zu erkunden gab. So viel mehr … Als Michaels Stöße mit der Zeit schneller wurden und auch Angelos Atemfrequenz anstieg, seine Küsse fahriger wurden, griff Gabriella wieder nach seiner Erektion. Sie streichelte ihn mit zunehmend schnelleren Strichen, die schließlich dazu führten, dass er mit einem langgezogenen Stöhnen in ihrer Hand kam. Michaels Finger bohrten sich in seinen Oberschenkel und nur wenige Augenblicke später folgte er ihm mit einem erstickten Laut. Für einen Augenblick verharrte Michael in seiner Position, bevor er sich zurückzog, kurz das Kondom entsorgte und sich anschließend wieder hinter Angelo legte. Ein starker Arm wand sich um Angelos Oberkörper und eine Hand streifte unwillkürlich Gabriellas Bauch. Sie lächelte und betrachtete die beiden Männer, die geschafft und aneinander geschmiegt vor ihr lagen. Während Michael damit beschäftigt war, kleine Küsse auf Angelos Nacken zu verteilen und ihr nur ab und zu einen Blick aus den Augenwinkeln zuwarf, der sie jedoch vermuten ließ, dass in ihm gerade ein ähnlicher Zustand der Zufriedenheit wie in ihr selbst herrschte, lag auf Angelos Gesicht ein Ausdruck vollkommener Glückseligkeit. Er sah aus wie ein Engel. Ein ziemlich zerzauster Engel, der gerade den ersten und besten Sex seines Lebens gehabt hatte. Gabriellas Lächeln wurde breiter. Sie tauschte noch einen trägen Kuss mit ihm, bevor sie ihren Kopf neben seinem bettete, ebenfalls den Arm um ihn legte und die Augen schloss. Sie hörte seinen leisen Atem, spürte Michael hinter ihm liegen und kam nicht umhin zu denken, dass ihr Leben eigentlich nicht mehr viel verrückter werden konnte. Und dass ein bisschen verrückt vielleicht gar nicht so schlecht war. Ich muss vollkommen verrückt sein, dachte Marcus bei sich und starrte missmutig in die dunkle Gasse, die nur wenige Meter unter der Feuertreppe lag, auf die er sich zurückgezogen hatte. Es war eine Menge Zeit vergangen, bis er den richtigen Platz hatte ausfindig machen können. Das hatte vor allem daran gelegen, dass es in dieser Gegend eigentlich keinen Hinterhof gab, wie der Zeuge ihn beschrieben hatte. Erst, als er nach Anbruch der Dunkelheit wiedergekehrt war, hatte er gesehen, dass jemand eine der kleinen Seitenstraßen mit Hilfe zweier Müllcontainer und einem Stück Drahtzaun so präpariert hatte, dass es wirkte, als endete diese Straße an dieser Stelle. Er hatte sich die Konstruktion angesehen und bemerkt, dass man sie relativ leicht beiseite schieben und so problemlos jemanden auf die andere Seite lotsen konnte. Das leerstehende Wohngebäude, in dem dieser Wagner aufgewacht war, war dann nur noch einen Katzensprung entfernt. Es war eine perfekte Falle. Eine Falle, von der er inzwischen zu wissen glaubte, wer sie gebaut hatte. Es war nicht einfach gewesen, die entscheidenden Hinweise zu finden. Auf seinen Geruchssinn hatte er sich dieses Mal nicht verlassen können. Die Spuren waren nicht frisch genug gewesen und der in der Gasse liegende Unrat und andere, noch weniger appetitliche Aromen hatten alles andere überdeckt. Erst, als er die Dose mit dem Eisenpulver, das mit verschiedenen Kräuteressenzen versetzt war, aus seinem Rucksack gekramt hatte und es auf dem Boden verstreut hatte, hatte er an der Stelle, wo die Container zusammengeschoben waren, einen leuchtenden Abdruck auf dem Boden entdecken können. Einen Abdruck, der eindeutig von einem Huf stammte. „Na gut“, hatte er geknurrt und in den Tiefen des Rucksacks nach der geweihten Kreide gesucht. „Du bist nicht der einzige, der hier Fallen bauen kann. Dann wollen wir doch mal sehen, ob das funktioniert.“ Er hatte an der Stelle, wo er den Abdruck gefunden hatte, einen Kreis auf den Boden gezeichnet, in dem ein fünfzackiger Stern prangte. Zwischen die Spitzen des Sterns hatte er jeweils ein Symbol gezeichnet. Es gab eine ganze Reihe dieser Sigillen, die, wenn er die richtigen auswählte, dazu dienen konnte, quasi jede Art von Dämon festzuhalten. Oder auch einen Engel, wenn man es denn darauf anlegte. Zum Schluss hatte er den Müllcontainer wieder an seinen Platz geschoben und seit dem hockte er hier und lauerte darauf, dass der Dämon, den er hinter all dem vermutete, mit seinem nächsten Opfer auftauchte. Inzwischen waren jedoch bereits über zwei Stunden vergangen und er wurde es langsam leid, nur auf den leuchtenden Eingang der Gasse zu starren, an dem die Leute auf ihrem Weg in die bunte, laute, blinkende Neonwelt der Bars und Spielcasinos vorbeigingen, während er hier im Dunkeln saß und sich nichts außer eingeschlafenen Füßen holte. Vielleicht kommt er gar nicht, dachte Marcus und verlagerte sein Gewicht. So langsam begann ihm sein Hintern wehzutun von den harten Metallstreben, auf denen er saß. Immerhin hat er gestern bereits ein Opfer ausgesaugt. Andererseits … warum sollte er die Straße präparieren, wenn er nicht auf Beutezug war?Ich muss einfach noch ein bisschen durchhalten. Nach einer weiteren Stunde war Marcus fast so weit, die Observation abzubrechen. Es war bereits nach Mitternacht und immer noch hatte sich in der Gasse unter ihm nichts geregt. Nur noch ein bisschen, schalt er sich selbst. Er war schließlich hergekommen, um mit dieser Brut aufzuräumen und ein einzelner Dämon schien ihm ein lohnendes Ziel zu sein. Er konnte nur hoffen, dass er wirklich allein war. Wenn es doch noch jemanden gab, der diese Kreatur befehligte oder der Dämon plötzlich diese eigenartige Resistenz gegen die gängigen Methoden aufwies … Er mochte nicht darüber nachdenken. Plötzlich kam ihm seine Vorbereitung unzulänglich vor. Er hätte … Seine Gedanken wurden unterbrochen, als plötzlich zwei Gestalten am Ende der Straße auftauchten. Eine davon war ohne Zweifel eine Frau. „Komm schon, Süßer“, gurrte sie und zog den Mann in ihrem Schlepptau tiefer ins Dunkel. „Ich zeig dir was Schönes.“ „Aber …“ wagte der Auserkorene schwach zu protestieren. „Das ist … illegal. Ich möchte nicht …“ „Oh, Schnucki, illegal ist es nur, wenn du etwas dafür bezahlst. Also lass dein Geld stecken und hol lieber was anderes raus, mit dem wir mehr Spaß haben können.“ Ein erstickter Laut wurde gefolgt von einem glucksenden Lachen. „Oh, du bist aber groß. Hast du für das Ding einen Waffenschein? Der gehört ja verboten.“ Die beiden waren jetzt genau unter Marcus angekommen und er hielt den Atem an, als er die Frau im Licht der trüben Straßenlaterne, die sich auf der anderen Seite der Gasse befand, besser sehen konnte. Sie war blond, trug ein rotes Top, einen kurzen, schwarzen Rock und ebensolche Stiefel, die ihr bis über das Knie reichten. Eines dieser Knie schob sie jetzt ihrem Opfer zwischen die Beine. Marcus konnte von dem Mann nicht viel erkennen, nur dass die Haare auf seinem Kopf sich bereits zu lichten begannen. Der Mann stöhnte. „Bitte, ich weiß nicht …“ „Ach Quatsch, du willst es doch auch“, sagte die Frau und lehnte sich vor. Sie drückte ihre roten Lippen auf den Mund des Mannes und erstickte jegliche Gegenwehr im Keim. Marcus sah, wie alle Anspannung aus seinem Körper wich und als sie ihn wieder losließ, blieb er gegen die Wand gelehnt stehen. Die Frau atmete auf und murmelte: „Na das hätten wir geschafft.“ Sie trat von ihrem Opfer zurück und ging schnurstracks auf die Müllcontainer zu. Mit einer Leichtigkeit, die ihre zierliche Gestalt Lügen strafte, schob sie einen von ihnen zur Seite. Marcus fluchte innerlich. Es war der falsche. Der andere verdeckte immer noch seine Falle. Das lief so gar nicht nach Plan. Jetzt musste er entweder handeln oder zulassen, dass der Dämon mit seinem Opfer von dannen zog. Mit zusammengebissenen Zähnen sah er zu, wie die Frau wieder zurückkam. Mit wiegenden Schritten ging sie auf den Mann zu, von dem Marcus annahm, dass er inzwischen vollkommen weggetreten war. Ein weiterer Beweis dafür, dass es sich bei der Frau um die Art Dämon handeln musste, die er von Anfang an vermutet hatte. Das hier würde mit Sicherheit nicht einfach werden. So leise wie möglich griff er in seinen Rucksack und suchte dort nach einem länglichen Gegenstand. Als er ihn gefunden hatte, zog er ihn heraus und griff nach einem weiteren Ding, das ganz zuoberst in dem olivgrünen Canvasbeutel steckte. „Na komm, mein Großer, Abflug“, verkündete die Frau dem Kerl, der immer noch an der Wand lehnte. Willenlos ließ er sich von ihr mitziehen wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wurde. Als sie fast auf Höhe der Müllcontainer war, ließ Marcus seine Deckung fallen und stand auf. „Hey!“, rief er und versuchte dabei, sich möglichst groß zu machen. „Lass ihn sofort los!“ Die Frau drehte sich herum. Ihre Augen suchten die Umgebung ab und entdeckten Marcus schließlich auf seinem erhöhten Platz. „Na sieh mal einer an. Wir haben Zuschauer. Bist wohl ’n kleiner Voyeur, was?“ Sie ließ den Mann stehen und kam wieder ein Stück zurück. Marcus sah, dass sie unter dem Rock noch Strapse trug, die sich gut sichtbar auf ihren Oberschenkeln abzeichneten. Ein Stück weit entfernt blieb sie stehen und stemmte die Hand in die Hüfte. Herausfordernd sah sie zu ihm hoch. „Willst du da hocken bleiben oder kommst du runter, damit wir uns ein bisschen vergnügen können? Du kannst mitmachen oder nur zugucken, ganz wie du möchtest?“ Als ob, dachte Marcus und fasste den Dolch in seiner Hand fester. Seine andere Hand schloss sich um eine kleine Kugel, die unter seinen Fingern knisterte. „Ich will, dass du ihn gehen lässt.“ Sein Gegenüber zog eine spöttische Grimasse. „So, willst du das? Und wer hat behauptet, dass du hier das Sagen hast?“ „Das hier!“ Er holte aus und warf die Kugel dem Dämon direkt vor die Füße. Durch den Aufprall zerplatzte sie und setzte ein weißes Pulver frei. Der Dämon kreischte auf und versuchte zu flüchten, aber Marcus’ Wurf war zu präzise gewesen. Als die Kreatur den Salzkreis verlassen wollte, prallte sie wie von unsichtbaren Wänden aufgehalten zurück. „Was zum … Verfluchte Scheiße, was soll das?“ Die Stimme des Dämons hatte jeden Liebreiz verloren. „Das ist Salz“, frohlockte Marcus und ließ die Leiter herunter, die ihn wieder auf ebene Erde brachte. Er sah zu, wie sich die Frau schüttelte und kratzte. Schließlich fuhr sie zu ihm herum. Ihre Augen blitzten gefährlich auf. „Du mieser Arsch, was soll das? Das brennt, verfluchter Mist. Seh ich etwa so aus, als müsste man mich nachwürzen?“ Sie hörte auf sich zu kratzen und funkelte ihn mit vorgerecktem Kinn an. „Das wird dir noch leidtun, du mieser Wichser. Wenn ich deinen kleinen, dünnen Hals erwische, dann ...“ „Ah“, Marcus hob einen Finger und brachte sie so zum Schweigen. „Zunächst einmal dürfte das schwierig werden, solange du in dem Salzkreis stehst.“ Er konnte den Triumph bei dieser Eröffnung nicht ganz aus seinem Ton verbannen. Seine Mundwinkel zuckten. Er hätte es natürlich nie zugegeben, aber er war ehrlich überrascht, dass das geklappt hatte. Eigentlich hatte er die Salzbomben mitgenommen, um sich selbst zu schützen. Dass er den Dämon damit tatsächlich einsperren konnte, hatte er nur vermutet. „Und zum zweiten solltest du nicht so viel fluchen. Dafür kann man in die Hölle kommen, weißt du das?“ Der Dämon schien weit weniger beeindruckt von seinem Erfolg als Marcus selbst. „Ach ehrlich“, sagte sie und rollte mit den Augen. „Na du bist mir ja ein ganz Schlauer. Wenn du diese Show hier veranstaltest, nehme ich doch mal an, dass du weißt, mit wem du es zu tun hast.“ Sie grinste plötzlich breit. „Oder hast du nur geraten?“ „Nein“, entgegnete er weit weniger fest, als er gewollt hatte. „Ich weiß dass du ein Sukkubus bist.“ „Mhm“, machte die Frau anerkennend. „Gar nicht mal schlecht.“ Sie sah sich um und seufzte. „Nun denn, du hast mich also gefangen. Und weiter?“ Marcus blinzelte verblüfft. „Wie 'und weiter'? Was meinst du damit?“ Sie musterte ihn einen Augenblick lang. „Na irgendwas wirst du doch wollen, wenn du mich schon hier einsperrst.“ Ein Grinsen erschien auf ihren roten Lippen. „Hast du etwa spezielle Wünsche, die dir deine Freundin nicht erfüllen will?“ „Ich hab gar keine Fr…“ Oh Mist. Sie gurrte anzüglich. „Ach, keine Freundin? Armer Kerl. Bist nachts immer ganz allein. Nur du und deine fünf kleinen Freunde beim Heimspiel? Das muss ja furchtbar sein. Na komm. Crystal weiß, was dir da helfen kann.“ Marcus sah, wie sie ihre Hand nach ihm ausstreckte, während die andere langsam durch das Tal zwischen ihren Brüsten wanderte. Er riss sich von dem Anblick los, als sie begann, eine von ihnen durch den Stoff des Tops zu massieren. „Dein Name ist also Crystal.“ „Mhm, ganz recht. Und du? Wie heißt du, Süßer?“ „Verrate ich dir nicht.“ Crystal hörte auf, ihre Brust zu betatschten und stieß ein genervtes Schnauben aus. „Man, du hast aber auch so gar keine Ahnung, oder? So läuft das nicht. Schon mal von 'eine Hand wichst die andere' gehört? Wenn du was von mir willst, musst du mir schon ein bisschen was anbieten. Also?“ Sie schob eine Augenbraue nach oben. Marcus zog es vor, nicht auf ihre Forderung einzugehen. Immerhin saß er am längeren Hebel. Es war allerdings schwierig, sich mit diesem absolut menschlich aussehenden Ding zu unterhalten und sich dabei daran zu erinnern, was für eine verdorbene Kreatur sich unter der attraktiven Verkleidung verbarg. Aber vielleicht ließ sich das ändern. „Zunächst einmal will ich, dass du mir deine wahre Gestalt zeigst. Wenn du es nicht tust, werde ich dich dazu zwingen.“ Sie gab einen verblüfften Laut von sich. „Oha, kinky. Na wenn du meinst.“ Noch während er hinsah, begann die Gestalt vor ihm sich zu verändern. Sie wurde ein wenig kleiner, die blonden Haare verschwanden und wichen einem kurzen, schwarzen Schopf mit einer überlangen, violetten Strähne, die ihr ins Gesicht hing. Dieses wirkte jetzt jünger, hatte eine Himmelfahrtsnase und Sommersprossen. Die Ohren waren spitzer geworden und an der Seite des Kopfes standen zwei kurze, schwarze Hörner ab. Auch der Leib hatte eine Transformation durchgemacht. Die Brüste, die sich gerade noch groß und üppig gegen den roten Stoff gedrängt hatten, waren jetzt klein und apfelförmig und aus dem kurzen Rock ragte hinten ein langer, dünner Schwanz heraus, der in einer pfeilförmigen Spitze endete. Am abschreckendsten waren jedoch die Beine, die jetzt etwa ab der Hälfte des Oberschenkels geschuppt und behaart waren und in großen, gespaltenen Hufen endeten. Crystal setzte die Hand auf die Hüfte und sah ihn aus schwefelgelben Augen an, in deren Mitte eine schlitzförmige Pupille saß. „So besser?“ Marcus nickte knapp. „Gut, dann wirst du mir jetzt meine Fragen beantworten.“ „Ach“, sagte sie und legte den Kopf schief. „Und wenn nicht?“ „Was meinst du mit 'wenn nicht'?“ „Himmel und Hölle, plapperst du mir eigentlich alles nach?“ Crystal schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ich meine, wie du vorgehen willst? Willst du mich verprügeln? Auspeitschen? Mit glühendem Eisen quälen? Dich ausziehen und mir mit deinem Ding vor der Nase rumwedeln, bis ich dir vor lauter Geilheit alles verrate, oder was?“ Sie grinste. „Mir persönlich, würde das letzte am besten gefallen. Ich glaube zwar nicht, dass es funktioniert, aber du könntest es ja mal versuchen. So Tantalos-Style, wenn du verstehst, was ich meine.“ Marcus merkte, wie ihm das Gespräch zunehmend aus den Händen glitt. Dazu kam noch, dass der Mann, der im Hintergrund an der Wand lehnte, nicht ewig weggetreten bleiben würde. Außerdem konnte jeden Augenblick jemand in die Gasse kommen und ihn zusammen mit einem leibhaftigen Dämon erwischen. Der sich absolut weigerte zu kooperieren. Er musste sich beeilen. „Wenn du meine Fragen nicht beantwortest, töte ich dich.“ Er hob die Hand mit dem Eisendolch. Als sie ihn erblickte, wurde Crystal ein kleines bisschen ernster. Er sah, wie ihre Schwanzspitze zuckte. „Und was würde dir das nützen?“, fragte sie. „Dann hast du einen toten Dämon aber immer noch keine Antworten. „Ich kann einen neuen fangen“, behauptete Marcus. Sie musterte ihn nachdenklich. „Mhm, könntest du vermutlich. So lange, bis sie dich irgendwann zuerst erwischen.“ „Wer sind sie?“ „Womit wir wieder bei den Fragen wären. Man könnte glauben, dass du ein Bulle bist.“ „Und wenn es so wäre?“ Ihre Augen wurden schmal. „Du bist echt ein Cop? Aber keine von den Weißschwingen, oder? „Weißschwingen? Du meinst Engel?“ „Der Kandidat hat 100 Punkte. Also? Bist du einer?“ Marcus überlegte. Der Cadejo hatte ihn ohne Probleme als das erkannt, was er war. Anscheinend war das nicht allen Dämonen gegeben. Vielleicht konnte er das nutzen. „Wenn ich einer wäre, wärst du wohl nicht mehr am Leben.“ „Auch wieder wahr.“ Einen Moment lang musterten sie sich über den Salzkreis hinweg. Marcus hatte gelesen, dass Succubi ihre Opfer in der Regel nicht töteten. Sie hatten Sex mit ihnen und stillten so ihren Hunger, aber sie waren nicht gefährlich, wenn man nicht gerade an einer tödlichen Herzkrankheit litt. Trotzdem wunderte ihn das Vorgehen des Dämons. „Erinnerst du dich an den Mann von letzter Nacht? So ein schlanker, blonder?“ „Mhm, kann sein?“ „Er wollte nicht mit dir gehen. Trotzdem hast du ihn verschleppt. Und den da hinten hast du anscheinend auch gegen seinen Willen hierher gebracht. Warum? Es müssen doch jede Menge Männer durch Vegas laufen, die sich dir freiwillig hingeben würden. Und ist das nicht gerade das Spiel, dass ihr Succubi so liebt? Die Verführung? Die Herausforderung? Warum also er?“ Crystal antwortete nicht sofort. Sie schien ihre Worte abzuwägen. Marcus beobachtete sie und kam zu dem Schluss, das, was immer sie ihm antworten würde, garantiert nicht die Wahrheit sein würde. „Er gefiel mir eben“, sagte sie leichthin und betrachtete ihre Schwanzspitze. „Ich mag so junge Kerle. Das Auge isst ja schließlich mit, weißt du?“ Sie zwinkerte ihm zu. „Zwingt dich jemand hierzu?“ Er hatte die Frage aus heiterem Himmel heraus gestellt. Die Tatsache, dass sie sofort verneinte, verriet ihm einiges. „Es gibt also jemanden, der dich dazu angestiftet hat, den geraubten Samen zu ihm zu bringen. Wer ist es? Ein Hexenzirkel, der dich beschworen und dazu gebracht hat, ihnen Material für ihre Zauber zu besorgen?“ Marcus hatte gelesen, dass einige afrikanische Stämme, Sperma als Ausgangsmaterial für allerlei Zaubertränke benutzten, die von Geldsorgen bis Eheprobleme so ziemlich alles heilen konnten. Crystal sah ihn verblüfft an, bevor sie anfing, schallend zu lachen. Sie kriegte sich gar nicht wieder ein und wischte sich schließlich die Tränen mit den krallenbewehrten Fingern ab. „Herrlich“, kicherte sie. „Der war gut. Ein Hexenzirkel! Aber wenn du das glauben willst, nur zu. Du solltest allerdings zusehen, dass dich die Oberhexe nicht erwischt. Die macht sonst nämlich Hackfleisch aus deinem dürren Arsch.“ „Dann sag mir, wer dich geschickt hat. Ich hatte doch recht damit, dass du das hier nicht freiwillig machst?“ Der Dämon legte den Kopf schief und schob die Unterlippe vor. „Und ich hab dir gesagt, dass es hier nichts umsonst gibt. Wenn du mich was fragen willst, musst du mir dafür schon ein bisschen was anbieten.“ Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, das ihre spitzen Eckzähne entblößte. „Weißt du, wenn ich dich so ansehe, fiele mir da schon etwas ein. Du lässt mich hier raus und wir beide machen es uns ein bisschen nett. Für jedes Mal, wenn du kommst, beantworte ich dir eine Frage. Wie viel du erfährst, hängt von deiner Kondition ab.“ Sie lehnte sich vor und Marcus konnte den Ansatz ihrer Brüste in dem jetzt lose um ihren Körper baumelnden Top sehen. Sie trug keine Unterwäsche. „Na, kleiner Cop, wie sieht’s aus? Bist du bereit für eine wilde Liebesnacht?“ Marcus war nicht wohl bei der Sache. Wenn er den Sukkubus aus dem Kreis entließ, konnte der wer weiß was anstellen. Andererseits war ein Opfer, das er nicht betäuben musste, für ihn eine weitaus lohnendere Beute und wenn Marcus dadurch an Informationen kam, die zur Vernichtung sehr viel schlimmerer Dämonen führte … „Also schön“, sagte er und trat auf den Salzkreis zu. „Aber wir nehmen uns ein Zimmer.“ Crystal gab ein Geräusch von sich, das ihn an ein Schnurren erinnerte. „Alles, was du willst, Süßer. Solange du bezahlst.“ Marcus seufzte innerlich. War ja klar, dass es nicht nur beim Samenraub bleiben würde. Mit dem Fuß begann er, die Außenlinie des Salzkreises zu verwischen. Kapitel 12: Von Monstern und Menschen ------------------------------------- Marcus sah sich misstrauisch auf dem Parkplatz um. Natürlich war um diese Stunde niemand zu sehen. Ihm war trotzdem nicht wohl dabei, sich hier mitten in der Nacht mit Crystal aufs Zimmer zu schleichen. Ungeduldig wandte er sich an den Sukkubus. „Hast du's jetzt endlich?“ „Man, die Scheißtür klemmt, okay?“, fauchte sie zurück. „Wenn du’s besser kannst, mach du’s doch.“ „Den Schlüssel zu kriegen, ging auf jeden Fall schneller“, murmelte er und machte sich jetzt selbst daran, die störrische Tür zu öffnen. Crystal lehnte sich neben ihm gegen die Wand. „Tja, gekonnt ist eben gekonnt“, grinste sie und leckte sich über die Lippen. „Hat gar nicht mal schlecht geschmeckt. Wir hätten ihn mitnehmen sollen. Als Unterstützung.“ „Ich brauche keine Unterstützung“, knurrte Marcus, als er endlich die dumme Tür aufbekam. Schon gar nicht von irgendeinem schmierigen Motel-Nachtwächter, der ihnen mit einem süffisanten Grinsen verkündete, dass bei ihnen nichts frei war. „So?“, fragte Crystal gedehnt. „Du glaubst also, dass du es allein hinbekommst mich zu befriedigen? Es mir so richtig zu besorgen? Kannst du das, kleiner Cop?“ Sie strich ihm mit dem Finger über die Brust. Einem Finger, der momentan wieder komplett menschlich war. Marcus hatte nicht riskieren wollen, dass jemand auf sie aufmerksam wurde. Womöglich hätte der Sukkubus denjenigen dann doch getötet. Oder noch schlimmer: ebenfalls verführt und mitgeschleppt. „Nenn mich nicht immer so“, grollte er und sah sich im Zimmer um. Viel her machte es nicht, aber das Bett schien in Ordnung. „Du willst mir deinen Namen ja nicht sagen, Süßer, und irgendwas muss ich doch schreien, wenn du gleich mein Innerstes zum Beben bringst.“ „Du schreist am besten gar nicht, sonst kommen die uns noch auf die Schliche.“ Crystal gab ein genervtes Schnauben von sich. Etwas, das sie absolut perfekt beherrschte, wie Marcus inzwischen festgestellt hatte. „Ich hab dir doch gesagt, dass die Leute, die das Zimmer hier gebucht haben, erst morgen anreisen. Also haben wir die restliche Nacht sturmfreie Bude. Wir müssen uns nur verkrümeln, bevor die hier antanzen. Das Gesicht von der Trulla aus der Putzkolonne würde ich trotzdem gerne sehen, wenn sie ihrem Boss erklären muss, warum hier schon wieder Chaos herrscht.“ Sie kicherte in sich hinein. „Kleines Biest“, knurrte Marcus und fing sich dafür einen glühenden Blick. „Oh ja, Schnucki. Los! Gib mir Tiernamen! Ich mag’s, wenn’s ein bisschen dreckig wird.“ Marcus schloss für einen Moment die Augen. „Hör zu“, sagte er langsam. „Ich will das hier einfach hinter mich bringen, okay? Du kriegst, was du willst, und ich, was ich will.“ Als Crystal nicht antwortete, öffnete er die Augen wieder und sah, dass sie ihn vom Bett aus musterte. In ihrem Blick stand etwas, dass ihn zu sehr an Mitleid erinnerte. „Du hast nicht viel zu lachen in deinem Leben, oder?“ „Die Fragen stelle ich.“ Sie pustete sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. „Okay, Mister Super-Cop. Ich hab verstanden. Rein geschäftlich also. Na dann. Irgendwelche No-Gos, bevor wir loslegen?“ „Keine Küsse“, antwortete Marcus wie aus der Pistole geschossen. Er hatte jetzt zur Genüge mitangesehen, welche Wirkung der Kuss eines Sukkubus hatte. Sie grinste ein bisschen. „Du weißt schon, dass ich das steuern kann, oder? Nicht jeder Kuss von mir schickt dich gleich ins Lala-Land.“ „Trotzdem“, beharrte er. Sie seufzte. „Okay, was noch?“ „Ich will, dass wir vorher festlegen, welche Frage ich für meinen jeweiligen … Höhepunkt beantwortet bekomme. Es gilt erst, wenn ich ganz klar sage, dass das die Frage ist.“ Wieder verzogen sich ihre roten Lippen zu einem Grinsen. „Ich hab gleich gewusst, dass du nicht doof bist. Gefällt mir. Man sagt zwar immer 'Dumm fickt gut', aber intelligente Männer sind die größere Herausforderung. Einem brünstigen Stier ihren Hintern hinhalten kann schließlich jede Kuh. Sonst noch was?“ „Ich will, dass du dich wieder in deine Dämonenform verwandelst.“ Ihre Augenbrauen rasten in Richtung Haaransatz. „Im Ernst jetzt? Also mir soll’s ja egal sein, aber du weißt schon, dass ich auch anders aussehen kann, oder? Wenn dir blond nicht gefällt …“ Im nächsten Moment veränderte sie sich und eine rassige Latina saß auf dem Bett. „Oder wenn du eher auf Rothaarige stehst.“ Eine Flut roter Locken ringelte sich um blasse Schultern und tiefgrüne Augen versuchten, seine Seele auszuloten. Crystals volle Lippen teilten sich und sie strich langsam über den Ansatz ihrer milchfarbenen Brüste „Gefalle ich dir so nicht besser?“ Marcus hob an etwas zu sagen, bekam aber keinen Ton heraus, als sich die Schönheit vom Bett erhob und ihm tief in die Augen sah, während sie gemessenen Schrittes auf ihn zukam. Erst, als ihre Lippen schon fast seinen Mund berührten, kam wieder Leben in ihn. Entschieden presste er seine Hand gegen ihr Gesicht und drückte es von sich weg. „Ich hab gesagt, keine Küsse.“ Sie grinste. „Okay, hast mich erwischt. Na meinetwegen. Einmal Crystal pur.“ Im nächsten Moment stand wieder die Dämonin vor ihm. „Besser so?“, fragte sie und Marcus nickte. Dann jedoch spürte er plötzlich eine Bewegung zwischen seinen Beinen. Als er nach unten blickte, sah er, wie sich ihr Schwanz um seinen Oberschenkel wickelte. „Ich glaube, ich habe da noch eine Bedingung …“ begann er, aber Crystal hörte ihm schon nicht mehr zu. Sie hatte bereits seine Hose geöffnet und fuhr mit der Hand hinein. Marcus keuchte erschrocken auf, als sich ihre Finger zielsicher um sein Glied legten und es prüfend massierten. „Mhm, da muss ich wohl erst noch ein bisschen Arbeit reinstecken“, murrte sie und entfernte ihre Hand wieder aus seinem Schritt. „Na los, zieh dich aus. Du willst es ja geschäftlich.“ Sie drehte sich um und ging zum Bett zurück. Auf dem Weg zog sie sich ihr Top über den Kopf und öffnete den Reißverschluss ihres Rocks, der gleich darauf zu Boden glitt. Als sie sich wieder umdrehte, war sie nackt. Marcus’ Blick wanderte unwillkürlich zwischen ihre Beine. Er atmete auf, als dort keinerlei Absonderlichkeiten auszumachen waren, nur ein sorgfältig gestutztes Haarbüschel in der gleichen Farbe wie das Fell auf ihren Beinen. „Kommst du oder willst du erst noch gucken?“ Eilig machte Marcus sich daran, seine Kleidung ebenfalls zu entfernen. Crystal verfolgte aufmerksam alle seine Bewegungen. Als er sich aufrichtete, ließ sie ihren Blick einmal über seinen Körper streichen. “Mhm, nicht übel. Damit kann ich arbeiten“, stellte sie fest und zwinkerte ihm zu. „Und jetzt?“, fragte er und kam sich dämlich vor. Es war schon eine ganze Weile her, dass er mit einer Frau das Bett geteilt hatte und das war natürlich … anders gewesen. Damals war es zwar auch nicht die große Liebe, aber er hatte das Mädchen wenigstens gemocht. Sie waren ausgegangen, hatten im Kino rumgeknutscht und dann war es irgendwann dazu gekommen. Jetzt jedoch steuerte er vollkommen ohne jegliches Drumherum nur auf den reinen Akt zu und das war mehr als eigenartig. So würde er nie … Er revidierte seine Meinung, als Crystal auf einmal vor ihm auf die Knie ging und weiche Lippen sich um sein Geschlechtsteil legten. „Laff miff nua maffen“, nuschelte sie undeutlich. „Wia ffiegen ffeinen ffeinen Ffeund ffon in Ffimmung.“ „Oh Gott, kannst du aufhören, dabei zu reden?“, keuchte Marcus und wollte am liebsten ihren Kopf zurückreißen und aus dem Zimmer zu flüchten. Einzig die Angst, was ihre Zähne dabei wohl anrichten würden, ließ ihn lediglich die Fäuste ballen. Gelbe Augen sahen zu ihm auf und glitzerten spöttisch, aber sie hielt endlich die Klappe und begann, ihren Mund sinnvoller zu benutzen. Er spürte, wie ihre Bemühungen anfingen, Wirkung zu zeigen. Wenn er die Augen schloss und sich vorstellte, dass sie vielleicht jemand anderes war … Er riss die Augen wieder auf. Nein! Er wollte das hier im vollen Bewusstsein um den Vorgang durchstehen und sich nicht irgendwelche Illusionen hingeben. Trotzdem war es bestimmt hilfreich, wenn er sich etwas entspannte, ihre Zungenschläge genoss und das Gefühl, mit dem sich ihre Lippen um den Schaft legten und daran auf und ab glitten. Das leichte Saugen und das Gefühl ihrer Finger, die dabei seine Hoden sanft kneteten. Als er jedoch spürte, wie etwas über seinen Hintern strich, blitzte er sie wütend an. „Dein Schwanz bleibt da, wo ich ihn sehen kann:“ Sie ließ seine inzwischen schon recht ansehnliche Erektion aus ihrem Mund gleiten und grinste. „Einige Kerle stehen drauf.“ „Ich nicht.“ „Hast du es denn schon ausprobiert?“ „Nein!“ „Woher willst du dann wissen, dass es dir nicht gefällt. Männer haben da so einen Punkt, wenn man den ein bisschen kitzelt …“ „Nein!“ Sie seufzte. „Okay, okay, ich hab’s kapiert. Keine Prostatamassage für dich. Schade. Du weißt ja nicht, was dir entgeht.“ Sie stand auf und bevor Marcus wusste, wie ihm geschah, fand er sich plötzlich auf dem Rücken liegend auf dem Bett wieder. Sie hatte nicht mal den bunten Überwurf vorher zur Seite gezogen. Mit gierigem Blick stieg sie über ihn und in diesem Moment konnte Marcus ganz klar das Raubtier in ihr erkennen. Ein Raubtier, das Hunger hatte. Er erschauerte, als ihre Beine an seinen entlangstreiften. Das Fell rieb rau über seine Haut und ihr Geruch hüllte ihn ein wie eine Wolke. Es war eine merkwürdige Mischung aus faulen Eiern und einem süßlichen Aroma, der ihn an diese gelben Blüten erinnerte, deren Name ihm gerade nicht einfiel. Irgendwas mit F... Als sie nach seiner Erektion griff und sich gerade darauf herabsenken wollte, hielt er sie auf. „Was ist mit Kondomen? Du hast doch welche dabei, oder?“ Er deutete mit dem Kopf auf die kleine Tasche, die neben ihren Kleidern auf dem Boden lag. Crystal rollte mit den Augen. „Im Ernst jetzt? Du bist drauf und dran, mit einem Sukkubus zu vögeln und hast Angst vor einem Tripper?“ Marcus wand sich unter ihr. „Ich hatte eher an eine … Schwangerschaft gedacht.“ Sie sah ihn einen Augenblick an, bevor sie begann zu lachen. „Oh, Süßer, da überschätzt du dich aber. Der menschliche Samen ist bei weitem nicht stark genug, um das Vakuum an göttlicher Zeugungskraft zu überwinden, dass in diesem Körper herrscht.“ Sie machte erneut Anstalten, seinen Schwanz in sich einzuführen. „Mit wäre mir trotzdem lieber.“ Crystal sah ihn an und schob die Unterlippe vor. „Also gleich hast du es geschafft und ich hab auch keinen Bock mehr. Wenn ich ein Kerl wäre, wäre ich schon längst weg. So was Zickiges wie du ist mir echt noch nicht untergekommen.“ Für einen Augenblick wünschte sich Marcus fast, dass sie es jetzt beenden würde. Es fühlte sich immer noch nicht richtig an, es mit ihr zu tun. Allerdings war sie seine erste, reelle Chance, etwas über die Vorgänge hier in Vegas herauszufinden. Er durfte das nicht vermasseln. Sie grinste ihn an und beugte sich nach vorn. Ihre kleinen, festen Brüste streiften seine Haut. „Wenn du da unten Probleme hast, kann ich dir gerne behilflich sein. Bei Crystal hat noch jeder einen hochbekommen. Wir Sukkubi haben da so unsere Möglichkeiten.“ „Ich weiß“, gab er frostig zurück. Immerhin war er das Ergebnis dieser Fähigkeit, in einem Individuum Lust zu erzeugen, egal ob es das jetzt wollte oder nicht. „Ich schaff’s bestimmt ohne.“ „Dann können wir jetzt endlich ficken?“ „Musst du so vulgär sein?“ „Musst du dich so anstellen?“ Für einen Augenblick musterten sie sich wieder einmal stumm. Es war schließlich Crystal, die aufgab. Sie rollte mit den gelben Augen, bevor sie sich aufsetzte und lautstark seufzte. „Also schön, ich sag dir jetzt mal was. Menschen und Dämonen bekommen keine Babys, wenn man es nicht mit jeder Menge Hoodoo-Voodoo drauf anlegt. Ende der Durchsage. Wie kommst du überhaupt auf so einen Blödsinn? Mir ist noch nie ein Kerl begegnet, der beim Sex an so was denkt.“ Marcus versuchte, möglichst unbeteiligt zu wirken. „Ach nur so. Hab letztens was über Nephilim gelesen, deswegen.“ Crystal lachte auf. „Das ist ja auch was anderes. Bei den Weißschwingen mit ihrer göttlichen Potenz ist vermutlich jeder Schuss ein Treffer. Da müsste sogar ich aufpassen, dass mir kein Braten in die Röhre geschoben wird. Wobei ich annehme, dass mich so einer ohnehin mit was ganz anderem aufspießen würde. Niedere Triebe sind diesen gefühlskalten Arschlöchern ja fremd. Warum sich also Gedanken darüber machen?“ Sie sah auf ihn herab. „Können wir das Plauderstündchen nun endlich beenden und zum Sex kommen?“ „Nur mit Kondom.“ Jetzt verdrehte sie die Augen. „Sag mal, hörst du mir eigentlich zu? Ich hab doch gesagt, dass wir das nicht brauchen. Außerdem will ich ja schließlich auch was davon haben. Ständig solche Nullnummern zu schieben, ist echt frustrierend. Oder soll ich den Saft später aus der Gummipelle schlürfen, nur weil der werte Herr sich so ziert?“ „Wie meinst du das?“ Crystal knurrte ihn an und es klang nicht mehr besonders nett. „Nochmal für dumme, kleine Cops zum Mitschreiben. In deinen verdammten Eiern steckt die Kraft, die neues Leben erschafft. Keine unglaublichen Mengen davon, aber es reicht, um mich satt zu kriegen. Da ich den Kram momentan aber ständig abliefern muss, schieb ich ne Menge Kohldampf, Schnucki, und das heißt, dass wenn ich mir denn zwischendurch mal einen Typen aussuche, um den zu stillen, mache ich's nicht mit. Hast du das jetzt endlich geschnallt?“ Sie stieg von ihm runter, ließ sich auf allen Vieren auf dem Bett nieder und reckte ihr Hinterteil in die Höhe. „Du hast zehn Sekunden“, schnarrte sie. „Entweder du bist dann drin oder ich bin weg. Eins …“ „Hey, warte doch mal!“ „Zwei.“ „Ich …“ „Drei.“ „Scheiße!“ Marcus kam hoch und betrachtete den Sukkubus, der jetzt keinerlei Anstalten mehr machte, sich ihm zu nähern. Er streckte ihm lediglich sein Hinterteil entgegen, an dem der spitze Schwanz hin und her zuckte. Die Beine mit den Hufen lagen auf dem Bett und dazwischen … Er rückte ein Stück näher und biss sich auf die Lippen. „Sechs.“ Langsam fuhr er mit der Hand über ihre Pobacke und ließ seine Hand dann weiter nach innen gleiten. Als er die Spalte berührte, die sie ihm so einladend präsentierte, fuhr er zunächst vorsichtig mit einem Finger darüber hinweg und ließ ihn schließlich hineingleiten. Crystal hörte auf zu zählen. „Das ist jetzt nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.“ Marcus schluckte. „Gib mir noch einen Augenblick. Ich … es geht gleich.“ Er hörte sie glucksen. „Na gut, du hast noch ein bisschen, um dich auf Touren zu bringen. Künstler soll man ja bekanntlich nicht hetzen.“ Marcus verbiss sich eine Antwort und konzentrierte sich stattdessen auf das Gefühl um seinen Finger. Es war warm, eng und ein wenig glitschig. Eigentlich nicht viel anders als das, was er kannte. Ganz langsam schob er den Finger tiefer, ließ ihn wieder herausgleiten und nahm dann noch einen zweiten dazu. Crystal gurrte begeistert. „Oh ja, das ist gut. Komm, Honey, mach’s mir. Ich bin schon feucht. Steck ihn endlich rein.“ Es war primitiv und verabscheuungswürdig, aber er merkte, wie sein Körper auf ihre Worte und das schlüpfrige Nass um seine Finger reagierte. Wie sich das Blut in seinen Lenden sammelte und er langsam aber sicher einen Steifen bekam. Während er einen Sukkubus fingerte. Verdammt. Marcus atmete noch einmal tief durch und positionierte sich hinter ihr. Er sah auf seine Erektion herab, die immer noch kein Kondom trug. Er würde es wohl riskieren müssen. Immerhin war er nicht viel stärker als ein Mensch. Sie … sie würde nicht … Er schüttelte den Kopf. Nicht drüber nachdenken. Einfach machen. Mit diesem Gedanken schob er sich nach vorn. Crystal gab einen kleinen Schrei von sich und ihr Schwanz rollte sich um Marcus’ Taille. Im nächsten Moment begann sie, sich zu bewegen. Immer wieder zog sie sich ganz langsam von ihm zurück, um sich dann wieder mit einem schnellen Ruck auf ihn zurückzuschieben. Er sah zu, wie er so wieder und wieder in ihr versank. Der Anblick löste etwas in ihm aus, dass er nur als Trieb beschreiben konnte. Er beobachtete das Schauspiel noch ein paar Mal, bevor er schließlich nach ihrer Hüfte griff und begann, den Rhythmus, mit dem er in sie stieß, selbst zu bestimmen. Irgendwann schloss er die Augen und ergab sich nur noch dem Gefühl. Dem Reiben und Gleiten, dem stetig weiter ansteigenden Kribbeln und Brennen in seinem Unterleib, bis seine Stöße schneller und schneller wurden und er es schließlich nicht mehr aufhalten konnte. Oder wollte. Er hörte sie ihre Lust hinausschreien, fühlte ihre Muskeln um sich herum zucken, spürte das Keuchen seines eigenen Atems in seiner Brust und ihr festes Fleisch unter seinen Händen. Unbarmherzig griff er zu und hielt sie fest, während er sie fickte, wie sie es gewollt hatte. Gab ihr, was sie verlangt hatte, bis er schließlich das Ende nahen fühlte. Mit einigen letzten, schnellen Stößen ergoss er sich in ihrem Inneren. Sie schrie noch einmal auf und er sah, wie ihr Körper unter einem unheimlichen, dunklen Licht erglühte. Mit einem Keuchen zog er sich von ihr zurück. Auf ihrer Haut konnte er noch die Abdrücke sehen, die seine Finger hinterlassen hatten. Sah einen Teil der milchigen Flüssigkeit wieder aus ihr heraustropfen und war nicht überrascht, als sie ihn mit einer krallenbewehrten Hand auffing, sich auf den Rücken rollte und ihre beschmutzten Finger hingebungsvoll ableckte. Erst, als sie alles in sich aufgenommen hatte, schenkte sie ihm einen trägen Blick aus gelben Augen. „Mhm, gar nicht schlecht“, schnurrte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Du schmeckst sogar gut. Könnte ich mich dran gewöhnen.“ Marcus drehte den Kopf weg. Der bittere Nachgeschmack des Akts hatte nicht lange auf sich warten lassen. Crystal hingegen schien jetzt wieder beste Laune zu haben. „Och, komm schon, kleiner Cop. Das war wirklich ’ne nette Nummer, die du da abgeliefert hast.“ „Halt einfach die Klappe.“ Er spürte, wie sie sich auf dem Bett bewegte und näher kam. Als sie nach ihm griff, schüttelte er ihre Hand ab. „Na gut, verstehe. Bist nicht so der Kuscheltyp, mhm?“ „Du bist ein Dämon.“ „Und du kein Mensch.“ Marcus’ Kopf ruckte herum. „Woher weißt du das?“ Sie ließ sich auf eine Seite sinken, stützte den Kopf auf die Hand und betrachtete ihn mit einem süffisanten Blick. „Hab's gespürt, als du abgespritzt hast. So viel Power steckt normalerweise nicht in einem einzigen Schub. Das war ja wie ein vollständiges Drei-Gänge-Menu inklusive Tee und Keksen. So was schafft kein normaler Mensch. Also, was bist du?“ Er sah zur Seite. „Kannst du dir das nicht denken?“ „Mhm, für ’nen ganzen Engel war’s wohl zu wenig. Also ein halber?“ Er knurrte als Antwort. „Ich dachte, ihr wärt ausgestorben.“ Marcus lachte bitter auf. „Überraschung!“ Sie gluckste amüsiert. „Du bist mir ja vielleicht ein Vogel. Na mir soll's egal sein. Ich hab gekriegt, was ich wollte. Sogar mehr als das. Willst du mir jetzt deine Frage stellen?“ „Nur eine?“ „Bisher hast du dir nicht mehr verdient.“ Der Sukkubus grinste. „Aber wenn du es noch einmal versuchen möchtest.“ „Gleich“, gab er zurück und versuchte, sich bei dem Gedanken daran nicht zu sehr zu schütteln. Ein- oder zweimal würde er schon noch hinkriegen. „Weißt du, wo ich einen Cadejo namens Alejandro finden kann?“ „Warum willst du das wissen?“ „Geht dich nichts an.“ Als Crystal nicht antwortete, sah er zu ihr herüber. In ihrem Blick lag etwas, das ihm nicht gefiel. Sie atmete tief durch. „Ist das wirklich die Frage, die ich dir beantworten soll?“ „Ja, ist sie.“ Sie betrachtete ihn noch einen Augenblick, bevor sie antwortete. „Er treibt sich manchmal in einer Bar rum. Das 'Dirty Dogs',falls dir das was sagt. Ist ’ne ziemlich miese Kaschemme. Solltest du nicht allein hingehen.“ Marcus nickte knapp. „Gut, dann mal auf zur nächsten Runde. Dreh dich um.“ Crystal machte keinerlei Anstalten sich zu erheben. „Sag mir zuerst, was deine nächste Frage ist.“ „Warum?“ „Nur so. Aus Neugier.“ Er musterte sie mit einem stoischen Gesichtsausdruck. „Ich will wissen, für wen du arbeitest.“ „Das hatte ich mir gedacht.“ Der Sukkubus stemmte sich plötzlich hoch und im nächsten Augenblick fand sich Marcus in die Matratze gedrückt wieder. Sie schien mit einem Mal Tonnen zu wiegen und ihr Blick fixierte ihn zusätzlich auf den zerwühlten Laken. „Ich weiß, dass wir ’ne Abmachung hatten, aber glaube mir, wenn ich dir sage, dass die Sache ’ne Nummer zu groß für dich ist. Das hier ist nur zu deinem Besten.“ Sie lehnte sich vor und dann spürte er plötzlich ihre Lippen auf seinem Mund. „Was …“, wollte er noch protestieren, aber da begannen sich bereits graue Schleier in seinem Kopf auszubreiten. Sie hüllten alle sinnvollen Gedanken ein und er fühlte eine merkwürdige Gleichgültigkeit in sich aufsteigen, bevor sein Bewusstsein endgültig im Nebel versank. Crystal betrachtete den Mann auf dem Bett, dessen Augen jetzt durch sie hindurchzusehen schienen. „Arschloch“, knurrte sie und versetzte ihm einen Stoß. „Hättest du nicht was anderes fragen können? Wie man eine Frau garantiert zum Höhepunkt bringt zum Beispiel. Hättest ein Buch drüber schreiben und reich werden können, aber nein, du willst ja lieber wissen, wo du die stinkende Töle findest. So was Dämliches aber auch. Ich hoffe, du machst ihm wenigstens ein schönes, großes Loch in seinen hässlichen Hundeschädel.“ Sie seufzte und begann, ihre Sachen zusammenzusuchen. Als sie fertig angezogen war, nahm sie wieder ihre menschliche Tarnung an und sah noch einmal zum Bett zurück. In ihrem Blut kreiste die Energie, die sie von ihm bekommen hatte. Es fühlte sich wahnsinnig gut an. So gut wie schon lange nicht mehr. Sie zog die Nase hoch und räusperte sich. „Also dann. Mach’s gut, kleiner Cop. Und lass dich nicht killen. Wäre schade drum. Vielleicht hab ich ja mal wieder Lust auf dich.“ Sie schulterte ihre Handtasche und öffnete die Tür nach draußen. Ein Blick nach oben verriet ihr, dass die Nacht sich noch eine Weile halten würde. Genug Zeit, um noch ein oder zwei Männer um ihr weißes Gold zu erleichtern. Plötzlich fühlte sie neugierige Augen auf sich ruhen. Sie sah sich um und entdeckte zwei Typen, die nicht weit von ihr unter dem Vordach standen. Die Art und Weise, wie sie sie ansahen, verriet Crystal, dass sie sie gerade in einem intimen Moment gestört hatte. Vermutlich hatten sie ein bisschen rumgeknutscht. Jetzt jedoch stand der kleinere von ihnen ein Stück weiter hinten gegen die Wand gedrängt, während der andere sich quasi zwischen ihn und Crystal geschoben hatte. Der große war ein ziemlicher Schrank, wenn auch nicht hässlich, während der andere geradezu engelsgleich aussah. Blond, blaue Augen und ein Gesicht zum Niederknien. Crystal grinste breit. „Lasst euch nicht stören, Jungs, ich bin gleich weg. Es sei denn, ihr seid an nem Dreier interessiert.“ „Danke, kein Bedarf“, grollte der Große und Crystal lachte nur. „Du teilst dein Schnuckelchen wohl nicht gern. Na würd’ ich auch nicht, wenn ich so einen erwischt hätte.“ Sie winkte mit einer Hand, während sie die Veranda entlang stöckelte. Hinter sich konnte sie die beiden flüstern hören. Tja, ihr verpasst was, Leute, dachte sie, während sie in ihre Handtasche griff, um den Lippenstift aufzufrischen. Noch während sie die rote Farbe auftrug, spürte sie plötzlich dieses verräterische Gefühl, das mit einer Beschwörung einherging. Es zog vom unteren Rücken bis in die Schwanzspitze und ließ sie genervt aufstöhnen. Die Umrisse der Umgebung begannen zu verschwimmen, nur um im nächsten Moment durch den Anblick einer düsteren, steinernen Halle ersetzt zu werden, die durch Rundbögen gestützt und nur teilweise von Fackeln erhellt wurde. Kaum dass Crystal sich materialisiert hatte, zeterte sie auch schon los. „Verdammte Scheiße, Ernie, ich war mitten in der Öffentlichkeit. Ruf gefälligst an, bevor du so ne Aktion durchziehst.“ Der gehörnte, grauhäutige Dämon mit dem breiten Maul und einem Gesicht, als hätte man dreimal reingetreten, versuchte ein Achselzucken, was ihm aufgrund des fehlenden Halses nicht recht gelang. „War nicht meine Idee. Beschwer dich beim Chef.“ Gleichgültig wandte er sich wieder dem Buch zu, das auf einem kleinen Tisch lag, an dem er saß. Oder vielleicht saß auch der Tisch am Dämon. Der massige Leib des froschartigen Wesens ließ diesen Eindruck zumindest entstehen. „Das werd ich auch tun, wenn du mich endlich hier rauslässt“, fauchte Crystal und deutete auf den Beschwörungskreis unter ihren Füßen beziehungsweise Hufen, denn bei dem Prozess war ihre wahre Gestalt wieder zum Vorschein gekommen. Irgendeine paranoide Sicherheitsvorkehrung, die sie schon einige Male ein Paar Schuhe gekostet hatte. Seit dem lief sie nur noch „barfuß“. „Oder schick mich am besten gleich wieder zurück. Ich hab eh nichts abzuliefern.“ „Gibt es hier ein Problem?“ Crystal erstarrte kurz, als sie die Stimme hinter sich hörte. Um sie herum befanden sich noch weitere Beschwörungskreise, die mit Farbe auf den nackten Steinboden gepinselt worden waren. Verschiedene Schriftzeichen kennzeichneten die jeweiligen Arten von Dämonen, die darin beschworen werden konnten. Normalerweise war hier einiges los, wenn sie ankam, aber heute war die riesige Halle verwaist abgesehen von Ernie und jemandem, den sie momentan absolut nicht zu sehen wünschte. Mit einem falschen Lächeln auf den Lippen drehte sie sich herum. „Alejandro, wie nett. Was führt dich hierher? Ich dachte, du reibst dir lieber oben in Herrchens Arbeitszimmer ein bisschen den Hintern am Teppich. Oder hat er sich inzwischen tatsächlich dazu herabgelassen, dir einen Mitleidsfick zu gönnen, und du kannst deswegen nicht mehr sitzen?“ Ein Knurren klang aus der Dunkelheit zu ihr. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ „Nicht?“ Crystal zog spöttisch eine Augenbraue nach oben. „Dabei kann jeder, der nicht total blind ist, sehen, dass du ihm hinterher hechelst wie eine läufige Hündin. Es wundert mich, dass Tick, Trick und Track das noch nicht spitzgekriegt haben. Wo sind die drei eigentlich? Ihr hockt doch sonst ständig aufeinander wie die Meerschweinchen.“ „Halt endlich dein Schandmaul, du dämliche Schlampe.“ „Och, nun wird er aber gemein.“ Sie schnaubte belustigt. „Geht die Aktion hier etwa auf dein Konto? Ist dir eigentlich klar, dass ihr mich von der offenen Straße weggerufen habt? Wenn das einer gesehen hat, sind wir bald geliefert. Dann kannst du dir die ganzen Schutzmaßnahmen auch sparen und gleich im Triumphzug in den Vatikan einreiten. Ich wette, du schaffst zwei oder drei Meter, bevor sie dich niederstrecken wie einen räudigen Hund.“ Langsam schälte sich der Umriss des schmächtigen Mexikaners aus der Finsternis, die zwischen den Säulen waberte. Anschleichen hatte dieser Kerl wirklich drauf, das musste sie neidlos zugeben. Außerdem hatte er gute Ohren und eine verdammt feine Nase. Aber zu irgendwas mussten die Schoßhündchen ja schließlich auch gut sein. „Hör auf, dich um Sachen zu kümmern, die dich nichts angehen“, blaffte Alejandro. „Ich will nur deine Lieferung.“ Crystal betrachtete höchst interessiert ihre Krallen. „Tja, ich fürchte, da hast du wohl Pech gehabt. Ich hatte bis vor kurzem einen Bullen an den Hacken. Den musste ich erst mal loswerden und bevor ich noch jemand klarmachen konnte, musstest du mich ja herzitieren. Gut gemacht, Waldi. Wirklich, ganz großartig.“ Alejandros Augen glommen auf. „Heißt das, du hast nichts dabei? Nicht eine Portion?“ Sie zuckte gelangweilt die Achseln. „Nö, heute leider keine Abhebung bei der Samenbank möglich. Wirst dich wohl bis morgen gedulden müssen.“ Alejandro öffnete gerade den Mund um sie anzukeifen, als plötzlich noch jemand neben ihm aus den Schatten trat. „Ich möchte mir diesen Sukkubus mal ansehen.“ Der Neuankömmling an der Seite des Cadejo war in einen maßgeschneiderten Anzug gekleidet. Sein dunkles Haar war makellos frisiert, sein Teint leicht gebräunt und als er lächelte, blitzten seine Zähne weiß und ebenmäßig. Er war ein Bild von einem Mann und jede Frau hätte vermutlich weiche Knie und feuchte Höschen bekommen, wenn sein glutgetränkter Blick auf ihr geruht hätte. Crystal hingegen erkannte ihn sofort als das, was er war. „Ein Inkubus? Seit wann, zur Hölle, haben wir einen Inkubus hier?“ „Seit gestern“, lächelte der Mann. „Wenn ich mich vorstellen darf? Mein Name ist Victor.“ „Crystal“, knurrte Crystal. Ihr Blick huschte kurz zu Alejandro und sie war im ersten Augenblick erstaunt, auf seinem Gesicht ebenso viel Widerwillen zu sehen, wie vermutlich auch ihr eigenes zeigte. Beim zweiten darüber Nachdenken, ging ihr jedoch schnell ein Licht auf. Dieser Inkubus war vermutlich das neue Lieblingsloch des Chefs und hatte somit den Platz erobert, den der Cadejo selbst gerne gehabt hätte. Sie grinste in sich hinein. Das Grinsen verging ihr jedoch schnell, als der Inkubus näher kam und sie ausgiebig musterte. Crystal verzog spöttisch den Mund. „Bin ich ’ne Ziege, dass du mich so anstarrst, als würdest du mich melken wollen? Möchtest du vielleicht auch noch meine Zähne sehen? Oder meine Titten? Oder vielleicht meine …“ Er unterbrach sie mit einem Lächeln. „Nein danke, kein Bedarf, meine Teure. Was ich sehe, genügt mir bereits. Das Strahlen deiner Augen, deine rosigen Wangen, wie sehr dein Haar und dein Fell glänzen. Wirklich außergewöhnlich. Du bist in einem weitaus besseren Zustand als die anderen Sukkubi, die ich bisher zu Gesicht bekommen habe. Verrätst du mir dein Geheimnis?“ „Viel Obst und Gemüse?“ Er lachte. Es war ein warmer, volltönender Laut, der wirklich angenehm klang. Er lächelte immer noch, während er näherkam und ihr seine Hand reichte, die es ihr endlich ermöglichte, aus dem gottverdammten Beschwörungskreis zu treten. Kaum hatte sie die leuchtenden Linien passiert, war er schon um sie herum, betrachtete sie immer noch ausgiebig von allen Seiten und geizte nicht mit Komplimenten. Sogar über ihren Schwanz hatte er etwas Nettes zu sagen. Es dauerte nicht lange, da hatte sie die Schnauze gehörig voll von seiner Süßholzraspelei. „Hör endlich auf, mich vollzulabern und sag mir, was du von mir willst. Ficken wirst du mich ja wohl nicht wollen.“ Er kräuselte amüsiert die Lippen. „Nein, das war nicht meine Absicht. Obwohl … vielleicht so was ähnliches. Ich glaube, wir haben eine neue Kandidatin für die Maschine gefunden, meinst du nicht, mein lieber Alejandro?“ Das schadenfrohe Grinsen, das daraufhin auf dem Gesicht des Cadejo erschien, gefiel Crystal gar nicht. Sie sah von einem zum anderen. „Welche Maschine?“ „Das erklären wir dir, wenn wir da sind. Weißt du, nicht jede von euch ist dazu geeignet. Man muss schon ziemlich stark sein, um die Prozedur zu überstehen. Aber bei dir habe ich da keine Bedenken. Du bist so frisch und gesund, da wirst du sicher eine Weile durchhalten.“ Victor nickte Alejandro zu, der daraufhin einen Gegenstand aus seiner Tasche nahm. Crystal erkannte die Hundepfeife sofort. „Okay, Stopp, das war jetzt lustig genug. Kein Grund, die Köter auf mich zu hetzen.“ Alejandro, der das Metallstück schon an den Lippen hatte, sah sie mit einem lauernden Ausdruck im Gesicht an. „Dann kommst du freiwillig mit?“ Crystal schnaufte. „Na, wird mir ja wohl nichts anderes übrig bleiben.“ Sie schulterte ihre Tasche und folgte dem immer noch lächelnden Inkubus in einen Teil des Kellers, den sie noch nie gesehen hatte. Hinter sich konnte sie Alejandro lachen hören. Nachdem die Schritte der blonden Bordsteinschwalbe verklungen waren und sich auch sonst nichts mehr auf dem Motel-Parkplatz regte, schloss Michael wieder die Arme um Angelo und vergrub seine Nase in dessen Haaren. Gemeinsam lehnten sie an einer der Säulen, die das Betondach über den Eingängen der Motelzimmer trug. Während er das Gefühl des warmen Körpers an seinem genoss und Angelos Geruch einatmete, kehrten seine Gedanken unweigerlich wieder zu den Geschehnissen des frühen Abends zurück. Die Erinnerung daran ließ erneut einen kleinen Schauer seinen Rücken herab rieseln. Der Anblick, wie Angelo und Gabriella sich geküsst hatten, wie er sie mit Händen und Mund erkundet hatte … Michael hatte sich in dem Moment wirklich zurückhalten müssen, um nicht sofort zu kommen. Die beiden waren so heiß zusammen und wenn er sich vorstellte, was sich da alles für Möglichkeiten ergaben, bewegte sich schon wieder mehr von seinem Blut Richtung Süden, als gut war. Schnell löste er sich ein wenig von Angelo und räusperte sich. „Sollen wir wieder reingehen und versuchen, noch ein wenig zu schlafen?“ Angelo schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Ich bin zu …“ Michael verstand. Sie hatten zu viel geschlafen, zu viel erlebt, zu viel vor sich. Als er gemerkt hatte, dass Angelo sich auch nur im Bett herumgewälzt hatte, war er aufgestanden und hatte ihn mit nach draußen genommen. Da sie den Tag vermutlich auf dem Zimmer verbringen würden, war dies ihre letzte Möglichkeit, noch ein wenig frische Luft zu schnappen. Er lächelte und strich Angelo eine seiner blonden Locken aus dem Gesicht. Irgendwie hatte er schon den ganzen Abend das Bedürfnis ihn anzufassen, ihn immer wieder leicht zu berühren und wenn es nur war, um einen Tomatensoßenfleck aus seinem Mundwinkel zu wischen, den die Pizza, die Gabriella ihnen zum Abendbrot besorgt hatte, dort hinterlassen hatte. Es war wirklich verrückt und Michael war sich bewusst, dass er sich wie ein verliebter Kater benahm, der immer wieder seinen Kopf am Objekt seiner Begierde reiben musste. Abstellen konnte er es trotzdem nicht. Wie gerne würde er diese Lippen jetzt wieder küssen und … Ein Stöhnen zerbrach die nächtliche Stille und ließ sie beide auseinanderfahren. Michael sah sich suchend um und entdeckte eine Tür, die einen Spalt breit offen stand. Es war das Zimmer, aus dem vor kurzem noch die Nutte gekommen war. Wieder war ein Stöhnen zu hören. Angelo sah ihn mit großen Augen an. Michael zuckte nur mit den Schultern. „Hat vielleicht ein bisschen viel getrunken. Oder was anderes. Du hast die beiden doch vorhin gehört.“ Angelo schien nicht überzeugt. Er legte den Kopf schief und sah unverwandt in Richtung Tür, von wo jetzt weitere Geräusche zu hören waren. Etwas polterte. „Vielleicht braucht er unsere Hilfe“, meinte Angelo leise. „Ach Quatsch, der ist bestimmt besoffen. Lass den Kerl einfach seinen Rausch ausschlafen. Das geht uns nichts an.“ Aber Angelo hörte nicht. Er machte sich von Michael los und ging ein Stück auf den Lärm zu. „Angelo!“, zischte Michael. Sie durften keine Aufmerksamkeit erregen und sich mit einem Betrunkenen anzulegen, der gerade dabei war, sein Motelzimmer zu verwüsten, gehörte sicherlich nicht in die Kategorie 'ruhig und unauffällig'. Michael fluchte und folgte Angelo, der jetzt bereits die Tür erreicht hatte. „Was machst du denn da? Bleib hier!“ Zu spät. Die Tür öffnete sich und das spärliche Licht der Notbeleuchtung fiel auf eine Gestalt, die am Boden hockte und sich den Kopf hielt. „Ich bring sie um“, grollte der am Boden Sitzende, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er nicht mehr allein war. Er schreckte hoch und seine Augen weiteten sich. „Du?“, fragte er und starrte Angelo fassungslos an. Jetzt trat auch Michael in die Tür und sein Schatten fiel auf den Mann, der zwischen heruntergezerrten Laken und einem Haufen verstreuter Klamotten am Boden saß. Michael atmete scharf ein. „Das glaube ich jetzt ja nicht.“ Dort auf dem Boden saß der junge Cop, wegen dem sie nach Vegas gekommen waren. Er war splitterfasernackt und zog, als ihm das bewusst wurde, hastig das Laken an sich, das sich um seine Beine gewickelt und ihn so offenbar zu Fall gebracht hatte. Michael musste unwillkürlich grinsen. „Harter Ritt?“, fragte er und bekam dafür einen hasserfüllten Blick zugesandt. „Was wollt ihr hier?“ „Dieselbe Frage könnten wir wohl auch stellen“, gab Michael zurück. „Wobei das ja in deinem Fall ziemlich offensichtlich ist.“ Er deutete auf das unordentliche Bett. „Das ist …“ Der Mann brach ab und sah von Michael zu Angelo, der das Ganze bisher stumm verfolgt hatte. „Was glotzt du so, du dämlicher …“ „Hey, Vorsicht!“, grollte Michael. „Der Kleine gehört zu mir.“ „Offensichtlich“, schnaubte ihr Gegenüber und funkelte sie immer noch wütend an. „Könntet ihr vielleicht mal …“ Er wedelte mit der Hand Richtung Tür. „Ich will mich anziehen.“ „Hier gibt es eh nichts, was wir nicht schon besser gesehen hätten“, konnte Michael sich nicht verkneifen zu erwidern. Irgendwas an dem Kerl reizte ihn bis aufs Blut und wenn es nur die offene Feindseligkeit Angelo gegenüber war. Außerdem war der Typ offensichtlich nicht im Dienst. Da hatte er sich gefälligst nicht aufzuführen, als gehöre ihm die Welt inklusive der Luft, die sie atmeten. Michael griff trotzdem nach Angelos Arm. „Komm, wir warten draußen auf Euer Hochwohlgeboren.“ Es dauerte einige Minuten, bis der junge Cop in der Tür erschien. Er warf ihnen einen weiteren feindseligen Blick zu. „Ich glaube, ich sollte telefonieren“, sagte er und Michael sah, dass er bereits ein Handy in der Hand hatte. Mit zwei Schritten war er bei ihm und hielt seinen Arm fest. „Und ich glaube, dass du das sein lassen solltest. Wir müssen uns unterhalten. Über ihn.“ Er nickte mit dem Kopf zu Angelo hinüber. Der kam jetzt ein Stück näher und sah den Cop aus großen, blauen Augen an. Ein vorsichtiges Lächeln glitt über sein Gesicht. „Wir … wir hatten gehofft, dass du uns hilfst.“ „Helfen?“, echote der Mann. „Ich? Ausgerechnet ich soll euch helfen? Warum?“ „Weil du der Einzige bist, den wir fragen können.“ Angelos Worte waren leise und sanft ausgesprochen und komischerweise erzielten sie die Wirkung, die Michaels gesamtes Auftreten nicht hatte erreichen können. Der Mann, dessen Handgelenk er immer noch festhielt, entspannte sich etwas. Er schien zu überlegen. „Was wollt ihr wissen?“, brummte er schließlich. Angelo zögerte kurz, bevor er sagte: „Ich möchte wissen, woher das hier kommt.“ Im nächsten Augenblick hörte Michael den Cop und Angelo gleichzeitig aufkeuchen. Kapitel 13: Die Stunde der Wahrheit ----------------------------------- Instinktiv hob Marcus die Hand, um sich gegen die auf ihn einströmende Helligkeit abzuschirmen. Er schloss für einen Moment die Augen, bevor er sie vorsichtig blinzelnd wieder öffnete und zu dem Engel blickte, der jetzt in einer strahlenden Lichtkorona vor ihm stand. Und ihn aus riesigen Augen anglotzte. Sein Mund stand offen und er sah aus, als hätte er einen Geist gesehen. „D-du … du bist ein …“ „Ja und?“, fauchte Marcus, bevor er es aussprechen konnte. „Soll ich ’ne etwa Anzeige in der Zeitung aufgeben oder es mir am besten gleich auf die Stirn tätowieren lassen?“ In seinem Zorn war er unbeabsichtigt einen Schritt auf den Engel zugegangen und jetzt traf ihn dessen Geruch wie ein Faustschlag. In seinem Kopf drehte sich immer noch alles von Crystals Betäubungszauber und die Tatsache, dass er bereits mehr Stunden wach war, als selbst für einen nur halbmenschlichen Körper gut war, forderte so langsam seinen Tribut. Er fühlte Übelkeit in sich aufwallen. Die pure Präsenz der rohen, göttlichen Kraft, die der Engel ausstrahlte, war einfach zu viel. „Wenn du nicht willst, dass ich dir vor die Füße kotze, machst du das endlich aus.“ „Angelo, was ist los? Wovon spricht er?“ Dieser Thompson starrte den Jungen an und schien doch nichts zu sehen. Was sollte das denn für ein Spiel sein? Ärgerlich wandte Marcus sich ab. „Macht doch, was ihr wollt. Ich gehe.“ „Halt, warte.“ Der Engel hatte den Arm erhoben und sah ihn bittend an. Er kam noch ein Stück näher, seine Hand bewegte sich auf Marcus zu, fast so, als wolle er ihn anfassen. Verdammt, er war doch kein Streichelzoo. „Flossen weg! Ich schwöre, ich brech dir …“ Der Engel reagierte nicht. Unglaube, Faszination und Neugier standen auf seinem Gesicht. „Du … du bist wie ich“, hauchte er. „Das reicht!“ Plötzlich kam Bewegung in Thompson. Er drängte sich zwischen Marcus und den leuchtenden Engel. „Angelo! Ich hatte es dir verboten. Hör sofort auf damit.“ Der Engel riss seinen Blick mit sichtbarer Mühe von Marcus los. „Aber ich musste es wissen. Ich musste wissen, ob er es sehen kann.“ „Den Beweis hast du ja jetzt“, fauchte Thompson. „Und jetzt hörst du sofort auf damit. Ich will nicht, dass du wieder umkippst.“ „Michael, ich …“ „Schluss jetzt!“, donnerte der Mann. Der Engel starrte ihn noch einen Augenblick lang an, dann begann die Lichthülle zu flackern und erlosch schließlich ganz. Marcus atmete auf. Die Ausstrahlung des Engels war binnen Sekunden in sich zusammengefallen und er spürte lediglich die Nachwirkungen, die wie ein stumpfes Echo durch seinen Körper hallten. Ansonsten war dem Jungen nichts mehr von seiner göttlichen Macht anzumerken. Der Engel schwankte plötzlich. Seine Hand glitt zu seiner Stirn. Sofort war Thompson bei ihm und stützte ihn. „Siehst du, es geht schon los“, wetterte er. Der Engel verzog das Gesicht. „Es ist nichts. Ich kann es kontrollieren?“ „So wie das letzte Mal? Angelo, du wärst fast gestorben. Ich werde das nicht nochmal mitmachen.“ „Ich kann das, Michael! Hör auf, mich zu behandeln wie ein Baby. Du kannst nicht mit mir schlafen und dich gleichzeitig so aufführen, als wäre ich vier Jahre alt.“ „Das tue ich nicht.“ „Tust du sehr wohl und das weißt du auch.“ „Weil ich mir Sorgen mache.“ „Kann mir mal einer erzählen, was hier los ist?“ Im Hintergrund war eine dunkelhaarige Frau erschienen. Sie trug nur ein großes T-Shirt und sah verschlafen aus. Als sie die Szene vor sich erfasste, klärte sich ihre Miene plötzlich. „Michael? Angelo? Ist alles in Ordnung? Und wer ist das?“ „Das ist der Cop, von dem ich dir erzählt habe. Der, den du suchen solltest.“ Die Frau musterte Marcus einen Moment lang, bevor sie sich wieder an ihren Mann wandte. Marcus war sich inzwischen sicher, dass es sich um Thompsons Ehefrau handeln musste. „Und warum schreit ihr euch dann hier draußen an?“ „Weil Angelo sich absolut unvernünftig verhält.“ „Weil ich endlich wissen will, was mit mir nicht stimmt“, begehrte der Engel auf. „Und er kann mir diese Frage beantworten.“ Mit ausgestrecktem Arm wies er auf Marcus. Drei Augenpaare richteten sich auf ihn. Es war die Frau, die schließlich die unangenehme Stille brach. „Vielleicht … vielleicht sollten wir uns alle mal ein wenig beruhigen und hineingehen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie auch nicht unbedingt möchten, dass man Sie hier sieht, Mister …?“ Die letzte Frage war an Marcus gerichtet. Er zögerte. Eigentlich hatte er sich geschworen, sich so weit wie möglich von diesen Typen fernzuhalten. Diese Angelegenheit ging ihn nichts an. Wenn man sich mit Engeln einließ, konnte nichts Gutes dabei herauskommen. „Marcus“, gab er schließlich widerwillig bekannt. „Marcus Reed.“ Die Frau schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Freut mich. Ich bin Gabriella und das hier ist mein Mann Michael, den Sie ja schon kennengelernt haben. Und natürlich Angelo.“ Der Engel beobachtete ihn immer noch mit unverhohlener Neugier. Marcus schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich dir helfen soll. Warum fragst du nicht einen der anderen Engel? Der wird dir sicher …“ „Moment mal. Hast du gerade Engel gesagt?“ Dieser Thompson … Michael sah ihn ungläubig an. Sein Blick huschte zu dem Engel und dann wieder zu Marcus zurück. „Soll das heißen, dass Angelo …“ „Ein Engel ist? Ja. Aber das … das habt ihr gewusst, oder?“ Die Mienen der Anwesenden inklusive des Engels zeigten ihm deutlich, dass das nicht so war. Marcus hätte beinahe gelacht. Das war wirklich zu absurd. „Ich glaube, wir haben nichts mehr weiter zu besprechen“, sagte er und wandte sich zum Gehen. Er kam ungefähr drei Schritte weit, bevor sich eine Hand auf seinen Arm legte. Als er sich herumdrehte, stand wieder der Engel vor ihm und sah ihn aus großen, blauen Augen an. Für einige Augenblicke betrachteten sie sich schweigend. Marcus bemerkte, dass sie ungefähr gleich groß waren, eine ähnliche Statur hatten, wenngleich er auch etwas muskulöser war. Der Engel war feingliedrig, fast zart, ohne jedoch gebrechlich zu wirken. Marcus merkte, wie die Faszination an seiner Überzeugung, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen, entlangstrich und sie fast beiläufig ins Wanken brachte. Dies war der erste Engel, den er neben seinem Vater je zu Gesicht bekommen hatte. Zumindest von so Nahem. Sicherlich hatte er eine Menge über sie gelesen, aber das hier war anders. Es war echt. „Bitte, Marcus“, sagte der Engel und seine Stimme war sanft. „Bitte, geh nicht. Ich habe noch so viele Fragen.“ „Fragen?“, knurrte Marcus und machte seinen Arm los. „Welche Fragen könnte ich dir schon beantworten. Ein simpler Sterblicher. Euereins lacht doch über uns. Hält uns für Herdenvieh, das zu dumm ist, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Solange wir in der Spur laufen, lasst ihr uns in Ruhe, und wenn nicht, werden wir mit Stockschlägen wieder zurückgetrieben, damit auch ja nichts die Ordnung stört, die sich der allmächtige, himmlische Vater ausgedacht hat. Warum denn eigentlich erst diese Farce mit dem freien Willen? Warum nicht gleich ein ganzes Heer von Robotern erschaffen, die den ganzen Tag Loblieder auf seine Herrlichkeit singen. Hat doch mit euch Engeln auch wunderbar geklappt.“ „Du bist aber kein normaler Sterblicher.“ Wieder dieser sanfte Ton, in dem Nachsichtigkeit mitschwang. Eine Nachsichtigkeit, die Marcus weder brauchte noch wollte. Er lachte bitter auf. „Nein, das bin ich wohl nicht. Ich bin ein Bastard, ein ungewolltes Kind, ein Fehltritt, eine Missgeburt. Ich bin das, was passiert, wenn ein Engel vergisst, dass er dummerweise keine Kinder mit einer Sterblichen haben darf. Das bin ich.“ Der Engel reagierte nicht. Er sah Marcus nur weiter an. Schließlich sagte er leise: „Du bist wütend auf ihn, oder? Deinen Vater meine ich.“ „Ob ich …?“ Marcus schüttelte fassungslos den Kopf. „Natürlich bin ich wütend. Oder halt, nein, ich war wütend. Inzwischen ist es mir egal. Er hat mein Leben verschont, na prima. Aber irgendwann wird mich ja doch einer von euch finden und zu Ende bringen, wozu er nicht in der Lage war. Vielleicht möchtest du es ja sein, der die Lorbeeren dafür einstreicht.“ Er schob den Unterkiefer vor, hob das Kinn und präsentierte sich dem Engel auf eine Weise, die ihm gleich mehrere Angriffspunkte offenlegte. Marcus wusste, dass es ihm ein Leichtes gewesen wäre, ihn mit der bloßen Hand zu töten. Der Engel wirkte mit einem Mal traurig. „Hältst du es denn für richtig, die Söhne für die Sünden ihrer Väter zu strafen? Oder umgekehrt?“ Marcus wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Plötzlich ertrug er den Blick dieser blauen Augen nicht mehr. Er sah, wie im Hintergrund Gabriella ihren Mann zurückhielt und leise auf ihn einredete. Wahrscheinlich hätte er Marcus’ Angebot, ihm eine reinzuhauen, nur zu gerne angenommen. Schließlich kehrte sein Blick wieder zurück zu dem Engel. „Es tut mir leid“, sagte dieser und in seinen Augen stand tatsächlich Anteilnahme. „Es tut mir leid, dass dir ein solches Unrecht zuteil geworden ist. Du solltest dich nicht verstecken müssen. Du solltest geliebt werden.“ „Geliebt werden?“ Marcus spuckte die Worte aus wie einen alten Kaugummi. „Sag mal, hörst du dir manchmal selber zu? So ein hohles Geschwafel habe ich lange nicht mehr gehört. Wie überheblich bist du eigentlich?“ Marcus sah, wie der Engel zusammenzuckte. „Geh“, sagte er. „Geht zurück in deinen Himmel und lass uns hier unten in Frieden.“ Er wandte sich wieder um und ging auf den Parkplatz zurück. Er wollte diesem Engel nicht mehr zuhören, wollte sein verdammtes Mitleid nicht und erst recht keine klugen Ratschläge. „Das kann ich nicht.“ Die Worte, so leise sie waren, ließen Marcus langsamer werden. Er blieb stehen und ballte die Hand zur Faust. Warum nicht?, hallte die Frage durch seinen Kopf und er musste erstaunt feststellen, dass er sie wohl laut ausgesprochen haben musste, denn er hörte jetzt leise Schritte hinter sich. „Weil ich … einen Auftrag habe. Aber ich … ich weiß nicht, worin er besteht. Ich erinnere mich nicht. Es ist, als wäre in meinem Kopf alles voller Nebel.“ Die Formulierung ließ unangenehme Erinnerungen in Marcus aufsteigen. Er meinte, Crystals Lippen wieder auf seinen zu spüren. „Aber du bist ein Engel“, entgegnete er und versuchte so an seiner Wut festzuhalten. „Du bist mit überirdischen Kräften ausgestattet. Du wirst das schon hinkriegen.“ Der Engel antwortete nicht. Marcus wehrte sich gegen den Wunsch sich umzudrehen und zu sehen, was hinter ihm passierte. Als er es doch tat, stand der Kerl einfach nur mit hängendem Kopf da. Es machte Marcus rasend, ihn so zu sehen. „Na los, steh da nicht so dumm rum. Tu etwas! Rette die Welt oder was auch immer. Aber heul mir nicht die Ohren voll davon, wie schwer du es hast. Ein mächtiges Wesen wie du …“ „Aber das bin ich nicht.“ Der Engel hob jetzt wieder den Kopf. Auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck echter Verzweiflung. „Ich bin eben nicht mächtig. Ich … ich weiß nicht, wie das alles funktioniert. Mein Körper macht, was er will. Manchmal erhasche ich eine Ahnung von dem, was ich kann oder können müsste, aber meistens passiert es einfach nur zufällig. Als wir noch bei Michael und Gabriella zu Hause waren, habe ich mich einfach so in einen Kampf gegen einen Dämon gestürzt. Ich wusste nicht einmal, mit was ich es zu tun hatte. Erst, als ich die Rüstung erschaffen hatte und das Schwert in Händen hielt, war es auf einmal da. Eine Flut an Wissen und Informationen, die mein Geist so schnell gar nicht fassen konnte. Und kaum war die Rüstung verschwunden, war es auch schon wieder fort und ich … ich war vollkommen ausgelaugt. Wenn Michael und Gabriella nicht gewesen wären …“ Er sprach nicht weiter, aber Marcus verstand auch so. Deswegen war Michael so wütend geworden. Weil der Engel sich, sobald er seine Fähigkeiten benutzte, derart überanstrengte, das er früher oder später zusammenbrach. Fähigkeiten, die er nicht einmal wirklich kontrollieren konnte. Marcus fühlte, wie sich Erinnerungen an ihn heranschlichen und seinen Zorn beiseite drängten. Er wusste, wie sich das anfühlte, wenn der eigene Verstand anfing, einem Streiche zu spielen. Es war, gelinde gesagt, verwirrend, wenn auf einmal tausend fremde Sinneseindrücke auf einen einprasselten, während man eigentlich gerade in einer Mathematikstunde saß und Geometrie eingetrichtert bekommen sollte. Wie oft hatte er zu dieser Zeit im Bad vor dem Spiegel gestanden und hatte versucht zu begreifen, wer die Person war, die ihm da gegenüberstand. Hatte versucht, nicht dem Wunsch nachzugehen, solange mit der Faust gegen die Wand zu schlagen, bis sie entweder ein Loch hatte oder er nur noch einen blutigen Klumpen sein eigen nannte. Etwas, das normal gewesen wäre. Manchmal hatte er es trotzdem getan, nur um seinen Wunden beim Verheilen zuzusehen. Er hatte sich gehasst, seinen Vater, ja sogar seine Mutter, die sich mit einem Engel eingelassen hatte, statt vernünftigerweise schleunigst das Weite zu suchen. Inzwischen hatte er seine Wahrnehmung so weit unter Kontrolle, dass sie ihn nicht mehr behinderte. Er hatte sich an ihre Anwesenheit gewöhnt und sie begleitete ihn wie eine zweite Haut. Sie war immer da und … Er stutzte plötzlich und fasste den Engel scharf ins Auge. Doch egal, wie genau er hinsah, es war nichts zu entdecken. Wenn Marcus nicht gewusst hätte, was er wirklich war, er hätte ihn für einen Menschen halten können. Einen ganz normalen Menschen. Was für ein Blödsinn, dachte er. Es gab doch keine On/Off-Engel, die sich aussuchen konnten, was sie gerade waren. Was für einen Sinn sollte das haben? Damit sie sich noch besser unter den Menschen verstecken konnten? Sie noch besser ausspionieren? Das war absolut lächerlich. Marcus seufzte. „Was willst du von mir, Engel?“ „Angelo.“ „Was?“ Der Engel sah auf. „Mein Name ist Angelo.“ Marcus gab ein spöttisches Schnauben von sich. „Als ob es nicht egal ist, in welcher Sprache ich dich das nenne, was du bist.“ Der Engel zog ein wenig verlegen die Schultern hoch. „Du hast Recht. Der Name ist nicht gerade originell. Aber einen anderen habe ich nicht.“ Er legte den Kopf schief. „Würdest du dir noch etwas ansehen, bevor du gehst?“ Marcus presste die Lippen aufeinander. Er sollte jetzt einfach gehen, das Handy nehmen und Erik anrufen, damit der sich darum kümmerte. Stattdessen seufzte er. „Du hast zwei Minuten.“ „Gib mir fünf. Ich muss erst noch was holen.“ Als er zögernd nickte, huschte ein Lächeln über das Gesicht des Engels und Marcus erwischte sich dabei, wie er es fast erwidert hätte. Er biss sich auf die Zunge, um den Impuls zu unterdrücken. Das fehlte gerade noch. Dass er diesem … Angelo irgendwelche Zugeständnisse machte. Der lief jetzt eilig zurück zu seinen beiden … ja was eigentlich? Freunden? Liebhabern? Was hatten die drei da am Laufen? Komische Leute, dachte Marcus und fragte sich zum wiederholten Male, warum er eigentlich immer noch hier war. Aus dem gleichen Grund, aus dem du dich nach Vegas hast versetzen lassen, antwortete eine kleine, gehässige Stimme in seinem Kopf. Weil du die Gefahr suchst. Weil du darauf brennst, etwas Sinnvolles mit deinen Fähigkeiten anzustellen, statt immer nur davonzulaufen. Weil du immer noch hoffst, dass es doch irgendwo eine große, ultimative Antwort auf alles gibt. Er befahl der Stimme, die Klappe zu halten, und beobachtete, wie Angelo sich mit Gabriella unterhielt, die daraufhin zurück in ihr Motelzimmer ging. Michael machte Anstalten, auf Angelo einzureden, aber der wies ihn sichtbar ab. Er sah zu Marcus zurück und irgendwie konnte der sich nicht ganz gegen eine gewisse Schadenfreude wehren, die dabei in ihm aufstieg. Kurz darauf kehrte Angelo mit einem Autoschlüssel zu ihm zurück. Seine Augen leuchteten. „Komm, ich will dir was zeigen.“ Sie gingen zu einem Mietwagen, dessen Kennzeichen sich Marcus ganz nebenbei einprägte. Später, so sagte er sich, würde er das Kennzeichen zur Fahndung weitergeben. „Hier, schau mal.“ Angelo öffnete den Kofferraum und nahm einen länglichen Gegenstand heraus, der in eine Wolldecke gewickelt war. Er entfernte die Decke und … „Ein Schwert?“ Marcus konnte seine Verblüffung nicht ganz verbergen. „Ja, es ist meins.“ Angelo reichte ihm die Waffe mit dem Griff voran. „Willst du mal ausprobieren?“ Marcus hob abwehrend die Hände. „Nein, danke Ich bin da eher für Schusswaffen. Aber warum zeigst du mir das?“ „Na weil …“ Angelo druckste ein bisschen herum. „Weil ich gehofft hatte, dass du … irgendwie … ein bisschen beeindruckt wärst.“ Marcus blinzelte ein paar Mal, bevor er seine Sprache wiederfand. „Beeindruckt? Davon, dass du hier ein nachgemachtes Ritterschwert aus dem Hut ziehst?“ „Es ist nicht nachgemacht. Es ist ein echtes … Engelsschwert.“ Angelo schob einen Mundwinkel nach oben mit dem Ergebnis, dass jetzt ein ziemlich schiefes und etwas klägliches Grinsen in seinem Gesicht saß. Marcus spürte, wie seine Mundwinkel ebenfalls zuckten. „Beeindruckt wäre ich höchstens, wenn du damit umgehen könntest. Das Ding ist doch viel zu groß für dich.“ „Ach ja?“ Angelo trat ein paar Schritte zurück und hob die Waffe. Im nächsten Augenblick ließ er die blitzende Klinge herumwirbeln, als wäre sie vollkommen ohne Gewicht. Er führte einige wuchtige, mit beiden Händen geführte Schläge aus, von denen jeder ihn ein Stück weiter an Marcus heranführte, bis die Schwertspitze zitternd vor dessen Brust zur Ruhe kam. Blaue Augen fixierten ihn über den glänzenden Stahl hinweg. „Jetzt beeindruckt?“ Für einen Augenblick war Marcus das wirklich. Das lag jedoch nicht an der Vorführung, sondern an der Verwandlung, die mit Angelo vonstatten gegangen war, als dieser angefangen hatte zu kämpfen. Was Marcus dort auf der anderen Seite der Klinge sah, war nicht mehr der fast schon schüchtern anmutende Junge mit dem leicht verträumten Blick, sondern tatsächlich ein Krieger. Jemand, der es gewohnt war, Befehle zu geben. Entscheidungen zu treffen. Jemand, dem man folgte. Jemand, dem er folgen würde. Marcus schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. „Nett“, urteilte er und trat von der scharfen Spitze zurück, die sich für seinen Geschmack zu nahe an seinem Herzen befand. „Wirst sicherlich ein paar Dämonen damit das Fürchten lernen.“ „Meinst du?“ Die Rückverwandlung ging ebenso schnell vonstatten wie zuvor ihr Gegenstück. Angelo senkte das Schwert und sah ihn jetzt wieder ein wenig unsicher an. „Sie sind hinter mir her, nicht wahr?“ Marcus hatte keine Ahnung, woher er das wusste, aber er nickte zustimmend. „Als ihr … euch aus dem Staub gemacht habt, kam ein Dämon und hat nach dir gesucht. Er … er hat von mir erfahren, wo ihr wohnt.“ Als er Angelos entsetztes Gesicht sah, fügte er schnell hinzu: „Unabsichtlich. Ich … ich hatte Michaels Koffer in meiner Wohnung und da war ein Adressanhänger dran.“ Warum erzählte er Angelo das? Und woher kam der Drang, ihm auch noch den Rest der Geschichte zu erzählen? Wo sollte das enden? Wollte er etwa zusammen mit diesen lächerlichen Gestalten und einem Engel auf Dämonenjagd gehen? Der Gedanke war einfach grotesk. Angelo sah ihn prüfend an. „Der Mann vom FBI. Kam der auch von dir? Er hat gesagt, sein Name wäre Erik Hawthorne.“ Marcus zog es vor, darauf nicht zu antworten. Leider deutete Angelo sein Schweigen vollkommen richtig. „Er ist dein Vater, nicht wahr? Du hast ihm von mir erzählt.“ „Das musste ich. Dieser Dämon, er … mit ihm stimmt was nicht. Ich wollte nicht, dass er dich erwischt.“ „Also wolltest du uns helfen?“ „Nein! Ich wollte nur nicht, dass er dich in die Finger kriegt. Das ist alles.“ Angelo musterte ihn noch einen Augenblick lang. „Ich verstehe“, sagte er dann langsam. „Ich danke dir trotzdem.“ Marcus nickte knapp und wollte schon gehen, als Angelo doch noch einmal anhob zu sprechen. „Sag deinem Vater nichts hiervon“, bat er. „Ich … was immer dieser Auftrag beinhaltet, ich muss das alleine machen.“ Marcus atmete tief durch. „Ich kann es nicht vollkommen verschweigen. Zumindest auf meiner Dienststelle muss ich melden, dass ich Euch gesehen habe, sonst kann ich große Schwierigkeiten bekommen. Es wird dann vermutlich nicht mehr lange dauern, bis sie nach euch fahnden. Aber … zum Dienst muss ich erst wieder Morgen Mittag. Das ist in etwa acht Stunden. Von hier aus sind es etwa sechs Stunden bis zur mexikanischen Grenze. Wenn ihr also gleich losfahrt …“ Er ließ den Rest des Satzes offen und nickte Angelo nur noch einmal zu, bevor er sich umdrehte und nun endlich mit langen Schritten dem Ausgang des Parkplatzes zustrebte. Er wusste nicht, ob das hier wirklich das Richtige war, aber er wusste auch, dass er viel zu müde war, um noch irgendwelche sinnvollen Entscheidungen zu treffen. Und, so ungern er das zugab, Angelo kam ihm ehrlich vor. Nicht so unnahbar, wie er sich Engel immer vorgestellt hatte. Nicht so, wie sich sein Vater immer gegeben hatte. Er verdient eine Chance. Mit diesem Gedanken versuchte sich Marcus selbst zu beruhigen, obwohl er gerade so ziemlich alle Prinzipien über Bord warf, an die er sich bisher gehalten hatte. Aber vielleicht … vielleicht würde ja doch etwas Gutes dabei rauskommen. Als Angelo zurückkam, hielt er sein Schwert in der Hand. Es schleifte zwar nicht auf dem Boden, aber viel fehlte nicht dazu. Michael seufzte innerlich. „Er ist weg, oder?“ „Jep.“ „Und er wollte uns nicht helfen?“ Angelo atmete tief durch. „Er hat gesagt, er wird damit warten, uns zu melden. Ansonsten hat er uns geraten, das Land zu verlassen. Das mindert die Gefahr, dass sein Vater uns findet.“ „Sein Vater?“ „Der FBI-Agent. Er … er ist auch ein Engel.“ Michael schwieg und sah Angelo nur an. Die Eröffnung darüber, was er wirklich war, hatte ihn ziemlich überrascht. Allerdings nicht so sehr, wie er gedacht hatte. Auch Gabriella war erstaunlich ruhig geblieben. Vielleicht hatten sie es beide tief im Inneren schon gespürt. Dass Angelo einfach zu gut war, um wahr zu sein. Dass da mehr sein musste. Vielleicht hatten sie beide die Augen verschlossen aus Angst vor dem, was aus der Wahrheit erwachsen würde. „Und jetzt?“, fragte Michael und merkte, dass seine Stimme dabei brüchig klang. „Wirst du jetzt gehen?“ „Willst du, dass ich gehe?“ „Nein. Natürlich nicht. Aber … willst du denn bleiben?“ Angelo hob den Kopf und Michael sah, dass seine Augen feucht schimmerten. Im nächsten Moment klirrte das Schwert auf den Boden und er lag Michael in den Armen. „Es tut mir so leid“, flüsterte Angelo, während er sich an seinen Hals klammerte. „Ich … was ich vorhin gesagt habe und alles. Ich will nicht, dass euch etwas passiert. Aber ich weiß nicht, wie ich das alleine schaffen soll. Ich brauche euch.“ Michael strich ihm über den Rücken. In seinem Hals saß ein unangenehmes Engegefühl. „Ich weiß“, sagte er leise. „Ich weiß, wie sich das anfühlt. Was meinst du denn, warum ich immer so wütend werde, wenn du dich in Gefahr bringst. Weil ich dich beschützen will. Aber ich weiß nicht, wie mir das gelingen soll, wenn du nicht auf mich hörst. Du bist schlimmer als ein ungezogenes Hundebaby, das ständig am Kabel des Fernsehers kaut.“ Angelo lachte und schniefte gleichzeitig. „Du musst trotzdem aufhören, mich so in Watte zu packen.“ „Du bist aber nun mal zum in Watte packen“, ereiferte sich Michael und drückte ihn fester an sich. „Am liebsten würde ich dich zu Hause im Schlafzimmer einsperren und nur zum Essen wieder herauslassen.“ „Nur zum Essen?“, gluckste Angelo. „Und was soll ich in der Zwischenzeit machen?“ „Dich von mir lieben lassen?“ Michael spürte, wie sein Herz bei diesem Satz bis zum Hals klopfte. Angelo rückte ein Stück von ihm ab. Große, blaue Augen sahen ihn forschend an. „Sag das nochmal.“ „Was?“ „Das, was du gerade gesagt hast.“ Michael kam sich vor, als hätten sich gerade sämtliche Scheinwerfer auf ihn gerichtet und er hatte keinen Schimmer, wie sein Text lautete. Das hieß, er wusste es schon, aber er traute sich nicht, ihn auszusprechen. Zögernd begann er in Worte zu fassen, was ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf ging. „Ich … ich mag dich unheimlich gern, Angelo. Egal ob du nun ein Engel bist oder nicht. Und die Vorstellung, dass du auf einmal nicht mehr in meinem Leben sein sollst, reißt mir fast das Herz aus der Brust. Weil ...“, er schluckte, „weil ich mich in dich verliebt habe.“ Angelo sah ihn lange an, bevor er sich vorbeugte und einen kleinen Kuss auf seinen Lippen platzierte. „Mir geht es genauso, Michael.“ Er lächelte. „Und ich werde nicht weggehen.“ „Das hat mir schon einmal jemand versprochen.“ Michael wusste nicht, woher die Erinnerung plötzlich kam, aber sie war auf einmal da und drängte sich zwischen ihn und Angelo. „Und ich habe ihm geglaubt, aber es war eine Lüge. Er ist einfach gegangen und ich … ich konnte nichts dagegen tun.“ Er spürte, wie etwas seine Wange hinunterlief. Als ihm bewusst wurde, dass er weinte, drehte er den Kopf weg. „Aber das ist lange her. Ich … ich sollte inzwischen darüber hinweg sein.“ Er spürte Angelos Fingerspitzen, die über seinen Nacken strichen. „Willst du es mir trotzdem erzählen?“ „Warum sollte ich? Es hat nichts mit dir zu tun.“ „Weil ich ziemlich gut zuhören kann.“ Angelo lehnte sich an ihn und wartete einfach nur ab, während Michael versuchte, die richtigen Worte zu finden für das, was damals passiert war. Was wirklich passiert war. „Ich … es gab da mal jemanden“, begann er irgendwann. „Sein Name war Jeff. Er war mein bester Freund, seit wir uns in der Highschool kennengelernt hatten. Es war … fast so was wie Liebe auf den ersten Blick. Wir hingen quasi ständig zusammen ab, haben alles miteinander geteilt. Mit uns hat einfach alles gepasst. Sogar … sogar auf körperlicher Ebene. Da sind ein paar Sachen gelaufen, die nicht nur freundschaftlicher Natur waren. Aber ich glaube, keiner von uns wollte das so wirklich wahrhaben. Wir hatten zu viel Schiss davor, was die anderen sagen würden. Ich zumindest. Ich weiß nicht, ob es ihm auch so ging, aber …“ Michael unterbrach sich. So, wie er von Jeff erzählte, hörte es sich fast an, als würde er von einer alten Flamme reden. Er warf einen Blick auf Angelo, der ihn aber nur kurz ansah, bevor er sich wieder an seine Brust schmiegte. „Was ist geschehen?“, fragte er und Michael nahm seinen Mut zusammen, um weiter zu erzählen. „Wir haben unseren Abschluss gemacht, sind aufs gleiche College gegangen. Jeff hatte Spitzennoten. Er war echt intelligent. Unsere gemeinsame Leidenschaft war zwar Football, aber während ich eine Karriere als Profi anstrebte, wollte er später mal was anderes machen. Medizintechnologie oder so was. Wir hatten dadurch natürlich nicht mehr so viele Kurse zusammen, aber ansonsten haben wir jede freie Minute miteinander verbracht. Das war … vor dem Unfall.“ „Was für ein Unfall?“ „Eines Abends habe ich Jeff überredet, auf eine Party zu gehen. Er wollte eigentlich nicht, aber wir hatten die letzten Wochen durch mein Training und seine Kurse so wenig Zeit zusammen, dass ich einfach mal wieder mit ihm Spaß haben wollte. Er war an dem Abend … nicht gut drauf. Irgendetwas beschäftigte ihn. Er hatte vorher schon so ein paar komische Andeutungen gemacht. Dass mit einer seiner Professorinnen was nicht stimmte. Dass sie seiner Meinung nach in irgendwelche illegalen Machenschaften verwickelt war. Ich habe ihm gesagt, dass das Schwachsinn sei, aber er hat nicht auf mich gehört, hat ihr nachspioniert. Einmal hat er mir sogar einige Zeichnungen gezeigt, die angeblich von ihr waren. Da waren Apparaturen, Maschinen, wirklich fieses Zeug. Es sah aus wie aus einer mittelalterlichen Folterkammer. Er hat gemeint, dass er denkt, dass sie diese Maschinen irgendwo im Keller der Uni tatsächlich baut, aber das klang alles so weit hergeholt, dass ich … dass ich ihm nicht geglaubt habe.“ Michael unterbrach sich, als die Bilder wieder hochkamen. Wie Jeff ihn angesehen hatte, voller Vertrauen, und dass er … dass er einfach nur gewollt hatte, dass es wieder wie früher war. „Also schön“, hatte er gesagt. „Ich geh morgen mit dir nach diesem Kram suchen. Aber heute Abend feiern wir.“ Jeff hatte genickt und sie waren zu dieser Party gefahren. Die Party, die seinen besten Freund das Leben gekostet hatte. „Es war laut in dem Haus. Laut und voller Menschen. Musik, tanzende, halbnackte Mädchen, irgendwelche Idioten, die sich zu einem Trinkspiel nach dem anderen herausforderten, Leute die besoffen im Pool landeten, das volle Programm. Ich … ich hab an dem Abend gemerkt, dass ich gerne mehr von Jeff gewollt hätte, als nur mit ihm einen zu trinken. Wobei er nicht getrunken hat. Seine Mum hatte ein ziemliches Problem damit, sodass er sich beim Alkohol immer zurückgehalten hat. Also hab ich allein getrunken. Viel getrunken. Ein Bier in den Händen zu halten erschien mir als guter Weg, mich davon abzuhalten, meine Hände an Jeff zu legen. Ich war mir sicher, dass er das nicht gewollt hätte. Als ich gemerkt habe, dass das auch nicht klappt, hab ich mich abgeseilt und mich mit irgendeinem Mädchen in eine Ecke verzogen. Er kam irgendwann und war ziemlich wütend. Ich hab mich dann von ihm davon überzeugen lassen, mit ihm heimzufahren. Wir haben kein Wort im Auto geredet. Ich glaube, er war ziemlich enttäuscht von mir. Und dann …“ Michael schloss kurz die Augen, bevor er weitersprach. „Mitten auf offener Strecke hat Jeff auf einmal die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. Ich weiß nicht mehr genau, wie es passiert ist. Ich glaube, er war ziemlich schnell. Wollte mich wohl loswerden oder so. Auf einmal gab es einen Schlag, der Wagen kam von der Straße ab und fuhr gegen einen Baum. Hat ihn ohne zu bremsen gerammt. Jeff war sofort tot, während ich schwer verletzt festklemmte und von der Feuerwehr rausgeschnitten werden musste. Ich wurde operiert, war lange im Krankenhaus. Noch während ich da lag, kam die Polizei, um meine Aussage aufzunehmen. Ich habe denen gesagt, was ich noch wusste, aber ich habe die ganze Zeit gedacht, dass es meine Schuld war. Dass Jeff sich wegen mir nicht konzentriert hat und deswegen der Unfall passierte. Irgendwann bekam ich spitz, dass Jeff unterstellt wurde, Drogen genommen zu haben. Meine Eltern hatten Jeffs Vater auf Schadensersatz verklagt. Ich wusste davon gar nichts, bis es irgendwann hieß, dass ein Gerichtstermin anstände. Im Gerichtssaal bekam ich dann die offizielle Version des Falls zu hören. Dass Jeff vollkommen breit gewesen sein sollte und deswegen gegen den Baum gefahren sei. Ich bin auf die Barrikaden gegangen, hab rumgebrüllt, dass das gelogen wäre. Jeff hätte niemals was genommen. Aber die hatten Bluttests, Laborergebnisse, Fakten. Und ich war nur ein Junge, der zum Zeitpunkt des Unfalls betrunken gewesen war. Man glaubte mir nicht. Selbst meine Eltern nicht und sogar Jeffs Vater, der seinen Sohn doch eigentlich hätte kennen müssen, war von seiner Schuld überzeugt. Ich weiß noch, wie er gesagt hat, dass der Apfel eben nicht weit vom Stamm fällt. Wir bekamen eine Menge Geld von der Versicherung, aber ich habe keinen Penny davon genommen. Habe meine Eltern gesagt, dass ich ihr Blutgeld nicht wolle. Wir haben uns deswegen zerstritten und es krachte jeden Tag zu Hause. Als sie schließlich wegziehen wollten, lernte ich Gabriella kennen und habe die Gelegenheit genutzt, mich endgültig von meinen Eltern zu trennen. Ich habe meine Sachen genommen und bin bei ihr eingezogen und … na ja. Hier bin ich nun.“ Michael sah Angelo an, der ihm bis jetzt schweigend zugehört hatte. „Es ist vielleicht albern, dass ich immer noch so an der Geschichte festhänge, aber ich … ich frage mich halt, was damals passiert ist. Woher diese Laborbefunde kamen, die doch anscheinend unwiderlegbar beweisen, dass ich Unrecht und alle anderen Recht hatten. Und ich frage mich, ob es was geändert hätte, wenn ich einfach mit Jeff gesprochen hätte, statt mich sinnlos zu betrinken. In einem Anflug von Paranoia habe ich sogar eine Zeit lang daran geglaubt, dass Jeffs Professorin etwas mit dem Unfall zu tun hatte. Aber wie hätte sie das anstellen sollen? Es war an dem Abend ja niemand dort. Und diese ganzen Dinge, die sie angeblich erfunden hatte … Es gab nicht den geringsten Beweis dafür, dass das nicht nur Hirngespinste waren. Ausgedacht von einem jungen Mann, der allen Anschein nach ein Drogenproblem hatte. Selbst Gabriella hat gesagt, dass ich mich da in etwas verrenne.“ Michael stutzte plötzlich, als ihm etwas einfiel. Etwas, das die Sachen betraf, die Jeff ihm gezeigt hatte. Angelo musterte ihn mit gerunzelter Stirn. „Was ist los?“ Michael schüttelte den Kopf. Das alles war schon so lange her. Er schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. „Da war eine Maschine. Auf diesen Zeichnungen, von denen ich dir erzählt habe. Sie sah wirklich gruselig aus. Wie etwas, das man in einem Horrorfilm findet. Von dieser Maschine hatte sie mehrere Skizzen angefertigt und das Ding hatte sogar einen Namen. Es hieß … Engelssbrecher.“ Kapitel 14: Engelsbrecher ------------------------- Der Teil des Kellers, in dem die Maschine stand, war vom Rest der zugänglichen Räume mit allerhand Runen und Schutzsigillen abgeschirmt worden. Nur auserwählte Dämonen, deren Namen vom Meister persönlich in den Schutzwall geschrieben worden waren, hatten hier Zugang und Alejandro war bisher einer der wenigen gewesen, denen dieses Privileg gewährt worden war. Er hatte davon bisher eigentlich kaum Gebrauch gemacht, denn, wenn er ehrlich war, langweilte ihn dieser ganze wissenschaftliche Kram ziemlich. Er wusste, dass er hier unten das Licht der Welt erblickt hatte und dass er ab und an Sukkubi zur Essenzgewinnung hierher brachte. Bisher war ihm jedoch nie in den Sinn gekommen, weitere Fragen dazu zu stellen. Victor hingegen schien das Ganze nicht nur zu interessieren, sondern auch noch zu begreifen. Ein Umstand, der Alejandro mächtig gegen den Strich ging. Mit gefurchten Brauen sah er zu, wie der Inkubus die letzte Schnalle festzog, die die heutige Kandidatin an Ort und Stelle fixierte. Als es daran ging, eine neue Sukkubus ranzuschaffen, hatte er gleich an sie denken müssen. Das Flittchen, das sich gerne mal in seinem Revier rumtrieb, ging ihm schon lange auf die Nerven, und er gönnte ihr die Abreibung, die sie jetzt bekommen würde, von ganzem Herzen. Denn natürlich war es ihm nicht gestattet, Hand an eine der teuren Sukkubi zu legen, die seinen Herrn und Meister mit den dringend benötigten Samen der Menschen versorgten. Das hieß jedoch nicht, dass er sie leiden konnte. Ebenso wenig wie den Inkubus, der sich jetzt mit einem gewinnenden Lächeln zu ihm herumdrehte. „Fertig. Es ist wirklich ein erstaunliches Stück Handwerkskunst, findest du nicht?“ Alejandro besah sich die Konstruktion, in die die Sukkubus jetzt eingespannt war wie Vieh in einer Melkmaschine. Nur dass die Absaugvorrichtung in ihrem Mund steckte, was ziemlich effektiv verhinderte, dass sie kundtat, was sie von der ganzen Sache hielt. Ihr Wutgeschrei und die Flüche, mit denen sie ohne Zweifel um sich warf, drangen nur sehr gedämpft an dem schwarzen Schlauch mit dem silbernen Mundstück vorbei, das mit Bändern an ihrem Hinterkopf befestigt war. Um ihre restlichen Gliedmaßen waren Lederriemen gespannt, die sie festhielten und gleichzeitig verhinderten, dass sie ernsthaft verletzt wurde. Immerhin war es notwendig, dass die Sukkubus am Leben blieb. So viel hatte er zumindest schon verstanden. „Ich denke, wir können jetzt mit der Entnahme beginnen. Möchtest du mir helfen?“ Victor sah ihn abwartend an. Alejandro verstand nicht, warum der Inkubus sich plötzlich so freundlich gab. Bisher hatte er immer so getan, als wäre Alejandro quasi Luft für ihn. Der Schönling führte garantiert irgendwas im Schilde. „Was soll ich tun?“, fragte er trotzdem und trat an das Schaltpult, an dem verschiedene Knöpfe und Regler zu sehen waren. Auf einer Anzeigetafel wurden irgendwelche Werte der Sukkubus angezeigt und eine weitere zeigte den Füllstand der mit allerlei Zaubern versehenen Essenzphiole, die sich an der Wand in einer kleinen Nische befand. Sie stand auf Null. „Weißt du, was hier passiert?“, fragte Victor und Alejandro hob warnend die Oberlippe. „Natürlich“, knurrte er. „Hier wird die Sukkubus-Essenz gewonnen, die der Meister braucht, um den Willen der Engel zu brechen. Um sie … Lust empfinden zu lassen und sie so zu unterwerfen.“ „Das ist richtig“, erwiderte Victor mit einem Lächeln. „Aber weißt du, wie es genau funktioniert? Ich könnte mir vorstellen, dass das auch die gute Crystal interessiert. Immerhin ist sie hier die Hauptperson. Wenn ihr möchtet, erkläre ich es euch.“ Der Sukkubus war anscheinend anderer Meinung. Sie zappelte und schrie in ihrer Vorrichtung, aber sie konnte sich nicht befreien. Ihre gelben Augen durchbohrten den Inkubus mit einem wütenden Blick. „Mhm, ebenso schön wie tödlich. Wenn man sie lassen würde.“ Ein strahlendes Lächeln blitzte in Alejandros Richtung. „Kennst du Kipling?“ „Nein, was soll das sein?“ Victor lachte auf. „Nicht was, sondern wer, mein ungebildeter Freund. Ein menschlicher Schriftsteller Er schrieb einmal ein Gedicht über die weibliche Natur. Eine Zeile daraus heißt 'for the female of the species is more deadly than the male'. Wusstest du, dass das auch auf Sukkubi und Inkkubi zutrifft? Im Grunde genommen unterscheiden wir uns sogar so sehr, dass man fast denken könnte, zwei verschiedene Gattungen vor sich zu haben. In etwa so wie bei der Korallenotter und der Königsnatter. Sie sehen fast gleich aus, jedoch überlebt man nur die Begegnung mit einer der beiden.“ Alejandro knurrte unwillig. „Warum erzählst du mir das?“ „Damit du etwas lernst. Denn weißt du, Sukkubi haben zwei sehr effektive Verteidigungsmechanismen, die mir als Inkubus leider völlig abgehen. Zum einen können sie ein Betäubungsmittel absondern, dass ihr Opfer willenlos macht, woraufhin sie es gefahrlos an einen sicheren Ort verschleppen können, um sich an ihm zu laben. Und zum zweiten können sie ihren Speichel mit einem sehr starken Aphrodisiakum anreichern. Das geschieht normalerweise nur, wenn der Sukkubus bedroht wird oder sehr hungrig ist. Gelangt das Mittel in den Körper ihres Opfers, kann es plötzlich an nichts anderes mehr denken, als zu kopulieren. Entweder entkommt der Sukkubus so oder sie verbindet das Angenehme mit dem Nützlichen. Und weißt du, wie man die Bildung dieses Aphrodisiakums am effektivsten auslöst?“ „Nein“, antwortete Alejandro wahrheitsgemäß. „Durch Schmerzen.“ Viktor lächelte immer noch, während er auf einen Knopf drückte. Über dem gefesselten Sukubus bewegten sich Dinge im Dunkel und kurz darauf kam eine Reihe von ziemlich unangenehm aussehenden Spitzen heruntergefahren. Sie hingen an dünnen Drähten, die irgendwo an der Decke verschwanden. „Schmerz wird durch die Weiterleitung von Nervenimpulsen ausgelöst, die im Grunde genommen nichts weiter sind als winzige, elektrische Entladungen. Wenn man diese Entladungen verstärkt, erhält man automatisch …?“ Er sah Alejandro auffordernd an. „Mehr Schmerzen?“, knurrte der unwillig. „Exakt.“ Viktor schien begeistert von seiner Antwort. Er wandte sich wieder an Alejandro und griff plötzlich nach seiner Hand. Für einen Augenblick streichelte er sie sanft mit dem Daumen, bevor er Alejandros Finger auf einem Drehknopf platzierte. Dadurch kamen sie sich so nahe, dass er den Inkubus riechen konnte. Es war eine herbe, nicht unangenehme Duftnote, die seine Sinne kitzelte. Die braunen Augen seines Gegenübers fixierten ihn von oben herab. „Wenn die Sukkubus weniger Schmerzen hat, hält sie länger durch, aber das Mittel muss erst noch aufbereitet und gereinigt werden. Ein langwieriger und schwieriger Prozess. Wenn sie mehr Schmerzen hat, ist es reiner und stärker, aber es besteht das Risiko, dass sie die Prozedur nicht überlebt. Ein Fehler, der jetzt leider schon ein paar Mal vorgekommen ist. Was denkst du also, welchen Weg wir wählen sollten?“ Alejandro sah von Viktors Gesicht zu dem Knopf unter seiner Hand. Die Finger des Inkubus lagen immer noch auf seinen. „Na los, du darfst entscheiden?“, flüsterte es ganz nah an seinem Ohr. Alejandro schluckte, bevor er anfing, den Regler langsam nach oben zu drehen. Er sah, wie sich die Nadeln in den Körper des Sukkubus senkten und im nächsten Augenblick begann sie zu schreien. Die Laute waren immer noch gedämpft und so schob er den Regler weiter und weiter, bis er schließlich kurz vor dem roten Bereich war. Der Körper in den Lederriemen zuckte unter den elektrischen Entladungen und die Augen der Sukkubus traten aus ihren Höhlen hervor. „Mhm“, schnurrte Viktor an seinem Ohr. „Ich mag deine Denkweise.“ Langsam wandte Alejandro ihm den Kopf zu. „Du bist zu nahe.“ Der Inkubus lächelte. „Stört es dich? Ich dachte, wir könnten uns ein wenig besser kennenlernen, jetzt, wo wir zusammenarbeiten sollen.“ „Was willst du von mir?“ Die Augen des Inkubus glühten auf. „Du weißt, wie Sukkubi sich ernähren, oder? Sie benutzen die Schöpfungsenergie, die dem menschlichen Samen innewohnt, um sich zu regenerieren. Nun, wir Inkubi machen das ebenso, nur ist es sehr viel aufwendiger, diese Energie von einer Frau zu bekommen. Eine reife Eizelle zu stehlen, ist um einiges schwieriger, da sie den Körper normalerweise nicht verlässt und auch nur zu bestimmten Zeiten des Zyklus zur Verfügung steht. Wir Inkubi haben da allerdings so unsere Möglichkeiten.“ Er lächelte immer noch, jetzt jedoch auf eine etwas verstörende Weise. Alejandro hatte plötzlich das Bild von winzigen Tentakeln vor Augen, deren Einsatz er sich lieber nicht so genau vorstellte. „Tja, und weißt du“, fuhrt die Singsangstimme des Inkubus fort, „daher haben sich viele von uns inzwischen ebenfalls dem viel leichter zu beschaffenden, männlichen Samen zugewandt. Nicht wenige finden sogar Gefallen daran, einem Mann beizuliegen. Ich beispielsweise bin da nicht wählerisch.“ „Und was hat das jetzt mit mir zu tun?“ Alejandro war sich immer noch der unheimlichem Nähe des anderen Dämons bewusst. Er konnte dessen Wärme auf seiner Haut spüren, doch es war der falsche Körper, das falsche Gesicht. Instinktiv nahm er etwas Abstand. „Nun“, säuselte Viktor über die Laute des Sukkubus hinweg. „Wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß, bist du, mein lieber Alejandro, zu einem ziemlich großen Teil menschlich. Anders als die anderen Cadejo, die trotz ihrer humanoiden Erscheinungsform immer noch recht stark dem dämonischen Einfluss unterliegen, bist du etwas ganz Besonderes. Das liegt daran, dass bei dir anderes Ausgangsmaterial verwendet wurde.“ Der Inkubus lächelte schon wieder. Eine wirklich nervige Angewohnheit. „Ich selbst war es, der die Zelle von deiner Mutter besorgt hat. Sie war eine hübsche Frau, Alejandro. Ich habe es genossen, ihr Lust zu schenken, bevor ich sie bestahl.“ Ein Grollen wuchs in Alejandros Kehle. „Willst du damit sagen, du hättest meine Mutter gefickt?“ „Mhm, so kann man das natürlich auch ausdrücken.“ Im nächsten Moment befanden sich seine Hände ganz von selbst an Viktors Kehle. Er wusste selbst nicht, warum ihn das Ganze so aus der Fassung brachte. Er hatte sich noch nie über irgendwelche Eltern Gedanken gemacht. Für ihn war allein sein Meister von Belang. Aber allein die Art und Weise, in der der Inkubus davon sprach, brachte sein Blut zum Kochen. „Nenn mir einen Grund, warum ich nicht zudrücken sollte?“, zischte er. Viktors ruhige Fassade geriet kurz ins Wanken, bevor er sich wieder fing. „Nun, zum einen, weil du dann sicherlich Ärger von unserem Herrn bekommen würdest. Inkubi sind selten und er wäre sicherlich nicht erfreut, wenn du mich töten würdest. Und zum zweiten ...“, Viktors Finger legten sich warm um seine Handgelenke und streichelten sacht über seine Pulsadern, „würde ich gern mit dir ausprobieren, wie weit deine Menschlichkeit geht. Sicher, der Herr füttert mich, aber es geht nichts über eine frische, warme Mahlzeit direkt von der Quelle. Was meinst du? Wollen wir ausprobieren, ob auch in dir göttliche Zeugungskraft steckt? Würdest du mich dich kosten lassen?“ Die verführerische Stimme des Inkubus verfehlte ihre Wirkung nicht. Sie wand sich ihren Weg direkt zwischen Alejandros Beine und sorgten dort für einen Anflug von Härte. Aber er wollte nicht. Nicht mit ihm. Langsam ließ er seine Hände sinken. „Kein Interesse“, presste er hervor. Das Pulsieren in seinem Schritt ebbte nicht ab. „Gefalle ich dir etwa nicht?“ Victor schien enttäuscht. „Wenn es nur das Äußere ist, kann ich da sicherlich Abhilfe schaffen. Denn es gibt etwas, dass wir Inkubi besser beherrschen als unsere weiblichen Gegenstücke. Immerhin sind wir auf die Zustimmung unserer … Partner angewiesen. Ein normaler Sukkubus beherrscht meist ein oder zwei menschliche Verkleidungen, mit denen sie die Männer täuscht. Wenige können mehr. Ein Inkubus hingegen kann mehrere Dutzend Erscheinungen annehmen. Ich kann jeder für dich sein. Sogar …“ Sein Körper begann sich zu verändern. Er wurde noch ein wenig größer, die Gestalt etwas schmaler. Die Gesichtszüge wurden feiner, schöner, engelsgleicher. Im nächsten Moment zierten spitze Eckzähne Victors Lächeln. Alejandro keuchte auf. „Herr …“ flüsterte er und schluckte. Sein Meister lächelte ihn an. „Ich sagte doch, ich kann jeder für dich sein.“ Das wunderschöne Gesicht lehnte sich zu ihm herab und warmer Atem streifte sein Ohr. „Und? Was sagst du? Soll ich mich dir hingeben? Möchtest du mich in Besitz nehmen? Möchtest du mich … ficken?“ Alejandro bekam kein Wort heraus. Er wusste, dass es nur der Inkubus war. Eine Illusion. Und trotzdem konnte er sich nicht gegen das Verlangen wehren, das wie ein pulsierender Quell in ihm aufstieg. Endlich, endlich würde er ihm nahe sein dürfen, ihn berühren, ihn … er durfte nicht darüber nachdenken. „Geh weg“, murmelte er und es klang selbst in seinen Ohren nicht so, als würde er es meinen. Er spürte, wie ihm sein Körper den Dienst versagte. Seine Hände glitten haltlos über die Brust des Inkubus, krallten sich in den Stoff des feinen Anzugs. Er schloss die Augen, als könne er es so irgendwie aufhalten. „Soll ich das wirklich?“, fragte Victor und kam noch ein Stück näher. „Ich könnte deine Träume wahrmachen.“   „Ich hoffe, ich störe nicht?“ Die Stimme, die gerade noch so nah an seinem Ohr gewesen war, kam plötzlich von irgendwo hinter ihm. Die Präsenz vor ihm war verschwunden und stattdessen kniete Victor mit gesenktem Kopf vor ihm auf dem Fußboden. Alejandro blinzelte und verstand nicht. „Erkläre dich!“ Die Stimme war jetzt schärfer und kam immer noch aus der falschen Richtung. Plötzlich lief es ihm siedendheiß den Rücken hinunter. Sein Herr, sein richtiger Herr, stand hinter ihm. Eilig drehte er sich um. Da stand sein Meister und musterte ihn scharf. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck höchster Missbilligung. „Ich kann das …“ begann Alejandro und wurde sogleich von Victor unterbrochen. „Ich bitte um Vergebung, Herr, aber der Cadejo hat mich dazu gezwungen, mich in Euch zu verwandeln. Ich habe ihm gesagt, dass das nicht recht wäre, aber er wollte nicht auf mich hören.“ „Was?“ Alejandro fuhr zu dem Inkubus herum. „Pinche cabrón! Me engañaste!“ Er sah, wie Victor ihn heimlich angrinste. Mit weit aufgerissenen Augen wirbelte er wieder herum. „Herr, bitte glaubt mir. Er lügt. Ich habe nichts gemacht!“ Sein Meister atmete tief durch. „Und doch bist du derjenige, der mir hier seinen steifen Schwanz präsentiert wie ein Soldat das Gewehr. Bei ihm kann ich nichts dergleichen ausmachen. Wie erklärst du dir das?“ „Ich … er wollte mich verführen!“ Sein Herr ließ ein abfälliges Schnauben hören. „Ach und warum sollte er das tun? Du hast nicht die Macht, ihn zu füttern. Warum sollte er sich dir hingeben? Sicherlich nicht, weil du so besonders ansehnlich bist, oder?“ Alejandro öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber dann schloss er ihn wieder und senkte den Kopf. Er wusste, dass er auf verlorenem Posten stand. Er hörte, wie sein Meister neben ihn trat. Instinktiv ließ er den Kopf noch ein wenig tiefer sinken. Eigentlich hätte er ebenfalls auf die Knie gehen müssen, aber er konnte sich nicht rühren. Er hörte seinen Meister leise seufzen. „Wirklich, mein kleiner Cadejo, ich bin enttäuscht. Habe ich dir nicht alles gegeben? Habe dir meine wertvolle Zeit geschenkt, habe dich über deine Brüder erhoben und so dankst du es mir? Indem du mich benutzt? Dich hinter meinem Rücken über mich lustig machst? Ist das der Lohn für meine Zuneigung und Güte?“ „Nein, Herr“, wagte er zu antworten. „Ich … ich wollte nicht … Ich habe nur …“ „Herr, wenn Ihr erlaubt?“ Victors Stimme klang von irgendwo sehr weit her. „Ich glaube, dem Cadejo war nicht klar, was er da tat. Er bewundert Euch über alle Maßen, Herr, und möchte Euch nahe sein. Vielleicht ist sein Wunsch, Euer Bett zu teilen, nur einfach für einen Moment übermächtig geworden.“ Der Blick seines Meisters richtete sich wieder auf ihn. Er konnte es spüren wie einen Gluthauch, der über seine Haut strich. „Ist das wahr?“ Was sollte er antworten? Es war eine Lüge, aber eine Lüge, die ihm vielleicht den Hals rettete. Also nickte er. „Mhm, interessant.“ Für einige Augenblicke konnte Alejandro nichts hören, außer dem Wimmern der Sukkubus im Hintergrund. Er hatte sie schon fast vergessen. Vielleicht sollte er die Aufmerksamkeit seines Meisters auf sie richten. Auf die Aufgabe, die er gut erledigt hatte. Vielleicht … „Ich glaube, das kann ich dir vergeben.“ Sein Kopf ruckte nach oben und er starrte seinen Meister unverhohlen an. „Das würdet Ihr tun?“ Ein leichtes Lächeln erschien auf dem wunderschönen Gesicht. „Natürlich. Trotzdem bleibt das Problem, dass du den Inkubus zu diesem Frevel angestiftet hast. Das kann ich nicht einfach so durchgehen lassen.“ Noch bevor Alejandro darauf antworten konnte, dass er jede Strafe mit Freuden annahm, hob sein Herr die Hand und hinderte ihn daran, auch nur einen Ton zu sagen. „Damit du dich in Zukunft gut daran erinnerst, dass es mich nur einmal geben kann, werden wir ein kleines Spiel spielen. Was hältst du davon?“ Alejandro schlug die Augen nieder. „Was immer Ihr für angemessen haltet, Herr.“ „Gut, dann dreh dich um und warte, bis ich dir erlaube, uns wieder anzusehen. Wenn du es tust, wirst du herausfinden müssen, wer von uns dein wahrer Herr ist. Schaffst du das, wirst du eine Belohnung erhalten. Wenn du falsch rätst, werde ich dich bestrafen.“ „Aber Herr, wie …“ „Indem du deinen Kopf benutzt, mein kleiner Cadejo. Also los, denk nach. Zeig mir, dass in dir mehr steckt als ein schwächlicher, winselnder Köter.“   Alejandro hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Er atmete flach und sein Herz schlug ihmn bis zum Hals. Das hier war eine Chance. Seine Chance, sich seinem Herrn zu beweisen. Er hatte schon so oft versagt in den letzten Tagen, das das hier alles wieder gutmachen würde. Er wusste es einfach. „Du darfst dich umdrehen.“ Langsam kam er der Aufforderung nach. Vor ihm stand sein Herr. Zweimal. Es war fast ein wenig unheimlich. Er sah von einem zum anderen, aber es war wirklich kein Unterschied erkennbar. Wie auch immer sein Herr es geschafft hatte, trug er jetzt die gleiche Kleidung wie der Inkubus. Somit waren die beiden daran nicht mehr zu unterscheiden. Vorsichtig näherte er sich und witterte ein wenig in ihre Richtung. Leider standen sie so nahe nebeneinander, dass sich ihre Aromen vermischten. Er war sich sicher, einen Unterschied erschnuppern zu können, aber dazu hätte er ungebührlich nahe kommen müssen. Das wagte er nicht. Es sei denn … Alejandro grinste. Natürlich. Wenn er in seiner Dämonenform war, waren seine Sinne viel schärfer. Ohne um Erlaubnis zu bitten, verwandelte er sich. Seine Umgebung erhob sich über ihn, er wurde kleiner und kleiner, sein Rücken krümmte sich, die Beine wurden kürzer, das Gesicht länger und schließlich stand er als Hund vor seinem Herrn und dem Inkubus. Er hob die Nase und wusste sofort, welcher von beiden sein wahrer Meister war. Alejandro lief zu ihm und setzte sich vor ihn hin. Fast hätte er mit dem Schwanz gewedelt, aber er beherrschte sich im letzten Augenblick. Sein Herr lächelte auf ihn herab. „Das hast du gut gemacht, mein kleiner Cadejo. Dafür wirst du jetzt deine Belohnung erhalten. Ich werde dir einen deiner sehnlichsten Wünsche erfüllen. Möchtest du das?“ Alejandro unterdrückte den Impuls, zur Antwort zu bellen. Stattdessen machte er Anstalten, sich zurückzuverwandeln. „Nein warte. Ich möchte, dass du in dieser Form bleibst.“ Alejandro gab ein fragendes Jaulen von sich. Hatte sein Herr nicht gerade versprochen … Seine Augen weiteten sich, als sich sein Meister von ihm abwendete und sich stattdessen an Victor wandte. „Wenn du so freundlich wärst?“, sagte er zu dem Inkubus und dieser begann sich zu verändern. Er wurde kleiner, hagerer, seine Haut wurde wieder dunkler und dann … Alejandro kläffte empört. Der Inkubus sah aus wie er. Was hatte das zu bedeuten? „Und jetzt möchte ich, dass du gut aufpasst“, ließ sein Meister sich vernehmen. Er trat zu dem jetzt sehr viel kleineren Inkubus, strich ihm mit der Hand durch das Haar und dann beugte er sich vor und küsste ihn. Er zog ihn in seine Arme, ließ seine Zunge zwischen die geöffneten Lippen gleiten und plünderte die fremde Mundhöhle auf eine Weise, die Alejandro heiße und kalte Schauer über den Rücken jagte. Er winselte leise. Mit feuchten, leicht geröteten Lippen löste sein Meister sich wieder aus dem Kuss. Alejandro sah den Ausdruck auf seinem eigenen Gesicht und wusste, dass dies die höchste Erfüllung bedeutet haben musste. Eine Erfüllung, die nicht ihm zuteil geworden war. Sein Meister kniete sich zu ihm herab und flüsterte: „Siehst du es jetzt? Du gehörst mir. Ich habe dich erschaffen und ich kann dich auch wieder vernichten. Sogar deine Träume halte ich in meiner Hand und ich allein entscheide, was damit passiert. Ich kann sie wahr werden lassen oder zerstören, ganz wie es mir beliebt. Ist dir das jetzt klar?“ Alejandro versuchte zu nicken. Er war wie betäubt. Ein feines Lächeln umspielte die Lippen seines Herrn. Lippen, die eben noch auf seinem Mund gelegen hatten. „Gut, dann hast du dein Geschenk erhalten. Eine wertvolle Lektion, die dich davor bewahren wird, noch einmal so einen schrecklichen Fehler zu begehen. Und jetzt lauf, mein kleiner Cadejo. Deine Aufgaben hier wird in Zukunft Victor übernehmen. So hast du mehr Zeit, um mir endlich den Engel zu bringen, den ich schon so lange begehre und den du immer noch nicht herbeigeschafft hast.“ Alejandro wirbelte herum und jagte zur Tür hinaus, als wären sämtliche Teufel des achten Höllenkreises hinter ihm her. Sein Herr hatte ihn geküsst. Zumindest beinahe. Er konnte sein Glück kaum fassen. Dafür musste er ihm unbedingt ein Geschenk bringen. Den Engel. Er musste ihn nur noch finden und dann würde sein Herr ihn dieses Mal vielleicht wirklich küssen. Seine echten Lippen, seinen echten Mund. Endlich.     Als der Cadejo verschwunden war, verwandelte Victor sich wieder zurück. Er verbeugte sich leicht vor seinem Herrn. „Ich sagte Euch doch, dass er nur den richtigen Anreiz braucht. Er wird Euch nicht wieder enttäuschen.“ Ein versonnenes Lächeln antwortete ihm. „Mein lieber Victor, mir scheint, dass ich dich ein wenig unterschätzt habe. Man wird noch dich zum 'Herrn der Lügen' ernennen.“ „Ihr schmeichelt mir. Niemand kann es wagen, sich je mit Euch gleichzustellen.“ Sein Herr und Meister lachte auf. „Ich werde dich daran erinnern.“ Im Hintergrund hörte man die Sukkubus im Engelsbrecher schreien.           Gabriella starrte immer noch auf das Bett, als sich die Tür hinter ihr öffnete. Sie straffte sich und hoffte, dass man ihrem Gesicht nicht allzu viel von dem ansah, was ihr gerade durch den Kopf ging. „Hey“, sagte sie und versuchte fröhlich zu klingen. „Was hab ich verpasst? Hat Marcus noch etwas erzählt?“ Sie hatte Michael mit etwas Mühe davon abhalten können, das Gespräch zwischen den beiden jungen Männern zu unterbrechen. Ihr war klar gewesen, dass die beiden die Zeit allein brauchten. Es hatte sie davon abgelenkt, was sie dann nur umso stärker angefallen hatte, nachdem sie allein in das Motelzimmer zurückgekehrt war. Als sie Michael jetzt mit Angelo hereinkommen sah, wusste sie plötzlich, dass sie wohl insgeheim gehofft hatte, dass ihr Mann ihr folgen würde. Dass er wissen würde, wie es in ihr aussah. Aber das war natürlich Unsinn. Wenn sie wollte, dass er wusste, was sie beschäftigte, musste sie ihm das sagen. „Wir haben vielleicht eine Spur“, antwortete Michael auf ihre Frage. „Allerdings wird Marcus uns spätestens morgen Mittag melden. Wir sollten also packen.“ „Okay“, gab sie zurück und drehte sich wieder um, um das T-Shirt zusammenzulegen, in dem sie heute Nacht geschlafen hatte. Sie hörte, wie Michael im Badezimmer verschwand. Das bedeutete, dass sie und Angelo allein waren. Gabriella merkte, wie ihr Herz anfing, schneller zu schlagen. „Gabriella?“ Angelos Stimme war leise, sanft. Wie fast immer. Warum hatte sie es nicht erkannt? Nichts geahnt? „Ist alles in Ordnung?“ Sie atmete bewusst aus und legte einen sorglosen Gesichtsausdruck auf. „Natürlich. Was soll sein?“ Erst, als er neben sie trat und den Arm nach ihr ausstreckte, drehte sie sich zu ihm herum. Seine blauen Augen sahen sie forschend an. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, dass sie das Gefühl hatte, er würde ihre Seele ansehen. Angelo schüttelte leicht den Kopf. „Es ist nicht in Ordnung. Du hast etwas. Ich spüre es. Du bist … bedrückt.“ „Ich …“ Sie wusste nicht, wie sie es erklären sollte. „Ist es wegen mir? Wegen dem, was ich bin?“ Gabriella fühlte sich unfähig, ihm zu antworten. Schließlich nickte sie langsam. Er sah sie nur an und wartete. Irgendwann öffnete sie den Mund und begann zu sprechen. „Als ich ein Kind war, lebte ich noch mit meinen Eltern in Italien. Auch meine Großeltern lebten bei uns und meine Großmutter … sie war eine fromme Frau. Sie las mir oft aus der Bibel vor, ging mehrmals in der Woche zur Kirche. Ich weiß noch, wie sie mir zum sechsten Geburtstag ein Heiligenbildchen schenkte. Ich hätte enttäuscht sein können, aber sie war so überzeugt davon, dass mich dieser Heilige vor schlimmen Unheil bewahren würde, dass ich das Bild über mein Bett hängte und jeden Abend ansah, bevor ich einschlief. Auf dem Bild war … ein Engel zu sehen. Ein großer, beeindruckender Mann im weiten Gewand mit weißen Flügeln, die sich wie ein Schutzschild über die Menschen zu seinen Füßen ausbreiteten. Ich … ich habe dieses Bild immer als tröstlich empfunden.“ Sie brach ab und sah Angelo ein wenig hilflos an. Er legte den Kopf schief. „Und jetzt bist du enttäuscht, weil ich nicht so bin?“ „Was? Nein!“ Sie lachte plötzlich, obwohl ihr nicht danach war. „Ich … es ist nur so seltsam, wenn ich mir vorstelle, dass du ein solches Wesen sein sollst und dass wir …“ Ihr Blick wanderte zum Bett. Sie atmete erneut tief durch. „Es fühlt sich ein wenig so an, als hätte ich in die Schale mit Weihwasser gespuckt oder wäre am Sonntag ohne Unterwäsche zur heiligen Messe gegangen.“ Als er nicht antwortete, drehte sie sich wieder zu ihm herum. Sein Blick war merklich tiefer gerutscht und als er bemerkte, dass sie ihn ansah, wurde er plötzlich rot. „E-entschuldige. Das mit der Unterwäsche hat mich irgendwie abgelenkt.“ Sie musste erneut lachen, aber dieses Mal war ihr Lachen echt. „Angelo!“, rief sie und versuchte, rechtschaffen empört zu klingen. Er zog den Kopf zwischen die Schultern. „Tut mir leid. Ich … ich weiß ja selbst nicht so ganz, was ich mit dieser Neuigkeit anfangen soll. Ich fühle mich nicht wie der Mann von deinem Bild.“ „Stimmt, dir fehlen definitiv die Flügel.“ Gabriella musterte ihn für einen Augenblick und sie musste zugeben, dass es ihr nicht schwerfiel, sie sich vorzustellen. Groß. Weiß. Beeindruckend. Wie es sich anfühlen würde, sich in seinen Armen geborgen zu fühlen. „Tut mir leid“, sagte er noch einmal. „Das mit den Flügeln meine ich.“ Gabriella schmunzelte. „Ich glaube, die wären auch nicht besonders praktisch.“ „Vermutlich nicht.“ Er lachte leise. „Stell dir nur vor, ich würde versuchen, damit zu schlafen. Oder auch nur durch eine Tür zu gehen.“ „Schwimmen gehen.“ „Auto fahren.“ „Einen Aufzug benutzen.“ Angelo legte die Stirn in Falten. „Ob ich den dann noch bräuchte? Andererseits wären die Leute bestimmt nicht begeistert, wenn man immer durch das Fenster zu ihnen hineinstiege.“ „Eine Mitgliedschaft im Mile-High-Club wäre mit ziemlicher Sicherheit auch ausgeschlossen.“ Gabriella stutzte, als ihr bewusst wurde, was sie da gerade gesagt hatte. Flirtete sie etwa schon wieder mit ihm? Angelo sah sie fragend an. „Was ist der Mile-High-Club?“ „Ähm, das ist … nicht so wichtig. Es hat etwas mit Flugzeugen zu tun.“ Er runzelte die Stirn. „Vielleicht ist das der Grund, warum Engel heutzutage keine Flügel mehr haben. Weil ihr Menschen inzwischen viel schnellere Wege erfunden habt, um von einem Ort zum anderen zu kommen.“ Angelo unterbrach sich und sah sie an. „Es ist komisch, das zu sagen. Ihr Menschen. Als würde ich nicht dazu gehören. Dabei fühle ich mich nicht anders als vorher. Ich bin immer noch ich. Auch wenn ich nicht weiß, wer ich eigentlich wirklich bin.“ Gabriella hob die Hand und streichelte sanft über seine Wange. „Das macht nichts. Ich glaube, das wissen die wenigsten von uns.“ „Uns?“ Sie lächelte tapfer. „Ja, uns. Denn auch, wenn du ein Engel bist, gibt es doch immer noch ein uns, denke ich. Ich … würde mich auf jeden Fall freuen, wenn es so wäre.“ Er trat näher und zog sie in eine Umarmung „Ich auch“, flüsterte er. „Ich …“ „Braucht ihr noch etwas von den Sachen im Badezimmer … oh.“ Michael war hereingekommen und strotzte nur so vor Tatendrang. Als er sie entdeckte, stutzte er kurz, bevor ein Lächeln über sein Gesicht glitt. „Alles klar bei euch?“ „Ja“, antwortete Gabriella und wollte sich schon von Angelo losmachen, als er sie festhielt. Er sah ihr für einen Augenblick tief in die Augen, bevor er sich vorbeugte und einen Kuss auf ihren Lippen platzierte. Als er den Kuss wieder löste, wagte Gabriella zuerst nicht zu atmen. Dieser Kuss war … anders gewesen. Es lag ein Versprechen darin. Eine Aussage, die ihr Herz ein wenig stolpern ließ. Angelo sah sie noch für einen Augenblick an, bevor er sie freigab und sich wieder Michael zuwandte. Er schickte ihr noch einen kleinen Blick und ein Lächeln und sie konnte nicht anders, als es zu erwidern. Ein Engel, in der Tat. Ein zerzauster, wunderschöner, liebenswerter Engel, der ihre Hilfe brauchte bei was auch immer sein Auftrag war. Gabriella atmete tief durch, um zurückzudrängen, was in ihr aufwallte. Es war notwendig, jetzt einen kühlen Kopf zu bewahren. Immerhin hatte Michael gesagt, dass dieser Marcus die Polizei verständigen würde und Gabriella hatte nicht vor, sich in einem schäbigen Motel verhaften zu lassen wie irgendeine Drogenschmugglerin oder was auch immer. Jetzt war Handeln angesagt.   „Also was wissen wir?“, fragte sie, als sie die beiden Männer zu einem Kriegsrat zusammengerufen hatte. Sie und Angelo saßen je auf einem der Betten, während Michael sich den altersschwachen Sessel herangezogen hatte. Das Möbelstück ächzte etwas unter seinem Gewicht. „Angelo ist offenbar ein Engel“, sagte er und schickte ihm noch einen Blick, als wäre ihm auch gerade erst aufgefallen, wie verrückt das eigentlich war. „Und dieser Marcus ist … ebenfalls einer?“ Angelo verneinte. „Er ist ein Nephilim. Ein Halbengel. Seine Mutter war ein Mensch.“ „War?“, hakte Gabriella nach. Angelo wirkte ein wenig beklommen. „Wenn ein Engel mit einer Sterblichen ein Kind zeugt, überlebt die Mutter in der Regel die Geburt nicht. Es ist unter anderem deswegen verboten.“ Gabriella brauchte einen Moment, um die Neuigkeit zu verdauen. Anscheinend gab es doch mehr Unterschiede, als ihr im ersten Moment klar gewesen waren. Was mochte noch alles in Angelo stecken? Wie groß waren seine Fähigkeiten? Was davon konnte ein Risiko für sie darstellen? Was ihnen helfen? „Also leben Engel normalerweise im Zölibat?“, fragte sie, um ihre Gedanken zu überspielen. Angelos Unbehagen schien größer zu werden und auch Michael sah plötzlich so aus, als wäre ihm erst jetzt wirklich bewusst geworden, dass sie möglicherweise eine unsichtbare Grenze überschritten hatten. „Ich … ich weiß es nicht genau“, antwortete Angelo schließlich langsam. „Mein Wissen darüber, was es heißt, ein Engel zu sein, ist immer noch sehr lückenhaft. Ich konnte Marcus auch erst als das erkennen, was er war, als ich die Rüstung angelegt habe. Vorher war ich ebenso blind wie ihr.“ Da war es wieder, dieses unbehagliche ihr. Gabriella sah, dass es ihm wehtat, es auszusprechen. Sie schenkte Angelo ein aufmunterndes Lächeln.. Michael räusperte sich. „Und dieser Engel, also Marcus’ Vater, ist offenbar niemand anderes als der Kerl vom FBI, der hinter uns her ist. Ich verstehe nur noch nicht so ganz, warum sie ihn jagen.“ Gabriella überlegte. Nach dem, was ihr Angelo erzählt hatte, gab es für sie da nur eine mögliche Theorie. „Ich denke, dass sie glauben, dass er ein gefallener Engel ist. Und nach allem, was er mir so erzählt hat, ist das nicht einmal unwahrscheinlich.“ Angelo und Michael sahen sie beide erstaunt an. Sie lachte. „Ihr kennt die Geschichte doch, oder? Dass sich einst ein Teil der Engel gegen Gott aufgelehnt haben soll und daraufhin aus dem Himmel verbannt wurde. Ihr Anführer wird allgemein hin als der Teufel bezeichnet.“ Für einen Moment machte sich Schweigen breit. „Soll das heißen, Angelo ist einer von den Bösen?“ Michael schüttelte entschieden den Kopf. „Das kann ich nicht glauben. Warum sollten dann die Dämonen hinter ihm her sein?“ Gabriella zuckte mit den Achseln. „Vielleicht wollen sie ihn auf ihre Seite ziehen.“ Angelo selbst war ein wenig blass geworden. Er starrte auf den schmutzigbraunen Teppichboden. „Ich glaube das nicht“, widersprach Michael jetzt vehement. „Ich denke vielmehr, dass Angelo hierher geschickt wurde, um etwas in Ordnung zu bringen.“ Er blickte Gabriella ein wenig unsicher an. „Wir … wir haben vorhin über Jeff gesprochen.“   Gabriella musste bei der Nennung des Namens ein wenig schlucken. Als sie und Michael sich kennengelernt hatten, hatte er sich immer noch nicht vollkommen von den Folgen des schweren Unfalls erholt. Er musste Übungen zur Wiederherstellung der Beimuskulatur machen und nach ungefähr einem halben Jahr noch einmal operiert werden, um die Drähte und Schrauben zu entfernen, die sein zertrümmertes Bein in der Zeit stabilisiert hatten. Sie hatten darüber gesprochen, wie es dazu gekommen war und somit natürlich auch über Jeff. Michaels besten Freund, der ihn immer noch wie ein Schatten aus der Vergangenheit zu begleiten schien. Wegen dem er nachts aus Alpträumen aufgewacht war. Wieder und wieder und wieder. Gabriella hatte gesehen, wie Michael litt, und sie hatte das getan, was ihr sinnvoll erschien. Sie hatte ihm geraten, Jeff zu vergessen. Hatte ihm gesagt, dass es nicht seine Schuld gewesen war. Hatte ihm sogar damit gedroht, ihn zu verlassen, wenn er das Kapitel nicht endlich abschloss. Manchmal hatte sie sich im Nachhinein gefragt, ob seine Eröffnung, dass er sich nach der körperlichen Nähe von Männern sehnte, etwas mit Jeff zu tun hatte. Ob er ihn auf diese Weise noch einmal zurückholen wollte. Sie hatte ihn nie danach gefragt. Vielleicht weil sie Angst vor der Antwort gehabt hatte. Weil sie gedacht hatte, das Thema endgültig ruhen zu lassen, statt es wieder hervorzuzerren und damit alles nur noch zu verschlimmern. „Jeff?“, fragte sie und ihre Stimme klang überraschend fest. „Was hat er mit der ganzen Sache zu tun?“ Michael atmete tief durch. „Ich habe mir überlegt ... dass er es vielleicht gewesen sein könnte, der Angelo zu uns geschickt hat.“ „Du meinst so etwas wie einen Geist?“ Gabriella wusste nicht, wie sie das finden sollte. Andererseits, wenn es Engel und Dämonen gab, warum dann nicht auch Geister? Es war jedoch Angelo, der Michael widersprach. „Das glaube ich nicht“, sagte er leise. „Ich … ich weiß nicht genau, wie das dort oben alles so funktioniert, aber ich glaube nicht, dass …“ „Aber warum solltest du sonst ausgerechnet zu mir kommen?“ ereiferte sich Michael. „Du hast selbst gesagt, du hättest mich gesucht und dass du einen Auftrag hättest. Die Umstände von Jeffs Tod sind meines Erachtens viel zu verdächtig, um nichts damit zu tun zu haben. Außerdem ist da noch die Sache mit dem Engelsbrecher. Willst du mir sagen, dass das alles nur Zufall ist?“ Angelo schüttelte stumm den Kopf. Gabriella konnte ihm ansehen, dass er mit sich rang. Irgendetwas beschäftigte ihn. Als sie ihn danach fragte, senkte er den Blick. „Ich … ich spüre, dass Michael diese Sache sehr wichtig ist. Es spricht einiges dafür, der Spur nachzugehen. Aber ich sehe auch, dass du dich nicht wohl damit fühlst. Außerdem würde es euch beide in Gefahr bringen, wenn wir wieder zurückfahren. Vielleicht, um nichts dort zu finden. Es wäre ein großes Risiko.“ „Und du? Was möchtest du tun?“ Angelo brauchte einen Augenblick, bevor er antwortete. Als er Gabriella ansah, lag Bedauern in seinem Blick. „Ich würde es gerne versuchen. Es behagt mir nicht, dass es gefährlich für euch werden könnte, aber ich würde lieber auf etwas zulaufen als vor etwas weg.“ Gabriella musterte ihn. Er schlug die Augen nieder und sah sie von unten herauf an. Schickte ihr ein zaghaftes Lächeln, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er sie überstimmt hatte. Ein Lächeln, das sie um Nachsicht bat und um ihre Unterstützung im Kampf gegen was auch immer sich ihnen in den Weg stellen würde. Sie sah zu Michael und auch dort lag eine stumme Bitte in seinem Blick. Er hatte Jeff damals ihr zuliebe aufgegeben. Aber vielleicht … vielleicht hatte sie sich getäuscht. Vielleicht musste dieser Geist aus der Vergangenheit nicht unbedingt etwas Schlechtes bedeuten. Vielleicht wurde es Zeit, endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen. „Also schön“, sagte sie schließlich und bemerkte dabei die Erleichterung, die auf den Gesichtern der beiden Männer erschien. „Fahren wir zurück nach Hause.“ Kapitel 15: Schatten der Vergangenheit -------------------------------------- Als die ersten Ausläufer des Virgin River Valley in Sicht kamen, musste Michael lächeln. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er das letzte Mal mit Angelo hier entlang gefahren war. Sie hatten es sogar gewagt, vorhin in der gleichen Tankstelle wie beim letzten Mal zu frühstücken, obwohl Gabriella eingeworfen hatte, dass es sicherlich nicht gut war, so offensichtliche Spuren zu hinterlassen. Es war trotzdem toll gewesen mit ihr zusammen an dem gleichen Tisch zu sitzen und Angelo erneut dabei zuzusehen, wie er Unmengen von Pancakes in sich hineinschaufelte. „Ich möchte wissen, wo du das alles lässt“, hatte Gabriella lachend gemeint und Angelo hatte gegrinst und sich noch ein siruptriefendes Stück zwischen die Zähne geschoben. „Vielleicht muss ich meine Engelsbatterien aufladen“, hatte er anschließend geantwortet und Gabriella hatte erwidert, das sie so etwas auch dringend bräuchte.   Jetzt saßen sie wieder im Wagen mit Gabriella auf dem Beifahrersitz und Angelo auf der Rückbank zwischen ihnen. Michael bemerkte, dass er wieder hinaussah und die unglaubliche Landschaft mit den Augen aufsog. „Soll ich mal anhalten?“, fragte Michael aus einem Gefühl heraus. Im Rückspiegel sah er Angelo lächeln. „Nein, das ist nicht notwendig. Ich … ich werde hoffentlich später irgendwann mal Zeit haben, mir das anzusehen.“ „Ich habe nur gedacht, weil es hier in der Nähe einen Platz gibt, der sich Angel’s Landing nennt. Die Aussicht von da oben soll beeindruckend sein. Fast so, als könne man fliegen. Er liegt im Zion National Park.“ Angelo schien einen Augenblick über das Gehörte nachzudenken. „Zion ist Hebräisch und bedeutet so viel wie Zufluchtsort oder Heiligtum.“ Er schwieg eine Weile, bevor er plötzlich zu Gabriella sagte: „Kannst du mir mehr von dem erzählen, was dir deine Großmutter früher vorgelesen hat?“ „Mhm“, machte sie und schürzte die Lippen. „Ich bin mir sicher, dass ich einen großen Teil davon schon vergessen habe, aber ich kann es versuchen. Hattest du etwas Bestimmtes im Sinn?“ „Was weißt du über Engel?“ Gabriella überlegte einen Augenblick, bevor sie zu erzählen begann. „Es gibt einige Stellen aus der Bibel, in denen ein Engel vorkommt. Die meisten, die ich kenne, erzählen davon, wie ein Engel den Menschen eine Botschaft von Gott überbringt.“ „Das macht Sinn“, murmelte Angelo. „Angelos ist altgriechisch für Bote oder Abgesandter.“ Gabriella schickte Michael einen kurzen Blick, bevor sie fortfuhr. „Eine der Geschichten, von der mir meine Großmutter immer wieder erzählte, ist die Stelle, an der ein Engel Maria erscheint, um ihr zu verkünden, dass sie den Sohn Gottes zur Welt bringen wird. Die Worte, die er damals an sie gerichtet haben soll, finden sich in einem der bekanntesten Gebete wieder, dem Ave Maria. Der Name des Engels war übrigens Gabriel.“ „Gabriel?“, fragte Michael nach. „Du wurdest nach einem Engel benannt?“ Sie lachte. „Eigentlich nach meinem Großvater väterlicherseits. Aber du teilst dir deinen Namen auch mit einem der bekannteren Engel, wusstest du das nicht?“ Michael schüttelte den Kopf. In seinem Zuhause war die Bibel nie ein Thema gewesen. Natürlich hatten sie Weihnachten gefeiert und all das, aber der Hintergrund dieser Feste hatte bei ihnen nur wenig bis gar keine Rolle gespielt. „Warte, ich schau mal, was es zu den beiden so zu sagen gibt.“ Gabriella zückte ihr Handy und rief eine Suchmaschine auf. Michael warf einen kurzen Blick zu Angelo. „Darf ich vorstellen? Die zweite Realität dieser Welt. Das Internet.“ Angelo lächelte. „Ich glaube, davon habe ich schon gehört.“ In diesem Moment gab Gabriella einen überraschten Laut von sich. „Also zum einen steht hier, dass Gabriel der Schutzheilige der Post und der Müllmänner ist. Das werde ich unserem Entsorgungsfacharbeiter mal unter die Nase reiben, wenn er sich das nächste Mal weigert, unsere Tonne mitzunehmen, nur weil sie nicht um Punkt sechs Uhr an der Straße stand. Gabriel war außerdem nach islamischem Glauben der Engel, der Mohammed das Wort Gottes diktiert hat, und sogar unsere lieben Nachbarn kennen Gabriel, der sich laut ihren Lehren im biblischen Noah manifestiert hat.“ „Du meinst den Typen, der die Arche gebaut hat?“ „Ja genau den.“ Michael hob die Augenbrauen. „Na das war ja ein umtriebiges Kerlchen. Erinnert mich ein bisschen an dich.“ Er grinste Gabriella an. „Und warum warst du jetzt so überrascht? Weil du der Schutzheilige von UPS bist?“ „Nein, es ging darum, dass laut jüdischen Überlieferungen Michael und Gabriel die beiden Engel waren, die nach Sodom und Gomorrha gingen. Gabriel, um die Stadt zu zerstören, und Michael, um Abrahams Neffen Lot zu retten.“ „Ha, ich wusste es“, rief Michael mit einem Lachen. „Michael ist der Nette von den beiden.“ „Nun ja, das ist wohl Ansichtssache“, erwiderte Gabriella schmunzelnd. „Michael wird im christlichen Glauben immerhin als Anführer der himmlischen Heerscharen angesehen. Er ist der Schutzpatron der Soldaten und führt außerdem ein Verzeichnis über die guten und schlechten Taten eines jeden Menschen. Die wohl bekannteste Geschichte ist jedoch die, in der er den abtrünnigen Luzifer in der Gestalt eines großen Drachen besiegt und für immer aus dem Himmel verbannt.“ Michael warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, dass Angelos Gesicht sich verfinstert hatte. Irgendetwas an dieser Sache schien ihn zu beunruhigen. „Wie kam es dazu, dass sich einige der Engel von Gott abwandten?“, wollte er schließlich wissen, noch bevor Michael ihn danach fragen konnte. Gabriella musste einen Augenblick überlegen. „Ich habe mal gelesen, dass die Abspaltung der gefallenen Engel mit der Erschaffung des Menschen zusammenhing. Diese Engel, allen voran Luzifer, weigerten sich, die Menschen als Krone der Schöpfung zu verehren, da sie sich selbst für weit überlegen hielten. Sie rebellierten gegen den Willen Gottes und wurden daher im Zuge einer großen Schlacht aus dem Himmel verbannt. Aus Rache soll Luzifer die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies erwirkt habe, indem er sie dazu verführte, vom Baum der Erkenntnis zu essen, was Gott den beiden vorher verboten hatte. “ „Das heißt also, dieser Luzifer war nicht nur eingebildet und eifersüchtig, sondern auch noch ein schlechter Verlierer“, schlussfolgerte Michael. „Ich würde sagen, dann war seine Strafe wohl verdient.“ „Und worin bestand diese Strafe?“ Michael blieb das Lachen, das er gerade noch auf den Lippen gehabt hatte, buchstäblich im Halse stecken. Angelo klang absolut ernst. „Nun ja“, gab Gabriella zögernd zurück. „Da gibt es die Verbannung in die Hölle, nicht mehr Teil der Schöpfung zu sein, gebrandmarkt, ausgestoßen, von allen anderen Kreaturen verachtet ...“ Michael entging nicht, dass Angelo hinter ihnen immer stiller wurde. Es war eine ungute Art von Ruhe, die ihn alarmiert in den Rückspiegel sehen ließ.   Angelos Gesicht war blass geworden. Michael legte Gabriella die Hand auf den Arm und wies mit dem Kopf nach hinten. Als sie sich umdrehte, sah er auf ihrem Gesicht die Bestürzung über Angelos Zustand. „Hey, ich wollte damit nicht sagen, dass du so bist. Aber du hast gefragt und ...“ „Schon gut“, kam es leise von der Rückbank. „Du hast recht, ich hatte gefragt.“ Eine unangenehme Stille breitete sich im Auto aus, während die Berge an ihnen vorbeiglitten und der Asphalt unter ihnen hinwegrauschte. Irgendwann hielt Michael es nicht mehr aus. „Hey, Angelo, sieh mich an.“ Ernste, blaue Augen begegneten ihm im Rückspiegel. „Es mag ja sein, dass du nach der Definition irgendwelcher alter Männer kein Musterengel bist. Aber seit du hierher gekommen bist, habe ich nichts feststellen können, dass an dir irgendwie böse wäre. Im Gegenteil. Du hast mich und Gabriella vor diesem Ding im Pool gerettet.“ „Das nicht zu euch gekommen wäre, wenn ich nicht gewesen wäre.“ Michael seufzte. Anscheinend wollte Angelo es nicht verstehen. „Das ist doch unerheblich. Du hast uns geholfen. Du hilfst uns jetzt bei dieser Sache mit Jeff. Vielleicht haben die anderen Engel einfach das Memo noch nicht bekommen, dass es okay ist, dass du hier bist. Ich meine, vielleicht hat der Schutzpatron der Post da einfach ein bisschen gepennt.“ Er bekam von Gabriella einen Knuff und sah, dass auch Angelo wieder zaghaft lächelte. „Also schön“, sagte er. „Ich versuche, mich nicht von der Vorstellung auffressen zu lassen, dass ich möglicherweise den größten Frevel von allen begangen habe und jetzt ein geächteter Gesetzloser bin, auf den mit großer Wahrscheinlichkeit ein himmlisches Kopfgeld ausgesetzt wurde. Aber zu unserer Sicherheit sollten wir vielleicht davon ausgehen, dass die anderen Engel das so sehen." Michael entging nicht, dass Angelo zum ersten Mal davon gesprochen hatte, dass es um ihrer aller Wohlergehen ging und nicht nur um das von Gabriella und ihm. Das machte Michael Hoffnung. „Du wirst schon sehen, wir kriegen das hin“, sagte er zuversichtlich. „Als erstes werden wir mal sehen, ob Jeffs alte Professorin noch am College ist und ihr etwas auf den Zahn fühlen. Außerdem habe ich in etwa eine Ahnung, wo er nach diesen Gruselmaschinen suchen wollte. Es gibt einen Teil des Colleges, der nach einem Brand lange stillgelegt war. Inzwischen haben sie ihn wohl renoviert, aber wenn es noch Spuren von dem gibt, was Jeff entdeckt haben will, finden wir es vermutlich dort.“ Er grinste. „Und wenn wir nichts finden, kann ich dir immerhin mal meine alte Schule zeigen. War ’ne lustige Zeit damals. Ich glaube, das hätte dir gefallen.“ Er hörte, wie Gabriella neben ihm schnaufte. „Also wenn du jetzt anfängst, Angelo etwas von deinen früheren Eroberungen zu erzählen, dann schwöre ich, dass ihr beide aussteigt und den Rest der Strecke bis Salt Lake City lauft. Wenn mich das Schild gerade eben richtig informiert hat, sind das noch etwa 250 Meilen.“ „Autsch.“ Michael zog den Kopf ein und zwinkerte Angelo zu. „Du hast die Chefin gehört. Keine anzüglichen Geschichten vor dem Mittagessen.“ Angelo erwiderte nichts, aber das amüsierte Funkeln in seinen Augen gefiel Michael schon sehr viel besser als der betrübte Ausdruck, der vorhin darin gelegen hatte. Ein echtes Lachen musste er sich allerdings verkneifen, als Angelo Gabriella im nächsten Augenblick bat, ihm doch stattdessen die Geschichte von Sodom und Gomorrha zu erzählen. Es blieb eben keine gute Tat unbestraft.       Marcus hatte verschlafen. Das war, soweit er sich erinnern konnte, noch nie vorgekommen. Und obwohl er nur eine halbe Stunde vom panischen Erwachen bis zum letzten Knopf seines Uniformhemdes gebraucht hatte, klingelte just in dem Moment, als er die Wohnung verlassen wollte, sein Telefon. Er überlegte eine Millisekunde lang, bevor er sich entschloss ranzugehen. Von der anderen Seite dröhnte ihm Ted Carter entgegen. „Morgen, Jungchen. Schon aufgestanden?“ „Bin bereits auf dem Weg“, versicherte Marcus, und fuhr sich durch die noch feuchten Haare. „Kannst du dir sparen. McWright hat beschlossen, dich in die Wüste zu schicken.“ „Er hat was?“ Der Captain hatte ihn rausgeworfen? Suspendiert!? „Er brauchte zwei Freiwillige, die sich mit den Lackaffem vom FBI etwa 20 Meilen vor der Stadt treffen, weil die da ’ne Leiche gefunden haben. Ohne Kopf. Kannst du dir das vorstellen? Jetzt machen die ein Riesenbohei darum und wir sollen da antanzen, um denen zu assistieren, was immer das auch heißen soll. Wahrscheinlich die Straße absperren, die es da gar nicht gibt, oder irgendsoeinen Blödsinn. Sollen die den armen Teufel halt eintüten und uns damit in Ruhe lassen. Dafür interessiert sich doch eh keiner. Also wenn ich was zu sagen hätte …“ „Hast du Leiche gesagt?“ Marcus wurde für einen Augenblick übel. Vielleicht war die Milch, die er zusammen mit einer halben Schüssel Cornflakes hinuntergeschlungen hatte, doch schlecht gewesen. „Jupp, Leiche. Mausetot der Kerl. Es fehlt aber, wie gesagt, die Hälfte. Na zumindest hat McWright gesagt, dass wir beide da rausfahren sollen. Ich hole dich also gleich ab. Bis dann.“ In der Leitung klickte es und nur zwei Sekunden später erklang draußen eine Polizeisirene. Warum kann er nicht einfach hupen?, grollte Marcus innerlich. Oder mir sagen, dass ich runterkommen soll. Ganz ehrlich, der Mann hat zu viel Spaß an seinem Job. Er legte das Telefon zur Seite, griff nach seinem Schlüssel und zog die Tür hinter sich zu.   Die Fahrt zum Fundort der Leiche war genauso lang und ereignislos, wie sie es bereits Sonntagnacht gewesen war. Marcus fragte sich insgeheim, wie jemand darauf hatte aufmerksam werden können. Er hatte den Balam mitten ins Nirgendwo gekarrt, ein wirklich tiefes Loch gegraben und die Überreste dort verscharrt. Wer oder was hatte das Ding wieder an die Oberfläche gebracht? Und was noch viel schlimmer war: Wer hatte das FBI dazu eingeladen? Marcus sah seine Vermutung diesbezüglich bestätigt, als sie endlich das Ende der kaum erkennbaren Staubstraße erreichten, das sie zu mehreren dunkeln Fahrzeugen, darunter einen Transporter und einem zivilen Einsatzwagen brachte. Den Beamten, der ganz in vorderster Reihe stand, hätte Marcus auf 300 Meter gegen den Wind erkannt und dazu hätte es nicht den Hauch von Engelsgeruch gebraucht, den eben dieser Wind mit sich brachte. Zum Glück schien sein Vater beschlossen zu haben, so zu tun, als wenn sie sich nicht kannten. Marcus war das nur Recht. Er hielt sich hinter Carter, der mit dem Einsatzleiter des FBI besprach, was er und Marcus hier tun sollten. Es lief im Endeffekt auf „Schaulustige fernhalten und nicht im Weg rumstehen“ heraus. Marcus bezweifelte allerdings stark, dass sich bei den momentan herrschenden Temperaturen, jemand freiwillig hierher begeben würde. „Wie wurde die Leiche denn entdeckt?“, wagte er einen der Typen zu fragen, die auf dem Boden herumkrochen und nach irgendwelchen Reifenspuren suchten. Bevor der antworten konnte, mischte sich bereits eine bekannte, blasiert klingende Stimme in die Unterhaltung ein. „Jemand hat vom Gass Peak aus eine Drohne starten lassen, wurde auf die aufgewühlte Erde aufmerksam und hat daraufhin die Polizei verständigt.“ Erik hatte ihn nicht angesehen, während er das sagte, sondern den Blick irgendwo in die Ferne gerichtet. „War ziemlich dumm vom Täter, einen so offensichtlichen Ablageplatz zu wählen.“ Marcus presste die Kiefer aufeinander. „Was hätte er denn sonst tun sollen? Die Leiche zerstückeln und in Müllcontainern über die ganze Stadt verteilen? Das wäre ja ein Spaß geworden, alle Teile wieder zusammenzusuchen.“ Erik schickte ihm einen Blick durch die dunkle Sonnenbrille. „Er hätte die Leiche verbrennen können.“ „Was mitten in der Nacht bestimmt kaum auffällig gewesen wäre.“ „Vielleicht hätte er dabei um Hilfe bitten sollen.“ „Vielleicht wollte er es ja lieber allein hinkriegen.“ Sie starrten sich einen Augenblick lang an, bevor Marcus den Blick abwandte. „Ich gehe mal die Straße absperren. „Ich glaube, das ist unnötig, Officer Reed.“ „Danke, Agent … wie war doch gleich Ihr Name? Ach wissen Sie was, es ist mir auch egal. Wir werden uns eh nie wieder sehen.“ Mit diesen Worten drehte Marcus sich um und stapfte durch die glühende Hitze in Richtung Straße. Der Schweiß lief ihm schon nach wenigen Metern in Strömen den Rücken herab und er sehnte sich fast nach der drückenden Atmosphäre der Stadt zurück, in der es wenigstens Klimaanlagen gab. Und deutlich weniger arrogante Engel!   Nach drei weiteren Schritten fiel ihm ein, das er seinem Vater sagen könnte, dass er diesen Angelo gefunden hatte. Er hätte ihm die Adresse des Motels geben können, das Kennzeichen des Mietwagens, eine genaue Beschreibung der zu suchenden Personen. Aber etwas in ihm sträubte sich dagegen, das zu tun. Er würde sich um die verdammte Absperrung kümmern und nachher um den entsprechenden Papierkram. Anschließend würde er alles fein säuberlich in den Computer eingeben, seine Schicht durchstehen und dann, kurz vor Feierabend, noch die Suchanzeige aktualisieren, die auf Thompson und den Rest ausgestellt war. Und dann konnte Erik seine Arbeit schön selber erledigen. Marcus würde es nicht für ihn tun. Er war ja schließlich nur ein dummer, kleiner Streifenpolizist. Niemand von Bedeutung. Als er Schritte hinter sich hörte, dachte er, dass Ted Carter ihm gefolgt war. „Gibst du mir mal das Absperrband?“, bat er ihn. Als nichts passierte, drehte er sich um. Vor ihm stand Erik. Dunkler Anzug, Sonnenbrille, unbewegte Miene und kein einziger Schweißtropfen. Arschloch. „Du benimmst dich zu auffällig“, sagte sein Vater mit ruhiger Stimme. „Ach wirklich?“, ätzte Marcus. „Dass du jetzt hinter mir herkommst und mit mir ein Schwätzchen hältst, wird natürlich niemand bemerken.“ „Ich habe gesagt, dass ich mit dir die weiteren Details durchgehe. Was im Prinzip heißt, dass du gar nichts tun wirst. Ich werde versuchen, den Fall ohne weitere Nachforschungen abzuschließen. Eventuell muss ich ihn dafür erst einmal eine Weile auf Eis legen, aber der fehlende Kopf erschwert immerhin die Identifikation.“ Marcus schnaubte nur. „Ja, wenigstens das habe ich hingekriegt. Das ist es doch, was du damit sagen wolltest.“ „Ich versuche nur, dich zu schützen.“ „Dann hör auf damit. Ich will deine Hilfe nicht.“ Das Gesicht hinter der Sonnenbrille blieb unbewegt. „Das ist keine persönliche Entscheidung, sondern das Standardverfahren bei Verbrechen, in die Dämonen verwickelt waren. Spuren beseitigen, Erklärungen liefern, die Anwesenheit übersinnlicher Mächte verschleiern. Das ist es, was wir tun. Es wird immer behauptet, es wäre der größte Trick des Teufels, die Menschen glauben zu machen, dass es ihn nicht gibt. Dabei ist das nicht sein Verdienst, sondern unserer.“   Marcus musterte seinen Vater noch einen Augenblick lang schweigend, bevor er sich wieder der Straßensperre zuwandte. Die vollkommen sinnlos war. Er spürte die Blicke in seinem Nacken und hielt sie etwa eine halbe Minute lang aus, bevor er sich wieder umdrehte. „Was?“, schnauzte er. „Willst du jetzt ein Dankeschön? Einen Orden?“ „Der Gefallene ist immer noch verschwunden“, antwortete Erik vollkommen ruhig. „Er ist zusammen mit diesem Thompson auf der Flucht.“ Marcus biss sich auf die Zunge, um nicht mit einem „Was du nicht sagst“ herauszuplatzen. Von ihm würde Erik kein weiteres Wort mehr erfahren. „Das ist kein gutes Zeichen. Ich habe mir die Akte von Thompson mal angesehen.“ „Hab ich auch. Da war nichts“, rutschte es Marcus heraus. Er spürte förmlich, wie sein Vater dieses kleine Lächeln lächelte. Dieses zum Kotzen nachsichtige, mikroskopische Hochziehen der Mundwinkel. Er hasste es, wenn er das tat. „In der menschlichen Akte sicherlich nicht.“ „Ach, gibt es etwa auch Engels-Akten? Und ihr seid dann der HGD, der himmlische Geheimdienst, oder wie?“ „Du bist ein Zweifler, Marcus. Dir fehlt es am richtigen Glauben.“ „Oh, ich muss da nichts glauben. Ich weiß ja schließlich, dass es euch gibt. Und ich kann nicht sagen, dass es mir dadurch besser geht. Im Gegenteil.“ Wieder dieses Lächeln! „Du hast dir gerade selbst den besten Beweis dafür geliefert, dass es für Menschen besser ist, wenn sie nicht wissen, was für Mächte in ihrer Welt am Wirken sind. Sie könnten in Panik ausbrechen. Dumme Dinge tun. Dinge, an denen wir sie hindern müssten.“ Marcus ballte die Hände zu Fäusten. Er war so kurz davor, seinem Vater eine reinzuhauen oder es zumindest zu versuchen. Ob Angelo wohl ebenso schnelle Reflexe hatte wie Erik? Oder nur, wenn er seine Engelskräfte aktivierte. „Woran denkst du?“ Offenbar waren seine Überlegungen ein wenig zu offensichtlich gewesen. „An das, was du über Thompson gesagt hast. Du hast erwähnt, dass es über ihn eine Akte gibt?“ „Er wird in einer Fallakte erwähnt. Der Unfall, bei dem er als Zeuge aufgeführt wurde … das Unglück wurde von einem Dämon verursacht. Er hat den Wagen angegriffen, in dem Thompson und ein gewisser Jeff Fleming saßen. Wir vermuten einen Lufferlang oder einen ähnlichen Arachnoiden hinter der Tat. Der ermittelnde Engel fand einige verdächtige Spinnenweben am Tatort. Wenn es tatsächlich ein Lufferlang war, wurde das Biest vermutlich von den Spiegeln am Auto verjagt, bevor es dazu kam, sein Opfer zu fressen.“ „Und was hat dass jetzt mit Thompson zu tun?“ „Nun, für sich allein genommen scheint das nicht außergewöhnlich zu sein. Er hatte vielleicht einfach nur Glück. Aber dass sich jetzt ein gefallener Engel ausgerechnet an ihn wendet, setzt das Ganze wiederum in ein anderes Licht. Es besteht die Möglichkeit, dass er es damals war, der den Dämon auf seinen Freund angesetzt hat.“ Marcus starrte seinen Vater fassungslos an. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Thompson soll mit Dämonen im Bunde stehen? Das ist lächerlich! Ich habe ...“ Er biss sich auf die Zunge. Beinahe hätte er gesagt, dass er ihn heute Morgen noch gesehen hatte und Michael eher wie ein übergroßer Wachhund denn wie ein durchtriebener Schurke gewirkt hatte. Wenn er ein Problem mit jemandem hatte, klärte er das vermutlich selber und zwar auf eine ziemlich körperliche Art und Weise. Eriks Miene blieb unbewegt. „Du weißt, was die häufigsten Motive für Mord sind?“ „Natürlich. Habgier, Eifersucht, Rache und nicht zu vergessen verletzte Eitelkeit“, betete Marcus mit einem Schnauben herunter. „Letztere wird es bei Thompson wohl nicht gewesen sein.“ „Die beiden hatten Zeugenaussagen zufolge auf der Party, von der sie kamen, einen Streit. Vielleicht sind die Gefühle bei Thompson da ein bisschen hochgekocht und er wollte die Sache ein für alle Mal klären. Oder vielleicht seinem Freund auch nur einen Schrecken einjagen und es ist schiefgegangen. Junge Menschen neigen dazu, Gefahren zu unterschätzen.“ Marcus ignorierte den versteckten Seitenhieb gekonnt. „Selbst wenn … Thompson saß immerhin mit im Auto. Warum hätte er dieses Risiko eingehen sollen?“ „Dämonen halten sich nicht immer an die Abmachungen. Und warum sich nicht gleich vom unliebsamen Auftraggeber befreien? Zwei Fliegen mit einem Netz sozusagen.“ „Mit einer Klappe“, berichtigte Marcus automatisch. Erik stand immer noch wie ein schwarzer Fels in der Wüstenbrandung. „Denkst du wirklich, dass es so war?“ „Ich gebe zu, die Theorie fußt auf keiner besonders stichhaltigen Beweislage. Tatsache ist jedoch, dass er jetzt den flüchtigen Gefallenen versteckt und ihm zur Flucht verholfen hat. Er hat sich damit einiges zu schulden kommen lassen.“ Marcus lachte bitter auf. „Ja, so einfach ist das, oder? Jemand macht etwas falsch und wird dafür bestraft. Auf die Idee, dass er vielleicht trotzdem unschuldig sein könnte, kommt ihr gar nicht, oder? Vielleicht weiß Thompson ja nicht mal, dass A … der Engel einer von euch ist.“ „Er ist keiner von uns.“ Erik wirkte jetzt für seine Verhältnisse regelrecht aufgebracht, was im Klartext bedeutete, dass er die Sonnenbrille abnahm und Marcus ernst ansah. „Die Gefallenen haben sich gegen den Willen Gottes gewandt. Er nahm ihnen daher die Macht zu erschaffen und stürzte sie vom Himmel auf die Erde nieder, wo sie im Staub kriechen und nur noch Tod und Vernichtung über alles bringen. Wir Engel haben die Aufgabe bekommen sie aufzuhalten. Ein Gefallener wird daher immer ein Zerstörer sein, so wie ein Engel ein Bewahrer ist. Es liegt in der Natur der Dinge.“ „Und die Menschen? Wo bleiben die in deinem tollen Schwarz-Weiß-Bild?“ „Die Menschen …“ Eriks Stimme wurde leiser. „Die Menschen erschaffen. Ihnen allein gebührt inzwischen diese Ehre. Aber sie sind zu blind, um das zu erkennen. Sie sehen nicht, was wir ihnen zuliebe aufgegeben haben. Inzwischen sind sie fast ebenso schlimm wie die Gefallenen und die Dämonen, die aus ihrem schwarzen Blut hervorgegangen sind. Sie hören nicht mehr darauf, was wir ihnen zu sagen haben und ignorieren Gottes Wort. Stattdessen nutzen sie ihre Kräfte dazu, sich selbst zu bereichern oder sich gegenseitig Leid zuzufügen. Uns bleibt nur, aus den Schatten heraus dafür zu sorgen, dass das Elend, das sie über sich bringen, allein aus ihnen selbst hervorgeht und nicht noch von den Dämonen angefacht wird. Selbst wenn das bedeutet, dass wir uns dabei die Hände schmutzig machen. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen.“ Marcus war bei Eriks Ansprache ein unschöner Verdacht gekommen. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. „Im Unfallbericht stand, das Fleming Drogen genommen hatte. Entspricht das der Wahrheit?“ Erik musterte ihn schweigend. „Nein, tut es nicht“, sagte er schließlich. „Aber es musste eine Erklärung für den Unfall gefunden werden und auch dafür, dass wir anschließend das Haus und seine Schule durchsucht haben. Wir mussten sichergehen, dass der Angriff des Dämons nicht noch tieferliegende Wurzeln hatte. Es sah jedoch alles nach einem Zufall aus. Wir haben nichts gefunden.“ „Und das Bild, das die Hinterbliebenen von dem getöteten Jungen hatten? War euch das egal?“ „Seine Seele war rein und er wird am Tag des Jüngsten Gerichts gerecht beurteilt werden. Das allein zählt.“ Für einen Augenblick war Marcus einfach sprachlos. So sah sein Vater das? Er konnte das einfach nicht glauben. Erik setzte die Sonnenbrille wieder auf und wandte sich zum Gehen. Im letzten Moment zögerte er und blickte Marcus noch einmal mit diesem engelhaften Ausdruck im Gesicht an. „Manchmal, mein Sohn, ist die Frage, die sich stellt, nicht die, welche Möglichkeit die richtige ist, sondern welche von ihnen das kleinere Übel darstellt. Eine Wahl, vor die wir Tag für Tag wieder gestellt werden und die Entscheidung ist niemals leicht.“   Damit ließ er Marcus stehen und ging zurück zum Fundort der Leiche, die der Gerichtsmediziner inzwischen in einen dieser großen Plastiksäcke verpackt hatte. Marcus sah zu, wie sich der Reißverschluss um den kopflosen Körper schloss und musste unwillkürlich an den Augenblick denken, als er ihn getötet hatte. Ich muss diesen Cadejo finden, dachte er bei sich. Erik war zu sehr damit beschäftigt, Angelo und den Rest zu suchen und hatte Marcus anderer Beobachtung daher kaum Beachtung geschenkt. Aber nachdem, was Crystal so von sich gegeben hatte, schien ein hohes Tier in die Sachen verwickelt zu sein. Vielleicht ebenfalls ein Gefallener? Wahrscheinlich sollte ich Erik davon erzählen. Aber wenn ich das tue, wird er wissen wollen, woher ich meine Informationen habe, und das werde ich ihm garantiert nicht auf die Nase binden. Bei der Erinnerung an seinen Handel mit dem Sukkubus, fühlte Marcus einen Anflug von Wärme in sein Gesicht kriechen. Mal abgesehen von der Fragwürdigkeit seines Handelns hatte er sich austricksen lassen wie ein Schuljunge. Er konnte von Glück sagen, dass Crystals Zauber nicht allzu lange angehalten hatte, sonst hätte ihn womöglich am nächsten Morgen die Putzfrau gefunden. Oder die Hotelgäste, die sicherlich eine unangenehme Überraschung hatten, als sie ihr Motelzimmer beziehen wollten. Für einen Moment sah er Angelo vor sich und fragte sich, ob sich hinter den unschuldigen, blauen Augen wohl wirklich das Scheusal verbarg, das Erik dort vermutete. Aber dann beschloss er, dass es ihn nichts anging, wenn sich die Engel gegenseitig die Köpfe einschlugen, und er sich lieber wieder um die Dämonen kümmern würde. Bei denen wusste man wenigstens, woran man war.       „Denkst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“ Gabriellas Stimme klang besorgt und ihr Blick irrte wieder zu dem Haus, vor dem Michael den Wagen geparkt hatte. Es war ein durchschnittliches Einfamilienhaus mit ein paar Büschen und Beeten, einer Doppelgarage, an der ein Basketballkorb hing, einem weißen Postkasten und einer Veranda, auf der eine Holzbank stand. Daneben sah man einen kleinen, roten Handwagen und auf dem Rasen lag eine vergessene Frisbeescheibe. „Nein, ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist“, antwortete er etwas verspätet. „Aber ich denke, dass es die beste Chance ist, die wir haben. Wir müssen Jeffs alte Professorin finden und, so leid es mir tut, ich weiß ihren Namen nicht mehr. Es ist einfach zu lange her. Der einzige Mensch, der ihn uns vielleicht verraten könnte, lebt in diesem Haus.“ Michael drehte sich zu Angelo herum. „Du wartest hier zusammen mit Gabriella. Und keinen Unsinn anstellen, solange ich weg bin.“ Angelo nickte ernst. Michael hatte ihm erzählt, wo sie waren und dass der Besuch hier sicherlich kein Spaziergang werden würde. Trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig. Er atmete noch einmal tief durch und stieg aus.   Der Weg zum Haus war mit Natursteinen gepflastert. Es sah hübsch aus. Geschmackvoll. Nicht wirklich das, was er erwartet hatte, als er die Adresse herausgesucht hatte. Michael klingelte und sah sich weiter um. Auf dem Handwagen lagen einige Blätter, Stöcke und Steine sowie eine Spielzeugpistole. Plötzlich vernahm er Kinderlachen, das aus dem Garten zu ihm herüberwehte. Alarmiert hörte Michael genauer hin. Ja, es kam definitiv aus dem Garten hinter dem Haus. Er musste sich geirrt haben. Das hier war die falsche Adresse. Er wollte gerade gehen, als die Haustür vor ihm zurückwich und eine Frau in der Türöffnung erschien. Sie war ein ganzes Stück älter als Michael, hatte glatte, dunkle Haare, die ihr bis auf die Schulter fielen, und trug lockere Freizeitkleidung. Ihre Füße steckten in geblümten Gummilatschen, wie Michael etwas irritiert feststellte. Gabriella hätte so etwas nie getragen. „Ja bitte? Kann ich Ihnen helfen?“ Die Frau musterte ihn mit freundlichem Interesse. „Ich …“ begann er und merkte, wie er instinktiv zurückweichen wollte. „Mein Name ist Michael Thompson. Ich … ich suche jemanden. Dwayne Fleming. Ich war ein Freund seines Sohnes.“ Michael erwartete, dass sie jetzt entschuldigend sagen würde, dass sie Jeffs Vater nicht kannte. Dass er sich in der Adresse geirrt hatte und es anderswo versuchen musste. Stattdessen wurde ihr Gesicht ernst. „Kommen Sie rein.“ Sie trat von der Tür zurück und ließ ihn eintreten. „Hier entlang.“ Die Frau geleitete ihn vorbei an einer überquellenden Garderobe, an der ein buntes Sammelsurium an Kleidungsstücken hing – nicht zuletzt ein regenbogenfarbenes Etwas mit Flügeln, das Michael auf den zweiten Blick als Feenkostüm identifizierte – in ein Wohnzimmer, in dem ebenfalls ziemliches Chaos herrschte. Überreste einer Mahlzeit zierten den niedrigen Couchtisch, während der eigentliche Esstisch von einem Konvolut aus bunter Pappe, Papier, Stoff, Plastikperlen und Heißklebepistolen beherrscht wurde. „Bitte entschuldigen Sie das Durcheinander. Ich habe mit den Kindern gebastelt und bin noch nicht zum Aufräumen gekommen. Sie sind mit ihrem Vater zusammen draußen im Garten.“ Die Frau ging zu einer halb geöffneten Terrassentür und rief hinaus: „Dwayne? Kommst du mal bitte? Hier ist jemand, der dich sprechen will.“ „Wer? Wer?“, hörte Michael eine helle Stimme rufen und im nächsten Moment schneite ein kleines Mädchen herein. Sie war unbezweifelbar die Besitzerin des Feenkostüms, denn sie trug gerade ein ähnliches Outfit mit einem regenbogenfarbenen Einhorn, das mitten auf ihrer Brust prangte. Auf dem Kopf saß inmitten eines dichten, dunklen Schopfes ein Haarreif mit einem bunten Horn aus Stoff. „Dich kenne ich nicht“, stellte sie fest. „Ich bin Myra und das da ist mein Bruder Tom. Er ist acht und echt doof, weil er nicht an Einhörner glaubt. Und wer bist du?“ Michael lächelte. „Ich bin Michael. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es Einhörner gibt.“ Ein großer Schatten erschien an der Tür direkt neben dem finster dreinblickenden Jungen, den seine Schwester als Tom vorgestellt hatte. „Dad, schau mal, das ist Michael. Er ist zu Besuch gekommen und glaubt an Einhörner. Kann er mit uns spielen?“   Jeffs Vater sah Michael schweigend an. Seine ehemals dunklen Haare waren jetzt von einem Grauschleier durchzogen und er war insgesamt etwas schlanker geworden als zu der Zeit, als Michael regelmäßiger Gast in seinem Haus gewesen war. Er hatte Falten bekommen, allerdings waren es keine Sorgenfalten. Er wirkte wie jemand, der viel lachte. Jetzt jedoch war sein Gesicht ernst, ja fast feindselig. „Iris, bitte bring die Kinder raus. Das hier wird nicht lange dauern.“ „Aber Dad, wir wollten doch mit Michael spielen.“ „Oder fernsehen“, mischte sich der Junge ein. Sein Stirn lag immer noch in tiefen Falten und er sah seinem Vater unglaublich ähnlich. Viel ähnlicher als Jeff es je getan hatte, der immer mehr nach seiner Mutter gekommen war. „Au ja und Eis!“, quietschte seine Schwester begeistert. „Bitte Mum, dürfen wir ein Eis?“ „Na meinetwegen. Aber passt auf, dass ihr nicht auf die Couch kleckert.“ Die drei restlichen Familienmitglieder verschwanden in der Küche und Michael blieb mit Jeffs Vater allein zurück. „Ist lange her, Mr. Fleming“, sagte er. Sie hatten sich nie besonders nahegestanden und Jeffs Vater hatte immer erkennen lassen, dass er einen gewissen Respektabstand von Michael erwartete. „Nicht lange genug“, antwortete Jeffs Vater. „Was willst du?“ Michael räusperte sich. Er hatte nicht erwartet, dass Jeffs Vater ihn freundlich empfangen würde. Dazu war einfach zu viel vorgefallen. Aber das hier …? Ein gemütliches Haus, eine neue Frau, neue Kinder? Das war, als hätte es Jeff nie gegeben. Als wäre dieses Kapitel in seinem Leben nicht mehr als eine flüchtige Affäre gewesen, dabei hatte er all das hier schon einmal gehabt. Mit Jeff. Wie es sich wohl anfühlte? Noch einmal all das zu durchleben. Ob er Angst hatte? Ob er fürchtete, diese Kinder ebenso zu verlieren wie sein erstes? Oder hatte er damit abgeschlossen und Michael war nicht mehr als ein unliebsamer Schatten aus der Vergangenheit, den es loszuwerden galt, so schnell es ging? Für Michael sah es aus, als wäre letzteres der Fall. „Ich bin auf der Suche nach einer von Jeffs ehemaligen Lehrerinnen am College. Leider weiß ich ihren Namen nicht mehr und wollte daher fragen, ob Sie vielleicht noch Jeffs alte Unterlagen haben. Damit ich nachsehen kann.“ Jeffs Vater reagierte nicht. Er starrte Michael einfach nur an, als könne er nicht glauben, wer da gerade in seinem Wohnzimmer stand. Plötzlich kam sich Michael dumm vor. Vielleicht wäre es besser gewesen, gleich am College nachzufragen. Irgendeine Sekretärin hätte ihm den Namen vielleicht trotz der langen Zeit mit drei Handgriffen aus einem Computerverzeichnis heraussuchen können. Er hätte nicht gewaltsam hier eindringen sollen. „Ich … es tut mir leid, Mr. Fleming. Es war falsch von mir, hierher zu kommen. Ich wollte nicht …“ „Dann geh“, erwiderte Jeffs Vater. „Ich kann dir ohnehin nicht helfen. Ich habe nichts mehr von dem alten Kram aufbewahrt. Es war kein Platz mehr dafür.“ Die Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Nur undeutlich nahm Michael war, wie Iris die Kinder an ihnen vorbei zum Fernseher bugsierte und dort irgendeinen Cartoon anschaltete, bevor sie zu ihrem Mann zurückkam. Sanft berührte sie ihn am Arm. „Alles okay, Dwayne?“ „Ja, ist es. Michael wollte gerade gehen. Er hat nach Jeffs alten Sachen gefragt, aber ich habe ihm gesagt, dass wir sie weggeworfen haben.“ Noch einmal musste Michael sich bemühen nicht zusammenzuzucken. Die Stimme von Jeffs Vater war so kalt, als er das sagte. Unwillkürlich wandte Michael sich von ihm ab und seiner Frau zu. Er wollte sich gerade auch noch bei ihr entschuldigen, als er sah, dass sie sich auf die Lippen biss und ihrem Mann einen scheuen Seitenblick zuwarf. „Also eigentlich, Schatz, sind die Kisten noch da.“ Der Kopf von Jeffs Vater ruckte herum. „Was hast du gesagt?“ Iris zog entschuldigend die Schultern hoch. „Ich habe gesagt, dass die Sachen noch da sind. Oben auf dem Speicher. Ich weiß, dass du gesagt hast, dass ich sie wegwerfen soll, aber ich habe gedacht, dass du es dir vielleicht irgendwann noch einmal anders überlegst. Ich wollte nicht, dass du etwas tust, was du später bereust.“ Für einen Moment schien es so, als würde Jeffs Vater wütend werden, doch dann glätteten sich seine Züge wieder. „Wir reden später darüber“, sagte er nur und der Blick, den seine Frau ihm zuwarf, ließ Michael innerlich erschauern. Hatte er hier mehr heraufbeschworen, als er gewollt hatte? Er zögerte, bevor er weiter sprach. „Wäre es möglich, dass ich mir die Sachen ansehe? Oder vielleicht … ich könnte sie mitnehmen und später wiederbringen? Meine Frau und ich sind mit dem Auto da.“ Die Erwähnung von Gabriella ließ Jeffs Vater aus seiner Erstarrung erwachen. „Deine … Frau?“ „Ja, ich bin verheiratet. Seit etwas mehr als zehn Jahren schon. Wir haben uns damals kennengelernt, als meine Eltern von hier weggezogen sind. Gabriella war mit dem Verkauf unseres Hauses beauftragt.“ „Ich verstehe“, murmelte Jeffs Vater. „Ich dachte eigentlich, dass du mit deinen Eltern zusammen …“ Michael schüttelte den Kopf. „Es ist einiges kaputtgegangen damals.“ Er erwähnte nicht, dass er Jeffs Vater manchmal gesehen hatte. Von weitem. Dass er ihm ausgewichen und mit Gabriella zusammen in einen anderen Stadtteil gezogen war. Dass sie sogar überlegt hatten ganz wegzuziehen, aber wegen Gabriellas Arbeit geblieben waren. Vielleicht war es bei Jeffs Vater so ähnlich gewesen.   Schweigen breitete sich aus, nur unterbrochen von der fröhlichen Musik, die aus dem Fernseher drang. Sie kündigte das Ende der Sendung an. Plötzlich kam Bewegung in die kleinen Figuren, die gerade noch wie gebannt vor der Mattscheibe gesessen hatten. „Mum, können wir noch eine Folge? Biiitteee?“ „Ja, meinetwegen. Aber nur noch die eine.“ Iris sah aus, als wolle sie sich entschuldigen. Entschuldigen dafür, dass es sie gab. Michael rief sich innerlich zur Ordnung. „Ich sollte langsam wieder gehen. Aber … es wäre mir wirklich wichtig, wenn ich die Unterlagen durchsehen könnte. Ich würde die Sachen in ein paar Tagen zurückbringen?“ Jeffs Vater nickte. „Ich … ich werde dir die Sachen nach draußen bringen. Es wird einen Moment dauern.“ „Kein Problem. Ich warte dort.“ Michael nickte Iris zu, bevor er sich zum Gehen wandte. Sein Blick glitt noch einmal über Schulranzen und Gummistiefel, über gerahmte Fotos an der Wand und Kinderzeichnungen am Kühlschrank. Das hier war ein Haus ohne böse Geister und er hoffte sehr, dass das auch in Zukunft so bleiben würde und sein Kommen nicht etwas ausgelöst hatte, dass all das hier ins Wanken brachte.   Als er nach draußen trat, sah er bereits, wie sich die Beifahrertür öffnete und Gabriella ausstieg. Auch Angelo verließ das Fahrzeug und sah ihm entgegen. „Was hat er gesagt?“ wollte Gabriella wissen. „Er … er bringt mir die Sachen. Ich glaube, ich habe da ein wenig an einer Vergangenheit gerührt, die er lieber vergessen hätte.“ Michael stockte kurz, bevor er anfügte: „Er hat Kinder. Einen Jungen und ein Mädchen. Es ist eigenartig und es kommt mir … falsch vor. Wenn überhaupt sollten es Jeffs Kinder sein, die hier herumlaufen. Stattdessen sind es seine Geschwister. Das ist einfach …“ Ihm fehlten die Worte dafür zu beschreiben, wie es sich anfühlte. Er sah, dass Gabriella anhob, etwas zu sagen, aber Angelo war schneller. Er trat zu Michael und zog ihn in eine Umarmung. Es war ein wenig umständlich, und für einen Moment wünschte sich Michael, dass Angelo tatsächlich einer dieser wunderbaren Engel aus Gabriellas Geschichten wäre, die überlebensgroß auf die Erde herabstiegen, um die Unglücke der Welt mit einem Flügelschlag von der Bildfläche zu fegen. Der Gedanke, Angelo an seiner Seite zu wissen, war nichtsdestotrotz tröstlich. Ihn und Gabriella. Michael hatte, was er brauchte. Er war glücklich. Verstohlen wischte er sich über die Augen, die ein wenig feuchter waren, als sie es hätten sein sollen. Er schickte Gabriella, die inzwischen ebenfalls um das Auto herumgekommen war, einen dankbaren Blick und trat dann gerade in dem Moment von Angelo zurück, als Jeffs Vater aus dem Haus kam. Auf seinem Arm trug er zwei große Pappkartons mit Deckel. Sein Blick glitt von Michael zu Gabriella und blieb an Angelo hängen, den er ein wenig misstrauisch musterte, bevor er sich entschieden wieder an Michael wandte. „Hier ist alles, was ich noch habe. Ich weiß nicht, ob du darin fündig werden wirst. Ist ein ziemliches Durcheinander, glaube ich. Ich habe nicht mehr hineingesehen, nachdem die Polizei die Kisten damals wiedergebracht hat. Es bestand keine Notwendigkeit dafür.“ „Danke“, sagte Michael nur, bevor sich Jeffs Vater noch zu weiteren Rechtfertigungen gezwungen sah. Das hier war etwas, dass er wollte. Er hatte kein Recht dazu, Jeffs Vater dafür zu verurteilen, wie er mit seiner Trauer umgegangen war. Vielleicht war es einfacher so für ihn. Ein neues Leben, ein neuer Anfang. Ohne Jeff. Michael nahm die kostbare Fracht entgegen. Er räusperte sich. „Soll ich … anrufen, bevor ich die Sachen zurückbringe?“ „Ja, das wäre gut. Ich möchte nicht … die Kinder. Sie wissen nichts davon. Wir wollten warten, bis sie älter sind.“ Es schien, als wollte er noch etwas sagen, doch dann wandte Jeffs Vater sich abrupt ab und ließ sie einfach stehen. Michael sah auf die Kartons in seinen Armen herab. „Ich glaube, wir sind hier fertig“, sagte er. „Kommt, lasst uns fahren.“ Michael verstaute die Kartons auf der hinteren Sitzbank und setzte sich dann wieder hinter das Steuer. Als Gabriella neben ihm Platz nahm, sah er sie an. „Und jetzt? Sollen wir in ein Motel oder …?“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Lass uns nach Hause fahren. Wenn sie uns finden wollen, dann werden sie das tun. Dort oder anderswo. Wir können ebenso gut eine Nacht im eigenen Bett verbringen, bevor wir uns auf die Jagd begeben.“ Er lachte leise. „Auf die Jagd? Das klingt, als würdest du erwarten, dass wir etwas finden.“ Sie erwiderte sein Lachen. „Ich wäre nach all dem enttäuscht, wenn es nicht so wäre. Ich meine: Dämonen im Pool, ein Engel an unserer Seite, da wäre es doch wirklich eigenartig, wenn uns jetzt nur Staub und alte Akten erwarten würden. Nein, ich bin mir sicher, dass da irgendetwas ist, und wir werden es finden. Zusammen.“ Michael fühlte ein unglaublich warmes Gefühl in seiner Brust aufwallen. Er lehnte sich vor, und drückte seiner Frau einen Kuss auf den Mund, bevor er den Motor startete und den Wagen wieder auf die Straße lenkte. Auf dem Rücksitz Angelo und zwei Kisten voller Erinnerungen.   Kapitel 16: Stille Wasser ------------------------- Es war eigenartig, nach Hause zu kommen. Obwohl Gabriella diejenige gewesen war, die vorgeschlagen hatte, dass sie die Nacht hier verbringen sollten, kam es ihr vor, als beträte sie ein fremdes Haus. Als wären die Leute, die hier gewohnt hatten, verschwunden. Vielleicht dauert es nur eine Weile, dachte sie bei sich. So wie wenn man nach einem Urlaub nach Hause kommt und sich erst mal wieder daran gewöhnen muss, dass der Alltag einen wieder hat. Das Problem war nur, dass sie den Alltag irgendwo auf dem Weg verloren hatten und nichts mehr so war wie zuvor. Die letzten drei Tage hatten ihr Leben und das, an was sie bisher geglaubt hatte, so gründlich durcheinandergeworfen, das sie vermutlich nicht einfach so zurückkehren konnte. Nie wieder. Es hätte ihr Angst machen sollen, aber das tat es nicht. Es fühlte sich trotz allem richtig an. So richtig wie lange nicht mehr.   „Ich werde mich mal ans Durchforsten der Unterlagen machen“, verkündete Michael und ging mit vollen Armen an ihr vorbei. Ihm schien die Surrealität der Situation gar nicht aufzufallen. Gabriella sah sich noch einmal in dem Heim um, das sie vor nicht einmal 48 Stunden glaubte für immer zu verlassen. Da war noch das Glas auf dem Couchtisch, aus dem sie Angelo den Saft eingeflößt hatten. Der Schrank, den sie vergessen hatte zu schließen, als sie die Vorräte eingepackt hatte. Durch die Terrassentür sah man Teile des Gartens. Das Gras hatte sich inzwischen wieder aufgerichtet, aber wenn man wusste, wonach man suchen musste, sah man noch Spuren des Kampfes mit der Cegua. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Was, wenn die Dämonen sie erneut angriffen? Sie bezweifelte, dass ihnen von den Engeln eine unmittelbare, körperliche Gefahr drohte – sie waren immerhin die Guten, nicht wahr? – aber die Dämonen würden nicht so zimperlich sein, wenn sie erneut versuchten, Angelo in ihre Fänge zu bekommen. Sie mussten sich dagegen schützen. „Ich werde mich an den Computer setzen“, verkündete sie. „Im Internet gibt es doch bestimmt Anleitungen, wie man Dämonen und böse Geister abwehrt. Wenn wir heute Nacht gut schlafen wollen, wäre es mir lieber, wenn wir vorbereitet wären.“ Michael nickte nur, während er bereits in die Tiefen seiner Recherche abgetaucht war. Angelo hingegen blieb ein wenig unschlüssig zwischen ihnen stehen. „Und was soll ich tun?“ Gabriella lächelte. „Du kannst mit mir kommen. Zu zweit finden wir vielleicht schneller etwas.“ Er nickte und folgte ihr den Flur bis zu ihrem Arbeitszimmer. Gabriella öffnete die Tür und trat beiseite. „Willkommen in meinem kleinen Reich.“ Neugierig sah Angelo sich um. „Es ist hübsch“, sagte er. „Hell und geräumig. Du hast viele Bücher.“ Gabriella lachte. „Das meiste davon sind irgendwelche Bestimmungen und Gesetzestexte und in den Ordnern da unten habe ich die bearbeiteten Angebote abgelegt. Meist treffe ich mich mit meinen Kunden ja außer Haus, aber manchmal führe ich auch hier Beratungen durch.“ Sie wies auf die kleine Sitzgruppe, die dem halbrunden Schreibtisch gegenüber stand. Auf der gläsernen Tischplatte war ein Arrangement aus Steinen und künstlichen Blumen aufgestellt. „Am besten setzt du dich da hin. Ich werde den Laptop rüberholen.“ Sie warteten, bis das Gerät hochgefahren war, und starrten dann gemeinsam auf die Vielzahl von Seiten, die ihnen das World Wide Web ausspuckte. Gabriella runzelte die Stirn, während sie las. „Auf antike Schutzamulette mit Aufschriften aus aramäischem Ziegenblut werden wir wohl verzichten müssen. Gibt es nicht irgendwelche Hausmittel gegen Dämonen? So wie Knoblauch, der Vampire fernhalten soll?“ Angelo beugte sich vor und überflog die Überschriften. „Nimm mal diese da.“ Gabriella rief die entsprechende Seite auf. „Okay, das klingt schon vielversprechender. Weihwasser, Salz, bestimmte Schriftzeichen, die man an Türen und Fenstern anbringt. Meinst du, dass das hilft?“ „Wir könnten es auf jeden Fall probieren. Hast du denn Weihwasser?“ Gabriella schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nein. Meine Großmutter hatte früher welches in ihrer Speisekammer stehen und hat davon immer einen Tropfen ins Essen getan. Das hat mich als Kind sehr fasziniert, auch wenn ich lange geglaubt habe, das es sich dabei um Weichwasser handelt, dass man ins Essen geben muss, damit es weich wird.“ Sie lächelte und seufzte anschließend. „Aber jetzt werden wir wohl erst mal ohne auskommen müssen. Genug Salz müsste allerdings da sein. Wir könnten Streusalz nehmen. Davon müssten wir noch eine ganze Menge in der Garage haben.“ Angelo hatte derweil angefangen weiter zu lesen. „Hier steht, dass Dämonen kein Eisen vertragen. Wir sollten dir und Michael eine entsprechende Waffe besorgen. Nur für den Fall. Und Weihwasser. So etwas sollte doch in einer Kirche zu bekommen sein.“ Gabriella nickte langsam. Sie sah Angelo von der Seite an und stellte fest, dass er gerade verändert wirkte. Sein Gesicht war ernst, die Stirn gerunzelt, die Augen konzentriert auf das gerichtet, was er las. Er nahm ihr die Maus ab und scrollte selbstständig durch den Text; schien das dort Geschriebene förmlich aufzusaugen. Schließlich nickte er. „Ich werde mich um die Schriftzeichen kümmern. Die meisten davon kenne ich. Es sollte mir möglich sein, sie in der richtigen Reihenfolge anzubringen, um einen effektiven Schutz zu gewährleisten.“ Er blickte auf und blinzelte. Der Ausdruck aus seinem Gesicht verschwand. „Was ist?“ „Nichts“, log Gabriella, besann sich dann jedoch eines Besseren. „Du wirkst sehr … überzeugend. Als wüsstest du, was du tust.“ Angelo sah zur Seite. „Nicht wirklich. Es ist mehr eine Ahnung davon, dass ich all das einmal gewusst habe. Aber ich kann nicht leugnen, dass es sich gut anfühlt, nicht nur durch die Gegend zu stolpern und dauernd Hilfe zu brauchen.“ Gabriella musterte ihn einen Augenblick lang. „Denkst du das? Dass du hilflos bist?“ Angelo sah sie immer noch nicht an. Sein Gesichtsausdruck machte es ihr schwer, etwas daran abzulesen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er ihr etwas verschwieg. Aber was war der Grund dafür? War es aus Scham? Aus – vielleicht sogar falscher – Rücksichtnahme? Oder gab es noch einen anderen Grund? Einen, der sich ihrem Horizont entzog? Wollte er deswegen nicht darüber reden? Und sollte sie ihn jetzt ermuntern sich ihr zu öffnen, oder akzeptieren, dass er seine Gedanken offenbar für sich behalten wollte?   Gabriella beschloss, nicht weiter in ihn zu dringen. „Sollen wir mit den Befestigungsmaßnahmen anfangen?“, fragte sie stattdessen und bemerkte, wie so etwas wie Erleichterung über seine Züge huschte. „Ja, das wäre sicherlich gut. Ich werde etwas brauchen, mit dem ich die Sigillen anbringe. Hast du Farbe?“ Sie sah sich auf dem Schreibtisch um und hielt einen Textmarker hoch. „Meinst du, der reicht?“ Angelo besah sich den grünen Stift. „Ich glaube, besonders traditionell ist der nicht, aber er wird wohl gehen. Oder sollen wir … einfach nur das Salz anbringen? Vielleicht reicht das ja schon.“ Gabriella schüttelte den Kopf und drückte ihm den Marker in die Hand. „Ich würde mich wirklich besser fühlen, wenn du diese Zeichen an die Türen malen würdest.“ Er sah sie einen Augenblick lang unsicher an, bevor sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen stahl. „Okay, ich mach’s. Schaden kann es auf jeden Fall nicht.“ „Bestimmt nicht.“ Gabriella sah zu, wie er gleich damit anfing, für sie unverständliche Zeichen und Symbole auf dem Fußboden vor der Tür anzubringen, die von ihrem Büro aus in den Garten führte. Er wirkte hochkonzentriert und würdigte sie keines weiteren Blickes. In diesem Augenblick war sie sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.   Sie brauchten eine ganze Weile, um alle Eingänge mit Salz und schützenden Schriftzeichen zu versehen. Als sie fertig waren, ließ sich Gabriella erschöpft auf das Sofa fallen. Michael hatte inzwischen alle möglichen Papiere auf dem Couchtisch verteilt. „Hast du etwas finden können?“, fragte Gabriella und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Salz durch die Gegend zu schleppen war anstrengender gewesen, als sie gedacht hatte. „Noch nicht. Ich bin gerade bei den Studienunterlagen angekommen. In der ersten Kiste waren größtenteils ältere Sachen. Dinge aus seiner Kindheit oder unserer Zeit an der Highschool.“ Gabriella musste nicht fragen um zu wissen, dass sich Michael sicherlich ein wenig länger mit diesen Sachen beschäftigt hatte, als eigentlich notwendig gewesen wäre. Sie nahm jedoch Abstand davon, ihm Vorwürfe zu machen. Der Tag war ohnehin bereits so weit vorangeschritten, dass sie alle weiteren Aktionen auf morgen würden verschieben müssen. „Ah, hier, das sieht gut aus“, verkündete Michael plötzlich und hielt ein Blatt Papier hoch. „Das ist sein Kursplan mit den entsprechenden Themengebieten und Lehrkräften. Na schauen wir mal.“ Er überflog die Liste und blieb irgendwann an einem Namen hängen. „Hier, das muss sie sein“, rief er. „Maomi Yoshizono. Vorlesung für Zellbiologie. Es ist die einzige Frau, die hier auftaucht, also ist die Auswahl wohl nicht besonders groß.“ Wortlos sahen sie alle drei die Liste in Michaels Händen an. „Und jetzt?“, wagte Gabriella irgendwann zu fragen. „Gehen wir da morgen hin und fragen sie, ob sie etwas mit Jeffs Tod zu tun hat? Oder mit diesen Maschinen, von denen wir nicht einmal wissen, ob sie überhaupt existieren?“ Michael atmete hörbar aus. „Ich weiß nicht. Vielleicht … vielleicht wäre es klüger, wenn wir sie eine Weile beobachten. Sehen, was sie tut, wo sie hingeht, mit wem sie sich trifft.“ „Du willst sie observieren?“ Gabriella verzog das Gesicht. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir das hinkriegen. Wir sind nicht das FBI. Das wir, nebenbei bemerkt, immer noch im Nacken haben.“ Michael nickte langsam. „Du hast Recht. Also werden wir es wohl doch auf dem direkten Weg versuchen müssen. Aber wir brauchen eine Geschichte.“ „Wie wäre es mit einer Gedenkfeier?“, ließ sich Angelo vernehmen. Er saß auf dem Sofa ihnen gegenüber und hatte die Beine angezogen. „Du könntest sagen, dass ihr Erinnerungen aus seinem Leben zusammensucht und sie deshalb um ihre Mithilfe bitten.“ Michael runzelte die Stirn. „Das ist gar keine so schlechte Idee. Aber was, wenn sie sich gar nicht mehr an ihn erinnert?“ „Hast du ein Foto?“ Gabriella sah, wie Michael zögerte, bevor er ein der Kisten öffnete. Mit einer fast schon andächtig wirkenden Bewegung holte er ein Bild heraus. „Das hier war zwischen seinen Zeugnissen versteckt. Ich wusste nicht, dass es noch existiert.“ Fast schien es, als wolle Michael das Bild nicht loslassen, doch dann gab er sich einen merklichen Ruck und reichte es über den Tisch. Angelo sah es lange an. „Das seid ihr beide, nicht wahr?“, fragte er schließlich. „Ja, das ist nach dem ersten offiziellen Spiel entstanden, in dem Jeff als Quarterback aufgestellt war. Die Menge hat damals getobt und als die zweite Halbzeit vorbei war, sind unzählige Zuschauer auf das Spielfeld gestürmt. Irgendeiner wollte unbedingt ein Foto machen und Jeff hat mich einfach mit ins Bild gezerrt.“ Gabriella nahm das Foto, das Angelo ihr reichte. Darauf war Michael noch in seiner Footballuniform zu sehen und neben ihm der unantastbare Jeff im gleichen Outfit. Er hatte den Arm um Michael gelegt und hielt ihn fest, während er in die Kamera grinste und den Daumen in die Luft reckte. Man konnte ihm ansehen, wie sehr er den Sieg genoss, die Aufmerksamkeit und vielleicht auch den Freund an seiner Seite. Wenn Gabriella bedachte, was sie von den beiden wusste, war die letzte Beobachtung vielleicht gar nicht mal so weit hergeholt. Sie ahnte, dass sie und Michael sich sicherlich nie getroffen hätten, wenn Jeff nicht ums Leben gekommen wäre, aber plötzlich bereute sie, dass sie ihn nie kennengelernt hatte. Er war sicherlich ein netter Kerl gewesen. „Gut“, sagte sie, um die eigenartige Stimmung in ihrem Inneren nicht zu sehr an die Oberfläche kommen zu lassen. „Dann tischen wir der Dame morgen also ein schönes Märchen auf. Und bis dahin?“ „Wir könnten uns noch um die Waffen und das Weihwasser kümmern“, schlug Angelo vor. Als Michael daraufhin fragend die Augenbrauen hob, erklärte Angelo ihm, was sie herausgefunden hatten. Als er fertig war, nickte Michael. „Ich glaube, in der Garage könnte sich vielleicht etwas passendes finden, das sich als Waffe verwenden lässt. Aber Weihwasser?“ Angelo hatte auch darauf eine Antwort. „Wenn die Angaben stimmen, die ich im Internet gefunden habe, gibt es jeden Tag um 17.15 Uhr eine Messe in der Cathedral of the Madeleine gleich hier in der Nähe. Danach sollte es möglich sein, den Padre auf das Weihwasser anzusprechen. Wenn du möchtest, begleite ich dich.“ Beim letzten Satz hatte er Gabriella angesehen und sie musste zugeben, dass sie dieser plötzliche Aktionismus von Angelos Seite schon ein wenig überraschte. Trotzdem lächelte sie. „Gut. Dann gehen wir also heute Abend in die Kirche.“       Er war zu früh dran. Alejandro wusste es und verharrte unschlüssig am Ende des wackeligen Anlegestegs, der zu einer verfallenen Hütte gehörte, die wie eine fette Kröte ein wenig oberhalb der Hochwassermarkierungen saß. Der Schatten der Bäume, deren Wurzeln nackt über dem braunen Wasser des Flußlaufs hingen und sich wie bleiche Finger tief in den Uferschlamm bohrten, ließen die Umrisse des Gebäudes fast vollkommen mit dem Hintergrund verschwimmen. Hätten sich die Touristen, die manchmal das Sumpfgebiet in ihren lächerlichen, bunten Nussschalen durchquerten, in den von Untiefen und unwegsamen Stellen durchzogenen Seitenarm verirrt, so hätten sie wohl Abstand davon genommen, sich dem Gebäude zu nähern. Es hatte eine ungute Aura, die nicht von ungefähr kam. Alejandro hingegen war mit voller Absicht hierhergekommen, denn er wollte etwas von der Kreatur, die im Inneren der windschiefen Hütte hauste. In dem Sack, der neben ihm auf dem Boden lag, begann sich etwas zu regen. Schwächliches Gejammer wurde laut. Vor einiger Zeit war es noch ein ausgewachsenes Gebrüll gewesen, aber er hatte dem Inhalt des Sacks schon bald klar gemacht, dass er besser nicht seine Ohren strapazierte. Auch jetzt brauchte es nur einen kleinen Puff, bis das Jammern auf ein Minimum zusammenschrumpfte. Er blickte von dem Sack zum Horizont, dem sich die Sonne einfach nicht nähern wollte. Dabei wartete er doch schon so lange. Den halben Tag war er ziellos durch die Gegend gelaufen und hatte versucht, sich einen Plan zu überlegen, wie er den Engel finden konnte, den sein Herr von ihm verlangte. Es war keine leichte Aufgabe, aber er war wild entschlossen es hinzubekommen. Selbst wenn er sich dem Monster stellen musste, das dort in den Schatten lauerte. Wieder ein Blick zur Sonne, die wie angeklebt am Himmel hing. Verdammt, er würde es jetzt riskieren. Dann war eben noch nicht die dämliche Dämmerung angebrochen. Er hatte einfach keine Zeit, um noch länger zu warten. Alejandro packte den Sack und warf ihn sich über die Schulter. Die schwere Fracht darin gab ein Winseln von sich, aber er zischte sie bedrohlich an, sodass sie bald wieder den Mund hielt. War sicherlich besser, wenn die Cuca nicht gleich hörte, dass er kam.   Als er die Hütte erreichte, zögerte er noch einmal. Ein intensiver Modergeruch strich um seine Nase und über ihm baumelten verschiedene Amulette am Dachrand der Hütte. Holz, Federn und vor allem aber Knochen hingen dort und gaben trotz des fehlenden Windes schaurige Töne von sich. Schmale, weiße Knochen, wie von kleinen Tieren oder eben … Kindern. Ein hohläugiger Schädel schien ihn auszulachen, als seine Hand wenige Zentimeter vor dem grünbesetzten Holz der Tür verharrte. Was, wenn sie schlechte Laune hatte? Wobei der Gedanke lächerlich war. Die Cuca hatte immer schlechte Laune. Es war quasi ihr Wesenszug, der ganz zu ihrem liebreizenden Äußeren passte. Aber es half nichts. Er brauchte eine Hexe und das hier war die beste, die er bekommen konnte. Entschlossen klopfte er gegen die Tür. Von drinnen war kein Laut zu hören. Sollte sie etwa nicht zu Hause sein? Aber sie verließ ihre Behausung nur nachts. Das war der Grund, warum er hergekommen war, noch bevor es vollkommen dunkel wurde. Angst hatte er natürlich nicht vor der alten Vettel. Nun, vielleicht ein bisschen. Immerhin hätte sie ihm mit einem Biss den Kopf von den Schultern holen können. Er wollte gerade erneut klopfen, als er von drinnen Geräusche vernahm. Knarrende Bodendielen und das Schaben von Schuppen, die über grob bearbeitetes Holz glitten. Er hörte, wie sich etwas der Tür näherte und schloss instinktiv die Hand fester um den Sack. Er beinhaltete immerhin seine Eintrittskarte. „Wer ist da?“ Eine Stimme wie das Knarren einer uralten Weide im Wind, bei dem sich unwillkürlich seine Nackenhaare aufstellten und sein Instinkt ihm riet, von der Tür wegzutreten und sehr, sehr schnell zu laufen. „Ich bin’s. Alejandro. Lass mich rein.“ Von drinnen kam keine Antwort. Hatte sie ihn gehört? Er wollte gerade noch einmal klopfen, als sich die furchtbare Stimme wieder erhob. „Ich habe noch keine Sprechstunde“, erklärte sie und ließ dabei ein unwilliges Fauchen hören. „Komm später wieder.“ „Ich habe keine Zeit, mit dir Spielchen zu spielen“, blaffte er. „Los, mach auf. Ich hab dir auch was mitgebracht.“ Einen Augenblick später wurde der Riegel zurückgeschoben, der die Tür verschloss, und das morsche Holz schwang nach innen auf. Dahinter konnte man nichts außer schummriger Dunkelheit und einen großen Schatten erkennen, der unweit der Tür lauerte. Gelbe Augen glommen unheilvoll auf. „Etwas mitgebracht?“, zischelte die unförmige Gestalt. „Ist es das, wonach es riecht?“ „Natürlich“, versicherte er und hielt den Sack hoch. „Frisch gefangen. Lag einfach so da in seinem Kinderwagen und wollte nicht schlafen. Es fehlte nur noch die Schleife.“ „Ich hoffe, es ist nicht aus der Gegend.“ Misstrauen schwang plötzlich in der knurrigen Stimme mit. „Nein, natürlich nicht. Ich bin doch kein Amateur. Hab’s in der Nähe der Grenze von einem fetten weißen Pärchen gekrallt. Die werden jetzt wahrscheinlich alle Hebel in Bewegung setzen, um ihr Schätzchen wiederzubekommen, aber hier werden sie nicht danach suchen. Ich verspreche es dir.“ „Mhm, na gut, dann komm rein. Wenn du so einen Leckerbissen mitgebracht hast, will ich mal nicht so sein. Aber tritt dir die Füße ab.“ Er ersparte sich einen Kommentar dazu, dass der Matsch an seinen Stiefeln wohl eher zur Sauberkeit des Hütteninneren beigetragen hätte, und streifte ein paar Mal alibimäßig über das Ding vor der Tür, das einmal eine Fußmatte gewesen sein mochte, inzwischen allerdings nur noch ein zerfranster Dreckhaufen war. Kaum, dass er durch die Tür getreten war, wurde ihm der Sack auch schon aus den Händen gerissen. Raue, schuppige Haut streifte dabei die seine. Anschließend hörte er, wie krallenbewehrte Hände den Strick, der den Sack zusammenhielt, einfach zerrissen. Schnuppernd steckte die Cuca ihre Schnauze in den Sack. „Mhm, sehr gut. Den hebe ich mir für später auf.“ Sie blinzelte ihn an. „Also schön, was willst du?“ „Ich brauche eine Auskunft.“ Seine Augen gewöhnten sich langsam an das schummrige Dämmerlicht, das von einem fast schon heruntergebrannten Herdfeuer herrührte. Darüber hing ein großer Kessel, über dessen Rand übelriechende Dämpfe wallten, nur um dann zähflüssig über den Boden zu kriechen, bevor sie irgendwo in den Ritzen versickerten. Er musterte die Gestalt, die ihm gegenüber stand. Auf ihrem länglichen Kopf saß eine fleckige Kapuze, gefolgt von einer Art Kutte, die jedoch kaum in der Lage war den massigen Leib zu bedecken, der sich schuppig und muskelbepackt unter dem Stoff spannte. Über den Boden wischte ein langer Schwanz. „Du hättest dir was überziehen können“, knurrte er und wies auf einen Haken, an dem ein hellbraunes Etwas hing. Man hätte es auf den ersten Blick für ein dreckiges Laken oder einen Umhang halten können, aber wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass es sich um eine menschliche Haut handelte. Ein Frauenkörper, von Kopf bis Fuß aufgeschlitzt und ausgenommen, bis nur noch die äußere Hülle übriggeblieben war. Das ehemals sicherlich hübsche Gesicht war nurmehr eine starre Maske, die unter einem Wust von schwarzen Haaren verborgen lag. „Ach“, machte die Cuca, „'s ist bequemer ohne. Das Ding juckt und kneift in letzter Zeit so und warum soll ich’s mir nicht gemütlich machen, wenn ich zu Hause bin.“ Sie grinste ein zähnestrotzendes Lächeln, das zimperlichere Gemüter sicherlich halb zu Tode erschreckt hätte. „Wahrscheinlich bist du einfach zu fett geworden“, rutschte ihm heraus. Er erntete ein Fauchen. „Nun werd mal nicht frech, Bürschchen. Die gute, alte Mama Sita hat noch jeden um den Finger gewickelt, wenn sie es wollte. Also komm mir nicht mit fett. Du hast dich nur zu sehr an die Gesellschaft der Menschen gewöhnt, das ist es.“ Ihr Schwanz kratzte über den Boden, als sie sich schwerfällig in einen Schaukelstuhl sinken ließ. Ihre Hände suchten in den Tiefen ihres Gewands nach einer Pfeife, die sie zunächst umständlich stopfte und anzündete, bevor sie ihn wieder eines Blickes würdigte. Ihre gelben Echsenaugen ruhten auf ihm wie eine schwere Decke. „Das war schon damals dein Problem. Du hast immer viel zu viel Gefallen an deinen kleinen Spielkameraden gefunden, die ich für dich gefangen und hierher gebracht habe. Erinnerst du dich? Einmal hast du sogar geflennt, als ich einen von ihnen zu Eintopf verarbeitet habe. Hast dich geweigert, davon zu essen. Du warst schon immer ein schwieriges Kind.“ „Das ist lange her“, murrte er und bemühte sich, dabei nicht allzu ungeduldig zu klingen. „Wirst du mir nun helfen?“ „Wir werden sehen.“ Sie zog an ihrer Pfeife, sodass die übelriechenden Schwaden daraus die abgestandene Luft innerhalb der Hütte noch mehr verpesteten. „Also sag mir, was den teuren Günstling des hochwohlgeborenen Erzdämons in meine bescheidene Hütte treibt. Du musst ziemlich verzweifelt sein, wenn du den ganzen Weg hierher auf dich genommen hast. Bist doch sonst eher in schickeren Gegenden unterwegs, hab ich gehört.“ „So, hast du gehört? Und was erzählt man sich sonst noch so?“ Das Alligatorgesicht der Cuca verzog sich erneut zu einem Grinsen. „Ist das die Auskunft, für das du mir das kleine Schätzchen da hinten mitgebracht hast? Wenn ja, hab ich wohl ein gutes Geschäft gemacht. Allzu viele Gerüchte kommen hier bei mir nämlich nicht an. ’S ist ruhig geworden. Fast schon zu ruhig. Man könnte denken, dass dein Herr etwas ausheckt.“ „Ich darf nicht darüber reden“, wich er der implizierten Frage aus. In der Welt der Schatten gab es grundsätzlich nichts umsonst und oft war der Preis, den man dafür bezahlen musste, höher als der offensichtlich verlangte. Irgendwo gab es immer einen Pferdefuß. „Fein, also kein Plauderstündchen. Na dann rück mal raus mit der Sprache. Wo drückt denn der Schuh?“ Er sah sich in der Hütte um, aber es gab keine weitere Sitzgelegenheit. Also blieb er stehen, während ihn die schuppige Hexe aufmerksam musterte und Rauchwolken an die Zimmerdecke pustete. „Ich suche jemanden. Einen Engel.“ Die Cuca blinzelte träge und nahm einen neuen Zug aus ihrer Pfeife. „Ich glaube, ich habe neuerdings was mit den Ohren. Hast du gerade Engel gesagt?“ „Ja.“ Sie paffte noch einmal, bevor sie anfing zu lachen. Es war ein Laut, der einem gewöhnlichen Menschen das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Einen Engel?“, fragte sie erneut und wischte sich mit dem Zipfel ihrer dreckigen Kutte über die Augen. „Ach, das war ein guter Witz. Mal abgesehen davon, dass ich mich von den Burschen an deiner Stelle so weit wie möglich fernhalten würde, welchen Grund hättest du, einen finden zu wollen?“ „Das braucht dich nicht zu interessieren. Ich will ihn einfach finden, verstanden?“ Sie fing an, sich mit einer ihrer gelben Klauen zwischen den noch gelberen Zähnen zu pulen und spuckte schließlich etwas auf den Boden, das dort ein leises Klappern verursachte. „Der saß mir schon den ganzen Tag quer“, grunzte sie, bevor sie ihn wieder mit ihrem stechenden Blick durchbohrte. „Du sagst also, du willst einen Engel finden. Nun, dann sage ich dir, dass das nicht möglich ist. Um jemanden zu finden, brauche ich etwas von der betreffenden Person. Blut oder Haare zum Beispiel. Aber um das zu bekommen, müsstest du den Engel wohl zuerst einmal haben, was dann wiederum deinen Besuch hier sinnlos machen würde. Oder unmöglich, da er dich vermutlich abgeschlachtet hätte, wenn du auch nur in seine Nähe kommst.“ Sie grinste wieder ein zahnvolles Grinsen. „Sieht so aus, als hätte ich mir mein Abendbrot ziemlich leicht verdient.“ Er ballte die Hand zur Faust. „Das gilt nicht, wir hatten noch keinen Handel. Du hast ja nichts dafür getan.“ Die Augen der Alligatorhexe glommen unheilvoll auf. „Vorsicht, kleiner Alejandro. Du bist zwar kein Kind mehr, aber ich könnte mir denken, dass du nachts manchmal auch wach in deinem Bettchen liegst. Und wenn du nicht willst, dass die gute Mama Sita dich da einmal besuchen kommt, zollst du mir lieber etwas mehr Respekt.“ „Und du solltest dich besser nicht mit mir anlegen, sonst lässt dir mein Herr den Bauch aufschlitzen und ausstopfen wie ein gewöhnliches Sumpfkrokodil. Du kennst doch seine Sammlung?“ In einem Raum seines Anwesen hatte sein Herr eine beeindruckende Ausstellung von verschiedenen Wesen, die es gewagt hatten, seinem Willen nicht zu gehorchen. Es gab dort übersinnliche Wesen aus aller Herren Länder angefangen von einem dreiköpfigen, russischen Drachen bis hin zu winzigen Pixies, die sein Herr in gläsernen Schaukästen ausgestellt hatte wie andere Leute Schmetterlinge. „Habe davon gehört“, knurrte sie. „Na schön. Hast du irgendeine Idee, wie du an ein Stück von diesem Engel herankommen könntest?“ Er schwieg und wandte den Kopf ab. Natürlich war es nicht so einfach. Wäre ja auch zu schön gewesen. Aber vielleicht … Seine Augen verengten sich, als ihm eine Idee kam. „Wie steht es mit einem getragenen Kleidungsstück? Würde das ausreichen?“ Die Cuca knirschte mit den Zähnen, während sie auf ihrer Pfeife herumkaute. „Könnte klappen. Es muss nur wirklich getragen sein, andernfalls ist die Spur darauf zu schwach. Aber wie willst du denn daran kommen, ohne den Engel vorher zu finden?“ Alejandro musste sich beherrschen, um nicht über das ganze Gesicht zu grinsen. Sein neuer Plan war wirklich absolut narrensicher. „Das lass mal meine Sorge sein. Ich werde die Klamotten besorgen und du machst mir einen Aufspürzauber. Abgemacht?“ „Mhm“, brummte sie. „Abgemacht. Aber ich werde noch ein paar Zutaten brauchen. Das wird dich einiges mehr kosten als das da.“ Sie deutete auf den Sack, der sich inzwischen nur noch schwach regte. Er funkelte sie einen Augenblick lang an, bis er schließlich nickte und sich geschlagen gab. Ihm blieb einfach keine Wahl. „Wie viel?“ fragte er und versuchte nicht allzu beeindruckt zu klingen, als sie ihren Preis nannte.       Michael nestelte am Kragen seines Hemdes herum. Das Ding war ziemlich eng, aber Gabriella hatte darauf bestanden, dass sie sich angemessen kleideten, bevor sie in die Kirche gingen, selbst wenn sie nicht am Gottesdienst teilnehmen würden. „Es ist eine Frage des Respekts“, hatte sie gesagt und ihm das Hemd herausgelegt, das er mit langem Gesicht angezogen hatte. Auch Angelo, der neben ihm ging, sah aus wie aus dem Ei gepellt. Wobei ihm das ja irgendwie nie schwerzufallen schien. War vielleicht so ein Engelding. Als das Kirchengebäude in Sicht kam, musste Michael zugeben, dass es schon irgendwie beeindruckend war. Hellgraue Steine bildeten die Fassade, die sich rechts und links des Mittelteils mit dem großen, blütenförmigen Fenster zu zwei üppig verzierten Türmen in die Höhe reckten. Da gab es eine Unzahl von Erkern und Spitzdächern, die sich wie Spielzeuge aneinanderreihten, und an den Ecken saß jeweils eine dieser Wasserspeierfiguren, die Michael mit mittelalterlichen Gruselfilmen verband. Momentan jedoch waren diese überflüssig, da nur die letzten Strahlen der Frühlingssonne durch die hellgrünen Blätter der die Kathedrale umgebenden Bäume schien. Auf dem großen Tor mit dem Spitzbogen, das den Eingang zu dem beeindruckenden Bauwerk bildete, strömten gerade die Gläubigen heraus. Anscheinend hatten sie das Ende der Messe günstig abgepasst. Da sich die Menschenmassen auf den Treppen, die vom Eingang der Kathedrale zum Gehweg herunterführten, stauten, stellten sie sich ein wenig abseits des Weges auf und warteten dort ab, dass sich der Strom der Kirchgänger verringern würde. Michael ließ seine Augen noch einmal über die üppige Fassade gleiten, bevor er sich Angelo zuwandte. Der hatte den Blick ebenfalls nach oben gerichtet und betrachtete eingehend das Bauwerk. „Nicht übel, was?“, sagte Michael. Angelo antwortete nicht und reagierte erst, als Michael ihn anstieß. „Entschuldige, ich war in Gedanken“, murmelte er und beeilte sich Gabriella zu folgen, die bereits die Stufen zum Kircheneingang erklommen hatte. Sie öffnete gerade eine der hölzernen Türen, als Angelo unvermittelt stehenblieb. „Ich komme nicht mit“, sagte er. Michael sah ihn erstaunt an. „Was? Warum nicht?“ „Ich …“ Angelo senkte den Kopf. „Ich glaube, ich bin dort drinnen nicht willkommen. Es wäre nicht richtig, ein Haus des Herrn zu betreten, nachdem ich ihn so hintergangen habe.“ „Hintergangen?“ Michael schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie kommst du denn jetzt darauf? Ich dachte, wir hätten das geklärt.“ Angelo lächelte traurig. „Ja, das hatten wir. Und ich sehe die Argumente, die du aufführst. Ich habe tatsächlich nicht vor, jemandem zu schaden, aber …“ Er brach ab und schwieg für einen Augenblick, bevor er leise fortfuhr. „Ich habe mich trotzdem gegen ihn gewandt. Vermutlich gab es Gründe dafür, aber die hatte Luzifer ebenfalls. Und auch er sah sich im Recht. Wer sagt, dass meine Motive nicht weniger selbstsüchtig waren als seine? Wer sagt, dass ich nicht ebenso in Versuchung bin? Ich … ich kann es spüren. Den Wunsch, mächtiger zu sein. Mehr tun zu können. Mich wieder in den Status zu erheben, den ich einst hatte. Der mir erlaubt, mehr zu sein als … das hier.“ Er wies an sich herab. „Kommt ihr?“ Gabriella hatte immer noch die Kirchentür in der Hand. Michael sah zu ihr herüber und machte ein entschuldigendes Gesicht. „Gleich, Schatz. Ich … wir brauchen hier noch einen Moment. Magst du schon mal vorgehen?“ Sie runzelte ein wenig die Stirn und warf noch einen Blick auf Angelo, bevor sie leicht nickte und die Kathedrale betrat. Michael drehte sich wieder zu Angelo herum. „Angelo, ich … ich kann mir nicht vorstellen, wie das für dich ist. Halte mich jetzt meinetwegen für einen einfältigen Trottel, aber im Grunde genommen ist es mir vollkommen egal, dass du ein Engel bist. Es spielt für mich keine Rolle und ich kann damit auch relativ wenig anfangen. Das ist eher Gabriellas Spezialgebiet. Sie kennt sich mit diesem ganzen Kram aus und ihr könntet vermutlich stundenlange Gespräche über irgendwelche Glaubensdinge führen. Ich kann das nicht. Aber ich weiß, dass ich dich sehr mag. So wie du bist und nicht irgendeine Wunschvorstellung von dir, die du in deinem Kopf hast. Also hör auf, dich deswegen so fertigzumachen. Und komm mit rein. Das ist auch nur ein Haus. Ein großes, ziemlich schickes Haus, aber doch nur ein Haus.“ Angelo biss sich auf die Lippen und sah ihn unter den gesenkten Lidern heraus an. „Denkst du wirklich, dass ich …“ „Ja, das denke ich. Nun komm schon. Es wird dich nicht gleich der Blitz treffen, wenn du einen Fuß über die Schwelle setzt. Glaub mir, ich kenne mich da aus. Ich bin auch schon in Kirchen gewesen und lebe immer noch.“ Michael lachte und streckte die Hand aus. Zögernd ergriff Angelo sie und ließ sich nun endlich in Innere der Kirche ziehen.   Als sie aus dem Halbdunkel des Vorraums traten, musste Michael sein Urteil die Kirche betreffend noch ein wenig revidieren. Das hier war nicht nur ein ziemlich schickes, sondern ein unglaublich beeindruckendes Haus. Reich geschmückte Säulen in leuchtendem Violett, Gold und Grün stützten die hohe Decke mit zahlreichen Spitzbögen, deren Ränder ebenfalls in satten Farben bemalt worden waren. Bunte Glasfenster mit den unterschiedlichsten Motiven, deren Details Michael schier überwältigten, wurden nur noch vom dem riesigen Bild überstrahlt, das den Raum über dem weißen Marmoraltar überspannte. Ein zentrales, goldenes Kreuz unter einem tiefblauen Sternenhimmel wurde flankiert von zahlreichen prächtig gekleideten Gestalten, über denen Engelschöre schwebten. An der Decke gab es ebenfalls ein in Rot- und Goldtönen gehaltenes Bild, das etliche dieser geflügelten Gestalten zeigte, und auch die Wände wurden von unzähligen, biblischen Motiven geschmückt, die im Licht der Deckenleuchten und goldenen Kerzenleuchter auf ihren Betrachter herabstrahlten. Es war absolut gigantisch und für einen Augenblick blieb Michael einfach geblendet stehen ob der Pracht und Fülle. Das alles ließ ihn unwillkürlich so etwas wie Ehrfurcht empfinden. Selbst die Luft, die er atmete, schien hier drinnen irgendwie langsamer zu fließen und mit mehr als Sauerstoff und einem Hauch von Weihrauch getränkt zu sein. Er sah zu Angelo hinüber und bemerkte, dass dieser ebenso gebannt nach oben starrte. Das Licht, das durch die Fenster fiel, tauchte seine Gestalt in ein buntes Farbenspiel, und Michael hätte schwören können, dass er ein Lächeln gesehen hatte, das jedoch ebenso schnell wieder verschwand, wie es gekommen war. Es ist, als wäre er nach Hause gekommen, nur um festzustellen, dass sein Zimmer bereits anderweitig vergeben wurde, schoss es Michael durch den Kopf. Bevor er jedoch Angelo anbieten konnte, dass er auch draußen warten konnte, kam Gabriella bereits in Begleitung eines älteren Mannes auf sie zu. „Reverend, das hier sind mein Mann Michael und unser gemeinsamer Freund Angelo. Das hier ist Reverend Peters. Er hat die heutige Messe gehalten und war so freundlich, uns ein wenig seiner Zeit zu schenken.“ Michael musterte den Mann mit den schlohweißen Haaren und dem rötlichen Gesicht, der sie freundlich anblickte. Er trug eines dieser weiten Gewänder und einen mit goldenen Symbolen bestickten Schal, der bestimmt irgendeine Bedeutung hatte. Darunter sah Michael schwarze, blank polierte Schuhe. In diesem Moment war er froh, dass Gabriella auf gepflegter Garderobe bestanden hatte. „Ihre Frau sagte mir, dass Sie mit einer Bitte an mich herantreten wollten.“ Michael brauchte einen Augenblick um zu verstehen, dass er angesprochen worden war. „Ähm ja, wir … wir wollten …“ Hilfesuchend sah er zu Gabriella. Warum hatte sie das dem Geistlichen denn nicht erklärt? Konnten sie dem Mann einfach so auf die Nase binden, dass sie Weihwasser brauchten, um damit Dämonen zu bekämpfen? Der Reverend, der immer noch auf eine Antwort zu warten schien, begann auf einmal, an Michael vorbeizusehen. Als Michael sich umdrehte, entdeckte er Angelo, der an eine Absperrung getreten war, die rund um ein großes Marmorbecken gelegt war. Es sah ein wenig aus wie eine in den Boden eingelassene, kreuzförmige Badewanne. Daneben stand ein kleineres Becken, das aus dem gleichen, Material mit grünen und blauen Einlegearbeiten gefertigt war. Angelo blickte in das Becken hinab, als würde er dort etwas sehen. „Mein Sohn, kann ich dir helfen?“, fragte der Reverend vorsichtig. „Ist das geweihtes Wasser?“, wollte Angelo wissen. „In der Tat“, bestätigte der Geistliche. „Die meisten Taufen finden heutzutage bereits im Kindesalter statt. In dem Fall wünschen die Eltern zumeist nur ein Übergießen des Kopfes. Wir sind allerdings auch in der Lage Ganzkörpertaufen durchzuführen, seit wir im Zuge einer Renovierung das neue Taufbecken anlegen ließen.“ „Das heißt, Sie haben größere Vorräte Heiligen Wassers?“ Angelo blickte jetzt auf. „Wir brauchen etwas davon.“ Die Augenbrauen des Reverends wanderten nach oben. „Nun, diese Bitte ist nicht ungewöhnlich. Einige Gläubige hegen den Wunsch, etwas davon mit nach Hause zu nehmen. Aber darf ich trotzdem fragen, zu welchem Zweck Sie das Wasser verwenden wollen?“ Angelo sah nach oben zu den Deckenmalereien, von denen die Engelsgesichter zu ihnen herabblickten. „Glauben Sie an Gott, Padre?“ Der Geistliche lachte freundlich. „Nun, natürlich tue ich das.“ „Und wie steht es mit dem Bösen? Dem Teufel und seinen Dämonen?“ Michael hörte Reverend Peters seufzen. „Diese Frage ist sicherlich nicht so leicht zu beantworten. Ich …“ Angelo ließ sich nicht beirren. „Heißt es nicht, Jesus habe Maria von Magdala sieben Dämonen ausgetrieben, woraufhin sie ihm nachfolgte und eine seiner treuesten Anhängerinnen wurde? Und wurde nicht diese Kirche ihr zu Ehren errichtet? Ich habe ihren Namen draußen auf dem Schild gesehen und überall hier gibt es Bilder von ihr.“ Der Geistliche schien ein wenig verwirrt, bevor er wieder ein Lächeln aufsetzte. „Das ist richtig. Doch viele sind der Meinung, dass diese Dämonen eher sinnbildlich gemeint sind. Wir können nicht irgendwelche Sagengestalten dafür heranziehen, um unsere Fehler und Sünden zu erklären. Die Gestalten aus den Geschichten sind eher als Gleichnis gedacht für das Unrecht, das wir alle zu tun in der Lage sind.“ Angelo sah Reverend Peters geradeheraus an. „Sind sie nicht. Sie existieren ebenso wie Sie und ich es tun. Und deswegen brauchen wir das geweihte Wasser. Um sie im Schach zu halten. Wir benötigen eine Waffe gegen die Anhänger Luzifers.“ Michael hielt unbewusst den Atem an. Das hatte Angelo doch jetzt nicht gerade wirklich gesagt, oder? Der Reverend würde sie jetzt vermutlich entweder auslachen oder gleich hinauswerfen. Er hub bereits an, ihnen ihre Bitte zu verweigern – Michael sah es in seinen Augen – als Angelo etwas tat. Es war nicht wirklich sichtbar, mehr ein Gefühl, aber Michael spürte deutlich, dass sich etwas änderte. Auch das Gesicht des Reverends wurde mit einem Male bleich. Er schlug ein Kreuzzeichen. „Heilige Mutter Gottes. D-das ist … du bist …“ Er sprach es nicht aus, doch Michael war klar, dass er Angelo als das erkannt hatte, was er wirklich war. War Angelo denn verrückt geworden? Auch Gabriella schien mit dieser Entwicklung nicht gerechnet zu haben. „Reverend Peters, es tut mir wirklich leid. Wir wollten Sie nicht erschrecken. Es ist nur so, dass wir …“ Sie verstummte, als ihr auffiel, dass der Geistliche ihr gar nicht zuhörte. Sein Blick war immer noch starr auf Angelo gerichtet. Im nächsten Moment verging die eigenartige Beklemmung, die Michael erfasst hatte. Angelo senkte den Kopf. „Ich … es tut mir leid, ich hätte das nicht tun sollen.“ Er drehte sich auf dem Absatz herum und stürmte aus der Kirche. Michael sah Gabriella einen Augenblick lang hilflos an, bevor er ihm folgte.   Als er vor die Kirche kam, war Angelo verschwunden. Michael fluchte innerlich und sah sich nach allen Seiten um. So weit konnte er unmöglich in der kurzen Zeit gekommen sein, wenn ihm nicht spontan Flügel gewachsen waren. Wo also steckte der Bursche? Michael lief ein Stück den Gehweg entlang bis zur Kreuzung, konnte dort aber niemanden entdecken, der Angelo ähnlich sah. Er machte kehrt und ging zurück in die andere Richtung, als er plötzlich eine Gestalt entdeckte, die auf den Stufen eines Nebengebäudes kauerte. Als er näherkam, erkannte er, dass es Angelo war. Mit wenigen Schritten war er bei ihm. „Was sollte das gerade? Dem Reverend zu drohen war das Dümmste, was du machen konntest. Willst du etwa, dass sie uns einsperren?“, herrschte er ihn an. Allerdings tat ihm sein schroffer Ton in dem Moment leid, als er Angelos Gesicht sah. Er sah aus wie das personifizierte, schlechte Gewissen. „Es tut mir leid“, sagte Angelo leise. „Ich … ich habe mich hinreißen lassen. Es war nur so … Ich wollte, dass er uns glaubt. Ich habe … ich habe ihn sehen lassen, was ich bin. Ich war mir sicher, dass er es erkennen würde. Aber es war falsch von mir. Ich hätte ihn nicht zwingen sollen.“ Michael wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Statt Angelo weiter Vorhaltungen zu machen, setzte er sich neben ihn. „Nein, das hättest du nicht“, sagte er. „Aber wir machen alle mal einen Fehler. Diese ganze Engelsache ist schließlich noch neu für dich.“ Angelo sagte nichts. Er drückte sich nur enger an Michael und der legte schließlich den Arm um ihn und gemeinsam warteten sie darauf, das Gabriella zurückkam, nachdem sie hoffentlich alles wieder halbwegs gerade gebogen hatte, was Angelo angestellt hatte. Kapitel 17: Gleichgewicht ------------------------- Am Esstisch hörte man nur das leise Klappern, wenn ein Besteckteil das Porzellan der Teller streifte, gedämpftes Kauen und Schlucken, ein wenig zu lautes Atmen, wenn wieder jemand die Worte nicht aussprach, die ihm auf der Zunge lagen. Aber selbst diese Geräusche schienen sie alle drei irgendwie vermeiden zu wollen. Schließlich legte Angelo seine Gabel zur Seite. „Darf ich aufstehen?“, fragte er ohne aufzublicken. Michael sah Gabriella an. Sie zuckte die Achseln und widmete sich betont ihrem Essen. „Warum muss ich das entscheiden? Das hier ist ein freies Land. Wenn er aufstehen will, kann er das selbstverständlich tun.“ Michael antwortete nicht und Angelo schob lediglich seinen Stuhl zurück, nahm seinen Teller und trug ihn in die Küche, bevor er fast geräuschlos über die Treppe nach oben verschwand. Als er weg war, atmete Michael merklich auf. „Ihr bringt mich beide noch ins Grab“, murmelte er und nahm einen Schluck Wein. Er verzog das Gesicht, stellte das Glas zurück auf den Tisch und erhob sich, nur um kurz darauf mit einem Bier zurückzukommen. Er öffnete es und trank gierig, als hätte er tagelang keines bekommen. Gabriella beobachtete ihn und fühlte leichten Ärger in sich aufsteigen. „Es ist nicht meine Schuld“, platzte sie schließlich heraus. „Er ist derjenige, der den Reverend halb zu Tode erschreckt hat. Ich hatte alle Mühe, den Geistlichen davon abzuhalten, die Polizei zu rufen. Das hätte verdammt ins Auge gehen können.“ Michael seufzte erneut. „Natürlich, du hast ja recht. Mit allem, was du gesagt hast. Es ist nur … er hat sich sehr zu Herzen genommen, dass du ihn so ausgezählt hast.“ Gabriella schnaubte, nahm Michaels Weinglas und leerte dessen Inhalt in ihr eigenes. „Das hoffe ich doch. Er darf nicht einfach so seine eigenen Entscheidungen treffen, sondern muss so etwas mit uns absprechen. Zumal die Aktion absolut unnötig war. Der Reverend hatte sich doch bereits bereiterklärt, uns zu helfen. Ich frage mich, was in Angelo gefahren ist, ihm zu drohen. Und zu allem Überfluss mussten wir so ohne das Weihwasser abrücken, weil Reverend Peters befürchtete, dass wir damit irgendwelches Schindluder treiben. Angelo hatte es also verdient, dass ihm jemand mal gehörig die Meinung sagt.“ Michael seufzte schon wieder und nahm noch einen Schluck Bier. „Ja, ich weiß. Er tut mir trotzdem leid.“ Gabriella rollte mit den Augen. „Ach komm, morgen ist das alles wieder vergessen. Eigentlich jetzt schon. Es ist nur … ach ich weiß auch nicht.“ Sie nahm ihren und Michaels Teller und brachte sie zusammen in die Küche. Als sie dort ankam, bemerkte sie, das Angelo kaum etwas gegessen hatte. Sie hatte Pasta gemacht, ein wenig von allem, was noch so da war, aber Angelos Portion war nahezu unberührt. Jetzt war es an ihr zu seufzen. Er ist alt genug, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Er kann selbst entscheiden, ob er Hunger hat oder nicht. Mit einer entschiedenen Geste leerte sie die Reste in den Abfluss und stellte die Teller in die Spülmaschine.   Als sie zurückkam, hatte Michael den Fernseher angestellt und saß mit starr auf den Bildschirm gerichtetem Blick da. Gabriella kannte ihren Mann allerdings lange genug, um zu wissen, dass er gar nicht wirklich wahrnahm, was für ein Programm eigentlich lief. Sie schüttelte den Kopf, goss sich noch etwas Wein ein und ließ sich dann neben ihn auf die Couch sinken. Ganz automatisch hob er den Arm, sodass sie sich an ihn lehnen konnte. So saßen sie eine Weile da und ließen sich berieseln. Es war ein vertrautes Bild; etwas, das sie öfter taten an ganz normalen Wochentagen wie diesem. Nur dass an diesem Tag so gut wie nichts normal war. Irgendwann hatte Gabriella genug. „Na los, geh schon und hol ihn“, sagte sie und knuffte Michael auffordernd in die Seite. Der schreckte aus seinen Gedanken hoch und sah sie irritiert an. „Was?“ „Ich habe gesagt, dass du Angelo runterholen sollst. Du denkst doch sowieso die ganze Zeit an ihn.“ „Das stimmt nicht!“, log Michael nicht besonders gekonnt. Sie schenkte ihm einen wissenden Blick und er knickte ein. „Okay, ich frage mich schon, was er da oben macht. Er … es ist nicht gut, wenn er zu viel Zeit zum Grübeln hat. Meist kommt dabei irgendetwas Dummes heraus. Ich glaube, er hat noch ziemlich an dieser Engelgeschichte zu knabbern. Er weiß einfach nicht, wo er steht. Bei uns, bei dem da oben und überhaupt.“ „Was meinst du mit 'wo er bei uns steht'? Ich dachte, das wäre klar.“ Michael sah unbehaglich zur Seite. „Na ja, als du vorhin so wütend auf ihn warst, da habe ich … ich habe ihn nicht verteidigt. Weil ich wusste, dass du Recht hast. Ich wollte dir nicht in den Rücken fallen. Aber ich habe gemerkt, wie er mich angesehen hat. So als würde er Hilfe erwarten und ich … ich habe gekniffen. Vielleicht hat ihm das Angst gemacht.“ Gabriella war für einen Moment zu verblüfft, um zu antworten. Von dieser Warte hatte sie das Ganze noch gar nicht betrachtet. Sie griff automatisch nach ihrem Glas und nahm noch einen Schluck Wein. So eine … Beziehung zu dritt war komplizierter, als man annehmen sollte. Vor allem, wenn einer der Beteiligten noch so unerfahren war. Engel hin oder her. Sie und Michael wussten, dass sie sich aufeinander verlassen konnten, auch wenn nicht immer alles eitel Sonnenschein war. Er wusste, dass Gabriella ihm manchmal Dinge an den Kopf warf, die sie nicht so meinte, und er verfiel dafür manchmal in großes Schweigen, das sie ihm zum Glück einigermaßen abgewöhnt hatte, manchmal aber auch einfach ihm zuliebe ertrug, bis er sich wieder gefangen hatte. Angelo hingegen verfügte nicht über diese Erfahrungen. Vielleicht hatte Michael Recht. Vielleicht hatte ihn diese Sache mehr verunsichert, als sie angenommen hatte. „Hol ihn trotzdem her. Eventuell beruhigt ihn das ja etwas.“ „Okay.“ Michael war so schnell auf den Füßen, als hätte er nur auf ihre Einladung gewartet. Als er kurz darauf mit Angelo zusammen wiederkam, zeigte Gabriella den beiden ein freundliches Lächeln. „Hey, schön, dass du kommst. Wir haben dich vermisst.“ Sie hatte die Formulierung sorgfältig gewählt und wie es aussah, entging Angelo das nicht. Er sah sie ein wenig unsicher an, bevor er ihr Lächeln zaghaft erwiderte und sich neben Michael niederließ. Gabriella kuschelte sich ebenfalls wieder an dessen Seite und griff über Michael hinweg nach Angelos Hand. Sein Lächeln wurde ein wenig breiter, er nahm ihre Hand und ließ sie auch für den Rest des Films nicht mehr los. Gabriella zweifelte, dass einer von ihnen besonders viel von der Handlung mitbekam, aber sie verkniff sich einen entsprechenden Kommentar.     Die letzten Credits des Abspanns flimmerten überschallt von Werbung über den Bildschirm, als Michael nach der Fernbedienung griff und das Gerät abschaltete. „Schlafenszeit“, verkündete er und sah zwischen Gabriella und Angelo hin und her. „Wie machen wir das jetzt eigentlich? Ich meine …“ Er verstummte und auch Gabriella musste zugeben, dass sie darüber bereits nachgedacht hatte. Sie hatten morgen viel vor und sollten ausgeschlafen sein. Vermutlich war es daher besser, wenn sie die Nacht nicht alle zusammen verbrachten. Allerdings stellte sie das vor die Frage, wer mit wem zusammen in einem Bett schlafen würde. Sie sah zu Angelo, der sie verstohlen musterte. Als er ihren Blick bemerkte, wandte er den Kopf ab. Ein leichtes Stirnrunzeln glitt über ihr Gesicht. Was hatte das zu bedeuten? Auch Michael schien irgendwie zu erwarten, dass sie eine Entscheidung traf. Plötzlich fühlte sie sich unbehaglich. Sie löste sich von Michael und stand auf. „Ich mache mich fertig. Ihr könnt dann ja nachkommen.“   Ohne sich noch einmal umzusehen, ging sie die Treppe hinauf ins Badezimmer. Sie zog sich aus, legte ihr Nachthemd an und putzte sich die Zähne. Als sie gerade ins Schlafzimmer gehen wollte, hörte sie die Schritte der beiden Männer auf der Treppe. Schnell huschte sie durch die Tür des Schlafzimmers und schloss sie bis auf einen winzigen Spalt. Direkt daneben blieb sie stehen und lauschte. Sie hörte, wie die Badezimmertür erneut geöffnet wurde und die beiden anscheinend zusammen hineingingen. Undeutliches Gemurmel drang an ihr Ohr. Was da wohl vorging? Einen Augenblick rang sie mit sich, bevor sie entschied, dass sie wissen musste, ob sie über sie redeten. So leise wie möglich trat sie auf den Flur und schlich auf Zehenspitzen zurück zum Badezimmer, dessen Tür ebenfalls nicht ganz geschlossen war. Dort angekommen schob sie sie noch ein Stückchen weiter auf und konnte jetzt endlich deutlicher hören, worüber die Männer sprachen. Offenbar putzten sich die beiden die Zähne. Wie ein altes Ehepaar, dachte Gabriella schmunzelnd. Das, was sie danach hörte, ließ sie ihre Meinung jedoch schnell wieder revidieren.   „Mhmmm. Sag mir nochmal, warum ich darauf jetzt für die nächsten Stunden verzichten soll.“ Das war Michaels Stimme. „Weil … es richtig ist. Du … ah … solltest zu deiner Frau gehen.“ Bei dem Klang von Angelos Stimme rieselte Gabriella ein kitzelnder Schauer über den Rücken. Was immer Michael gerade tat, es war ziemlich offensichtlich, dass er seine Hände dabei nicht bei sich behielt. Auch seine Stimme schien gedämpft, so als würde er beim Sprechen mit seinem Mund noch etwas anderes tun. „Du weißt schon, dass sie auf dich steht, oder?“ Es folgte das Geräusch von Küssen. Lippen, die eine Spur auf nackter Haut zogen. „Wie … wie meinst du das?“ Gabriella hörte Angelo scharf einatmen. „Na, dass sie dich heiß findet. Und du sie doch auch, oder? Du kannst es ruhig zugeben. Ich bin nicht eifersüchtig.“ Mehr Küsse und ein Geräusch, das ein leises Stöhnen sein musste. Gabriella leckte sich über die Lippen und fühlte ein vertrautes Kribbeln in sich aufsteigen. Sie wollte nur zu gerne sehen, was da drinnen vor sich ging. Wie in Zeitlupe schob sie die Tür noch ein Stück weiter auf und spähte durch den Spalt. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie Michael und Angelo entdeckte, die vor dem marmornen Waschtisch standen. Michael war von hinten an Angelo herangetreten und küsste den empfindlichen Bereich hinter seinem Ohr. Im Spiegel sah sie, dass er einen Arm um Angelos Brust gelegt hatte, während der andere … Sie hielt unbewusst den Atem an, als ihr klarwurde, wo sich Michaels Hand vermutlich gerade befand. Die Tatsache, dass Angelo die Augen geschlossen und den Kopf zurückgelegt hatte, während eine leichte Röte über sein Gesicht kroch, erhärteten ihren Verdacht nur noch. Das Kribbeln zwischen ihren Beinen wurde stärker. „Würdest du gerne mit ihr schlafen?“ Michaels Frage ließ Angelo erschrocken die Augen öffnen. „Ich … ich kann doch nicht …“, stammelte er und verzog im nächsten Moment den Mund zu einem erregten Keuchen. „Warum nicht?“, wollte Michael wissen und knabberte an Angelos Ohrläppchen. „Du könntest sie fragen, ob sie es auch möchte. Ich bin mir sicher, dass sie interessiert ist. Und wenn nicht, stelle ich mich gerne als Ersatz zur Verfügung.“ „Michael!“ Angelos Protest kam nur halb so überzeugend rüber, wie er sicherlich geplant hatte, da Michael seine Hand jetzt zielstrebiger zwischen seinen Beinen bewegte. Als er die zweite Hand zur Hilfe nahm, um Angelos Unterwäsche etwas nach unten zu streifen und so den Ansatz seines Hinterns zu entblößen, musste Gabriella sich auf die Lippen beißen, um sich nicht zu verraten. Angelo gab jetzt Laute von sich, die mehr als eindeutig erregt waren und sie fühlte den Drang in sich aufsteigen, sich zu den beiden zu gesellen. Nur zu gut erinnerte sie sich noch an Angelos lustverhangenen Blick und seine Hände auf ihrer Haut, den Ausdruck auf seinem Gesicht, als er von ihr und Michael getrieben zum Höhepunkt kam. Wie gebannt lauschte sie seinem Stöhnen, verfolgte jede Regung auf dem schönen Gesicht, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie selbst ebenfalls beobachtet wurde. Ihr Blick wanderte ein Stück nach oben, wo Michael sie belustigt anfunkelte. Er hauchte ihr einen Kuss zu, bevor er sich wieder Angelo zuwandte. Mit unübersehbarem Genuss leckte er über seinen Hals und flüsterte ihm ins Ohr: „Siehst du, ich wusste doch, dass sie nicht abgeneigt ist.“ „Was?“ Angelos Denken schien durch dichten Nebel zu wandeln. Seine Lider flatterten und öffneten sich schließlich. In diesem Augenblick entdeckte auch er Gabriella. Ihr Herz machte einen erschrockenen Satz, als sie sich genau in die Augen sahen. Sofort war alles wieder präsent. Lust, Feuer, Begehren. Die Erinnerungen jagten einen heißen Schauer durch ihren Körper. Angelo hingegen versteifte sich in Michaels Armen. Seine Stimme wurde gequält. „Michael, bitte. Gabriella ist da und …“ „Und was?“, neckte Michael ihn und hielt ihn weiter fest. „Wenn ich ihren Gesichtsausdruck richtig deute, würde sie jetzt gerne herkommen und mir bei dem helfen, was ich gerade mit dir anstelle. Nicht wahr, Baby?“ Gabriella zog es vor, nicht zu antworten. Sie nahm ihren Mut zusammen, öffnete die Tür noch weiter und betrat ebenfalls das Badezimmer. Gemessenen Schrittes bewegte sie sich auf die beiden Männer zu, bis sie schließlich dicht neben Michael stehenblieb. Langsam fuhr sie mit der Hand über seinen Rücken, während sie die andere ganz sacht auf Angelos Bauch legte. Sie spürte, wie er unter der Berührung erzitterte. Ihre Blicke trafen sich erneut im Spiegel. „Ich weiß nicht“, sagte sie langsam. „Bin ich denn eingeladen?“ Angelo öffnete den Mund und versuchte offenbar, auf die Frage zu antworten, aber es kam kein Wort über seine Lippen. Stattdessen griff er irgendwann nach ihrer Hand und schob sie langsam nach unten. Als sie die samtige Erregung unter ihren Finger spürte, atmete er hörbar ein. „Ich glaube, das ist ein Ja. Hab ich recht?“ Angelo nickte leicht und sein intensiver Blick bohrte sich im Spiegel weiter ihn ihren. Michael, der sich bisher nicht bewegt hatte, sondern ebenso atemlos abgewartet hatte, was zwischen ihr und Angelo passierte, beugte sich jetzt zu Gabriella hinunter und küsste sie auf den Hals, ohne Angelo dabei loszulassen. „Weißt du, was ich gerne mal sehen würde?“, hauchte er in ihr Ohr. „Was denn?“, fragte sie ebenso leise zurück, während sie immer noch Angelo ansah. Ihre Hand bewegte sich kaum, strich lediglich mit federleichten Fingerspitzen über warme, weiche Haut und feines, krauses Haar. „Ich würde zu gerne sehen, wie du ihn in den Mund nimmst. Würdest du das für mich tun?“ Gabriella drehte den Kopf und sah Michael an. Seine Augen waren dunkel vor Lust und sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut. Es war ihm deutlich anzusehen, wie sehr er das wollte. „Bitte“, schob er hinterher. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie suchte Angelos Blick im Spiegel. „Meinetwegen gern. Aber nur, wenn du es auch möchtest. Dazu gehören immerhin zwei.“ Wieder versagte Angelos Stimme ihm den Dienst, aber das verräterische Zucken unter ihren Fingern war ihr Antwort genug. Sie streichelte ihn noch einmal sacht, bevor sie ihre Hand zurückzog. „Na dann kommt, lasst uns ins Schlafzimmer gehen.“ Im nächsten Augenblick fühlte sie Michaels Lippen auf ihrem Mund. Er zog sie an sich, sodass sie automatisch näher an Angelo gepresst wurde. Als er die Berührung löste, drehte er den Kopf und versank im nächsten Moment in einem neuen Kuss, der dieses Mal Angelos Lippen einfing. Gabriella spürte, wie seine Hand dabei über ihren Hintern wanderte, sich besitzergreifend um ihre Pobacke legte und zudrückte. Sie konnte nur vermuten, dass es Angelo gerade nicht anders ging. Lächelnd schob sie Michael von sich. „Schlafzimmer. Jetzt.“ „Mit dem größten Vergnügen, Baby.“       Michael sah, wie Gabriella Angelo einen Kuss auf den Mund hauchte, bevor sie seine Hand nahm und ihn hinter sich her ins Schlafzimmer zog. Nicht, dass dabei viel Überzeugungsarbeit notwendig gewesen wäre. Immerhin hatte Michael deutlich gehört und gespürt, wie erregt Angelo war. Nicht viel anders als er selbst. Zuerst war er sich ein wenig schlecht vorgekommen, als er sich so an Angelo herangeschlichen hatte, während dieser vor dem Waschbecken gestanden hatte. Aber der Anblick des süßen Hinterns, der sich ihm so einladend entgegengestreckt hatte, als Angelo sich vorgebeugt hatte, um sich den Mund auszuspülen, war zu verführerisch gewesen. Ursprünglich hatte Michael nicht wirklich geplant, etwas Größeres daraus werden zu lassen. Er hatte einfach nur ein wenig das Gefühl von Angelos Körper an seinem genießen wollen, bevor sie sich für die Nacht trennen mussten. Ein bisschen Nähe, ein wenig Abschalten. Den Kopf freikriegen von der ganzen Sache mit Jeff, dem Streit und allem was dazugehörte. Aber als er dann gesehen hatte, wie Gabriella sie beobachtet hatte mit diesem Ausdruck in den Augen, war ihm eine Idee gekommen. Eine Idee, die hoffentlich den gewünschten Erfolg hatte.   Am Bett angekommen zögerte Gabriella nicht, den Bettüberwurf zurückzuschlagen und sich dabei ebenso verführerisch vorzubeugen wie Angelo kurz zuvor. Michael musste sich beherrschen, um nicht auch hier die Gelegenheit zu ergreifen und sie anzufassen. Das hier war gerade nicht sein Spiel. Er wollte nur zusehen. Sein Vorsatz wurde auf eine harte Probe gestellt, als sich Gabriella mit laszivem Blick auf den Laken drapierte, aber Angelo keinerlei Anstalten machte, sich ihr zu nähern. Michael ballte die Hände zu Fäusten und beherrschte sich, so gut er konnte. Worauf wartete er denn noch? Die Aufforderung war doch mehr als eindeutig? Er hatte eine verbale und eine nonverbale Einladung erhalten und trotzdem legte Angelo noch eine Zurückhaltung an den Tag, die Michael fast zur Verzweiflung trieb. Er war kurz davor, ihm einen Stoß zu versetzen, als endlich Bewegung in den blonden Jungen kam. Michael hätte beinahe erleichtert aufgeseufzt. Das hier und vor allem die Bilder, die er davon in seinem Kopf hatte, brachten sein Blut schon zum Kochen, bevor es überhaupt angefangen hatte. Angelo ließ sich jetzt neben Gabriella aufs Bett gleiten und begann, sie zu küssen. Ihre Hand wanderte in seinen Nacken und die Küsse wurden schnell leidenschaftlicher. Michael schluckte und versuchte, das Ziehen in seinen Lenden sowie die sichtbare Ausbeulung in seinen Shorts zu ignorieren. Wenn ihn allein die Küsse der beiden schon so anheizten, wie sollte das erst später werden? Unbewusst lehnte er sich ein wenig vor, um besser sehen zu können und trat dabei ein Stück weiter ans Bett heran. Als ihm bewusst wurde, was er tat, stoppte er sich selbst. Das war zu nah. Er hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um Angelo zu berühren. Doch wenn er das tat, würde eins zum anderen führen und das wollte er auf jeden Fall verhindern. Michael atmete tief durch und trat einen deutlichen Schritt zurück, bevor er um das Bett herumging und sich am Fußende des Bettes postierte. Das war besser und brachte automatisch mehr Abstand zwischen ihn und die beiden Liebenden, die jetzt begannen, sich ihrer Kleidung zu entledigen. Das hieß, eigentlich zog sich nur Angelo aus. Der Anblick seines nackten Körpers ließ Michael innerlich aufstöhnen. Vor allem, als jetzt Gabriellas Hand begann, über die weiche Haut und die darunter liegenden, festen Muskeln zu streicheln. Sie fing an den Beinen an und ließ die sanften Berührungen weiter nach oben wandern, wobei sie den gefährlichen Bereich wohlweislich ausließ. Michael bewunderte das, denn er selbst wäre sicherlich nicht in der Lage gewesen, das, was sich ihm dort präsentierte, einfach so zu ignorieren. Gabriellas Finger strichen jetzt über Angelos Mund, bevor sie wieder tiefer glitten und schließlich auf der Brust mit den drei großen Narben zu liegen kam. Dort ersetzte sie nun endlich ihre Finger mit ihren Lippen und begann, sich quälend langsam einen Weg nach unten zu küssen. Als sie im Bereich unterhalb des Bauchnabels angekommen war, leckte sie einmal quer über Angelos Bauch, bevor sie sanft auf die feuchte Haut blies. Ihr Blick war dabei auf Angelos Gesicht gerichtet, doch Michael sah von seinem Beobachtungspunkt aus deutlich, wie dessen Erektion unter der Behandlung zuckte. Als sich Gabriella daraufhin aufrichtete, hätte er beinahe aufgestöhnt, und auch Angelo sah ein wenig irritiert aus. „Gleiches Recht für alle“, verkündete Gabriella und zog sich ihr Nachthemd über den Kopf. Michael bedauerte das fast ein bisschen, denn er mochte es, sie auszuziehen oder ihre Kleidung manchmal auch nur ein Stück weit zur Seite zu schieben, um, was auch immer darunter zum Vorschein kam, mit Händen und Lippen zu liebkosen. Allerdings war das hier nicht seine Runde und so musste er sich den Regeln beugen, die die beiden da vorne festlegten. Als er jedoch sah, wie Gabriella nur noch mit einem schwarzen Slip bekleidet zwischen Angelos Beinen kniete und den Kopf senkte, spürte er, wie sein Mund trocken wurde und ihm noch mehr Blut zwischen die Beine schoss. Ohne darüber nachzudenken, trat er an das Bett heran und kniete sich hinter Gabriella. „Zieh dich ganz aus“, raunte er dunkel und wunderte sich, dass seine Stimme ihm überhaupt noch gehorchte. Er wartete auch nicht, bis sie seiner Aufforderung Folge leistete, sondern ließ seine Fingerspitzen über ihren Rücken geistern, bis er den Rand des Slips erreichte. Langsam schob er den Stoff nach unten und enthüllte so Zentimeter für Zentimeter ihres wundervollen Hinterns. Er musste schlucken, als er ihr den Stoff von den Beinen zog und dabei einen Blick dazwischen werfen konnte. Das Ganze wurde auch nicht besser, als Gabriella sich jetzt vorbeugte und ihn dabei alles in voller Deutlichkeit sehen ließ. Als sie die Beine noch ein wenig weiter spreizte, sich offenbar bewusst, welchen Anblick er hier gerade genoss, entwich ihm ein leises Keuchen. Einen Moment lang war er versucht, seinen Plan vollkommen über den Haufen zu werfen, aber er schaffte es irgendwie, sich wieder zu entfernen und sogar neben das Bett zu treten, weg von der Gefahrenzone.   Um sich abzulenken richtete er seine Aufmerksamkeit auf Angelo, der das Ganze bisher wie gebannt verfolgt hatte. Als Gabriella jetzt begann, die empfindliche Spitze seiner Erektion mit der Zunge zu umkreisen, während sie sie ganz langsam in sich aufnahm, stöhnte er leise auf und schloss für einen Augenblick die Augen. Michaels Blick blieb an seinem leicht geöffneten Mund hängen, durch den er stoßweise atmete. Als er sich über die Lippen leckte, durchfuhr es Michael siedend heiß. Nur zu gerne hätte er jetzt erleben wollen, wie sein eigener Schwanz zwischen eben diesen Lippen verschwand. Das hier war denkbar ungeeignet, um ihn vom Spielfeld fernzuhalten. Als er sich jedoch umdrehte und Gabriella dabei beobachtete, wie sie ihre Zunge über Angelos gesamte Länge gleiten ließ, um sie danach wieder in den Mund zu nehmen, während sie Michael genau in die Augen sah, machte es das in keiner Weise besser. Schnell sah er wieder zu Angelo, der jetzt aus großen, blauen Augen zu ihm aufsah. Sein Blick wanderte tiefer und Michael bemerkte, dass er längst die Hand zwischen den Beinen hatte und sich selbst massierte. Fuck, die beiden machten ihn vollkommen fertig. Wenn das so weiterging, würde er der Erste sein, der hier zum Höhepunkt kam. Dabei hatte er doch nur zuschauen wollen.   Er sah, wie Gabriella um das harte Fleisch zwischen ihren Lippen herum lächelte, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder vollkommen Angelo widmete. Zumindest dachte Michael das, bevor er sah, wie sie auffordernd ihren Hintern bewegte. Sollte das heißen, dass sie nichts dagegen hatte, wenn er … Michael merkte, wie seine nur mühsam zusammengekratzte Selbstbeherrschung zu Staub zerbröckelte. Die Vorstellung, Gabriella von hinten zu nehmen, während sie Angelo einen Blowjob verpasste, war einfach zu verlockend. Scheiß auf Pläne, er wollte nicht länger nur am Rand stehen. Mit hämmerndem Herzen kniete er sich hinter dem Bett auf den Boden und streckte die Hände nach Gabriella aus. Er fasste an ihre Hüften und zog sie ein Stück nach hinten, bevor er sich vorlehnte und über die feuchte Stelle zwischen ihren Beinen leckte. Er hörte, wie sie scharf einatmete und ließ seine Zunge erneut über den glänzenden Spalt gleiten. Würde sie es mögen, wenn er das tat, während sie Angelo…? Nur nicht darüber nachdenken, was ihr Mund gerade tat, sonst wäre es um seine Zurückhaltung wirklich gleich geschehen. Als er merkte, dass sie die Beine noch ein wenig weiter spreizte, nahm er das als Einverständnis und fing an, sie mit Lippen und Zunge zu verwöhnen. Gott, wie er es liebte, das zu tun. Tief einzutauchen in den vollen, leicht salzigen Geschmack, der ihn fast um den Verstand brachte. Diesen unglaublich weiblichen Geruch, der mit nichts zu vergleichen war. Er stieß ein tiefes Brummen aus, von dem er wusste, dass es ihren gesamten Unterleib zum Vibrieren brachte, und wurde dafür mit einem Keuchen belohnt. Er saugte, küsste und leckte und war schon versucht, seine Finger hinzuzunehmen, als ihm auffiel, dass sie aufgehört hatte, sich Angelo zu widmen. Das war nicht seine Absicht gewesen, obwohl er zugeben musste, dass er sich ein wenig geschmeichelt fühlte, sie so aus dem Konzept gebracht zu haben. Zumal es so aussah, als wenn Angelo voller Faszination beobachtete, wie sich Gabriella auf seinem Schoß unter Michaels Liebkosungen wand. Trotzdem wurde es wohl Zeit, sich wieder ein wenig zurückzunehmen. Entschlossen zog er Gabriella hoch und rückwärts in seine Arme. „Tut mir leid, Baby“, murmelte er. „Ich wollte euch nicht stören.“ Er küsste ihren Hals, ihre Schultern, ließ seine Hände über ihren Bauch hinauf zu ihren Brüsten gleiten und umfasste sie mit einer zärtlichen Geste. Wie perfekt sie in seinen Händen lagen. Als wären sie dafür geschaffen worden. Sie drehte den Kopf zu ihm herum, erhaschte seine Lippen zu einem Kuss, ließ ihre Zunge, die noch einen Hauch von Angelos Geschmack trug, in seinen Mund gleiten. Die Aromen der beiden vermischten sich zu einer betörenden Mischung. Das war einfach zu gut, um wahr zu sein. Mit einem Mal kam Bewegung in Angelo. Er setzte sich auf dem Bett auf und begann ebenfalls, Gabriella zu streicheln. Seine und Michaels Hände begegneten sich immer wieder, während sie über die sanften Hügel und Täler des weiblichen Körpers fuhren, der zwischen ihnen gefangen war. Gabriella hatte den Kopf gegen Michaels Schulter gelehnt und genoss ihre Berührungen sichtlich. Erneut küsste er ihren Hals, während er Angelo beobachtete, der sich anscheinend gar nicht sattsehen konnte. Als er begann, kleine Küsse auf Gabriellas Bauch und zwischen ihren Brüsten zu verteilen, seufzte sie leise.   Angelo sah zu Michael auf und der nickte leicht. „Nur weiter. Du machst das gut.“ Immer noch ein wenig zögernd, schloss Angelo schließlich seine Lippen um Gabriellas Brustwarze und begann daran zu saugen. Michael spürte, wie Gabriella darauf reagierte. Ihr Unterleib wölbte sich ihm entgegen und presste ihren Hintern genau gegen seine Erektion, die immer noch in dem inzwischen leicht feuchten Stoff gefangen war. Unwillkürlich packte er sie fester und rieb sich ein wenig an ihr. Als sie einen kleinen, lustvollen Laut von sich gab, dachte er zunächst, dass das an ihm läge. Als er jedoch sah, dass Angelo die Hand zwischen ihre Beine geschoben hatte, wurde ihm klar, wer der wahre Verantwortliche war. Gar nicht mal so unbegabt, dachte Michael mit einem leichten Schmunzeln und genoss die aufreizenden Bewegungen, die Gabriellas Körper an seinem vollführte. Was immer Angelo tat, schien ihr ziemlich zu gefallen. Ihr leises Keuchen wurde schneller, abgehackter, sie begann flach durch die Nase zu atmen und dann … kam sie plötzlich mit einem hellen Aufseufzen. Michael glaubte fast selbst vor Lust vergehen zu müssen. Alles in ihm schrie danach, jetzt sofort in sie einzudringen, doch irgendwie schaffte er es, sich noch weiter zurückzuhalten, während Gabriellas Körper in seinen Armen bebte und zitterte. Ein Blick in Angelos Gesicht zeigte ihm eine Mischung aus Überraschung und Ehrfurcht gemischt mit wilder Begierde und einer kleinen Portion Stolz. Beinahe hätte Michael gelacht. Ob er auch so ausgesehen hatte, als er das erste Mal eine Frau zum Orgasmus gebracht hatte? Vermutlich nicht halb so andächtig, dafür aber doppelt so aufgeplustert. Einer plötzlichen Eingebung folgend lehnte er sich vor, griff nach Angelos Handgelenk und hatte im nächsten Moment dessen feuchte Finger im Mund. Wieder schmeckte er Salz und mehr bevor er die Hand in Angelos Nacken legte und ihn in einen tiefen Kuss zog. Er hörte Angelo gedämpft stöhnen, als ihm wohl klar wurde, was er da gerade an Michael wahrnahm. Als sie sich voneinander trennten, waren Angelos Augen nahezu schwarz. Am liebsten hätte Michael ihn aufs Bett geworfen und ihn an Ort und Stelle genommen. Doch wieder rief er sich zur Ordnung, spielte nur einen Augenblick in seinem Kopf mit der Möglichkeit, und legte sie dann als anregendes Bild zur Seite. Das hier sollte vor allem für die beiden anderen sein und er würde sich ihren Wünschen fügen, nachdem seiner schon erfüllt worden war.   Michael lehnte sich wieder zurück, strich Gabriellas Haar zur Seite und knabberte zärtlich an ihrem Hals. „Und jetzt? Was möchtest du jetzt machen?“ Er spürte, wie sie lächelte. „Ich glaube, das sollten wir Angelo fragen, meinst du nicht?“ Michael machte ein zustimmendes Geräusch. „Verdient hat er es sich wohl.“ Sein Blick richtete sich auf Angelo. „Also? Wie soll es jetzt weitergehen?“ Als er sah, wie Angelo zögerte, lächelte er aufmunternd. „Na los, du kannst es ruhig sagen. Es gibt keine falsche Antwort.“ Für einen Augenblick irrten Angelos Augen zwischen ihnen beiden hin und her, bevor er sichtbar schluckte. „Ich … ich würde gern …“ Wieder huschte sein Blick zu Gabriella. Michael lächelte. Er hatte genug gesehen. „Ich glaube, er hat sich entschieden“, flüsterte er in ihr Ohr. „Und du?“ Sie drehte sich halb zu ihm herum und grinste ihn an. „Wer sagt denn, dass ich mich entscheiden muss?“ Für einen Moment war Michael so verblüfft, dass er vermutlich aussah wie ein Schaf, das man zu heiß gewaschen hatte. Dann begann er zu lachen. „Meine Frau ist wirklich ein durchtriebenes Luder.“ „Wie kannst du so etwas sagen?“ Angelo schien ernsthaft empört über diese Äußerung. Michael lachte auf. „Nun, nachdem sie mir gerade eröffnet hat, dass sie nicht nur mit mir, ihrem wunderbaren Ehemann, zu schlafen gedenkt, sondern obendrein auch noch mit ihrem jungen, sexy Lover, kann ich das doch wohl mal feststellen.“ Alle Farbe wich aus Angelos Gesicht, bevor sie mit voller Wucht zurückkam. Sogar seine Ohren wurden ein bisschen rot. Es sah hinreißend aus. „Davvero?“, flüsterte er und blickte Gabriella dabei an. Sie antwortete nicht, sondern lehnte sich stattdessen vor und küsste ihn lange und ausgiebig, während ihre Hände durch die blonden Locken fuhren und schließlich in seinem Nacken zu liegen kamen. „Davverro“, bestätigte sie leise nach dem Kuss und im nächsten Augenblick schlang Angelo seine Arme um sie und zog sie mit neu entfachter Leidenschaft an sich. Er schien entschlossen, alles an ihr zu küssen, was er irgendwie erreichen konnte, sodass sie ihn irgendwann bremste, indem sie sein Kinn einfing, ihn noch einmal küsste und ihn dann sanft aber bestimmt ein wenig zurück auf das Bett drückte. Gabriellas Blick richtete sich für einen kurzen Augenblick auf Michael. „Besorgst du uns ein Kondom?“ Er wollte zuerst fragen, warum, aber dann beeilte er sich lieber, ihrem Wunsch nachzukommen und die Packung aus dem Badezimmer zu holen. Als er wiederkam, tauschten die beiden bereits wieder tiefe Küsse, während ihre Hände den Körper des jeweils anderen erkundeten. Es sah so vertraut aus, dass Michael einen Moment lang innehalten musste, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte. Als sich Gabriella schließlich zurück auf Angelos Schoß senkte, hörte Michael ihn leise aufkeuchen, bevor er erneut anfing, Gabriella zu küssen. Sie legte die Arme um seinen Hals und begann, sich in weichen Wellenbewegungen auf ihm zu bewegen. Michael musste sich auf die Lippen beißen, um kein verräterisches Geräusch von sich zu geben. Das hier war unglaublich heiß und gleichzeitig auf subtile Weise mehr als Sex. Die Blicke, die Zärtlichkeit, irgendwie alles an ihnen. Er spürte, wie seine Kehle eng wurde.   Wie lange er dastand, und sie einfach nur beobachtete, wusste er nicht. Es war jedoch so lange, dass ihre Bewegungen zunehmend schneller wurden. Irgendwann hörte Gabriella auf, Angelo zu küssen, sondern konzentrierte sich darauf ihn tiefer und härter in sich zu treiben. Michael sah, wie Angelos Hände sich fester in Gabriellas Haut krallten, wie er instinktiv ihren Bewegungen entgegenkam, den Rhythmus noch weiter anpeitschte und dann plötzlich innehielt. Er keuchte, kam, sagte irgendetwas dabei, das Michael nicht verstand, während er sein Gesicht an Gabriellas Halsbeuge vergrub. In diesem Moment konnte Michael sich nicht mehr zurückhalten. Binnen einer Sekunde war er neben den beiden auf dem Bett und musste sie einfach anfassen, berühren, streicheln, küssen, sich bestätigen, dass sie da waren. Bei ihm. Er fühlte Gabriellas Haut unter seinen Lippen und im nächsten Moment schmeckte er Angelos süßen Schweiß, während seine Hände über die immer noch vereinten Körper glitten. Erst nach einigen Minuten schien der Rausch langsam abzuklingen und er lauschte seinen eigenen schweren Atemzügen, die irgendwo in der gemeinsamen Umarmung verhallten. Erst, als Gabriella in seine Haare fasste und seinen Kopf nachdrücklich zurückzog, öffnete er wieder die Augen, von denen er gar nicht gemerkt hatte, dass er sie irgendwann geschlossen hatte. „Alles klar bei dir?“, fragte sie mit einem leichten Lächeln. Auch Angelo sah ihn forschend an. „Ich … ähm, ja … ich … mir geht’s gut.“ Gabriella hob fragend eine Augenbraue. „Möchtest du jetzt noch …?“ Er hätte gerne erwidert, dass er noch warten oder sogar verzichten konnte, aber als er im nächsten Moment Angelos Hand an seinem Bein nach oben wandern fühlte und Gabriellas Lippen auf seinem Mund, ergab er sich erneut der Begierde, die die Berührungen auslösten. Und als kurz darauf zwei Paar Lippen sich seines Körpers bemächtigten, war es vollkommen um ihn geschehen. Er kam eine gefühlte Trillion Jahre später, während Gabriella auf ihm ihren zweiten Höhepunkt erlebte und er Angelo tief und verlangend küsste. Die Welt war vollkommen.     Wenig später lagen sie zusammen auf dem Bett. Dieses Mal war es Gabriella, die die goldene Mitte erobert hatte. Sie hatte sich mit dem Rücken dicht an Michael gedrängt, während sie Angelo mit träge wirkenden Bewegungen streichelte. Er erwiderte die Zärtlichkeiten, wobei er manchmal seine Hand auch über Michaels Körper gleiten ließ und ihm ab und an einen Blick zuwarf, den der nur als zufrieden betiteln konnte. Zufrieden und ausgeglichen. Michael griff über Gabriella hinüber und strich ihm eine der blonden Locken aus der Stirn. „Was hast du vorhin eigentlich gesagt, als du …? Na du weißt schon.“ Angelo schlug die Augen nieder. „Nicht so wichtig.“ Michael schmunzelte. „Quatsch, nun sag schon.“ Als er keine Antwort erhielt, sah er auf Gabriella hinab. „Hast du ihn verstanden?“ Sie küsste von unten herauf sein Kinn. „Ja, habe ich.“ Anschließend drehte sie sich zu Angelo und fügte hinzu: „Aber ich habe ihm noch nicht geantwortet.“ Michael musste seine Arme aus dem Weg nehmen, als sich Gabriella aufrichtete und Angelo ernst ansah. „Es gibt nichts zu verzeihen. Weder jetzt, noch vorhin. Wir hatten einen Streit, wir haben uns wieder vertragen. So etwas kommt vor. Da gibt es nichts, worüber du dir Gedanken machen musst. Und es tut mir leid, dass ich dir das nicht schon früher gesagt habe. Ich wusste nicht, dass dich das so verunsichert. Es tut mir leid.“ Angelo sah sie einen Augenblick lang an, bevor er zu lächeln begann. „Und mir tut es leid, dass ich so was Dummes gemacht habe. Ich hätte … mit euch sprechen sollen über das, was mich beschäftigt. Schon früher. Aber ich hatte Angst, dich zu enttäuschen. Euch beide.“ Michael hörte, wie auch Gabriella zu lächeln begann. Er räusperte sich. „Also ich weiß ja nicht, wie's euch geht, aber mir tut das hier gar nicht leid. Meinetwegen könnt ihr öfter Versöhnungssex haben. Stört mich überhaupt nicht. Wenn ihr wollt, dürft ihr euch auch gerne mal mit mir streiten. Alles kein Problem.“ Im nächsten Moment musste er sich vor mehreren Schlägen in Sicherheit bringen und sprang lachend aus dem Bett, in das er kurze Zeit später mit einer Flasche Wasser und drei Gläsern zurückkehrte. Er wusste nicht, wie die hereinbrechende Nacht wohl im Einzelnen verlaufen würde. Er war sich allerdings ziemlich sicher, dass keiner von ihnen das Schlafzimmer verlassen würde.   Kapitel 18: Verdeckte Ermittlungen ---------------------------------- Marcus schloss die Akte auf seinem Schreibtisch und sah zur Uhr. Es war fünf vor zehn und somit fünf Minuten vor seinem offiziellen Schichtende. Der Tag hatte sich nach dem Debakel in der Wüste hingezogen wie Kaugummi. Ein unwichtiger Verkehrsdelikt nach dem anderen hatte sich schier endlos aneinander gereiht und ihm viel zu viel Zeit zum Nachdenken gelassen. Über die letzte Nacht, über Crystal und ihren geheimnisvollen Auftraggeber, über Angelo und seine zwei Begleiter, über Engel im Allgemeinen und seinen Vater im besonderen. Sogar Carter war aufgefallen, dass er heute irgendwie geistig abwesend war. Als sie als Höhepunkt des Tages einen Diebstahl in einem Schnapsladen übernahmen und den sich mit Händen und Füßen wehrenden Täter nach einer kurzen Verfolgungsjagd dingfest machen konnten, griff sein Kollege in das Regal des Ladens, drückte ihm eine Flasche Whiskey in die Hand und riet ihm, vor dem Schlafengehen noch einen zu heben und dann morgen wieder normal zum Dienst zu erscheinen. Marcus hatte die Flasche in einem unbeobachteten Moment wieder zurückgestellt und seit dem aufgepasst, nicht wieder gedanklich abzudriften. Das Ganze war ihm nur so mittelmäßig gut gelungen, aber nun war endlich der Moment gekommen, an dem er sich wieder voll und ganz auf sein „Hobby“ konzentrieren konnte. Vorher galt es jedoch noch etwas zu erledigen.   Er rief die Suchanzeige von Thompson auf und gab fein säuberlich das Kennzeichen des Mietwagens sowie den letzten gesicherten Aufenthaltsort ein. Sein Finger schwebte für einen Augenblick über der Entertaste, bevor er sie entschlossen nach unten drückte. Warum mache ich das?, fragte er sich sicherlich schon zum hundertsten Mal heute. Und warum erst jetzt? Warum helfe ich diesem Thompson, indem ich nichts tue? Ich bin diesem Kerl zu nichts verpflichtet und dem merkwürdigen Engel an seiner Seite auch nicht. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht, atmete tief durch und schaltete den Computer ab. Es brachte nichts, wenn er weiter darüber grübelte. Zumal er Wichtigeres zu tun hatte. Immerhin hatte er eine Spur, die es zu verfolgen galt. Er würde heute mal im Dirty Dogs auf den Busch klopfen. Wenn er Glück hatte, würde er dort etwas erfahren, dass ihn zu dem Cadejo führte. Und wenn nicht, konnte er sich immer noch überlegen, ob er noch einmal nach Crystal suchte. Vielleicht konnte er doch noch etwas aus ihr rausquetschen.   Er ging zum Umkleiderum und begann, sich aus seiner Uniform zu schälen. In seinem Spind war für den Notfall immer einen Satz Zivilkleidung deponiert. Eine Tatsache, die ihm jetzt zugutekam ebenso wie die Uniform, die er am Morgen zu Hause angezogen hatte. Wenn ihm die Singerei und die anderen Kinder nicht so auf den Zeiger gegangen wären, hätte er vermutlich einen guten Pfadfinder abgegeben. Allzeit bereit. Für einen Moment wog er seine Dienstwaffe in der Hand. Er hätte sie mitnehmen können. Allerdings würden findige Kriminelle ziemlich schnell spitz kriegen, was er da mit sich rumschleppte. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass jemand mitbekam, dass er ein Cop war. Also legte er sie schweren Herzens wieder in den Schrank und schloss ab. Als er gerade nach seiner Jacke griff, kam Carter rein. „Hey, schon auf dem Heimweg? Soll ich dich zu Hause absetzen?“ Marcus schüttelte den Kopf. „Nein danke, nicht notwendig. Ich werd noch ein bisschen um die Häuser ziehen. Den Kopf freikriegen.“ Für einen Augenblick schien Carter verblüfft, doch dann breitete sich ein Grinsen unter seinem buschigen Schnauzbart aus. „Mach das, Junge. Viel Spaß dabei. Aber übertreib’s nicht. Nicht, dass ich dich Morgen wieder rausklingeln muss. Und such die ein nettes Mädchen. Die wird dich wieder zurück in die Spur bringen.“ Marcus ersparte sich und Carter eine Antwort darauf, nickte seinem Kollegen nur noch einmal zu und machte dass er wegkam. Ein Mädchen, dachte er und schnaubte innerlich, als plötzlich Crystals Bild in seinem Kopf auftauchte. Wenn der wüsste.     Das Dirty Dogs war nicht schwer zu finden und erfüllte so ungefähr jede von Marcus’ Vorstellungen einer runtergekommenen Kneipe, wie es sie sicher zu tausenden gab. Ein Neonschild wies ihm den Weg zu einer dunkel verglasten Tür, die ihn, als er sie aufstieß, mit einem Schwall lauter Rockmusik überschüttete. Die zum Schneiden dicke Luft im Inneren war durchtränkt mit einem Potpourri verschiedenster Gerüche. Rauch, Schweiß, Alkohol und Leder drangen in seine Nase und ein unverkennbarer Hauch von Benzin ließ sie unangenehm kribbeln. Letzterer war vermutlich auf die nicht geringe Anzahl von Motorrädern zurückzuführen, die vor der Tür geparkt war. Bei der Einrichtung herrschte dunkles Holz vor, bei den Gästen die Sorte Typen, denen man nicht unbedingt im Dunkeln begegnen wollte. Um einen löchrigen Billardtisch hatten sich die Besitzer der Bikes versammelt inklusive der dazugehörigen Schönheiten mit roten Mündern und aufgeplustertem Vorbau. Marcus vermied es, mit irgendjemandem Blickkontakt aufzunehmen, und steuerte ohne allzu große Hast einen freien Platz an der Theke an. Dort ließ er sich auf einem Barhocker nieder und wartete mit gesenktem Kopf, dass er bedient wurde. Dabei spähte er möglichst unauffällig in alle Richtungen, ob er den Gesuchten bereits entdecken konnte oder zumindest jemand, der so aussah, als wenn er ihn kennen könnte. Er hatte gerade eine verdächtige Gruppe von fünf oder sechs Gästen aufs Korn genommen, deren Aufmachung seiner Zielperson nicht unähnlich war, als er plötzlich eine Bewegung am Rand seines Gesichtsfelds wahrnahm. Als er den Blick hob, sah er sich dem bulligen Barkeeper gegenüber, der ihn finster anstarrte. Alles, was an dem Typ nicht in schwarzes Leder gehüllt war, war entweder behaart oder tätowiert. Oder beides. Lediglich der Schädel war kahlrasiert und bar jeglicher Farbe. „Was willst du?“ Fasziniert bemerkte Marcus, dass sich der Bart um den Mund des Mannes nicht bewegt hatte, während er sprach. „Bier“, bestellte er und wollte sich schon wieder abwenden, aber die barsche Stimme seines Gegenübers hielt ihn auf. „Ham wir nicht“, bellte sie begleitet von einem Grinsen, das man mehr hörte als sah. Der Kerl war wirklich ein wandelnder Busch. Es fehlten nur noch Sonnenbrille und Hut und man hätte ihn glatt mit einem ZZ-Top-Mitglied verwechseln können. Marcus überlegte rasch. Er hatte sich auf Schwierigkeiten eingestellt, aber so schnell? Sein Blick glitt über die Bar, auf der mehrere Bierkrüge standen. Langsam drehte er den Kopf wieder zurück und nahm den Barkeeper ins Visier. „Dann nehm ich eben was von der Katzenpisse, die die anderen trinken.“ Für einen Moment schien der tätowierte Hüne zu überlegen, dann nickte er kaum merklich und ging, um Marcus kurz darauf einen Bierkrug vor die Nase zu knallen. Nicht wenig der trüben Flüssigkeit schwappte dabei heraus und bildete eine unappetitliche Pfütze um das definitiv nicht saubere Glas herum. Marcus versuchte, den Ekel aus seinem Gesicht zu halten, griff danach und setzte es an. Augen zu und durch, dachte er, bevor er den Inhalt Schluck um Schluck herunterwürgte. Es schmeckte ungefähr so, wie er befürchtet hatte, aber er hörte nicht auf zu trinken, bevor das Glas fast leer war. Dann ließ er es wieder auf die Theke krachen und sah den Barkeeper herausfordernd an. Der verzog den Mundwinkel ein wenig nach oben – wenigstens nahm Marcus das an, es war einfach nicht erkennbar mit all den Haaren im Gesicht – und nahm ihm das Glas ab, um es kurz darauf durch ein neues zu ersetzen. Dieses Mal war das Bier gekühlt. „Wenn du kotzen musst, fliegst du raus“, brummte er dabei. Marcus machte ein fragendes Gesicht und der Hüne grinste. „Du hast grad mein Resteglas ausgesoffen. Da war so ziemlich alles drin außer Katzenpisse.“ Die Vorstellung, gerade Haare und Fingernägel geschluckt zu haben, ließ Marcus’ Magen ganz kurz rebellieren, bevor er das Gefühl bewusst zurückdrängte. Er hatte den Fuß in der Tür, da würde er jetzt keinen Rückzieher machen. Er nahm noch einen Schluck Bier und musste zugeben, dass das hier wesentlich besser war als das, was er vorher bekommen hatte. Ein Augenschwenk auf den Barkeeper bestätigte ihm, dass der ihn beobachtete. Marcus senkte den Kopf noch ein wenig tiefer und konzentrierte sich scheinbar auf sein Bier. Irgendwas an dem Blick des Mannes gefiel ihm nicht, doch er beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. Stattdessen versuchte er weiter, die Gäste unauffällig zu beobachten. Er war sich ziemlich sicher, dass mindestens zwei der Biker bewaffnet waren und auch die Latinos, die er vorher ins Visier genommen hatte, hatten mit Sicherheit irgendwas dabei. Die Gruppe von drei schweigenden Trinkern, die an einem der Tische Karten spielten, konnte er sicherlich getrost ausschließen. Blieben zwei Typen, die ebenso wie er allein an ihrem Tisch saßen und einsam tranken. Der eine hatte ein halb geleertes Bier vor sich, der andere ein Glas und eine Flasche Whiskey. Letzterer hatte vermutlich mehr Übung als sein Gegenstück, das auf nicht recht zu beschreibende Weise nicht hierher zu passen schien. Doch noch bevor sich Marcus weiter Gedanken um den Mann in Jeans und Lederjacke machen konnte, bekam er schon wieder Gesellschaft von dem wandelnden Busch hinter der Theke. Er versuchte, ihn zu ignorieren, aber der nahezu zwei Meter große Kerl schien nicht gewillt, ihn in Ruhe zu lassen. So ergab er sich schließlich dem Unvermeidlichen und sah zu ihm auf. Stahlblaue, intelligente Augen trafen auf seine und musterten ihn mit einer Intensität, die ihm fast körperlich unangenehm war. Er war kurz davor, auf seinem Hocker hin- und herzurutschen, als der Hüne endlich wieder das Wort ergriff. „Was will ein Cop in meiner Bar?“ Marcus hätte sich beinahe verschluckt. Er schaffte es gerade noch, das Bier in den richtigen Teil seiner Kehle zu lenken, bevor er mehr schlecht als recht krächzte: „ Wovon sprichst du?“ Sein Gegenüber gab ein Knurren von sich. „Davon, dass ich euch Bullen auf zwei Meilen gegen den Wind rieche. Glaub mir, ich kenne mich da aus. Hab schließlich genug davon in meiner Familie. Also nochmal: Was willst du hier?“ Marcus musste einsehen, dass er jetzt entweder gehen oder mit der Sprache rausrücken konnte. Vielleicht verriet ihm der Barkeeper ja sogar etwas, das ihm nützte. „Ich suche jemanden. Nennt sich Alejandro. Kennst du den?“ „Der Name ist häufig.“ Das war immerhin kein Nein. „Ist so ein kleiner, abgebrochener Typ. Schmal. Mit einem Goldzahn. Hab gehört, dass er hier manchmal abhängt.“ Das Geräusch, das der Barkeeper jetzt von sich gab, konnte man nur als belustigt bezeichnen. Marcus war sich nicht sicher, wie er das einordnen sollte. Entweder lachte der Mann jetzt über ihn oder über den Cadejo. Oder beides. Es war jedoch ein untrügliches Indiz dafür, dass er wusste, von wem Marcus sprach. Daher nahm er einfach noch einen Schluck Bier und wartete ab.   Die Augen seines Gegenübers hatten begonnen, amüsiert zu funkeln. Er griff nach zwei kleinen Gläsern und einer Flasche Hochprozentigem, goss sich und Marcus etwas ein und prostete ihm zu, bevor er den Schnaps irgendwo in dem Bartwuchs verschwinden ließ. Marcus betrachtete das Glas mit der undefinierbaren, braunen Flüssigkeit. Er mochte Alkohol nicht besonders, auch wenn er sich um die körperlichen Folgen meist wenig Sorgen machen musste. „Trink!“, wurde er jetzt aufgefordert. Mit einem Seufzen ergab er sich seinen Schicksal und stürzte den Inhalt des Glases mit einem Schluck herunter. Es brannte in seiner Kehle, aber er zwang sich, nicht zu husten, sondern sah den Barkeeper herausfordernd an. Natürlich brachte ihm das ein zweites Glas ein, das er ebenso wie das erste vernichtete. „Und jetzt?“, fragte er, als sich das Glas bereits zum dritten Mal gefüllt hatte. „Muss ich erst die Flasche austrinken oder bekomme ich eine Antwort?“ Der Hüne grinste. „Kommt darauf an, warum du ihn suchst. Ist es beruflich, geschäftlich oder was Privates?“ Die Frage ließ Marcus vorsichtig werden. Er wusste, dass von seiner Antwort vermutlich abhing, ob er sich gleich auf der Straße wiederfand oder endlich Fortschritte machte. Er räusperte sich. „Privat“, antwortete er dann. Das war immerhin mehr oder weniger die Wahrheit. Das enervierende Grinsen seines Gegenübers wurde breiter. „So so, privat also.“ Wieder schien die Antwort den Mann sehr zu amüsieren. „Und in welcher Angelegenheit? Hat er deinen Hund getreten, deine Schwester beleidigt oder bist du aus einem anderen Grund hinter seinem knochigen Arsch her?“ Marcus zögerte ein wenig, bevor er antwortete. „Ich hab keinen Hund ... und auch keine Schwester.“ „War mir klar.“ Nach dieser kryptischen Äußerung drehte sich der Barkeeper weg und ließ Marcus allein mit seinem Bier und dem dritten Schnaps, den er nicht trinken wollte, es dann aber doch tat, weil er das Gefühl hatte, dass es den Hünen verärgert hätte, wenn er es verweigerte. Der hingegen tat jetzt so, als hätte er Marcus noch nie gesehen, sondern zapfte stattdessen eine neue Runde Getränke für die Gruppe am Billardtisch. Erst, als die sich wieder ihrem Spiel zugewandt hatte, kam er fast beiläufig wieder zu Marcus geschlendert und musterte ihn erneut. „Privat also“, sagte er und hatte immer noch dieses Funkeln im Auge. „Hätte dir eigentlich einen besseren Geschmack zugetraut, aber wenn man ihn von hinten fickt, kann einem der Vorderteil ja egal sein.“ Er lachte dröhnend, vermutlich auch über Marcus’ dummes Gesicht, dem erst nach einigen Augenblicken aufging, was der Barkeeper meinte. Die ganze Zeit gemeint hatte. Er wollte gerade anheben zu protestieren, als ihm einfiel, dass das vermutlich die beste Gelegenheit war, die sich ihm bieten würde. Also musste er wohl oder übel mitspielen. Er rang sich ein schmales Lächeln ab. „Stimmt“, gab er scheinbar ertappt zu und nahm noch einen Schluck Bier. „Also? Hast du ihn gesehen?“ Zu seiner Enttäuschung schüttelte der Barkeeper den Kopf. „War ein paar Tage nicht hier. Das letzte Mal am Freitag zusammen mit seiner Gang. Die hängen hier immer ne Weile rum, bevor sie losziehen, um sich um Nutten, Koks und Schutzgeld zu kümmern.“ Marcus blinzelte ein paar Mal, bevor ihm klarwurde, dass der Typ ihn verarschte. Oder auch nicht. Vielleicht war es auch ein Test um rauszufinden, ob er nicht doch gelogen hatte. Scheinbar gleichgültig zuckte er mit den Achseln. „Tja, dann werde ich wohl bis zum Wochenende warten müssen. Oder hast du ne Ahnung, wo ich ihn finden kann?“ „Nein, keinen blassen Schimmer. Die kommen und gehen scheinbar aus dem Nichts. Sind vor ner Weile aufgetaucht und haben die Gegend seit dem im Griff. Wer nicht spurt, verschwindet. Von daher solltest du dir das wirklich gut überlegen, ob du dem Kerl hinterherrennst. Ist ja nicht so, dass andere Mütter nicht auch hübsche Söhne hätten.“ Der Barkeeper zwinkerte Marcus noch einmal zu und widmete sich dann dem nächsten Gast, der gerade zur Tür reingekommen war.   Marcus blieb zurück mit seinem Bier, das er nicht auszutrinken gedachte. Es bot ihm lediglich einen Halt für seine Finger, die sonst vermutlich unruhig auf der Theke herumgeklopft hätten. Es schien, als wäre der Abend für heute gelaufen. Mitternacht war bereits vergangen und er bezweifelte, dass die Cadejos heute noch hier auftauchen würden. Also blieb er entweder hier sitzen, riskierte sich doch noch zu betrinken und weiter zweideutige Angebote von dem bärtigen Riesen zu bekommen, oder nach Hause zu gehen und es morgen erneut zu versuchen. Die zweite Möglichkeit war eindeutig die vernünftigere von beiden. Trotzdem zögerte er, dehnte seinen Aufenthalt aus ihm unerfindlichen Gründen weiter und weiter aus und trank schließlich doch noch etwas von dem Bier, das inzwischen warm geworden war.   Irgendwann jedoch war tatsächlich der Boden seines Glases erreicht und Marcus hielt sich selbst davon ab, noch ein weiteres zu bestellen. Er legte einen Schein auf den Tresen und stand auf. Noch einmal ließ er den Blick über die rauchverhangene Bar streifen. Die Latinos und einer der einsamen Trinker waren inzwischen verschwunden und auch für Marcus wurde es dringend Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Zu seinem Erstaunen erwischte er sogar einen der nach einem nur ihnen bekannten Fahrplan verkehrenden Busse, ließ sich dort auf eine Sitzbank fallen und schloss die Augen. Dahinter erwarteten ihn Schwärze und kreisende Gedanken. Ein Zustand, der ihm nur allzu bekannt war.   Der Bus hielt an einer Haltestelle in der Nähe seiner Wohnung und Marcus stieg aus, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Die Nacht war mild, aber die Luft um ihn herum schwül und drückend, so als gäbe es zu viele Menschen, die sie atmeten. Zu viele, die die Atmosphäre mit ihren Gedanken verpesteten. Zu viele Körper auf zu wenig Raum. Er sehnte sich nach der Stille der Wälder, der frischen Luft, der Freiheit Stunde um Stunde in eine Richtung laufen zu können und niemandem zu begegnen. Stattdessen saß er hier inmitten dieses röchelnden, stinkenden Molochs voller Gewalt und Korruption und bildete sich ein, dass er etwas verändern konnte. Der Gedanke machte ihn müde und ausgelaugt. Er sehnte sich plötzlich nach seinem Bett und konnte es nicht erwarten, endlich nach Hause zu kommen.   Als er die letzten Stufen nahm, holte er bereits seinen Schlüsselbund heraus und fummelte klimpernd damit herum, als er plötzlich mitten in der Bewegung gefror. Sein Blick klebte an seiner Wohnungstür, die nicht, wie erwartet, verschlossen vor ihm lag, sondern stattdessen einen winzigen Spalt breit offenstand. Das Schloss war offensichtlich aufgebrochen worden und das neue Holz wie tiefe Kratzspuren aus. Fast so, als hätte ein Tier davor gewütet. Marcus spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten.       Ein leises Piepen ließ Erithriel aufhorchen. Er holte das kleine Tablet heraus, das ihm während seiner Einsätze half, den Überblick zu behalten. Moderne Computertechnik war wirklich ein Segen und die zunehmende Vernetzung machte ihm seinen Job umso einfacher. Es ermöglichte ihm, an vielen Orten gleichzeitig seine Augen und Ohren offenzuhalten, wenngleich auch zu dem Preis, dass er selbst einige Vorsicht walten lassen musste um unentdeckt zu bleiben. Man bekam eben nichts umsonst. Er tippte auf das blinkende Feld am oberen Rand und wurde sogleich über ein Statusupdate der Fahndung nach Michael Thompson informiert. Er und seine Frau waren vergangene Nacht hier in Vegas gesehen worden. Als er nach der Quelle der Meldung suchte, wurde ihm das Metropolitan Police Department genannt. Es fehlte jedoch die Signatur, die die Meldung einem Beamten zuordenbar machte. Erithriel starrte den kurzen Text an, der auch den Hinweis auf einen Fahrzeugwechsel enthielt, und runzelte unwillkürlich die Stirn. Das Ganze hatte einen eigenartigen Beigeschmack. Zum einen hatte er nicht erwartet, ausgerechnet hier fündig zu werden. Was für einen Grund konnte es für Thompson geben, erneut nach Las Vegas zu kommen? Was hatte er hier gesucht? Der andere Punkt, der ihn stutzig werden ließ, war die offenbar mit Absicht anonym angelegte Eintragung. Natürlich war es möglich, dass der entsprechende Officer einfach nur vergessen hatte, sein Kürzel einzutragen, aber Erithriel glaubte nicht so recht daran. Das Vorgehen war zu verdächtig, um wirklich ein Zufall zu sein. Und wenn es kein Zufall war, blieb eigentlich nur ein Schluss übrig. Er schüttelte langsam den Kopf. Wenn die Meldung tatsächlich von Marcus stammt, werde ich ihn deswegen zur Verantwortung ziehen müssen. Mir so eine Information vorzuenthalten, war höchst fahrlässig. Er muss doch gewusst haben, dass … Plötzlich kam ihm ein unschöner Verdacht. Was, wenn der Gefallene Marcus auf seine Seite gezogen hatte? Wenn er ihn benutzte, um gezielt Falschinformationen zu verbreiten? Erithriel brummte unzufrieden. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als Marcus noch einmal zu der Sache zu befragen. Gleichzeitig würde er jemanden anderen darauf ansetzen, sich um die Auffindung des Mietwagens zu kümmern. Er zog sein Handy heraus und tippte eine Nummer ein. Am anderen Ende läutete es, aber niemand nahm ab. Nach dem zehnten Klingeln beendete er den Anruf und überlegte. Er hatte schon einige Male mit Melanthiel zusammengearbeitet und ihn dabei stets als zuverlässig und gewissenhaft erlebt. Dass er jetzt den Anruf nicht entgegennahm, war höchst ungewöhnlich. Er probierte die Nummer eines weiteren Engels, der bei der Brandermittlung arbeitete, aber auch dort hatte er keinen Erfolg. Schließlich wählte er die Nummer der Dienststelle, in der Melanthiel unter dem menschlichen Namen Mel Jacobs arbeitete. Er bekam einen der ihm unterstellten Mitarbeiter an den Apparat. „Agent Jacobs ist nicht im Haus, Agent Hawthorne. Wenn ich es richtig verstanden habe, wurde er versetzt.“ „Versetzt?“ Erithriel runzelte die Stirn. „Können Sie mir sagen, in welchem Department er jetzt ist?“ „Darüber liegen mir leider keinerlei Informationen vor.“ „Gut, vielen Dank.“ Erithriel legte auf und wählte sogleich erneut. Aber auch bei der Brandermittlung teilte man ihm nur mit, dass der entsprechende Beamte am Morgen nicht zum Dienst erschienen war. Er beendete das Gespräch und starrte ins Leere. Das war mehr als ungewöhnlich. Gleich zwei Wächter, die nicht erreichbar waren, einer von ihnen offiziell versetzt, der andere anscheinend unbekannt verschollen. Er trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum und erwischte sich dabei, wie er das tat. Eine menschliche Angewohnheit, die nach all der Zeit wohl ihren Weg in sein Verhaltensmuster gefunden hatte. Es war wichtig, nicht aufzufallen, sich natürlich ins Bild einzupassen. Ein Grund, aus dem ein Ortswechsel nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches war. Von Zeit zu Zeit wurde es notwendig weiterzuwandern, um zu verhindern, dass jemand unangenehme Fragen stellte. Allerdings war dabei in der Regel dafür gesorgt, dass der Kontakt untereinander erhalten blieb. Er kannte bei weitem nicht alle Engel, die sich auf der Erde befanden, aber genug, um im Notfall auf Hilfe zurückzugreifen. Einen Augenblick lang war er versucht, solange Nummern durchzuprobieren, bis er jemanden fand, aber dann beschloss er, die Sache lieber selbst in die Hand zu nehmen. Bevor er das tat, würde er jedoch noch einmal Marcus aufsuchen, um ihn zur Rede zustellen. Möglicherweise gab es ja einen Grund für sein Verhalten.       Marcus legte die Hand an die Tür und schob sie langsam auf. Im Inneren der Wohnung brannte kein Licht und erst mit der Zeit schälten sich die Umrisse seiner Garderobe und anderer Möbelstücke aus dem Dunkel. Er schlüpfte durch die Tür und schloss sie wieder bis auf einen schmalen Spalt, um den Eindringling nicht durch den einfallenden Lichtschein zu warnen. Drinnen blieb er stehen um zu lauschen. Alle seine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt, als er es plötzlich hörte. Ein kleines Geräusch wie von etwas Weichem, das auf den Boden fiel. Im Grunde genommen kaum wahrnehmbar, doch in der Stille seines angehaltenen Atems entging Marcus der leise Laut trotzdem nicht. Er wusste jetzt, was er schon die ganze Zeit geahnt hatte. Der Einbrecher war noch hier. Marcus’ Gedanken überschlugen sich, versuchten einen Plan zu formen. Soweit er erkennen konnte, musste der Eindringling sich im nebenan liegenden Schlafzimmer befinden. Er selbst stand in der Küche, die ins Wohnzimmer überging. Von dort aus konnte er jetzt hören, wie der ungebetene Gast sich an seinen Schränken zu schaffen machte. Wenn er dachte, dort Reichtümer zu finden, würde er wohl enttäuscht werden. Dem undeutlichen Gemurmel nach zu urteilen, das jetzt durch die offenstehende Schlafzimmertür drang, teilte der Einbrecher diese Meinung. Aber warum hatte er dann nicht im Wohnzimmer nach Wertsachen gesucht? Dieses war, soweit Marcus das im Dunkeln beurteilen konnte, weitestgehend unangetastet. Was auch immer der Grund ist, im Schlafzimmer sitzt er in der Falle. Der Raum hatte zwar ein Fenster, das sich jedoch aufgrund eines Defekts nicht öffnen ließ, und so führte der einzige Weg aus der Wohnung heraus an Marcus vorbei. Und ich werde ihn nicht entkommen lassen.   Im Schreibtisch lagerten zwei Handfeuerwaffen, aber um an sie heranzukommen, hätte er die Schublade herausziehen müssen. Das Geräusch hätte der Einbrecher sicherlich bemerkt. Das Vernünftigste wäre gewesen, die Wohnung wieder zu verlassen und nach Verstärkung zu rufen. Allerdings verspürte Marcus wenig Lust, seine Kollegen überall in seiner Wohnung herumschnüffeln zu lassen. Wer wusste, was sie dabei zu Tage förderten. Also blieb ihm nur übrig, sich anzuschleichen und den Kerl aus dem Hinterhalt zu überwältigen. Noch einmal bereute er es, seine Dienstwaffe nicht mitgenommen zu haben. Aber es half nichts; er würde ohne auskommen müssen. Es gab allerdings etwas, das ihm nutzen konnte. Er zog sich in den kleinen Flur zurück und öffnete vorsichtig den dort immer noch gelagerten Werkzeugkasten. Behutsam tastete er über die Metallgegenstände und fand schließlich das Bündel schmaler Plastikbänder, das er gesucht hatte. Entschlossen zog er drei der Kabelbinder heraus und steckte sie in seine hintere Hosentasche. Echte Handschellen wären ihm zwar lieber gewesen, aber die lagerten auf dem Revier. Es musste also auch ohne gehen. Als er fertig war, stellte er sich wieder neben dem Eingang zum Wohnzimmer und lauschte. Der Eindringling durchstöberte offenbar immer noch seine Schränke. Marcus hörte, wie etwas klackte und mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden schlug. Was machte der Kerl da? Inzwischen musste ihm doch klar geworden sein, dass er dort weder Geld noch Wertgegenstände finden würde und mit jeder verstreichenden Minute stieg das Risiko entdeckt zu werden. Warum also plünderte dieser Typ fremde Kleiderschränke? Die möglichen Erklärungen reichten von pervers bis durchgeknallt, aber keine davon wollte Marcus so wirklich befriedigen. Er beschloss, die Frage auf später zu verschieben und vorerst zu verhindern, dass der Eindringling sich noch weiter an seinem Eigentum zu schaffen machte. Den Blick fest auf die halb geöffnete Tür gerichtet, durchquerte Marcus sein Wohnzimmer und drückte sich neben dem Eingang zum Schlafzimmer gegen die Wand. Drinnen waren jetzt alle Geräusche verstummt und die entstandene Stille lastete schwer auf Marcus’ Ohren. Hatte der Täter gefunden, wonach er gesucht hatte, oder hatte er Marcus gehört? Beides legte den Verdacht nahe, dass er den Raum gleich verlassen würde. Tatsächlich hörte Marcus jetzt Schritte, die sich seinem Standort näherten. Er spannte sich und zählte innerlich bis drei.   Als die schmale Silhouette vor ihm auftauchte, zögerte Marcus nicht. Er stürzte sich auf den Mann, seine Faust schoss vor und prallte gegen die Rippen des Einbrechers. Der Getroffene ächzte, wirbelte herum und holte im gleichen Augenblick zum Schlag aus. Marcus wich aus, ergriff den Arm seines Gegners, verdrehte ihn aus der Bewegung heraus und brachte ihn zu Fall. Sofort war er über ihm und fixierte ihn auf den Boden. Der Einbrecher knurrte und versuchte, sich aus Marcus’ Griff zu befreien, doch der hielt ihn unerbittlich fest. „Versuch’s gar nicht erst“, zischte er, griff in seine Tasche und zog einen der Kabelbinder heraus. Er presste sein Knie gegen den Rücken des Mannes, während er schnell und effektiv dessen Hände hinter dem Rücken zusammenband. Erst dann erlaubte er sich aufzuatmen. Der Mann unter ihm keuchte und fauchte. „Geh von mir runter, Arschloch!“ Marcus erstarrte, als er die Stimme erkannte. „Du?“, fragte er in die Dunkelheit. „Nein, der heilige Geist.“   Plötzlich veränderte sich der Körper unter ihm. Er wurde kleiner, schmaler, der Stoff unter Marcus Händen verschwand und wurde ersetzt durch kurzes, räudiges Fell. Eine Welle von Schwefelgestank schlug ihm entgegen und im nächsten Moment bohrten sich scharfe Zähne in sein Handgelenk. Marcus schrie auf und wollte seinen Arm zurückreißen, aber der Cadejo hielt ihn unerbittlich fest. Instinktiv versuchte er sich zu befreien, von dem Tier zurückzuweichen. Der Schmerz in seinem Arm verschwand, doch im nächsten Augenblick erhielt er einen Schlag vor die Brust. Marcus verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Bevor er wusste, was geschah, fand er sich auf dem Rücken liegend wieder, während der stinkende Atem des Dämons über sein Gesicht strich. Ein tiefes Grollen kam aus der Kehle des Cadejo und in der Dunkelheit sah Marcus die Kette um seinen Hals unheilvoll aufglühen. Er schluckte. Seine Gedanken rasten. Alles an ihm schrie danach, das Tier von sich runterzudrücken. In die Schnauze fassen, hatte es geheißen, wenn der angreifende Hund nicht mehr anders abzuwehren war. Aber dazu hätte er seinen Arm irgendwie zwischen die Zähne des Cadejo und seine Kehle bringen müssen und das war unmöglich. „Okay“, keuchte er zwischen zwei Atemzügen. „Du hast gewonnen. Ich gebe auf.“ Ein weiteres Knurren antwortete ihm und machte ihm klar, dass er sich besser nicht bewegte. Minuten schienen zu verstreichen, in denen der zähnefletschende Dämon über ihm hockte. Marcus war sich ziemlich sicher, dass seine Kräfte nicht ausreichen würden, um eine letale Bisswunde am Hals zu überleben. Gerade, als er überlegte, ob er wohl den Überraschungsmoment eines plötzlichen Angriffs würde nutzen können, wich der Druck auf seiner Brust und die stinkende Bestie entfernte sich von ihm. Marcus wagte kaum zu atmen, als er sich langsam aufrichtete. Aus der Dunkelheit starrten ihn die roten Augen des Dämons hasserfüllt an. Ein unmissverständliches Grollen lag in der Luft und machte klar, dass sein Gegenüber ihn genau beobachtete. Aus seiner Position heraus und ohne Waffen würde Marcus es nicht gelingen, den Cadejo unschädlich zu machen. Er musste sich etwas einfallen lassen. „Was machst du hier?“, fragte er, ohne weiter darüber nachzudenken. Natürlich erhielt er keine Antwort. „Ich war heute im Dirty Dogs. Hab dich gesucht.“ Vielleicht gelang es ihm, seinen Gegner abzulenken, um ihn dann zu überwältigen. „Der Barkeeper sagte, er kennt dich. Ein Freund von dir?“ Wieder antwortete ihm nur ein Knurren. Auch der Cadejo schien nicht so recht zu wissen, was er jetzt machen sollte. Das war … gut. Vermutlich. Marcus überlegte, wie er an den Schreibtisch herankommen sollte. Neben den Schusswaffen lagerte er dort auch den Eisendolch. Mit ihm würde er den Dämon töten können. Leider lagen zwischen ihm und dem Dolch etwas mehr als drei Meter. Auf diese Distanz würde der Cadejo unweigerlich schneller sein. Es sei denn, Marcus brachte ihn dazu, sich wieder zurückzuverwandeln. „Wollen wir uns nicht ein bisschen unterhalten? So von Mann zu Mann?“ Plötzlich verstummte das Grollen und er hörte, wie der Cadejo in seine Richtung witterte. Irgendetwas zupfte dabei an Marcus’ Bewusstsein, aber es gelang dem Gedanken nicht, sich vollständig zu manifestieren. Im nächsten Moment hörte er Knochen knacken und die rotglühenden Augen waren verschwunden. Stattdessen zeichnete sich jetzt wieder der Umriss des schmalen Mexikaners gegen die diffuse Dunkelheit ab. Marcus bildete sich ein, den Goldzahn aufblitzen zu sehen. „Du willst dich unterhalten?“, schnarrte der Cadejo und lachte heiser. „Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee.“ Marcus hörte, wie er sich in der Dunkelheit bewegte. Als er sich weiter aufsetzen wollte, hörte er ein warnendes Knurren. „Bleib, wo du bist.“ Marcus leckte sich über die Lippen. „Das hier ist immer noch meine Wohnung. Was willst du hier?“ „Hab was gesucht“, bekam er zur Antwort. „Und was?“ „Das geht dich einen Scheißdreck an.“ Wieder hörte er Schritte und meinte zu erkennen, wie der Cadejo sich bückte und etwas aufhob, das er kurzerhand unter sein Hemd stopfte. Marcus’ Augen wurden schmal. „Was war das?“ „Was?“ „Was du da mitgenommen hast.“ „Ich sagte, das geht dich einen Scheißdreck an. Der Kram gehört dir nicht mal.“ Wieder vergingen einige, endlos erscheinende Augenblicke, in denen sie sich abschätzig musterten. Jeder von ihnen schien zu überlegen, wie er den anderen möglichst schmerzhaft ins Jenseits befördern konnte. Zumindest waren das die Gedanken, die Marcus durch den Kopf gingen, bis ihn der Cadejo schließlich überraschte. „Wir sehen uns“, sagte der plötzlich und stand im nächsten Augenblick wieder als Hund vor Marcus. Er bellte noch einmal spöttisch, bevor er kurzerhand über die Rückenlehne des Sessel sprang, neben dem Marcus lag, und nur wenige Atemzüge später verschwunden war. Marcus blinzelte zu der Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte. Der Platz war und blieb jedoch leer. Der Cadejo war geflohen. „Scheiße!“, fluchte Marcus, als ihm die Tatsache endlich mit voller Wucht bewusst wurde, und verpasste dem unschuldigen Sessel einen saftigen Tritt. Jetzt war ihm der Kerl schon wieder entwischt. Dabei hatte er ihn doch finden und verhören wollen. Wie dämlich konnte man eigentlich sein? „Ich hätte wissen müssen, dass er es ist“, knurrte Marcus, bevor er sich endlich erhob. Jetzt, da der Cadejo weg war, fielen ihm mindestens fünf verschiedene Arten ein, wie er ihn hätte überwältigen können. Er war ein Polizist verdammt! Er müsste sich mit so was auskennen. Aber jetzt war es zu spät, die Gelegenheit war ungenutzt verstrichen. Er hatte endgültig versagt. „Zumal ich ihm auch noch vom Dirty Dogs erzählt habe. Das war absolut dämlich. Ich hab meine einzige Spur zunichte gemacht. Und jetzt? Absoluter Nullpunkt. Nichts. Nada. Keine Chance, dass ich ihn nochmal unvorbereitet erwische. Fuck, ich bin so dumm!“ Marcus war danach, noch ein wenig auf sein Mobiliar einzuprügeln, aber er ballte lediglich die Fäuste und beschloss, lieber den Schaden in Augenschein zu nehmen, den der Cadejo angerichtet hatte. Wie von unsichtbaren Gummibändern zurückgehalten bewegte er sich auf die Tür zum Schlafzimmer zu, stieß sie schließlich auf und schaltete das Licht an. Drinnen herrschte absolutes Chaos. Schubladen waren herausgezogen, Kleidungsstücke lagen überall verstreut, die Schranktüren standen offen und inmitten des heillosen Durcheinanders prangte … Michael Thompsons Koffer! Marcus entwich ein Laut der Verblüffung. Natürlich! Das hatte der Cadejo gemeint, als er sagte, dass die Sachen nicht ihm gehören würden. Er war nicht hergekommen, weil er etwas von Marcus wollte, sondern hatte lediglich nach dem Koffer gesucht. Aber warum? Vorsichtig trat Marcus näher, ging in die Hocke und nahm den Inhalt des Koffers in Augenschein. Die vorher teilweise noch ordentlich zusammengelegten Kleidungsstücke waren wild durcheinandergeworfen worden. Wobei es so aussah, als wenn jedes von ihnen zunächst in Augenschein genommen worden war, bevor es auf dem Boden gelandet war. Marcus konnte nicht feststellen, ob etwas fehlte, aber da der Cadejo etwas mitgenommen hatte, war das äußerst wahrscheinlich. Aber was? Und warum? Wieder versuchte ein Gedanke, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch noch bevor Marcus dazu kam, ihn näher zu betrachten, hörte er Schritte hinter sich. Er wirbelte herum, wollte den herannahenden Schlag abwehren, aber es war zu spät. Etwas traf ihn seitlich am Kopf und ein scharfer Schmerz schoss durch seinen gesamten Körper. Dunkelheit raste von allen Seiten heran und ließ sein Sichtfeld binnen Sekundenbruchteilen zu einem winzigen Punkt zusammenschrumpfen. Wie durch einen Schleier nahm er wahr, dass er neben dem Koffer zu Boden ging, während eine Stimme hämisch verkündete: „Ich hab doch gesagt, wir sehen uns wieder.“ Danach wurde es endgültig finster um ihn.       Als Erithriel vor dem schäbigen Apartmentgebäude hielt, war die Sonne bereits ein Stück weit über den Horizont geklettert. Er hatte in Erwägung gezogen, Marcus noch in der Nacht aufzusuchen, es sich dann aber doch anders überlegt. Die meisten Menschen reagierten nicht besonders positiv darauf, wenn man sie aus dem Schlaf riss. Trotz seiner Gene war Erithriel sich sicher, dass Marcus ihnen in dieser Beziehung ähnlich genug war, um den Versuch eines vernünftigen Gesprächs nachhaltig zu vereiteln. Zumal ihr Verhältnis ohnehin angespannt war. Eine Nacht-und-Nebel-Aktion wäre somit unangebracht und kontraproduktiv gewesen. Er hatte stattdessen weiter versucht, einen anderen Engel ausfindig zu machen, jedoch nur mit mäßigem Erfolg. Immerhin hatte er von Zweien erfahren, die noch am Abend zuvor gesehen worden waren. Erreichbar war allerdings keiner von ihnen. Erst nach langem Suchen hatte er einen Kollegen ans Telefon bekommen. Der hatte ihm jedoch nicht sagen können, was los war, und lediglich versprochen, sich später noch einmal zu melden, wenn er Genaueres wusste. Das Ganze schmeckte Erithriel ganz und gar nicht. Wenn das so weitergeht, werde ich mich an die Zentrale in Rom wenden müssen, dachte er, als er ausstieg und langsam durch den trüben Morgen auf Marcus’ Wohnung zuging. Dort wird jemand wissen, was hier los ist. Er stieg die Stufen zur Galerie empor und lauschte dabei mit halben Ohr den erwachenden Menschen. Einige von ihnen waren schon auf den Beinen, während andere noch in tiefem Schlummer lagen. Nicht wenige der hier Ansässigen arbeiteten in Berufen, die eher in den Abend- und Nachtstunden ausgeführt wurden. Marcus hätte sich eine bessere Wohngegend leisten können, aber vermutlich hatte er den Standort aus genau diesem Grund gewählt. Das Gewöhnliche zog ihn ebenso an, wie es ihn abstieß. Erithriel erkannte die auch gegen ihn gerichtete Rebellion darin, aber er hatte kein Recht, sich dazu zu äußern. Kein Recht, daran teilzuhaben. Er war nur ein Beobachter, ein Bewahrer. Eine Randfigur im irdischen Geschehen, die lediglich dafür Sorge zu tragen hatte, dass der dämonische Einfluss nicht allzu groß wurde. Menschliche Schicksale waren dabei zweitrangig, wenn sie nicht unmittelbar damit verknüpft waren. Und selbst dort wurde der himmlische Einfluss immer geringer. Statt sich den Mächten der Finsternis direkt entgegenzustellen, hatte man den Menschen Waffen an die Hand gegeben, mit denen sie sie selbst zurückdrängen konnten. Eine Entwicklung, die mehr und mehr zugenommen hatte in den letzten paar hundert Jahren. Die von den Dämonen einst so belächelten Menschen hatten es geschafft, sich zu einem ernstzunehmenden Gegner zu entwickeln. Man jagte sie nicht mehr mit ein paar Tricks ins Bockshorn oder gaukelte ihnen Reichtum und Macht vor, um sie den eigenen Wünschen gefügig zu machen und am Ende zu hintergehen. Immer öfter hatten die Engel dafür Sorge getragen, dass die Dämonen ihre eigene Medizin zu schmecken bekommen hatten, nachdem sie versucht hatten, sich der Menschen zu bedienen. Inzwischen herrschte auf dem Schlachtfeld Erde ein tückischer Frieden, den weder die eine noch die andere Seite zu durchbrechen wagte. Ein Zustand, den es weiterhin zu bewahren galt.   Erithriel erreichte Marcus’ Wohnung und stutzte. Die Tür war nur angelehnt und das Schloss wirkte, als sei es gewaltsam geöffnet worden. Sofort schickte er seine Sinne aus und wurde in seiner Vermutung bestätigt. Die Wohnung war leer. Er trat ein und fand im Wohnzimmer Spuren eines Kampfes. Über all dem lag ein leichter Dämonengeruch, der jedoch kaum mehr wahrnehmbar war. Erithriel runzelte die Stirn. Was immer hier passiert war, musste schon mehrere Stunden zurückliegen. Auch im Schlafzimmer fand er ein heilloses Durcheinander vor, aber keinerlei Spuren von deren Verursacher, wenn man von dem Geruch mal absah. Erithriel hatte zwar eine Vermutung, um wen es sich dabei handeln musste, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Wenn die Dämonen, die Marcus schon einmal aufgesucht hatten, zurückgekehrt waren, was hatten sie dann hier gewollt? Sein Blick fiel auf den Boden und den geöffneten Koffer, der dort lag. Die Sachen, die darin lagen, waren zu groß, um Marcus zu gehören. Plötzlich erinnerte Erithriel sich, das der gesagt hatte, er habe Thompsons Gepäck an sich genommen. War darin etwas von Wert gewesen? Etwas, das sich lohnte, dafür einen Einbruch zu riskieren? Erithriel drehte sich um und nahm noch einmal das Wohnzimmer in Augenschein. Alles sprach dafür, dass Marcus den gesuchten Gegenstand nicht freiwillig herausgerückt hatte. Das entlastete ihn vermutlich ein Stück weit, erklärte jedoch nicht, warum er nicht hier war. Erithriel wollte gerade noch einmal ins Schlafzimmer gehen, als sein Handy einen Ton von sich gab. Er sah auf das Display und entdeckte, dass es ein weiteres Status-Update gab. Er ließ sich die Nachricht vollständig anzeigen und erlebte die nächste Überraschung des Tages. Der Mietwagen, der am gestrigen Abend noch als Verbindung zu Thompson angegeben worden war, war vor einer halben Stunde in einer Filiale in Salt Lake City wieder zurückgegeben worden. Das muss Thompson gewesen sein. Für so clever, jemand anderen mit der Rückgabe des Wagens zu beauftragen, hielt Erithriel ihn nicht. Zumal er dann sicherlich ein weit entfernteres Ziel dafür gewählt hätte, wenn er wirklich seine Spuren hätte verwischen wollen. Wahrscheinlich war ihm nicht klar, wie schnell man ihm damit auf die Schliche kommen konnte. Noch einmal sah Erithriel sich in der Wohnung um. Marcus war nicht hier, sein Aufenthaltsort und seine Motivation vollkommen unbekannt. Es fehlten einige Engel und ein Gefallener trieb sich mit großer Wahrscheinlichkeit in Salt Lake City herum. Er brauchte nur zwei Sekunden, um sich zu entscheiden.   Erithriel kehrte der Wohnung den Rücken und zu seinem Auto zurück. Wenn er gleich losfuhr, würde er in etwas mehr als fünf Stunden in Salt Lake City sein. Er musste diesen Gefallenen stellen, koste es, was es wolle. Mit Glück würde er dabei herausfinden, was die Dämonen in Marcus’ Wohnung gewollt hatten und warum er verschwunden war. Wenn nicht, hatte er zumindest die Aufgabe mit der höchsten Priorität erfüllt und damit Schlimmeres verhindert. Er setzte den Blinker, verließ die Parklücke und beschleunigte den Wagen in Richtung Norden. Auf der Interstate griff er schließlich noch einmal nach seinem Handy. Vielleicht würde er Melanthiel jetzt erreichen.   Kapitel 19: Am Rande des Abgrunds --------------------------------- „Wow, so groß hatte ich es gar nicht mehr in Erinnerung.“ Michael ließ seinen Blick über die weiten Rasenflächen schweifen, auf denen sich trotz der frühen Stunde bereits die ersten Studenten tummelten. Wahrscheinlich tauschten sie hier zwischen sauber angelegten Wegen und üppig grünen Bäumen noch Notizen aus und verglichen Hausarbeiten oder schrieben diese ab, bevor sie in die ersten Vorlesungen und Seminare stürmten, um ihre Köpfe mit Wissen zu füllen. Zumindest konnte er sich lebhaft daran erinnern, dass er das früher oft gemacht hatte. Unwillkürlich sah er nach rechts, wo sich eines der modernen Universitätsgebäude im Morgensonnenschein von seiner besten Seite präsentierte. Ein Zentrum für Wissenschaft und Bildung wie aus einem Hochglanzkatalog. Michael jedoch sah daran vorbei auf die Umrisse eines anderen Gebäudes, das noch ein ganzes Stück weit dahinter lag. Eigentlich war es weniger ein Gebäude, als ein riesiges Rund mit unzähligen Tribünen, VIP-Lounges, die hoch über dem Erdboden lagen, einer gigantischen Leinwand, die die besten Spielszenen in Slow Motion wiedergab, und mittendrin … der Kessel. Das Herzstück des Stadions, das Spielfeld, der Ort, wo die Action passierte, während drumherum eine brodelnde Masse aus rotgekleideten, feiernden, aus Leibeskräften brüllenden Fans die Spieler anfeuerte. Spieler wie ihn. Ihm war, als könne er es noch einmal hören. Das Gemurmel der Menge, das sich, je weiter er und die anderen dem Ausgang entgegenstrebten, immer lauter und lauter wurde. Bis der lange, dunkle Gang endete und sich die Mannschaft wie eine Urgewalt auf das Spielfeld ergoss. Krieger, gepanzert und hungrig. Ein Befehle brüllender Captain, der sie alle einschwor auf Sieg, Sieg, Sieg. Das Gefühl, wenn er den Helm aufsetzte, sich auf seine Position begab, in die Hocke ging. Auge in Auge mit dem Gegner. Bereit zu gewinnen. Bereit das Beste zu geben. Bereit alles zu riskieren für den einen Spielzug, den einen taktischen Vorteil, die eine notwendige Sekunde, die sie voranbrachte und alles entschied. Bereit über Leichen zu gehen.   „Michael?“ Angelos Stimme ließ ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Forschend sahen ihn diese verdammt blauen Augen an und fast war ihm, als würde dieser Blick tiefer gehen. Als würde er all die Abgründe ausleuchten, die es darunter zu finden gab. Eilig schüttelte Michael den Kopf und bemühte sich um ein Lächeln. „Es ist nichts. Nur ein paar Gespenster von früher. Nichts, was dich beunruhigen müsste.“ Angelo schien nicht ganz überzeugt, beließ es aber bei einem weiteren skeptischen Blick. Irgendwie war Michael gerade froh, dass Gabriella nicht hier war. Sie hätte vermutlich gewusst, was mit ihm los war. Genau wie er heute morgen gemerkt hatte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Er erinnerte sich genau an ihre Reaktion, als er sie heute Morgen darauf angesprochen hatte.   Gabriella war zunächst ein wenig errötet und hatte sich schnell abgewandt, während sie das Frühstück zubereitete. „Es ist nichts“, hatte sie ebenso wie er gesagt, doch Michael hatte genau gewusst, dass es eine Lüge gewesen war. Er war hinter sie getreten, hatte die Arme um sie gelegt und schließlich hatte sie ihm gestanden, was ihr durch den Kopf gegangen war. „Ich komme mir irgendwie verrucht vor“, hatte sie leise gesagt. „Ich … ich habe tatsächlich mit zwei Männern geschlafen. Das hätte ich nie von mir gedacht. Im Nachhinein kommt es mir so verrückt vor.“ Michael war für einen Augenblick verblüfft gewesen und dann hatte er sie nur noch enger an sich gezogen. „War es denn gut?“, hatte er gefragt und gespürt, dass sie lächelte. „Sehr.“ „Dann hör auf, dir darüber Gedanken zu machen. Tun wir auch nicht. Und keiner von uns sieht deswegen auf dich herab. Im Gegenteil. Du bist unsere Göttin, unsere Sonne.“ Sie hatte versucht, ihn wegzuschieben. „Hör auf! Das ist albern.“ „Findest du?“ Er hatte seine Lippen an ihren Nacken geschmiegt. „Ich dachte, du magst es, wenn ich versuche poetisch zu sein. Früher hast du gesagt, das sei niedlich.“ „Du bist nun mal kein Dichter und Denker.“ „Stimmt“, hatte er mit einem Grinsen erwidert und sie kurzerhand hochgehoben und durch die Küche gewirbelt. „Aber ich habe andere Qualitäten, die dir viel besser gefallen.“ In dem Moment war Angelo hereingekommen und sie waren auseinandergestoben wie zwei verliebte Teenager, nur um im nächsten Moment in lautes Lachen auszubrechen, in das Angelo schließlich mit eingefallen war. Danach hatten sie sich alle drei zusammengerissen und es tatsächlich geschafft, das Haus so rechtzeitig zu verlassen, dass Gabriella sie noch vor dem Beginn der ersten Vorlesungen an der Universität hatte absetzen können. Sie selbst war anschließend weitergefahren, um den zu heiß gewordenen Mietwagen gegen ein neues Fahrzeug zu tauschen.   Michael seufzte noch einmal und riss sich dann endlich vom Anblick des Parks los, der ebenso wie alles andere mit so vielen Erinnerungen verbunden war. Er sah zu Angelo, der ihn immer noch misstrauisch musterte. „Es ist wirklich alles in Ordnung“, versicherte er noch einmal und meinte es dieses Mal auch. „Es ist einfach ein bisschen eigenartig, nach all der Zeit wieder hierher zurückzukommen. Das hier war eine Zeit lang mein Zuhause, verstehst du? Ich hatte hier Freunde, fast so etwas wie eine zweite Familie. Mein ganzes Leben drehte sich um diesen Campus und dann … dann war das auf einmal vorbei. Von einem Tag auf den anderen. Ich hatte nicht einmal Zeit, mich wirklich davon zu verabschieden.“ Er schwieg und warf einen Blick auf Angelo, der jetzt gedankenverloren auf den Fußboden starrte. Michael wurde bewusst, dass Angelo vermutlich genau wusste, wovon er sprach. Immerhin hatte auch er seine Heimat für immer verlassen. Freiwillig zwar, aber allem Anschein nach würde er nie wieder zurückkehren können. Der Gedanke ließ Michaels Kehle eng werden und er versuchte, das Gefühl möglichst herunterzuschlucken, um sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Angelos Opfer sollte wenigstens nicht umsonst gewesen sein. „Na los, suchen wir nach dieser Professorin. Ihr Büro müsste irgendwo im Westflügel sein.“ Sie steuerten eines der modernen Gebäude aus Glas und Stahl an, die sich hier mit roten Backsteingebäuden und ehrwürdig alten, säulenverzierten Bauten zu einem einzigartigen Mosaik verbanden. Hinter der gläsernen Tür erwartete sie eine weite Eingangshalle mit einem Springbrunnen und einem Informationstresen, den Michael sogleich ansteuerte. „Guten Morgen!“, begrüßte er die Frau auf der anderen Seite, die ihn über den Rand ihrer Brille hinweg musterte. „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“ Der Frau mit der grauen Lockenfrisur war anzumerken, dass sie sich über Michaels Auftritt ein wenig wunderte. Vermutlich versuchte sie gerade herauszufinden, in welcher Beziehung er zu Angelo stand, der zwar jung genug aussah, um hier zu studieren, aber zu alt, um Michaels Sohn zu sein. Daran, dass Michael keiner der Studenten war, die gerade in kleinen Gruppen begonnen hatten, das Gebäude zu bevölkern, konnte zumindest kein Zweifel bestehen. „Wir sind auf der Suche nach einer gewissen Maomi Yoshizono. Können Sie mir vielleicht sagen, wo wir sie finden können?“ „Haben Sie denn einen Termin?“ „Nein, eigentlich nicht, aber wir hatten gehofft, ihr kurz ein oder zwei Fragen stellen zu können. Eine Privatangelegenheit.“ Die Dame schenkte ihm noch einen weiteren Blick, bevor sie sich ihrem Computer zuwandte und einen Augenblick klackernd darauf herumtippte, bevor sie wieder zu ihm aufsah. „Professor Yoshizono gibt in einer halben Stunde eine Vorlesung im kleinen Saal. Wenn Sie sich beeilen, könnten Sie sie vorher noch erwischen. Ihr Büro ist im zweiten Stock, Raum 208.“ Michael zwang sich zu einem Lächeln. „Vielen Dank.“ Er winkte Angelo, der ihm auf dem Fuß folgte. Während sie zu den Aufzügen gingen, murmelte er: „Sieh dich mal unauffällig um. Telefoniert sie?“ Angelo schwenkte den Kopf nach hinten und gab ebenso leise zurück: „Ja, tut sie. Warum?“ „Weil sie Yoshizono vermutlich vorwarnt, dass wir kommen. Wir dürfen uns von ihr nicht abwimmeln lassen.“ Angelo warf noch einen Blick über die Schulter. „Wollten wir nicht eigentlich auf Gabriella warten?“ Michael betrat die Kabine und drückte auf den Knopf für den zweiten Stock. „Wollten wir. Aber wenn wir uns die Gelegenheit jetzt entgehen lassen, kommt die Dame möglicherweise davon. Ich werde nämlich das Gefühl nicht los, dass sie nicht mit uns sprechen will.“ „Wie kommst du darauf?“ „Keine Ahnung. Als Vertreter bekommt man vermutlich mit der Zeit ein Gespür dafür, wenn man unerwünscht ist.“   Als sich die Aufzugtüren wieder öffneten und sie den verglasten Gang betraten, sah Michael, wie am anderen Ende gerade jemand sein Büro verließ. Es war eine zierliche Frau mit dunklen, hochgesteckten Haaren in einem grauen Kostüm. Als sie Angelo und ihn erblickte, drehte sie sich um und begann zielstrebig in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. „Professor Yoshizono?“, rief Michael und beschleunigte seine Schritte. „Bitte warten Sie! Wir möchten Sie nur kurz etwas fragen.“ Die Frau war jetzt stehengeblieben und drehte sich langsam zu ihnen herum. Sie sah jünger aus, als Michael erwartet hatte, und war ohne Zweifel asiatischer Abstammung. Als er bei ihr ankam, schenkte er ihr ein warmes Lächeln. „Professor Maomi Yoshizono?“, fragte er noch einmal und sie nickte. „Ja, das bin ich. Ich fürchte jedoch, dass ich im Moment keine Zeit habe. Ich muss zu einer Vorlesung.“ „Das wissen wir. In einer halben Stunde. Wir haben auch nur ein paar kurze Fragen an Sie. Es geht ganz schnell.“ Der Blick der Frau glitt zu Angelo und für einen Augenblick huschte etwas über ihre ebenmäßigen Züge, das Michael nicht so recht zu deuten wusste. Er kam jedoch nicht umhin zu bemerken, dass ihr Lächeln danach ein klein bisschen weniger geschäftsmäßig wirkte. „Nun gut“, sagte sie und wies mit einer einladenden Geste auf ihre Bürotür. „Einen kleinen Augenblick meiner Zeit werde ich Ihnen wohl opfern können. Wenn Sie mir folgen wollen?“   Der Raum, in den sie sie führte, war penibel aufgeräumt. Es lag nichts herum, keine Unterlagen, keine losen Blätter. Es gab kein Buch, das nicht in Reih und Glied in den Regalen stand. Selbst das einsame Dekoobjekt auf dem niedrigen Aktenschrank, das sich zwischen all den zweckmäßigen Dingen wie ein Fremdkörper ausnahm, wirkte seltsam steril. Alles hier war tadellos ebenso wie das Äußere der Frau, die jetzt an ihrem Schreibtisch Platz nahm und sie aus schräg stehenden Augen aufmerksam musterte. „Also? Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs, Mister …?“ „Thompson“, beeilte sich Michael zu erwidern. „Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit und dass wir Sie so ganz ohne Termin überfallen. Sie sind sicherlich sehr beschäftigt.“ „In der Tat“, gab sie zurück und lächelte glatt, während ihre Augen für einen winzigen Augenblick zu Angelo huschten. Michael entging nicht, dass sich ihr Brustkorb dabei auffällig hob und senkte. Nicht, dass er hingesehen hätte, aber in diesem Moment traf ein Sonnenstrahl direkt auf den Anhänger, der an einer Kette um ihren Hals hing. Das Schmuckstück bestand aus einem großen, farblosen Kristall mit kleinen schwarzen Einschlüssen in einer goldenen Fassung. Die dazugehörige Kette bestand aus einfachen, fast schon grob zu nennenden Kettengliedern. Sie war im Aufschlag der weißen Bluse fast nicht zu sehen und passte irgendwie nicht so ganz ins Bild, das er bisher von der Frau erhalten hatte. Bevor er sich jedoch noch weiter Gedanken darum machen konnte, merkte er, dass sie ihn auffordernd ansah. Anscheinend hatte sie ihm eine Frage gestellt, die er verpasst hatte. Er lächelte entschuldigend. „Verzeihen Sie, was hatten Sie gerade gesagt?“ Ihre roten Lippen wurden ein wenig schmal. „Ich hatte Sie nach dem Grund Ihres Besuchs gefragt. Ich nehme doch an, dass es um Ihren jungen Begleiter geht?“ Wieder sah sie zu Angelo und endlich machte es 'Klick' in Michaels Kopf. Das, was er vorhin bemerkt hatte, war sehr gut verstecktes Begehren. Sie hatte ein Auge auf Angelo geworfen. Blitzschnell beschloss er, den Plan zu ändern. Er wandte sich an Angelo und warf ihm einen beschwörenden Blick zu, bevor er sich wieder an die Professorin wandte. „Ja“, sagte er überschwänglich. „Mein Neffe hier möchte diesen Sommer gerne ein Auslandssemester hier absolvieren. Er kommt aus Europa, wissen Sie? Wir suchen daher noch jemanden, der sich seiner ein wenig annehmen kann, da meine Frau und ich eigentlich eine längere Reise geplant hatten.“ Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung. „Sie meinen als eine Art Tutor. Ich bin mir sicher, dass sich dafür ein Student aus den höheren Semestern finden würde, der das gern übernimmt.“ Michael ahnte, dass sie das sagen musste, aber er wusste auch, was er gesehen hatte. Wenn er den Köder richtig auswarf und die Angel langsam einholte, würde er sie vielleicht an den Haken bekommen. „Sicherlich“, stimmte er lächelnd zu. „Aber die jungen Leute würden meinem Neffen bestimmt nicht so gut in seinen akademischen Leistungen unterstützen. Er ist immerhin hier, um etwas zu lernen. Nicht wahr, Angelo, du möchtest später mal Biotechnologie studieren. Vielleicht sogar hier an der Universität. Sie hat einen sehr guten Ruf.“ „Wie alt ist ihr Neffe denn?“ „19.“ Michael war sich nicht ganz sicher, wie sich das europäische Schulsystem gestaltete, aber etwa in dem Alter hatte er seinen Highschool-Abschluss gemacht, also würde das wohl nicht ganz verkehrt sein. „Ich werde diesen Sommer 20, Onkel!“ Angelo war offenbar auf das Spiel eingestiegen und sah Michael jetzt vorwurfsvoll an. Der schenkte ihm einen nachsichtigen Blick. „Teenager! Wollen immer, dass man sie für älter hält, als sie eigentlich sind.“ Er lachte und sie erwiderte das höflich. Anscheinend hatte er sie immer noch nicht ganz überzeugt. Statt sich auf Angelo zu konzentrieren, hatte sie jetzt angefangen, ihn zu mustern. Ihre schmalen Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. „Ich weiß nicht, Mr. Thompson, ob ich wirklich die Richtige dafür bin. Wie Sie bereits bemerkten, bin ich sehr beschäftigt. Darf ich fragen, wie Sie darauf kamen, ausgerechnet mich danach zu fragen?“ Dünnes Eis, zischte eine warnende Stimme in seinem Kopf und Michael rettete sich mit einem Räuspern über die nächsten Sekunden. Seine Hand tastete nach dem Foto, das sich in seiner Jacketttasche befand. Würde er doch noch mit seiner Beziehung zu Jeff herausrücken müssen? „Ich … ich war selbst mal Student hier an der Uni und …“ Ihr Blick wurde intensiver und Michael glaubte förmlich zu spüren, wie unsichtbare Finger an ihm entlangtasteten. Es war ein unangenehmes Gefühl und er unterdrückte mit Mühe ein Schaudern, während er versuchte, ihren Blick möglichst ruhig zu erwidern. „Mhm“, machte sie. „Es könnte sein, dass ich mich an Sie erinnere. Aber das ist sehr lange her nicht wahr?“ „Es war noch vor dem großen Brand“, warf er in der Hoffnung ein, das Thema irgendwie in die richtige Richtung lenken zu können, ohne allzu auffällig zu sein. Komischerweise schien sie der Gedanke zu erheitern. „Ach ja, das Feuer“, sagte sie mit einem feinen Lächeln. „Was für ein furchtbares Unglück. Der ganze Flügel hier wurde dabei zerstört. Auch mein Büro, alle meine Laborräume, einfach verbrannt. Es ist nichts übriggeblieben außer einem Haufen Asche. Waren Sie auch von den Einschränkungen danach betroffen?“ „Ich … ähm … nein. Ich hatte mein Studium zu dem Zeitpunkt bereits abgebrochen.“ „So?“ Sie schob eine ihrer schmalen Augenbrauen ein Stück weit nach oben. „Wie kam es dazu?“ Sämtliche Alarmglocken in seinem Kopf hatten angefangen zu schrillen, während ihn der hypnotische Blick der dunklen Mandelaugen in seinen Bann zog. Er wollte nicht antworten, aber die Worte schlüpften wie von selbst aus seinem Mund. „Ich hatte damals einen Unfall. Mein Bester Freund und ich … wir waren im Auto unterwegs und …“ „Hatte ihr Freund auch einen Namen?“ „Jeff. Sein Name war Jeff Fleming. Er war in einem Ihrer Kurse.“ „Michael?“ Angelos Stimme schien von irgendwo weit her in sein Gehirn zu dringen, während ihn diese wunderschöne Frau einfach nur ansah. Michael lächelte. Sie war wirklich sehr hübsch. Er fragte sich, ob sie wohl verheiratet war. „Michael!“ Jemand berührte ihn am Arm und brach damit den Bann, unter dem er sich gerade noch befunden hatte. Mühsam schüttelte er den Kopf und sah in Angelos besorgtes Gesicht. „Ich, äh … ja. Ich bin da.“ Der Professorin war nichts anzumerken. Sie sah ihn einfach nur freundlich an. „Ist alles in Ordnung, Mr. Thompson?“ „Ja, ich denke schon. Mir war nur für einen Augenblick etwas schwindlig.“ „Das muss die Luft hier sein. Vielleicht sollten Sie jetzt gehen. Ich muss ohnehin zu meiner Vorlesung.“ Sie erhoben sich und bevor Michael wusste, wie ihm geschah, fand er sich schon vor der Bürotür wieder. Die Hand der Professorin lag klein und kühl in seiner. „Es hat mich gefreut, Sie zu treffen, Mr. Thompson. Vielleicht sollten wir noch einmal die Einzelheiten des Sommerstudiums Ihres Neffen besprechen. Ich bin mir sicher, dass ich ihm behilflich sein kann. Wie wäre es heute Abend? So gegen acht Uhr?“ „Ja, sicher.“ Michael wusste nicht, wie es zu dieser Verabredung gekommen war, aber er beschloss, sich die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen. „Und bringen Sie doch Ihre Frau und Ihren Neffen ebenfalls mit. Vielleicht zeige ich Ihnen dann mal die neuen Laborräume. Momentan sind sie für den Publikumsverkehr gesperrt, weil dort gearbeitet wird, aber wenn man den Generalschlüssel hat …“ Sie klimperte vielsagend mit einem großen Schlüsselbund und lächelte. Irgendwie gelang es Michael, zustimmend zu nicken. „Es wäre uns eine große Freude.“ „Dann sehen wir uns um acht.“ Sie neigte noch einmal den Kopf in seine Richtung und bedachte auch Angelo mit einem freundlichen Blick, bevor sie sich umdrehte und den Gang entlang zu den Aufzügen ging. Michael sah ihr nach und kam sich vor wie ein dummer Schuljunge, der gerade versucht hatte, seine Lehrerin mit einem blank polierten Apfel zu beeindrucken. Er spürte förmlich, wie sie ihm nachsichtig übers Haar strich, bevor sie ihn stehen ließ.   Neben ihm ließ Angelo geräuschvoll die Luft entweichen. „Ich mag sie nicht“, stellte er fest, als sich die Aufzugtüren hinter der Professorin geschlossen hatten. „Sie ist so … klebrig.“ „Klebrig?“ Michael lachte auf. „Also das Wort wäre mir jetzt irgendwie nicht eingefallen. Hast du ihre Beine gesehen? Und den Hintern?“ „Ja, habe ich.“ Angelo schenkte ihm einen bösen Blick. „Und vor allem habe ich gesehen, wie du sie angestarrt hast.“ „Bist du etwa eifersüchtig?“ „Nein!“ Angelo schnaubte und seine Augen blitzten wütend auf. „Aber im Gegensatz zu dir habe ich mich von ihr nicht so einwickeln lassen. Ist dir aufgefallen, dass sie von Jeff in der Vergangenheit gesprochen hat? Sie wusste bereits, wer du bist. Sie hat dich wiedererkannt.“ „Aber … ich bin Jeffs Professorin vorher noch nie begegnet.“ „Eben.“ Michael sah Angelo für einen Augenblick verdutzt an, bevor ihm aufging, dass er Recht hatte. „Du meinst also, dass sie tatsächlich etwas mit dem Unfall zu tun hatte?“ „Es ist zumindest nicht unwahrscheinlich.“ „Und wie soll sie das angestellt haben?“ Angelo zuckte mit den Schultern und sagte nichts. Michael sah hingegen genau, dass ihm etwas auf der Zunge lag. „Was? Na los spuck’s schon aus. Was hast du gemacht?“ Er schüttelte den Kopf, als er sich die Antwort selber gab. „Hatten wir nicht gesagt, dass das zu gefährlich ist? Das letzte Mal haben uns deine Engelskräfte in Teufels Küche gebracht.“ Er lachte halbherzig über sein eigenes Wortspiel. Angelo hingegen sah zunächst ertappt aus, bevor sich sein Gesicht zu einer vorwurfsvollen Grimasse verzog. „Du hast den Plan auch einfach geändert, ohne dich mit mir abzusprechen. Außerdem war ich mir sicher, dass sie ein Dämon ist, nachdem du so komisch reagiert hast. Es war, als hätte sie dich vollkommen in der Hand. Wie ein Puppenspieler eine Marionette. Sie brauchte nur die richtigen Fäden zu ziehen und schon hast du angefangen zu tanzen.“ Michael musterte Angelo, der ihn mit leicht vorgeschobener Unterlippe ansah. Irgendwie war er sich nicht ganz sicher, ob da nicht doch ein wenig Eifersucht mit hineinspielte, weil die Dame ihre Aufmerksamkeit so plötzlich auf ihn konzentriert hatte. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn Gabriella bei dem Gespräch dabei gewesen wäre. Dabei hatte er sich vorhin noch darauf gefreut, ein wenig Zeit mit Angelo allein zu verbringen, auch wenn es nur war, um Jeffs ehemalige Professorin zu besuchen. Er unterdrückte ein Seufzen. „Und? Hast du denn etwas finden können.“ „Nein“, gab Angelo widerwillig zu. „Ich hatte zumindest keinen Geistesblitz, um was für einen Dämon es sich handeln könnte. Aber irgendetwas an ihr ist trotzdem komisch. Wir sollten sehr vorsichtig sein, wenn wir uns heute Abend mit ihr treffen.“   Michael sah noch einmal in Richtung der Aufzüge. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie möglicherweise sehenden Auges in eine Falle liefen. Andererseits blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, wenn sie in der Sache weiterkommen wollten. Er seufzte und legte den Arm um Angelos Schultern. „Na komm. Lass uns Gabriella suchen und ihr von unserem Treffen berichten. Dieses Mal hab ich mich wohl erfolgreich in die Nesseln gesetzt.“ Er warf einen Seitenblick auf Angelo, der bei diesem Geständnis für seinen Geschmack ein kleines bisschen zu selbstzufrieden aussah. „Und hör auf, so zu gucken, sonst lege ich dich übers Knie und versohle dir den Hintern.“ „Das würdest du nicht wagen!“ „Warum nicht? Immerhin müssen wir uns bis heute Abend die Zeit vertreiben. Und da wir nicht draußen rumlaufen können …“ Angelo lachte auf und sein Lachen war so ansteckend, das Michael irgendwann mit einfiel. Es reichte jedoch nicht ganz, um das beklemmende Gefühl in seiner Brust zurückzudrängen, das sich bei dem Gedanken an den heutigen darin breitgemacht hatte. Das Ganze musste einfach einen Haken haben und ihm graute jetzt schon vor dem Augenblick, in dem sie herausfanden welchen.       Das Erste, was Marcus wahrnahm, war harter, rauer Fels an seiner Wange. Das Nächste war ein rasender Schmerz. Sein Kopf schien explodieren zu wollen, als er ihn bewegte. Ein Stöhnen bahnte sich seinen Weg durch Marcus’ Kehle nach draußen. Reglos blieb er liegen und wartete, dass das peinigende Pulsieren verebbte und die Übelkeit, die mit ihm einherging, auf ein erträgliches Maß herabsank. Erst dann öffnete er vorsichtig seine Augen. Im nächsten Augenblick wünschte er, er hätte es nicht getan. „Wieder wach?“, ätzte das hämische Gesicht, das irgendwo über ihm im Dunkeln schwebte. „Ich wusste doch, dass du zäh bist.“ „Du …“ Er versuchte, die Energie zusammenzubekommen, um sich zu bewegen. Es gelang ihm nur teilweise. Seine Finger kratzten über den steinernen Boden. Er spürte, wie sich Dreck unter seinen Fingernägeln sammelte. Schimmelgeruch drang in seine Nase und er schmeckte Blut auf seiner Zunge. Angeekelt wollte er ausspucken, aber sein Mund war trocken, als hätte er Sand gekaut. Gleichzeitig begannen auch seine restlichen Körperteile diverse Beschwerden anzumelden. Schürfwunden, blaue Flecken, Schwellungen. Jeder Zentimeter an ihm schien gleichzeitig aufzuschreien, als hätte er nur darauf gewartet, dass er wieder zu Bewusstsein kam. „Wenn ich du wäre, würde ich liegen bleiben. Könnte sein, dass du mir vorhin mal die Treppen runtergefallen bist. Rein zufällig natürlich.“ „Wichser!“, zischte Marcus und kämpfte sich trotz der Schmerzen und dem Bestreben seines Magens, sich seines Inhalts zu entledigen, nach oben. Er kam immerhin in eine sitzende Position, bevor ihn ein warnendes Knurren seines Gegenübers aufblicken ließ. Langsam begann auch seine Umgebung wieder klarere Formen anzunehmen. Wobei es da nicht viel zu sehen gab außer dunklem, feuchten Stein und einer schwarzen, mit Metallnieten versehenen Tür. Wenn er hätte raten müssen – nicht, dass er sich momentan dazu in der Lage fühlte, irgendwelche Ratespielchen zu spielen – hätte er vermutet, dass das hier eine Art Gefängniszelle war. Eine mittelalterliche, vermoderte und von lauter Ungeziefer bewohnte Gefängniszelle. Fehlte eigentlich nur noch … Er stöhnte, als er die Kette sah, die um sein Fußgelenk gewickelt war. Das hier musste ein ganz scheußlicher Scherz sein. „Wo …?“, versuchte er eine neue Frage zu formulieren. Sein Gehirn fühlte sich immer noch an, als wäre es in schlecht gewordenem Sirup eingelegt. Der Schlag auf den Kopf musste dort oben einiges in Unordnung gebracht haben. Moment … Schlag auf den Kopf? Schwammig und unsicher kamen die Erinnerungen wieder herbeigewankt. Seine Wohnung, der Einbrecher, der Kampf und dann … Fuck! Der Mann, der sich über ihn gebeugt hatte, grinste breit. Sein Goldzahn blitzte im Licht der Fackel, die an der Wand hing. „Entspann dich. Wirst ne Weile hierbleiben. Wenn du Glück hast, fressen dich die Kakerlaken nicht auf, bevor ich dich hier wieder rauslasse.“ „Warum …?“ Würde er je wieder mehr als Ein-Wort-Sätze von sich geben können? Oder würde er es vorher schaffen, dem Cadejo seinen dürren Hals umzudrehen. Der hielt immer noch die Eisenstange in der Hand, mit der er ihn niedergeschlagen hatte. Jedem anderen hätte er damit vermutlich den Schädel zertrümmert, aber Marcus war, wie es aussah, mit einer Gehirnerschütterung davon gekommen. Er konnte förmlich spüren, wie sich sein Kopf zunehmend erholte. Noch ein paar Stunden und er würde nichts mehr davon merken. Das änderte jedoch nichts daran, dass er hier gefangen war. Wo immer auch hier war. Die Gedanken begannen, ihn zu ermüden. Und er hatte immer noch keine Antwort von dem Cadejo bekommen. Der grinste ihn jetzt von oben herab an. „Wo du bist, hat dich nicht zu interessieren. Du kommst hier sowieso nicht raus. Und warum du hier bist, wirst du schon noch früh genug erfahren. Also halt die Klappe und mach keinen Ärger, dann lebst du länger.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und wollte gehen, aber Marcus griff blitzschnell nach seinem Bein und hielt ihn fest. Im nächsten Moment schrie Marcus auf, als die Eisenstange gegen seinen Arm prallte und ihn bis zum Schultergelenk betäubte. „Flossen weg!“, fauchte der Cadejo. „Sonst prügel ich dich mit dem Ding windelweich.“ Bunte Punkte begannen vor Marcus Augen zu tanzen. Er fühlte, wie sein Körper erneut drohte schlappzumachen. Eine Ohnmacht war nun wirklich das Letzte, was er gebrauchen konnte. Diese Blöße würde er sich nicht geben. „Was willst du von mir?“ Wow, ein ganzer Satz. Er wurde besser. Die Wut hielt ihn aufrecht. „Die Antwort würde dir sowieso nicht gefallen. Also mach’s dir gemütlich und denk an was Schönes, während ich weg bin. Kann dauern. Hab noch was zu erledigen.“ Das war das Letzte, das der Cadejo zu ihm sagte, bevor er mitsamt der Fackel durch die Tür verschwand, die sich mit einem Quietschen hinter ihm schloss. In dem Moment, als sich der Schlüssel im Schloss herumdrehte, wich alle Spannung aus Marcus’ Körper und er konnte gerade noch verhindern, dass sein Kopf auf den Boden schlug, als er wieder in sich zusammensank. Ergeben schloss er die Augen und konzentrierte sich darauf, ein- und auszuatmen, damit er sich nicht übergab. Sein Gefängnis würde dadurch zwar kaum dreckiger werden, aber der Geruch konnte sich durchaus noch verschlimmern. Gleichzeitig versuchte er einen Sinn in seine mehr als dürftige Lage zu bringen.   Der Cadejo hatte ihn offensichtlich entführt. Entweder hatte er ihn also in irgendeinen Unterschlupf in Vegas gebracht oder – und das hielt Marcus selbst in seinem Zustand noch für wahrscheinlicher – er hatte ihn mit in sein Hauptquartier genommen. Der Barkeeper hatte gesagt, dass Alejandro und seine Bande kamen und gingen, wie es ihnen gefiel. Das sprach dafür, dass sie irgendwo ein Versteck hatten, das sie auf magischem Weg betraten und verließen. In diesem Fall würde es für Marcus wirklich schwierig werden, zu entkommen, denn er konnte sich quasi überall befinden. Was, wenn er sich nach draußen kämpfte und auf einmal mitten in der Antarktis stand? Nicht, dass er das für wahrscheinlich hielt, aber es lag im Bereich des Möglichen. Die zweite Frage, die ihn quälte, war die nach dem Grund seines Hierseins. Wenn es dem Cadejo nur um Rache gegangen wäre, hätte er ihn einfach zusammenschlagen oder sogar töten können. Eine Entführung war zu aufwendig, wenn er sich nicht etwas davon versprach. Aber was? Mit leichtem Schauern dachte Marcus an eines ihrer ersten Gespräche. Er hatte etwas von einem Haustier gefaselt und das, darauf hätte Marcus einen Monatslohn verwettet, war mit Sicherheit kein angenehmer Posten. Vor allem nicht, wenn er an das dachte, was der Barkeeper angedeutet hatte. Der Gedanke, von dem Cadejo an die Leine gelegt und auf allen Vieren herumgeführt zu werden, ließ Marcus’ Magensäure erneut hochkochen. Seine Fantasie ergänzte das Ganze noch um ein paar pikante Details, die ihn sich beinahe gepeinigt zusammenrollen ließen. Bevor er das zuließ, ließ er sich lieber umbringen. Egal wie lange es dauerte. Da hast du dir ja ordentlich was eingebrockt, dachte er an sich selbst gerichtet. Erst bist du zu dumm, um den Cadejo zu erspüren, und dann lässt du dich auch noch von ihm übertölpeln. War wohl doch ein bisschen zu viel Alkohol. Du bist doch sonst nicht so dämlich. Er wollte gerade gegen die gehässige, kleine Stimme in seinem Kopf protestieren, als ihm ein kleines Detail auffiel, das ihm bisher entgangen war. Er atmete noch einmal gegen die erneut aufwallende Übelkeit an, ignorierte seinen schmerzenden Körper und versuchte dann seine Gedanken soweit zusammenzukratzen, dass sie ihm ermöglichten, die Sache noch einmal logisch zu betrachten. Da war nämlich ein Detail, das einfach nicht passen wollte. Warum habe ich nicht gemerkt, dass ein Dämon in meiner Wohnung ist? Diese Frage schien ihm, so unbedeutend sie auf den ersten Blick wirkte, die einzig wichtige und wirklich entscheidende zu sein. Als die Cadejos ihn beim ersten Mal heimgesucht hatten, hatte er sie deutlich riechen können. Ihr Gestank war so penetrant gewesen, dass er sogar noch eine ganze Weile an denjenigen haften blieb, die mit ihnen zu tun gehabt hatten. Warum also hatte er Alejandros Geruch gestern nicht wahrgenommen, als er in seine Wohnung zurückgekommen war? Weil er zu dem Zeitpunkt kein Dämon war. Die Erkenntnis traf Marcus so plötzlich, dass er beinahe aufstöhnte. Jetzt, da er sich das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen ließ, war es absolut logisch. Und es passte zu den anderen Beobachtungen, die er gemacht hatte. Alejandro war in seiner menschlichen Form nicht an die Beschränkungen gebunden, denen Dämonen normalerweise unterlagen. Er konnte Salzbarrieren überwinden und hatte offenbar auch kein Problem mit Eisen, wie die Stange, mit der er Marcus niedergeknüppelt hatte, eindrucksvoll bewiesen hatte. Er hatte keine dämonische Aura und er roch eben auch nicht wie einer von ihnen. Wenn er in seine menschliche Form verwandelt war, war er wirklich und wahrhaftig ein Mensch. Ohne Wenn und Aber mit dem kleinen, unwesentlichen Zusatz, dass er sich binnen Sekunden in eine blutrünstige Bestie verwandeln konnte, die dann auch wieder den typischen Höllengestank verbreitete. Das erklärt auch, warum er beim ersten Mal auf der Polizeiwache noch danach gerochen hat. Vermutlich hatte er sich da gerade erst zurückverwandelt und die Spur war deswegen noch zu frisch. Wenn er jedoch eine Weile lang als Mensch unterwegs ist, merkt man davon nichts mehr.   Marcus hätte diesen Gedanken gerne noch ein wenig weiter verfolgt, aber während er so dalag, vernahm er auf einmal Geräusche, die langsam lauter wurden. Irgendjemand kam den Gang entlang und es war ziemlich offensichtlich, dass es nicht Alejandro war. Der konnte sich, wie Marcus inzwischen wusste, nahezu lautlos bewegen. Der perfekte Spion, schoss es ihm noch durch den Kopf, bevor die Geräusche vor der Tür anhielten, hinter der er lag. Marcus lauschte mit angehaltenem Atem. War derjenige wegen ihm hergekommen? Wollten sie ihn holen? Gedanken an Halsband und Lendenschurz gaukelten durch seinen Geist und ließen ihn erneut würgen. Alles nur das nicht. „Ist diese Zelle leer?“ Die Stimme, die Marcus hörte, war angenehm und klang so gar nicht nach einem Dämon. Die, die ihm antwortete, schon eher. „Klar“, kratzte sie in Marcus’ empfindlichen Ohren. „Hier unten kommt nie jemand her.“ „Gut, dann sperr sie hier ein. Ich werde mich später um sie kümmern.“ „Alles klar.“   Ein Schlüssel wurde in der Tür herumgedreht und im nächsten Moment schwang diese nach innen auf. Etwas schabte über den Stein und ein schwerer Gegenstand plumpste auf den Boden. Marcus wagte nicht zu atmen oder auch nur zu blinzeln. Was immer dort zur Tür hereingekommen war, war den Geräuschen nach ziemlich groß und vermutlich voller Muskeln und Zähne. Zumindest stellte er sich einen dämonischen Gefängniswärter so vor. Zu seinem Glück erfüllte er jedoch auch das Klischee, ziemlich dämlich zu sein, und so verließ er die Zelle wieder, ohne sich noch weiter umzusehen und Marcus zu bemerken. Als sich die Tür hinter ihm schloss, ließ Marcus die Luft aus seinen Lungen entweichen, nur um im nächsten Moment den Atem wieder anzuhalten.   Irgendwo dort im Dunkeln konnte er eine Bewegung wahrnehmen. Was immer der Wärter zu ihm hereingeschafft hatte, war offenbar lebendig. Er hörte ein leises Stöhnen und unwilliges Knurren. Ein Laut wie von scharfen Krallen, die über den steinernen Boden kratzten, bestätigte Marcus’ Vermutung, dass es sich um einen weiteren Dämon handeln musste. Verdammt, er musste hier raus. Am besten noch bevor sein Mitinsasse wieder vollkommen zu Bewusstsein gekommen war. Ganz vorsichtig richtete Marcus sich auf und vermied dabei jedes noch so kleine Geräusch. Wie es aussah, war auch der Dämon in einem ziemlich desolaten Zustand. Das verschaffte ihm vielleicht etwas Zeit. Wenn er … Ein Klirren unterbrach seine Gedanken. Er hatte die Kette an seinem Fuß vergessen. Sofort verstummten die Geräusche ihm gegenüber und machten lauernder Stille breit. „Hey“, sagte Marcus in Ermangelung einer besseren Idee. „Ich … ich glaube, wir wurden uns noch nicht vorgestellt.“ Er hörte, wie sich etwas im Dunkeln bewegte. Es fauchte und knurrte. Seine Fantasie begann Überstunden zu machen, während er sich vorstellte, was genau sich dort gerade zum Sprung bereit machte. Schon jetzt glaubte er heißen Atem auf seiner Haut zu spüren. Reißzähne, die sich in sein verwundbares Fleisch bohrten. Krallen, die nach seinen Augäpfeln stachen, um sie ihm auszureißen und das weiche Innere herauszuschlürfen. Er musste sich wehren. Sich verteidigen. Schützen. Wieder knurrte der Dämon in der Dunkelheit und Marcus glaubte zu spüren, wie er sich spannte, die Hinterläufe in den Fels bohrte und schließlich sprang. In blinder Panik riss Marcus den Arm nach oben, um sein Gesicht abzuschirmen. Im nächsten Moment wurde er hart gegen den Boden gepresst, als der schwere Körper des Dämons auf ihm landete. Kapitel 20: Suchen und Finden ----------------------------- Raue Lippen legten sich auf seine und etwas Festes, Schleimiges drückte sich dazwischen. „Mpmf“, machte Marcus und versuchte, den Dämon von sich runterzuschieben. Seine Hände glitten über Stoff, Haut, raues Fell. Ein süßlicher und irgendwie vertrauter Geruch hüllte ihn ein. Faule Eier und exotische Blüten. Ein Sukkubus! Der Kuss wurde dringlicher, die fremde Zunge wütete in seinem Mund und dem Dämon entwich ein Knurren, das irgendwie frustriert klang. Marcus zögerte nicht. Er stieß sich vom Boden ab, nutzte den Bewegungsmoment um sie beide herumzudrehen, und brachte seinen überraschten Gegner unter sich. Die Beine des Sukkubus strampelten, versuchten ihn mit den schweren Hufen zu treffen oder ihm ein Knie in die Weichteile zu rammen. Eilig brachte er seinen Unterkörper aus der Gefahrenzone und konzentrierte sich darauf, den Dämon mit den Schulterblättern auf den Boden zu drücken, während er sich die Handgelenke schnappte, um die Krallen von seinem Gesicht fernzuhalten. „Hör auf!“, herrschte er den sich wie toll gebärdenden Sukkubus an. „Ich tu dir nichts, wenn du endlich stillhältst.“ Eigentlich hatte er nicht geglaubt, mit dieser Aufforderung irgendeinen Erfolg zu haben, aber zu seinem größten Erstaunen erlahmten die Versuche des Dämons sich zu befreien tatsächlich. Stattdessen gab er einen seltsam klingenden Laut von sich, der fast wie ein Winseln klang. Seine Brust hob und senkte sich unter hektischen Atemzügen und Marcus konnte den entstehenden Luftzug auf seinem Gesicht spüren. In der vollkommenen Dunkelheit war es schwer auszumachen, aber er konnte erahnen, dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberliegen mussten. Der Körper unter ihm bebte. „Hunger!“, quetschte der Dämon plötzlich hervor. Seine Stimme war rau und wenig verführerisch. Eher so als hätte er mit Reißnägeln gegurgelt. Marcus war so überrascht, dass er seinen Griff lockerte. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er, dass sich der Sukkubus von ihm losmachen wollte, und fasste umso stärker nach. Seine Fingerknöchel schabten über den steinernen Untergrund, als er ihre Hände wieder nach unten drückte. „Lieg still!“, raunzte er noch einmal, während sich seine Gedanken förmlich überschlugen. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Der Sukkubus hatte ihn geküsst und doch war er noch bei Bewusstsein und hatte auch nicht den unwiderstehlichen Drang, sich sofort die Kleider vom Leib zu reißen. Erneut presste sich der Dämon gegen ihn, doch dieses Mal war die Berührung weniger kämpferischer Natur. Ein heiseres Gurren begleitete die schlangengleichen Windungen. Es klang irgendwie bittend. „Hunger!“, wiederholte die raue Stimme. „Kleiner … Cop.“ Marcus verlor beinahe den Halt, als er die Worte vernahm. Was zum …? „Crystal?“ Statt einer Antwort hob der Sukkubus den Kopf und wieder streiften ihre Lippen Marcus’ Mund. Er wich instinktiv zurück. „Kein Gift …“, versprach sie heiser. „Bitte … Hunger!“ Marcus keuchte, als ihm klarwurde, dass das hier tatsächlich Crystal war. Der Sukkubus, mit dem er vor zwei Tagen noch … Er schüttelte den Kopf. Das war vollkommen verrückt. Wie kam sie hierher? Warum war sie eingesperrt worden? Und warum war sie so vollkommen ausgehungert? Er merkte, wie sie unter ihm zu zittern begann. Ihr Körper, das fiel ihm jetzt erst auf, war unnatürlich warm. Fast so, als habe sie Fieber. Ob sie krank war? „Wer hat das getan?“ „Vi…“ Ihre Stimme versagte. Wieder versuchte sie, ihn zu küssen. Er merkte, wie sich ihre Hände in seinem Griff kraftlos öffneten und schlossen. Sie war anscheinend vollkommen am Ende. So würde er keine Antworten bekommen. Zuerst musste sie ihren Hunger stillen, aber dafür gab es nur eine Möglichkeit. Marcus schluckte langsam. „Hunger“, winselte Crystal erneut und das Beben ihres Körpers wurde stärker. Gleichzeitig erschlafften ihre Hände jetzt vollkommen. Er glaubte, ihren Blick auf sich zu spüren. Hörte ihre Atemzüge, die flach und flacher wurden. Spürte, wie sie zunehmend schwächer wurde. Wie das Leben aus ihr wich. „Hey, ich … Du kannst doch nicht … Crystal!“ Marcus ließ ihre Hände los und fuhr sich über das Gesicht. Er konnte doch nicht … Wirklich nicht. Er wusste, dass das Einzige, was sie retten würde, ein kräftiger Energieschub war. Und er wusste auch, wie sie den bekommen konnte. Aber dazu würde er … mit ihr … Unmöglich! Nicht hier, nicht in seinem Zustand. Plötzlich fühlte er etwas an seiner Wange. Es waren Crystals Krallen, die beinahe zärtlich über die Stelle strichen, an der sie ihn zuvor gekratzt hatte. Marcus presste die Kiefer aufeinander. „Ich … Es tut mir leid, aber ich kann nicht.“ Irrte er sich oder war das ein Grinsen, was er da spürte? Wie konnte sie in so einer Situation nur lachen? Fast glaubte er ihre Stimme zu hören, die sich schnippisch erkundigte, ob er etwa nicht Manns genug war, um sie zu befriedigen. Meinte sie vor sich sehen zu können, wie sie mit einer spöttisch gelupften Augenbraue fragte, ob er den kleinen Marcus etwa nicht hochbekam. Und ob sie ihm vielleicht dabei behilflich sein sollte. Behilflich … das ist vielleicht die Lösung. Er musste vollkommen verrückt sein, dass er das in Erwägung zog, aber realistisch betrachtet war Crystal seine beste Chance, hier rauszukommen oder zumindest ein paar Antworten zu erhalten. Wenn sie hier eingesperrt war, war sie sicherlich auf denjenigen, der dafür verantwortlich war, nicht unbedingt gut zu sprechen. Vielleicht – und das war ein sehr großes Vielleicht – würde sie ihm ja helfen. Wenn nicht, würde irgendwann der Wärter wiederkommen und ihn hier zusammen mit einem toten Sukkubus finden. In dem Fall wäre sein Schicksal ohnehin besiegelt. Er würde es einfach versuchen müssen. „Also schön, hör zu, wir versuchen es. Aber du … du musst mich ein bisschen unterstützen. Ich meine, die Umstände sind nicht unbedingt ideal. Ich hab wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung und jede Menge Prellungen und …“ Der Rest seiner Ausrede ging in einem erneuten Kuss unter. Ihre Hände schlangen sich um seinen Nacken und zogen ihn an sich. Mit einem letzten Durchatmen öffnete er den Mund und hieß ihre Zunge dieses Mal willkommen. Ihr Mund war trocken, der Kuss klebrig. Er schloss die Augen, versuchte sich auf das Kommende zu konzentrieren und seine Umgebung auszublenden. Was gar nicht so einfach war, da alles ihn plötzlich daran zu erinnern schien, wo er war und in welcher Gefahr er schwebte. Das hier war Wahnsinn. Vollkommener Wahn… Etwas prickelte auf seiner Zunge wie Brausepulver. Kleine Funken schienen sich plötzlich in seinem Mund auszubreiten, als hätte er eine Wunderkerze verschluckt. Es biss und stach und eine prickelnde Hitze eroberte seinen Mund, seine Kehle, seinen Brustkorb. Sein Herz begann schneller zu schlagen, während Crystals Magie kleine Feuer auf ihrem Weg nach unten entfachte. Leben kam in seinen Körper an einer Stelle, an der bis gerade eben noch peinlich berührte Stille geherrscht hatte. Doch plötzlich versiegte der Nachschub. Das Gefühl in seinem Mund verschwand und nur die leichte Wärme, die schon durch seinen Körper kreiste, blieb ihm erhalten. Irritiert unterbrach er den Kuss. „Was ist los?“ „Alle“, war alles, was sie sagte. Auch ihr Atem ging jetzt schneller, doch im Gegensatz zu ihm waren die rasselnden Atemzüge wohl eher ein Anzeichen von Erschöpfung. Und er verstand. Sie hatte ihm alles gegeben, was sie hatte. Den Rest musste er allein schaffen. Marcus schluckte. Es ging ihm … gut. Besser als gerade noch. Er fühlte sich wohl und der Gedanke, mit Crystal Sex zu haben, erschien ihm lange nicht so abwegig wie gerade noch. Allerdings … Nicht nachdenken, schnauzte er sich selbst an. Wenn er damit anfing, wäre es gleich ganz schnell vorbei mit irgendwelchen Anwandlungen. Komm schon, du bist ein Mann. Eine dieser primitiven Kreaturen, die Weibern in den Ausschnitt starren, zu allen unpassenden Gelegenheiten anzügliche Witze machen und statistisch gesehen alle halbe Stunde an Sex denken. Es half nichts. Seine Erregung schwand und mit ihr die Wärme in ihm. Er hätte heulen können. Sein Kopf sank auf ihre Brust herab und er spürte den Stoff ihres Tops auf seinem Gesicht. Ob es noch immer das rote war? In der Dunkelheit ließ sich das nicht feststellen. Er lächelte gegen die aufkommenden Tränen. Was für eine verrückte Geschichte. Der Bastard eines Engels versuchte Sex mit einem Dämon zu haben, um dessen Leben zu retten. Das war doch Irrsinn. Er sollte froh sein, wenn es eine weniger von diesen gottverdammten Kreaturen gab. Er sollte von hier fliehen und auf seinem Weg nach draußen noch ein paar von ihnen mit in den Tod reißen, bevor er selbst draufging. Stattdessen lag er hier an diesen vorwitzigen Sukkubus gelehnt, während ihre Krallen durch sein Haar fuhren, als hätten sie es bereits hinter sich und würden gerade gemeinsam in postkoitaler Lethargie versinken. „Du kannst jetzt anfangen zu lachen“, sagte er, während er sich neben sie auf den Boden gleiten ließ. „Ich bring’s heute nicht.“ „Macht nichts“, krächzte sie heiser. „Versucht …“ „Oh ja, im Versuchen bin ich prima.“ Er hob den Kopf und sah in die Richtung, in der er ihr Gesicht vermutete. „Mein Name ist übrigens Marcus. Ich dachte, das solltest du wissen, bevor …“ Er beendete den Satz nicht. Es hatte ohnehin keinen Sinn. „Marcus.“ Seine Namen aus ihrem Mund zu hören war eigenartig. Es lag kein Spott darin, wie zuvor als sie ihn noch „kleiner Cop“ genannt hatte. Eher so etwas wie Zuneigung. Natürlich war das Unsinn, denn ein Dämon wie sie war zu keinen Gefühlen fähig. Für sie zählte nur der Hunger und dessen Befriedigung. Alles andere war nur seine Interpretation einer Imitation menschlichen Verhaltens. Mimikry, nichts weiter. Trotzdem hätte er gerade viel dafür gegeben, sie noch ein bisschen bei dem Spiel zu beobachten. Der Gedanke, dass sie bald nicht mehr sein würde, ließ seine Brust irgendwie eng werden. Er überlegte gerade, ob er noch irgendetwas sagen oder tun konnte, um ihr ihr Ableben zu erleichtern, als er plötzlich ein Geräusch aus Richtung der Tür hörte. Sofort war er in Alarmbereitschaft. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Jemand kam herein. „Verstecken“, flüsterte Crystal. Er hörte, wie sie sich bewegte. Ihre Hufe schabten über den Boden, ihre Krallen kratzten über den Stein, während sie in Richtung Ausgang kroch. Marcus reagierte ohne Verzögerung. So weit er konnte zog er sich von der Tür zurück und hielt dort den Atem an. Ein schmaler Lichtschein erschien, wurde zunehmend heller und schließlich zu einer Fackel in der Hand eines hochgewachsenen Mannes. Er trug einen Anzug und hatte ein äußerst gepflegtes Äußeres. Unter der polierten Fassade konnte Marcus jedoch den Gestank eines Dämons erahnen. Er ähnelte Crystals auf eine Weise, die Marcus vermuten ließ, dass es sich dabei um einen Inkubus handelte. Diese Dämonen waren ihm bei seinen Studien über gestaltwandelnde Dämonen ins Auge gefallen, da sie über eine beachtliche Anzahl an verschiedenen Formen verfügten. Mehr als jede andere Art. „Ah, ich sehe, du bist wach“, säuselte der mutmaßliche Inkubus. „Das ist gut. Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Er befestigte die Fackel in einer Halterung an der Wand und trat zu Crystal, die immer noch am Boden lag. Selbst im schwachen Licht konnte Marcus erkennen, dass sie nicht gut aussah. Ihr Fell wirkte stumpf, die Haut fahl. Sie hielt den Kopf gesenkt und schien kurz davor zusammenzubrechhen. Mit wenig sanften Bewegungen drehte der Inkubus sie auf den Rücken und schnalzte mit der Zunge. „Nun sieh dich an. Du bist ja vollkommen ausgedörrt. Nichts mehr übrig von deiner früheren Schönheit. Ein Jammer. Aber wenn du jetzt brav den Mund aufmachst, könnte das bald wieder anders werden. Na los, auf das Schnäbelchen. Dann gibt es auch einen Leckerbissen.“ Marcus ballte in seinem Versteck die Hand zur Faust. Er hätte diesem Inkubus am liebsten das süffisante Grinsen aus dem Gesicht gewischt. Der hatte jetzt Crystals Kinn mit einer Hand gepackt, während er mit der anderen eine Phiole entkorkte, in der eine weiße Flüssigkeit schimmerte. Marcus unterdrückte ein Würgen, als ihm klar wurde, worum es sich handelte. In Crystal hingegen kam plötzlich Leben. Sie hatte den Inhalt wohl gewittert und öffnete jetzt tatsächlich den Mund. „Ah, so ist es brav. Schön schlucken.“ Der Inkubus schüttete den Inhalt der kleinen Glasflasche zwischen Crystals begierige Lippen. Sie schluckte und fast erwartete Marcus wieder zu sehen, wie ihr Körper unter dem unheimlichen Licht erglühte, aber der Effekt blieb aus. Stattdessen knurrte sie unwillig und schloss mit einem Mal ihre krallenbewehrte Hand um den Arm des Inkubus. „Na na, schön brav bleiben“, tadelte der in sanftem Tonfall. „Du weißt, dass die Portion nicht ausreicht, um dich für einen Kampf zu rüsten. Du sollst lediglich wieder arbeitsfähig werden. Unser Herr wünscht dich bald wieder in so einem fabelhaften Zustand wie zuvor bewundern zu dürfen. Er war wirklich beeindruckt.“ „Unser Herr kann mich mal.“ „Soll ich ihm das von dir ausrichten?“ Das Lächeln des Inkubus schwankte keinen Augenblick. „Meinetwegen kannst du ihm das auch vorstöhnen, während er dich fickt. Ist mir so was von Rille. Und jetzt nimm deine Griffel von mir.“ Der Inkubus trat tatsächlich einen Schritt zurück. Crystal kämpfte sich auf alle Viere und erhob sich dann schwankend, bis sie wieder aufrecht vor dem Inkubus stand. Marcus meinte, ihre gelben Augen im Dunkeln aufblitzen zu sehen. „Wenn du mir nicht mehr gibst, kann ich nicht rausgehen. Eine Verwandlung und ich lieg wieder im Dreck.“ „Dann verwandle dich nicht“, schlug der Inkubus vor. „Haha, sehr witzig. Und die Menschen? Meinst du vielleicht, die lassen mir das hier als Halloween-Kostüm durchgehen?“ Sie wies an sich herab. Der Inkubus legte einen Zeigefinger an den Mund. „Mhm, dafür ist vielleicht ein wenig die falsche Jahreszeit.“ „Sag ich ja“, fauchte Crystal und stemmte die Hand in die Hüfte. „Also los, ich will noch eine Portion. Danach geh ich meinetwegen wieder auf Melktour. Den Scheiß, den ihr danach mit mir abgezogen habt, mach ich aber nicht nochmal mit. Ich wäre fast verreckt.“ „Aber nur fast.“ Wieder dieses enervierende Lächeln. „Also schön, ich hole dir noch was. Aber du bleibst so lange hier. Nicht, dass du uns noch verloren gehst. Hier unten kann man sich leicht verirren.“ Der Inkubus verschwand durch die Tür und ließ sogar die Fackel in der Zelle. Kaum, dass er weg war, wirbelte Crystal zu Marcus herum und funkelte ihn wütend an. „Sag mal, hast du sie noch alle? Ich hab doch gesagt, du sollst dich von hier fernhalten.“ Marcus schnappte erst ein paar Mal nach Luft, bevor er endlich antworten konnte. „Ich bin nicht ganz freiwillig hier, falls ich dich daran erinnern darf.“ Er klimperte vielsagend mit der Kette um seinen Fuß. „Weil du dich zu dämlich angestellt hast! Wer hat dich hier eingesperrt?“ Als er nicht antwortete, schnaubte sie nur. „Sag bloß, du hast dich von dem Köter austricksen lassen. Hab ich nicht gesagt, du sollst ihm einfach den Schädel einschlagen?“ „Das muss wohl gewesen sein, nachdem du mich außer Gefecht gesetzt hattest.“ „Du hast zu viele Fragen gestellt.“ „Ich hatte dafür bezahlt!“ Crystal begann plötzlich zu grinsen. „Stimmt. Hattest du. Schade eigentlich, dass du das gerade nicht nochmal hingekriegt hast. Dann hätte ich Victor in der Luft zerfetzt.“ „Victor? Ist das der Inkubus?“ Sie gab ein Schnurren von sich. „Immer noch der gleiche, kluge Kopf unter der hübschen Schale. Ja, Victor ist das neue Schätzchen von unserem Boss. Hat sich sozusagen hochgeschlafen.“ Sie grinste anzüglich. Marcus atmete tief durch. „Verrätst du mir jetzt, für wen du arbeitest? Ich meine, ich komme hier doch eh nicht mehr lebend raus.“ Statt zu antworten trat sie einen Schritt vor und schnippte ihm mit dem Finger gegen die Stirn. „Au! Das tat weh!“ Marcus rieb sich die malträtierte Stelle. „Wirst es überleben. Aufgeben gilt nicht.“ Jetzt war es an Marcus zu schnauben. „Ach ja? Dann verrat mir doch mal, wie ich hier wegkommen soll. Ich weiß ja noch nicht mal, wo hier eigentlich ist. Wo sind wir? Amazonas? Ägypten? Russland?“ „Mexiko.“ Marcus zog die Augenbrauen nach oben. „Im Ernst? Nur in Mexiko?“ „Jupp. Könnte dir erklären wo, aber das würde dir ja auch nichts nützen. Du kannst hier nicht raus.“ „Das ist mir auch klar.“ „Nein, du verstehst nicht. Ich meine, dass du, sobald du einen Fuß auf das Außengelände setzt, geht hier ein Alarm los. Hier kommt kein himmlisches Wesen rein oder aus, ohne von einer Horde Dämonen umzingelt zu werden. Der Meister war da ziemlich gründlich. Vermutlich taucht der Ort hier nicht mal auf irgendwelchen himmlischen Landkarten auf. Luftabwehr und so. Alles superstreng geheim.“ Misstrauisch runzelte Marcus die Stirn. „Und woher weißt du das alles?“ „Weil ich gut Freund mit Ernie bin. Ernie ist hier der Sicherheitschef und zuständig für alles, was rein oder rausgeht oder eben auch nicht. Hab ihn ein bisschen ausgequetscht wegen meiner Schuhe.“ „Schuhe?“ Marcus verstand immer weniger. Sie winkte ab. „Nicht so wichtig. Tatsache ist, dass du hier festsitzt. Da bräuchte es schon ne ziemliche Armee, um das hier plattzumachen. Du hast nicht zufällig eine dabei?“ Er schüttelte den Kopf. „Das dachte ich mir. Tja, und da du auch nicht in meine Handtasche passt … war schön dich gekannt zu haben.“ „Was?“ Entgeistert sah Marcus sie an. Meinte sie das ernst? „Nun guck nicht so, kleiner Cop. Gerade eben hast du noch vom Sterben geredet, aber wenn ich das tue, ist das auf einmal ein Verbrechen? Ich bitte dich. Was soll ich denn tun? Die Kavallerie rufen?“ Marcus sah sie einen Augenblick lang unbewegt an. Dann begann er zu grinsen. „Crystal, du bist genial.“ „Ach echt?“ Sie zog verwundert die Augenbrauen nach oben. „Das hat mir auch noch keiner gesagt. Eher so was wie 'Ich steh auf deine Titten' oder so.“ Er seufzte. „Du bist … nicht so wichtig. Kannst du mir einen Gefallen tun?“ „Also wenn du jetzt noch einen geblasen haben willst, müssen wir uns aber beeilen.“ Marcus verzog das Gesicht. „Nein, nicht so einen Gefallen. Ich meinte, ob du jemanden für mich anrufen kannst.“ Ihre Augen wurden schmal. „Wen?“ „Meinen Vater.“ „Was?“ Einen Augenblick lang stand ihr Mund sperrangelweit offen, bevor sie erneut begann loszuzetern. „Kommt gar nicht in die Tüte! Ich ruf doch keinen Engel an. Der vierteilt mich, wenn er rausfindet, wer ich bin.“ „Das musst du ihm ja nicht auf die Nase binden. Du sollst ihm nur sagen, wo ich bin.“ Crystal sagte nichts dazu und starrte ihn nur an, als wäre er verrückt geworden. Hinter ihrer Stirn konnte Marcus die Zahnräder rattern hören. „Aber dann weiß er auch, wo mein Chef zu finden ist“, sagte sie schließlich mit leichtem Schmollen. „Der dich fast hat verrecken lassen?“ Er hob abwehrend die Hände, als sie anhob zu protestieren. „Deine eigenen Worte. Ich dachte mir, du würdest ihm vielleicht gerne einen Denkzettel verpassen. Wenn hier ein paar Engel anrücken, wer würde auf die Idee kommen, dass du daran Schuld bist?“ Ihre Augen wurden schmal. „Bist du sicher, dass du ein reinrassiger Nephilim bist? Nicht doch irgendwelche Dämonen in deinem Stammbaum? Ein Trickster vielleicht?“ „Nicht, dass ich wüsste.“ Sie biss sich mit den Reißzähnen auf die Unterlippe, während sie begann, in der Zelle hin und herzu laufen wie ein Tiger im Käfig. Ihr Schwanz schlug unruhig hin und her. „Es könnte funktionieren. Vielleicht zerstören sie dabei auch gleich diese Höllenmaschine, in der sie mich gefesselt hatten. Da will ich bestimmt nie wieder hin.“ „Maschine?“ „Keine Zeit, dir das zu erklären. Victor wird gleich wieder hier sein und dann muss ich zusehen, dass ich ihn hier rausbringe, bevor er dich noch entdeckt. Kannst von Glück sagen, dass er den Saft dabei hatte, sonst hätte er dich bestimmt gerochen.“ Es lag Marcus auf der Zunge zu sagen, dass sie auch nicht gerade nach Rosen duftete, aber er schluckte die Bemerkung herunter. Das hier war zu wichtig, um noch weiter Zeit mit Geplänkel zu vergeuden. „Also was nun? Rufst du ihn an?“ Sie blieb stehen und musterte ihn einen Augenblick lang. „Also schön, ich mach's. Aber ich kann nicht garantieren, dass dein Daddy dich retten kommt. Ich mache den Anruf und dann bin ich raus aus der Geschichte. Alles klar?“ Er lächelte schief. „Klar.“ Was hatte er auch sonst erwartet. „Na gut, dann sag mir die Nummer, ich versuche sie mir zu merken.“ Er sah sie zweifelnd an, aber sie rollte nur mit den Augen. „Ein Scherz. Nummern konnte ich mir immer schon gut merken. Ich steh auf die 69.“ Marcus ging nicht auf die Andeutung ein, während er ihr die Telefonnummer diktierte. Crystal wiederholte sie noch einmal und nickte dann. „Alles klar, ist so gut wie erledigt Wenn ich wieder in Vegas bin, ruf ich diesen Engel an und sag ihm, wo er dich findet.“ Sie schürzte die Lippen. „Na gut, das war's dann wohl. Zeit Abschied zu nehmen. War nett mit dir, kleiner Cop.“ Sie beugte sich vor und bevor er es verhindern konnte, hatten sich ihre Lippen auf seine gelegt. Fast erwartete er, wieder ihre Magie zu spüren zu bekommen, aber es war tatsächlich nur ein Kuss. Verwundert sah er sie an. Sie leckte sich über die Lippen und grinste. „Ich muss mir doch merken, wie du schmeckst. Schließlich sieht man sich immer zweimal im Leben.“ „Wir sehen uns gerade zum zweiten Mal.“ Ihr Grinsen wurde breiter. „Vielleicht ist uns ja ein drittes Mal vergönnt … Marcus.“ Er wollte noch etwas erwidern, aber in diesem Moment hörte er den Inkubus auf dem Gang wiederkommen und drückte sich so eng er konnte an die Wand, während Crystal wieder an der Tür Aufstellung nahm. Sie ließ sich nichts anmerken, nahm die zweite Phiole von Victor entgegen und stürzte den Inhalt herunter, bevor sie mit keckem Hüftschwung und zuckendem Schwanz die Zelle verließ. Der Inkubus nahm noch die Fackel an sich und ließ Marcus somit im Dunkeln zurück. Sobald die beiden draußen waren, sank er an der Wand herab und atmete tief durch. Nun hieß es warten und hoffen, dass Crystal sich an ihr Versprechen hielt. Denn wenn nicht … Nun das würde er wohl herausfinden, wenn Alejandro von wo auch immer zurückkam. Einen Augenblick lang schwebte seine Faust noch unschlüssig über dem schwammigen Holz der Tür, bevor Alejandro endlich den Mut fasste anzuklopfen. In der Hütte der Cuca war nichts zu hören. Wahrscheinlich schlief sie noch. Sie zu wecken war vermutlich die dümmste Idee, die er seit langem gehabt hatte, aber er war verzweifelt! Schon wieder war fast ein ganzer Tag verstrichen und er hatte noch keine Spur von diesem Engel. Dafür fristete jetzt ein Nephilim im Kerker der Festung sein Dasein. Er hatte ihn mitgenommen in der Hoffnung, seinen Herrn notfalls mit der Kreatur besänftigen zu können, wenn er sie ihm zum Geschenk machte. So ein Halbengel hielt sicher eine Menge aus und sein Herr liebte raue Spielchen. Wenn das Opfer hübsch war, war das noch ein Bonus, und soweit Alejandro das beurteilen konnte, würde der Nephilim seinem Herrn gefallen. Der weitaus größere Triumph wäre es jedoch, ihm tatsächlich den Engel zu präsentieren. Zuerst einmal musste er den jedoch finden und dazu brauchte er die Cuca. So einfach war das. Alles andere wie die Doppelreihe scharfer Zähne in ihrem Maul und die Tatsache, dass sie ihm körperlich weit überlegen war, blendete er einfach aus. Das war ohnehin so gut wie jeder Dämon, den er kannte. Immer noch regte sich nichts in der schimmeligen Hütte, die jetzt im nachmittäglichen Sonnenschein einfach nur schäbig und weit weniger gruselig wirkte als bei seinem letzten Besuch. Was sollte er jetzt tun? Einfach weiter klopfen, bis sie irgendwann öffnete? Oder warten, bis es dunkel wurde? So viel Zeit hatte er nicht. Er hatte sich doch nicht so beeilt, nur um jetzt hier vor verschlossenen Türen zu vermodern. So leicht würde er sich nicht abwimmeln lassen. Entschlossen klopfte er noch einmal. „Hey!“, rief er so laut, dass die Grillen und alles andere Getier um ihn herum für einen Augenblick in ihrem Konzert verstummten. „Ich weiß, dass du da bist. Also schwing deinen fetten Arsch aus dem Bett. Ich hab gebracht, was du wolltest.“ Das hatte er tatsächlich. Als die Cuca persönliche Gegenstände gefordert hatte, hatte er sofort an den Koffer dieses Menschen denken müssen, den der Nephilim in seiner Wohnung aufbewahrte. Darin hatte sich, wie er gehofft hatte, tatsächlich etwas beschmutzte Kleidung befunden. Er konnte zwar nicht mit Sicherheit sagen, ob das T-Shirt, das er jetzt bei sich trug, wirklich von dem Engel oder von seinem menschlichen Begleiter stammte, aber das war im Grunde genommen auch egal. Wenn er den einen fand, würde er auch den anderen finden. Er konnte nur hoffen, dass das Shirt ausreichte. Das erste, was ihm in die Hände gefallen war, war getragene Unterwäsche gewesen, und auch wenn diese Sachen sicherlich als „persönlicher“ anzusehen waren, hatte er sich nicht überwinden können, etwas davon einzustecken. Nicht, dass es ihm etwas ausgemacht hätte, die Sachen am Körper zu tragen, aber er hatte sich in dem Moment den Gesichtsausdruck der Cuca vorgestellt, wenn er mit der Unterhose eines fremden Mannes bei ihr auftauchte. Das hatte er sich dann doch lieber ersparen wollen. Sie nahm ihn ohnehin nicht ernst genug, was man schon daran merkte, dass er immer noch vor dieser verdammten Scheißtür stand! „Mach endlich auf!“, brüllte er und trat mit dem Fuß gegen das morsche Holz, das unter der Behandlung protestierend ächzte. Vielleicht sollte er einfach versuchen, die Tür einzutreten und sie an ihrem Schwanz aus dem Bett schleifen. Ja, das würde ihm gefallen. Dann könnte er … In diesem Moment öffnete sich die Tür und die riesige Schnauze der Cuca schnappte nur Millimeter vor seinem Gesicht zusammen. Gelbe Alligatoraugen funkelten ihn darüber hinweg wütend an. „Was?“, blaffte sie und sah aus wie die personifizierte schlechte Laune. „Du bist wohl lebensmüde. Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“ Alejandro schluckte jede Erwiderung, die ihm dabei in den Sinn kam, mit Müh und Not wieder herunter. Er war immerhin gekommen, weil er etwas von ihr wollte. Da war es sicher nicht klug, wenn er sie jetzt noch weiter verärgerte. „Hier“, knurrte er deshalb nur und hielt ihr das Shirt unter die Nase. „Reicht das für den Zauber?“ Sie blinzelte ein paar Mal, bevor sie sich herabließ, das Stück Stoff in seinen Händen zu begutachten. „Ist das von dem Engel?“ „Eher von seinem Begleiter. Ein Mensch. Ist das ein Problem?“ „Nein, kein Problem“, antwortete sie und trat von der Tür zurück. „Komm rein.“ Drinnen herrschte ein muffiges Halbdunkel, das jetzt, da die Sonne hoch am Himmel stand, erdrückend schwül war. Alejandro spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Eine der Nebenwirkungen seiner menschlichen Gestalt. Er konnte schwitzen, weinen, war empfindlicher gegen Hitze und Kälte und hatte manchmal diese … Gefühle. Er hätte es nie offen zugegeben, aber manchmal kam er sich einfach schwach vor. Schwächer als die anderen, die diese Bedenken nicht zu teilen schienen. Er war zwar nicht unbedingt die hellste Kerze auf dem Kuchen, so viel war ihm auch klar, aber wenn er sich andere, niedere Dämonen so ansah, kamen sie ihm manchmal so eindimensional vor. Es war nicht so, dass er keine Freude daran hatte, zu rauben, foltern oder morden. Im Gegenteil. Es verlieh ihm eine Art von Macht, die nur durch wenig anderes übertroffen wurde. Er genoss es, wenn die Menschen Angst vor ihm hatten. Es war wie eine Art Rausch, ein Höhenflug, der seine Sinne beflügelte und ihn sich einfach gut fühlen ließ. Aber wenn er dann unter seinesgleichen war, verschwand dieses Gefühl recht schnell. Bei den Dämonen musste er sich ständig behaupten, musste immer auf der Hut sein, um nicht plötzlich als Opfer mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Das war anstrengend und manchmal … manchmal wünschte er sich, gar nicht mehr zurückkehren zu müssen. Wenn da nicht sein Herr gewesen wäre, hätte er sich vermutlich bereits aus dem Staub gemacht und wäre irgendwo untergetaucht. Irgendwo, wo ihn diese stinkende Bande nicht wiederfand. „Was guckst du so kariert aus der Wäsche? Los, hilf mir den Tisch freizuräumen. Ich brauche Platz.“ Alejandro schüttelte den Kopf und stopfte die dummen Gedanken ganz tief zurück in die Ecke seines Kopfes, aus der sie unerlaubt gekrochen waren. Er war hier mit einem Plan und den würde er jetzt auch durchziehen. Den anderen Cadejos hatte er nichts davon erzählt. Auch nicht von dem Nephilim, der jetzt im Keller schmorte, oder davon, dass er heimlich in die Ausstellung des Herrn geschlichen war, um dort dem ausgestopften Bukavac die Zunge herauszuschneiden. Die Zunge sowie einige andere Zutaten, die die Cuca von ihm verlangt hatte, lagerten jetzt in einem Sack ein Stück weit entfernt von der Hütte gut versteckt in einem hohlen Baumstumpf. Hätte er sie gleich mitgebracht, hätte er riskiert, dass sie ihm die Beute einfach abnahm und ihm den Kopf abbiss, ohne sich weiter um den vereinbarten Handel zu kümmern. Mit gerunzelter Stirn beobachtete er, wie die Cuca begann, allerlei Utensilien auf dem Tisch auszubreiten. Einiges davon konnte er erraten. Das rote Büschel waren mit Sicherheit Haare von einem Curupira und die glühenden Schuppen, die die Cuca vorsorglich in einem feuerfesten Glasgefäß aufbewahrte, stammten vermutlich von einer Boitata. Der Rest jedoch entzog sich seinen Kenntnissen. Es war ihm auch vollkommen egal, solange der Zauber nur funktionierte. „Hast du an die Bezahlung gedacht?“ Misstrauisch nahmen ihn die stechenden Augen der Cuca ins Visier. „Natürlich. Kriegst alles, wenn das hier fertig ist.“ Sie knurrte unwillig, fragte aber nicht weiter nach. „Na fein. Dann pflanz deinen Hintern dort hinten hin und stör mich nicht.“ Alejandro vermied es, allzu offensichtlich mit den Augen zu rollen, und zog sich einen wackeligen Schemel heran, um darauf Platz zu nehmen. Wie viele Stunden hatte er wohl schon auf diesem Ding zugebracht? Vermutlich mehr als er zählen konnte. Das Ganze hatte allerdings den Vorteil, dass er gut darin geworden war zu warten. Außerdem konnte er sich so schon mal in den schönsten Farben ausmalen, wie es sein würde, wenn er den Engel endlich einfing. Dann würde sein Herr erkennen, dass … Seine Gedankens stockten, als ihm auffiel, dass sein toller Plan ein ganz entscheidendes Loch hatte. Wenn er den Engel fand, war er zwar schon ein gutes Stück weiter, aber wie sollte er ihn einfangen? Zumal dieser blonde Bastard inzwischen ja seinen persönlichen Leibwächter hatte, wie Alejandro bereits beim ersten Zusammentreffen hatte feststellen müssen. Der dumme Mensch hatte ihn einfach niedergeschlagen. Diese körperliche Unterlegenheit würde ihn beim zweiten Mal sicherlich erneut vor ein Problem stellen. Es sei denn, er fand einen Weg, den Menschen und den Engel gleichzeitig auszuschalten. Aber eins nach dem anderen. Erst mal muss ich ihn ausfindig machen und dann werde ich mir wohl Hilfe holen müssen. Vielleicht kann ich ihnen eine Falle stellen. Einen Hinterhalt. Irgendwas, bei dem ich nicht kämpfen muss.Wenn ich sie eine Weile beobachte, wird sich schon eine Schwachstelle offenbaren, die sich nutzen lässt. Eine Schwachstelle hat schließlich jeder, auch Engel. Er grinste, während er sich vorstellte, wie er das blonde Englein vor den Thron seines Meisters schleifte, und der ihn dafür fürstlich belohnte. Vielleicht sogar mit einem Platz in seinem Bett. Allein der Gedanke daran ließ einen angenehmen Schauer seinen Rücken hinabrieseln. Die Vorstellung, den perfekten Körper seines Meisters berühren zu dürfen, ihn zu küssen, zu kosten, sich von ihm benutzen zu lassen … „Ich hoffe, deine Latte kommt nicht davon, dass du mir die ganze Zeit auf den Hintern geglotzt hast.“ Alejandro schreckte hoch und blickte in das schadenfrohe Gesicht der Cuca. Ihr Blick wanderte vielsagend zwischen seine Beine, die er sogleich zusammenkniff und sich abwandte. Verdammt, das hätte sie nicht sehen sollen. Ihm wurde heiß. „Keine Bange, ich verrat’s keinem, dass du auf deine Mama stehst“, grinste sie und hielt ihm etwas unter die Nase. Es war ein Anhänger, der an einem schwarzen Lederband baumelte. Der größte Teil bestand aus einem Vogelschädel, in dessen Augenhöhlen die Schuppen der Boitata eingelassen waren. Die roten Haare waren ebenfalls an dem Schädel befestigt worden und wirkten wie ein zerzaustes Federkleid. Als sie den Anhänger bewegte, glommen die Augen des Vogels unheilvoll auf. „Hier, dein Aufspürzauber ist fertig. Ich erkläre dir jetzt noch, wie er funktioniert. Also sperr die Ohren auf und hör zu. Ich hasse es mich zu wiederholen.“ Die Cuca drückte ihm den Anhänger in die Hand. Er strich mit den Fingern darüber und meinte eine schwache Wärme unter seinen Fingern pulsieren zu fühlen. Fast so, als habe er einen lebendigen Vogel in der Hand. „Der Anhänger weist dir den Weg zu dem Engel oder vielmehr zum Besitzer des Kleidungsstücks. Wenn du in die richtige Richtung gehst, leuchten die Augen des Vogels rot, wenn du falsch bist, werden sie blau. Je heller der Schein, desto näher bist du dran. Alles klar?“ „Rot ist richtig, blau ist falsch, je heller, desto näher.“ Er sah sie herausfordernd an. „Hab ich was vergessen?“ Ihr Gesicht zog sich zu einem zähnestrotzenden Grinsen in die Breite. „Nein, mein Kleiner. Hast dir alles brav gemerkt. Ich wusste doch, dass du nicht ganz so dumm bist, wie du aussiehst. Irgendwas muss dein Herr an dir ja finden, sonst würde er dich nicht hiermit betrauen. Ich gehe davon aus, dass du die Sache mit dem Verwandeln inzwischen auch besser draufhast. Wenn ich da an das eine Mal denke, als du erkältet warst …“ „Jaja“, versuchte er sie zu unterbrechen, aber sie redete unerbittlich weiter. „Hast dich bei jedem Niesen von der einen in die andere Form verwandelt. Es war zum Schießen. Im einen Augenblick ein rotznasiger Bengel, im nächsten ein Welpe, dessen dürre Beine vom Stuhl gerutscht sind, sodass er mit einem Jaulen auf dem Hosenboden landete. Hab dich danach nur noch aus einem Napf vom Fußboden fressen lassen. Das passte für beide Formen und …“ „Genug!“, fauchte er und erhob sich weniger würde voll von seinem Schemel, als ihm lieb gewesen wäre. „So gerne ich noch mit dir plaudern würde, ich hab da einen Engel zu fangen.“ Sie grinste immer noch. „Dann mal viel Glück dabei, kleiner Alejandro. Und falls du ihn tatsächlich in die Finger kriegst, darfst du mir gerne eine von seinen Federn mitbringen. Wer weiß, vielleicht habe ich dann auch was Schönes für dich. Etwas, dass dir gefallen wird.“ Es juckte ihn, sie zu fragen, was sie damit meinte, aber er beherrschte sich. Wenn er allzu viel Interesse zeigte, würde das nur den Preis nach oben treiben. „Wir werden sehen“, brummte er daher nur, hängte sich den Anhänger um den Hals und verließ, so schnell er konnte, die Hütte der Cuca, um endlich den Engel für seinen Herrn ausfindig zu machen. „Und vergiss nicht, mir meine Bezahlung zu bringen“, rief sie ihm noch nach, als er bereits zur Tür hinaus war. „Hol sie dir selber, alte Vettel“, knurrte er wütend, machte sich dann aber doch auf den Weg, um ihr den Sack zu bringen. Sich mit der Cuca anzulegen, war sicherlich keine gute Idee, denn wer wusste schon, wann er ihre Dienste noch einmal brauchen würde. Die richtige Autovermietung zu finden war nicht weiter schwer. Es war eine der kleineren Firmen, die hier in der Stadt nur eine Filiale hatten. Somit hatte sich Erithriel zielstrebig dorthin begeben, um sich nach dem Verbleib des von Thompson gemieteten Wagens zu erkundigen. Es hatte nur seine Marke und ein bestimmtes Auftreten verlangt, bis er erfuhr, was es zu wissen gab. Das war unerfreulich wenig, aber besser als nichts. Er wusste jetzt, dass heute Morgen eine dunkelhaarige Frau den gesuchten Mietwagen zurückgebracht, jedoch keinen neuen Vertrag abgeschlossen hatte. Der Name, auf den der Vertrag gelaufen war, lautete Perriconti. Ziemlich wahrscheinlich italienischer Herkunft und somit allem Anschein nach der Mädchenname von Thompsons Frau. Er hatte sie also gefunden und im nächsten Moment wieder verloren. Nicht ganz sicher, wie er jetzt weiter vorgehen sollte, verließ er die Autovermietung und sah sich um. Der Mann hinter dem Tresen hatte ihm bestätigt, dass sie allein gekommen war. Kein zweiter Wagen. Wie also war sie von hier weggekommen? Mit einem Taxi? Irgendwie bezweifelte Erithriel das. Er ging ein paar Schritte und nahm dabei die Umgebung in Augenschein. Als sein Blick an einem Schild hängenblieb, wurden seine Augen schmal. Sollte er wirklich so viel Glück haben? Schnell ging er auf das ausgewiesene Geschäft zu und betrat es. Die Augen einer bemühten Mitarbeiterin richteten sich sogleich auf ihn. „Willkommen bei Rent-A-Car. Kann ich Ihnen helfen?“ Mit einer routinierten Bewegung zog er seine Dienstmarke aus der Tasche. „Hawthorne, FBI. Ich würde gerne wissen, ob eine gewisse Gabriella Perriconti bei Ihnen ein Auto gemietet hat.“ Die blonde Frau sah ihn ein wenig erstaunt an, nickte aber zu seiner Erleichterung. „Gut“, erwiderte er und trat näher. „Ich brauche die Daten des Fahrzeugs, um eine Fahndung nach ihr rausgeben zu können.“ Wieder nickte die junge Frau hinter dem Tresen, bevor sie plötzlich stoppte und zu ihm aufsah. „Ich könnte Ihnen auch die Tracker-Daten geben. Unsere Wagen haben alle ein GPS-Gerät eingebaut.“ Beinahe hätte Erithriel gelächelt. „Tun Sie das.“ Heute musste wirklich sein Tag sein. „Haben Sie denn einen Durchsuchungsbefehl?“ „Wie bitte?“ Die junge Frau hinter dem Tresen sah ihn zerknirscht an. „Einen Durchsuchungsbefehl. Ich kann Ihnen schließlich nicht einfach auf Zuruf irgendwelche Kundendaten rausgeben. Damit mache ich mich strafbar.“ Sie zog ein wenig die Schultern hoch. „Sorry, ich arbeite erst seit drei Wochen hier. Wenn ich was falsch mache, fliege ich raus.“ Erithriel nahm sich einen Augenblick um betont langsam ein- und auszuatmen. Er war sich ziemlich sicher, dass er den Geschäftsführer davon hätte überzeugen können, ihm die Daten auch so zu geben. Notfalls hätte er ihm erzählt, dass die Sicherheit des Fahrzeugs auf dem Spiel stand. Das würde den Mann sicherlich zur Herausgabe des GPS-Zugangs bewegen. Es gab allerdings noch ein Problem, das er bisher nicht gelöst hatte. Wenn er den Gefallenen tatsächlich ausfindig gemacht hatte, musste er ihn auch festsetzen. Dazu würde er vermutlich Unterstützung brauchen. Sich ihm allein entgegenzustellen, wäre unklug. Inzwischen war er immerhin schon ein paar Tage auf der Erde und hatte vermutlich einen Gutteil seiner Kräfte wieder erlangt. Erithriel brauchte somit mindestens einen oder zwei weitere Kollegen, die ihm dabei zur Seite standen. Und genau die schienen momentan nicht greifbar. Auf dem Weg hatte er noch ein paar Mal versucht, Melanthiel ans Telefon zu bekommen, war aber immer nur bei der automatischen Bandansage gelandet, die ihm mitteilte, dass der Gesprächspartner zurzeit nicht erreichbar sei und über seinen Anruf informiert werden würde. Erithriel sah noch einmal zu der jungen Frau, die ihn immer noch musterte. Er verhielt sich definitiv zu auffällig. Das musste er ändern. „Ich komme wieder“, verkündete er und wartete nicht ab, ob sie etwas dazu zu sagen hatte. Draußen ging er zügig die Straße entlang. Bewegung würde ihm vielleicht helfen, seine Gedanken zu ordnen. Er war sich ziemlich sicher, dass Thompson und die anderen noch in der Stadt waren. Was sie hier wollten, war ihm jedoch schleierhaft. Auch der Ausflug nach Las Vegas schien nicht wirklich Sinn zu machen. Was planten sie? Oder gab es vielleicht gar keinen Plan? War Chaos das einzige Ziel? Ich werde mir einen Durchsuchungsbefehl besorgen. Das sollte bei der aktuell ausstehenden Fahndung kein Problem sein. Und während ich darauf warte, kann ich noch ein paar Anrufe machen. Irgendwo wird doch ein weiterer Engel zu finden sein. Mit grimmigem Gesicht machte er sich daran, eine neue Nummer einzutippen. Kapitel 21: Gewebte Angst ------------------------- Die Sonne war bereits untergegangen, als sie am Universitätsgelände ankamen. Das Gebäude mit den großen Glasfronten, auf das sie sich zubewegten, lag fast vollkommen im Dunkeln. Nur an den Notausgängen waren noch die bekannten, grünen Leuchttafeln erkennbar. Aus der Ferne wirkte es, als würden sie von einer Vielzahl trüber Augen angestarrt. Gabriella schüttelte sich unter dem Eindruck. Sie sah zu Michael und Angelo, die neben ihr über den inzwischen leeren Campus wanderten. Die beiden hatten ihr erzählt, was heute Morgen im Büro von Jeffs ehemaliger Professorin vorgefallen war. Gabriella hatte ihnen zugestimmt, dass das Verhalten der Dame mehr als verdächtig war. Das Treffen, das sie vorgeschlagen hatte, konnte eigentlich nur eine Falle sein. Aus diesem Grund hing auf Michaels Rücken die Sporttasche, die er vor ihrer Abfahrt noch gepackt hatte. Darin befanden sich Waffen. Waffen! Eine rostige Heckenschere, die er irgendwo in der Garage ausgegraben und in zwei Teile zerlegt hatte. Den Nachmittag hatte er mit Angelo zusammen verbracht, um die Kanten der Schere zu schleifen. Das Ergebnis war etwas, das Gabriella erneut schaudern ließ, wenn sie nur daran dachte. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese improvisierten Mordwerkzeuge würde einsetzen können. Ursprünglich hatte Angelo auch noch sein Schwert mitnehmen wollen, aber es hatte nicht in die Tasche gepasst und Michael hatte Gabriellas Auffassung geteilt, dass es unklug war, mit der Waffe in der Hand zu dem Treffen zu gehen. Angelo hatte sich ihrem Rat zwar gebeugt und die Waffe im Auto gelassen, aber Gabriella hatte deutlich gesehen, dass ihm das Ganze nicht schmeckte. Ihr, wenn sie ehrlich war, auch nicht. Ihr Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken, dass sie womöglich tatsächlich würden kämpfen müssen. Erinnerungen an die Begegnung mit dem Dämon in ihrem Garten gruben sich ihren Weg an die Oberfläche. Trotzdem ging sie weiter. Ihre Schritte erzeugten kaum Geräusche auf den Gehwegplatten. Sie hatte sich entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit flache Turnschuhe und eine Hose angezogen, die ihr genug Bewegungsfreiheit gab. Sie hoffte nur, dass diese Maßnahmen sich als überflüssig erweisen würden.   „Dort hinten geht es rein.“ Gabriella versuchte, an Michaels Stimmlage etwas abzulesen, aber er schien lange nicht so beunruhigt zu sein wie sie. Machte sie sich zu viele Gedanken? Als ihr Blick zu Angelo wanderte, war sie jedoch gleich wieder in Alarmbereitschaft versetzt. Er sah ernst aus, angespannt. Sein Gesicht wirkte auf eigenartige Weise älter, reifer, fast so als ob … „Angelo?“ Er sah auf und senkte im nächsten Augenblick schuldbewusst die Augen. „Ich hab nur mal kurz nachgesehen, ob ich was Ungewöhnliches erkennen kann.“ Sie ersparte sich eine Bemerkung dazu, dass er mit seinen Kräften lieber haushalten sollte. „Und?“ Er schüttelte den Kopf. „Nichts.“ „Mhm.“ „Nun macht euch nicht verrückt“, mischte sich jetzt Michael ein. „Immerhin sind wir zu dritt. Wir sind in der Überzahl und sie offenbar kein Dämon. Was soll also passieren?“ Gabriella hatte keine Antwort auf diese Frage. Nur ein ungutes Gefühl, dass ihr über den Rücken hinauf bis in den Nacken krabbelte und sich dort hartnäckig festbiss.   Als sie das Gebäude betraten, wurde das Gefühl mit jedem Schritt stärker. Unruhig sah sie sich um. Wurden sie beobachtet? Aus den Schatten heraus angestarrt? War da nicht ein Wispern zu hören? Ein Huschen und Trippeln? Oder bildete sie sich das alles nur ein? Sie rückte ein Stück näher an Michael heran und sah sich in der Empfangshalle um, die jetzt still und dunkel vor ihnen lag. Nicht einmal das Wasserspiel, das einen zentralen Punkt in der weitläufigen Halle bildete, war eingeschaltet. Irgendwo meinte sie jetzt tatsächlich etwas zu hören. Ein Summen, das langsam näher kam. Ein unförmiger Schatten geisterte über die Wand, kam näher und näher und …   Im nächsten Moment ließ Gabriella geräuschvoll die Luft entweichen. Dort schob eine Reinigungskraft eine dieser großen Maschinen, die gleichzeitig saugten und wischten, vor sich her. Der Boden dahinter glänzte feucht. Der Mann, der die Maschine bediente, beachtete sie nicht weiter, sondern zog einfach weiter in der Halle seine Kreise. Wie es aussah, würde er noch eine Weile brauchen. Irgendwie beruhigte Gabriella der Gedanke, dass sich außer ihnen noch jemand im Gebäude befand.   „Wo ist denn nun diese Professorin? Ich dachte, wir wären verabredet.“ Michael wollte ihr gerade antworten, als ein leises ‚Pling’ die Ankunft eines Aufzugs ankündigte. In der dunklen Wand der Halle öffneten sich eine Tür und eine Frau in einem grauen Kostüm trat aus der hell erleuchteten Kabine. Gabriella wusste sofort, um wen es sich handelte. Die Beschreibung, die die beiden Männer ihr geliefert hatten, traf zu hundert Prozent zu. Eine Tatsache, die Gabriella für einen Augenblick stutzen ließ. Natürlich legte sie selbst ebenfalls Wert auf ein gepflegtes Äußeres, besonders bei Kundenterminen. Gleichzeitig war ihr jedoch klar, dass selbst bei der allerbesten Vorbereitung, niemand nach einem kompletten Arbeitstags noch so aussehen konnte wie die Dame, die da gerade auf sie zukam. Immerhin machte es den Anschein, dass sie bis gerade noch gearbeitet hatte. Trotzdem sah sie aus, als wäre sie gerade frisch gephotoshopt worden. Sogar ihr Make-up war tadellos. „Mr. Thompson“, sagte sie mit einem Lächeln auf den roten Lippen, das wie mit einem Zirkel gezogen wirkte. Sie reichte Michael die Hand, bevor sie sich Gabriella zuwandte. „Und sie müssen Mrs. Thompson sein. Ich bin erfreut Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Wieder streckte sie ihre Hand aus und Gabriella ergriff sie automatisch. Schmal und kühl legten sich die Finger der Professorin um ihre. Die Berührung hatte etwas Unangenehmes, Zwingendes. Gabriella hätte ihre Hand am liebsten wieder zurückgezogen. „Gleichfalls“, presste sie stattdessen hervor. Die schräg stehenden Augen ihres Gegenübers musterten sie intensiv, bevor sie sich abrupt auf Angelo richteten. „Ah, du bist auch gekommen. Sehr schön. Dann kann die Führung ja beginnen.“ Die Frau wandte sich wieder den Aufzügen zu. „Wollen wir?“ „Bitte nach Ihnen“, antwortete Michael und warf Gabriella hinter dem Rücken der Professorin einen fragenden Blick zu. Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Die Abneigung, die sie gegen die Frau empfand, war nicht rational. Sie wollte nicht als hysterisch dastehen, nur weil deren Perfektion sie einschüchterte.   In der Kabine war genug Platz für sie vier. Gabriella kam sich trotzdem vor wie in einer Falle, als sich die stählernen Türen vor ihr schlossen. Ein letzter Blick auf die Außenwelt, bevor sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte. Sie fuhren nach unten. „Die neuen Laborräume wurden teilweise unterirdisch angelegt“, erklärte die Professorin. „Das ist zwar nicht so hübsch wie mein Büro, das Sie heute morgen besichtigt haben, aber da wir Wissenschaftler ohnehin immer nur auf unsere Arbeit schauen, brauchen wir eigentlich keine Fenster.“ Sie lachte ein perlendes Lachen, in das Michael und Angelo mit einfielen. Auch Gabriella bemühte sich um ein Lächeln, aber es war deutlich angestrengter als das ihrer beiden Begleiter. Hör auf so stutenbissig zu sein, herrschte sie sich selber an. Es besteht überhaupt kein Grund dazu.   Trotzdem blieb das Gefühl der Verunsicherung bestehen, als sie den Fahrstuhl wieder verließen und in einem langen, von unzähligen Türen unterbrochenen Gang standen. Der größte Teil davon wurde von einer Glastür abgetrennt, auf der ein großes Biohazard-Zeichen angebracht war. „Ab hier wird es ernst“, erklärte die Professorin und wies auf die Tür. „Da in den Laboren momentan nicht gearbeitet wird und alle Proben ordnungsgemäß verschlossen sind, besteht quasi keine Gefahr. Ich muss Sie jedoch trotzdem bitten, Ihre Tasche hier abzustellen. Universitätsfremde Personen sind hier eigentlich nicht erlaubt und wir wollen doch nicht, dass nachher etwas fehlt.“ Sie lächelte und trotzdem war Gabriella sofort klar, dass hier kein Verhandlungsspielraum bestand. Michael sah sie ein wenig unsicher an. „Was meinst du, Schatz, willst du vielleicht hier auf die Sachen aufpassen, während Angelo und ich das Labor besichtigen?“ Gabriella ahnte, was er vorhatte. Allerdings sah es so aus, als wäre die Tür mit einer Art elektronischem Schloss gesichert. Wenn sie hierblieb, wäre sie trotz der Waffen nutzlos. Schlimmer noch, sie würde sich mutterseelenallein in diesem kahlen, kalten Flur die Beine in den Bauch stehen, während da drinnen wer weiß was passierte. Auf gar keinen Fall! „Ach was, wir lassen sie einfach hier stehen. Es wird sie schon niemand klauen.“ Gabriella lachte, aber es klang selbst in ihren Ohren künstlich. Die Professorin hingegen nickte zustimmend. „Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben. Die Vordertür wird um diese Uhrzeit verriegelt. Keiner kann das Gebäude betreten. Es ist niemand da außer uns.“ Die Worte, so beruhigend sie auf den ersten Blick wirken mochten, ließen eine Gänsehaut über Gabriellas Arme hinaufwandern. Als sie gekommen waren, war die Tür noch offen gewesen. Wer hatte sie inzwischen verschlossen? Der Reinigungsmann? Hatte er inzwischen Feierabend gemacht und war ebenfalls gegangen? Mit einem letzten, skeptischen Blick ließ Michael die Tasche in einer Ecke des Flurs zu Boden gleiten. Es klirrte ein wenig darin, als die Scherenteile gegeneinanderstießen. Gabriella beobachtete die Professorin, aber ihr makelloses Gesicht zeigte keinerlei Reaktion. Wie eine Maske, schoss es Gabriella durch den Kopf.   „Sind Sie bereit?“ Der Tonfall der Professorin war fröhlich, ihre Miene ebenfalls, und doch hatte Gabriella das Gefühl, als wäre sie gerade gefragt worden, ob sie den Kopf lieber nach rechts oder nach links aufs Schafott legen wolle. „Natürlich“, antwortete Michael an ihrer Stelle. Die Professorin tippte eine Zahlenkombination in das Tastenfeld neben der Tür, es klickte und im nächsten Moment schwang die Tür nach außen auf. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ Von wollen kann keine Rede sein, dachte Gabriella, während die durch die Tür trat, die sich sogleich wieder hinter ihnen schloss. Einmal mehr hatte sie das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Hier drinnen war es still, nur die Schritte der hochhackigen Schuhe der Professorin hallten von den Wänden des Ganges wieder. „Wir können nicht alle der Labore betreten, aber durch die Sichtöffnungen in den Türen haben Sie einen guten Blick auf unsere Möglichkeiten. In diesem Labor wird beispielsweise auf dem Gebiet der Biokompatibilität geforscht. Es wird heutzutage immer leichter, biologische Vorgänge mit elektronischen Geräten zu unterstützen. Damit diese nicht vom Körper abgestoßen werden, forschen wir hier daran, möglichst nebenwirkungsfreie Werkstoffe zu entwickeln. Professor Edwards hat eine Methode entwickelt, mittels derer Implantate mit einer körpereigenen Proteinschicht umhüllt werden. Das Implantat wird so an das Empfängergewebe angepasst und es kommt zu weniger Abstoßungsreaktionen.“ Gabriella warf einen Blick in das Labor. Auf einem Werktisch stand ein großes Mikroskop, an den Wänden waren Kühlschränke mit durchsichtigen Glasfronten aufgestellt und im Hintergrund stand ein Konvolut von Glasflaschen mit verschiedenen Flüssigkeiten. In einer Nische an der Wand entdeckte sie eine Kochplatte. Bevor sie sich jedoch noch weiter umsehen konnte, war die Professorin bereits zum nächsten Raum gegangen. „In diesem Labor werden die Geräte entwickelt, die später den Patienten eingesetzt werden sollen. Herzschrittmacher, Insulinpumpen und so weiter. Inzwischen gibt es sogar Geräte, die die Gehirnfunktion unterstützen, indem sie die elektrische Reizweiterleitung übernehmen. Es ist wirklich faszinierend, was sich alles im menschlichen Körper ersetzen lässt.“ Sie lächelte, doch ihr Gesicht blieb wieder seltsam starr dabei. Gabriella bekam mehr und mehr den Eindruck, das hinter den vielen, unverständlichen Worten, eine tiefere Bedeutung steckte, die sie nicht verstand. So als redete die Professorin von etwas, das sich noch unter der Oberfläche befand; eine schreckliche Wahrheit verhüllt von einem hauchzarten Schleier gut gewebter Lügen. Sie merkte, dass sie bei ihren Überlegungen irgendwie den Anschluss verpasst hatte und beeilte sich, zu den anderen aufzuschließen, die bereits vor dem nächsten Labor standen.   „Mit den zunehmen Möglichkeiten der Zellreproduktion unter in vitro Bedingungen, mit der heutzutage bereits ganze Organe hergestellt werden können, kommt dieser Sparte eine besondere Bedeutung zu. Es gibt einfach viel zu wenig Spenderorgane. Mit Hilfe unserer Forschung wird es in Zukunft möglich sein, dieses Hindernis zu umgehen. Wer weiß, vielleicht werden wir irgendwann mal in der Lage sein, ganze Körper herzustellen. Damit könnte es möglich sein, nahezu ewig zu leben.“ „Das klingt irgendwie gruselig“, sagte Gabriella, bevor sie es verhindern konnte. Die Professorin lächelte nachsichtig. „Nicht alle teilen unseren Optimismus diese neuen Technologien betreffend. Ich werden Ihnen daher vielleicht noch etwas anderes zeigen. Wenn Sie mir folgen wollen?“ Sie wies einladend auf eine Tür ganz am Ende des Ganges. „Hier hinten befinden sich die Räume, in denen ich meine Forschungen betreibe. Mein Fachgebiet ist dabei die Signaltransduktion.“ „Ähm, ohne jetzt dumm wirken zu wollen, aber was heißt das?“ Michael wirkte ein wenig verlegen, als er die Frage stellte. Wieder lachte die Professorin ein glockenhelles Lachen. „Das hat nichts mit Dummheit zu tun, Mr. Thompson. Fragen Sie ruhig. Signaltransduktion bedeutet, dass eine Zelle auf ein äußeres Signal, wie etwa einen physikalischen oder chemischen Reiz, eine interne Reaktion zeigt. Während einzellige Lebewesen noch direkt auf solche Stimmulation reagieren, erfordern mehrzellige Organismen ein gewisses Maß an Zellkommunikation. Wie diese funktioniert und beeinflusst werden kann, damit beschäftige ich mich. Oder anders gesagt, ich kann Ihnen genau erklären, warum Ihnen beim Geruch eines saftigen Steaks das Wasser im Mund zusammenläuft oder warum beim Anblick Ihrer reizenden Frau Ihr Herz anfängt schneller zu schlagen.“ Gabriella entging der Blick, den ihr die Professorin dabei angedeihen ließ, nicht. Sie war sich sicher, dass, wenn sie nicht dabei gewesen wäre, sich das Beispiel der Frau sie selbst bezogen hätte. Gabriella konnte förmlich hören, wie diese Person schamlos mit ihrem Mann flirtete und der dabei nicht einmal merkte, wie sie ihre Fäden um ihn herum spann, bis er schließlich zappelte wie eine Fliege im Netz. Es ist fast eigenartig, dass sie Angelo so ignoriert. Immerhin soll er doch angeblich ihr zukünftiger Student sein. Sollte sie nicht versuchen, ihn für das Studium zu begeistern? Stattdessen konzentriert sie sich darauf, Michael zu bezirzen. Noch dazu, während ich daneben stehe. Warum?   Die Professorin hatte jetzt die Tür zu dem bisher größten Raum geöffnet. Zu Gabriellas Erstaunen befanden sich an einer Wand des Raum mehrere Käfige, in denen sich Mäuse, Ratten und sogar Kaninchen befanden. „Sie machen hier Tierversuche?“ Gabriellas Widerwillen gegen die Frau verstärkte sich noch. Die Professorin reagierte gelassen. „Ja, das tun wir. Nervenreaktionen lassen sich leider nur bedingt an isolierten Zellen erforschen. Ich versichere Ihnen jedoch, dass den Tieren hier kein Leid geschieht. Die Schmerzforschung findet in einer der medizinischen Facheinrichtungen statt.“ Wenig überzeugt nahm Gabriella noch einmal die Käfige in Augenschein. Die Tiere wirkten tatsächlich wohlgenährt und nicht etwa lethargisch oder räudig. Ein weißes Kaninchen sah sie aus runden Knopfaugen an, während es an seiner Wasserflasche nibbelte. Sie lächelte unwillkürlich und wollte sich gerade dem nächsten Gitter zuwenden, als sie erstarrte. Statt weiterer Gitterstäbe befand sich hier eine Glasscheibe und dahinter … „Ieh, was ist das denn?“ Gabriella verzog das Gesicht. „Was denn?“ Die Professorin kam auf sie zu. Sie lachte, als sie sah, wo Gabriella stand. „Ah, Sie haben meine Maskottchen entdeckt. Darf ich vorstellen, das sind einige Exemplare der Nephila clavata, eine japanische Seidenspinnenart. Ein Freund hat sie mir geschenkt. Sie sind hübsch, nicht wahr?“ Hübsch war nicht gerade das Wort, das Gabriella bei diesen Viecher als Erstes in den Sinn kam. Schaurig, eklig oder widerwärtig hätten da eher an erster Stelle gestanden. Die Spinnen hatten einen fast drei Zentimeter langen Hinterleib, der auf der Oberseite ein auffälliges grün, gelbes Punktmuster aufwies und an der Unterseite einen tiefroten Fleck hatte. Der Kopf war mit silbergrauen Haaren besetzt und die Beine … die Beine waren einfach nur furchtbar. Gelb und schwarz gestreift war jedes von ihnen etwa dreimal so lang wie der Körper der Spinnen. Es ließ sie seltsam fragil und gleichzeitig gefährlich wirken. So als würde sie einen jeden Moment anspringen.   „Entschuldigen Sie meine Neugier, Professor Yoshizono, aber müssten die Labore nicht irgendwie größer sein?“ Michael sah sich um und Gabriella fiel erst jetzt auf, wie schmal und beengt das alles hier auf ihn wirken musste. Er war immerhin ein ganzes Stück größer als sie und die Professorin. Auch Angelo stand ihm in Masse um Einiges nach. Die Professorin kicherte albern. „Ach, jetzt haben Sie mich erwischt, Mr. Thompson. Das hier sind natürlich nicht die offiziellen Labore, in denen die Studenten arbeiten. Hier unten hat jeder aus dem Kollegium sein eigenes, kleines Reich. Ursprünglich war tatsächlich geplant, das natürliche Höhlensystem, das nach dem Brand entdeckt wurde, für den Bau einer weitreichenden Laboranlage der Physikalischen Fakultät zu nutzen. Leider stellte sich heraus, dass die Felsformationen nicht tragfähig genug waren. Man hat deswegen nur einen sehr kleinen Teil erschlossen. Der Rest ist immer noch im Originalzustand.“ „Sie meinen, es gibt hier unterirdische Höhlen?“ „Ja, in der Tat. Sie sind sogar zugänglich. Wollen Sie sie sehen?“ Michael warf Gabriella und Angelo jeweils einen fragenden Blick zu. Alles in Gabriella sträubte sich, Ja zu sagen. Trotzdem nickte sie langsam, ebenso wie Angelo, der immer noch auf die Spinnen hinter der Glasscheibe starrte. Die Professorin nahm das mit einem glatten Lächeln zur Kenntnis. „Gut, dann folgen Sie mir doch bitte. Ich denke, wir werden nicht weit gehen. Nur einen kleinen Blick, damit man in etwa eine Vorstellung hat.“   Die andere Frau ging zu einer Tür an einer Seite des Labors, die Gabriella bisher nicht aufgefallen war. Sie fügte sich nahezu nahtlos in die Wand ein und gab jetzt, da sie geöffnet wurde, den Blick auf einen kleinen Gang frei, an dessen Ende eine stählerne Luke zu sehen war. Gabriella musste an ein U-Boot denken. „Wir müssen den Eingang zu den Höhlen leider sehr dicht verschließen, da es bei starken Regenfällen manchmal zu Wassereinbrüchen kommt. Dann wird ein Teil der Höhlen überflutet und das wollen wir natürlich nicht in unseren Laboren haben.“ „Sicher nicht“, gab Michael zurück und wies auf die Tür. „Soll ich sie öffnen?“ „Wenn Sie so freundlich wären.“   Die Professorin trat zur Seite und ließ Michael vorbei, der sich sogleich an dem Rad zu schaffen machte, das den Türmechanismus betätigte. Gabriella meinte, ein hohles Klacken zu hören, als sich der Riegel zurückschob und Michael die Luke öffnete. Dahinter gähnte ein schwarzes Loch. Interessiert steckte Michael seinen Kopf hinein. „Hier drinnen ist es ganz schön finster. Wir werden Lampen brauchen.“ „Wenn Sie den Schalter neben der Tür betätigen würden? Wir haben in der ersten Höhle einige Lampen angebracht. Die sollten eigentlich ausreichen, um einen Eindruck zu bekommen.“ Tatsächlich flammten im Inneren der Höhle Lichter auf. Gabriella trat ein wenig näher und ein Schwall kalter Luft schlug ihr entgegen. Sie fröstelte. „Wir werden nicht lange bleiben“, sagte eine Stimme direkt neben ihr und als sie sich umdrehte, stand dort die Professorin. „Na los, Mrs. Thompson. Sie wollen die Höhlen doch auch sehen, oder?“ Die dunklen Augen der Frau schienen bis in ihr Innerstes zu schauen. Irgendwo in der Schwärze meinte Gabriella etwas aufblitzen zu sehen, doch das verschwand ebenso schnell wieder, wie es gekommen war. Im nächsten Moment beobachtete sie sich dabei, wie sie bereits durch die Luke hinein in die Finsternis kletterte. Hinter ihr kam Angelo durch die halbrunde Öffnung, dicht gefolgt von der Professorin, die ihn sanft aber bestimmt weiterschob. „Nur noch ein Stück“, sagte sie lächelnd. „Es ist nur noch ein kleines Stück.“       Erithriel hielt neben der grauen Limousine, zu der ihn der GPS-Tracker gelotst hatte. Der Wagen stand auf einem Parkplatz der Universität. Der Rest des Platzes lag relativ verlassen da, wenn man von einem schon etwas in die Jahre gekommenen Pickup in rostigem Dunkelgrün absah, der ein wenig abseits stand. Kein Mensch war zu sehen und auch sonst regte sich nicht viel auf dem Parkplatz. Wo waren der Gefallene und seine Begleiter hingegangen? Und was wollten sie hier?   Erithriel stieg aus und sah sich um. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte eines der Gebäude hier in der Nähe in Schutt und Asche gelegen. Der Kollege von der Brandermittlung, den er seit gestern erfolglos versuchte zu erreichen, hatte ihn damals hinzugezogen, um eine zweite Meinung einzuholen. Das Feuer, das damals hier gewütet hatte, war nicht eindeutig dämonischen Ursprungs gewesen. Trotzdem hatte es einige Ungereimtheiten gegeben, die es von einem normalen Brand unterschieden hatten. Zum Beispiel die Tatsache, dass das Feuer quasi überall zugleich ausgebrochen war. Auch waren nirgendwo Spuren von Brandbeschleunigern oder Sprengstoff feststellbar gewesen. Sie hatten gesucht und gesucht, waren aber nicht in der Lage gewesen, die Brandursache zu lokalisieren. Am Ende hatten sie den Fall geschlossen, ohne ihn aufzuklären. Erithriel erinnerte sich daran, wie unbefriedigt ihn dieses Ergebnis zurückgelassen hatte. Er erledigte seine Aufgaben gerne gründlich.   Sein Blick glitt über die Silhouetten der Gebäude und blieben an einem großen Komplex mit auffälligen Glasfronten hängen. Es schien neuerer Bauart zu sein und stand anscheinend genau an dem Platz, an dem damals die Ruine gelegen hatte. Erithriel blieb stehen und musterte das Gebäude misstrauisch. Sollte es möglich sein, dass sie ausgerechnet hierher gekommen waren? Zu welchem Zweck?   Als er so weit herangekommen war, dass er bereits sein Spiegelbild in den dunklen Glasfronten sehen konnte, blieb er stehen und sandte seine Sinne aus. Der obere Teil des Gebäudes war tatsächlich vollkommen leer. Im Kellergeschoss hingegen konnte er drei … nein vier Lebenszeichen ausmachen. Eines davon war jedoch seltsam unscharf. Fast so, als ob … „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“ Erithriel drehte sich zum dem Mann herum, der ihn angesprochen hatte. Er trug eine graue Uniform mit einem Namensschild, das ihn als „Andrew“ auswies. Der Schlüssel in seiner Hand ließ vermuten, dass er der Besitzer des Pick-ups war. Reinigungspersonal, beschloss Erithriel im Stillen. „Ja, das können Sie in der Tat. Mein Name ist Erik Hawthorne, FBI. Ich bin auf der Suche nach jemandem.“ Er zog seine Marke, die von seinem Gegenüber ehrfürchtig begutachtet wurde. Solche Typen waren meist leicht zu beeindrucken. Zumindest schätzte er diesen hier nicht so ein, als würde er gerne oder oft mit dem Gesetz in Konflikt kommen. „Und wen?“, fragte Andrew und spielte nervös mit den Autoschlüsseln. „Hier sind schon alle weg.“ „Ach tatsächlich. Dabei war ich verabredet. In diesem Gebäude.“ Erithriel wies hinter sich. „Es sollten eigentlich noch mehr Leute kommen. Zwei Männer, einer ziemlich groß, der andere kleiner und blond. Dazu eine recht attraktive Dame etwa in meinem Alter.“ Auf Andrews Gesicht erschien ein Grinsen. „Der heiße Feger? Ja, die hab ich gesehen. Waren mit dieser Professorin verabredet. Kann mir ihren Namen nie merken. Sie hat gesagt, ich könne ruhig abschließen, wenn ich mit der Halle fertig bin. Hab ich gemacht und wollte jetzt eigentlich nach Hause.“ Erithriel setzte ein Lächeln auf. „Dann haben Sie also einen Schlüssel?“ Andrew nickte. „Wären sie dann wohl so freundlich, mich hineinzulassen? Ich bin ohnehin spät dran und eine Klingel gibt es ja sicherlich nicht.“ Andrew schüttelte den Kopf. Er schien nachzudenken. „Sie hat nicht gesagt, dass noch jemand kommt. Ich könnte Schwierigkeiten bekommen.“ Erithriels Lächeln verschwand. „Sie könnten auch Schwierigkeiten bekommen, wenn Sie mich nicht hineinlassen. Behinderung einer FBI-Ermittlung ist durchaus ein Strafbestand, Andrew. Überlegen Sie sich gut, ob Sie das riskieren wollen.“ Der Mann zögerte noch einen Augenblick, bevor er einen weiteren Schlüsselbund herauszog und in Richtung Eingangstür voranging. „Na schön, ich lasse Sie rein. Aber wehe Sie verraten jemandem, dass ich das war. Ich habe wirklich keine Lust, mich mit der japanischen Lady anzulegen. Die hat ganz schön Haare auf den Zähnen, das können Sie mir glauben.“ Etwas an den Worten des Mannes ließen Erithriel stutzig werden. Er ging im Geiste noch einmal den ungelösten Brandfall durch. „Mit 'japanische Lady' meinen Sie nicht zufällig Professor Maomi Yoshizono?“ „Ja genau, so heißt sie.“ Andrew sah ihn verblüfft an. „Kennen Sie sie?“ Erithriel antwortete nicht. Er kannte diese Dame allerdings. Sie hatte sich damals eine Weile mit ihm unterhalten, ihm Fragen zu seiner Arbeit gestellt. Es war ihm ungewöhnlich vorgekommen, dass sie so ein Interesse an ihm gezeigt hatte, aber er hatte es im Zuge der Ermittlungen einfach wieder vergessen. Bis jetzt. Das sind ein paar Zufälle zu viel, beschloss er, während er von Andrew ins Gebäude eingelassen wurde. Irgendetwas stimmt hier nicht und ich werde herausfinden, was das ist.       Michael kam nicht umhin, von der Höhle beeindruckt zu sein. Vor ihm breitete sich ein flaches Felsplateau aus, dessen Ränder sich ebenso wie die Ausmaße der Decke irgendwo in der Dunkelheit verloren. Eine kleine Stimme versuchte ihm zuzuwispern, dass diese Höhle eigentlich gar nicht unter das Gebäude passen dürfte, aber er ignorierte sie. Vielleicht täuschte der Eindruck von Größe und Weite auch und das, was er für einen riesigen Raum hielt, war in Wahrheit nicht viel mehr als eine kleines Felsausbuchtung, die genau dort endete, wo er es nicht mehr sehen konnte. Allerdings fühlte es sich nicht so an. Es fühlte sich groß an. Sehr groß sogar. „Was hatten Sie gesagt, wann diese Höhlen entdeckt wurden?“ „Nach dem Brand. Ein Bagger hat bei den Aufräumarbeiten ein Loch in die Höhlendecke gerissen und wurde dann halb vom Erdboden verschluckt.“ „Aber hätte das nicht bereits bei der Erschließung des Geländes entdeckt werden müssen?“ Er hörte Professor Yoshizono in seinem Rücken lächeln. „Das andere Gebäude war sehr alt, Mister Thompson. Als es gebaut wurde, gab es noch keinen so fortschrittlichen Untersuchungsmethoden.“ „Aber das alte Gebäude hatte doch auch einen Keller, oder?“ „Wie kommen Sie darauf?“ Er drehte sich jetzt herum und sah, dass sie immer noch an der Einstiegsluke stand. Im Gegenlicht konnte er nicht viel mehr als ihren Umriss erkennen. „Ich hatte davon gehört“, gab er ausweichend zurück. Ihm fiel plötzlich auf, dass sie sich zielsicher in eine Falle hatten manövrieren lassen. Wenn sie jetzt die Luke schloss, wären sie hier gefangen. Wie hatte das passieren können? „Professor Yoshizono?“ Angelo meldete sich plötzlich zu Wort. „Diese Spinnen, die sie da haben. Haben die auch noch einen Trivialnamen?“ Wieder hörte Michael ein Lächeln in ihrer Antwort. „Ich weiß nicht, ob es eine passende englische Bezeichnung gibt, aber in meiner Heimat nennen wir sie Jorō-Gumo. In Ihre Sprache übersetzt hieße das wohl so viel wie Prostituierten-Spinne.“ „Mhm“, machte Angelo. „Ich glaube, ich habe das Wort schon einmal gelesen. Allerdings hatten die dafür verwendeten Kanji eine andere Bedeutung. Die Übersetzung des Wortes, das ich gesehen habe würde bezirzende Braut bedeuten.“ Erneut lächelte Professor Yoshizono. Michael konnte sich nicht erklären, warum er das wusste. Vielleicht, weil sie eigentlich immer lächelte. Es schien ihr natürlicher Gesichtsausdruck zu sein. „Ist das so?“, fragte sie gedehnt. „Nun, dann lass mich dir versichern, dass beides richtig ist. Obwohl Wissenschaftler für die Bezeichnung der Spinnen in der Regel Katakana verwenden, damit man sie nicht verwechselt.“ „Verwechselt womit?“ Michael hörte ein leises Lachen. „Das weißt du doch schon längst, nicht wahr?“ „Angelo, was ist hier los?“ Gabriellas Stimme klang plötzlich alarmiert. Michael konnte ihre Umrisse links neben sich in der Dunkelheit sehen. Er wollte zu ihr gehen, aber Angelo war schneller. Seine Gestalt flammte auf und tauchte die gesamte Höhle in helles Licht. Im Widerschein der blauweißen Lichthülle konnte Michael zum ersten Mal die kompletten Ausmaße erkennen. Die Höhle war tatsächlich groß und auf ihren Wänden … „Was ist das?“ Michaels Augen irrten über die grob behauenen Felswände, die über und über mit leuchtenden Schriftzeichen bedeckt waren. Sie ähnelten denen, die Angelo bei ihnen zu Hause an den Türen angebracht hatte, und gleichzeitig wirkten sie auf perfide Weise verdreht und bösartig. Er kam jedoch nicht dazu, sich weiter darüber Gedanken zu machen, weil Angelo plötzlich gequält aufschrie.   Michael wirbelte herum und sah, wie sich etwas um seine Arme und Beine gewickelt hatte. Schattenhafte Tentakel, die einem dunkel glühenden Kreis entsprangen, in dessen Mitte Angelo stand. Er zog und versuchte sich zu befreien, aber je mehr er sich wehrte, desto mehr schienen die Tentakel ihn nach unten zu ziehen. Schließlich brach er in die Knie. „Angelo!“, rief Gabriella. Sie wollte zu ihm eilen, doch Michael hielt sie im letzten Moment zurück. Er wies auf die Frau, die immer noch in der Türöffnung stand. Im Licht der Engelsrüstung wirkten ihre Gesichtszüge wie mit der Schere geschnitten. Ihre dunklen Augen hatten sich auf Angelo gerichtet und ihr Mund war zu einem höhnischen Grinsen verzogen. „Sieh an, ich hatte also doch recht.“ Sie kam einen Schritt näher und betrat die Höhle jetzt vollständig. Langsam schob sie die Stahltür hinter sich zu. „Hast du wirklich gedacht, mir könnte die Anwesenheit eines Engels entgehen? Ich habe euch studiert, musst du wissen. Ganze Abhandlungen über die Physiologie von euch Himmlischen habe ich verfasst. Wobei ich zugeben muss, dass du mir einige Rätsel aufgibst. Am Anfang habe ich dich für einen ganz normalen Menschen gehalten, obwohl ich an dir keinerlei Schutzzauber ausmachen konnte. Das ist äußerst ungewöhnlich. Aber ich bin mir sicher, dass ich dieses Rätsel werde ergründen können, wenn ich dich erst Stück für Stück auseinander genommen habe.“ „Du wirst nicht gewinnen!“ Angelos Stimme verriet seine Anstrengung. „Ich weiß, was du bist.“ „Ich wäre enttäuscht, wenn es anders wäre. Sag mir, was mich verraten hat. Ich war mir sicher, dass ich dich getäuscht hatte.“ Ihre Hand glitt zu ihrem Ausschnitt, wo sie nach dem Anhänger griff, der an der goldenen Kette um ihren Hals hing. „Dieses Amulett absorbiert eigentlich alle Spuren, die ich in dieser Form noch an mir trage. Keine verräterischen Spiegelbilder oder Schatten, keine dunkle Aura. Ich konnte sogar die Engel täuschen, die hier aufgetaucht sind. Sie haben gesucht und gesucht, aber gefunden haben sie nichts. Nicht beim ersten und auch nicht beim zweiten Mal. Also sag mir, was mich verraten hat.“ „Die Spinnen“, presste Angelo hervor. „Als ich sie sah, erschienen viele Dinge plötzlich in einem neuen Licht. Ich brauchte nicht einmal meine Kräfte, um zu wissen, was du bist.“   Michael sah von der Professorin zu Angelo und wieder zurück. „Ich verstehe nicht. Was meinst du damit, was sie wirklich ist?“ Noch bevor Angelo antworten konnte, hatte sich Professor Yoshizono wieder in Bewegung gesetzt. Ihre Finger spielten mit dem Amulett um ihren Hals. Die goldene Kette glitzerte im Licht von Angelos Engelsleuchten. „Wissen Sie, Mr. Thompson, in meinem Land gibt es eine Legende. Es heißt, wenn eine Jorō-Gumo ein Alter von 400 Jahren erreicht, verwandelt sie sich. Sie wird von einer normalen Spinne zu etwas anderem. Einem Yōkai. So nennen wir bei uns die Wesen, die Sie wohl als übernatürlich bezeichnen würden. Die Jorō-Gumo erhält dann die Fähigkeit, sich in eine wunderschöne, junge Frau zu verwandeln. Ihre Beute sind ab diesem Zeitpunkt nicht länger Insekten, sondern junge Männer auf der Suche nach Liebe. So wie Ihr Freund, Mr. Thompson. Oder darf ich Sie Michael nennen? Er hat das auch immer getan, wenn er von Ihnen sprach.“ „Sie … du hast ihn gekannt.“ „Natürlich.“ Sie lächelte immer noch, während sie langsam auf ihn zukam. „Er war ein gutaussehender, junger Mann. Ich hätte mich gerne näher mit ihm beschäftigt. Leider war er so furchtbar neugierig. Hat seine Nase in Sachen gesteckt, die ihn nichts angingen, und in meinen Unterlagen herumgeschnüffelt. Er muss gedacht haben, dass ich das nicht merken würde. Aber mein Büro ist nie unbewacht, Michael. Nicht einmal, wenn es leer erscheint.“   Sie hatte den Arm ausgestreckt und Michael sah mit Grausen, wie eine dieser langbeinigen Spinnen über ihren Arm krabbelte. Auch auf ihrer Kleidung erschienen auf einmal welche von diesen seltsam fragil und gleichzeitig gefährlich wirkenden Krabbeltieren. Sie krochen über ihren Körper, während sie immer noch lächelte. „Meine kleinen Freunde haben mir davon erzählt, dass er uns auf den Fersen ist. Dass er die Pläne für Maschine entdeckt hat, die ich gebaut habe. Er wollte jemandem davon erzählen. Da wusste ich, dass ich etwas unternehmen muss.“ Michael wurde kalt. Er zitterte am ganzen Körper, während er die Fäuste ballte. „Du … du hast ihn … umgebracht?“ „In der Tat, das habe ich. Es war nur schade, dass ich ihn nicht mitnehmen konnte. Sein Körper hätte mich für Wochen gesättigt. Er war so groß und stark. Aber am Ende hat ihm das gar nichts genützt.“ „Du Monster!“ Michael schwitzte. Am liebsten hätte er sich auf die Frau gestürzt, doch etwas hielt ihn immer noch zurück. Er konnte sich einfach nicht überwinden, sie anzugreifen. Sie sah so klein und verletzlich aus. Als sie sein Zögern bemerkte, lachte sie glockenhell und drehte sich zu Gabriella herum. „Siehst du, wie hilflos dein Mann ist? Es ist doch immer das Gleiche, nicht wahr? Da versuchen sie uns weiszumachen, dass sie es sind, die die Welt beherrschen, doch in Wirklichkeit ist es immer eine Frau, die die Fäden in der Hand hält. Ein Wort, ein Blick, ein Augenaufschlag und sie liegen uns zu Füßen wie kleine Hunde, die gestreichelt werden wollen. Es wäre erbärmlich, wenn es nicht so amüsant wäre.“ Gabriella verzog das Gesicht vor Abscheu. „Menschen sind keine Spielzeuge, du widerliches Insekt.“ Ein Lachen antwortete ihr. „Und ob sie das sind. Sie sind nur leider so zerbrechlich.“ „Ich gebe dir gleich mal zerbrechlich.“ Noch bevor Michael reagieren konnte, war Gabriella auf einmal auf die Jorō-Gumo zugesprungen, hatte mit der Faust ausgeholt und zugeschlagen. Der Kopf der japanischen Frau flog zur Seite und Michael meinte, ein Knacken zu hören. Gabriella fluchte und hielt sich die verletzte Hand, während ihr Gegenüber anfing zu lachen. Die Jorō-Gumo hob den Kopf und fasste sich an die Nase. Ein feines, rotes Rinnsal lief daraus hervor. Als sie das Blut an ihren Fingern sah, streckte sie die Zunge heraus und leckte es ab. Sie grinste. „Sieh mal an. Das kleine Frauchen hat Krallen. Aber du bist keine Herausforderung für mich.“ Sie bellte einen Befehl auf Japanisch und schon begannen die kleinen Spinnen, von ihr herunter und auf Gabriella zuzukriechen. Die schrie auf und sprang zurück. Immer mehr von den achtbeinigen Krabblern strömten unter der Kleidung der Jorō-Gumo hervor, bis Gabriella von ihnen umzingelt war. „Lass sie in Ruhe!“ Angelo versuchte, gegen seine Fesseln aufzubegehren, aber die Schattententakel banden ihn nur noch fester. Michael hörte ihn schmerzerfüllt keuchen. Die Jorō-Gumo lachte. „Du wirst es nicht schaffen, dich daraus zu befreien, mein kleines Engelchen. Ich habe diese Falle so modifiziert, dass sie jeden von euch festhält, egal wie stark er ist. Sie speist sich aus deinen eigenen Kräften. Je stärker du dich dagegen wehrst, desto tiefer wirst du hinein gezogen. Du kannst nicht entkommen.“ Sie lachte und drehte sich zu Michael herum. „Und jetzt zu dir.“ Kapitel 22: In der Falle ------------------------ Mit gerunzelter Stirn starrte Alejandro auf das Amulett in seiner Hand. Gerade hatte das Ding noch rot geleuchtet und jetzt? Nichts mehr. Gar nichts. Er schüttelte es, aber da war nicht der kleinste Funken in den glasigen Vogelaugen zu sehen. Was soll denn das für eine Scheiße sein? Ist das Ding etwa kaputt? Wütend riss er an den Zügeln des Ahools, der ihn bis gerade eben noch schnell und lautlos durch die Nacht getragen hatte. Die riesige Fledermaus kreischte auf und versuchte, ihren Reiter abzuwerfen. Alejandro bohrte ihr die Hacken in die haarigen Flanken und schlug ihr mit der Faust auf den Affenschädel. „Benimm dich“, zischte er. „Sonst mach ich einen Fußwärmer aus dir. Und die Cuca stell ich daneben als Lampenfuß. Diese hinterlistige Eidechse hat mich betrogen.“ Er sah nach unten. Irgendwo in der Tiefe lag eine Siedlung der Menschen. Im Dunkeln konnte er die unzähligen Lichter der Straßen und Häuser erkennen. Wo er sich genau befand, wusste er nicht. Das war der Nachteil dieser Fortbewegungsart. Vielleicht hätte er eine Karte mitnehmen sollen. Aber das hätte ihm auch nicht viel genutzt. Er hatte schon alle Hände voll damit zu tun, sich auf dem Rücken des Ahools festzuhalten, um nicht abzustürzen. Es war kalt hier oben und das ständige Flappen der ledrigen Flügel ging ihm auf die Nerven. Außerdem hatte er keinen Schimmer, wie weit er noch fliegen musste. Das blöde Amulett gab ihm ja nur die Richtung an und war in der letzten Stunde nicht unbedingt heller geworden. Der Engel schien noch ziemlich weit entfernt sein. Alejandro musste allerdings zugeben, dass diese Art zu suchen immer noch besser war als das, was er zuerst ausprobiert hatte. Da hatte er sich von Ernie zu verschiedenen Punkten auf der Landkarte schicken lassen, um von dort eine Ahnung zu kriegen, wo sich der Engel in etwa befand. Es hatte sich jedoch herausgestellt, dass er erstens nicht besonders gut darin war, sein Suchgebiet einzugrenzen, und dass ihm zweitens von den vielen Hin- und Rückbeschwörungen schlecht wurde. Also hatte er irgendwann das Handtuch geschmissen, war in den höchsten Turm hinaufgestampft und hatte sich eines der Flugreittiere geschnappt, die dort die meiste Zeit von der Decke hingen um zu schlafen oder zu fressen. Oder zu scheißen, wie der Gestank der steinernen Kammer hinreichend bewiesen hatte. Jetzt jedoch saß er auf dem Rücken des Ahools und hatte keine Ahnung, wohin er weiterfliegen sollte. Am besten behalte ich einfach erst mal die Richtung bei, in die ich gerade geflogen bin. Irgendwann wird der Ángel doch wieder auf der Bildfläche erscheinen und dann werde ich ihn finden und an seinen Ohren zurück in die Festung schleifen. Mit deinem erneuten Tritt brachte Alejandro den Ahool dazu, sich wieder in Bewegung zu setzen. Dabei warf er immer mal wieder zweifelnde Seitenblicke auf das Amulett. Er konnte nur hoffen, dass es bald wieder zum Leben erwachte, bevor er am Ende noch in Alaska landete. Er hatte gehört, dass es da ziemlich kalt war.       Michael fühlte, wie ihm trotz der Kühle der Höhle der Schweiß ausbrach. Er wich vor der Jorō-Gumo zurück und stand jetzt mit dem Rücken zur Wand. Die magischen Symbole hinter ihm glühten. Er konnte ihre Bösartigkeit förmlich fühlen. Eine fremdartige Hitze, wie ein Feuer, an das man zu nahe herangetreten war, ließ seine Haut kribbeln. Die Alternative war allerdings noch weit weniger attraktiv, auch wenn das auf den ersten Blick lächerlich schien. Immerhin war die Frau, die da vor ihm stand, ein ganzes Stück kleiner und leichter als er. Es wirkte, als könne er sie mit einer Hand hochheben. Der Ausdruck in ihrem Gesicht hingegen ließ ihn nur noch weiter zurückweichen. Ein mörderisches Funkeln glomm in ihren Augen auf. „Ich warte bereits eine ganze Weile auf ein geeignetes Opfer. Die letzte, gute Mahlzeit ist schon viel zu lange her. Aber was für ein fetter Brocken mir doch da ins Netz gegangen ist. Du wirst meinen Hunger für lange Zeit stillen.“ „Du willst mich fressen?“ Der Gedanke war vollkommen lächerlich. Sie hingegen schien das vollkommen ernst zu meinen. Ihre Zunge leckte über ihre Lippen. „Nun, zuerst werde ich dich vergiften und dich anschließend dabei beobachten, wie du langsam und elendig krepierst. Vielleicht verspeise ich derweil deine Frau. Du könntest zusehen. Wir beide könnten so viel Spaß haben.“ Sie lachte wieder ihr glockenhelles Lachen, das jetzt seltsam falsch und schrill in Michaels Ohren klang. Wie hatte er sich nur so einlullen lassen können? „Oh, ich sehe an deinem Gesicht, wie du dir Vorwürfe machst, weil du mich nicht eher durchschaut hast. Doch gräme dich nicht. Ihr Männer seid einfach viel zu leicht zu beeinflussen, viel zu leicht abzulenken.“ Sie strich mit der Hand ihren Hals entlang in Richtung ihres Ausschnitts. Wie hypnotisiert folgte Michael der Bewegung mit den Augen. Ihre schmalen Finger legten sich um das Amulett, strichen sanft, fast schon liebkosend darüber. Er schluckte. „Aber du … du bist doch eine Wissenschaftlerin. Du hilfst Menschenleben zu retten. Wie kannst du gleichzeitig eine Mörderin sein?“ Die Jorō-Gumo hielt für einen Augenblick verblüfft inne. „Wie erstaunlich scharfsinnig von dir. Aber du übersiehst da eine Kleinigkeit. Es wäre nicht ratsam, wild mordend durch die Gegend zu ziehen. Die Engel würden auf mich aufmerksam werden und mich zur Strecke bringen. Das wäre vollkommen inakzeptabel.“ Ihre Augen wurden dunkler, als sie weitersprach. „Deswegen hasse ich sie so sehr. Überall schnüffeln sie herum und mischen sich ein. Dabei kommen die Männer doch freiwillig zu mir. Es ist nicht mehr als natürliche Auslese. Diejenigen, die zu dumm sind, werden eben gefressen. So läuft das in der Natur.“ „Aber Jeff war nicht dumm!“, begehrte Michael auf. „Er war schlau, viel schlauer als ich. Er hatte es nicht verdient zu sterben.“ Die Jorō-Gumo schüttelte leicht den Kopf und schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. „Michael, Michael. Du bist ja geradezu besessen von diesem Jeff. Man könnte meinen, dass ihr …“ Sie sprach nicht weiter, aber das Lächeln auf ihren Lippen sagte alles. „Warum hast du es getan?“ Vielleicht gelang es ihm sie hinzuhalten. „Was war so wichtig an dieser Maschine, dass mein Freund dafür sterben musste? Was hat es mit dem Engelsbrecher auf sich.“ Die feine Linien ihrer Augenbrauen hoben sich. „Du weißt davon? Das muss mir entgangen sein. Allerdings erklärt es vermutlich, warum dieser neugierige Engel hier alles auf den Kopf gestellt hat. Aber auch er hat nichts finden können.“ Sie lächelte und deutete auf die Wände. „Diese magischen Zeichen verhindern es. Nichts, was innerhalb dieser Höhle passiert, kann nach außen dringen. Hier unten konnte ich in Ruhe arbeiten und die Maschine fertigstellen, die sie alle zu Fall bringen wird. Diese blasierten, hochnäsigen Engel, die sich für etwas Besseres halten.“ Sie sah zu Angelo, der immer noch gegen die Schattententakel kämpfte. „Sie sind immun gegen meine Verführungskünste. Keinerlei Leidenschaft herrscht in ihren perfekten Körpern. Aber ich bin in der Lage, das zu ändern. Mit dem Engelsbrecher ist es möglich, auch sie das Feuer der Lust spüren zu lassen. Das Feuer, in dem sie schließlich verbrennen werden.“ Sie lachte wieder und Michael erschauerte. Er musste an Angelos Erzählung denken. Was auch immer die Dämonen ihm verabreicht hatten, musste mit Hilfe dieser widerlichen Maschine erzeugt worden sein. Wie genau konnte er zwar nur rätseln, aber diese Frage musste er auf später verschieben. Jetzt galt es erst einmal, die Dämonin unschädlich zu machen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Die Jorō-Gumo sah ihn mitleidig an. „Was soll das werden? Glaubst du wirklich, dass du es mit mir aufnehmen kannst?“ Sie stieß einen amüsierten Laut aus. „Dann bist du wirklich dümmer, als ich gedacht hatte. Aber wenn du es so willst. Spielen wir eben.“ Sie verzog ihren Mund zu einem Lächeln, das breiter und breiter wurde. Viel breiter, als es hätte sein dürfen. Ihre Mundwinkel wanderten immer weiter nach außen und im Dunkel ihrer Mundhöhle bewegte sich etwas. Michael schauderte. Kleine, fühlerartige Gebilde schoben sich über ihre Lippen und tasteten in seine Richtung. Dazwischen kamen zwei weitere, spitz zulaufende Fänge zum Vorschein. Ihre Spitzen glänzten feucht. „Komm her“, zischelte die Jorō-Gumo. „Komm her und lass dich von mir beißen.“ Michael wich erneut zurück, bis er die Wand in seinem Rücken spürte.       Erithriel stand vor einer großen, verschlossenen Glastür, hinter der mehrere Laborräume lagen. Sein Blick fiel auf eine Tasche, die in einer Ecke neben der Tür lag. Sie wirkte seltsam fehl am Platz. Wer hatte sie hierher gelegt? Er zögerte kurz, bevor er hinging und sie öffnete. Der Inhalt ließ ihn die Stirn runzeln. Darin befand sich ein demontiertes Gartengerät. Die Schneiden der rostigen Heckenschere waren bearbeitet worden. Sie glänzten im Gegensatz zum Rest in einem dunklen Silberton. Er nahm eines der Teile aus der Tasche. Der hölzerne Griff war bereits vergraut und fühlte sich rau unter seinen Fingern an. Der Zweck des Gerätes war klar. Eine Waffe gegen Dämonen. Gar nicht dumm. Aber warum haben sie sie hier zurückgelassen? Und wo sind sie? Wieder versuchte er, die vier Menschen oder Wesenheiten zu finden, die vor einigen Augenblicken aus seiner Wahrnehmung verschwunden waren. Er hatte es zunächst nicht glauben wollen, aber die vier Lebenszeichen waren und blieben wie vom Erdboden verschluckt. Etwa an der Stelle, wo er sie zuletzt gespürt hatte, konnte er ganz schwach die Aura mehrerer Tiere wahrnehmen. Normalerweise gingen diese im Rauschen der Schöpfung unter, aber jetzt, wo er sich so konzentrierte, konnte er selbst sie spüren. Von dem Gefallenen und seinen Begleitern war jedoch nichts mehr zu sehen. Entweder hatten sie das Gebäude auf magischem Wege verlassen oder … Erithriel starrte auf die Glastür. Ich muss nachsehen. Vielleicht gibt es noch eine andere Erklärung für dieses Phänomen.   Die Tür hielt ihn nicht lange auf. Es erforderte nur ein, zwei gezielte Schläge, bis das durchsichtige Material barst und in einem Schauer von stumpfen Splittern auf dem Fußboden des hinter der Tür liegenden Korridors fiel. Er vergrößerte das Loch mit einigen weiteren Tritten, bevor er sich bückte und hindurch stieg. Auf der anderen Seite blieb er stehen und lauschte. Es war nichts zu hören. Nicht das kleinste Geräusch. Mit zum Zerreißen gespannten Sinnen ging er den Flur entlang, sicherte in alle Räume, aber dort war niemand. Schließlich erreichte er das Ende des Ganges. Erithriel öffnete die Tür und betrat das relativ geräumige Labor. Dort waren die Käfige mit den Tieren, die er wahrgenommen hatte. Ansonsten war der Raum jedoch vollkommen leer. Es gab auch keinen weiteren Ausgang. Wie war der Gefallene hier herausgekommen? Er muss ein Tor geöffnet haben. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Erithriel wollte sich gerade umdrehen und wieder zu seinem Wagen zurückgehen, als ihn etwas zurückhielt. Da war ein Kitzeln. Eine Art Echo, aber viel undeutlicher. Wie durch Watte drang es an sein Ohr und ließ ihn innehalten. Misstrauisch drehte er sich herum und betrachtete die Wand, die am äußersten Ende des Labors lag. Ein Teil davon war nicht verstellt, was ihm jetzt, da er darüber nachdachte, eigenartig vorkam. Platz war hier unten Mangelware. Es war nicht logisch, so ein großes Areal zu verschwenden. Erithriel trat ganz nahe heran und betrachtete die glatte, weiße Fläche. Doch da war nichts. Keine Tür oder etwas in der Art und doch … Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Plötzlich begann sein Handy zu klingeln. Als er es herauszog, zeigte es einen unbekannten Anrufer an. Entschlossen drückte er den Knopf, um das Gespräch abzuweisen. Dafür hatte er jetzt keine Zeit.       Missmutig starrte Crystal aus das Display des Handys, mit dem sie bereits zum wiederholten Mal versucht hatte, diesen dämlichen Engel anzurufen. Aber entweder war dauernd besetzt und jetzt, wo sie mal durchkam, besaß er doch tatsächlich die Frechheit, sie wegzudrücken. „Der spinnt wohl“, knurrte sie. „Arschloch! Wenn ich den erwische, versenke ich meinen Absatz aber mal ganz gepflegt in seinem gefiederten Hintern. Ist ja nicht so, dass ich nicht was Besseres zu tun hätte.“ Mit einem genervten Schnauben steckte sie das Gerät weg und warf die blonden Haare in den Nacken. Die Nacht war jung und die Männer willig. Zuerst würde sie sich noch einen kleinen Snack gönnen und dann würde sie vielleicht nochmal versuchen, Marcus’ Vater zu erreichen. Dem kleinen Cop würde schon nichts passieren, während sie hier ein bisschen Spaß hatte. Mit einem Lächeln auf den rot geschminkten Lippen machte sie sich daran, die kleine Gasse entlang zum Strip zu stiefeln. Mal sehen, was sich heute so finden ließ.       Voller Entsetzen sah Gabriella zu, wie die Jorō-Gumo sich auf Michael zu bewegte. Aus ihrem Mund ragten die Beißwerkzeuge einer Spinne. „Wenn sie ihn erwischt, wird er sterben.“ Angelos Stimme klang angestrengt. Er kämpfte immer noch gegen die Schattententakel, aber die Dämonin hatte nicht gelogen. Es gab kein Entkommen. „Nicht mit mir“, fauchte Gabriella. Sie blickte auf die widerlichen Spinnen herab, die sie umzingelt hatten. „Ihr seid vielleicht viele, aber ich bin viel größer. Macht Bekanntschaft mit der römischen Siegesgöttin.“ Sie hob den Fuß und im nächsten Augenblick zermatschte sie gleich zwei Spinnen unter den Sohlen ihrer Turnschuhe. Die nächsten zwei folgten ihnen auf dem Fuße, bevor die anderen sich eilig in Sicherheit brachten. Sie zischelten und fauchten. „Haha, das hättet ihr nicht gedacht. Euch zeige ich, wer hier die Hosen anhat.“ „Gabriella, weg da!“ Angelos Warnung kam gerade noch rechtzeitig. Nur eine Sekunde später versengte bereits eine Feuergarbe die Stelle, an der sie gerade noch gestanden hatte. Gabriella riss erschrocken die Augen auf. „Die Spinnen können Feuer speien“, keuchte Angelo. „Die Jorō-Gumo hat ihnen diese Fähigkeit verliehen. Pass auf!“ Wieder spuckten die winzigen Krabbler eine grell leuchtende Lohe in ihre Richtung. Gabriella konnte gerade noch ausweichen. Sie schluckte und sah zu Michael. Der stand mit dem Rücken an der Wand und scheute sich offenbar immer noch, die Dämonin anzugreifen. Und Angelo war in dieser Falle gefangen, die jeden Engel an Ort und Stelle band. Gabriellas Augen wurden groß. „Angelo, du musst deine Kräfte deaktivieren.“ Er sah sie verständnislos an. „Die Falle. Sie wirkt nur auf Engel. Du musst aufhören einer zu sein. Jetzt!“       Die klackenden Beißwerkzeuge kamen näher und näher. Michael drückte sich so weit er konnte an die Wand. Seine Finger glitten über den rauen Fels in der Hoffnung, einen Stein daraus lösen zu können. Aber da war keine Unebenheit, keine losen Brocken. Nur das unheilvolle Prickeln der bösartigen Schriftzeichen. „Du gehörst jetzt mir“, zischelte die Jorō-Gumo. „Mir ganz allein.“ Sie beugte sich vor, Ihr Mund öffnete sich. Michael machte sich bereit, als plötzlich das Licht um ihn herum erlosch. Noch bevor seine Augen sich an die verminderte Helligkeit gewöhnt hatten, hörte er einen Schrei und den Aufschlag zweier aneinanderprallender Körper. Im nächsten Moment flammte wieder das weißblaue Licht von Angelos Engelsrüstung auf. Er stand über der am Boden liegenden Jorō-Gumo, die ihn wütend anzischte. „Du dummer, kleiner Engel. Geh mir aus den Augen!“ Sie gab ihm aus dem Liegen heraus einen Tritt, er wich aus … und stand im nächsten Moment wieder in einer Falle. Erneut wickelten sich die dunklen Tentakel blitzschnell um seine Gliedmaßen und hielten ihn fest. „Hast du wirklich gedacht, ich hätte nur eine aufgestellt?“, höhnte die Jorō-Gumo. Sie richtete sich wieder auf und kam auf die Füße. „Für wie einfältig hältst du mich. Wobei ich zugeben muss, dass das ein netter Trick war, mit dem du dich da befreit hast. Du kannst deine Kräfte abschalten? Bemerkenswert. Absolut bemerkenswert. Man könnte fast meinen, dass du …“ Sie sprach nicht weiter, sondern schüttelte nur den Kopf. „Egal. Dazu kommen wir später. Jetzt muss ich mich erst mal um mein Essen kümmern. Wenn du mich entschuldigen würdest.“ Die Jorō-Gumo wandte sich wieder Michael zu, doch sie hatte ihre Rechnung ohne Angelo gemacht. Wieder wurde es dunkel und wieder konnte Michael Schläge hören. Als es das nächste Mal hell wurde, lag Angelo am Boden. Die Jorō-Gumo stand über ihm. Ihre vormals so sorgfältig frisierten Haare hatten sich gelöst und ringelten sich wie Schlangen um ihre Schultern. Sie lachte böse. „Du willst es also wirklich wissen. Na schön. Mache ich eben ernst.“   Mit einer entschiedenen Geste griff die Jorō-Gumo sich an den Hals. Michael hörte die Glieder der goldenen Kette reißen. Im nächsten Augenblick klirrte es, als das magische Amulett auf dem Fußboden aufschlug. Die Jorō-Gumo streckte sich, als hätte sie ein zu enges Kleidungsstück abgelegt. „Ah, viel besser.“ „Michael, dort!“ Gabriellas Stimme ließ Michael herumfahren. An der Wand neben ihm prangte der Schatten der Jorō-Gumo. Allerdings war es nicht länger der eines Menschen, sondern vielmehr der einer riesigen Spinne.“ Die Jorō-Gumo lachte. „Ja, schau du nur, du dummer, kleiner Mensch. Dann weißt du schon mal, was dich erwartet.“ Sie warf den Kopf zurück, breitete die Arme aus und Worte in einer anderen, dunkleren Sprache drangen aus ihrem Mund. Wie Teer liefen sie über ihren Körper, der sich unter der magischen Kraft beugte und veränderte. Ihr Rücken wölbte sich in einem schier unmöglichen Winkel und wuchs in die Höhe. Ihr ganzer hinterer Leib blähte sich auf und schwoll zu einem Vielfachen seiner vorherigen Größe. Ihre Beine verbanden sich miteinander und wurden der wachsenden Masse einverleibt. Stattdessen schossen lange, vielfach gegliederte Spinnenbeine aus ihrer Taille hervor. Sie waren ebenso gestreift wie die der kleineren Exemplare, nur ungleich hässlicher und mit großen, haarigen Widerhaken versehen. Ihre ganze Gestalt wuchs, streckte sich und erreichte schließlich eine Höhe von annähernd drei Metern. Als die Transformation abgeschlossen war, hob die Jorō-Gumo den Kopf und richtete sich auf. Auch ihr Gesicht hatte sich verändert. Auf ihrer Stirn waren mehrere schwarzglänzende Augen erschienen. Ihr Mund war noch weiter in die Breite gewachsen und mit größeren Fühlern und Zähnen gespickt. Der menschliche Oberkörper saß wie eine Puppe auf dem Hinterleib einer riesigen Spinne. Dass er immer noch das Oberteil des grauen Kostüms trug, machte die Sache nur umso grotesker. Michael war hin- und hergerissen zwischen dem Drang zu fliehen und weiter hinzusehen. Auch auf Angelos Gesicht war tiefe Abscheu zu erkennen. Der Blick der schwarzen Käferaugen irrten für einen Moment zwischen ihren beiden Opfern hin und her und die Mundwerkzeuge klackten unentschlossen. Plötzlich ging ein Ruck durch die riesige Spinnenfrau. Sie ließ ein schauriges fauchen hören und stürzte sich auf Michael. Zwei ihrer Beinnpaare griffen nach ihm. Die harten Krallen bohrten sich in sein Fleisch. Scheinbar mühelos hob sie ihn hoch. Weißliche Spinnenfäden schossen aus einer fetten Warze an ihrem Hinterleib heraus. Sie wickelten sich um seinen Körper, während die Jorō-Gumo ihn im Kreis herumdrehte, das ihm Hören und Sehen verging. Binnen Sekunden wurde er zu einem Paket verschnürt. Sie ließ ihn zu Boden fallen. Michael fluchte und kämpfte gegen die Fäden an, aber es war, als hätte jemand Stahlseile um ihn herumgewickelt. Er konnte sich nicht rühren. „Zu dir komme ich gleich“, zischelte die Jorō-Gumo. „Nicht weglaufen.“ Sie zwinkerte ihm mit gleich dreien ihrer Glubschaugen zu und drehte sich auf ihren vielen Beinen herum, bis sie vor Angelo stand. „Und jetzt zu dir, mein Engelchen. Du möchtest einen Kampf? Dann sollst du ihn kriegen.“ Ohne weitere Vorwarnung sprang die riesige Spinne vor und begrub Angelo unter sich.       Erithriel starrte immer noch die leere Wand an. Er fuhr mit der Hand darüber, doch konnte er nicht die geringste Unebenheit feststellen. Trotzdem kam ihm das Ganze seltsam vor. Er drehte sich um und sah sich noch einmal genau im Labor um. Sein Blick blieb an einem Terrarium hängen, in dem einige kahle Äste mit weißen Netzen überzogen waren. Als Erithriel nähertrat sah er die feingliedrigen Spinnen, die darauf herum krabbelten. „Jorō-Gumo“, murmelte er. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Ich hätte es wissen müssen. Die Hinweise, sie waren da, aber ich habe sie nicht gesehen. Die Spinnenfäden am Unfallort waren von einer Jorō-Gumo. Aber wo ist sie hin? Er wollte gerade zum Ausgang des Labors gehen, als sein Handy erneut einen Ton von sich gab. Er hatte eine Nachricht erhalten. Ungeduldig nestelte er das Gerät hervor und entsperrte den Bildschirm. Die Nummer des Absenders war unterdrückt. Trotzdem öffnete er die Nachricht, wartete, dass das enthaltene Bild heruntergeladen wurde … und erstarrte. Das Gerät entglitt seinen kraftlosen Händen und wäre beinahe am Boden zerschellt, wenn er es nicht rechtzeitig aufgefangen hätte. Noch einmal betrachtete er das Bild, das der Nachricht beigefügt gewesen war. Der Inhalt war eindeutig. Er wusste jetzt, wo die andere Engel geblieben waren.       Voller Entsetzen beobachtete Gabriella, wie die Jorō-Gumo sich auf Angelo stürzte. Er verwand in einem Gewirr von Beinen und dem hässlichen, fetten Leib der Spinnenfrau. Sie selbst wurde immer noch von den kleinen, feuerspeienden Exemplaren im Schach gehalten, die jede ihrer Bewegungen kritisch beobachteten. Sobald sie versuchte, in Michaels oder Angelos Richtung zu laufen, leckten lange, orangerote Feuerstrahlen in ihre Richtung. Sie hätte vielleicht versuchen können, über die Spinnen hinwegzuspringen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie dann nicht wirklich zum Angriff übergehen würden. Alle zusammen. „Gabriella!“ Michaels Stimme war verzerrt, die klebrigen Spinnenfäden bedeckten teilweise sein Gesicht. „Die Waffen! Du musst die Waffen holen!“ Sie reagierte augenblicklich. Noch bevor die kleinen Spinnen verstanden hatten, worum es ging, hatte Gabriella sich herum gedreht und war in Richtung der verschlossenen Luke gelaufen. Ein Schwall ärgerliches Japanisch peitschte durch die Höhle und im nächsten Augenblick wickelte sich etwas um Gabriellas Füße. Sie stolperte, stürzte. Ihre Knie prallten schmerzhaft auf den Steinboden und sie konnte den Sturz gerade noch abfangen, bevor auch ihr Gesicht damit Bekanntschaft machte. Ihre Handflächen schrammten über den rauen Fels. Als sie sich herumdrehte, sah sie, dass auch sie von diesen ekelhaften Fäden eingesponnen war. Ein Zischen ließ sie aufsehen. Die kleinen Feuer-Spinnen hatten sich zu einem Halbkreis zusammengerottet und krochen langsam auf Gabriella zu. Die erste blieb stehen, richtete sich auch zwei Beinpaare auf und hob die anderen beiden drohend in die Luft. Die anderen ahmten die Pose nach und Gabriella war klar, dass sie geröstet werden würde, wenn sie auch nur einen Muskel rührte. Sie saß ebenso in der Falle wie Michael.       Träge öffnete Crystal ein Auge. Sie lag inmitten eines Haufen nackter Leiber, die sich bis vor Kurzem noch in Ekstase mit ihr vereinigt hatten. Alle fünf. Nun war sie satt und zufrieden und leckte sich mit einer beiläufigen Bewegung die letzten Reste des Ergusses von den Fingern, den der große Blonde ihr direkt auf die Brüste gespritzt hatte. Sie hatte ihn gelassen, denn zu dem Zeitpunkt war sie schon mehr als voll gewesen. Jetzt jedoch klingelte ein Handy in irgendeiner der Hosen, die auf dem Fußboden verstreut lagen. Lady Gaga. Na sieh mal an. Sie wippte ein bisschen mit, bis ihr plötzlich einfiel, dass sie ja eigentlich selbst noch ein Gespräch zu führen hatte. Aber hier war es so warm und kuschelig und nach der Tortur, durch die Victor sie in den letzten zwei Tagen geschickt hatte, hatte sie sich durchaus ein Päuschen verdient. Sie konnte später noch telefonieren. Der komische Engel würde ihr schon nicht weglaufen und Marcus saß schließlich warm und trocken. Mit einem zufriedenen Seufzen ließ sie sich wieder zurück in das Wirrwarr aus Gliedmaßen gleiten und schob die Hand des Niedlichen mit der Stupsnase zwischen ihre Beine. Vielleicht war er ja bereit, sich noch ein bisschen anzustrengen. Als sich seine Finger zu bewegen begannen, fing sie an zu grinsen. Es ging doch nichts über eine dritte Runde.       Der Körper der Jorō-Gumo flog durch die Luft und prallte gegen die Höhlenwand. Sie kreischte auf und versuchte, ihre Beine zu entwirren und sich aufzurappeln, aber Angelo ging bereits wieder zum Angriff über. Er hatte seine Engelskräfte deaktiviert, als er auf sie zulief, doch in dem Moment, als er sprang, flammte das weißblaue Licht wieder auf. Mit bloßen Händen stürzte er sich auf die Spinnenfrau und fing an, sie mit den Fäusten zu bearbeiten. Sie fauchte und schleuderte ihn von sich herunter. Er schlug in der Luft einen Salto und landete auf seinen Füße. Sein Atem ging schnell. Als er sich mit der Hand durchs Gesicht wischte, hinterließen seine Finger eine rote Spur. „Du widerliche, kleine Made“, fauchte die Jorō-Gumo. „Komm her, damit ich dich zerquetschen kann.“ Wieder sprang die Spinnenfrau mit einer Leichtigkeit in die Höhe, die Gabriella ihr nicht zugetraut hätte. Aber dieses Mal war Angelo vorbereitet. Kurz bevor sie ihn erreichte, erschien ein gleißendes Lichtschild vor ihm in der Luft. Die Jorō-Gumo wurde zurückgeworfen und erneut gegen die Felswand geschleudert. Eines ihrer Beine brach ab und ein Strom schleimiger, grüner Flüssigkeit schoss daraus hervor. Sie heulte in den höchsten Tönen auf. „Das wirst du mir büßen!“ Sie schrie etwas auf Japanisch, und ein Teil der kleinen Spinnen, die Gabriella bewachten, machten auf der Stelle kehrt und rasten in schier unglaublichem Tempo auf Angelo zu. Währenddessen bedeckte das grüne Blut die Wand und begann daran herabzurinnen. Als es eines der violetten Schriftzeichen erreichte, zischte es und grauer, beißender Rauch begann aufzusteigen.       Alejandro wäre beinahe vom Rücken des Ahool gefallen, als die Augen des Vogel-Amuletts plötzlich aufglühten. Anscheinend war der Engel wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Mit einem zufriedenen Grinsen hieb er dem der riesigen Fledermaus die Fersen in die Seiten. Der Ahool gab einen lauten Schrei vor sich, bevor er gehorsam das Tempo erhöhte und sich mit schnellen Flügelschlägen in Richtung Norden bewegte.       Erithriel wandte sich zum Gehen. Die Nachricht, die er erhalten hatte, war eindeutig. Er musste … Seine Augen weiteten sich, als auf einmal eine Türöffnung genau an der Stelle erschien, die er gerade noch so gründlich untersucht hatte. Was immer sie verborgen gehalten hatte, musste seine Wirkung verloren haben. Schnell sandte er seine Sinne aus und wurde von der gewaltigen, dämonischen Präsenz, die er auf der anderen Seite erspürte, fast überrollt. Die Jorō-Gumo. Sie ist unheimlich stark. Jetzt, da der Zauberbann nicht mehr bestand, drangen plötzlich auch Geräusche an sein Ohr. Gedämpft zwar, aber hinter dieser Tür war eindeutig ein Kampf im Gange. Aber wer kämpft da gegen wen? Die Thompsons wären wohl kaum ein Hindernis. Weder für den Gefallenen noch für die Jorō-Gumo. Was hat das zu bedeuten? Noch einmal tasteten seine Finger nach dem Handy. Ich sollte gehen. Ich sollte … Ein Schrei erschütterte den Raum. Er stammte eindeutig von dem Gefallenen. Erithriel war sich ganz sicher. Die Schwingungen gingen ihm durch Mark und Bein und ließen seine Augen groß werden. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Nicht er. Bevor er wusste, was er tat, hatte Erithriel die Tür geöffnet, war durch den kurzen Gang dahinter gestürzt und hatte die eiserne Luke aus den Angeln gerissen, die dort seinen Weg verschloss. Er stürzte in die Dunkelheit und verharrte dann regungslos auf der Schwelle. Das Bild, das sich ihm bot, übertraf seine Befürchtungen. Die beiden Menschen waren von der Jorō-Gumo außer Gefecht gesetzt worden. Michael Thompson lag von den Fäden des Spinnendämons gefesselt auf dem Boden, während seine Frau von ihren feuerspeienden Dienern gefangen genommen worden war. Sie mussten es auch gewesen sein, die damals den Brand ausgelöst hatten. Erithriel beachtete sie nicht weiter. Sein Blick hing an dem Gefallenen, der in den Fängen der Jorō-Gumo hing. Er blutete aus einer Wunde an der Schulter, sein Oberteil war verkohlt und auf seiner Brust … Die Narben. Er ist es. In diesem Moment drehte die Jorō-Gumo sich zu ihm herum. Als sie ihn erblickte, verzog sich ihr Maul zu einem wütenden Fauchen. „Noch ein Engel?“, rief sie und schleuderte den Gefallenen beiseite wie ein Spielzeug. „Jetzt habe ich aber langsam genug von euch.“         Michael konnte kaum glauben, was er sah. Die Jorō-Gumo hatte Angelo zu Boden geworfen und raste jetzt mit wirbelnden Beinen auf Agent Hawthorne zu, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Der Mann sprang zurück und … Michael wollte ihn noch warnen, aber die Falle der Jorō-Gumo hatte bereits zugeschnappt. Ein violetter Kreis glühte auf, Schattententakel schossen aus dem Boden und banden ihn ebenso wie sie es mit Angelo getan hatten. Nur, dass dieser Engel nicht so einfach ihren Fängen entkommen würde. Der Agent öffnete den Mund, doch noch bevor ein Wort seine Kehle verlassen hatte, war die Jorō-Gumo heran. Gleich zwei ihrer Beinpaare schossen vor. Die dornenbesetzten Spitzen bohrten sich in den Brustkorb des Engels und ließen ihn aufkeuchen. Für einen Moment wirkte er wie erstarrt. Wie ein aufgespießter Schmetterling wurde er von der Jorō-Gumo hochgehoben und zu sich herangezogen. Michael konnte nicht sehen, was sie tat. Aber das Übelkeit erregende Geräusch, das erklang, als sich ihre Kiefer auf Agent Hawthorne herabsenkten, war ihm Antwort genug. Als die Jorō-Gumo die tödlichen Spitzen wieder aus dem leblosen Körper zog und ihn fallen ließ, war ihr Mund rot verschmiert. Sie leckte sich die Lippen und grinste Angelo an. „Einer weniger. Und jetzt zu uns.“   Angelo stand da und starrte auf den Engel, der hinter der Jorō-Gumo am Boden lag. In seinem Blick lag etwas, das Michael dort noch nie gesehen hatte. Ein blaues Feuer brannte in seinen Augen und der Eishauch, der es begleitete, ließ selbst ihn frösteln. Der kühle Blick richtete sich auf die Spinnenfrau. „Du hast ihn getötet.“ Die Jorō-Gumo wackelte mit dem Kopf. „Vielleicht ja, vielleicht nein. Wenn er stark genug ist, kann er das Gift eventuell aufhalten. Wenn nicht … nun ja. Dann hast du wohl recht.“ Sie lachte erneut. Angelo zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Das war dein Todesurteil.“ Die Spinnenfrau schürzte die Lippen. „Ach? Ist das so? Und wer wird mich töten?“ „Ich.“   Michael konnte die Bewegung, mit der Angelo nach vorne sprang, fast nicht wahrnehmen. Er sprang aus dem Stand so hoch, dass er fast die Höhlendecke berührte, und rauschte dann mit einem donnernden Schrei auf die Jorō-Gumo herab. Etwas Silbernes blitzte auf und im nächsten Moment fuhr Angelos Schwert in den Körper der Dämonin. Er schlitzte sie von oben bis unten auf und sprang zurück, noch bevor ihre Innereien sich mit einem Übelkeit erregenden Geräusch auf den Fußboden ergossen. Ihr Wutgeschrei ging in ein gurgelndes Röcheln über und die riesige Spinne brach in sich zusammen. Michael schloss für einen Moment die Augen, aber das Grauen, das er gesehen hatte, hatte sich tief in seine Netzhäute gebrannt. Im nächsten Moment spürte eine Hand an seiner Schulter. „Michael?“ Angelo kniete neben ihm auf dem Boden. „Bist du verletzt?“ Michael schüttelte den Kopf. „Gut, dann halt still.“ Mit unglaublicher Geschicklichkeit benutzte Angelo sein Schwert, um die stählernen Seidenfäden um Michales Körper zu zerschneiden. Sie eilten zu Gabriella und Angelo löste auch ihre Fesseln. Die Spinnen, die sie bewacht hatten, hatten mit dem Tod der Jorō-Gumo das Weite gesucht. Michael half ihr hoch und schloss sie in die Arme. Angelo hingegen eilte zu dem anderen Engel. Mit zwei Schritten war er bei ihm und sank neben ihm zu Boden. Sein Schwert klirrte unbeachtet auf den Stein, während Angelo den Verletzten sanft zu sich herumdrehte. Gabriella atmete erschrocken ein. Der Brustkorb des Engels war eine einzige Wunde. Michael konnte nicht erkennen, ob er überhaupt noch atmete. Seine Augen waren jedoch geöffnet und jetzt, da Angelo ihn berührte, drehten sie sich in seine Richtung. Ein Glück, er lebt. „Du“, hauchte er und hustete. Blut kam aus seinem Mund und lief in einem breiten Strom sein Kinn herab. „Du bist …“ „Du solltest nicht sprechen“, sagte Angelo. Sein Gesicht war ernst. Mit gerunzelter Stirn tastete er über die Wunden. Es schien, als suche er etwas. „Nicht.“ Der fremde Engel hustete erneut. Mehr Blut tränkte seine Kleidung. Es war so unglaublich viel. Viel mehr als ein Mensch verlieren durfte, um überhaupt noch bei Bewusstsein zu sein. Eine Lache hatte sich um ihn herum gebildet. Angelos Hose saugte sich damit voll, das graue Jackett, alles. Das Blut war überall. „Tasche“, flüsterte der Engel heiser. „Nimm … Tasche.“ Er versuchte den Arm zu heben, aber die Gliedmaße gehorchte ihm nicht mehr. Kraftlos sank sie wieder herab, bevor sie ihr Ziel erreichte. „Lass mich“, sagte Gabriella, die sich neben Angelo niedergelassen hatte. Sie zog etwas aus der Tasche des Engels und hielt es hoch. Es war ein Handy. „Das hier?“ „J-ja.“ Blutige Finger griffen nach dem Gerät. Sie zitterten, daher hielt Gabriella ihm das Display nur hin. Der Engel tippte eine Zahlenkombination. „Nach-richt“, flüsterte er. Sein Gesicht war schweißbedeckt und kalkweiß. Michael hatte keine Ahnung, wie er sich noch bei Bewusstsein hielt. „Er braucht einen Arzt“, wisperte er Angelo zu. Der schüttelte den Kopf. „Lies.“ Der Engel war kaum noch zu verstehen. Bei jedem Atemzug erklang ein Rasseln und Pfeifen. Trotzdem schaffte er es irgendwie, Angelo das Handy unter die Nase zu schieben. Als dessen Blick darauf fiel, wurde er ebenfalls blass. Er griff nach dem Gerät und starrte wie gebannt auf den kleinen Bildschirm. „Das ist nicht möglich.“ Der Engel sagte nichts mehr. Er sah Angelo nur noch an. Erst, als seine Hand kraftlos nach unten sank, verstand Michael. Er hörte Gabriella neben sich aufschluchzen und zog sie in seine Arme. Angelo hielt immer noch das Handy in seinen Händen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hob er den Kopf und sah Michael an. In seinem Blick tobten die Emotionen, doch das Zentrum des Sturms war ruhig. Zu ruhig. „Was ist? Was steht da?“ Angelo drehte das Handy, sodass Michael es sehen konnte. Auf dem Display war ein Bild zu sehen. Ein Pergament, auf die mit schwarzer Tinte einige Symbole gemalt waren. Symbole, die Michael nicht lesen konnte. „Was bedeutet das?“, fragte er, obwohl er sich nicht sicher war, ob er das wirklich wissen wollte. Angelos Stimme schien von weit her zu kommen. „Das“, sagte er leise, „ist ein Rückzugsbefehl. Die Engel verlassen die Erde.“   Kapitel 23: Eine neue Richtung ------------------------------ „Wo ist er?“ Mit einem Handtuch in der Hand stand Michael in ihrem Wohnzimmer. Er war gerade aus der Dusche gekommen und hatte sich nur schnell ein T-Shirt und eine Jogginghose angezogen, um wieder zu den beiden anderen zurückzukehren. Gabriella saß in einem ähnlichen Aufzug auf einem der Barhocker. Vor ihr stand ein Teller mit einem halb gegessenen Sandwich. „Wo soll er schon sein?“, antwortete sie mit einem Seufzen in der Stimme. Michael schloss sich ihr an, während er fortfuhr, seine Haare trockenzurubbeln. „Schon wieder?“ Sie nickte und schüttelte im nächsten Moment den Kopf. „Nein, dieses Mal ist es anders. Er ist anders. Er hat gegessen – oder sagen wir besser geschlungen – und dann …“ Sie brach ab und zuckte mit den Schultern. Michael ging zu ihr, legte die Arme um sie und sah ihr in die Augen. „Und du? Bist du okay?“ „Ja, mir geht’s gut. Den Umständen entsprechend. Ich mache mir nur Sorgen um Angelo. Das Ganze, es hat … Es hat etwas mit ihm gemacht. Ich glaube, er gibt sich die Schuld am Tod des anderen Engels. Und dann diese Nachricht.“ Sie wies auf das Handy von Agent Hawthorne auf dem Küchentresen. Gabriella hatte es gereinigt und jetzt lag es dort wie ein stummes Mahnmal. Michael seufzte erneut. „Hat er gesagt, was es mit diesem Rückzugsbefehl auf sich hat? Ich meine, 'Die Engel verlassen die Erde'. Was bedeutet das?“ Gabriella verzog den Mund. Sie schien zu überlegen. „Gesagt hat er nicht viel, während du weg warst. Aber aus dem wenigen lässt sich ein bisschen was vermuten.“ „Und was?“ „Es ist so. Die Dämonen versuchen, die Menschen zu verderben, um sich ihre Seelen anzueignen. Die Engel sind da, um sie aufzuhalten. Eine Art Friedenstruppe, wenn man so will. Sie tun ihr Möglichstes, um die Menschen vor den Attacken der Dämonen zu schützen und ihnen ein normales Leben zu ermöglichen. Das tun sie aus dem Verborgenen heraus, damit niemand von ihrer oder der Existenz der Dämonen erfährt.“ „Mhm“, machte Michael. So etwas hatte er sich bereits gedacht. „Und was bedeutet es jetzt, wenn sie abgezogen werden?“ „Nun ja, für den Abzug von Friedenstruppen gibt es in der Regel drei Gründe. Entweder der Konflikt wurde beigelegt, die um Hilfe bittende Partei hat um den Abzug gebeten oder aber …“ „Oder aber das Gebiet wurde als zu unsicher eingestuft und deswegen aufgegeben.“ Michael atmete tief durch. „Da die ersten beiden Gründe mit ziemlicher Sicherheit ausscheiden, heißt das dann wohl, dass hier demnächst alles von Dämonen überrannt werden wird.“ „Das weiß ich nicht. Als ich Angelo danach gefragt habe, ist er mir ausgewichen.“ Michael seufzte noch einmal. „Dieser sture Hund. Manchmal denke ich, ich sollte ihn doch mal übers Knie legen. Schaden kann es jedenfalls nicht.“ Gabriella lachte leise. „Ich bezweifle, dass er das mit sich machen lässt. Hast du gesehen, wie er mit diesem Ding fertig geworden ist? Der reine Wahnsinn. Obwohl ich zu gerne wüsste, wo er auf einmal das Schwert herhatte. Es lag doch im Auto.“ „Ist vielleicht so eine Art Fähigkeit von Engelskriegern. Spontane Schwertbeschwörung oder so.“ „Du bist albern.“ „Alberner als feuerspeiende Spinnen und eine Uniprofessorin, die mich bei lebendigem Leib auffressen will? Ich glaube, der Punkt für Albernheiten geht definitiv an die andere Seite.“ Er hob den Blick in Richtung der Treppe. „Ob ich mal nach ihm sehen sollte?“ „Tu das.“ „Und du? Bist du gar nicht müde?“ Gabriella lächelte und schüttelte den Kopf. „An Schlaf ist definitiv nicht zu denken. Ich bin viel zu aufgekratzt. Ich denke, ich werde mal meine Mutter anrufen.“ „Um diese Uhrzeit?“ „Zeitverschiebung, Schatz. In Italien ist es jetzt ungefähr neun Uhr morgens.“ „Ach ja.“ Er grinste. „Dann grüß sie ganz herzlich von mir und richte ihr aus, dass ich mich dummerweise immer noch nicht zu dem Schwiegersohn entwickelt habe, den sie sich immer gewünscht hat. Ich liege ihrer Tochter also weiterhin auf der Tasche.“ Gabriella lachte auf. „Ich werde es ausrichten.“ Sie erhob sich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Na los. Schau mal nach unserem Engel. Nicht, dass er wieder Dummheiten macht.“     Michael hörte, wie Gabriella unten in ihr Büro ging, während er selbst die Treppe hinaufstieg. Die Tür des Gästezimmers war nur angelehnt und der Raum offenbar leer. Er ging daher zum Schlafzimmer und klopfte leise an. Als von drinnen keine Antwort kam, öffnete er die Tür. Angelo saß auf dem Bett. Neben ihm lag eine geöffnete Tüte Gummibärchen. Es knisterte, als er hineingriff und sich eine Handvoll herausnahm, um sie in den Mund zu schieben. „Hey, kann ich reinkommen? Ich wollte mal nach dir sehen.“ Michael ging um das Bett herum und setzte sich neben Angelo. „Alles in Ordnung mit dir?“ Die Antwort bestand aus einer weiteren Hand voll Gummibärchen, die in Angelos Mund wanderte. Er kaute dreimal und schluckte die süße Masse dann herunter. Als er erneut zugreifen wollte, hielt Michael seine Hand fest und schob die Tüte beiseite. „Komm schon, Angelo, rede mit mir. Was ist los?“ Jetzt endlich hob Angelo den Kopf. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der Michael das Herz abschnürte. Wortlos legte er ihm den Arm um die Schultern und zog ihn an sich. Seine Finger strichen durch das weiche, noch ein wenig feuchte Haar, während er seinen Kopf gegen Angelos lehnte. „So schlimm?“ Er spürte ein leichtes Nicken. „Willst du es mir erzählen?“ Erst schüttelte Angelo den Kopf, aber dann sagte er leise: „Da gibt es nichts zu erzählen. Ich habe versagt.“ „Versagt?“ Michael glaubte, sich verhört zu haben. „Du hast dieses Vieh doch besiegt.“ Angelo gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Und wofür? Jemand ist gestorben, Michael. Vor meinen Augen. Und ich konnte es nicht verhindern.“ „Wie hättest du das verhindern sollen? Dieses Vieh hat uns in eine Falle gelockt. Es war auf alles vorbereitet und hat uns total ausmanövriert. Agent Hawthorne ist einfach in die Schusslinie geraten. Wäre er nicht gewesen, wären wir vielleicht alle draufgegangen. Wäre dir das lieber gewesen?“ Statt einer Antwort stand Angelo auf und begann, im Zimmer umherzulaufen. Auch er hatte nur ein T-Shirt und eine bequeme Hose an. Seine bloßen Füße machten auf dem Teppich keinerlei Geräusch. Irgendwann blieb er stehen und starrte stumm aus dem Fenster. Michael stand auf und ging zu ihm. Er hob die Hand und strich ganz sanft über Angelos Rücken. Als der nicht reagierte, trat er näher und schmiegte sich von hinten an ihn. Er hörte, wie Angelo scharf einatmete, als er die Arme um ihn schloss und seinen Kopf auf den blonden Schopf legte. Eine Weile lang standen sie so da, bis Angelo sich plötzlich herumdrehte und ihn von unten herauf ansah. „Küss mich!“, forderte er und legte gleichzeitig die Hände um Michaels Nacken, um ihn zu sich herabzuziehen. Als sich ihre Lippen trafen, stieß Angelo sofort seine Zunge in Michaels Mund. Der nahm das überrascht zur Kenntnis, ging aber auf den unausgesprochenen Wunsch ein und erwiderte Angelos begierigen Kuss auf die gleiche Weise. Der Zug auf seinen Nacken erhöhte sich und Angelo drängte sich stärker an ihn. Offenbar wollte er mehr als das hier. Michael kam auch dieser Bitte nach und ließ seine Hände über Angelos Rücken bis zu seinem Po wandern. Als er ihn erfasste und an sich drückte, stöhnte Angelo leise in den Kuss. Das Geräusch ließ Michaels Blut schneller fließen. Er begann hart zu werden. „Bett“, verlangte Angelo und fing im gleichen Augenblick an, ihn nach hinten zu drängen. Michael ließ es zu. Einen Moment später lag er auf der Matratze, während Angelo über ihn kletterte und sich direkt auf seinen Schritt setzte. Er rieb sich an ihm wie eine Katze, während seine Zunge weiterhin Michaels Mund erforschte, als hoffe sie dort einen versteckten Schatz zu finden. So abgelenkt merkte Michael kaum, das Angelos Hand sich bereits auf dem Weg in seine Hose befand. Er keuchte auf, als sich die schlanken Finger um sein Glied legten und sofort zu pumpen begannen. „Angelo“, wimmerte er und brach den Kuss. Verdammt, was war nur mit ihm los? So kannte Michael ihn gar nicht. Lippen wanderten seinen Hals entlang und heißer Atem strich über sein Ohr. „Schlaf mit mir“, flüsterte Angelo und sein Ton hatte etwas Dringliches. „Bitte Michael, ich brauche das jetzt. Ich brauche dich. In mir.“ Erneut konnte Michael nur ein Keuchen statt einer Antwort hervorbringen. Die geschickten Finger hatten begonnen, seine Hose nach unten zu schieben, während warme Lippen seinen Hals liebkosten. Zu gern hätte er diese jetzt auch noch woanders gespürt, aber Angelo hatte anscheinend andere Pläne. Er entledigte sich in Windeseile seiner Hose und saß bereits wieder auf Michael, bevor der seinem Beispiel folgen konnte. Als er seinen hungrigen Blick bemerkte, zog er auch noch sein T-Shirt aus und ließ es achtlos zu Boden fallen. Anschließend griff er hinter sich. Erneut begann er, die Erektion zu massieren, während er seinen Hintern dagegen presste. Michael konnte fühlen, wie er zwischen die festen Backen gedrückt wurde. Er schluckte hörbar. Angelo beobachtete ihn genau. Als er sah, dass sein Blick tiefer wanderte, nahm er seine zweite Hand und begann sich selbst anzufassen. Er biss sich auf die Lippen, schloss die Augen und ließ den Kopf nach hinten sinken. Dabei bewegte er sich derart aufreizend auf Michaels Schoß, dass der glaubte, allein davon kommen zu können. Er wollte gerade nach Angelo greifen, als dieser plötzlich sein Becken hob und Anstalten machte, sich selbst auf den harten Schaft herabzusenken. Schnell hielt Michael ihn auf. „Halt, warte! Du bist nicht vorbereitet und wir haben kein …“ Angelo öffnete die Augen. Darin glühte blaues Feuer. „Ich bin ein Engel, Michael. Ich halte das aus.“ Wieder wollte er nach Michaels Erektion greifen, aber der nahm seine Hand und hielt sie fest. „Nein“, sagte er leise aber bestimmt. „Du wirst dir wehtun. Ich werde dir wehtun. Lass uns erst noch das Gleitgel …“ „Warum?“, fauchte Angelo plötzlich. Er machte sich aus Michaels Griff los und blitzte ihn wütend an. „Warum müssen wir es unbedingt immer auf deine Art machen. Zählt denn nicht, was ich will?“ „Aber …“ „Kein Aber, Michael. Ich bin kein Spielzeug und ich bin auch nicht aus Zucker. Also fick mich endlich.“ Plötzlich verstand Michael. Er ließ die Hände sinken, mit denen er Angelo gerade noch hatte festhalten wollen. Traurig schüttelte er den Kopf. Er merkte, wie seine Erregung schwand. „Ich werde dir nicht helfen, dich dafür zu bestrafen, dass du ihn nicht retten konntest.“ Angelo funkelte ihn noch einen Augenblick lang an, bevor das Feuer plötzlich erlosch und er den Blick abwandte. Als er Anstalten machte von ihm herunterzusteigen, hielt Michael ihn fest und zog ihn gegen seinen Willen auf sich herab in eine feste Umarmung. „Wenn du willst, knackse ich dir gerne ein paar Rippen an, indem ich dich so lange knuddele, bis dir deine Lunge zu den Ohren rauskommt. Aber ich werde dich nicht vergewaltigen. Ich will dir nicht wehtun.“ Er spürte, wie Angelos Gegenwehr erlahmte. Schicksalsergeben lehnte er sich an ihn.   „Tut mir leid“, sagte Angelo nach einer Weile und atmete tief durch. „Du hast recht. Ich hätte dich nicht dafür missbrauchen dürfen. Aber ich … ich hatte Angst, dass es vielleicht das letzte Mal sein könnte.“ Michael runzelte die Stirn. „Das letzte Mal? Warum das denn?“ Als ihm klarwurde, dass Angelo ihm offenbar schon wieder etwas verschwieg, hob er den Kopf und sah den Engel auf seiner Brust eindringlich an. Der versuchte ihm auszuweichen, aber Michael fing sein Kinn ein und drehte es sanft zurück. „Raus mit der Sprache. Was genau hat es mit dieser Nachricht auf sich? Du wärst kaum so blass geworden, wenn da nicht mehr dahinter stecken würde. Also was ist es? Haben wir mit einer Dämoneninvasion zu rechnen oder was?“ Angelo sah ihn an und da war wieder dieser Ausdruck in seinen Augen. Als würde er alles Leid der Welt auf den Schultern tragen. „Es ist viel schlimmer als das,“ sagte er leise. Michael stieß ein freudloses Lachen aus. „Schlimmer als brandschatzende Dämonenhorden, die die Erde mit Angst und Schrecken überziehen?“ Angelo nickte. Michael hätte gerne an einen Scherz geglaubt, aber dazu war Angelos Gesicht viel zu ernst. „Also jetzt sag schon endlich. Was ist es?“ „Armageddon.“ „Was?“ Er kam hoch und sah Angelo entgeistert an. „Sagtest du gerade Armageddon? So wie in 'The end of the world as we know it'?“ Angelo lächelte schmal. „Eher so wie in 'Krieg am großen Tage Gottes, des Allmächtigen'. Aber das, was du gesagt hast, trifft ebenfalls zu. Die Erde, wie du sie kennst, wird ausgelöscht werden und mit ihr alles Leben, das in dieser Schöpfung existiert.“ „Aber …“ Michael fehlten die Worte bis auf eines. „Warum?“ Angelo senkte erneut den Kopf. „Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es so sein wird. Wenn die Engel die Erde verlassen, um sich für die Schlacht zu versammeln, steht das Ende direkt bevor. Über die Gründe dafür kann ich nur mutmaßen.“ Er drehte sich herum und schmiegte sich mit dem Rücken an Michaels Bauch. Der drapierte seinen Arm erneut um den schmalen Körper und zog ihn an sich. Er vergrub seine Nase in Angelos Haaren und atmete den Duft seines eigenen Shampoos ein. „Schöne Scheiße“, murmelte er und spürte, wie Angelo anfing zu lachen. „Du findest doch immer wieder die richtigen Worte.“ „Ich bin eben ein talentierter Mann“, grinste Michael in einem Anfall von Galgenhumor. Er biss Angelo sanft in den Hals. „Wolltest du es Gabriella deswegen nicht sagen?“, fragte er, während er die malträtierte Stelle küsste. „Ich wollte sie nicht beunruhigen.“ „Sie wird es ohnehin herausfinden.“ „Nicht, wenn wir es ihr nicht erzählen.“ Jetzt war es an Michael zu lachen. „Du willst wirklich versuchen, etwas vor Gabriella geheimzuhalten? Sie ist ein Bluthund. Sie wird es herausfinden. Und dann werden wir uns wünschen, die Erde wäre ein kleines bisschen schneller untergegangen.“ Er legte seine Lippen auf Angelos Nacken. „Außerdem ist das die Basis einer gesunden Beziehung. Ehrlich zu einander sein. Miteinander sprechen. Wir müssen es ihr sagen.“ „Jetzt sofort?“ „Nein. Sie telefoniert mit ihrer Mutter. Das kann dauern. Ihr Rekord liegt bei über zwei Stunden.“   Für eine Weile schwieg Angelo, aber Michael konnte hören, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. „Woran denkst du jetzt schon wieder?“ „Daran, wie ich dich dazu kriege, trotz dieser blöden Sache von vorhin noch mit mir zu schlafen.“ Er rieb seinen Hintern ein wenig an Michaels Schritt. „Besteht da eine Chance?“ „Du willst jetzt wirklich Sex?“ „Ja, ich … ich möchte mich bei dir entschuldigen. Und ich …“ Er drehte sich herum und begann, mit dem Zeigefinger über Michaels Brust zu streichen. „Mir ist heute klar geworden, dass es eben doch einen Unterschied zwischen Menschen und Engeln gibt. Als ich gekämpft habe, war es … Es war anders. Ich war anders. Es war das, was ich in dem Moment gebraucht habe, um uns zu retten, aber …“ „Aber es hat dir nicht gefallen, wer du warst“, schloss Michael. „Ja. Nein. Es ist kompliziert.“ Angelo seufzte leise. „Du hast die Jorō-Gumo doch gehört. Engel fühlen keine Begierde. Das ist etwas, dass vollkommen menschlich ist. Und ich … ich hätte momentan gerne das Gefühl, dass ich ein Mensch bin. Ein echter Mensch. Ein Mensch, den du … lieben kannst.“ Angelo blickte mit großen Augen zu ihm auf und für einen Moment sah Michael in ihm wieder den Jungen, den er damals auf diesem Hinterhof aufgegabelt hatte. Der sich in fiebriger Ekstase gewunden und an ihn gepresst hatte. Der so unschuldig gewesen war und doch ohne jegliche Angst. Der ihm vertraut hatte, obwohl er ein vollkommen Fremder gewesen war. Er lächelte, als er sich zu Angelo beugte und ihn sanft küsste. „Ich würde dich auch lieben, wenn du eine lila gestreifte Kuh wärst. Wenn es dir hilft, mit mir zu schlafen, werde ich mich nicht dagegen wehren. Aber entweder wir machen es richtig oder wir machen es gar nicht.“ Ein Lächeln erschien auf Angelos Gesicht. Es war, als würde die Sonne aufgehen. „Dann richtig. Aber könnten wir vielleicht …?“ Er verstummte und biss sich auf die Lippen. Michael schüttelte den Kopf. „Angelo, es ist schon spät und ich bin wirklich nicht in Stimmung für Ratespielchen. Sex geht klar, aber wenn du etwas willst, wirst du es mir sagen müssen.“ „Ich möchte gerne … nach oben.“ Für einen Augenblick wusste Michael nicht, wie er reagieren sollte. Es war nicht so, dass er nicht schon mit einer ganzen Reihe von Männern Sex gehabt hatte. Allerdings war er nie derjenige gewesen, der unten lag. Der Gedanke ließ ihn für einen Moment erstarren. „Was ist los?“ Angelos Stimme klang alarmiert. „Ich … also … wir müssen nicht, wenn du nicht willst.“ Michael bemühte sich schnell um ein Lächeln. „Nein, nein, alles okay. Ich war nur überrascht. Es ist nicht so, dass ich es mir nicht grundsätzlich vorstellen könnte. Du wärst allerdings der Erste, mit dem ich auf diese Weise …“ Unverständnis erschien auf Angelos Gesicht. „Mit Gabriella hattest du aber kein Problem damit.“ „Was?“ Jetzt war es an Michael, dumm aus der Wäsche zu gucken. Wovon sprachen sie hier? Er rekapitulierte das Gesagte und musste grinsen. „Du hast gar nicht gemeint, dass du mich entjungfern willst, oder?“ Angelo schüttelte entschieden den Kopf. „Was? Nein! Ich wollte nur oben liegen. So wie vorhin. Das hat mir gefallen.“ Er schlug die Augen nieder und fragte leise: „Wäre das andere denn eine Möglichkeit?“ Michael schob Angelos Kinn nach oben, sodass sie sich wieder in die Augen sahen. „Wie ich schon sagte, du wärst der Erste. Aber ja, ich würde es auch auf diese Weise mit dir tun. Ich vertraue dir.“ Er lehnte sich vor und platzierte einen vorsichtigen Kuss auf Angelos Mund. Der sah ihn noch einen Moment lang an, bevor seine Augen sich langsam schlossen und er erneut mit seinen Lippen über Michaels strich. Zart, tastend, fast so als würden sie hier etwas Neues probieren. Michael legte seinen Arm um Angelo und zog ihn näher zu sich, während sie sich weiter küssten. Nur Lippen, nicht mehr. Ein gegenseitiges Streicheln und Liebkosen, das nur sehr, sehr langsam an Intensität gewann. Als er doch irgendwann Angelos Zungenspitze über seinen Mundwinkel fahren fühlte, lächelte er. Anscheinend wurde da jemand ungeduldig. Allerdings konnte Michael nicht sagen, dass ihn das Ganze, so unschuldig es auch anmutete, kalt ließ. Er wollte Angelo. An sich, bei sich, über sich. Vollkommen egal. Er wollte ihn spüren, ihn berühren, jeden Zentimeter von ihm mit Liebe und Zärtlichkeit überschütten. Er begann, mit seinen Fingerspitzen über Angelos Körper zu fahren. Nur ganz leicht, fast schon zu wenig, um wirklich spürbar zu sein. Und doch zeigte Angelo genau die Reaktion, die er sich erhofft hatte. Seine Atmung wurde schneller, sein Kuss intensiver, die leichte Härte, die sich gegen Michaels Oberschenkel drückte, fester. Jeder noch so kleine Kontakt schien ein Feuer zu entfachen, das sich weiter und weiter ausbreitete, bis Angelo vollkommen in Flammen stand. Michael beobachtete ihn aus halb geöffneten Augen und konnte sich kaum sattsehen an diesem schlanken, jugendlichen Körper, der sich ihm in stetig wachsender Ekstase entgegenbog. Sich nach jeder seiner Berührungen sehnte. Als er schließlich die ganze Handfläche auf Angelos Rücken legte und sie beide herumdrehte, sodass Angelo auf ihm zu liegen kam, keuchten sie bereits beide vor mühsam zurückgehaltenem Begehren. Michael ließ sich von Angelo aus seiner Hose helfen, während er sich selbst seines Shirts entledigte und es kurzerhand vom Bett warf. Wieder zog er Angelo an sich und presste seine Lippen auf dessen Mund. Ihre Erektionen rieben aneinander. Das Gefühl entlockte Michael ein Stöhnen. Das fühlte sich gut an. Viel besser als es das jemals getan hatte. Als Angelo begann, sein Becken zu bewegen, spreizte Michael automatisch die Beine weiter. Es kam ihm ganz natürlich vor. Angelo ließ sich dazwischen gleiten und plötzlich spürte Michael vorsichtig tastende Finger an seinen Hoden. Sanft glitten sie darüber und noch ein Stück weiter nach hinten. Mit leichtem Druck begann Angelo, das Perineum zu massieren. Es war ein angenehmes, fast schon obszön gutes Gefühl, das Michael dazu brachte, sich noch weiter gegen die forschenden Finger zu drücken. Als noch eine Hand dazu kam, die sich um seine Erektion legte und zu pumpen begann, schlug er die Augen auf. Angelo beobachtete ihn. Seine Lippen waren leicht geöffnet und von ihren Küssen gerötet. Sein Blick, der in dieser Höhle so eisig gewesen war, war jetzt warm und voll von etwas, das Michaels Herz zum Stolpern brachte. Er schluckte und brachte seine Stimmbänder so weit unter Kontrolle, dass sie mehr als ein Krächzen von sich geben konnten. „Na, hast du es dir anders überlegt“, fragte er und brachte sogar ein Lächeln zustande. Angelo errötete. „Nein, ich … ich wollte nur mal ausprobieren, wie du es findest.“ „Gut. Definitiv gut. Meinetwegen kannst du weitermachen. Ich hätte nichts dagegen.“ Angelo sah nach unten, wo seine Hände ihr Tun nicht unterbrochen hatten. Er leckte sich über die Lippen und beugte sich plötzlich vor. Michael konnte gar nicht so schnell reagieren, wie sich auf einmal ein feuchter, warmer Mund um seine Eichel legte. Er keuchte auf. „Fuck, Angelo. Kannst du mich nicht vorwarnen?“ Er spürte, wie Angelo um ihn herum grinste. „Gut?“, fragte er leise. „Mehr als das. Mach weiter.“ Michael ließ seinen Kopf zurücksinken und schloss die Augen. Angelo setzte seine Administration fort und Michael wusste bald nicht mehr, wo oben und unten war. Der verführerische Strudel aus Streicheln und Küssen, Fingern, Lippen und sogar Zähnen, sowie einer Zunge, die immer wieder tastend über seine gesamte Länge strich, bevor sich wieder ein beständiges Saugen um die empfindliche Spitze legte, während schlanke Finger seinen Schaft und die Hoden massierten, zog ihn immer weiter hinab und katapultierte ihn gleichzeitig in ungeahnte Höhen. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Er wollte Angelo. Jetzt! „Angelo“, brachte er stammelnd hervor. „Bitte! Nimm mich oder komm zu mir, aber lass mich nicht länger warten.“ Sofort verschwanden sämtliche Berührungen und ließen ihn zitternd und bebend zurück. Er öffnete die Augen und sah, wie Angelo neben ihm auf dem Bett nach oben rutschte. Seine Wangen zeigten einen wunderbaren Rotschimmer und seine blauen Augen glänzten fast schwarz. „Hast du Gleitgel?“ „Im Schrank. Da müssten auch die Kondome sein.“ Angelo biss sich auf die geschwollenen Lippen. „Brauchen wir denn unbedingt eines?“ Michael zögerte einen winzigen Augenblick, bevor er antwortete. „Nein. Brauchen wir eigentlich nicht. Es ist praktisch, aber …“ Er ließ den Rest des Satzes offen. Vermutlich hätte er ihn eh nicht zu Ende bringen können, denn Angelo stürzte sich mit neuem Enthusiasmus auf seinen Mund und küsste ihn halb besinnungslos, bevor er endlich in die Schublade griff und die kleine Tube herauszog. Mit Erstaunen sah Michael, wie er erneut ein Bein über ihn schwang. „Was wird das? Ich dachte …“ Der Rotton auf Angelos Wangen verdunkelte sich noch ein wenig. „Nein, ich … ich will es lieber so herum. Vielleicht beim nächsten Mal.“ „Beim nächsten Mal? Ich dachte, die Welt geht unter. Das hier könnte deine letzte Gelegenheit dafür sein.“ Einen Moment lang schien Angelo zu überlegen, doch dann schüttelte er den Kopf. „Nein, trotzdem. Ich will dich in mir spüren.“ Michael lächelte. „Na gut, wie du willst. Aber ich habe es dir angeboten. Das gibt doch bestimmt Karmapunkte beim Jüngsten Gericht, oder?“ „Bestimmt“, gab Angelo mit leichtem Grinsen zurück und öffnete endlich die Tube. Er ließ etwas von dem Gel auf seine Finger tropfen, verrieb es kurz und griff dann nach Michaels Erektion. Sorgsam bestrich er die ganze Länge, bevor er Anstalten machte sich zu erheben. Schnell legte Michael eine Hand gegen seinen Bauch. „Ich dachte, das hätten wir besprochen. Nicht ohne Vorbereitung.“ Angelos Gesichtsfarbe wurde einer Tomate noch ähnlicher. „Ich hab das schon erledigt“, murmelte er. "Während ich dich …“ Michaels Erektion zuckte bei dem Gedanken. Die Vorstellung, dass Angelo sich selbst gefingert hatte, während sich Michaels Schwanz in seinem Mund befunden hatte, ließ noch mehr Blut in seine Erektion strömen. Beinahe hätte er sich aufgerichtet, um Angelo aufs Bett zu werfen und ihn endlich zu nehmen, aber er hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. Seine Belohnung bestand in dem Anblick von Angelo, der jetzt wieder nach ihm griff, sich über ihm platzierte, um sich dann langsam aber stetig auf ihn herabzusenken. Michael sah genau, dass er sich dabei bewusst entspannte. Es schien seine ganze Konzentration zu beanspruchen. Trotzdem hielt er nicht an, bevor er Michael nicht vollkommen in sich aufgenommen hatte. Als es soweit war, öffnete er die Augen wieder und sah Michael an. Ein Lächeln huschte über Michaels Lippen. Sein Angelo. Er war so schön, so perfekt trotz der Narben. Trotz seiner Launen und Macken oder vielleicht gerade deswegen. Er war perfekt wegen allem, was er war. Mensch, Engel oder beides zusammen. Es spielte keine Rolle. Nicht für Michael. „Ich liebe dich“, sagte er, bevor er sich recht überlegt hatte, was er tat. Ein leichtes Erstaunen huschte über Angelos Züge, bevor sein Mund ebenfalls ein Lächeln formte. „Ich dich auch“, wisperte er. „Und ich hätte mir niemals verziehen, wenn dir etwas passiert wäre.“ „Dann ist es ja gut, dass ich dich hatte, um mich zu beschützen.“   Als Angelo anfing sich zu bewegen, wusste Michael bereits, dass es nicht lange dauern würde. Die Vorbereitung war zu gründlich und zu erregend gewesen. Außerdem war das Gefühl der heißen, pochenden Enge um ihn herum durch das fehlende Kondom noch viel intensiver als sonst. Er ließ Angelo daher seinen Rhythmus beibehalten, während er selbst nach dessen Erektion griff und begann sie im gleichen Takt zu massieren. Bald schon schien Angelo nicht mehr zu wissen, ob er lieber Michael tief ihn sich spüren oder vielmehr in die Faust stoßen wollte, die seine Erektion umschloss. Michael nahm ihm die Entscheidung ab, indem er begann, ihm sanft von unten entgegenzukommen. Er hörte ein Keuchen, als er dabei anscheinend genau den Punkt traf, den er gesucht hatte. Instinktiv begann Angelo, das Tempo zu erhöhen und brachte dabei auch Michael immer schneller dem Ende entgegen. Eigentlich hätte er das hier gerne noch weiter ausgekostet, aber als er Angelos helles Stöhnen hörte, das wilde Feuer in seinen Augen sah, die Lust, die seinen ganzen Körper erfasst hatte, gab er den Widerstand auf. Er ließ sich tragen, reiten, erhöhte noch einmal die Geschwindigkeit seiner Bewegungen, den Druck seiner Hand, bis er Angelo plötzlich über sich aufstöhnen hörte. Die Erektion in seiner Hand wurde noch einmal größer, härter und im nächsten Moment fühlte er warme Flüssigkeit auf seinem Bauch. Die zuckende Hitze um ihn zog sich fast schmerzhaft eng zusammen und Michael brauchte nur noch zwei weitere Stöße, bevor er selbst kam. Ungeachtet der Sauerei zog Michael Angelo an sich und hielt dessen bebenden Körper fest, bis sich ihr Atem einigermaßen beruhigt hatte. Er lächelte, als er warme, trockene Lippen auf seinem Mund fühlte. Träge erwiderte er den Kuss, während er bereits die Müdigkeit mit großen Schritten herannahen fühlte. Der Akt hatte ihm das Letzte abverlangt. „Ich bin gleich wieder da“, murmelte Angelo nach einer Weile und erhob sich ein wenig steif aus seiner Position. Michael hörte, wie er aus dem Schlafzimmer schlich. Kurz darauf näherten sich Schritte dem Bett. Michael streckte nur den Arm aus, um Angelo wieder in Empfang zu nehmen. Als er jedoch die Brüste und die langen Haare bemerkte, öffnete er mit sehr viel Mühe ein Auge. Gabriella grinste ihn an. „Na, hab ich was verpasst?“ „Oh ja“, bestätigte Michael. „Erzähl ich dir später.“ Er spitzte seinen Mund für einen Kuss. Gabriella berührte flüchtig seine Lippen mit ihren eigenen. „Alles klar. Schlaf gut.“ „Mhm, du auch.“ Michael schaffte es gerade noch, den anderen Arm um Angelo zu legen, als dieser wieder ins Bett kletterte, bevor ihn der Schlaf endgültig übermannte.       Gabriella wurde von einem Klingeln geweckt. Sie blinzelte verschlafen und schälte sich aus ihrer Decke. Draußen war es noch dunkel. Sie folgte dem Geräusch, bis sie in der Küche ankam. Das Klingeln kam von einem Handy, das auf dem Tresen lag. Ohne lange zu überlegen nahm sie ab. „Ja?“ Auf der anderen Seite antwortete ihr verblüfftes Schweigen. „Hallo? Wer ist denn da?“ „Das wollte ich auch grad fragen.“ Eine weibliche Stimme hatte sich offenbar überlegt zu antworten. Sie klang nicht begeistert. „So ’ne Scheiße. Ich hab doch die falsche Nummer.“ Gabriella war endlich so weit erwacht, dass ihr aufging, wessen Telefon sie hier gerade in Händen hielt. Wer auch immer am anderen Ende der Leitung war, hatte offenbar Agent Hawthorne sprechen wollen. „Nicht unbedingt“, versuchte sie die Anruferin zu beruhigen. „Er ist momentan … verhindert. Ein Glucksen war zu hören. „Oh ja, das kenne ich. Verhindert sind die Kerle ja gerne mal, wenn sie nicht schnell genug in ihre Hosen kommen.“ Es folgte eine kurze Pause und dann ein erbostes: „Jetzt hör mal zu, Bitch, ich lass mich doch von dir nicht verarschen. Der Typ, den ich hier gerade anrufen will, war nie im Leben mit dir im Bett. Und wenn doch, musst du mir verraten, wie du die Weißschwinge dazu gekriegt hast. Ich kenn da jemanden, der sich bestimmt brennend dafür interessieren würde.“ Gabriella wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Hilfesuchend sah sie zu Michael und Angelo, die gerade die Treppe herunterkamen. Anscheinend hatten sie sie gehört. Wer ist das?, formte Michael mit den Lippen. Gabriella zuckte mit den Schultern und hielt das Handy hoch, damit er sehen konnte, wem es gehörte. Als er es erkannte, machte er ihr eindeutige Zeichen, das Gespräch zu beenden. „Einen Moment bitte“, bat Gabriella die Anruferin und hielt die Hand vor den Lautsprecher. „Da ist eine Frau dran. Ich glaube, sie weiß, dass Agent Hawthorne ein Engel war. Sie hat ihn eine Weißschwinge genannt.“ Angelo drängte sich nach vorn. „Kannst du das Gespräch laut stellen?“ „Ja, Moment.“ Gabriella drückte auf das entsprechende Symbol und räusperte sich. „Hallo, hören Sie? Ich habe Sie mal auf Lautsprecher gestellt. Mein Mann und unser … ähm … Freund wollen ebenfalls mit ihnen sprechen.“ „Ménage à trois, mhm?“, schnurrte die Stimme aus dem Telefon. „Gefällt mir. Wenn ihr noch einen weiteren Mitspieler braucht, komm ich gerne mal vorbei.“ Michaels Augenbrauen schnellten in die Höhe und auch Angelo sah aus, als würde er ein wenig am Verstand der Anruferin zweifeln. Allerdings fing er sich schnell wieder. „Hallo, mein Name ist Angelo. Ich bin ebenfalls ein Engel.“ „Angelo“, zischte Michael. „Bist du wahnsinnig? Das kannst du ihr doch nicht einfach so sagen?“ „Warum nicht? Sie wollte offenbar mit einem Engel sprechen und da ich der Einzige hier bin, auf den dieses Kriterium zutrifft … “ „Ein Engel?“, fragte die Stimme am anderen Ende. Sie schien vorsichtig zu werden. „Was ist denn mit der anderen Weißschwinge? Der Typ, dem diese Nummer gehört.“ „Er wurde getötet.“ „Scheiße.“ Man konnte das Klicken des Denkapparats auf der anderen Seite förmlich hören. „Aber wie ist das denn passiert? Ihr Mistkerle seid doch eigentlich zäh.“ „Eine Jorō-Gumo. Sie hat ihn zerfetzt.“ „Ach fuck. Das wird Marcus aber gar nicht gefallen.“ „Marcus?“ Gabriella horchte auf. „Wir sprechen nicht zufällig von dem gleichen Marcus?“ „Weiß nicht. Ist so’n Hübscher. Groß, schlank, dunkle Haare und gar nicht mal schlecht bestückt für einen Menschen. Na ja, wenn einer zur Hälfte ein Engel ist. Da kann man ja schon ein bisschen was erwarten und … Ach Kacke!“ Man hörte die Anruferin am anderen Ende fluchen. „Okay, vergesst das mit dem halben Engel. Ich hab … also …“ „Wir wissen, was Marcus ist.“ Gabriella sah zu den anderen beiden, aber die bedeuteten ihr fortzufahren. „Und wir wissen auch, dass der Engel, den Sie anrufen wollten, sein Vater war. Ist das der Grund, warum Sie ihn sprechen wollten? Steckt Marcus in Schwierigkeiten?“ Sie hörten ein verblüfftes Geräusch. „Lady, sind Sie ne Hellseherin? Das Schätzchen hat sich tatsächlich ganz schön tief in die Scheiße geritten. Aber ich glaube nicht, dass ihr da was machen könnt. Ich meine, wenn ihr wisst, was er ist, seid ihr wohl ganz gut mit ihm dran, aber …“ „Wir haben ihn erst einmal getroffen.“ Angelo hatte sich wieder in das Gespräch eingeschaltet. „Wir sind ihm zufällig in einem Motel in Las Vegas begegnet. Er hat mir … geholfen. Ich würde diesen Gefallen gerne erwidern, wenn ich kann.“ „Sagtest du Motel? Wir reden aber nicht zufällig vom Gateway Hotel, oder?“ „Äh, doch?“ „Und du bist nicht zufällig so ein süßer Blondie mit großen, blauen Augen und einem kleinen Schmollmund? Und dein Freund so ein bulliger Schrank?“ „Schrank?“, echote Michael empört, aber Gabriella winkte ihm still zu sein. „Ja, das sind die zwei“, antwortete sie an Angelos Stelle. „Ha, ich wusste es. Man sieht sich eben tatsächlich immer zweimal im Leben. Was für ein Zufall.“ Das Grinsen auf der anderen Seite brachte fast das Telefon zum Erstrahlen. „Was treibt ihr beiden so? Das, was ich denke, dass ihr treibt?“ Sie lachte. Es klang ziemlich dreckig. „Hören Sie, ich weiß ja nicht, wer sie sind …“ Michael kam nicht viel weiter, als die Anruferin ihn schon wieder unterbrach. „Ich bin Crystal, und wir sind uns schon mal begegnet, Schnucki. Ich hab genau gemerkt, dass du mir in dem Motel auf den Arsch gestarrt hast.“ Sie schnurrte. „Hat dir gefallen, was du gesehen hast?“ „Ich bin verheiratet!“ „Hindert dich aber nicht daran, einen Engel zu poppen.“ „Was?“ „Ach bitte. Ich hab doch genau gesehen, wie du ihm im Mondschein die Zunge in den Hals gesteckt hast. Bist ’n kleiner Romantiker, was? Hast du ihn schon mal mit Rosenöl eingeschmiert oder mit Schokolade bestrichen? Ich sage dir, da fahren die Weißschwingen echt drauf ab. Solltest du mal ausprobieren.“ Michael sah aus, als würde er das Telefon gleich an die Wand werfen, während Angelo leicht rosa angelaufen war. Wenn es nicht so surreal gewesen wäre, hätte Gabriella tatsächlich darüber lachen können. „Hör mal, Crystal. Ich darf doch Crystal sagen?“ „Klar.“ „Ich bin Gabriella, Michaels Frau.“ „Du Glückliche! Lassen die zwei dich auch mitmachen? Hattest du schon mal beide gleichzeitig? In welcher Stellung? Habt ihr mal ein Sandwich ausprobiert? Zwei Schwänze sind einfach der Burner, oder?“ Gabriella merkte, wie ihr warm wurde. „Ähm, ich glaube nicht, dass das jetzt irgendwas zur Sache tut.“ „Sie kann nicht anders“, sagte Angelo plötzlich. Gabriella sah ihn fragend an. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist Crystal ein Sukkubus.“ „Hey, der Kandidat hat hundert Punkte und gewinnt eine Waschmaschine mit Tretantrieb. Bist ja ne ziemliche Leuchte, Engelchen. Was hat mich verraten?“ „Du bist nicht besonders gut auf Engel zu sprechen und redest quasi von nichts anderem als Sex.“ „Ach echt?“ Crystal schien ehrlich erstaunt. „Ist mir gar nicht aufgefallen.“ Angelos Gesicht wurde etwas säuerlich. „Mir aber.“ „Oh, das tut mir leid. Aber wie du schon sagtest, ich kann nicht anders. Das ist einfach meine Natur. Bis jetzt hat’s auch noch keinen gestört. Wenn man mal von Marcus absieht. Man, der kann vielleicht ’ne Spaßbremse sein, sag ich euch. Hat mich echt schuften lassen für den Schuss, den ich von ihm gekriegt hab.“ „Wir haben es gehört“, warf Michael grollend ein, aber Gabriella schüttelte nur den Kopf. Wenn sie wollten, dass Crystal ihnen noch mehr verriet, würden sie geschickt vorgehen müssen. „Crystal, ich gehe doch recht in der Annahme, dass dir etwas an Marcus liegt, oder?“ „Wie kommst du drauf?“ Der Ton des Sukkubus wurde plötzlich defensiv. Gabriella schmunzelte. „Nun, sonst würdest du wohl kaum seinen Vater anrufen, wenn er in Schwierigkeiten steckt. Besonders, wenn man bedenkt, dass ihr eigentlich auf verschiedenen Seiten steht. So was tut man nicht für jemanden, der einem vollkommen egal ist.“ Crystal gab einen unzufriedenen Laut von sich. „Ist jetzt nicht so, dass ich gern gemacht hab. Immerhin hat er sich die Scheiße ja selber eingebrockt. Was musste er sich auch an Alejandro ranhängen. Mit dem Kerl hat man nichts als Ärger. Wenn er nicht der Schoßhund vom Boss wäre … Ich sag euch, ich hätte den schon längst irgendwo ertränkt.“ „Alejandro?“ Michael schien sich an etwas zu erinnern. „Das ist aber nicht so ein kleiner Mexikaner mit einem Goldzahn, oder?“ „Woher weißt du das?“ „Er ist einer der Kerle, die Angelo in der Mangel hatten, als ich ihn gefunden habe. Die, die ihm dieses Zeug gegeben haben, dass ihn so …“, er warf einen entschuldigenden Blick auf Angelo, „geil gemacht hat.“ „Warte, was für Zeug?“ Crystal klang aufgeregt. „Ich hab mich schon gewundert, dass das Vögelchen sich von dir vögeln lässt. Oder ist es andersrum? Hältst du deinen Hintern hin? Wie isser denn so im Bett? Hat er dir schon mal einen geblasen?“ „Crystal!“ „Ja ja, sorry, war etwas abgelenkt. Ihr drei sorgt wirklich für Kopfkino. Also du sagst, die haben deinem Schätzchen was verpasst, dass ihn rollig gemacht hat?“ „Ja. Irgendeine Flüssigkeit.“ Der Sukkubus murmelte etwas. „Wie bitte? Ich habe dich nicht verstanden.“ „Ich hab gesagt, dass das das Zeug sein muss, was die mit der Höllenmaschine aus mir rausgepresst haben. Sukkubus-Spucke macht Männer extrem rattig. Wenn sie das Zeug aufpoliert haben, könnte es vermutlich sogar einen Engel lahmlegen. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum sie mich in diesen Engelsbrecher eingespannt haben. Ich fand den Namen ja etwas eigenartig, aber jetzt ergibt er einen Sinn.“ Michael sah Gabriella und Angelo an. „Allerdings. Das ergibt sogar ziemlich viel Sinn. Diejenige, die die Maschine gebaut hat, war die Jorō-Gumo, die Marcus Vater auf dem Gewissen hat.“ „Was echt? Boah, wenn ich die erwische, kann die sich aber mal auf was gefasst machen. Hat die überhaupt eine Ahnung, wie das zeckt, wenn die da die Nadeln in einen reinpieken? Das ist echt abartig scheiße.“ „Sie ist tot. Angelo hat sie erledigt.“ „Ach wirklich? Braves Engelchen.“ „Ja, nur dummerweise scheint dieser Alejandro wegen der ganzen Sache zu denken, dass Angelo irgendwie ihm gehört. Er hat versucht, ihn von einer Cegua entführen zu lassen.“ Crystal schien auf der anderen Seite alles aus dem Gesicht zu fallen. „Das bist du?“, hörte man sie keuchen. „Du bist der verdammte Engel, den der Köter landauf, landab sucht? Das glaube ich jetzt ja nicht. Ich hab echt gedacht, Ernie verarscht mich, aber anscheinend ist an der Geschichte ja doch was dran.“ Man hörte einige Geräusche, die darauf schließen ließen, dass Crystal irgendwas mit dem Telefon anstellte. Als sie wieder zu hören war, sprach sie deutlich leiser. „Jetzt hör mir mal zu, Angelito. Wenn ich du wäre, würde ich ganz schnell Asyl bei deinen gefiederten Freunden suchen. Mein Chef ist echt scharf drauf, dich in die Finger zu kriegen, und ich übertreibe nicht, wenn ich dir sage, dass das nicht lustig für dich wird. Er hat eine Vorliebe für richtig, richtig perverse Spielchen. Da fällt selbst mir nichts mehr ein. Und er hasst Engel. Also bringst du deinen hübschen Hintern am besten in Sicherheit, bevor sich der Köter wirklich an deine Fährte hängt. Denn wenn er dich kriegt, wird das ziemlich unangenehm werden, das kannst du mir glauben.“ Angelo lächelte leicht. „Danke für den Rat, Crystal. Es gibt nur niemanden mehr, wo ich hingehen könnte. Die Engel sind weg.“ Gabriella machte große Augen, als sie hörte, wie freizügig Angelo mit dieser Information herausrückte. Immerhin war Crystal doch ein Dämon. „Und außerdem steht die letzte Schlacht bevor. Die Welt wird untergehen. Es macht also keinen großen Unterschied mehr, ob er mich bekommt oder nicht.“ Gabriella schnappte entsetzt nach Luft. Wann genau hatte Angelo vorgehabt, ihnen davon zu erzählen? Ein Blick auf Michael verriet ihr allerdings, dass der anscheinend davon gewusst hatte. Sie funkelte ihn böse an und wandte sich wieder dem Telefongespräch zu. Crystal schien von Angelos Eröffnung ebenfalls ziemlich überrascht zu sein. „Was? Ich glaub, ich hab was im Ohr. Hast du gerade gesagt, dass die Welt untergeht?“ „Ja, habe ich. Die letzte Schlacht steht bevor. Der ultimative Kampf. Gut gegen Böse. Wer am Ende gewinnt, wird in Zukunft über den Himmel regieren.“ „Kacke.“ Man hörte den Sukkubus schnaufen. „Kann man das nicht noch irgendwie verhindern?“ Angelo blickte unglücklich drein. „Ich wüsste nicht, wie. Schon allein, weil ich nicht weiß, warum das Ende einberufen wurde. Ich glaube … Ich glaube, ich bin hierher geschickt worden um es aufzuhalten. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich das schaffen soll. Ich weiß nicht, was Ihn dazu bewogen hat, jetzt einen Schlussstrich zu ziehen. Es muss irgendetwas geben, dass es ausgelöst hat. Aber wenn wir nicht wissen, was das ist, können wir auch nichts tun, um es zu beenden.“ Der Sukkubus am anderen Ende schwieg eine Weile. Schließlich schnaubte sie hörbar. „Na fein, dann geht die Welt eben unter. Wenn man sowieso nichts dagegen machen kann, such ich mir jetzt ein Dutzend knackige Kerle und lass mir von denen das Gehirn rausvögeln. Wer weiß, wie lange wir noch haben. Die letzten Tage verbringe ich auf jeden Fall nicht in Sklaverei, das sag ich euch. Der Boss kann mich mal.“ „Und Marcus?“, warf Gabriella ein. „Was ist mit ihm?“ „Der sitzt in einer Zelle tief im Bunker vom großen Chef. Ist alles hochgesichert. Da kommt kein Engel lebend rein oder raus. Supertolle Abwehrfallen und alles.“ „Und wenn ein Mensch es versuchen würde?“ „Ein Mensch?“ Crystal überlegte. „Das könnte tatsächlich klappen. Die magischen Sicherungen wirken nur gegen übernatürliche Wesen. Aber wer sollte so dumm sein, das zu versuchen?“ Gabriella grinste breit. „Ich glaube, mir würde da jemand einfallen.“   Kapitel 24: Die Straße des Teufels ---------------------------------- Alejandro hatte das Gefühl, schon seit Stunden auf diesem dämlichen Baum zu sitzen und das dunkle Haus auf der anderen Straßenseite anzustarren. Er war nicht wenig erstaunt darüber gewesen, dass ihn der Ahool ausgerechnet in die Heimatstadt der beiden Menschen gebracht hatte. Sie waren auf dem Dach eines großen Gebäudes gelandet und hatten gewartet, dass ihre Beute wieder herauskam. Als der Engel und die Menschen schließlich auf der Bildfläche erschienen waren, waren sie über und über mit Blut beschmiert gewesen. Er hatte daraufhin überlegt, ob er wohl nachsehen sollte, was drinnen passiert war, hatte sich dann aber dagegen entschieden. Er wollte nicht riskieren, den Engel wieder aus den Augen zu verlieren. Also war er ihm und den Menschen zu diesem Haus gefolgt und seit dem saß er sich hier die Beine in den Bauch. Er knurrte unwillig. „Was machen die denn da drin? Schlafen die etwa? Arschlöcher.“ Der Ahool neben ihm döste bereits seit geraumer Weile vor sich hin und auch Alejandro konnte die Anzeichen der herannahenden Müdigkeit nicht viel länger unterdrücken. Immer öfter musste er gähnen, während die Nacht voranschritt und sich nichts, aber auch so gar nichts tat. Er hätte sich natürlich einen Schlafplatz suchen können, aber er wollte auf keinen Fall verpassen, wenn sich das Trio sich wieder in Bewegung setzte. Und das würde es sicherlich tun. Es war nur eine Frage der Zeit. Für einige kurze Augenblicke hatte er sogar überlegt, ob er Verstärkung rufen und das Haus einfach angreifen lassen sollte. Dann jedoch waren ihm das Salz und die Dämonenabwehrzauber aufgefallen, die an allen Eingängen angebracht worden waren. Was, wenn sie noch mehr Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatten? Was, wenn der Angriff scheiterte? Die Schmach wäre nicht zu ertragen gewesen. Außerdem hatte er keine Lust, den Triumph mit den anderen Cadejos zu teilen. Er konnte allerdings auch nicht leugnen, dass er keine Ahnung hatte, wie er den Engel festsetzen sollte. Der hatte immerhin immer noch dieses nicht gerade kleine Schwert und konnte anscheinend damit umgehen. Das machte die Sache komplizierter. Wenn er nicht genau gewusst hätte, dass sein Herr diesen Engel unbedingt haben wollte, hätte er fast annehmen müssen, dass dieser ihm die Aufgabe übertragen hatte, um ihn scheitern zu sehen.   Alejandro musste eingenickt sein, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, war es bereits hell und um ihn herum begannen die Menschen zu erwachen. Er konnte hören, wie im Haus hinter ihm die Fenster geöffnet und mit Geschirr geklappert wurde. Ein kurzer Blick auf dein Amulett versicherte ihm, dass sich der Engel noch an Ort und Stelle befand. Trotzdem hatte er jetzt ein Problem. Im Hellen würde er den Ahool nicht nutzen können. Er würde sich etwas anderes ausdenken müssen, um den Engel nicht aus den Augen zu verlieren. „Los, verpiss dich!“, knurrte er und puffte die riesige Fledermaus in die Seite. Die fauchte ihn unfreundlich an, entfaltete aber gehorsam die Flügel und war mit wenigen, kraftvollen Bewegung im grauen Morgenhimmel verschwunden. Vermutlich würde sie sich in der Nähe eine Höhle suchen und dann in der Dunkelheit in ihren Turm zurückkehren. Er hingegen saß auf diesem Baum fest und konnte nicht nach Hause. Nicht ohne den Engel.   Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sich etwas in dem Haus gegenüber regte. Als sie schließlich zusammen mit dem Engel heraustraten, krallte Alejandro sich in die Rinde des Baumes und spannte sich. Mit wachsender Panik sah er zu, wie sie zielstrebig zu einem der Autos gingen, die auf der breiten Einfahrt standen. Sie würden wegfahren und er hatte keine Möglichkeit, ihnen zu folgen. Was sollte er tun? Er würde den Engel schon wieder verlieren. Es sei denn … Alejandro zuckte zusammen bei der Idee, die ihm durch den Kopf schoss. Es war Wahnsinn, vollkommen schwachsinnig, aber es war die einzige Möglichkeit, die ihm blieb. So leise er konnte, ließ er sich vom Baum herabgleiten und verwandelte sich.       „Du weißt, dass das eine vollkommen schwachsinnige Idee ist, oder?“ Michael sah Gabriella an, die von seiner Kritik wenig beeindruckt schien. Im Gegenteil wirkte sie vollkommen sicher, dass es das Richtige war, was sie hier taten. „Michael, wer, wenn nicht wir, sollte ihn retten? Sein Vater ist tot und diese Crystal entweder nicht willens oder nicht in der Lage, es zu tun.“ „Aber wir kennen ihn kaum.“ Er sah immer noch nicht ein, warum sie sich in die schwer bewachte Festung eines Dämonenfürsten schleichen sollten, nur um einen ihnen fast vollkommen unbekannten und nicht einmal besonders freundlich gesinnten Halbengel zu retten. Obwohl er nicht leugnen konnte, dass die Sache mit der Maschine, die sich laut dem Sukkubus ebenfalls in dieser Festung befand, mehr als verdächtig war. Trotzdem hatte Michael das Gefühl, hier gerade einen Riesenfehler zu machen. „Und wenn sie Angelo fangen?“, verlieh er seinen Bedenken Ausdruck. „Was, wenn sie ihm wieder was von diesem Zeug geben? Obwohl ich immer noch nicht so ganz verstehe, wozu das überhaupt dienen soll.“ Sie hatten Crystal diese Frage bereits gestellt, doch die hatte sie ihnen nicht beantworten können. Ihrer Vermutung nach war das nur ein weiterer Weg, die Engel zu quälen und sie und ihren Schöpfer zu verhöhnen. Aber irgendwie kam Michael der Aufwand dafür zu groß vor. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihnen noch irgendein Puzzleteil fehlte. Und so ungern er das auch zugab: Es gab eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie dieses am gleichen Ort finden würden, an dem Marcus festgehalten wurde. Hoffentlich nicht erst, wenn sie alle in Gefangenschaft geraten waren und ihnen der Bösewicht seinen genialen Plan verriet, bevor er sie alle umbrachte. Oder sie zuerst folterte und dann umbrachte. An eine heldenhafte Befreiung konnte Michael nämlich trotz Angelos neu erwachter Kräften nicht so recht glauben. „Das werden wir herausfinden, wenn wir da sind“, beantwortete Gabriella seine Frage. „Und wenn nicht?“ Michael schmeckte das alles ganz und gar nicht. Er wollte Gabriella und Angelo nicht dieser Gefahr aussetzen. „Was ist, wenn wir alle dabei draufgehen?“ Gabriella lächelte. „Nun, dann werden wir das Ende der Welt wohl verpassen. Also hörst du jetzt endlich auf zu nörgeln und steigst ein?“ Michael sah ein, dass er verloren hatte. Gabriella hatte das Ende der Welt auf ihrer Seite. Dagegen ließ sich nur schlecht argumentieren. Seufzend wandte er sich dem Auto zu, als er sich plötzlich beobachtet vorkam. Er blickte sich um und bemerkte einen Hund, der am Ende der Auffahrt saß und ihn mit hängenden Ohren ansah. Das Tier war dürr und ziemlich hässlich. Ein typischer Straßenköter mit geschecktem Fell und herausstehenden Rippen. Michael trat einen Schritt auf ihn zu und machte eine scheuchende Bewegung mit den Armen. „Los, verschwinde von da. Wir überfahren dich sonst.“ Er machte Anstalten, wieder zum Auto zurückzugehen, doch statt sich zurückzuziehen, kam der Hund noch etwas näher und fing an mit dem dünnen Schwanz zu wedeln. Michael seufzte. „Ich hab nichts für dich. Los, mach, dass du wegkommst.“ „Was ist denn los?“, wollte Angelo wissen. Er trat an Michael vorbei und entdeckte den Hund auf der Auffahrt. „Oh, ein Streuner.“ Die Art und Weise, wie er das sagte ließ Michael wieder an sein Gespräch mit Gabriella denken, als er Angelo in ihr Bett gelegt hatte. Einen Streuner hatte sie ihn genannt. War das wirklich nicht mal eine Woche her? Angelo ging in die Hocke und streckte die Hand aus. „Hey“, sagte er leise. „Na du.“ „Sei vorsichtig, dass er dich nicht beißt“, warnte Michael ihn und betrachtete neidisch, wie der Hund an Angelos Fingern schnüffelte. „Dass wer ihn nicht beißt?“ Gabriella hatte das Fenster heruntergelassen und sah sich neugierig um. „Der Hund.“ „Welcher Hund?“ Sie konnte den Streuner von ihrem Platz aus vermutlich nicht erkennen. Also stieg sie wieder aus und besah sich die Szene, die sich ihr und Michael bot. Da saß Angelo und streichelte den vermutlich hässlichsten Köter, den Michael je gesehen hatte. Und er hatte dabei ein Lächeln auf dem Gesicht. „Siehst du, er beißt nicht“, rief er und grinste Michael an. „Hat er sich bei einem Engel wohl nicht getraut.“ Angelo verzog das Gesicht. „Ich bin momentan keiner, schon vergessen? Und er mag mich trotzdem. Ansonsten wäre das vermutlich auch keine Kunst.“ „Warum? Hast du noch mehr versteckte Engelsfähigkeiten auf Lager, von denen du uns noch nichts erzählt hast? So wie die Sache mit der Schwertbeschwörung zum Beispiel.“ Angelo seufzte und richtete sich wieder auf. „Das sollten wir vielleicht besser auf dem Weg besprechen.“ Er sah hinunter zu dem Hund, der mit traurigen Augen zu ihm aufsah und leise winselte. Jetzt trat er näher und kratzte mit der Vorderpfote an seinem Bein. Anscheinend mochte er Angelo gern. Michael konnte es ihm nicht verdenken. Trotzdem versetzte ihm der Anblick einen Stich. Er wusste selbst nicht genau wieso. „Na los, steig ein“, sagte er knapp und öffnete die Tür für Angelo, sodass dieser wieder auf dem Rücksitz Platz nehmen konnte. Michael wollte die Tür gerade wieder schließen, als er sah, dass der Hund Angelo gefolgt war. Auch er steuerte schnurstracks auf den Wagen zu. „Hey, stopp! Dich hab ich nicht gemeint“, rief Michael mit einem Lächeln und klappte die Tür vor der Nase des Hundes zu. Das Tier senkte den Kopf und blickte ihn von unten herauf an. „Och komm schon, nun schau nicht so traurig. Ab nach Hause mit dir. Na los! Husch!“ Er klatschte in die Hände, um den Hund zu vertreiben, doch der sah ihn nur weiterhin an. Wieder begann das Tier, mit dem Schwanz zu wedeln. Michael riss sich von dem Anblick los, stieg ein und schloss die Tür. Er legte die Hände an das Steuer. „So, alle fertig?“ „Natürlich“, antwortete Gabriella mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht. „Was?“, fragte Michael gereizt. „Ach nichts“, entgegnete sie und ihr Schmunzeln wurde breiter. Auch Angelo schien irgendetwas total komisch zu finden. Michael konnte im Rückspiegel sehen, wie er grinste. Wütend startete Michael den Wagen und ließ ihn langsam rückwärts von der Einfahrt rollen. Als sie an dem Hund vorbeikamen, blickte er stur geradeaus. Das hinderte das Tier jedoch nicht daran, ihn geradewegs anzusehen, während es total verloren auf der riesigen Einfahrt saß. Es ließ wieder die Ohren hängen und guckte traurig. Michael ließ den Wagen anhalten. Er starrte den Hund an. „Er kann nicht mitkommen“, sagte er entschieden. „Natürlich nicht“, antwortete Gabriella. „Er ist bestimmt krank und voller Flöhe.“ „Bestimmt.“ „Er wird lauter Haare auf dem Sitz hinterlassen und ins Auto kotzen.“ „Vermutlich.“ „Außerdem gehört er bestimmt jemandem.“ „Genau. So hässliche Köter gehören meist in irgendeine sehr nette Familie, wo sie es gut haben und den ganzen Tag gestreichelt werden.“ Michael umklammerte das Steuer so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Sein Blick war immer noch auf den Hund gerichtet, der jetzt langsam auf das Auto zukam. Er begann wieder mit dem Schwanz zu wedeln. „Ich wollte schon immer einen Hund“, sagte Michael leise. Gabriella legte ihm die Hand auf den Oberschenkel. „Ich weiß, Schatz. Aber wir konnten nie einen haben, weil wir viel zu oft außer Haus sind.“ „Wir sind jetzt auch außer Haus.“ „Ja, das sind wir.“ „Aber einige Hunde fahren gern Auto.“ „Das tun sie.“ „Ich will ihn mitnehmen.“ In diesem Moment fingen Gabriella und Angelo beide an zu lachen. Michael runzelte die Stirn. „Was ist so witzig daran?“ „Dass wir beide das von Anfang an gewusst haben“, erwiderte Angelo lachend. „Du hattest diesen Blick drauf. Den, den du immer hast, wenn du etwas haben willst.“ „Gar nicht“, murrte Michael. „Außerdem ist das vielleicht die letzte Gelegenheit für einen Hund. Die Welt geht unter, oder nicht? Warum sollen wir nur total gefährliche Dinge tun. Lasst uns doch auch was Nettes machen und diesem kleinen Hundchen ein paar schöne, letzte Tage machen. Ich wette, er hat noch nie italienische Salami gefressen.“ Er stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die hintere Tür auf der Beifahrerseite. Auffordern sah er den Hund an. „Nun komm schon, steig ein.“ Das ließ sich das Tier nicht zweimal sagen. In Windeseile sprintete es über die Straße, hopste auf den Sitz und sah ihn scheinbar dankbar an. Michael streckte die Hand aus und kraulte ihn hinter den Ohren. „Na Kleiner. Kommst du mit die Welt retten?“ Der Hund bellte zustimmend und Michael schloss lachend die Tür, bevor er sich wieder ans Steuer setzte. „Dann mal auf nach El Paso. Mexiko wir kommen.“ Auf dem Rücksitz gab der Hund einen eigenartigen Laut von sich. Es klang fast, als hätte er sich verschluckt. Michael sah im Rückspiegel, wie Angelo sich dem Tier zuwendete. „Alles in Ordnung mit dir?“ Der Hund winselte leise, bevor er es sich auf dem Sitz bequem machte und den Kopf auf die Pfoten legte. Er schien müde zu sein. Nun, dann macht er wenigstens keine Probleme, dachte Michael, bevor er endlich losfuhr. Es fühlte sich gut an, das Richtige zu tun.         Die Meilen flogen förmlich vorbei, während Michael den Wagen immer weiter nach Süden steuerte. Gabriella hatte ihm angeboten, dass sie ihn ablösen würde, wenn er müde wurde, aber bis jetzt hatte er bis auf einen Kaffee nicht nach einer Pause verlangt. Angelo war kurz nach dem Losfahren eingeschlafen und auch ihr vierbeiniger Gast schnarchte leise vor sich hin. Gabriella wusste nicht, ob es wirklich klug gewesen war, das Tier mitzunehmen, aber Michael hatte so glücklich darüber ausgesehen, dass dieser Flohfänger sie begleiten durfte, dass sie einfach nicht hatte Nein sagen können. Jetzt waren sie also zu viert unterwegs. „Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, wie wir rüberkommen?“, fragte sie, während draußen das Spanish Valley an ihnen vorbeizog. „Die Grenze dort ist gut gesichert und soweit wir wissen, stehen wir immer noch auf der Fahndungsliste.“ Michael seufzte. „Keine Ahnung. Wenn wir da sind, werden wir uns etwas einfallen lassen. Vielleicht hat Angelo ja noch etwas Engelmäßiges in petto. Er hat doch gesagt, er habe jetzt, nachdem er diesen anderen Engel gesehen hat, die Erinnerungen über seine Fähigkeiten zurückerhalten.“ Gabriella schwieg für eine Weile. „Was meinst du, wer ihn geschickt hat?“, nahm sie das Gespräch schließlich wieder auf. Michael blickte kurz zu ihr, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. „Was meinst du?“ „Na ja, denkst du es könnte sein, dass ihn doch Gott persönlich geschickt hat, damit er Armageddon aufhält? Wäre das möglich?“ Michael überlegte einen Augenblick, bevor er den Kopf schüttelte. „Das glaube ich nicht. Wenn ich Angelo richtig verstanden habe, ist er doch derjenige, der das Ganze überhaupt erst angeordnet hat. Wenn es etwas gegeben hätte um es aufzuhalten, hätte er doch einfach einen seiner richtigen, großen Engel geschickt, um die Bedrohung abzuwenden. Das hat er schließlich früher schon getan, wenn ich das richtig verstanden habe. Oder er hätte Agent Hawthorne und seine Kollegen damit beauftragt. Die waren doch immerhin da, um die Erde zu beschützen. Außerdem …“, Michael stockte kurz, „außerdem ist Angelo doch gefallen. Auch dieser Agent hat es gesagt. Er ist definitiv gegen Gottes Willen auf die Erde gekommen.“ „Aber auf wessen Befehl?“ Michael zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber wenn er Angelo dazu bringen konnte, diesen Auftrag anzunehmen, muss er ziemlich einflussreich oder überzeugend gewesen sein.“ „Du meinst einen der Erzengel?“ „Vermutlich. Wenn das die sind, die nach Gott da oben das Sagen haben, würden sie auf meiner Liste ganz oben stehen.“ Gabriella sah weiter aus dem Fenster, bevor ihr Blick zum Himmel glitt. Über ihnen war nichts außer einer großen, blauen Weite zu sehen. Wenn du uns da oben hörst … Angelo könnte wirklich deine Hilfe gebrauchen. Wir könnten deine Hilfe gebrauchen. Also tu was, damit das hier nicht alles umsonst war.   Kurz nach dem Mittagessen in einem Diner in Shiprock übernahm Gabriella das Steuer, während Michael zu „Spike“ auf die Rückbank kletterte und Angelo auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Eigentlich hatte Gabriella erwartet, dass der Hund sich aus dem Staub machte, nachdem sie ihn vor dem Restaurant nach draußen gelassen hatten. Aber als sie nach dem Essen wieder herausgekommen waren, hatte er bereits neben dem Wagen gewartet. Das war der Moment gewesen, in dem Michael beschlossen hatte, ihm einen Namen zu geben. Gabriella war mit seiner Wahl nicht einverstanden. „Ich finde nicht, dass 'Spike' zu ihm passt. Mich erinnert er eher an 'Knecht Ruprecht' von den Simpsons.“ „Aber du hasst die Simpsons“, meinte Michael und kraulte den Hund hinter den Ohren. „Stimmt“, gab sie zu. „Dann also doch 'Spike'.“ Als sie den Wagen zurück auf die Straße lenken wollte, fiel ihr Blick auf ein Schild. Es wies die alte und die neue Straßennummerierung eines Highways aus, der direkt nach Süden führte. Gabriella grinste, als sie die Zahlen sah. „Na, was meint ihr? Trauen wir uns, den 'Devil’s Highway' runterzufahren?“ „Wovon sprichst du?“, wollte Michael wissen. Gabriella deutete aus dem Fenster. „Route 491, ehemals 666. Die Zahl des Teufels.“ Angelo machte ein etwas merkwürdiges Gesicht, nickte dann aber und auch Michael war einverstanden, sodass Gabriella von der vom Navigationsgerät vorgesehenen Route abwich und der Straße folgte, die sie an der beeindruckenden Felsformation vorbeiführte, die Shiprock seinen Namen gegeben hatte. Um den gewaltigen Felsen, der die Form zweier großer, steinerner Flügel hatte, rankten sich viele Legenden, wenngleich auch nicht so viele wie um ihr eigentliches Reiseziel auf der anderen Seite der Grenze. „Wird das alles kaputtgehen?“, fragte sie an Angelo gewandt und deutete auf die Felsen, die einsam inmitten einer flachen Wüstenlandschaft standen. Er hatte die Füße auf den Sitz gezogen und blickte ebenfalls hinaus. „Keine Ahnung“, sagte er leise. „Aber ich nehme es an. Die Kräfte eines Engels sind … gewaltig. Wenn unzählige von ihnen auf die Dämonen treffen, die ihnen am Macht kaum nachstehen, wird das die Welt bis in die Grundfesten erschüttern. Ich befürchte, es wird kaum ein Stein auf dem anderen bleiben.“ Nicht unbedingt beruhigt beschleunigte Gabriella den Wagen ein wenig, sodass sie am obersten Ende des Tempolimits entlangschrammte. Je eher sie nach Mexiko kamen, desto besser.       Es war bereits später Abend, als endlich die Tür des Motels am Stadtrand von El Paso hinter ihnen zufiel. Michael fühlte sich, als hätte er Blei in den Knochen. Zwar hatte auch er genau wie die anderen im Auto ein wenig geschlafen, aber die lange Fahrt hatte trotzdem ihre Spuren hinterlassen. Er streckte sich und ließ sich dann auf eines der Betten fallen. Wenn er nicht gewusst hätte, dass es nicht sein konnte, hätte er behauptet, wieder genau in dem gleichen Motel wie in Vegas zu sein. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die Betten hier geblümte Tagesdecken hatten und die Klimaanlage noch lauter ratterte. „Ich gehe zuerst ins Bad“, verkündete Gabriella und war bereits verschwunden, bevor Michael oder Angelo protestieren konnten. Allerdings sah Angelo auch nicht aus, als habe er das nötig. Er wirkte frisch und ausgeruht. „Du hast es neuerdings drauf mit der Engelei, oder?“, witzelte Michael und zog ihn näher, um ihm durch das Haar zu streichen. „Du siehst gut aus.“ Angelo erwiderte sein Lächeln. „Ich glaube nicht, dass das daran liegt. Ich glaube, das liegt eher an dir.“ „An mir?“ Michael blinzelte verblüfft. „Ja, an dir. Du gibst mir Kraft.“ Michael sah Angelo einen Moment lang in die endlos blauen Augen, bevor er sich vorbeugte und ihre Lippen zusammenführte. Er bildete sich ein, noch Angelos Abendessen an ihm schmecken zu können, aber irgendwo unter dem Nachhall der fettigen Pizza war auch Angelos ganz eigener Geschmack wahrnehmbar. Michael vertiefte den Kuss, um mehr davon zu bekommen. Plötzlich unterbrach sie ein Jaulen. Michael setzte sich auf und sah, dass Spike sie beobachtete. Er winselte leise und ließ die Ohren hängen. „Was ist los, Kumpel? Bist du etwa eifersüchtig?“ Michael lachte und streckte die Hand aus, aber Spike kam nicht näher, sondern wedelte nur ein wenig mit dem Schwanz, bevor er zur Tür ging und dort kratzte. Michael ließ Angelo auf dem Bett zurück und ging hinüber zu ihrem vierbeinigen Reisegefährten. „Musst du nochmal raus?“, fragte er und lächelte leicht. „Na schön. Wir wollen ja nicht riskieren, dass uns der Manager rauswirft, nur weil du die nicht vorhandenen Zimmerpflanzen gegossen hast.“ Spike winselte leise und kratzte wieder. Als Michael die Tür einen Spalt breit öffnete, schlüpfte er sofort hinaus. Draußen blieb er stehen und sah sich nach Michael um. „Na los“, sagte der und lachte. „Geh ruhig. Ich hoffe nur, du bist rechtzeitig wieder da, bevor wir aufbrechen. Du willst doch mit nach Mexiko, oder?“ Spike bellte zustimmend. „Na dann.“ Michael lachte noch einmal und schüttelte den Kopf „Vielleicht hätte ich dich doch 'Knecht Ruprecht' nennen sollen. Dann hättest du jetzt deinen Boss, den Weihnachtsmann, bitten können, ob er uns nicht mit seinem Schlitten über die Grenze bringen kann. Aber so müssen wir uns wohl was anderes ausdenken.“ Er schloss die Tür und drehte sich zu Angelo herum, der immer noch auf dem Bett lag und ihn belustigt anfunkelte. „Wenn du so weitermachst, muss ich vielleicht eifersüchtig werden.“ „Auf Spike? Bestimmt nicht. Mit ihm würde ich das hier nämlich nicht machen.“ Mit diesen Worten warf sich Michael auf das Bett, das unter dem plötzlichen Gewicht protestierend aufquietschte, und fiel über Angelo her, um ihn so lange zu küssen und zu kitzeln, bis der lachend aufgab und sich schließlich schweratmend an Michael schmiegte. „Wir werden es schaffen“, sagte Angelo und küsste Michael mitten auf den Mund. „Mach dir keine Sorgen.“ „Mache ich gar nicht“, erwiderte Michael mit einem Lächeln. Das war nur ein Stück weit gelogen. Momentan beschäftigte ihn vor allem die Frage, wie sie es unentdeckt über die Grenze schaffen würden. Zwar rechneten die Wachposten wohl eher mit illegalen Einwanderern als mit flüchtigen US-Bürgern, aber man konnte nie wissen. Aber am besten verschob er dieses Problem erst einmal auf Morgen. Wenn sie die Lage bei Tageslicht sondiert hatten, würde ihnen schon etwas einfallen. „Lass uns schlafen gehen“, sagte er daher und begann Angelos Hose aufzuknöpfen. „Danach sieht die Welt bestimmt schon wieder ganz anders aus.“ „Du willst nur, dass ich mich ausziehe“, frotzelte Angelo grinsend und half Michael, ihn aus dem engen Kleidungsstück zu befreien. „Vielleicht“, antwortete Michael in dem gleichen spielerischen Tonfall, bevor er Angelos Mund zu einem neuen Kuss eroberte. Wer wusste schließlich, wie viel Zeit ihnen noch blieb.     Michael erwachte von einem Laut. Es war ein Klirren und Klappern. Im nächsten Augenblick flammte das Licht im Zimmer auf und er sah sich einer kleinen, braunhäutigen Frau gegenüber, die ihn mit großen Augen anstarrte. „Ay, Dios mío!“, rief sie und ließ vor Schreck fast ihren Besen fallen. „Entschuldigung. Ich gedacht, Zimmer frei.“ Die Frau in der blauweißen Uniform sprach mit einem starken Akzent, der Michael vermuten ließ, dass ihr Spanisch weit besser war als ihr Englisch. Sie machte Anstalten, sich wieder zurückzuziehen, als Angelo sich ebenfalls aus den Kissen erhob. Die Augen der Frau wurden noch größer. Ob das nun an Angelo selbst lag oder an der Tatsache, dass hier gerade zwei Männer zusammen im Bett lagen, vermochte Michael nicht zu beurteilen. Das Kreuzzeichen, das sie schnell vor der Brust schlug, sprach irgendwie für beides. „Ich viel Entschuldigung. Nicht gewusst. Nicht erzählen Chef, por favor. Ich brauche Arbeit. Meine Kinder in México sonst kein Essen.“ Gabriella, die durch den Lärm inzwischen ebenfalls geweckt worden war, lächelte die Reinigungskraft vom anderen Bett aus an. „Keine Sorge, wir verraten nichts.“ Die Frau, deren Namensschild sie als „Maria“ auswies, erwiderte das Lächeln. „Danke vielmals. Sie morgen noch hier? Ich machen Zimmer extra sauber für Sie.“ Gabriella schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank. Wir reisen morgen wieder ab.“ Maria nickte eifrig. „Ich wünsche gute Reise. Wohin fahren?“ „Nach Mexiko“, gab Michael bereitwillig zur Auskunft. Wie er erwartet hatte, fing Maria daraufhin an zu strahlen. Sie wünschte ihnen einen schönen Aufenthalt in ihrem Heimatland und begann dann umständlich, ihre verstreuten Putzutensilien einzusammeln, während sie sich immer wieder entschuldigte. Als Angelo sich plötzlich erhob, wollte Michael ihn zunächst aufhalten. Doch Angelo ließ sich von seinem Protest nicht beirren. Er ging zu Maria, der beim Anblick des halbnackten, jungen Mannes gleich wieder ein Teil ihrer Sachen aus den Händen fiel, und lächelte sie freundlich an. „Maria?“, fragte er und sie nickte stumm. „Te podemos pedir un favor?“ Ihr blieb vor Staunen der Mund offenstehen, als Angelo anfing, ihr in perfektem Spanisch zu erklären, dass sie über die Grenze mussten und das möglichst unerkannt und ob sie wohl jemanden kennen würde, der ihnen dabei helfen konnte. Zumindest nahm Michael an, dass Angelo das fragte. Er selbst verstand nämlich kaum ein Wort von dem, was dort aus Angelos Mund sprudelte. Als Angelo fertig war, ähnelte Maria einer Eule. Sie starrte ihn nur an und schien nun auch ihre Muttersprache vollkommen verloren zu haben. Als doch wieder Leben in sie kam, sah sie zuerst zu Gabriella und dann zu Michael. Dabei murmelte sie etwas, das Michael nicht verstand, Angelo aber zum Lachen brachte. „Was hat sie gesagt?“ „Sie hat gemeint, dass sie uns helfen wird. Und dass sie gerne irgendwann einmal die Geschichte erfahren möchte, die hinter diesem Abenteuer steckt.“ Michaels Augenbrauen wanderten ein Stück nach oben. „Wenn sie weiß, was gut für sie ist, bleibt sie lieber unwissend. Aber du sagtest, sie kann uns helfen?“ Angelo nickte. „Maria kennt jemanden, der uns über die Grenze bringen kann. Wir müssten aber sofort los.“ Es dauerte einen Augenblick, bis Michael begriff, das gerade ein kleines Wunder geschehen war. Sie hatten es geschafft. Sie würden tatsächlich über die Grenze kommen und dann … nun ja, darüber würde er sich dort Gedanken machen. „Na schön“, brummte er und erhob sich ebenfalls, was Maria mit einem weiteren, neugierigen Blick verfolgte. „Machen wir uns also auf den Weg.“   Es dauerte nicht lange, bis sie mit Maria zusammen auf einem unbeleuchteten Parkplatz standen. „Ihr warten. Ich schicken Freund von meine Mann. Er euch bringen über Grenze.“ „Das ist wirklich freundlich von dir, Maria“, sagte Gabriella. Die Frau winkte ab. „Ah, de nada! Ich gern gemacht. Ihr warten, ja?“ Sie lächelte ihnen noch einmal freundlich zu und war verschwunden, bevor Michael sich ebenfalls bedanken konnte. Während sie so dastanden, kamen ihm auf einmal Bedenken. Was, wenn sie sie entführen und ausrauben wollten? Er wollte seinen Verdacht gerade laut äußern, als auf einmal ein vierfüßiger Schatten auf ihn zulief. Als er näherkam, lachte Michael verblüfft auf. „Hey, Spike, alter Junge. Woher wusstest du, dass wir hier sind?“ Der Hund winselte leise und stupste ihn mit der Schnauze gegen das Bein. Michael lehnte sich zu ihm herunter und streichelte ihm über den Kopf. „Ist ja gut. Ich hab dich auch vermisst.“ Er wollte noch mehr sagen, als ihm eine tiefe, männliche Stimme zuvorkam. „Ah, da sind ja meine Fahrgäste.“ Der Mann, der aus dem Dunkel trat, war zwar nicht so groß wie Michael, aber ebenso breit gebaut, was ihn ein bisschen untersetzt wirken ließ. Er hielt Michael seine riesige Pranke hin. „Ich bin José“ stellte er sich vor. „Ich bin heute Nacht Ihr Fahrer, wie man so schön sagt.“ Er lachte dröhnend und schüttelte anschließend auch Angelo die Hand, der danach ein Gesicht machte, als hätte der bullige Mexikaner sie ihm fast zerdrückt. Angelo warf Michael einen Blick zu, der sowohl Spott wie auch eine Bitte um Entschuldigung enthielt. Anscheinend war ihm dieser Typ ähnlich suspekt wie Michael. Gabriella hingegen schien ihre Bedenken nicht zu teilen und ließ sich von José zu dessen Lieferwagen begleiten. Als er diesen öffnete, schlug Michael ein bestialischer Gestank entgegen. „Was ist das?“, keuchte er und legte schnell den Arm vor das Gesicht. „Criadillas“, gab José zur Auskunft. „Stierhoden. Ich hole sie hier vom Schlachthaus und bringe sie nach drüben zu einem Vetter. Der macht daraus ganz hervorragende Tacos. Sollten Sie unbedingt probieren.“ „Ähm, ja, danke.“ Michael war sich nicht sicher, ob er das wollte. José grinste, als er sein Gesicht sah. „Der Geruch stammt nicht vom Fleisch, sondern von dem Eimer mit … wie sagt man … Penissen. Sie sind noch nicht gereinigt, daher der Geruch.“ „Essen Sie die etwa auch?“ Die Frage war Michael entschlüpft, bevor er es verhindern konnte. José lachte. „Nein, die trocknen wir und verfüttern sie an die Hunde. Fragen Sie mal ihren kleinen Freund da. Er würde sicherlich gerne mal nähere Bekanntschaft mit so einem Ochsenziemer machen.“ Spike reagierte mit einem leisen Knurren auf die Ansprache. Dabei fixierte er José mit den Augen, als hätte er jedes Wort verstanden. Der schien das nicht zu bemerken, sondern fügte nur mit einem Grinsen hinzu: „Die amerikanischen Grenzer sind von meiner Fracht meist ebenso wenig begeistert wie Sie, Señor. Deswegen schauen sie fast nie nach der Ladung. Aber für den Fall dachte ich mir, dass ein bisschen Gestank sie bestimmt von einer allzu gründlichen Kontrolle abhalten wird. Wenn Sie sich da hinten verstecken, sind Sie sicher wie in Abrahams Schoß.“ „Verstanden“, murmelte Michael. „Das klingt ja beruhigend.“ Er bestieg den müffelnden Lieferwagen als Erster und nahm neben den Styroporkisten Platz. Gabriella setzte sich neben ihn und Angelo arrangierte sich ihnen gegenüber. Als Spike sich anschickte, ebenfalls auf die Ladefläche zu springen, stellte José sich ihm in den Weg. „Tut mir leid, aber du kannst nicht mit. Wenn du an der Grenze auf einmal anfängst Krach zu schlagen, sind wir alle dran.“ „Er wird bestimmt ganz brav bleiben“, versprach Michael, aber Gabriella legte ihm die Hand auf den Arm. „Michael. Du hast doch gewusst, dass er nicht mitkommen kann“, sagte sie sanft. Michael seufzte. Natürlich hatte er es geahnt, aber irgendwie hatte er gedacht, dass sie noch mehr Zeit hätten.Er krabbelte noch einmal nach vorne und sah Spike zerknirscht an. „Tut mir leid, Kumpel. Hier ist wohl tatsächlich Endstation für dich.“ Er streckte die Hand aus, aber Spike kam nicht zu ihm, um sich streicheln zu lassen. Michael seufzte noch einmal. „Mach’s gut und pass auf dich auf, ja? Schön vom Hundefänger fernhalten.“ Er warf Spike noch einen letzten, entschuldigenden Blick zu, bevor er sich wieder auf seinen Platz setzte. José schob die Kisten so zurecht, dass man sie bei einer flüchtigen Inspektion nicht sofort sehen konnte und rief ihnen zu: „Alles klar, ich fahre jetzt los. Wenn wir aus Ciudad Juárez raus sind, können Sie wieder aussteigen. “ Er schloss die Türen und Michael saß zusammen mit den anderen im stinkenden Dunkel. „Das ist wirklich die am wenigsten heldenhafte Rettungsmission, die ich je erlebt habe.“ „Aber wir kommen so über die Grenze, ohne jemanden zu verletzen oder selbst verletzt zu werden“, antwortete Angelo. „Und was ist mit meinen Geruchsnerven?“, fragte Gabriella. „Die fühlen sich höchst verletzt an. Und dunkel ist es auch noch.“ „Soll ich Licht machen?“ Angelo wollte anscheinend seine Rüstung aktivieren, aber Michael winkte ab. „Spar dir deine Kräfte lieber. Die werden wir später noch brauchen.“   Die Fahrt mit dem Lieferwagen verlief tatsächlich genauso ereignislos, wie José angekündigt hatte. Nachdem er an der Grenze seine Papiere vorgezeigt hatte und sein Auto äußerlich kontrolliert worden war, winkten ihn die Grenzbeamten einfach durch. Als der Wagen wieder anfuhr, atmeten sie alle drei auf. „Wir haben es geschafft“, flüsterte Gabriella und drückte Michaels Hand. „Tja, ich fürchte nur, dass das hier der angenehme Teil der Reise war“, gab Michael finster zurück.   Tatsächlich dauerte es noch eine ganze Weile, bis José anhielt und die Türen des Lieferwagens sich wieder öffneten. Als sie ausstiegen, holte Michael zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig Luft. Um sie herum waren keinerlei Häuser oder gar Straßenlaternen zu sehen. Nur Josés Zähne blitzten im Dunkeln auf. „Willkommen in México“, sagte er. „Darf ich fragen, wo die Reise von hier aus hingehen soll?“ Michael sah die anderen beiden an. Im spärlichen Licht der hinteren Fahrzeugbeleuchtung waren sie nicht viel mehr als schattenhafte Umrisse. „Wir wollen in die 'Zona del Silencio'“, antwortete er dann, obwohl er sich nicht sicher war, ob es eine gute Idee war, das zu verraten. Allerdings war José bisher mehr als hilfreich gewesen. Der bullige Mexikaner pfiff durch die Zähne. „Das ist noch ein ganz schön weiter Weg. Verraten Sie mir, wie Sie da hinkommen wollen?“ „Wir …“ Michael stockte. Sie hatten den Wagen auf der anderen Seite zurücklassen müssen. Vermutlich würden sie hier erneut ein Auto mieten müssen. Bis zu ihrem Ziel war es noch fast eine Tagesreise. „Na, Amigos, ich sehe schon, ihr seid gestrandet wie Fische in der Wüste. Wenn ich euch anbieten darf, mich noch etwas zu begleiten? Ich fahre in die richtige Richtung und könnte euch noch ein Stück mitnehmen.“ „Wieder zurück in dieses Loch?“, rief Gabriella aus. „Ohne mich. Da laufe ich lieber.“ Wieder brach José in schallendes Gelächter aus. „Dann, Señora, sollten Sie vielleicht lieber vorne bei mir sitzen. Ich verspreche auch, mich ganz anständig zu benehmen.“ Er zwinkerte Gabriella zu. Michael war nicht wohl bei dem Gedanken, Gabriella allein bei diesem fremden Mann sitzen zu lassen. Andererseits standen sie hier mitten in der Nacht irgendwo im Nirgendwo. Da durften sie nicht wählerisch sein. „Na gut“, willigte er ein und machte sich bereit, erneut eine lange Zeit zwischen den stinkenden Kisten auszuharren. Diese Nacht würde definitiv eine sehr, sehr lange Nacht werden.       „Soll ich Musik anmachen?“ José sah zu Gabriella hinüber, doch die schüttelte nur mit dem Kopf. „Gut, wie Sie wollen.“ Sie fuhren eine Weile durch die Nacht, bevor José wieder das Wort ergriff. „Ich bin neugierig, Señora. Was wollen sie drei ausgerechnet in der 'Zona del Silencio'? Für einen einfachen Ausflug scheint mir das Ganze ein wenig zu … mysteriös.“ Gabriella überlegte, wie sie am besten darauf antwortete. Sie mussten wohl kaum fürchten, dass José sie verriet. Immerhin hatte er sie gerade illegal über die Grenze gebracht. „Wir suchen jemanden“, gab sie schließlich zu. „Ein Freund von uns ist in der Gegend verschwunden und wir wollen ihn wiederfinden.“ „Ein Freund, mhm? Da bin ich ja beruhigt, dass euch Amerikanern nicht wieder eine Rakete dort verloren gegangen ist.“ José lachte dröhnend, bevor er erneut ernst wurde. „Die 'Zona del Silencio' ist wirklich eine merkwürdige Gegend. Ich war selbst noch nie dort, aber man erzählt sich, dass Uhren dort stehen bleiben, Handys und Radios nicht mehr funktionieren, dass sich die Steine von selbst bewegen und eigenartige Kreaturen dort unterwegs sind. Manchmal wird es nachts auch taghell oder kleine Lichter verfolgen die Autos, die am Rand der Wüste entlangfahren. Die verrückteste Geschichte ist jedoch die von den drei Fremden, die dort angeblich immer wieder gesichtet werden. Es handelt sich um eine Frau und zwei Männer. Alle blondhaarig wie ihr hübscher Freund und in seltsamer Kleidung unterwegs. Es heißt, sie besuchen immer wieder einen bestimmten Bauernhof, um dort um Wasser zu bitten. Einmal soll einer der Stallburschen sie gefragt haben, woher sie kommen. Und wissen Sie, was sie geantwortet haben?“ Als Gabriella verneinte, grinste José sie an. „Von oben.“ José verfiel wieder in sein lautes Gelächter, doch Gabriella war bei seinen Worten kalt geworden. Gleichzeitig liefen ihr heiße Schauer über den Rücken. Alles, was er gerade erzählt hatte, sprach dafür, dass sie wirklich auf der richtigen Fährte waren. Und da war noch etwas. Was, wenn es sich bei diesen eigenartigen Fremden tatsächlich um Engel handelte, wie Gabriella vermutete? Ob sie noch dort waren? Vielleicht konnten sie sie um Hilfe bitten. „José“, sagte sie langsam. „Dieser Bauernhof, von dem Sie sprachen. Wissen Sie, wo der ist?“ „Natürlich. Ich könnte Sie hinbringen, wenn Sie wollen.“ „Aber Ihr Fleisch ...“ „Das laden wir vorher aus, kein Problem. Ihre Geschichte klingt aufregend, Señora, und ich könnte ein kleines Abenteuer vertragen. Außerdem wirken Sie auf mich, als könnten Sie gerade alle Hilfe brauchen, die Sie bekommen können.“ Er lächelte Gabriella an und die erwiderte sein Lächeln. Er wirkte wie ein ehrlicher, rechtschaffener Mann. Außerdem brauchten sie tatsächlich ein Fahrzeug, denn bis zu ihrem Ziel war es noch fast eine Tagesreise. „Also schön“, antwortete sie schließlich mit einiger Verspätung. „Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht, nehmen wir Ihr Angebot gerne an. Aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie uns nicht begleiten. Was wir vorhaben, könnte gefährlich werden und ich möchte nicht, dass Ihnen etwas passiert.“ José nickte. „Keine Sorge, Señora. Ich passe schon auf mich auf. Ich bringe Sie zu diesem Bauernhof und dann sehe ich zu, dass ich mich aus dem Staub mache, bevor mich irgendwelche Teufel von dort erwischen können.“ Gabriella lachte, doch in ihren Ohren klang es ebenso falsch, wie es war. Josés Worte hatten ihr ins Bewusstsein gerufen, was sie gerade im Begriff waren zu tun und sie war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie mit diesem Unterfangen wirklich Erfolg haben würden. Alles, was ihnen blieb, war die Hoffnung nicht zu verlieren.   Kapitel 25: Bittere Wahrheit ---------------------------- Alejandro fühlte das Ziehen der Beschwörung schon, bevor seine Umgebung um ihn herum verschwamm und sich im nächsten Augenblick die steinernen Mauern der Ankunftshalle um ihn herum materialisierten. Womit er nicht gerechnet hatte war sein Meister, der dort neben Ernie stand und ihm höchst persönlich den Empfang bereitete. Das war noch nie vorgekommen. Unsicher wie er sich jetzt verhalten sollte, senkte er den Blick, verzichtete jedoch auf den üblichen Kniefall. Das würde ihn vermutlich teuer zu stehen kommen, aber anhand der Tatsache, dass sie nicht allein waren, wollte er sich nicht die Blöße geben, sich derart unterwürfig zu zeigen. Den treuen Hund hatte er in den zurückliegenden Stunden nur allzu überzeugend spielen müssen.   „Alejandro.“ Die Stimme seines Meisters war sanft wie immer, doch Alejandro spürte die geflochtene Lederschnur der Peitsche bereits über seinen Rücken gleiten. Hörte, wie sein Herr sie nur mit Hilfe dieses einen Wortes fallen ließ, sodass sie sich zu seinen Füßen entrollte und ihm fürchterliche Schmerzen androhte, sollte er die Fragen, die sein Herr offenbar an ihn hatte, nicht zu dessen Zufriedenheit beantworten können. „Ihr habt mich rufen lassen.“ „In der Tat.“ Ein feines Lächeln umspielte die perfekten Lippen seines Herrn. Alejandro erinnerte sich bei dem Anblick daran, wie dieser Mensch und der Engel sich vor seinen Augen geküsst hatten. Es hatte so … innig ausgesehen. Er hatte sich fast übergeben müssen. „Ist dir eigentlich bewusst, dass ich bereits seit mehreren Tagen darauf warte, dass du mir endlich den versprochenen Engel lieferst? Und als ich mich höflich danach erkundigen will, bist du nicht da. Ich frage also in höchster Sorge unseren lieben Ernie hier nach deinem Verbleib und er erzählt mir, dass du nicht nur vor einigen Tagen mit Dingen aus meinem persönlichen Besitz von hier fortgeschlichen bist, nein, er verrät mir ebenfalls, dass du bereits vor zwei Nächten mit einem Ahool von hier aufgebrochen bist, das Tier aber heute Nacht ohne dich zurückkam. Und all das ohne einen Rapport oder gar eine Entschuldigung für deinen frechen Diebstahl. Das, mein lieber Alejandro, hat mich doch ziemlich erzürnt und ich muss dir sicherlich nicht erklären, was das bedeutet, oder?“ Alejandro schüttelte den Kopf ohne aufzusehen. Nein, was das bedeutete, musste ihm niemand erklären. Es bedeutete Bestrafung, Schmerzen, Hunger, vielleicht sogar den Tod. Wenn sein Herr gnädig war. Doch gerade jetzt war es wichtig, dass der ihm noch ein wenig länger vertraute. Immerhin war der Engel auf dem Weg hierher. Von ganz allein. Aber das konnte er seinem Meister nicht offenbaren. Der würde sich womöglich höchstpersönlich der Sache annehmen und die Belohnung, die er Alejandro versprochen hatte, würde damit null und nichtig werden. „Herr, ich … ich bringe Euch den Engel. Ich verspreche es.“ „Worte!“ Die eben noch so anschmiegsame Stimme war plötzlich voller Widerhaken, die sich in Alejandros Fleisch bohrten und drohten, es in blutige Fetzen zu reißen. „Nicht mehr als leere Versprechungen bekomme ich von dir. Vielleicht sollte ich lieber Victor zu mir rufen lassen. Der wäre an deiner Stelle wenigstens noch eine Augenweide, während er sich vor mir im Staub windet. Ich werde gleich mal sehen, wo er steckt.“ „Herr!“ Alejandro war aufgesprungen und hatte die Hand nach seinem Herrn ausgestreckt, bevor er noch darüber nachgedacht hatte, was er da tat. Das Aufblitzen in den schwarzen Augen seines Meisters versprach ihm dafür einen schmerzhaften Tod. „Ich habe etwas anderes für euch. Ein Geschenk. Bis ich den Engel bringe.“ Sein Herr zögerte und seine wunderschönen Augen wurden schmal „Ein Geschenk? Was könnte das wohl sein? Ich begehre nichts auf dieser Welt außer diesem Engel, den du mir nicht bringen kannst.“ Alejandro leckte sich über die Lippen, die plötzlich so furchtbar trocken waren. Der Nephilim war seine letzte Trumpfkarte. Wenn er sie ausspielte, konnte er nur hoffen, dass der Rest seines Plans aufging. Andernfalls war es wohl besser, wenn er sich eigenhändig vom höchsten Turm stürzte und darauf vertraute, dass sein Herr keinen Nekromanten fand, der ihn wiederbeleben würde, damit er doch noch für seine Verfehlungen büßen konnte. Aber noch war er nicht am Ende. Noch konnte er alles zum Guten wenden. Er wagte ein Lächeln. „Ja, Herr, ein Geschenk. Es ist hübsch und ich denke, dass es Euch gefallen wird.“ „Ist es ebenso hübsch wie ein Engel?“ Alejandro zog den Kopf ein wenig zwischen die Schultern. „Etwa halb so hübsch, Herr. Wenn Ihr wollt, zeige ich es Euch.“ Ein kleines, köstliches Lächeln umspielte die Mundwinkel seines Herrn. „Na gut. Ich erwarte dich damit in meinem Büro.“ Alejandro verbeugte sich und sah von unten herauf zu seinem Meister auf. „Wenn ich vielleicht einen Vorschlag machen dürfte, Herr?“ Eine Geste erlaubte ihm fortzufahren und Alejandros Lächeln wurde verschlagener. „Lasst mich Euch das Geschenk in Euer Schlafzimmer bringen. Ich denke, dort werdet Ihr mehr damit anfangen können.“ Ein interessiertes Funkeln trat in den Blick seines Meisters und Alejandro wusste, dass er gewonnen hatte. „Wenn das so ist“, gab sein Meister in einem etwas zu beiläufigen Tonfall zurück, „erwarte ich euch beide in meinen Gemächern. Sollte mir dein Geschenk gefallen, wirst du vielleicht sogar zusehen dürfen.“ Alejandro neigte erneut den Kopf. „Ihr seid zu gütig, Herr.“       Marcus hatte keine Ahnung, wie viel Zeit er bereits in diesem dunklen Loch verbracht hatte. Er vermutete jedoch, dass es nicht mehr als zwei Tage sein konnten. Der Durst beherrschte inzwischen zwar fast sein gesamtes Denken, aber er war noch bei relativ klarem Verstand und sein Körper war so weit geheilt, dass er keine Schmerzen mehr hatte. Einmal mehr musste er wohl seinem Vater dankbar sein für das, was er ihm vererbt hatte, auch wenn er bei genauerem Hinsehen feststellen musste, dass er ohne diese Gaben wohl gar nicht hier gewesen wäre. Er zuckte zusammen, als sich plötzlich ein Schlüssel im Schloss der Kerkertür drehte und ein breiter werdender Lichtschein durch die sich öffnende Tür fiel. Geblendet schloss Marcus die Augen. Inzwischen war er so an die Dunkelheit gewöhnt, dass selbst das trübe Licht der Fackel im ersten Augenblick unangenehm war. Im hintersten Winkel der Zelle presste er sich gegen die Wand für den Fall, dass jemand anderes als Alejandro kam, um nach ihm zu sehen. Er war daher fast erleichtert, als er die Gestalt des schmalen Mexikaners wiedererkannte.   In den ersten Stunden, in denen er sich wieder bewegen konnte, hatte er in Erwägung gezogen, den Halbdämon anzugreifen, sobald dieser die Zelle wieder betrat. Doch Marcus wusste inzwischen, wie weit ihn die Kette an seinen Füßen gehen lassen würde, und Alejandro hielt sich, sicherlich nicht ohne Absicht, gerade außerhalb dieses Radius auf. Außerdem schoben sich jetzt zwei weitere, wesentlich breiter gebaute Dämonen durch die niedrige Tür. Marcus war klar, was das bedeutete. Seine Gnadenfrist war vorbei. „Nehmt ihn mit und bringt ihn nach oben“, wies Alejandro die beiden anderen Dämonen an. Marcus konnte von ihnen nicht viel mehr als muskelstrotzende Gestalten mit Hörnern und Klauen erkennen, von denen sich jetzt eine zu ihm herabbeugte und ihn kurzerhand auf die Füße zerrte. Die andere löste die Kette von seinem Bein. „Na los, wir haben nicht ewig Zeit.“ Als er Alejandro vor die Füße stolperte, verzog der das Gesicht. „Du stinkst“, stellte er fest und rümpfte die Nase. Marcus verkniff sich zurückzugeben, dass, wenn es um Körpergeruch ging, der Cadejo sich wohl kaum bei ihm beschweren konnte. Womit er allerdings nicht gerechnet hatte, war die Tatsache, dass er kurz darauf in ein kleines Badezimmer gestoßen wurde. Der Cadejo bedeutete den anderen beiden Dämonen, dass sie draußen warten sollten, bevor er die Tür hinter sich schloss. Er fixierte Marcus mit einem missbilligenden Blick. „Los“, zischte er und deutete auf die Duschkabine. „Sieh zu, dass du dich säuberst. Mein Herr wartet nicht gern.“ Unter anderen Umständen hätte Marcus wohl protestiert, aber eine Dusche hieß auch, dass er darin Wasser finden würde. Und Wasser bedeutete etwas zu Trinken, ohne dass er darum bitten musste. Außerdem war die Aussicht, aus seiner verdreckten Kleidung herauszukommen nicht unbedingt unangenehm. Und dass er endlich denjenigen zu Gesicht bekommen würde, der hinter all dem hier steckte, ließ Marcus sich gehorsam umdrehen, bevor er begann, sich zu entkleiden. Er merkte, dass ihn der Cadejo dabei beobachte, aber das war ihm egal. Das Einzige, was ihn interessierte, war der warme Wasserstrahl der ihn erwartete. Er stellte sich darunter, schloss die Augen und öffnete den Mund. Es war ihm noch nie etwas so wunderbar vorgekommen. Er schluckte und schluckte, bis er den rasenden Durst in seinem Inneren endlich gestillt hatte. Erst dann begann er damit sich zu waschen. „Beeil dich“, fauchte der Cadejo, noch während Marcus sich mit einem dünnen Handtuch abtrocknete. „Dort ist neue Kleidung. Zieh dich an und dann komm.“ Mit einem letzten, warnenden Blick verließ er das Bad. Marcus begutachtete die einfache braune Stoffhose und das weiße, bauschige Hemd, das ihm eine Nummer zu groß war und aus dem vorvorletzten Jahrhundert zu stammen schien. Unterwäsche gab es keine. Es war nicht ideal, aber es war trocken und sauber und das war alles, was für Marcus in diesem Moment zählte. Als er vor die Tür trat, wartete der Cadejo schon ungeduldig auf ihn. Er trat zu Marcus und bevor der protestieren konnte, war er ihm schon mit den Fingern durch das Haar gefahren, zupfte mit gerunzelten Brauen an seiner Kleidung herum und machte einen so nervösen Eindruck, dass Marcus sich zu fragen begann, wem oder was er gleich begegnen würde.   Wieder flankierten ihn die zwei Wächterdämonen, als sie eine große Freitreppe hinaufstiegen, die ihn an ein altes Herrenhaus denken ließ. Oben angekommen atmete der Cadejo hörbar durch, bevor er an eine der dunklen Holztüren klopfte, die die Galerie zierten. Von drinnen kam eine zustimmende Antwort und im nächsten Augenblick fand sich Marcus in einem opulenten Schlafzimmer wieder. Der Anblick nahm ihn für einen Moment gefangen. Beherrscht wurde der Raum von einem Bett, das in etwa die Größe von Marcus’ komplettem Schlafzimmer hatte und ganz in schwarzen Satin gehüllt war. Man hätte es für reinen Protz halten können, wenn das Bett nicht eindeutig benutzt gewesen wäre. Der Rest des Zimmers bildete eine Orgie aus rotem Samt und Brokat, nur hier und dort unterbrochen von dunklem Holz und akzentuierendem Gold. Das Licht eines vielarmigen Kronleuchters wurde von etlichen üppig verzierten Spiegeln reflektiert und brach sich schließlich in den kristallenen Karaffen, die auf einem niedrigen Tisch vor einem Chaiselongue standen. Ihr Inhalt funkelte blutrot, als der Besitzer des Zimmers nach einer von ihnen griff und etwas davon in eines gläsernen Trinkpokal schüttete. Er nahm einen Schluck und schloss genießerisch die Augen, bevor er den Blick wieder erhob und auf Marcus legte. „Ah, da seid ihr ja.“ Eine Stimme wir flüssiger Honig umschmeichelte Marcus’ Ohr. Er blinzelte und starrte den Mann an, der dort saß oder vielmehr residierte und ihn mit wachem Interesse begutachtete. Der Mann war groß, dunkelhaarig und von Kopf bis Fuß in schwarz gekleidet. Als er sich jetzt erhob, erinnerte er Marcus an einen Panther, der sich von seinem Lager erhob, um einen Beutezug zu beginnen. Mit geschmeidigen Bewegungen kam er auf ihn zu. Ein sanftes Lächeln zierte sein ebenmäßiges Gesicht und wären da nicht die spitzen Eckzähne gewesen, hätte Marcus vermutet, dass er es mit einem Menschen zu tun hatte. Einem äußerst attraktiven Menschen. Marcus unterdrückte ein Keuchen, als ihn die Bugwelle der Macht erreichte, die diesem Wesen vorausging. Sie war buchstäblich war atemberaubend. Alles an ihm war atemberaubend und führte dazu, dass Marcus sich klein und ungenügend vorkam. Genau so lange, bis ihm bewusst wurde, dass das ein Trick sein musste. Eine Taschenspielerei, um ihn zu beeindrucken. Er presste die Kiefer aufeinander und starrte seinem Gastgeber entgegen. Dieser Dämon brauchte nicht zu denken, dass er sich so leicht ins Bockshorn jagen ließ. Das Dumme war nur, dass die Erkenntnis, dass es sich um einen Trick handelte, dessen Wirkung nicht im geringsten schmälerte.   Dicht vor ihm blieb der Dämon stehen. Seine schwarzen Augen fixierten Marcus. Er lächelte immer noch. „Mein lieber Alejandro, ich muss zugeben, dass ich ein ganz klein wenig beeindruckt bin. Woher hast du diese stolze Kreatur? Ich …“, er unterbrach sich, um prüfend die Luft einzusaugen, „ahne, um was es sich dabei handelt, aber glauben kann ich es kaum. Ist dieser hübsche Bursche wirklich das, wofür ich ihn halte?“ Alejandro trat einen halben Schritt vor, sodass er jetzt neben Marcus stand. „Es ist in der Tat ein Nephilim. Ein Halbengel, Herr. Ich habe ihn zufällig in Vegas gefunden.“ Marcus’ Kopf ruckte herum. „Gefunden? Du meinst, du bist bei mir eingebrochen, hast meine Sachen durchwühlt und mich zum Schluss auch noch beklaut. Und als wäre das nicht genug gewesen, hast du mich obendrein noch feige von hinten niedergeschlagen und anschließend hierher verschleppt. Was davon hört sich für dich nach 'zufällig gefunden' an?“ Die linke Augenbraue des Dämons vor ihm hob sich sanft in die Höhe. „Mir scheint, ihr beide hattet so eure Differenzen. Aber ich will Vertrauen darin haben, dass ihr beide euch beherrschen könnt, solange ihr hier meine Gäste seid.“ Er winkte den beiden Wächterdämonen. „Ihr könnt gehen. Ich werde mich ein wenig mit unserem Gast unterhalten und ihr beide stört dabei mein ästhetisches Empfinden. Na los, raus mit euch.“ Gehorsam stampften die beiden Muskelberge wieder nach draußen, doch das beruhigte Marcus nicht im Geringsten. Misstrauisch verfolgte er das Tun des gut aussehenden Dämons, der sich jetzt wieder auf seinem Sitzmöbel niederließ. Der Stoff seines Hemdes glänzte im Licht des Kronleuchters und entblößte seine Brust fast bis zum Bauchnabel. Stumm studierte er Marcus, der sich zunehmend unbehaglich fühlte. „Wer bist du?“, platzte er schließlich heraus und ärgerte sich über seine Ungeduld. Es fühlte sich an, als hätte er dem Dämon einen Sieg geschenkt. Der schien das genauso zu sehen und lächelte leicht. „Wenn mich meine Kenntnisse der menschlichen Etikette nicht täuschen, wäre es zunächst an dir, dich vorzustellen, meinst du nicht auch?“ Marcus bleckte die Zähne. „Ich habe die letzten zwei Tage damit zugebracht, in deinem Keller Schimmel anzusetzen. Das hat mein Verständnis von Etikette möglicherweise ein wenig in Mitleidenschaft gezogen.“ Dem Dämon entwich an amüsiertes Glucksen. „Charmant“, urteilte er. „Verrätst du mir trotzdem, wie du heißt?“ Marcus funkelte den Dämon wütend an, doch der machte lediglich ein freundliches Gesicht und musterte ihn weiter über den Rand seines Weinglases hinweg. Irgendwann kam Marcus sich albern vor. Er atmete tief durch. „Marcus“, sagte er. „Mein Name ist Marcus.“ Das Lächeln des Dämons wurde breiter. „Sehr schön. Nun denn, Marcus, wenn Alejandro so ein fürchterlicher Gastgeber war, ist es wohl an mir, diesen Fehler wieder auszubügeln. Du musst hungrig sein und vor allem durstig. Darf ich dir etwas anbieten?“   Marcus wusste nicht, woher auf einmal die gefüllten Schüsseln und Platten kamen, doch seinem Magen war es vollkommen egal, welcher faule Zauber sie auf dem Tisch hatte erscheinen lassen. Beim Anblick der frischen Früchte, dem süßen Geruch des weichen Brotes eingehüllt in das köstliche Aroma von geröstetem Fleisch fing er begeistert an zu knurren. Der Dämon wies auf die bereitstehende Mahlzeit. „Du darfst dich ruhig setzen und zulangen. Es ist genug da.“ Für einen Moment erwog Marcus, der Einladung Folge zu leisten. Sein Instinkt sagte ihm, dass er sich nicht in unmittelbarer Gefahr befand,. Alejandro hätte sich kaum die Mühe gemacht, ihn zu „baden“ und herzurichten, wenn er nur hierher gebracht worden wäre, um ihn umzubringen. Es gab allerdings keinen weiteren Stuhl und die Aussicht, sich entweder neben seinen arroganten Gastgeber zu setzen oder gar sein Mahl zu dessen Füßen einzunehmen, ließ Marcus’ Widerwillen nur umso stärker ansteigen. Störrisch schüttelte er den Kopf. „Nein danke, ich habe keinen Hunger.“ Der Dämon lächelte nachsichtig. „Du bist kein besonders guter Lügner.“ „Du musst es ja wissen.“ Ein leises Lachen antwortete ihm. „In der Tat, das sollte ich wohl.“ Der Dämon hielt sein Glas hoch. „Alejandro, mehr Wein. Und schenk unserem Gast auch etwas ein.“   Marcus sah zu, wie Alejandro sich tatsächlich in Bewegung setzte, um den Auftrag auszuführen. Als er ihm jedoch das Weinglas reichen wollte, weigerte Marcus sich, es zu entgegennehmen. Der Cadejo bleckte die Zähne. „Nimm endlich das Scheißglas, sonst …“ „Aber, aber, Alejandro“, tadelte sein Herr sogleich. „Du vergisst dich. Am besten setzt du dich auf deinen Platz an der Tür. Na los!“ Der Cadejo holte tief Luft, stellte das Glas auf den Tisch, ohne Marcus aus den Augen zu lassen, und platzierte sich wie befohlen neben der Tür. Zumindest dachte Marcus das. Die mahnende Stimme seines Herrn ließ den Halbdämon jedoch leicht zusammenzucken. „Alejandro.“ Der Cadejo senkte den Kopf. „Ja, Herr.“ Im nächsten Moment ließ er sich auf die Knie nieder und begab sich in eine so demütige Haltung, dass Marcus einen verblüfften Laut von sich gab. Wie von selbst wanderte sein Blick wieder zu dem namenlose Dämon zurück. Der hatte noch immer dieses enervierende Lächeln auf den Lippen. „Faszinierend, nicht wahr? Er ist mein Meisterstück.“ „Ich kann nichts Besonderes erkennen“, gab Marcus kalt zurück. Der Dämon schürzte die Lippen. „Ah, jetzt beleidigst du mich aber. Ich bin mir sicher, dass dir, so schlau wie du bist, an ihm etwas aufgefallen ist.“ Marcus musterte den Dämon, der vergnügt an seinem Glas nippte. Es war unmöglich herauszufinden, ob die zur Schau getragene Heiterkeit nun echt oder nur vorgetäuscht war. Marcus knirschte mit den Zähnen. Der immer noch im Zimmer umherwabernde Geruch der verlockenden Speisen ließ ihn schwindeln und statt den Dämon anzusehen, glitten seine Augen unweigerlich zu den Köstlichkeiten, unter denen sich der Tisch bog. War das Hühnchen? Maisbrot? Weintrauben? Marcus Magen knurrte erneut. „Du bist sehr wohl hungrig. Du bist nur zu stolz, um es zuzugeben.“ Die Stimme war plötzlich so nahe, dass Marcus erschrocken zurückprallte und sich somit nur noch enger an den massiven Körper drängte, der wie aus dem Boden gewachsen hinter ihm stand. Starke Arme um fingen ihn und warmer Atem strich über sein Ohr. „Warum wehrst du dich so? Wir beide könnten viel Spaß miteinander haben. Eine äußerst angenehme Zeit. Nur du und ich oder noch ein paar von meinen Gespielinnen und Gespielen, wenn dir der Sinn nach etwas mehr Gesellschaft steht. Ich kann dir alles bieten, was du möchtest. Wein? Weib? Gesang? Du musst mir nur sagen, was du möchtest.“ „Lass mich los!“, keuchte Marcus, doch der Dämon dachte nicht daran. Marcus fühlte die Beinahe-Berührung seiner Lippen an seinem Hals entlangwandern. „Bin ich denn wirklich so furchtbar?“, hauchte er eine neue Frage in Marcus’ Ohr. „Findest du mich so abstoßend, dass du dir nicht vorstellen kannst, mich in deiner Nähe zu ertragen?“ Hände wanderten an Marcus Körper entlang, von denen er sich nicht erklären konnte, woher sie kamen. Er ächzte, als eine von ihn sehr, sehr nahe an seinem Intimbereich vorbeistrich. „Oder dürstet es dich nach etwas anderem?“, wisperte der Dämon weiter. „Nach Ansehen und Macht? Ich kann sie dir verschaffen. Nenn mir einen Posten und ich setze dich an die Stelle des Mannes, der ihn momentan innehat. Oder möchtest du Rache? Ich spüre den Zorn, der in dir lodert. Du bist wütend, Marcus. Wütend auf wen? Ist es ein Mensch? Ich lösche ihn für dich aus. Ist es ein Engel? Ich fange ihn für dich und lege ihn dir zu Füßen. Ich gebe dir alles, wonach dir der Sinn steht.“ Marcus antwortete nicht, doch sein Herz klopfte gegen seine Brust und der wummernde Herzschlag dröhnte durch seinen Kopf. Er spürte den Dämon an seinem Ohr lächeln. „Ah, ein Engel also. Welcher ist es? Dein Vater? Möchtest du dich an ihm rächen? Ihn leiden sehen? Ihn töten, so wie er deine Mutter getötet hat? Ist es das, was du willst?“ „Lass mich“, versuchte Marcus erneut gegen die flüsternde Stimme aufzubegehren, aber seinen Gegenwehr schmolz dahin wie Schnee inmitten eines lodernden Maifeuers. Irgendwann hörte er auf zu kämpfen. Still stand er in den Armen des Dämons, der ihn trotz seiner nicht eben geringen Größe noch überragte. „Siehst du, so ist es brav. Ich will dir doch gar nichts Böses. Nur ein wenig Gesellschaft. Ich will dich glücklich machen.“ „Ich …“ Marcus hatte Mühe, die Worte zu formulieren. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er voller Zuckerwatte. „Ich möchte nicht …“ Wieder spürte er ein Lächeln. „Oh, mach dir keine Gedanken deswegen. Ich werde dich nicht mit Gewalt nehmen. Nicht, wenn du das nicht möchtest. Doch zuerst solltest du etwas trinken. Du musst durstig sein.“ „Ich habe … Wasser …“, versuchte Marcus zu erklären, doch er konnte es nicht. Wie durch einen Nebel nahm er ein Fingerschnippen wahr, eine Bewegung irgendwo am Rand seines Gesichtsfeldes und im nächsten Moment wurde ihm ein Glas gegen die Lippen gedrückt. Schwerer Rotweingeruch drängte sich in seine Nase und als die rote Flüssigkeit seine Lippen benetzte, öffnete er automatisch den Mund. Erst der Geschmack auf seiner Zunge, ließ ihn wieder etwas klarer werden. Er wollte den Wein ausspucken, aber ein Teil davon rann bereits seine Kehle herab. Im nächsten Moment breitete sich ein warmes Gefühl in seinem Bauch aus.   Der Dämon ließ ihn los und trat ein Stück zurück. Er lächelte immer noch. „Siehst du, das ging doch ganz leicht. Und niemand wurde verletzt. Also noch einmal: Möchtest du mit mir essen, Marcus?“ Die kribbelnde Wärme in seinem Bauch nahm zu, wurde zu einem heißen Ziehen und schien sich von seiner Mitte weiter nach unten auszubreiten. Der Dämon, der ihn beobachtete wie eine Katze einen Kanarienvogel, zeigte beim Lächeln seine Zähne. „Ist irgendwas nicht in Ordnung? Du siehst … erregt aus.“ Tatsächlich musste Marcus feststellen, dass sich das Brennen und Ziehen in einer ausgewachsenen Erektion manifestiert hatte, die sich beharrlich gegen den Stoff der fremden Hose drückte. Er zischte, als der grobe Stoff darüber strich. Plötzlich erkannte er das Gefühl wieder. „Das ist doch …“ Er starrte auf das Glas in den Händen des Dämons. Der Inhalt hatte die gleiche Wirkung wie Crystals Sukkubus-Gift. Plötzlich fielen die Teilchen des Puzzles an die vorgesehenen Stellen. Er wusste jetzt, warum Crystal ihn nicht mehr zum Koitus hatte bringen können. Diese Maschine, von der sie gesprochen hatte, musste ihr all ihr Gift abgezogen haben. Und dieses befand sich jetzt in dem Glas. „Du hast mich vergiftet!“ Der Dämon sah ihn verblüfft an, bevor er begann schallend zu lachen. „Vergiftet? Oh, so kann nur ein Engel sprechen. Sollte ich bisher Zweifel an deiner Herkunft gehabt haben, so wären diese spätestens jetzt ausgeräumt.“ „Aber … in dem Glas. Das stammt doch von einem Sukkubus, oder nicht?“ Wieder rieb der grobe Stoff über die empfindliche Haut seiner Erektion und ließ ihn beinahe stöhnen. Das warme Kribbeln war inzwischen zu einem regelrechten Feuer angewachsen, dass ihn zunehmend ins Schwitzen brachte. „Du bist wirklich clever“, antwortete der Dämon. „Ich hätte nicht gedacht, dass du das weißt. Aber als Gift würde ich die Essenz dieser wunderbaren Geschöpfe nicht bezeichnen. Sie sind vielmehr Freudenspender. Sieh nur, wie sehr dein Körper jubiliert. Würde es sich nicht gut anfühlen, wenn dich jetzt jemand anfassen würde. Wenn er dein pulsierendes Fleisch in die Hand nehmen und es ganz behutsam streicheln würde. Nur hauchzarte Berührungen. Kannst du sie fühlen, Marcus?“   Ja, das konnte er. Das konnte er tatsächlich. Wo auch immer diese geisterhaften Zärtlichkeiten herkamen, sie fachten die Glut des Feuers nur noch weiter an und ließen ihn ächzen. Wie von selbst wanderte seine Hand in Richtung seiner Körpermitte. Erst wenige Zentimeter davor gelang es ihm, seine Finger in den Stoff der Hose zu krallen und sich so zu stoppen. „Du elender Mistkerl“, fauchte er und stöhnte, als die Phantomberührung für einen Augenblick intensiver wurde. „Was soll das werden? Wenn du mich vergewaltigen willst, dann tu’s endlich. Auf meine Einwilligung dazu kannst du lange warten.“ Wieder lagen die schwarzen Augen für einen Augenblick auf ihm, bevor sich der Dämon zu einer Antwort herabließ. „Du denkst, es geht hier nur um mein Vergnügen?“ Er schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. „Mein lieber Marcus, ich glaube, so langsam muss ich wirklich ernsthaft beleidigt sein. Du versuchst ja nicht einmal, es zu verstehen. Dabei bist du bereits in dem Augenblick, in dem du deinen Fuß über meine Schwelle gesetzt hast, Teil eines viel größeren Plans geworden. Ich hätte gedacht, dass du es erkennen könntest. Zumal deine und meine Motive gar nicht mal so unterschiedlich sind. Du möchtest dich an einem Engel rächen und ich? Ich ziehe es vor, mich an allen von ihnen zu rächen und an unserem Vater gleich mit. Das mag ambitioniert klingen, aber so bin ich nun mal.“ „Wie bescheiden“, zischte Marcus und unterdrückte erneut ein Stöhnen. Das Feuer in seinem Inneren hatte sich zu einem Inferno ausgeweitet. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an Sex. Daran, wie es sich anfühlen würde, endlich zum Höhepunkt zu kommen, um dieses elende Brennen zu vertreiben. „Ja, nicht wahr?“, überging der Dämon vollkommen den Sarkasmus in seiner Erwiderung. „Und es hat mich Jahre, ach was sage ich, Jahrzehnte, Jahrhunderte gekostet, um meinen Plan in die Tat umzusetzen. Und angefangen hat alles mit euch. Mit den Nephilim, den Söhnen der Engel, für die unser himmlischer Vater sich doch glatt die Mühe gemacht hat, die Erde komplett zu überfluten, nur um euch auszulöschen. Eine halbe Ewigkeit saß ich über eurer Geschichte und grübelte und grübelte, warum er sich eurer höchstpersönlich angenommen hat, während er gegen uns nur seine Lakaien ins Feld schickt. Und irgendwann erkannte ich, dass er euch für die größere Bedrohung hielt. In euch lag der Schlüssel für seinen Untergang. Also forschte ich, ich suchte die entlegensten Winkel ab, bis ich schließlich auf das stieß, was mir den Schlüssel zum Sieg in die Hände legte. Die Essenz von Lilith.“ „Das ist … ah … nicht mehr als eine dumme Legende.“ Der Dämon nahm einen Schluck Wein. „An dieser Stelle irrst du. Es gab sie, ebenso wie es Lilith gegeben hat. Ich nehme an, du hast bereits von ihr gehört?“ „Sie …“ Marcus hatte Mühe, die Worte zu formulieren, „sie war ein Dämon, erschaffen von Luzifer selbst, um die Menschen zu verderben.“ Ein trockenes Lachen entwich der Kehle des Dämons. „Ja, das ist es, zu was man sie inzwischen gemacht hat, nicht wahr? Aber ursprünglich war Lilith ein Mensch. Es ist wahr, dass Luzifer sie ins Leben brachte in den Tagen, an denen die Engel noch die Macht dazu hatten. Er, der herrlichste aller Söhne Gottes, der Lichtträger, er wollte unserem Vater beweisen, dass er ebenso Großartiges, wenn nicht Besseres vollbringen konnte als er. Also erschuf er Lilith und sie war perfekt. Schöner, klüger und anmutiger als alles, was je vorher einen Fuß auf Gottes schöne Erde gesetzt hatte. Die Pflanzen und die Tiere ja selbst die Mehrzahl der Engel verneigten sich vor ihr und auch Gottes unwürdige Kreatur, der Mensch Adam, war vollkommen fasziniert. Er konnte an nichts anderes mehr denken als daran, wie er Lilith glücklich machen konnte. Und Gott wurde eifersüchtig. Er verbannte Lilith aus dem Garten Eden und nahm ihr einen Teil ihrer Schönheit, damit nie wieder jemand sich vor ihr mehr verneigen würde als vor ihm. Stattdessen formte er für Adam eine andere, weitaus weniger perfekte Frau und dumm wie dieser einfältige Mensch war, ließ er es zu. Er gab sich mit der zweiten Wahl zufrieden und vergaß Lilith, die daraufhin bittere Rache schwor. Aus ihrem gerechten Zorn und ihren Tränen formte sich eine Essenz, die die Macht hatte, jedes fühlende Wesen in einen Zustand der Lust zu versetzen und ihr vollkommen zu verfallen. Lilith verbündete sich mit Luzifer, der aus Groll über das, was seiner Schöpfung angetan worden war, inzwischen für die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies gesorgt hatte und dafür aus dem Himmel verstoßen worden war. Gemeinsam nahmen sie Rache an den Engeln und den Menschen gleichzeitig. Die Frucht dieser Rache, die Nephilim, überzogen die Welt mit ihrer Macht und es schien, als könne nichts sie aufhalten. Bis Gott sie schließlich alle ertränkte. Was blieb, war eine Legende über den Stoff, aus dem Gottes Untergang gewebt ist und der Schlüssel dazu befindet sich genau hier.“   Bei seinen letzten Worten war der Dämon so nahe an Marcus herangetreten, dass er dessen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte, und seine Hand hatte sich um Marcus Hoden gelegt. Der stöhnte auf vor Lust und Schmerz und wusste nicht, was davon größer war. „Gott nahm den Engeln einst die Fähigkeit, Lust zu empfinden, damit sie nie wieder Nachkommen zeugen würden, die ihn zu Fall bringen konnten. Aber mit Hilfe der Essenz, die ich aus dem Speichel der Succubi gewonnen habe, kann ich sie wieder zum Leben erwecken. Ich kann die Saat der Engel gewinnen und daraus die perfekte Waffe schmieden, die Luzifer endlich die Herrschaft über die Erde und somit auch über den Himmel ermöglichen wird.“ „Ich bin neugierig“, keuchte Marcus und versuchte das beinahe übermächtig Verlangen zu ignorieren, sich an der Hand des Dämons zu reiben, um endlich Erlösung zu erlangen. „Wie soll diese Waffe aussehen?“ Wieder hatte der Dämon dieses arrogante Grinsen auf dem Gesicht, das ihm Marcus am liebsten mit der Faust von dort weggewischt hätte. Aber er konnte nicht. Alles, was er konnte, war sich zusammenzureißen und auszuharren, damit er sich nicht hier und jetzt die Kleider vom Leib riss. „Du hast den Prototyp davon bereits kennengelernt“, erklärte der Dämon bereitwillig. „Die Vorversion, wenn man so will. Doch inzwischen sind die Testreihen abgeschlossen und ich denke, wir wären soweit, in die nächste Phase zu gehen. Möchtest du mir dabei behilflich sein?“ „Niemals!“, fauchte Marcus und schnappte im nächsten Moment nach Luft, als sich die Krallen des Dämons enger um seine Erregung schlossen und ihn leicht massierten. „Ich verrate dir jetzt mal ein Geheimnis, Marcus“, flüsterte der Dämon in sein Ohr. „Die Frage, die ich dir gerade gestellt habe, war reine Höflichkeit. Du wirst mir dienlich sein, egal ob du es möchtest oder nicht. Die einzige Frage, die es jetzt noch zu beantworten gilt, ist die, ob du deine Mitarbeit genießen wirst oder nicht.“ „Ich werde dir nicht …“ „Du solltest mich ausreden lassen“, grollte der Dämon und zum ersten Mal wurde sich Marcus wieder bewusst, wie gefährlich das Wesen war, das sich gerade an ihn schmiegte. „Ich sagte dir ja bereits, dass das, was ich benötige, sich in deinem Körper befindet. Der Samen eines Nephilim mag nicht so potent sein wie der eines Engels, aber er wird ausreichen, um die nächste Generation heranzuziehen. Außerdem bin ich zuversichtlich, dass uns früher oder später auch ein echter Engel ins Netz gehen wird. Doch bis dahin, mein lieber Marcus, wirst du derjenige sein, der mich mit dem weißen Gold versorgt, nachdem es mich verlangt. Die Sukkubus-Essenz wird dafür sorgen, dass deine Erregung nicht abklingt und deine Heilkräfte werden es dir ermöglichen, weit länger durchzuhalten als die Menschen, mit denen wir einige klägliche Versuche diesbezüglich unternommen habe. Da gab es einige wirklich sehr, sehr unschöne Unfälle.“ Marcus fühlte den Schweiß auf seiner Stirn ausbrechen. Sein Geist wehrte sich gegen die Bilder, die sich ihm unwillkürlich aufdrängten. Schon jetzt war der Druck zwischen seinen Beinen so groß, dass er das Gefühl hatte, gleich platzen zu müssen. Die Vorstellung, dass dies vielleicht wirklich passieren konnte, schnürte ihm die Kehle zu. „Allerdings gibt es durchaus die Möglichkeit, deinen Samen zu gewinnen, ohne dir echte Erleichterung zu verschaffen. Wenn man die Stimulation rechtzeitig vor dem Höhepunkt abbricht, wirst du dich zwar entladen, aber deine Lust wird erhalten bleiben. So werden wir in der Lage sein, dich wieder und wieder und wieder zu melken.“ Der Dämon umfasste Marcus’ Kinn und drehte es zu sich hin, sodass er ihm direkt in die Augen sehen konnte. „Wenn du dich bereit erklärst, mir zu dienen, könnten wir beide viel Spaß haben. Ich würde dich gern an meiner Seite sehen und in meinem Bett. Solltest du Bedenken haben, ob du dich dazu überwinden kannst, mir beizuliegen, kann ich dir gerne noch mehr von der Essenz verabreichen, bis du deine Zweifel zum Schweigen bringst. Betäube dich. Vergiss, was vorher war. Diese Welt da draußen hat nichts für dich übrig außer Verachtung und Leid. Bleib bei mir und lass mich dich zu dem König machen, zu dem du durch deine edle Herkunft auserwählt wurdest. Dann wirst du es sein, der am Ende triumphiert.“ Marcus zögerte. Er schwankte. In seinem lustvernebelten Hirn schienen die Worte des Dämons so unglaublich viel Sinn zu machen. Was, wenn er tatsächlich nachgab? Wenn er sich in die Arme dieser Kreatur warf und empfing, was sie ihm zu bieten hatte? Wenn er vergaß, was er war und wo er herkam, um nur noch im Hier und Jetzt zu leben? Ein hübsches Spielzeug für einen Höllenfürsten, das nichts mehr zu befürchten hatte. Nie wieder. „Nein“, brach es aus ihm heraus und er stemmte sich mit aller Macht gegen die süße Verlockung. „Es … es wäre … eine Lüge. Mein Leben … alles wäre … eine Lüge.“ Der Dämon lächelte nachsichtig. „Natürlich wäre es das. Was hast du erwartet, wenn du dich in mein Haus begibst?“ Marcus schluckte. „Wer … bist du?“ Das Lächeln des Dämons wurde breiter. „Man nennt mich Belial, den Wertlosen, den, der ohne Licht ist. Allgemein auch bekannt als der Herr der Lügen.“ Marcus’ Augen wurden groß, als er den Namen hörte. Natürlich kannte er ihn – wie hätte er nicht – aber er hätte nie gedacht, einem so hochrangigen Diener Luzifers jemals gegenüberzustehen … und diese Begegnung zu überleben. Als ihm aufging, dass genau das auch noch nicht feststand, versuchte er zurückzuweichen, doch Belial hielt ihn ohne Gnade fest. „Ich sehe“, sagte er leise und gefährlich, „dass du dich entscheiden hast, mein Angebot auszuschlagen. Wie schade. Wir hätten wirklich eine gute Zeit haben können, kleiner Marcus, aber wenn du stur bleiben und dich gegen dein eigenes Wohlbefinden entscheiden willst, dann sei es eben so. Du hast deine Wahl getroffen.“   Belial trat zurück und wandte sich an Alejandro, der immer noch neben der Tür kauerte. „Dein Geschenk gefällt mir außerordentlich. Allerdings denke ich, dass es an der Zeit ist, es richtig einzukleiden, so wie es sich für einen Sklaven gehört. Wenn du so freundlich wärst, mir einen Harness zu bringen?“ Alejandro erhob sich und in seinen Augen funkelte es. „Welche Art Harness wünscht Ihr, Herr?“ Belial lächelte und strich Marcus über die Wange. „Da du mir dieses Geschenk gemacht hast, darfst du auswählen. Du kennst ja meinen Geschmack. Etwas Hübsches und vielleicht auch mit einem gewissen Extra. Eventuell kommt unser lieber Marcus ja doch noch auf den Geschmack.“ „Sehr wohl, Herr.“ Alejandro verschwand, jedoch nicht für lange. Als er zurückkehrte, hielt er etwas in den Händen, das Marcus zunächst an ein großes Hundegeschirr aus Leder erinnerte. Als er jedoch sah, was noch daran befestigt war, begann er sich zu wehren. „Sch …“, machte Belial und hielt ihn ohne große Mühe fest. Nahezu sanft strich er ihm mit den Krallen über die Wange. „Am Anfang wird es vielleicht etwas ungewohnt sein, aber du wirst dich daran gewöhnen, mein kleiner Nephilim. Und wer weiß, vielleicht kommst du ja sogar auf den Geschmack. Ich würde mich freuen, dich dann einmal persönlich beglücken zu dürfen. Doch bis dahin wirst du wohl mit dieser Nachbildung auskommen müssen.“ Marcus öffnete den Mund, um zu schreien, aber da wurde bereits etwas Hartes zwischen seine Zähne geschoben und mit einem Riemen an seinem Hinterkopf befestigt. Er versuchte, um den Knebel herum seiner Wut Ausdruck zu verleihen, doch es war unmöglich. Alles, was er erreichte, war, dass ihm der Speichel aus dem Mundwinkel tropfte und bis auf sein Kinn herablief. „Sieh nur, er freut sich“, bemerkte Belial mit einem süffisanten Lächeln und schnippte mit den Fingern. Im nächsten Moment standen wieder die Wächterdämonen im Raum, als hätten sie ihn nie verlassen. „Haltet ihn. Wir wollen doch einmal sehen, was sich unter all diesem Stoff verbirgt.“   Krallenbewehrte Hände schlossen sich wie Schraubstöcke um Marcus Arme. Belial trat vor und hielt plötzlich ein silbernes Messer in der Hand. Mit der Spitze der Schneide strich er über Marcus’ Wange. „Du solltest jetzt stillhalten. Andernfalls könnte das wehtun und wir wollen doch nicht, dass du verletzt wirst.“ Marcus, der gerade noch versucht gewesen war, sich dem Griff der Wächterdämonen irgendwie zu entwinden, verharrte auf der Stelle. Mit den Augen verfolgte er die scharfe Klinge, die jetzt an seinem Hals entlang tiefer glitt. Als sie die Schnüre erreichte, die das Hemd am Kragen zusammenhielten, vollführte Belial eine kleine Bewegung aus dem Handgelenk und schon glitten die Überreste zu Boden. Das Hemd klaffte auf und gab den oberen Teil von Marcus’ Brust frei. Wieder spürte er die Klinge. Sie war kühl gegen seine erhitzte Haut, unter der immer noch das erregte Blut pulsierte. Ein reißendes Geräusch folgte, als die Klinge durch den Stoff glitt und ihn in zwei Hälften schnitt. Marcus spürte die Spitze der Klinge an seinem Bauch und hielt automatisch die Luft an. Der weiße Stoff fiel beiseite und enthüllte seinen Oberkörper. Er erschauerte, als Belials Krallen über seine Brust glitten und dabei eine der Brustwarzen streiften. Alles an ihm vibrierte vor Erregung und selbst die kleinste Berührung sandte Stromstöße durch seinen gesamten Körper. Er hasste sich dafür, aber noch mehr hasste er Belial, der sich über seinen Zustand königlich zu amüsieren schien. „Wunderschön“, urteilte der Dämon, der seine Klauen gerade in dem Augenblick zurückzog, als Marcus bereits befürchtete, dass er sie noch unterhalb der Gürtellinie würde spüren müssen. „Es ist ein Jammer, dass du mein Angebot ausgeschlagen hast.“ Er lächelte noch einmal, bevor er sich an Alejandro wandte, der wie ein Schatten hinter seinem Herrn lauerte. „Du wirst dich darum kümmern, dass er den Harness angelegt bekommt. Ruf mich, wenn er fertig ist. Ich will ihn mir ansehen. Und sorge dafür, dass man einen Sukkubus zu mir schickt. Ich habe noch ein paar spezielle Anweisungen für die Behandlung unseres Gastes. Wir wollen doch nicht, dass er allzu viel Spaß bei der Sache hat.“ „Ja, Herr“, antwortete Alejandro und gab den Wächterdämonen ein Zeichen. Die schleiften Marcus daraufhin in einen Raum, der nicht weniger üppig ausgestattet war als der, aus dem sie gerade gekommen waren. Allerdings war die Atmosphäre insgesamt düsterer. Schwarz war die vorherrschende Farbe der Einrichtung und an der Wand sah Marcus mehrere Vorrichtungen, deren Aussehen keinen Zweifel an ihrem Zweck ließ. Das hier war eine Folterkammer, deren Bestimmung es nicht nur war, Schmerzen zu bereiten. Marcus wurde in die Mitte des Zimmers geführt, wo die Wächter ihn losließen und einen Schritt zurücktraten. Es bestand jedoch kein Zweifel daran, dass sie jederzeit wieder zupacken würden, würde er versuchen zu fliehen. Alejandro trat vor ihn. Auf seinem Gesicht lag ein mokantes Grinsen. „Zieh dich aus.“ Marcus reckte trotzig das Kinn. Mit dem Knebel im Mund konnte er zwar nicht reden, aber er würde es dem Cadejo auch nicht zu leicht machen. „Wenn du es nicht tust, werden sie es für dich tun.“ Alejandro nickt in Richtung der Wächter. Mit einem hasserfüllten Blick begann Marcus, die Überreste seines Hemdes von den Schultern zu streifen. Die Hose folgte und er kam nicht umhin still aufzuseufzen, als seine Erektion endlich aus ihrem Gefängnis befreit wurde. Die kühle Luft des Dungeons strich über seine Haut und verschaffte ihm einen Hauch von Linderung. Als er allerdings sah, mit was für einem Blick Alejandro seinen Körper maß, kroch die Hitze zurück in Marcus’ Gesicht. Er hatte vergessen, dass der Cadejo hieran vermutlich mehr Gefallen fand, als Marcus lieb war. Er zwang sich, den Blick zu ertragen, und hob trotz seiner brennenden Wangen den Kopf. Mit den Augen sandte er eine stumme Herausforderung an sein grinsendes Gegenüber.   Als der Cadejo an ihn herantrat und sich die ersten Lederriemen um seine Haut legten, musste Marcus ein Zurückzucken unterdrücken. Es gelang ihm nicht ganz und er sah Alejandros Grinsen breiter werden. „Es wird dir gefallen“, flüsterte er. „Mit der Zeit, wird es dir gefallen. Mein Herr wird gut zu dir sein. Besser, als du es verdienst.“ Etwas an der Art, wie er das sagte, ließ Marcus aufhorchen. Es war schwer herauszuhören, doch irgendwo unter der Häme und dem Spott konnte er noch etwas anderes wahrnehmen. Er beobachtete, wie der Cadejo Schnalle um Schnalle schloss, und bemerkte das leichte Zittern von dessen Hände. Was war das? War es Erregung? Wut? Eifersucht? Als die Berührungen der Riemen langsam tiefer wanderten, glitt Marcus’ Blick unwillkürlich zu dem Ding, das noch daran unbefestigt auf dem Boden lag und sich schon bald an einer Stelle befinden sollte, die Marcus mehr als nur unangenehm fand. Nur nicht darüber nachdenken, befahl er sich. Konzentrier dich auf etwas anderes. Was hat Belial gemeint, als er sagte, dass ich es nicht verstehen würde? Was bezweckt er mit all dem hier? Es fiel Marcus schwer, seine Gedanken zusammenzuhalten. Als Alejandro ihn dort anfassste, wo er es definitiv nicht wollte, ruckten seine Hände vor und schlossen sich um die dünnen Handgelenke des Cadejo. Alejandro knurrte. „Lass mich los oder du wirst es bereuen.“ ‚Zwing mich doch’, hätte Marcus ihm am liebsten entgegengeschleudert, als ihm aufging, dass der Cadejo das nicht gekonnt hätte. Sicherlich, er würde nicht zögern, den Dämonen hinter ihm ein Zeichen zu geben, aber wenn Alejandro und er sich im Kampf Mann gegen Mann gegenübergestanden hätten, hätte Marcus ihn mit Leichtigkeit besiegt. Der Cadejo war schwach. Nicht nur in seiner menschlichen Form, sondern auch als Dämon. Er war klein, mager, hässlich. Nichts an ihm rechtfertigte die Position, die er innehatte, wenn man einmal von der Besonderheit absah, dass er sich in einen echten Menschen verwandeln konnte. Und doch hatte Belial ihn als „sein Meisterstück“ bezeichnet.   In diesem Moment fiel es Marcus wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Alejandro war der Prototyp, von dem Belial gesprochen hatte. Und Belial hatte vor, noch viele weitere solcher Wesen zu erschaffen. Allerdings bessere, stärkere Versionen davon. Er konnte ganze Heere von Wechseldämonen erschaffen und musste sich nicht einmal darüber Sorgen machen, wie er diese versorgen oder gar vor seinen Gegnern geheim halten konnte. Weil sie zum Teil menschlich waren. Er würde in der Lage sein, eine Armee direkt vor den Augen der Himmlischen aufzustellen und erst dann zuzuschlagen, wenn er bereit dazu war. Aus dem Verborgenen heraus würde er sie vollkommen unvorbereitet treffen. Er wäre in der Lage, die gesamte Erde zu unterwandern, nach und nach die Menschen durch seine Kreaturen zu ersetzen, bis keiner mehr übrig war. Oder zumindest nicht mehr genug, um ihm Widerstand zu leisten. Die Erde würde mit einem Schlag in die Hand der Dämonen fallen und niemand würde es kommen sehen. Marcus erschauerte bei dem Gedanken und ließ Alejandro los. Ungläubig starrte er ihn an. „So voller Vorfreude?“, flüsterte der Cadejo heiser und lachte hämisch. „Das wundert mich. Du warst doch eben noch so abgeneigt.“ Marcus biss auf den Knebel und versuchte, an ihm vorbei etwas zu sagen, aber es kamen nur undeutliche Laute aus seinem Mund. Er schüttelte den Kopf, um sich verständlich zu machen. Dieser Knebel musste verschwinden. Alejandro musterte ihn abschätzig. „Du musst deutlicher sprechen“, höhnte er. „Sonst verstehe ich dich nicht.“ ‚Mach mich los’, artikulierte Marcus und trat einen Schritt auf den Cadejo zu. Hinter ihm bewegten sich die Wächterdämonen, doch Alejandro hob die Hand, sodass sie sich wieder zurückzogen. Mit einem misstrauischen Blick griff er nach vorn und löste den Knebel. „Was willst du?“, fragte er. Marcus bewegte prüfend den Mund, der jetzt schon unangenehm schmerzte. „Er wird dich ersetzen“, sagte und sah den Cadejo eindringlich an. „Wenn er von mir bekommen hat, was er will, wird er andere, bessere Versionen von dir herstellen. Er wird dich ersetzen, vielleicht sogar töten. Wenn er mich hat, braucht er dich nicht mehr. Und er wird uns beide liquidieren lassen, wenn er erst Angelo in die Finger bekommt.“ Für einen Augenblick flackerte Unsicherheit in Alejandros Augen. Die Tragweite von Marcus’ Eröffnung schien ihn zu überfordern. Marcus wusste, dass er dem Cadejo nichts anbieten konnte, das ihn zu seinem Verbündeten machen würde. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass Alejandro um seiner selbst willen auf die Idee kam, ihn freizulassen. Und er konnte nur hoffen, dass der Cadejo das Dilemma nicht dadurch löste, dass er sich Marcus auf andere Weise entledigte. Aber ebenso schnell wie der Funke des Widerstands in Alejandro aufgeglommen war, erlosch er auch schon wieder. „Halt die Klappe “, blaffte der Cadejo ihn an und schob wie zur Bekräftigung den Knebel zurück in Marcus’ Mund. „Du hast keine Ahnung, wovon du da sprichst.“ Er trat zurück und hob das schwarze Ding auf,das noch an Marcus’ Verkleidung fehlte. Er betrachtete es kurz, bevor er es hochhielt und Marcus hämisch angrinste. „Das Beste kommt zum Schluss. Dreh dich um und bück dich, Nephilim. Das hier wird jetzt ein kleines bisschen wehtun.“ Kapitel 26: Rafael ------------------ Die dunkle Nacht huschte an den Autofenstern vorbei, während Gabriella sich in den Sitz drückte und die Finger ineinander verschränkte. Sie fragte sich, was Michael und Angelo wohl gerade taten, sie fragte sich, was sie auf diesem Bauernhof erwarten würde, und sie fragte sich, welches Schicksal Marcus gerade ereilte. Ob es ihm gut ging? Sie konnte es nur hoffen. Das und dass er noch ein wenig durchhielt für den Fall, dass sie mit diesem Wahnsinn wirklich Erfolg hatten. „Sie sehen müde aus, Señora.“ José warf ihr einen kurzen Blick zu „Vielleicht sollten Sie noch ein wenig schlafen.“ Gabriella schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht.“ Er lächelte verständnisvoll. „Zu aufgeregt?“ „Ja, auch. Ich mache mir Sorgen um unseren Freund.“ „Ah, es wird ihm bestimmt gutgehen. Und wenn nicht, werden sie nichts daran ändern, wenn Sie sich jetzt Ihren Kopf darüber zerbrechen. Dazu ist er auch viel zu hübsch.“ Gabriella konnte nicht anders, sie musste lächeln. „Danke für das Kompliment.“ José hob abwehrend die Hände. „Ich sage nur die Wahrheit. Das kann man einem Mann nicht verbieten.“ Sie fuhren einige Minuten schweigend weiter, bis José wieder das Wort ergriff. „Ich will nicht aufdringlich sein, Señora, aber erlauben Sie mir die Frage, wie es kommt, dass eine attraktive Frau wie Sie mitten in der Nacht illegal mit zwei Männern über die mexikanische Grenze reist?“ Gabriella schmunzelte. „Ich bin mit einem von ihnen verheiratet.“ „Ah“, machte José und lachte. „Das erklärt einiges.“ Er lächelte verschmitzt. „Und der andere? Ein Freund?“ Die Art, wie er das Wort betonte, ließ Gabriella ein wenig unbehaglich zur Seite sehen. Es implizierte genau die richtige Bedeutung, aber sie würde dies bestimmt nicht mit einem Fremden besprechen, den sie kaum ein paar Stunden kannte. „Oh, bitte entschuldigen Sie. Ich wollte sie nicht beleidigen. Mir ist nur aufgefallen, dass es da zwischen Ihnen gewisse … Vertraulichkeiten gibt. Das hat mich neugierig gemacht. Aber es steht mir natürlich nicht zu, Sie danach zu fragen. Das war unhöflich von mir.“ Gabriella versuchte ein Lachen. „Nein, es ist schon in Ordnung. Angelo ist … etwas Besonderes.“ „Ich verstehe.“ Kurze Zeit später setzte José den Blinker und steuerte eine kleine Siedlung an. Er hielt an einem der ersten flachen Bungalows. „Wir sind da. Ich werde schnell Bescheid sagen, damit jemand die Criadillas abholt.“ Gabriella nickte und beobachtete, wie José ausstieg und zum Haus ging. Darin war es dunkel. Er klopfte an und wartete ab. Als eine Frau an der Tür erschien und ih erstaunt ansah. Als sie begann ihn anzukeifen, schob er sie kurzerhand nach drinnen und schloss die Tür. Gabriella verharrte noch einige Augenblicke an ihrem Platz, bevor sie ebenfalls ausstieg, um den Wagen herum ging und die hinteren Türen öffnete. „Hey ihr beiden. Zeit zum Aussteigen.“ „Ein Glück.“ Michael kletterte ein wenig umständlich von der Ladefläche und streckte sich. „An den Gestank gewöhnt man sich ja mit der Zeit, aber bequem ist wirklich anders.“ Angelo schien ihre Fahrt etwas besser überstanden zu haben. Er sah sich um. „Wo sind wir?“ „An der Straße stand ein Schild, aber ich habe mir den Namen des Ortes nicht merken können. Sama-irgendwas. José sagte, er würde seine Lieferung hier übergeben.“ Gabriella sah zu dem Haus hinüber, in dem inzwischen ein Licht brannte. Ein Schatten geisterte vor dem Fenster vorbei. Kurz darauf öffnete sich die Tür und José trat heraus. Als er näherkam, sah sie einen blutigen Kratzer auf seiner Wange. „José! Was ist passiert?“ Er lächelte entschuldigend. „Nun, meine Frau war nicht begeistert von meinem Plan, Sie heute Nacht zu begleiten. Ich musste ihr versprechen, diese Aufgabe an jemand anderen abzugeben. Jemand der ein bisschen jünger und weniger verheiratet ist als ich.“ Er wies die dunkle Gasse entlang. „Gehen Sie hier bis zum Ende der Straße und dann nach links, bis sie zu einem Hotel kommen. Ich werde jemandem Bescheid sagen, der Sie fahren kann.“ José trat vor, griff nach Gabriellas Hand und setzte einen kleinen Kuss darauf. „Es war mir eine Ehre mit Ihnen zu reisen, Señora. Passen Sie gut auf sich auf.“ Gabriella hörte Michael hinter sich schnauben. „Dazu hat sie ja uns, nicht wahr?“ José lächelte unverbindlich. „Sí, natürlich. Ich bin sicher, dass Sie gut auf sie achtgeben werden, Señor.“ Michael sah aus, als wolle er noch etwas darauf erwidern, aber Gabriella fiel ihm kurzerhand ins Wort, bedankte sich noch einmal herzlich bei José, nahm ihren Mann beim Arm und zog ihn in die Richtung, die José ihnen gewiesen hatte. Als sie ein paar Schritte gelaufen waren, machte Michael sich von ihr los. „Was soll, das? Ich kann alleine laufen.“ „Ja, aber dich nicht alleine benehmen. Du sahst aus, als würdest du gleich auf José losgehen.“ „Er hat mich beleidigt. Uns!“ Michael zeigte auf sich und Angelo, der ein paar Schritte neben ihnen ging. Gabriella ersparte sich und Michael eine Antwort. Für Hahnenkämpfe war es nun wirklich der falsche Ort und die falsche Uhrzeit. Die Straße, auf der sie entlanggingen, war mehr oder weniger unbefestigt. Kleine Steine knirschten unter ihren Füßen und der Ort um sie herum war wie ausgestorben. Es war empfindlich kalt und Gabriella schlang die Arme um den Körper, um wenigstens eine kleine Illusion von Wärme zu erhalten. Ihre Sachen hatten sie in dem Motel in El Paso zurückgelassen. Irgendwann kam Michael zu ihr und legte ihr seinen Arm um die Schulten. Mit einem Seufzen lehnte sie sich näher an ihn. „Tut mir leid“, murmelte er leise. „Der Kerl war mir einfach unsympathisch. Also anfangs nicht, aber als er dann angefangen hat, dich anzugraben …“ Sie lachte auf. „Er hat was?“ „Dich angegraben. Sag bloß, das ist dir nicht aufgefallen.“ „Ehrlich gesagt habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht.“ Sie konnte Michaels Gesicht im Dunkeln nicht sehen, aber irgendetwas sagte ihr, dass er gerade höchst zufrieden aussah. Gabriella schüttelte innerlich den Kopf und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße, um nicht im Dunkeln in ein Schlagloch zu treten. Das Hotel lag hinter einem hohen Maschendrahtzaun, auf dessen oberem Ende noch Stacheldraht angebracht war. Am Eingang brannte Licht, aber es war niemand zu sehen. „Es ist keiner hier“, bemerkte Michael und sah sich suchend um. „Vielleicht dauert es ein wenig, bis José jemanden erreicht“, antwortete Gabriella und schickte ebenfalls einen Blick die Straße entlang. Ihnen gegenüber konnte sie die Umrisse eines großen Gebäudes erkennen. Dahinter lag die Schwärze einer leeren Landschaft. Nichts regte sich und nur der leise Wind, der über die Ebene strich, erzeugte überhaupt eine Art von Geräusch. Ansonsten war es totenstill. „Ganz schön gruselig“, meinte sie und lachte. Es klang unnatürlich laut in der Stille. „Mhm, ein bisschen wie auf einem Friedhof. Man wartet quasi darauf, dass die Erde aufbricht und irgendwelche Zombies daraus hervorkriechen.“ Gabriella versetzte Michael einen Schlag. „Du bist unmöglich.“ „Das nennt sich Galgenhumor.“ Plötzlich hob Angelo die Hand. „Hört ihr das? Da kommt jemand.“ Gabriella spitzte die Ohren und kurz darauf konnte sie es ebenfalls hören. Es war das Geräusch eines Wagens. Am Ende der Straße tauchten zwei Lichter auf. Als sie näherkamen, sah man, dass sie zu einem altersschwachen, rostfleckigen Auto gehörten, das kurz vor ihnen anhielt. Als der Fahrer ausstieg, machte Gabriella ein verblüfftes Geräusch. „Hola! Sind Sie die Amerikaner, die mit José hierher gekommen sind?“ Der junge Mann, der neben der Fahrertür stand, lächelte sie an. Er war etwa so groß wie Angelo, schlank, mit dunklen Locken und einem strahlend weißen Lächeln. „Ja", antwortete Michael und ging auf ihn zu. „Ich bin Michael, das ist meine Frau Gabriella und unser Freund Angelo.“ Der Junge nahm die angebotene Hand und schüttelte sie. „Freut mich. Mein Name ist Rafael. Ich hab gehört, ihr wollt nach Süden? Wo soll’s denn hingehen.“ Michael warf Gabriella einen Blick zu. Sie verstand sofort, was er meinte. Anscheinend hatte niemand diesem Jungen gesagt, worauf er sich einließ. Doch bevor sie jedoch reagieren konnte, hatte Angelo das schon für sie übernommen. „Kannst du uns einfach fahren?“, fragte er und lächelte Rafael an. „Wir sagen dir dann, wenn wir da sind.“ „Na logisch“, antwortete der mit einem Grinsen. „Los, steigt ein. Je eher wir hier wegkommen, desto eher sind wir da.“ Gabriella war froh, dass Michael sich entschloss, mit ihr zusammen auf der Rückbank zu sitzen. Da es hier hinten ohnehin keine Gurte gab, rückte sie nahe an ihn heran, lehnte sich ein wenig an ihn und lauschte dem Gespräch, das Angelo und Rafael im vorderen Teil des Wagens auf Spanisch führten. Rafael hatte dabei die Angewohnheit, das R auf eine Weise zu rollen, die ihr immer wieder kleine angenehme Schauer über den Rücken laufen ließ. Eine Tatsache, die auch Michael nicht entging. „Er ist niedlich, nicht wahr“, flüsterte er und lachte leise, als sie ihn empört in die Seite knuffte. „Darauf habe ich gar nicht geachtet“, wisperte sie zurück. „Nein? Ich aber. Und Angelo ist es auch aufgefallen oder meinst du, die beiden wären sich sonst so spontan sympathisch gewesen.“ „Sie haben eben gemeinsame Interessen“, wiegelte Gabriella ab. Sie hatte zwar nicht alles verstanden, da die beiden ziemlich schnell redeten, aber Rafael erzählte anscheinend gerade eine Geschichte über ein Mädchen, das er hatte beeindrucken wollen. Angelo zog ihn damit auf, dass das gründlich danebengegangen war, und lachte laut, als Rafael deswegen schmollte. Es war ein unschuldiger, befreiender Laut, der Gabriella warm ums Herz werden ließ. Gleichzeitig wusste sie, dass das hier nur geborgte Zeit war. Sie seufzte leise. „Wir müssen ihn unbedingt zurückschicken, bevor … na ja du weißt schon.“ „Natürlich werden wir das tun. Aber bis dahin genießen wir doch einfach ein bisschen die Ruhe vor dem Sturm, okay?“ Sie seufzte noch einmal und kuschelte sich näher an Michael, der den Arm um sie legte und sie an sich drückte. „Weißt du“, sagte sie nach einer Weile, „wenn das hier vorbei ist, machen wir erst mal Urlaub. Ich will mich an den Strand legen, Margaritas trinken und am liebsten den ganzen Tag lang gar nichts mehr tun.“ „Und nachts?“, fragte Michael und sie spürte, dass er grinste. „Keine Ahnung. Schlafen vielleicht?“ „Ach, ich wüsste da was Besseres.“ Sie musste lachen. „Du bist unverbesserlich.“ „Ich liebe dich eben.“ Er küsste sie seitlich auf die Stirn und hauchte ihr ins Ohr: „Und ich begehre dich. Und jetzt gerade gefällt mir die Vorstellung, dass das hier eine Fahrt in einen wunderbaren Urlaub ist. Nur wir zwei und Angelo und vielleicht auch noch Rafael. Die beiden wären ganz bestimmt eine ziemliche Schau zusammen.“ Gabriella wollte Michael sagen, dass er sich am Riemen reißen sollte, aber auf dem Vordersitz hatte Rafael angefangen, bei einem Lied aus dem Radio mitzusingen. Beim Refrain fiel Angelo plötzlich mit ein und zusammen mit ihren zufallenden Augen, der ansteigenden Wärme im Auto und einigen anderen Dingen ergab sich daraus ein durchaus interessantes Bild. Sie saßen zu viert an einem Tisch. Es war ein Restaurant oder etwas in der Art. Die Seitenwände waren offen und ließen den Blick auf eine üppige Landschaft frei, die langsam in der aufsteigenden Dämmerung versank. Von den Büschen, die rund um das Restaurant wuchsen, konnte man nur noch die glockenartigen, gelben Blüten erkennen, deren schwerer Honigduft die warme Abendluft tränkte. Auf den Tischen standen Weingläser und Kerzen und auf einer kleinen Bühne spielte eine Band. Getragene Gitarrenklänge mischten sich mit schnelleren Rhythmen untermalt von spanischem Gesang. Mit einem Mal fasste Rafael nach Angelos Hand. Er nötigte ihn aufzustehen und ihm auf die Tanzfläche zu folgen. Dabei lachte er sein strahlendes Lachen und zog Angelo an sich. Die beiden berührten sich und wiegten sich miteinander im Takt der Musik. Dabei sahen sie sich tief in die Augen, die Arme um den Körper des anderen gelegt, die Hände vielleicht ein wenig tiefer gerutscht, als es eigentlich in der Öffentlichkeit schicklich war. Immer inniger und enger wurde ihr Tanz. Sie lächelten und ihre Lippen näherten sich zu einem ersten, scheuen Kuss, der schon nach einigen vorsichtigen Versuchen tiefer und leidenschaftlicher wurde. Gabriella verfolgte ihr Treiben mit wachsender Aufmerksamkeit, als sie plötzlich eine Hand an ihrem Knie spürte. Als sie den Kopf drehte, fand sie sich Michael gegenüber, der sie mit glühenden Blicken musterte. Seine Hand glitt langsam höher und unter den Saums ihres Kleides und weiter hinauf bis zu der Stelle, wo sich ihre Schenkel trafen. Sie keuchte erschrocken auf, als ein vorsichtiger Finger sie dort streichelte. „Nicht“, flüsterte sie leise, aber Michael lachte nur. „Warum nicht? Es ist doch niemand hier. Niemand außer uns Vieren. Und Angelo und Rafael haben gerade genug mit sich selbst zu tun.“ Ihr Blick glitt von Michael zurück zu den beiden jungen Männern, die eng umschlungen auf der Tanzfläche miteinander Zärtlichkeiten austauschten. Rafael hatte den Kopf zurückgelegt, während Angelo seinen Hals küsste und seine Hände gerade unter das T-Shirt des hübschen Mexikaners schob. Sein Knie drückte sich zwischen Rafaels Beine und den Hüftbewegungen zufolge, die dieser daran ausführte, war ihm das nicht wirklich unangenehm. Er griff nach Angelos Hintern und presste ihn fester an sich. Angelo entwich ein erregter Laut, bevor er Rafaels Mund wieder zu einem neuen, stürmischen Kuss eroberte. Das Kribbeln zwischen Gabriellas Beinen wurde intensiver und sie ließ sich widerstandslos um den Tisch herum auf Michaels Schoß ziehen. Er positionierte sie so, dass sie die beiden Tänzer noch beobachten konnte, während sich ihr Po gegen die feste Erhebung in seinem Schoß drückte. Sie grinste und bewegte sich ein wenig, sodass Michael leise in ihr Ohr stöhnte. „Ich will dich“, flüsterte er und sie spürte seine Lippen an ihrem Ohr, ihrem Hals, seine Hände immer noch unter ihrem Rock, wo sie zunächst am Rand ihres Slips entlangfuhren, bevor sie schließlich darunter schlüpften und die verborgenen Täler erkundeten, die sich ihnen dort offenbarten. Gabriella bäumte sich auf, als er ihre Kitzler berührte und mit sanften, kreisenden Bewegungen darüber strich. Es war gut, aber noch nicht genug. Sie wollte ihn spüren. Jetzt. Als sie aufsah, traf sich ihr Blick mit Angelos leuchtend blauen Augen. Seine Lider waren ein Stück weit geschlossen, was sicherlich damit zusammenhing, das Rafael vor ihm kniete und seinen Kopf in Angelos Schoß versenkt hatte. Gabriella konnte nicht genau sehen, was er dort tat, aber die Art und Weise, wie er sich bewegte, ließen eigentlich nur einen Schluss zu. Gabriella leckte sich über die Lippen und Angelo lächelte. Er berührte Rafael sanft und sagte etwas auf Spanisch, das sie nicht verstand. Als Rafael daraufhin von ihm abließ und sich umdrehte, sah sie in dessen dunklen Augen tiefe Lust und Bewunderung. Michael hatte derweil begonnen, ihr Oberteil aufzuknöpfen. Der seidige Stoff fiel beiseite und entblößte ihre bebenden Brüste. Sofort ließ er seine Finger unter die spitzenbesetzten Schale ihres BHs gleiten und schloss sie besitzergreifend um das üppige Rund. Er zwirbelte die empfindlichen Brustwarze, die sich daraufhin aufrichtete und hart wurde. Die Berührung sandte prickelnde Schauer durch Gabriellas Körper und sie spreizte ihre Beine noch weiter, um sich stärker für Michaels forschende Finger zu öffnen. Dass die Blicke der beiden jungen Männer dabei auf ihr lagen, machte es nur noch köstlicher. Sie sah, wie Rafael aufstand und auf sie zukam. Dabei gab er den Blick auf Angelos Erektion frei, die aus dessen halb geöffneter Jeans herausragte. Angelo umfasste sie und begann zu pumpen, während Rafael sich vor Gabriella auf dem Boden niederließ. Sein braunen Augen waren beinahe schwarz. „Du bist wunderschön. Dürfte ich …?“ Michael nahm Gabriella die Entscheidung ab, indem er Rafaels Hand ergriff und sie unter ihren Rock schob. Gabriella zuckte zusammen, als die schlanken Finger ihr Ziel fanden. Für einen Moment gab sie sich völlig dem Gefühl hin und genoss die vielen Hände, die ihren Körper liebkosten. Schritte näherten sich ihr und als sie die Augen aufschlug, sah sie Angelo, der vor ihr stand, sein steifes Glied immer noch in der Hand. Gabriella überlegte nicht lange, sondern zog ihn an sich und öffnete den Mund. Während sie ihn empfing, machte Rafael sich an ihrer Unterwäsche zu schaffen und zog sie ihr von den Beinen. Im nächsten Augenblick spürte sie seine weiche Zunge zwischen ihren Beinen. Sie stöhnte um Angelos festes Fleisch herum, das er langsam in ihren Mund ein- und ausführte, immer darauf achtend, sie nicht zu sehr zu bedrängen. Michaels Hände glitten derweil über ihre Brüste, deren textile Hülle er inzwischen geöffnet und einfach nach oben geschoben hatte. Gabriellas Erregung wuchs. Ihr Blut kreiste schneller durch ihre Adern und ihr Atem wurde abgehackter. Unter ihr begann Michael unruhig zu werden. So entließ sie Angelo aus ihrem Mund und streichelte Rafael noch einmal durch die weichen Locken, bevor sie seinen Kopf sanft von sich schob. „Ihr habt alle drei noch zu viel an“, verkündete sie kokett, bevor sie aufstand und ihre Kleid von ihren Schultern gleiten ließ. Der geöffnete BH folgte und im nächsten Moment stand sie nackt zwischen den drei Männern, die sie voller Bewunderung betrachteten. „Ich schließe mich dieser Meinung an“, sagte Michael und langte nach Angelo, um dessen Hosen nach unten zu streifen, während er seinen Mund das Werk fortsetzen ließ, das Rafael und Gabriella zuvor begonnen hatten. Lächelnd wandte sich Gabriella Rafael zu. Er erwiderte ihr Lächeln ein wenig scheu. „Das ist alles so neu für mich“, hauchte er. „Keine Angst“, flüsterte sie und strich ihm über die Wange. „Du bist bei den beiden in guten Händen.“ Sie trat einen Schritt zurück und übergab Rafael in Michaels und Angelos Obhut, die den jungen Mann und sich selbst innerhalb kürzester Zeit entkleideten. Sie nahmen ihn zwischen sich und Angelo erwiderte kniend den Gefallen, den Rafael ihm früher getan hatte, sodass dieser stöhnend den Kopf zurückwarf. Michael nutzte die Gelegenheit, um Rafael in einen leidenschaftlichen Kuss zu verwickeln, während er sich von hinten an ihn presste. Angelos Hand glitt derweil an Rafaels Bein aufwärts und hob es sanft an, um es sich über die Schulter zu legen, während seine Hand zwischen dessen Pobacken verschwand. Gabriella verfolgte das Ganze mit angehaltenem Atem und stellte sich vor wie es wohl wäre, an Rafaels Stelle zu sein. Sein gebräunter Körper lehnte sich gegen Michaels breite Brust, während Angelos Tun ihm exquisite Laute entlockte. Mit geröteten Wangen begann er darum zu betteln, mehr zu bekommen. Mehr von dem, was Angelo gerade mit ihm anstellte. Mehr von Michael. Mehr von etwas, das ihn endlich erlöste. Gabriella biss sich auf die Lippen. Sie hatte es noch nie auf diese Weise mit Michael gemacht, aber plötzlich erwuchs in ihr der Wunsch, es auszuprobieren. Ihm auch diese Art von Lust zu schenken, wie Angelo es tat. Ihn tief in sich zu spüren an diesem Ort, der bisher noch unberührt war. Allein die Vorstellung von fordernden Fingern, die dort in sie eindrangen, machte sie ganz kribbelig, und sie konnte es kaum erwarten, dass Michael sich endlich von seinen jüngeren Gespielen löste, um zu ihr zu kommen. Der jedoch ließ sich Zeit und verwickelte Rafael zunächst noch einmal in einen tiefen Kuss, mit dem er dessen Lustschreie erstickte, die Angelo ihm abrang. Doch endlich, endlich überließ er die beiden jungen Männer wieder sich selbst und kam auf Gabriella zu. Er war voll erregt und sie ließ ihre Finger neckend über die samtige Härte gleiten, bevor sie ihn auf einen Stühle dirigierte. Mit einem Lächeln ließ sie sich auf seinem Schoß nieder und nahm ihn in einer schnellen Bewegung in sich auf. Er griff nach ihren Hüften und hielt sie, während er tief in sie eindrang. Sie genoss das Gefühl, rollte ihr Becken auf ihm ab und eroberte mit ihrer Zunge seinen Mund, bevor sie seinen Kopf zurückzog und ihm tief in die Augen sah. „Ich will dich dort spüren“, sagte sie und drängte sich noch näher an ihn. Er wirkte zunächst unsicher, wie sie das meinte, doch als sie mit dem Kopf nach hinten wies, wo Angelo sich den Lauten nach zu urteilen inzwischen in Rafael versenkt hatte, huschte Verstehen über seine Züge. „Wirklich?“, fragte er atemlos und grub seine Finger in ihre Haut. In ihr zuckte es. „Ja“, antwortete sie lächelnd. „Ich will wissen, wie es sich anfühlt. Nimm mich, wie du ihn nimmst.“ „Oh Baby, ich liebe dich.“ Gabriella hatte nicht erwartet, dass er sie auf den Tisch werfen und sie zunächst mit der Zunge erkunden würde, doch das Gefühl des feuchten Muskels, der sich gegen ihren Eingang drängte, die nur allzu sensible Stelle weiter und weiter reizte und ihre Schwelle schließlich mit einem kühnen Vorstoß durchbrach, ließ sie vor Lust aufkeuchen. Sie bemerkte Angelos hungrigen Blick auf sich ruhen, während er in Rafael stieß, der vor ihm auf dem Boden kniete. Er lächelte wissend, als Michael sich hinter ihr positionierte und langsam und sehr, sehr vorsichtig in sie eindrang. Es fühlte sich ungewohnt an aber auf erregende Weise intimer als alles, was sie zuvor getan hatten. Als Michael sich in ihr zu bewegen begann, stöhnte sie tief auf. Das Gefühl der eigenen Enge, der sengenden Hitze, die in sie glitt, das völlige Ausgefülltsein war so viel intensiver als zuvor. Kurz darauf zog sich Michael aus ihr zurück und geleitete sie wieder zu dem Stuhl. Er setzte sich und sie zögerte nicht sich umzudrehen und ihm erneut ihren hinteren Eingang anzubieten. Mit gespreizten Beinen saß sie auf ihm und ritt ihn, während sie sich selbst rieb und die beiden jungen Männer beobachtete, die inzwischen erneut sie Stellung gewechselt hatten. Rafael, auf dessen Brust und Bauch sich bereits die Spuren seines Höhepunkts zu finden waren, lag jetzt auf dem Rücken, während Angelo sein linkes Bein gegen seinen Oberkörper gepresst hatte und immer wieder mit einem heiseren Keuchen in ihn eindrang. Als er jedoch Gabriella auf Michaels Schoß saß, ließ er von dem jungen Mexikaner ab, stand auf und kam zu ihr. Ohne zu zögern ging er vor ihr auf die Knie. „Du bist so sexy“, flüsterte er und küsste sie. „Ich möchte mit dir schlafen.“ „Aber …“, wollte sie einwenden, bevor sie verstand. Sie wagte kaum zu atmen und nickte. Er kam noch ein Stück näher, eroberte ihren Mund mit einem stürmischen Kuss und versenkte sich schließlich gleichzeitig mit Michael in ihr. Sie stöhnte ob der Fülle, der Intensität der Gefühle, der vielfältigen Reize, die auf sie einstürmten. Da waren zu viele Hände, zu viele Körper, zu viel Nähe, als das sie es noch vollkommen hätte erfassen können. Und gleichzeitig putschte das Wissen darum, was gerade passierte und wie es sich anfühlte sie immer höher und höher, bis sie schließlich das Ende erreichte. Ihr Höhepunkt überschwemmte sie und riss sie mit fort, während sich die beiden Männer gleichzeitig in ihr bewegten, sie küssten, sich über ihre Schulter hinweg gegenseitig küssten, sich an sie drängten und immer wieder in sie stießen, bis sie sich am Ende gleichzeitig in ihr ergossen. In diesem Augenblick wachte Gabriella auf. In ihrer Nase hatte sie immer noch den Geruch der schweren, gelben Blüten, deren Namen ihr ebenso wie die Erinnerung an den Traum zunehmend entglitt. Stattdessen schälten sich langsam die Umrisse des Wagens aus der Realität, der sie nach wie vor durch die Nacht fuhr. Michael neben ihr schlief, ebenso wie Angelo auf dem Beifahrersitz. Im Rückspiegel fand sie Rafaels wachsame Augen auf sich ruhen „Ah, Gabriella“, sagte er und hörte sich erleichtert an. „Ich bin froh, dass du wieder wach bist. Du hattest einen unruhigen Schlaf. Hast du schlecht geträumt?“ Sie schüttelte automatisch den Kopf und sah ihn die Stirn runzeln. „Aber du hast gestöhnt und geseufzt und dich im Schlaf bewegt.“ Plötzlich huschte Erkenntnis über sein junges Gesicht. Er grinste. „Ach, ich verstehe. Es waren angenehme Träume.“ Sie wurde rot und er zwinkerte ihr zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße lenkte. Am Horizont sah man die erste helle Linie des herannahenden Morgens. Michael erwachte, als der Wagen an einer Tankstelle hielt. Noch während er mit den letzten Spuren des Schlafs kämpfte, hatte Rafael bereits das Fenster heruntergekurbelt und dem Tankwart gesagt, was er wollte. Von draußen wehte der Geruch von Öl und Benzin herein. Michael stöhnte und schloss die Augen noch einmal. Sein Nacken war steif und irgendwie hatte er das Gefühl, sich wie durch zähflüssigen Sirup zu bewegen. Alles war zu langsam und zu anstrengend. Fast wie ein Kater nur ohne Kopfschmerzen. „Sind wir schon da?“, fragte Angelo auf dem Vordersitz. Er streckte sich und blinzelte verschlafen. Rafael zuckte mit den Schultern. „Ihr habt mir ja nicht gesagt, wo ihr hinwollt. Allerdings müsstet ihr mir mal eine ungefähre Richtung geben. In ein paar Meilen gabelt sich die Straße und es gibt zwei mögliche Routen. Die eine führt allerdings am Naturreservat von Mapimì vorbei. Das ist landschaftlich schöner.“ Gabriella warf Michael einen bedeutungsschwangeren Blick zu. „Nimm diese Strecke“, sagte sie nur zu Rafael, bevor sie wieder den Kopf abwandte. Michael runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Vielleicht hatte sie ebenso schlecht geschlafen wie er. Die Sonne ging auf und sie frühstückten irgendwelche Teigtaschen, die Rafael ihnen besorgt hatte. Angelo machte sich ziemlich glücklich über einige Süßigkeiten her, die der junge Mexikaner ebenfalls aufgetrieben hatte. Der leichte Rotton, der seine Wagen zierte, als er sich bei Rafael dafür bedankte, ließ Michael schmunzeln. Er war allerdings anscheinend der Einzige, dem das auffiel, denn Gabriella sah aus dem Fenster und Rafael war bereits wieder auf die Straße konzentriert. „Da, seht ihr? Dort beginnt das Reservat.“ Michael sah nach draußen, aber für ihn war das alles nur mit niedrigen Büschen bewachsene Wüste. Ziemlich viel Wüste, wenn er ehrlich war. Und mitten in der Wüste … Er stieß Gabriella an „Sieh mal! Ein Wegweiser zur 'Zona del Silencio'. Und jetzt?“ „Lass mich nur machen“, flüsterte sie zurück. „Ich habe bereits einen Plan.“ Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie sagte: „Rafael, bitte halte doch bei der nächsten Gelegenheit an und lass uns raus, ja?“ „Was?“ Michael sah Rafaels irritiertes Gesicht im Rückspiegel. „Ich kann euch doch nicht einfach in der Pampa absetzen.“ „Dort, wo wir hinwollen, könnte es gefährlich werden“, erklärte Angelo mit leichtem Bedauern. „Es ist vielleicht besser, wenn du …“ „Nein, kommt überhaupt nicht in Frage“, entrüstete sich Rafael. „Ich habe José versprochen, euch hinzubringen, wo immer ihr hinwollt. Und wenn es mitten in die 'Zona del Silencio' wäre. Betretenes Schweigen machte sich breit. Rafael sah von einem zum anderen. „Moment, wollt ihr mir etwa weismachen, dass ihr Zoneros seid?“ Michael räusperte sich. „Nun, ja …“ Rafael lachte jetzt wieder. „Oh, ihr macht mir Spaß. Warum habt ihr das denn nicht gesagt? Habt ihr gedacht, ich lache euch aus, nur weil ihr Aliens suchen wollt? Keine Widerrede, ich fahre euch. Am Ende verlauft ihr euch dort noch und wir müssen einen Suchtrupp nach euch losschicken.“ Angelo sah Rafael an. „José hat gesagt, es gäbe eine Bauernhof, auf dem immer wieder drei eigenartige Fremde gesichtet würden. Sie wären blond wie ich und na ja… Weißt du, wo der liegt?“ „Mhm, vielleicht.“ Er grinste. „Was bekomme ich, wenn ich ihn finde?“ Angelo antwortete nicht, aber seine Gesichtsfarbe wurde noch sehr viel dunkler als bei der Sache mit den Süßigkeiten. Michael musste wieder lächeln, auch wenn er nicht ganz genau wusste, wie er diese Intimität zwischen den beiden finden sollte. Sicher, in der Nacht war ihm das noch interessant vorgekommen, aber jetzt störte ihn etwas daran, auch wenn er nicht direkt den Finger darauf legen konnte, was es war. Rafael jedoch ging nicht weiter auf seinen Scherz ein. Er bog bei der nächsten Gelegenheit ab und folgte einer von da an einer befestigten, aber trotzdem scheinbar wahllos in die Landschaft betonierten Straße, die sie mitten in das Herz einer schier endlosen Ebene trug. Als der Wagen endlich auf eine Ansammlung von Gebäuden zufuhr, die mitten in der eintönigen Landschaft lag, wurde Michael wieder munterer. Die Straße war bereits vor über einer Stunde einem Sandweg gewichen und auch der hatte irgendwann aufgehört. Um sie herum war nichts als Wildnis. Anfangs waren sie noch an kleinen Waldstücken und sogar einem See vorbeigekommen, aber seit geraumer Zeit beschränkte sich die Landschaft nur mehr auf ihre vier wesentlichen Bestandteile: Sand, Büsche, Kakteen und noch mehr Sand. Irgendwo in der Ferne erhob sich ein schwarzes Bergmassiv, das in der heißen Luft unwirklich und unscharf wirkte. Ansonsten gab es keinerlei Orientierungspunkte. Radio, Handys und sogar Michaels Armbanduhr funktionierten nicht mehr. Es war, als hätte die Zeit aufgehört zu existieren. Rafael parkte den Wagen am Eingang des Gehöfts und sie stiegen gemeinsam aus. Flirrende Mittagshitze schlug ihnen entgegen und obwohl es im Wagen bereits warm gewesen war, stellte das direkte Sonnenlicht noch einmal eine Steigerung dar. Michael hörte Gabriella ächzen und auch Angelo wirkte nicht mehr so frisch wie noch am Abend zuvor. Rafael hingegen schien die Hitze wenig auszumachen. „Besser, ich gehe mal nachsehen, ob jemand zu Hause ist“, sagte er. „Ihr wartet hier, ja?“ Er schlenderte auf ein flaches Gebäude zu, das Michael für das Wohnhaus hielt und klopfte an die Tür. Als niemand öffnete, verschwand er in einem der nahegelegenen Ställe. Sie warteten, doch als Rafael nach einer Weile nicht wieder auftauchte, wurde Angelo unruhig. Er begann, auf und ab zu laufen und brach schließlich das Schweigen. „Wir sollten ihm nachgehen.“ „Das denke ich auch“, stimmte Michael zu und gemeinsam betraten sie den wie ausgestorben daliegenden Bauernhof. Michael sah sich um. Die Fenster des Hauses waren blind vor Schmutz, die Ställe wirkten verwaist und er vermisste allgemein das Gefühl, dass hier überhaupt jemand lebte. Der Ort wirkte tot und nichts regte sich. Sie riefen nach Rafael, bekamen aber keine Antwort. „Das gefällt mir nicht“, meinte Gabriella. „Vielleicht ist es der falsche Bauernhof.“ „Oder er wurde mittlerweile aufgegeben.“ Michael sah zu der Scheune, in der Rafael verschwunden war, und fasste einen Entschluss. „Ich werde nachsehen gehen. Ihr zwei wartet hier draußen.“ „Michael?“ Angelo machte einen Schritt auf ihn zu. „Soll ich nicht lieber …?“ „Nein. Wenn das hier eine Falle ist, brauche ich jemanden, der mich da wieder rausboxt.“ Er grinste Angelo ein wenig schief an, bevor er sich umdrehte und langsam auf das Tor zuging, das Rafael einige Zeit zuvor durchquert hatte. Er atmete noch einmal tief durch, bevor er nach dem ausgedörrten Holz griff, es ein Stück weit aufschob und mit gespannten Sinnen nach drinnen schlüpfte. Im Inneren der Scheune war es deutlich dunkler als draußen, aber nicht weniger warm. Michael fühlte den Schweiß seinen Rücken hinunterrinnen, während er durch das dämmrige Halbdunkel tappte. Spärliches Sonnenlicht fiel durch einige Löcher im Dach und warf winzige Lichtpunkte auf einen zentralen Platz, an dem früher vermutlich einmal Traktoren gestanden hatten oder Heu gelagert worden war. Jetzt war die Tenne leer und über ihm knarrten nur noch die ausgetrockneten Holzbalken im Wind. Es roch nach Staub und Sand. „Rafael?“ Michael ging zwischen den Stützbalken hindurch, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Es war ein leises Scharren, das aus dem hinteren Teil des Gebäudes kam. Dort befand ein durch eine raue Steinmauer abgetrennter Teil der Scheune und in dem darin herrschenden Schatten bewegte sich etwas. „Rafael, bist du das?“ Für einen Augenblick meinte er, die Umrisse des jungen Mexikaners zu erkennen, bevor sie wieder von der Dunkelheit verschluckt wurden. „Komm schon raus, Junge, das ist nicht witzig. Wir wissen, dass der Hof verlassen ist.“ Wieder erhielt er keine Antwort. Langsam wurde Michael zu bunt. Mit festen Schritten ging er auf den kleinen Unterschlupf zu und trat durch die Tür. Im Inneren konnte er nichts erkennen, doch er hörte jemanden atmen. Ein eigenartiger Geruch drang an seine Nase. Schwer und süß wie von einem blühenden Strauch. „Ich habe auf dich gewartet“, flüsterte Rafael plötzlich genau neben ihm. Noch bevor Michael wusste, wie ihm geschah, hatten ihn kräftige Hände gegen eine Wand gedrückt und ein schmaler Körper presste sich an ihn. „Endlich sind wir allein.“ Eine schmale Hand glitt über Michaels Brust. Er lachte leicht. „Was soll das? Ich …“ Weiter kam er nicht, denn Rafaels zweite Hand befand sich plötzlich in seinem Schritt. Er ächzte. „Komm schon, ich weiß, dass du das magst“, flüsterte Rafael wieder und seine Stimme hatte etwas Zwingendes. „Ich habe es gespürt. Du willst mich ficken. Gib es ruhig zu. Du hast davon geträumt.“ Als hätten diese Worte einen Schalter umgelegt, begannen plötzlich Bilder in Michael aufzusteigen. Bilder von … Rafael. Rafael, wie er sich lächelnd vor Michael in die Knie sinken ließ. Rafael, der seinen Schwanz in den Mund nahm. Rafael, der ihn anflehte, ihn endlich zu ficken. Rafael, der sich in wilder Ekstase unter ihm wand. Rafael, dem er seinen Saft zwischen die gierigen Lippen spritzte. Immer wieder nur Rafael. „Du willst es“, flüsterte es an seinem Ohr und die Hand zwischen seinen Beinen begann Wirkung zu zeigen. Er wurde hart. „Hö... hör auf damit“, bat Michael, aber Rafael dachte nicht daran. „Komm schon. Nur eine schnelle Nummer im Stehen“, kicherte er. „Es wird doch niemand merken. Wenn wir uns beeilen, sind wir gleich wieder bei den anderen.“ „Rafael ...“ Nein, wollte Michael noch sagen, aber er kam nicht mehr so weit, denn schon hatten die flinken Finger des Jungen seine Hose geöffnet und beherzt hineingegriffen. „Na los, nur einmal. Es wird dein Schaden nicht sein.“ Rafaels Säuseln hallte wie das Summen eines Bienenstocks in Michaels Kopf wieder. Bienen. Blüten. Große, gelbe Blüten, geformt wie... Der Gedanke entglitt ihm. „Dieser Geruch“, murmelte er und keuchte, als Rafael begann, seine Erektion zu pumpen. Er hörte ein leises Lachen. „Das sind Datura. Man nennt sie auch Engelstrompeten. Ironisch, nicht wahr? Ihr Geruch kann Halluzinationen auslösen, wusstest du das? Ihr habt so schön geschlafen davon und, oh, ihr habt geträumt. Alle drei. Lag vielleicht an der Sukkubus-Essenz, die ich noch beigemischt habe. Ich war so kurz davor anzuhalten, um euch zu vernaschen, so sehr wie ihr gestöhnt habt.“ Rafaels Stimme war jetzt ganz nah an seinem Ohr, doch etwas daran war nicht in Ordnung. Sie war dunkler, samtiger. Die Hand um Michaels Härte war größer und kräftiger, ihre Bewegungen kraftvoller als noch Augenblicke zuvor. „Du hättest mir beinahe alles vermasselt.“ Noch immer konnte Michael sich nicht gegen die Handlungen des anderen Mannes wehren. Seine Gliedmaßen gehorchten ihm nicht und er fühlte nur noch die Lust, die sich zu einem glühenden Pool in seinen Lenden sammelte. „Wann immer ich mich deiner wunderschönen Frau genähert habe, bist du fast wahnsinnig geworden vor Eifersucht. Ich war schon nahe dran, dich und den Engel einfach hinten in den Lieferwagen zu lassen. Aber es wäre euch aufgefallen, wenn ich euch zusammen mit dem Hundefraß durch die Gegend kutschiert hätte. Obwohl Alejandro und seine Freunde bestimmt gerne ein bisschen mit der Ladung gespielt hätten. Aber leider musste ich sie ja zusammen mit der Leiche dieser Furie zurücklassen. Sie hätte die Autoschlüssel eben einfach freiwillig herausrücken sollen.“ „Ale…jandro?“ Michaels Zunge fühlte sich an, als wäre sie doppelt so dick und mit Watte gefüllt. Er konnte nicht reden, nicht atmen, nicht denken. Alles war voll von diesem klebrigen Blütengestank, der ihm den Kopf vernebelte. Der Mann vor ihm kicherte erneut. „Ja. Sein Gesicht, als ich ihn nicht in den Lieferwagen habe steigen lassen, war göttlich.“ „Aber …“ „Dass er für euch den Schoßhund gespielt hat, war wirklich amüsant. Wie hast du ihn genannt? Spike? Ich hätte beinahe eingenässt vor Lachen, als er mir das erzählte. 'Oh Victor, Du musst mir helfen', hat er gewinselt und mich auf Knien angefleht, unserem Meister nichts zu verraten. Er hat mir sogar angeboten, die Belohnung für eure Ergreifung zu teilen. Er ist so dumm. So dumm, dass es wehtut. Aber ich bin nicht dumm. Ich werde dich erst abliefern, nachdem ich mich an dir gelabt habe. Wenn du mir gibst, was ich will, lege ich vielleicht sogar ein gutes Wort für dich bei unserem Herrn ein, damit er dich noch ein bisschen am Leben lässt. Es wäre sonst die reinste Verschwendung. So ein großer, starker Mann.“ Michael wollte noch etwas sagen, doch sein Protest ging in dem Schmatzen feuchter Lippen unter, die sich um seine Erektion legten und zu saugen begannen. Kapitel 27: Das Tor zur Hölle ----------------------------- „Bye, Honey, bis bald mal wieder!“ Crystal warf ihrem letzten, zufriedenen Kunden noch eine Kusshand zu, bevor sie die Tür des Motels hinter sich zuzog. Entgegen dem, was Marcus vermutlich von ihr annahm, war es nämlich nicht so, dass sie alle ihre Opfer betäubte. Im Gegenteil. Die meisten lieferten durchaus freiwillig ab, was sie von ihnen wollte. Dementsprechend gut war ihre Ausbeute, die sie wie üblich in ihrer kleinen Handtasche spazieren trug. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, noch einmal in die Festung zurückzukehren, nachdem sie ihren Telefonanruf erledigt hatte. Dieses blonde Engelchen hatte ihr jedoch geraten, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Also hatte sie einfach weiter ihren Job gemacht und das hieß, dass sie ihre Ausbeute jetzt ins Heiligtum zurückbringen musste, egal ob sie wollte oder nicht. Andernfalls würde sie wohl damit rechnen müssen, an ihrem Schwanz zurückgeschleift zu werden und der war empfindlich. Mit spitzen Fingern angelte sie ihr Handy aus der Tasche und drückte einige Nummern. Es tutete, jemand nahm ab und eine kratzige Stimme pampte sie wortkarg an. „Ja?“ „Ernie, ich bin's. Einmal Rücktransport bitte. „Crystal?“ „Nee, die Zahnfee. Natürlich ich. Als los, es guckt grad keiner.“ Es knisterte und fiepte in der Leitung. Crystal hielt das Handy vom Ohr weg und bohrte sich den kleinen Finger in das klingelnde Organ. „Scheißinterferenzen! Ernie?“ „Der Boss sagt, wir brauchen das Zeug nicht mehr. Kannst es selber trinken.“ „Was? Wie kommt das denn?“ „Muss an Alejandro liegen. Es heißt, er habe dem Boss einen Halbengel angeschleppt. Weiß Asmodai, wo er den herhat.“ „Was?“ Crystal wurde ein bisschen blass um die Nase. „Sagtest du Halbengel? Und jetzt? Was machen die mit ihm?“ „Keine Ahnung. Delilah ist darauf angesetzt worden.“ „Delilah? Oh.“ Crystal kannte den anderen Sukkubus. Eine große, dünne Rothaarige, die das Interesse des Big Boss geweckt hatte und deswegen vom Straßengeschäft ausgenommen worden war. Stattdessen residierte sie jetzt in Belials Privatgemächern und bediente dessen persönliche Vorlieben. Dass jetzt ausgerechnet die ihre Krallen an Marcus wetzen durfte, passte Crystal gar nicht. Der kleine Cop war schließlich ihr Spielzeug. Sie überlegte. „Er~niiiee?“ „Was willst du denn noch?“ „Och nichts. Ich hab nur keine Bleibe für heute Nacht und keinen Bock, mir noch eine aufzureißen. Kannst du mich nicht doch zurückbeschwören? Mir tun die Füße weh.“ Sie grinste, als sie zum finalen Schlag ansetzte. „Hier um die Ecke ist übrigens ein In-n-Out Burger.“ Der grauhäutige Dämon auf der anderen Seite der Leitung grunzte. „Bring mir ein Dutzend Cheeseburger mit und wir sind im Geschäft.“ „Deal.“ Crystal spähte um die Ecke und erblickte, was sie gehofft hatte zu sehen. Delilah machte sich gerade im großen Badezimmer des Herrenhauses frisch, das den oberen Teil der Festung bildete. Der Raum wirkte wie aus erstarrter Lava gegossen. Die schwarzen Wände, in denen hier und dort Ringe eingelassen waren, um die Sklaven daran festzumachen, schluckten das Licht, das an anderer Stelle die silbernen Armaturen zum Glänzen brachte. Delilah stand vor einem großen Spiegel und kontrollierte ihr Make-up. Sie sah gut aus mit den streng zurückgebundenen, roten Haaren und der nietenbesetzten Ledercorsage, die ihre Brüste nach oben quetschte und ihre Taille noch dünner wirken ließ. Untenrum trug sie einen quasi nicht existenten schwarzen Rock und schwarze Seidenstrümpfe, die von Strapsen in der gleichen Farbe gehalten wurden. Ihre Füße, die verrieten, dass dies hier nicht ihre wahre Gestalt war, steckten in schwindelnd hohen Stiefeletten, deren Absätze messerscharf geschliffene Metallstifte waren. Auf den ersten Blick ein wunderschöner, sexy Dämon. Wenn man allerdings genauer hinsah, konnte man die Risse in der Fassade erkennen. Delilah hatte Ringe unter den Augen, die sie gerade gekonnt überschminkte, ihre Haut wirkte trocken, die Lippen unter der knallroten Farbe aufgesprungen und spröde, und ihre Haare glänzten nicht so, wie sie es gesollt hätten, wenn sie in Top-Form gewesen wäre. Allein die Tatsache, dass sie auf so menschliche Tricks wie Concealer zurückgriff, statt die Spuren mit einer einfachen Verwandlung auszugleichen, sagte Crystal alles, was sie wissen musste. Sie atmete noch einmal tief durch, warf sich in Positur und schwebte hüftwackelnd in den Raum. „Ah, Delilah, welche Freude. Küsschen, Küsschen!“ Der andere Sukkubus richtete seine leicht schrägstehenden, grünen Augen auf sie. „Crystal?“, fragte sie und das anschließende, falsche Lächeln ließ ihre Wangenknochen noch stärker hervortreten. „Was führt dich hierher? Ich dachte, du bist draußen unterwegs.“ „Och, ja. War aber so viel los, dass ich mal ne Pause brauchte. Irgendwas scheint heute in der Luft zu liegen. Die waren wie die Tiere. Ich hab kaum die Beine zusammenbekommen.“ „Ach.“ Delilah war anzumerken, dass sie nicht unbedingt vor Begeisterung überschäumte. „Und bei dir?“, fragte Crystal. Sie trat ebenfalls vor den Spiegel und imitierte Delilahs Geste, mit der sie sich über den Mundwinkel fuhr, als würde dort Lippenstift an unpassender Stelle kleben. „Ist der Boss noch zufrieden mit dir?“ „Oh ja. Er hat mir sogar …“ Delilah verstummte. „Was?“ Crystal riss die Augen auf und schlug sich die Hand vor den Mund. „Nein! Sag bloß, an den Gerüchten ist was dran. Hat er wirklich einen Nephilim? Und du darfst ihn dir zur Brust nehmen? Ist ja krass.“ Delilah lächelte geschmeichelt. „Ja, es ist wahr. Ich hab ihn vollkommen unter Kontrolle. Er ist quasi ganz gefesselt von mir.“ Sie lachte laut auf, wobei das Geräusch Crystal ein bisschen an ein tollwütiges Eichhörnchen erinnerte. Zum Glück hatte Delilah ja bei ihrer Tätigkeit meist eh nicht viel zu lachen. Die Männer wären in Scharen geflohen, wenn sie sie nicht festgebunden hätte. Crystal rückte noch ein Stück näher und senkte die Stimme. „Uuuund? Wie ist er so? Ich meine untenrum. Gut bestückt?“ Das war natürlich eine dämliche Frage, denn immerhin hatte sie Marcus’ Schwanz schon aus nächster Nähe begutachten können. Er war nicht gerade klein, aber auch nicht übermäßig umfangreich. Gutes Mittelfeld etwa. Delilah hingegen tat so, als habe sie nie etwas Besseres gesehen. „Ja, total. Die reinste Zuckerstange. Ich werd schon ganz kribbelig, wenn ich nur daran denke, dass ich ihn gleich wieder für mich habe.“ Crystal leckte sich über die Lippen. „Echt? Und wie … schmeckt er?“ Delilahs Begeisterung erhielt einen deutlichen Dämpfer. „Ähm, ja gut“, behauptete sie und wandte sich wieder dem Spiegel zu. „Wirklich ganz großartig.“ „Du durftest nicht kosten, oder?“ Der andere Sukkubus ließ den Kohlestift sinken. Ihr eigentlich hübsches Gesicht verformte sich zu einer wütenden Fratze. „Nein, durfte ich nicht. Belial will alles für sich haben. Nicht einen Tropfen habe ich gekriegt. Außerdem hasst mich dieser Scheißkerl von einem Nephilim. Keine Dankbarkeit, keine Bewunderung, nichts. Im Gegenteil beschimpft er mich jedes Mal, wenn ich den Knebel entferne. Als wenn ich was dafür könnte, dass Belial ihn nicht zum Höhepunkt kommen lässt.“ Sie fuhr herum und funkelte Crystal an. In ihrer Wut hatte sie anscheinend vergessen, was sie da von sich gab. „Weißt du, was Belial gemacht hat? Er hat eine Weinkaraffe geleert und zu diesem Nephilim gesagt, dass er kommen dürfte, wenn er die diese Nacht vollmacht. Natürlich hat er das nicht mal ansatzweise geschafft und an wem lässt der blöde Engelsbastard seinen Frust darüber aus? An mir! Als wenn ich unfähig wäre, ihm den besten Orgasmus aller Zeiten zu verschaffen. Dabei ist es verdammt viel schwieriger, ihn nicht kommen zu lassen. Aber würdigt dieser Cretin das? Nein, natürlich nicht. Ich hab so die Schnauze voll. Ich bin Künstlerin, keine Bäuerin. Soll Belial sich doch ne Melkmaschine kaufen.“ „Oh, arme Delilah. Das ist hart.“ Crystal heuchelte den verständnisvollen Ton perfekt, dabei rollte sie innerlich mit den Augen. „So viel Arbeit und nicht das kleinste Kompliment? Das ist wirklich ungerecht. Du solltest mal eine Pause machen und was essen.“ „Kann ich nicht“, knurrte Delilah. „Ich muss noch alles vorbereiten. In einer Stunde steht wieder eine Session an. Belial erwartet, dass ich gleichzeitig noch eine Show abliefere, die ihn unterhält. Dabei hab ich schon das komplette Arsenal ausprobiert. Paddle, Peitschen, Gerte, Flogger, Wachs, Nippelklemmen, Strappado, Elektroschocks, Spanischer Bock, Bastonade. Ich hab ihn angespuckt, geschlagen, ihm alle erdenklichen Arten von Schmerzen zugefügt und wollte ihn sogar meine Füße sauber lecken lassen. Aber weißt du, was dieses Arschloch gemacht hat? Er hat mich gebissen. Ich hätte fast einen Zehn verloren.“ Crystal musste an sich halten, um nicht laut loszulachen. „Vielleicht solltest du es mal mit Kitzeln versuchen. Wenn der Kerl so verbissen ist, kann er das bestimmt nur schwer aushalten.“ Delilah schnaubte. „Wahrscheinlich. Aber Belial will richtige Schmerzen. Du kennst ihn. Vielleicht verpasse ich seinem Arsch mal einen Einlauf. Aber auf Kamillentee kann er da nicht hoffen. Am besten tu ich Tabasco rein.“ Crystals Finger fuhren über den Stoff ihrer Handtasche. „Weißt du, ich könnte dich ja vielleicht mal vertreten, damit du ein bisschen ausspannen kannst.“ Delilah seufzte. „Das ist nett von dir, aber ich kann nicht. Wenn ich nicht tue, was Belial sagt, kriege ich nichts zu essen. Ich warte schon seit drei Tagen auf die nächste Ration.“ „Und wenn ich dir meine Lieferung von dieser Nacht überlasse?“, fragte Crystal scheinheilig. „Ich hab heute wirklich schon mehr als genug gehabt und es wäre doch schade, wenn das Zeug umkommt.“ Delilahs Augen glommen auf. „Das ist … verlockend. Aber Belial wird es merken, dass du nicht ich bist.“ „Ach, ich werd einfach so tun, als wenn das Nicht-Sprechen mit zur Show gehört und was das Äußere angeht …“ Crystal konzentrierte sich und nahm eine ihrer Gestalten an. Sie hätte es nie zugegeben, aber die milchhäutige Schönheit mit den roten Locken, die sie auch Marcus schon mal vorgeführt hatte, beruhte ein wenig auf Delilahs Äußerem, auch wenn sie das den anderen Sukkubus eigentlich nie hatte wissen lassen wollen. „Wow, der Hammer. Du siehst mir echt ähnlich.“ Delilah ging um sie herum. „Wie hast du das gemacht?“ Crystal lächelte. „Du weißt doch. Neid ist die ehrlichste Form der Bewunderung. Ich fand dich halt schon immer scharf.“ Sie trat zu dem anderen Sukkubus, strich ihr zärtlich über die Wange und flüsterte: „Wenn wir mal mehr Zeit haben, sollten wie ausprobieren, ob wir nicht noch anderweitig kompatibel sind. Ich kenne da ein paar nette Spielzeuge, die ich uns besorgen könnte und mit denen wir bestimmt viel Spaß hätten.“ Sie überbrückte den Abstand zwischen sich und Delilah und verwickelte sie in einen leidenschaftlichen Kuss, der den Lippenstift des anderen Sukkubus vollkommen verschmierte. „Na los“, sagte sie atemlos, als sie den Kuss wieder löste. „Du ruhst dich ein bisschen aus, ich mach diesen Nephilim fertig und danach treffen wir uns bei dir im Zimmer. Wer weiß, vielleicht krieg ich ja auch einen der Popobawa dazu, sich zu uns zu gesellen. Du stehst doch immer noch auf die kleinen Scheißer, oder?“ Delilah entkam ein erregtes Grollen. „Oh ja. Ich hab noch nie so einen großen dringehabt wie von denen. Selbst Belial könnte sich da noch eine Scheibe anschneiden und der ist nicht gerade klein ausgestattet.“ Crystal grinste. „Gut. Dann stärk dich und warte auf mich. Wir haben eine Menge Spaß vor uns.“ Sie küsste Delilah noch einmal tief und gründlich, bevor sie ihr den Saft aushändigte, den sie heute Nacht gesammelt hatte. Die Gier, die bei dem Geruch in Delilahs Augen aufglomm, war ihr Antwort genug. Der andere Sukkubus würde beschäftigt sein und anschließend vermutlich vollgefressen in ihrem Bett einschlafen. Somit war sie schon mal aus dem Spiel und Crystal hatte nur noch Belial selbst vor sich. Ich beeile mich besser, bevor er Wind von der Sache kriegt, dachte Crystal und griff sich die mit Strasssteinen besetzte, schwarze Halbmaske, die Delilah hatte liegen lassen. „Perfekt, damit erkennt mich niemand so schnell. Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, wie ich Marcus hier rauskriege. Das wird definitiv nicht einfach werden.“ Das Spielzimmer war zum Glück leer, als Crystal hineinschlüpfte. Sie schloss leise die Tür und drehte den Schlüssel herum. Das würde die meisten Bewohner der Festung zwar nicht aufhalten, ihr aber immerhin im Fall der Fälle einen kurzen Augenblick geben, um sich zurück in Delilah zu verwandeln. Jetzt jedoch legte sie die rothaarige Gestalt ab und wurde wieder zu sich selbst inklusive Hufen und Schwanz. Neugierig sah sie sich um. Sie entdeckte Marcus sofort. Er war geknebelt und an ein Andreaskreuz gebunden worden und harrte dort der Dinge, die auf ihn zukamen. Was das sein würde, konnte er jedoch weder sehen noch hören, denn Delilah hatte ihm zusätzlich noch die Augen verbunden und einen Gehörschutz verpasst. Er war somit blind und taub, konnte sich weder rühren noch irgendetwas von sich geben, das über Knurr- und Grunzlaute hinausging. Die jedoch gab er von sich und die Tonlage dieser Laute ließ Crystal aufhorchen. Dieses Gegrunze klang eindeutig nicht nur gequält. Ihr Blick glitt zwischen seine Beine, wo seine Erektion sich ihr freimütig entgegenstreckte. Mhm, das sah wirklich lecker aus. Auch wenn sie natürlich bereits satt war, aber für Dessert war ja immer noch Platz, nicht wahr? Langsam schlich sie näher. Für einen Moment hielt er inne und schien zu lauschen, obwohl er mit dem Teil auf seinen Ohren natürlich nichts hören konnte. Als er sich sicher zu sein schien, dass er allein war, begann er wieder sich zu bewegen. Viel Platz hatte er dafür nicht. Trotzdem drückte er sich immer wieder mit dem Unterleib gegen die Balken in seinem Rücken, als würde er … ja was eigentlich? Crystal legte den Kopf schief. „Was treibst du da nur?“, fragte sie leise. Das sah fast aus, als würde er … Sie biss sich auf die Lippen und hätte beinahe gelacht. „Oh du unartiger Junge“, schimpfte sie in spielerischem Tonfall. „Das wird dem Boss aber gar nicht gefallen.“ Sie ging noch ein wenig näher heran und wollte sich das Treiben genauer ansehen, als Marcus sich plötzlich versteifte. Seine Nasenflügel blähten sich auf und sein Kopf ruckte in ihre Richtung. Er stieß ein warnendes Knurren aus. Er wittert mich, schoss es Crystal durch den Kopf. Der Wahnsinn. Aber wahrscheinlich hält er mich für Delilah. Ich sollte ihm besser die Augenbinde abnehmen. Sie ging noch näher, bis sie ganz nahe vor Marcus stand. Von hier aus konnte sie ihn ebenfalls riechen. Er roch nach Sex und Schweiß und nach Erregung. Großer Erregung. Sein erigiertes Glied war prall gefüllt, die Adern traten deutlich hervor und die gespannte, bereits leicht bläuliche Haut wies darauf hin, dass er schon sehr, sehr lange in diesem Zustand war. „Autsch, das sieht aber nicht nett aus.“ Crystal rümpfte die Nase. „Da sollten wir dringend was dagegen tun. Mit deiner Methode warst du ja anscheinend nicht erfolgreich.“ Sie trat neben ihn und begutachtete seine Kehrseite. Wie sie sich gedacht hatte, steckte da ein Dildo in seinem Hintern. Anscheinend hatte er gerade versucht, sich dadurch selbst zum Orgasmus zu bringen. Sie streckte den Zeigefinger aus und fuhr langsam seine Wirbelsäule entlang. Er zuckte unter ihrer Berührung zusammen und knurrte, als ihre Kralle seinen Steiß erreichte. Sie schnippte leicht gegen den Ansatz des schwarzen Teils zwischen Marcus’ Hinterbacken und entlockte ihm so ein scharfes Einatmen. „Mhm, ich würde dir ja gerne mal zeigen, wie man das richtig macht, Süßer, als die Zeit haben wir jetzt nicht. Außerdem drückt das bestimmt inzwischen ganz schön. Also los. Sehen wir mal zu, dass wir dich da rauskriegen.“ Crystal hob die Hand, um Marcus die Augenbinde abzunehmen, doch dann zögerte sie. Ihr Blick glitt erneut zu seinem prall gefüllten Schwanz. Es war ziemlich offensichtlich, dass er dort Erleichterung brauchte, aber wenn sie ihn jetzt losmachte, würde sein Stolz ihm vermutlich verbieten, sich von ihr dabei helfen zu lassen. Bestimmt würde er nicht mal selbst Hand anlegen, solange sie zusah, und das würde sie wertvolle Zeit kosten. Zeit, die sie nicht hatten. Sie mussten hier verschwunden sein, bevor Belial auf der Bildfläche erschien und sie Marcus womöglich wirklich wehtun musste. Mit einem Aufseufzen ließ Crystal ihre Hand wieder sinken. „Das hier ist nur zu deinem Besten, Schnucki. Ich will, dass du das weißt.“ Sie trat noch ein Stückchen näher, sodass ihre Körper sich jetzt berührten. Sofort wollte er anfangen, sich zu wehren, aber Crystal setzte eine Klaue an seine Halsschlagader, was seine Bewegungen sofort erlahmen ließen. Zitternd wie ein Rennpferd in der Box stand er da, während ihr Finger langsam tiefer wanderte, seine Brust und seinen Bauch überquerte und sich schließlich seinem Schwanz näherte. An seiner steigenden Atemfrequenz merkte sie, wie angespannt er war. „Keine Angst, Süßer, ich tu dir nicht weh“, wisperte sie, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören. Sie bewegte ein paar Mal den Mund, um genügend Speichel zu sammeln, spuckte sie in ihre Hand und griff zu. Marcus bäumte sich auf, stemmtet sich gegen die Fesseln und versuchte, ihrem Griff zu entkommen, aber Crystal massierte einfach weiter, bis seine Gegenwehr erlahmte und nur noch sein schneller werdender Atem davon zeugte, das sich bei ihm sehr wohl etwas tat. Crystal hörte ein Wimmern, einen mitleiderregenden Laut, der ihr das Herz zusammenzog, und dann kam Marcus. All die angestaute Lust, die Belial über Stunden in ihm kultiviert und konzentriert hatte, entluden sich in einem überwältigendem Orgasmus, dessen explosionsartig freiwerdende Energie Crystal förmlich spüren konnte. Sie lehnte sich an Marcus, versuchte ihm Halt zu geben, während die Wellen des Höhepunkts über ihm zusammenschlugen und versuchten ihn zu ertränken. Als es vorbei war, brach er halb ohnmächtig in den Fesseln zusammen. „Na ein Glück, dass ich dich nicht losgemacht habe“, urteilte Crystal. „Du hättest dir womöglich den Kopf aufgeschlagen bei dem Sturz.“ Sie spuckte noch einmal auf ihren Hand und verteilte den Speichel, dem sie ein bisschen was von ihrem betäubenden Gift beigemischt hatte, auf seinem endlich wieder auf Normalgröße schrumpfenden Schwanz. „So, siehst du, jetzt muss die Tante nur nochmal pusten und alles ist wieder gut.“ Sie lachte und nahm Marcus nun endlich den Gehörschutz und die Augenbinde ab. Als sie schließlich auch noch den Knebel entfernte, wollte er schon wieder auffahren. Sobald er allerdings sah, wer da vor ihm stand, blieb ihm trotz allem die Worte im Halse stecken. Crystal grinste ihn an. „Hey Darling, hattest du Spaß während ich wegwar?“ Marcus öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam kein Ton über seine aufgesprungenen Lippen. Er sah sie an und atmete und dann begannen plötzlich Tränen in seinen Augen schimmern. Weinte er jetzt etwa? „Och, Mäuschen, ich bin ja da“, sagte sie und reckte sich, damit sie die Arme um ihn schlingen konnte. „Keine Angst. Ich hol dich hier raus. „Crystal“, flüsterte er und seine Stimme klang heiser und rau. „Du …“ „Bist gekommen um mich zu retten? Aber sowas von. Und jetzt halt mal still, ich muss dich aus dieser Foltermaschine befreien. Da kriegt man ja Augenkrebs, wenn man dich darin sieht. Also nur, weil du gefesselt bist. Ansonsten gefällt mir das, was ich da sehe, schon recht gut.“ Sie zwinkerte ihm zu und begann die Lederriemen zu lösen, die ihn an Ort und Stelle hielten. Sie befreite zuerst seine Füße, um ihm einen festen Stand zu ermöglichen, und band erst danach die Hände los. Er versuchte sofort, sich von dem Kreuz zu entfernen, doch schon beim ersten Schritt wäre er fast umgekippt. Crystal konnte ihn gerade noch auffangen. „Woah, langsam Schnucki. Du musst nicht gleich wieder volle Kanne loslegen. Gib dir Zeit.“ „Ich will …“ Er sprach nicht weiter, aber sein schmerzverzerrtes Gesicht erinnerte Crystal daran, dass sich da ja noch eine gewisse Kleinigkeit an Orten befand, wo sie Marcus immer noch quälen konnte. „Ach ja, der Dildo. Dreh dich mal um, ich mach den raus.“ „Was?“ Marcus riss die Augen auf und lief im nächsten Augenblick rot an. „Das … das weißt .. das warst … Fuck!“ Crystal schnaubte bloß. „Glaub mir, ich hab schon Schlimmeres gesehen. Weißt du, was Kerle sich dahinten alles reinstecken für einen kleinen Kick? Ich könnte dir da Sachen erzählen …“ Sie verstummte, als sie sein Gesicht sah. Das war möglicherweise gerade nicht die Zeit für solche Anekdoten. Sie versuchte es mit einem freundlichen Lächeln. „Na los, lass mich das mal ansehen. Das zwackt doch bestimmt ganz schön, oder?“ Sie versuchte, sich ihm zu nähern, aber Marcus wehrte ihre Hände ab. „Finger weg. Ich kann das selbst.“ Sie lachte und stemmte die Hand in die Hüfte. „Ach ja? Na dann mach mal. Aber ich sage dir, es ist angenehmer, wenn ich das übernehme mit den ganzen Schnallen und so. Ich bin auch ganz vorsichtig.“ Er sah sie unsicher an. Sie lächelte. „Na los, Großer. Dreh dich um, ich zieh’s raus und dann sehen wir zu, dass wir hier verschwinden. Es sei denn, du möchtest lieber warten, bis Belial kommt und es selber macht.“ „Ich muss vollkommen bescheuert sein“, murmelte Marcus, drehe sich aber gehorsam um und streckte ihr tatsächlich seinen Hintern entgegen. Crystal genoss für einen Moment die Aussicht, bevor sie sich zusammenriss und anfing, Marcus aus seiner misslichen Lage zu befreien. „Beug dich mal weiter vor“, wies sie ihn an, als sie immerhin schon mal den Harness abgeschnallt hatte. „Ich brauch ein bisschen mehr Platz. Er grunzte zustimmend und murmelte etwas, das sich verdächtig nach „Ich bringe ihn um“ anhörte, bevor er sich tatsächlich gehorsam nach vorne lehnte und auf dem Tisch abstützte, auf dem Delilah ihre Instrumente ausgebreitet hatte. Crystal ließ sich auf die Knie sinken, ging ganz nahe an Marcus Po heran und streichelte ihn beruhigend. „Also schön, wir machen das jetzt ganz langsam, ja? Eins … Zwei …“ Bevor sie zu „Drei“ kam, zog sie den Dildo so plötzlich aus Marcus Hintern, dass der erschrocken aufjaulte. Schnell lehnte Crystal sich vor und versenkte ihre Zunge tief an der Stelle, an der gerade noch das schwarze Gummiteil gesteckt hatte. Marcus keuchte und stand einen Augenblick lang wie gelähmt da, bevor er anfing zu schimpfen und eilig vor ihr zurückwich. Sie grinste ihn von unten herauf an. „Sag mal spinnst du?“, fauchte er. „Ich dachte, du wolltest das langsam machen. Und überhaupt, was sollte das … das andere?“ „Sukkubus-Speichel“, antwortete sie und wischte sich den Mund ab. „Betäubt auch ein bisschen. Ich benutz das manchmal, wenn die Kerle schon kurz vorm Abspritzen sind, bevor wir überhaupt angefangen haben. Es geht ja schließlich nicht nur ums Ergebnis. Ein bisschen Spaß muss schließlich auch dabei sein.“ Marcus blinzelte und sah aus, als würde er an ihrem Verstand zweifeln. Prüfend bewegte er seine hübsche Kehrseite und auf seinem Gesicht zeigte sich ein ganz kleines bisschen Verblüffung. Er grollte leise. „Du hättest mich vorwarnen können. „Als wenn du mich das dann hättest machen lassen.“ Er sah sie finster an, sagte aber nichts darauf. Vermutlich weil er wusste, dass sie recht hatte. Stattdessen ging er zum einem Stuhl, auf dem einige Kleidungsstücke lagen. Er schlüpfte hinein und sie konnte erkennen, dass er sich merklich wohler fühlte damit. „Und jetzt?“, fragte er. „Ich dachte, du wolltest meinen Vater anrufen und dich dann nie wieder hier blicken lassen.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Tja, ist leider nichts geworden. Ne Jorō-Gumo hat deinen Vater vor mir erwischt. Aber keine Sorge, Angelo hat sie dafür plattgemacht.“ „Was?“ Marcus sah sie vollkommen entgeistert an. Crystal zog die Nase kraus. „Oh, tut mir leid, das mit deinem Vater hätte ich dir vielleicht ein wenig taktvoller beibringen sollen. Aber die gute Nachricht ist, dass der Engel und die beiden Menschen auf dem Weg hierher sind um dich zu retten.“ Marcus Kopf ruckte nach oben. Er war kreidebleich geworden. „Angelo ist auf dem Weg hierher?“ Crystal nickte vorsichtig. Seine Reaktion sah jetzt irgendwie nicht nach Hip-Hip-Hurra aus. „Verdammt. Das müssen wir um jeden Preis verhindern.“ „Warum?“ „Wenn Belial ihn in die Finger bekommt, ist alles zu spät.“ „Aber …“ Sie wollte noch etwas erwidern, aber Marcus hörte ihr schon nicht mehr zu. Wie vom wilden Wendigo gehetzt raste er auf die Tür zu. Crystal holte ihn gerade noch rechtzeitig ein. Sie stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor ihn und versperrte ihm so den Weg. „Ja bist du denn vollkommen wahnsinnig geworden?“, schimpfte sie. „Du kannst doch da nicht einfach rausrennen. Da kriegen die dich in Nullkommanichts und dann werden sie noch ganz andere Spielchen mit dir veranstalten. Schon mal was von Amputations-Fetisch gehört? Die lassen von dir nur noch die Teile übrig, die sie brauchen können, und verfüttern den Rest an die Fische.“ Marcus verzog das Gesicht. „Aber ich muss sie aufhalten. Angelo darf nicht hierherkommen. Wenn Belial sein … Sperma bekommt, wird er damit eine Armee von Wechseldämonen züchten. Wir müssen das verhindern.“ Crystal blies die Backen auf und ließ geräuschvoll die Luft entweichen. „Ach dafür braucht er die ganze Suppe. Ich hab mich schon gefragt, was er damit macht.“ Ihr Blick glitt an Marcus vorbei zu dem Tisch, auf dem in einem blauen Lichtkreis eine kristallene Karaffe stand. Sie war eine gute Handbreit mit einer weißlichen Flüssigkeit gefüllt. Crystal ignorierte den Impuls, sich das Zeug hinter die Binde zu kippen, und überlegte. „Weißt du was?“, meinte sie schließlich. „Ich denke, ich weiß, wo wir dich und das da am besten verstecken.“ Marcus sah zu der Karaffe und verzog erneut das Gesicht. Anscheinend war ihm Belials Versprechen noch gut in Erinnerung. „Aber du musst dich nochmal nackig machen“, fuhr Crystal fort. „Was?“ Marcus starrte sie an. „Kommt nicht in Frage.“ Crystal stöhnte innerlich auf. Konnte der auch einfach mal mitmachen? „Na schön. Nicht ganz nackt. Aber das Hemd muss weg und du kriegst ne andere Hose. Außerdem müssen hier doch noch irgendwo ein paar Kostüme fürs Petplay rumfliegen.“ Sie ging zu einer Kiste und fing an darin herumzuwühlen. Als sie das Passende gefunden hatte, nahm sie die Stücke aus der Truhe und ging damit zu Marcus zurück. Es waren zwei schwarze, lederne Vollmasken. An einer davon war eine lange, wallende Mähne befestigt, die andere zierten ein Paar spitzer Ohren. Grinsend hielt sie ihm ihren Fund entgegen. „Siehst du, ich wusste doch, dass hier noch welche sind. Ich habe Pferd oder Hund. Wenn du willst, kann ich auch noch nach der Schweinemaske suchen, aber die hier sind eigentlich besser geeignet, um dich an einer Leine herumzuführen. Also, welche davon willst du?“ Das Stöhnen, das Marcus daraufhin von sich gab, klang in Crystals Ohren zwar alles andere als lustvoll, aber sie war sich sicher, er würde trotzdem von ihrem Plan begeistert sein. Immerhin hing sein Leben davon ab und da, das wusste sie sicher, würde sie ganz bestimmt keine Kompromisse eingehen. „Mir gefällt das nicht“, murmelte Gabriella, während sie sich auf dem leerstehenden Gehöft umsah. Michael war zwar gerade erst hinter der großen Tür verschwunden, aber der Drang ihm einfach zu folgen, war bereits übermächtig. Sie blickte zu Angelo hinüber, der ebenfalls angespannt schien. Allerdings kam es ihr so vor, als wenn da noch mehr wäre. Er wirkte irgendwie … unentschlossen. „Angelo? Ist alles in Ordnung?“ „Ja, ich … ich mache mir nur Sorgen um Michael.“ Er schwieg und starrte wieder auf das Scheunentor, bevor er plötzlich hörbar durchatmete. „Gabriella?“ „Ja?“ „Ist es … ist es normal, dass man manchmal … na ja … von anderen träumt. Also auch, wenn man jemanden liebt?“ Gabriella runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ Angelo wies mit dem Kopf auf die Scheune. „Na ja, Michael ist da drinnen und ich … ich sollte mir nur um ihn Sorgen machen, nicht wahr? Aber gleichzeitig überlege ich auch, wie es Rafael wohl geht. Dabei ist es doch ziemlich wahrscheinlich, dass er derjenige ist, der uns hier in eine Falle gelockt hat. Obwohl ich nicht verstehe, warum er das getan haben sollte. Ich weiß einfach nicht, was ich von ihm halten soll. Und wenn ich versuche, mir ein Urteil zu bilden, muss ich immer wieder an das denken, was ich heute Nacht geträumt habe. Ich … es waren ziemlich eindeutige Träume.“ Er blickte zu Boden. „Träume über Rafael.“ Unter anderen Umständen hätte Gabriella vielleicht gelacht und versucht Angelo davon zu überzeugen, dass das ganz normal war und dass man Träume eben nicht beeinflussen konnte. Aber noch während sie das dachte, wurde sie plötzlich stutzig. „Erzähl mir von deinem Traum“, bat sie ihn. Angelos Wagen wurden dunkel. „Ich … das kann ich dir nicht erzählen.“ „Bitte. Ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist.“ Angelo räusperte sich und schluckte. „Nun ja, er und ich, wir … wir waren in einem Garten. Es war dunkel, man konnte fast nichts sehen. Wir haben uns getroffen und geküsst und … noch mehr.“ Er verstummte und wandte den Blick ab, aber Gabriella ließ nicht locker. „Dieser Garten, erzähl mir davon. Beschreib ihn.“ Angelo zog die Brauen zusammen. „Ich … keine Ahnung. Wie gesagt, es war sehr dunkel. Ich habe kaum etwas gesehen. Aber da waren diese Büsche mit den großen, gelben Blüten. Sie haben geduftet. Süß und schwer wie …“ „Wie Honig“, beendete Gabriella den Satz. Angelo sah sie erstaunt an. „Ja, woher weißt du das?“ „Weil ich auch von ihnen geträumt habe. Und auch von Rafael. Es war ebenfalls ein sehr erregender Traum. Ich hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen deswegen, obwohl wir nicht allein waren. Du und Michael, ihr wart auch mit dabei und …“ Sie räusperte sich. „Nun ja, sagen wir mal, es war ein sehr schöner Traum.“ Angelo schenkte ihr ein schmales Lächeln. „Was ich damit sagen will, ist, dass es doch seltsam ist, dass wir beide, mal unabhängig vom restlichen Inhalt der Träume, von diesen Blüten geträumt haben. Vor allem habe ich das Gefühl, ich müsste sie kennen. Wenn mir nur einfallen würde, woher.“ Sie schloss die Augen und versuchte sich die Blüten noch einmal vorzustellen. Ihr Aussehen, den Geruch … Plötzlich meinte sie das Meer rauschen zu hören, ihre Großmutter, die in der Küche sang, Vogelgezwitscher, das durch das geöffnete Fenster hereindrang. Mit dem Gesang wallte der Geruch herein. Er machte, dass ihr Kopf wehtat und sie nicht atmen konnte. „Und nachts kamen die Träume.“ Sie öffnete die Augen wieder. „Ich weiß es. Es ist mir eingefallen. Als ich klein war, hatten meine Großeltern so einen Busch in ihrem Garten stehen. Er stand direkt unter dem Fenster des Zimmers, in dem ich schlief, wenn ich zu Besuch war. Und immer, wenn er blühte, konnte ich nachts nicht schlafen. Ich hatte Albträume, wachte schweißgebadet auf, in meinem Kopf drehte sich alles. Mein Großvater hat den Busch irgendwann entfernt, auch wenn meine Großmutter nicht eben glücklich darüber war. Sie hatten ihn so liebgewonnen, weil er den Namen 'Engelstrompete' trug.“ Angelos Augen wurden schmal. „Das sagt mir etwas. Diese Pflanzen wurden seit je her zur Herstellung von Rauschgiften verwendet. Manchmal werden ihre Blätter geraucht oder der Saft aus verschiedenen Pflanzenteilen verwendet. Es heißt jedoch, dass bereits der Duft komatöse Zustände auslösen kann … und erotische Träume.“ „Du meinst so wie heute Nacht?“ Angelo antwortete nicht. Er sah Gabriella nur noch einen Augenblick lang an, bevor er herumwirbelte und zu der Scheune stürmte, in der Michael verschwunden war. „Angelo, warte!“, rief Gabriella ihm nach, doch es war bereits zu spät. Er hatte das Tor erreicht. Die beiden hölzernen Flügel wurden fast aus den Angeln gerissen unter der Wucht, mit der Angelo sie aufstieß. „Michael!“, brüllte er. Seine Gestalt glühte und das Schwert in seiner Hand blitze im Sonnenlicht. „Michael!“ Er verschwand auf ihrem Sichtfeld und Gabriella erwachte endlich aus ihrer Starre. So schnell sie konnte, lief sie ebenfalls zu der Scheune. Als sie das Tor erreichte, erblickte sie Angelo, der sich nach allen Seiten in dem düsteren Gebäude umsah. Er hatte das Schwert hoch erhoben und suchte nach unsichtbaren Gegnern. Dabei näherte er sich immer weiter dem freien Platz in der Mitte der Scheune. Etwas daran ließ Gabriella misstrauisch werden. Wenn der Hof verlassen war, hätte sie erwartet, dass die Scheune voller Gerümpel stand. Alte Werkzeuge, schrottreife Landmaschinen, etwas in der Art. Stattdessen herrschte trotz der Größe des Hofes beinahe gähnende Leere und dieser Platz wirkte sauber gefegt, als hätte man dort … „Angelo, pass auf!“ Zu spät! Angelo machte noch einen Schritt nach hinten und im gleichen Augenblick flammte der Boden unter ihm auf. Dunkelglühende Linien offenbarten sich und bildeten ein kompliziertes Muster auf dem Fußboden. Schattententakel schossen daraus hervor, legten sich um Angelos Glieder und banden ihn an Ort und Stelle. Eine Engelsfalle. Angelo raste. Er zog und wehrte sich gegen die Falle und rief dabei immer wieder nach Michael. Das tat er solange, bis er endlich eine Antwort erhielt. „Er kann dich nicht hören.“ Angelo brachte es trotz seiner Fesseln fertig, sich zu der Gestalt herumzudrehen, die jetzt langsam aus den Schatten auf sie zukam. Es war Rafael. Er wischte sich mit dem Daumen über die Mundwinkel. Dabei schnalzte er missbilligend mit der Zunge. „Also wirklich, Angelo, ich muss schon sagen. Hat dir niemand gesagt, dass es unhöflich ist, andere Leute beim Essen zu stören? Ich hatte dich für zivilisierter gehalten. „Wo ist Michael?“, knurrte Angelo. Er zog erneut an den Schattententakeln und erreichte damit nur, dass diese umso stärker zurückzogen. Auf Angelos Stirn erschienen Schweißtropfen. „Oh, sei versichert, dass es ihm gut geht“, kicherte Rafael. „Sehr gut sogar. Er schwebt sozusagen im siebten Himmel. Möglicherweise ist er ein wenig ausgelaugt, aber das wird schon wieder.“ „Du … du …“ Angelo fehlten anscheinend die Worte. „Victor mein Name, angenehm. Aber ich staune, dass du mich noch immer nicht erkannt hast. Alejandro hatte wirklich recht. Du bist erstaunlich blind für einen Engel. Erkennst nicht mal einen Dämon, wenn er direkt vor deiner Nase sitzt. Aber das hat es mir nur umso einfacher gemacht, dich und deine Freunde hierherzubringen.“ „Was willst du von uns?“ Gabriella hatte es nicht mehr ausgehalten, sich zu verstecken. Mit entschlossenem Gesicht trat sie zu Angelo. Sie spürte die bösartige Magie, die ihn gefangen hielt, auf ihrer Haut prickeln. Rafael, der eigentlich Victor hieß, setzte ein strahlendes Lächeln auf, das ihr jetzt, da sie um seinen Verrat wusste, nur noch falsch und hinterhältig vorkam. „Von dir, liebste Gabriella, möchte ich gar nichts. Obwohl ich mir vorstellen könnte, dass mein Herr auch für dich eine Verwendung finden wird. Wir brauchen immerhin Rohmaterial, um seine Armee zu erschaffen. Wer weiß, vielleicht kommen wir beide ja doch noch dazu, deinen Traum wahrzumachen.“ Er zwinkerte ihr zu und Gabriella fühlte das Verlangen in sich aufsteigen, ihm vor die Füße zu spucken. Oder ins Gesicht. Oder vielleicht nahm sie auch einen eisernen Schürhaken und schlug ihm seine perfekten Zähne ein. Victor lachte erneut. „Oh, ihr solltet euch sehen. Als wolltet ihr mich ermorden. Dabei hätten wir so viel Spaß zusammen haben können.“ „Spaß?“, fauchte Gabriella. „Ich geb dir gleich Spaß.“ Sie wollte schon auf diesen Victor zustürmen, als der plötzlich eine Pistole auf sie richtete. Sie hörte es leise Klicken. „Damit wäre ich ganz vorsichtig. Nur, weil ein Inkubus keine natürlichen Waffen besitzt, bin ich noch lange nicht wehrlos. Es wäre ein Fehler, mich zu unterschätzen. Also los, schön wieder zurück zu unserem blonden Bengelchen und keine Mätzchen.“ Widerwillig wich Gabriella zurück, bis sie wieder auf gleicher Höhe mit Angelo stand. Victor richtete weiter die Waffe auf sie, während er langsam rückwärts ging. Er lächelte leicht. „Ich werde jetzt das Portal öffnen, das uns auf die andere Seite bringt. Dort werde ich euch an meinen Herrn übergeben und meine Belohnung kassieren. Ganz allein ohne diesen dämlichen Köter.“ Victor warf noch einen, letzten, warnenden Blick auf Gabriella, bevor er sich umdrehte und auf das hintere Tor der Scheune zuging. Etwa zwei Meter davor blieb er stehen, streckte die Hand danach aus und begann etwas zu murmeln. Die Ränder des Scheunentors glühten auf. Gabriella sah zu Angelo. Der kämpfte immer noch mit der Engelsfalle, deren Tentakel bereits rote Striemen auf seiner Haut hinterlassen hatten. Sie öffnete den Mund, um ihn zu fragen, warum er seine Engelskräfte nicht einfach deaktivierte, als er ihr kurz den Kopf zuwandte und ihr zuzwinkerte. Beinahe hätte sie nach der ersten Verblüffung laut aufgelacht. Das war eine Falle? Er hatte die Falle in eine Falle verwandelt. Leise lachend schüttelte sie den Kopf. „Du bist unglaublich“, flüsterte sie. „Ich lerne eben schnell“, gab er mit einem kurzen Grinsen zurück, bevor er sich wieder Victor zuwandte, der inzwischen seinen Zauber fast beendet hatte. Die hölzernen Torflügel bebten und erzitterten unter der Macht des Zaubers.Wind fegte durch die Ritzen des löcherigen Gebäudes und irgendwie hatte Gabriella das Gefühl, dass sie sich im Kreis drehte, obwohl sie fest auf dem Boden stand. Es gab einen Donnerschlag, die Torflügel flogen auf und gaben den Blick auf eine dunkle Ebene frei. Die Landschaft schien dieselbe zu sein wie die, durch die sie hierher gekommen waren. In der Ferne jedoch erhob sich ein Gebäude, von dem sich Gabriella sicher war, dass sie es auf dem Weg hätten bemerken müssen. Die schwarze Silhouette erhob sich drohend gegen den dunklen Nachthimmel und fast schien es, als strahle das Gebäude selbst eine tiefe Bösartigkeit aus. Gabriella fröstelte. „Ah, Home sweet Home, so sagt man doch, nicht wahr? Obwohl ich schon an vielen Orten auf dieser Welt zu Hause war. Allerdings hat es mir an keinem so gut gefallen wie hier. Mein Herr hat einen wahrhaft exzellenten Geschmack, müsst ihr wissen. Von allem nur das Beste. Es wird euch gefallen. Nun, vermutlich nicht, aber wen interessiert das schon. Ihr seid schließlich nicht zum Vergnügen hier.“ Victor drehte sich zu ihnen herum und grinste. „Noch irgendwelche letzten Worte?“ Angelo bleckte die Zähne. „Eine Frage hätte ich noch. Welchem Herrn dienst du?“ Victors Grinsen wurde breiter. „Ach, wenn ich das jetzt verraten würde, wäre es doch nur noch halb so lustig, nicht wahr? Wo bliebe denn da der Spaß? Für mich, versteht sich. Er wird sich euch am besten selbst vorstellen, wenn ihr ihn trefft. Sonst noch einen Wunsch?“ „Nur noch einen“, knirschte Angelo. „Stirb!“ Victor kam nicht mehr dazu, darauf zu reagieren. Im nächsten Moment starrte er fassungslos auf die blutbesudelte Metallspitze, die aus seiner Brust ragte. Sie gehörte zu Angelos Schwert, der hinter ihm stand und ihn mit einem einzigen Stoß durchbohrt hatte. „Was …? Wie …?" Die Waffe aus seiner Hand polterte zu Boden. „Eure Fallen halten mich nicht auf.“ Angelo stieß noch einmal nach und ein Zittern ging durch Victors Körper. Sein Gesicht begann plötzlich zu brodeln, als hätte jemand heißes Wasser darüber gegossen. Seine Gestalt veränderte sich und aus dem hübschen Jungen wurde auf einmal … „Josè“, hauchte Gabriella. Sie starrte den Inkubus an, der bereits erneut begonnen hatte, sich zu verwandeln, kaum dass die Transformation in den älteren Mexikaner abgeschlossen war. Wieder verformte sich sein Gesicht, sein Körper wurde kleiner, seine Züge weiblicher. Gabriella schlug die Hände vor den Mund. „Maria!“, presste sie zwischen den Fingern hervor, aber noch immer war der Todeskampf des Inkubus nicht vorbei. Wieder wechselte sein Äußeres. Er wurde zu einem großen, dunkelhaarigen Mann und gerade, als Gabriella dachte, dass es vorbei war, nahm er noch eine weitere Gestalt an. Der Mann, der vor ihren staunenden Augen erschien, war nahezu überirdisch schön. Sein Gesicht gleichmäßig und edel, die dunklen Haare leicht gewellt, die Statur schlank und gleichzeitig kraftvoll. Er erinnerte sie auf perfide Weise an Angelo. Der trat jetzt zurück und zog sein Schwert aus dem sterbenden Dämon. Seines Halts beraubt, sackte der engelsgleiche Mann in sich zusammen. Blut floss aus der Wunde in seiner Brust und besudelte seine perfekte Form. Mit kalten Augen trat Angelo vor ihn und blickte auf ihn herab. Der sterbende Inkubus sah zu ihm auf, bevor er sich ein letztes Mal zu verändern begann. Seine Haut wurde plötzlich grau und warzig, seine Gestalt klein und gekrümmt, die Hände mit den langen, schlanken Fingern wurden zu verkrüppelten Klauen und ein dünner, rattenähnlicher Schwanz ringelte sich hinter ihm unter Qualen im Sand. Er versuchte noch etwas zu sagen, aber die einst so melodiöse Stimme, war zu einem hässlichen Zischen und Fauchen geworden. Gabriella war erleichtert, als er endlich vorne über kippte und reglos liegenblieb. Angelo warf noch einen letzten Blick auf die Leiche, bevor er sich umdrehte und auf sie zukam. Er sah besorgt aus. „Was ist los?“ Seine Brauen zogen sich zusammen und er atmete hörbar aus. „Diese letzte Gestalt, die Victor angenommen hat. Ich habe sie wiedererkannt. Ich weiß jetzt, mit wem wir es zu tun haben. Sein Name ist Belial und er ist ein sehr, sehr mächtiger Höllenfürst.“ Gabriellas Brust wurde eng. „Und jetzt?“ Angelo versuchte ein Lächeln. „Jetzt sehen wir erst einmal nach Michael und dann … dann werden wir uns auf den Weg in Belials Festung machen.“ Gabriella nickte und folgte Angelo, der zielsicher auf einen kleinen Verschlag zuging, der sich am hinteren Ende der Scheune befand. Dabei fiel ihr Blick unweigerlich auf das geöffnete Tor, hinter dem sie die schwarzes Festung erwartete. Sie fühlte erneut einen Schauer über ihren Rücken laufen. Dort hineinzugelangen würde mit Sicherheit nicht einfach werden. So überhaupt nicht einfach. Kapitel 28: Himmelsmacht ------------------------ Langsam schloss Alejandro Knopf für Knopf des schwarzen Hemdes, das er sich für heute herausgesucht hatte. Es war das beste, das er besaß. Mit jedem Knopf begab er sich einen Schritt zurück auf dem Pfad, auf dem er in dieser Nacht gescheitert war. Er war … abgestürzt. Er wusste es. Nachdem er seinen Herrn zusammen mit dem Nephilim erleben musste, gesehen hatte, wie dieser bekam, was er sich schon so lange wünschte, und wie glücklich seinen Herrn das gemacht hatte, war er schwach geworden. Ganz zu Anfang der Prozedur hatte er fliehen wollen, aber sein Herr hatte ihn gezwungen zu bleiben. Hatte ihn gezwungen zuzusehen, während er sich mit den vielen Willigen und weniger Willigen vergnügte, die ihm zur Verfügung standen. Ein Schicksal, dass Alejandro ironischerweise mit dem Nephilim geteilt hatte. Der hatte auch nicht hinsehen wollen und war ebenso wie er dazu gezwungen worden. Doch während das teilweise grausame Schauspiel bei dem Halbengel nur Ekel und Abscheu hervorgerufen hatte, hatte es Alejandro erregt. Mehr als er gedacht hatte. Mehr, als er seinen Herrn hatte bemerken lassen. Kein sehnsüchtiger Blick hatte ihn verraten, kein Laut war über seine Lippen gekommen. Er war gut gewesen, sehr gut sogar. Und er hatte eine Belohnung bekommen. Einen Blick, in dem eine gewisse Anerkennung gelegen hatte, und eine flüchtige Berührung, fast schon ein Streicheln von den blutbesudelten Fingern seines Herrn, die rote Striemen auf seiner Wange hinterlassen hatten. Danach hatte er es noch geschafft, in sein Quartier zurückzutaumeln, aber als er im Spiegel die Male auf seinem Gesicht gesehen hatte, das Zeugnis, dass er sich die beinahe zärtliche Berührung nicht nur eingebildet hatte, dass sie nicht nur ein Traum gewesen war, war er zusammengebrochen. Er hatte sich selbst angefasst immer und immer wieder. Jedes Mal, wenn er kam, hatte er den Namen seines Herrn geflüstert und er hatte geweint. Heiße Tränen, die zu seinem Glück niemand gesehen hatte, da er vollkommen allein gewesen war in den schmutzigen Laken, dem kleinen Loch, das er sein eigen nannte. Es waren Tränen der Sehnsucht gewesen und Tränen der Scham. Er hatte sich geschämt, dass er nicht genug war. Dass sein Herr ihn so abstoßend fand. Dass er hässlich war und schwach und dass er niemals derjenige sein würde, den sein Herr …   Alejandro atmete ein letztes Mal tief durch und verbannte die düsteren Gedanken mit dem Schließen des letzten Knopfes in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. Niemand durfte davon wissen, niemand es jemals erfahren, wie schwach er wirklich war. Er hatte eine Aufgabe, die es zu erledigen galt. Sein Herr wollte immer noch den Engel und inzwischen sollte Victor so weit sein, dass er ihn festgesetzt und dessen menschliche Begleiter unschädlich gemacht hatte. Erst hatte Alejandro ihn gar nicht fragen wollen, aber ihm war klar gewesen, dass er mit roher Gewalt nicht weit kommen würde. Er musste klug und gerissen vorgehen und darin war der Inkubus nun einmal um Einiges besser als er. Aber schließlich war es dann doch sein Plan gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass der Engel endlich in greifbare Nähe gerückt war. Jetzt musste er ihn nur noch einsammeln. Er straffte sich und warf einen Blick in den Spiegel. Das Blut hatte er mittlerweile zusammen mit den anderen Spuren seiner Schwäche fortgewaschen. Was ihm jetzt entgegensah, war sein gewöhnliches, braunes Gesicht mit den strohigen schwarzen Haaren, den zu schmalen Lippen und dem Goldzahn, der aufblinkte, als er die Zähne fletschte. „Sie werden mich nicht kleinkriegen. Ich werde diesen Engel hierher bringen und ich werde die Belohnung dafür erhalten, die mir zusteht. Ich werde es ihnen allen beweisen.“   Als er vor die Tür seines Quartiers trat, standen Hugo, Paco und Luis schon bereit. Er hatte sie warten lassen. Es mochte sein, dass sie ihm körperlich überlegen waren, aber er war derjenige, der ein menschliches Quartier bekommen hatte statt eines Haufens Stroh im Stall. Er war es, der die Befehle erteilte. Er war es, der die Fäden in der Hand hielt. „Los, gehen wir“, knurrte er und setzte sich selbst an die Spitze der kleinen Gruppe, die durch die große Halle dem Ausgang entgegenstrebte. Ihr Weg würde sie aus der Festung hinaus auf die sandigen Minenfelder und schließlich zum Tor bringen, wo die Wirklichkeit durchlässig genug war, um eine Verbindung zwischen dieser Ebene und der der Menschen zu erschaffen. Er wollte gerade die schwere Eingangstür öffnen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Er fuhr herum und sah sich Delilah gegenüber, die in der Mitte der großen Treppe stand. Neben ihr ein maskierter Sklave in einem Pferdekostüm. Ein armseliger Versuch, eine tatsächliche Verwandlung nachzuahmen. Geradezu lächerlich. Er ließ einen abschätzigen Blick über den Menschen in der schwarzen, enganliegenden Hose gleiten, dessen Maskierung erhebliche Mängel aufwies. Die Handschuhe fehlten und auch an den Füßen trug er nur normales Schuhwerk. Nicht einmal einen Schwanz hatte er. Lediglich von der schwarzen Vollmaske mit der langen Schnauze, fiel eine glatte, schwarze Mähne bis zu seinen Schultern, die ebenso bloß lagen wie der Rest des Oberkörpers. Ein Neuling, wie es schien. Anders konnte er sich auch dessen Haltung nicht erklären, die so gar nicht zu einem gut dressierten Sklaven passen wollte. Daran änderte auch das dünne, schwarze Seil nichts, das an dem Halfter an seinem Kopf angebracht war und dessen Ende Delilah in Händen hielt. Als der Mann seinen Blick bemerkte, meinte Alejandro in den Augen hinter der Maske etwas aufblitzen zu sehen. Misstrauisch kam er näher. „Wo willst du hin?“, fragte er Delilah, die sich anschickte, die Treppe wieder emporzuklettern, die sie doch gerade erst herabgestiegen war. „Hab was vergessen“, erwiderte sie unwirsch und wollte sich abwenden. Dabei bemerkte er die Karaffe, die sie geschickt vor ihm zu verstecken versuchte. Seine Augen wurden schmal. „Ist das der Samen, den du bisher gesammelt hast?“ Die Worte des Nephilim gingen ihm durch den Kopf. Er wird dich ersetzen, sobald er von mir bekommen hat, was er will. In diesem Gefäß befand sich der Grundstein für seinen Untergang. Seine Finger zuckten. Wie leicht wäre es gewesen, dafür zu sorgen, dass Delilah ausrutschte und die Karaffe auf den Stufen zerschellte. Er würde ihr die Schuld in die Schuhe schieben. Niemand würde ihn verdächtigen. Unwirsch schüttelte er den Kopf. Nein. Das wäre einem Verrat gleichgekommen. Er würde seinen Herrn niemals verraten. „Wohin willst du damit? Ich dachte …“ „Keller“, nuschelte Delilah und wollte sich jetzt auf einmal an ihm vorbeidrängen. Auf einen Wink von ihm hin stellten sich Luis und Hugo in ihren Weg. „Was du da hast, ist kostbar. Dahingehend hat sich unser Herr doch klar ausgedrückt. Wieso schickt er dich jetzt damit los und das so ganz ohne Sicherheitsvorkehrungen?“ „Er wollte nicht mehr warten“, antwortete Delilah und rückte die spitzenbesetzte Maske auf ihrem Gesicht zurecht. „Außerdem: Willst du wirklich eine von Belials Anweisungen infrage stellen? Wenn ja, bitte, nur zu. Ich werde dann allerdings zusehen, dass ich ein ganzes Stück von dir entfernt stehe.“ Der Sukkubus warf sich in die Brust und stemmte die Hand in die Hüfte. Eine Geste, die typisch war für Delilah. Sie war eine stolze Kreatur. Ein wenig zu stolz für seinen Geschmack. Aber da war noch etwas anderes. „Was ist mit deiner Stimme?“ Er kannte Delilahs immer leicht kreischenden Tonfall. Jetzt jedoch war ihre Stimme dunkler und rauchiger. „Die, äh ...“ Delilah druckste ein wenig herum. „Hab mich überanstrengt. Dieser Nephilim ist wirklich eine ziemlich harte Nuss. Muss gleich wieder ran, aber vorher muss ich das hier wegbringen. Wenn du mich also entschuldigen würdest?“ Alejandros Nasenflügel bebten. Was bildete sich dieser Sukkubus eigentlich ein? Sie mochte vielleicht die Lieblings-Konkubine seines Herrn sein, aber er war immer noch seine rechte Hand. Oder vielleicht die linke, wenn man Victor in die Rechnung mit einbezog. Fakt war jedoch, dass er über ihr in der Befehlskette stand. Außerdem war da noch etwas, das sie nicht zu wissen schien. Er lächelte übertrieben freundlich. „Nun, wenn das so ist, werden wir dich mit Freuden begleiten. Wir wollen doch nicht, dass deiner wertvollen Fracht etwas passiert.“ „Danke, aber das ist nicht notwendig. Ich kann selbst darauf aufpassen.“ Delilahs Ton war schnippisch geworden. „Ach, ich weiß nicht“, meinte Alejandro lächelnd. „Euch Sukkubi sollte man mit dieser edlen Flüssigkeit vielleicht nicht unbedingt allein lassen. Wer weiß, was ihr damit macht.“ Delilah holte noch einmal kurz Luft, um ihm einen Konter an den Kopf zu werfen, doch dann verzogen sich ihre roten Lippen zu einem breiten Lächeln. „Natürlich, du hast recht. Wie dumm von mir, dass wir hier so streiten. Also los, wir sollten Belial nicht warten lassen. Je eher wir seinen Auftrag ausführen, desto schneller wird er zufriedengestellt sein. Und das ist es doch, was wir alle möchten, nicht wahr?“ „Natürlich“, gab Alejandro zurück und schnippte mit den Fingern. Sofort nahmen Hugo und Luis an den Seiten des Sukkubus Aufstellung, während Paco sich hinter sie setzte. Immer noch lächelnd streckte Alejandro die Hand aus. „Vielleicht gibst du mir lieber die Karaffe? Nicht, das sie dir noch aus der Hand rutscht. Mir scheint, dass dein Sklave noch nicht ganz gelernt hat, wo sein Platz ist. Was, wenn er stolpert oder versucht sich loszureißen? Das wäre doch wirklich dumm.“ Die dunklen Augen unter der Pferdemaske funkelten ihn böse an. „Oder du gibst mir das Seil, dann kann ich ihn führen. Ganz wie du möchtest. Allerdings wäre das schade. Er steht dir wirklich gut.“ Delilah rang sich sichtbar ein Lächeln ab, bevor sie ihm die Karaffe reichte. „Natürlich, du hast recht. Wie leicht könnte doch ein Unfall passieren.“ „Nicht wahr? Also … bitte nach euch.“   Delilah setzte ungeachtet der nicht ganz freiwilligen Eskorte ihren Weg in den Keller fort bis zu der Stelle, an der die Barriere errichtet worden war, die den Zugang zu den dahinterliegenden Hallen beschränkte. Mit einem boshaften Lächeln beobachtete Alejandro, der ein Stück hinter der Gruppe ging, wie Delilah direkt davor stehenblieb. Langsam kam er näher. „So“, sagte er. „Du kennst dich also tatsächlich hier aus.“ „Natürlich“, antwortete Delilah und warf die roten Haare in den Nacken. „Belial hat mir gesagt, wo ich hinmuss.“ Alejandros Lächeln wurde eine Spur breiter. „Hat er dir denn auch gesagt, dass du diesen Teil des Kellers nur betreten kannst, wenn er höchstpersönlich deinen Namen auf dem Schutzwall eingetragen hat? Wenn nicht, wirst du in einem magischen Stasisfeld gefangen und ich habe mir sagen lassen, dass das höchst unangenehm sein soll. Die Schmerzen sind angeblich kaum auszuhalten.“ Delilah sah zunächst noch siegessicher drein, doch dann schienen seine Worte endlich zu ihr durchzusickern. Ihre Hände schlossen sich enger um die Leine des Sklaven. „Belial hat das bestimmt bedacht. Er macht doch keine Fehler.“ „Dessen bin ich mir sicher. Es sei denn natürlich, dass du gar nicht auf seinen Befehl hin hier bist, sondern aus eigenem Ermessen handelst. In dem Fall wäre es höchst leichtsinnig, sich in Gefahr zu begeben.“ Delilah richtete sich auf und funkelte ihn an. „Ich darf da rein, ob du’s nun glauben willst oder nicht.“ „Oh gut“, erwiderte er immer noch mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen. „Dann werden wir so lange auf dein Pony aufpassen. Du wirst mir doch zustimmen, dass es höchst unangemessen wäre, einen einfachen Sklaven in diesen so sensiblen Bereich mitzunehmen. Er würde zwar, da er ein Mensch ist, nicht von den Zaubern zurückgehalten, aber trotzdem würde das, was er dort drinnen zu Gesicht bekommt, dazu führen, dass wir uns seiner entledigen müssen. Das möchtest du doch nicht, oder?“ Wieder die Geste an der Leine. Alejandro ballte innerlich triumphierend die Hand zur Faust. Er hatte es gewusst. Ihr lag etwas an diesem Kerl mit der Maske. Wäre es nicht so gewesen, hätte sie ihn kaum der Karaffe vorgezogen. Diese unbedachte Entscheidung hatte ihm deutlich gezeigt, wo ihre Prioritäten lagen. Alejandro beschloss, sich das für später zu merken. Wer Schwäche zeigte, wurde angreifbar. Delilah in der Hand zu haben und sei es nur dadurch, dass er ihr Fickspielzeug bedrohte, konnte sich als äußerst nützlich erweisen. „Ich werde die Karaffe jetzt an Hugo übergeben. Er wird sie sicher in die Labore bringen und du kannst wieder an deine Arbeit zurückkehren.“ „Äh, ja, natürlich.“ Sie wollte sich schon zum Gehen wenden, als sie noch einmal stehenblieb. Ihre grünen Augen funkelten angriffslustig. „Sag mal, wenn dieses Zeug so wichtig ist, warum bringst du es dann nicht persönlich hinein?“ Alejandro knurrte und wollte sie schon anblaffen, dass sie das gar nichts anginge, als ihm bewusst wurde, dass er ihr mit der Wahrheit noch eine viel größere Demütigung zufügen konnte. Er grinste. „Weil ich Besseres zu tun habe, als für Belial Botengänge zu übernehmen. Ich werde jetzt einen Engel fangen. Einen richtigen und nicht nur so einen unnützen Bastard.“ Siegessicher drehte er sich auf dem Absatz herum und wollte sie einfach stehenlassen, als er sie hinter sich belustigt schnauben hörte. „Also wenn mich nicht alles täuscht, warst du doch derjenige, der diesen billigen Engelabklatsch hier angeschleppt hat, oder nicht? Du schneidest dir also damit nur ins eigene Fleisch, mein lieber Alejandro.“ Er fuhr herum und wollte sich auf sie stürzen, ihr das süffisante Lächeln aus dem Gesicht wischen, aber er beherrschte sich im letzten Moment. Selbst als sie ihm noch einmal huldvoll zuwinkte und sich dann nebst ihrem störrischen Sklaven hüftschwingend von dannen machte, widerstand er dem Drang, einfach die anderen beiden Cadejos auf sie zu hetzen und sie in Stücke reißen zu lassen. Die Strafe, die er für den Verlust eines Sukkubus würde auf sich nehmen müssen, war den schalen Triumph nicht wert. Zumal er keine Zeit hatte, sich an ihren Schreien zu ergötzen. Er musste los und den Engel holen, bevor noch etwas schiefging. „Kommt“, knurrte er die beiden verbleibenden Mitglieder seines Teams an. „Wir haben Besseres zu tun, als uns mit diesem Weibsstück herumzuärgern. Er überlegte, Luis das dumme Grinsen zu verbieten, aber er hielt sich auch hier im Zaum. Wenn er erst den Engel hatte, würden sie nicht mehr lachen. Nicht einer von ihnen.       Marcus hielt es kaum aus, bis sie endlich außer Hörweite der Cadejos waren. Dann jedoch riss er sich, so schnell er konnte, die nach Schweiß und anderen Körperflüssigkeiten stinkende Maske vom Kopf. „Das war ja ein toller Plan“, fauchte er Crystal an, die in ihrer neuen Gestalt mehr als unangenehme Assoziationen in ihm weckte. Das Gesicht dieses rothaarigen Sukkubus würde ihn bestimmt noch eine ganze Zeit lang in seinen Träumen verfolgen. „Ja kann ich denn ahnen, dass der Köter und seine Gang ausgerechnet in dem Moment auftauchen, wo ich dich in Sicherheit bringen will?“ „In Sicherheit?“ Markus fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Hast du ihm überhaupt zugehört? Wenn du durch das Tor gegangen wärst, wärst du gefangen worden. Und ich vermutlich gleich mit. Immerhin bin ich kein Mensch.“ Crystal brachte es fertig, gleichzeitig zerknirscht und aufmüpfig auszusehen. „Ich hab doch nicht ahnen können, dass die da so schwere Geschütze aufgefahren haben. Außerdem wäre mir nichts passiert. Ich war schließlich schon mal da drinnen.“ Jetzt war es an Marcus verblüfft auszusehen. „Du warst …?“ „Ja. Da drinnen steht dieses Folterwerkzeug, mit dem sie die Sukkubus-Essenz gewinnen und wer weiß was noch.“ Marcus runzelte die Stirn und überlegte. „Alejandro hat etwas von einem Labor gesagt. Wenn er und die anderen Cadejos dort hinein können, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass sich dort auch die Zuchtstation befindet, wo Belial diese Dinger entwickelt hat.“ Er warf Crystal einen Blick zu. „Wir sollten … wir sollten da reingehen und sie zerstören.“ „Was?“ Ihre Augenbrauen rasten dem roten Haaransatz entgegen. „Bist du irre? Gerade hast du noch gesagt, dass du da nicht durchkannst, und jetzt willst du da rein und alles in die Luft jagen? Könntest du dich mal entscheiden? Also nicht, dass gegen so ein bisschen Rein-und-Raus was zu sagen wäre …“, sie grinste anzüglich, woraufhin Marcus die Augen verdrehte, „aber in dem Fall würde ich von rein wirklich ganz dringend abraten. Da drin könnte es gefährlich werden.“ Er lachte auf. „Gefährlich? Und was ist dann das hier bitte?“ Er wies mit einer unbestimmten Geste um sich herum. „Ich stecke in der schwerbewachten Festung eines Dämonenfürsten fest, der mich am liebsten 24/7 an eine Melkmaschine anschließen würde, ganz zu schweigen von …“ Marcus unterbrach sich, als er Crystals leicht glasigen Blick bemerkte. Er räusperte sich lautstark, woraufhin sie aus ihrer Starre erwachte und ihn anstrahlte. „Sorry, ich hab grad nicht zugehört. Als du so von Maschinen geredet hast, musste ich daran denken, dass ich immer schon mal ausprobieren wollte, wie es eigentlich ist, von einer gef…“ Marcus hob die Hand und schnitt ihr damit das Wort ab. „Verschone mich bitte, ich will es nicht wissen.“ Was er in dieser Nacht an Perversionen und Grausamkeiten zu sehen bekommen hatte, reichte ihm für den Rest seines Lebens. Maschinen mussten darin nicht auch noch eine Rolle spielen. Crystal zuckte mit den Schultern. „Na gut, wenn du meinst. Obwohl ich mir das schon interessant vorstelle, so …“ „Crystal!“ „Ja ja, schon gut. Also schön, wie lautet der Plan?“ Marcus sah zurück in den düsteren Gang, aus dem sie gerade gekommen waren. „Ich weiß es nicht“, sagte er leise. „Ich … um da reinzukommen, müsste ich mich in einen Menschen verwandeln, so wie Alejandro es kann. Ich …“ Er verstummte, als ihn die Erkenntnis mit der Wucht eines Vorschlaghammers traf. „Angelo!“, keuchte er schließlich. Natürlich! Warum waren ihm diese Parallelen zwischen den beiden nicht schon früher aufgefallen? Crystal sah ihn nur verständnislos an. „Was soll mit dem Engelchen sein?“ „Er kann es. Er kann dort hinein, weil er seine Kräfte abschalten kann. Es hört sich zwar verrückt an, aber das könnte funktionieren. Wir müssen ihn nur irgendwie hierher kriegen.“ Crystal runzelte verwirrt die Stirn. „Also weißt du, jetzt gerade frage ich mich, ob zu viel Sex nicht vielleicht doch doof macht. Erst sagst du, dass die Welt untergeht, wenn er hier eintrifft – was mich übrigens daran erinnert, dass er auch so was erwähnt hat. Also das mit dem Ende der Welt. Er klang ziemlich aufgeregt am Telefon. Hat irgendwas von einem Auftrag gefaselt, um Armageddon zu verhindern oder so. Und jetzt willst du, dass wir ihn …“ Marcus ließ sie nicht ausreden. „Angelo soll Armageddon verhindern?“ „Äh, ja?“ „Und das sagst du erst jetzt?“ Sie schob die Unterlippe vor. „Du hast ja nicht gefragt.“ Marcus stieß ein frustriertes Knurren aus und hätte am liebsten auf die steinerne Wand neben sich eingeschlagen. Dieser Sukkubus hatte wirklich nichts Gescheites im Kopf, wenn es nicht gerade ums Vögeln ging. Er mochte sie. Er mochte sie wirklich, aber … Moment, er mochte sie? Ganz kurz ließ ihn die Erkenntnis gedanklich straucheln, bevor er sich wieder zur Ordnung rief. Darüber, ob und wie er Crystal mochte, konnte er sich später noch den Kopf zerbrechen. Jetzt zählte erst mal nur eines. „Wir müssen dafür sorgen, dass Angelo von dieser Maschine erfährt und …“ „Oh, er weiß es“, gab Crystal zur Auskunft. Marcus starrte sie fassungslos an. „Er weiß es?“ „Ja. Das ist mit ein Grund, warum er auf dem Weg hierher ist. Ach ja und natürlich, um dich zu retten, aber ich würde sagen, da war ich jetzt irgendwie schneller.“ Marcus hätte ihr in diesem Moment gerne ein ganz kleines bisschen den Hals umgedreht, aber er hielt sich zurück. Ein toter Sukkubus würde ihm gerade noch weniger nutzen als einer, der immer nur die Hälfte von dem preisgab, was er wissen musste. Zumal er sich nicht sicher war, ob er in dem Kampf nicht vielleicht doch den Kürzeren gezogen hätte. „Okay“, sagte er langsam und möglichst gefasst. „Am besten erzählst du mir jetzt mal die ganze Geschichte, bevor ich mich hier wieder in irgendetwas verrenne.“ Sie seufzte. „Na gut, wenn du meinst, dass das hilft.“   Als sie geendet hatte, starrte Marcus für einen Augenblick ins Leere. Auf einmal ergaben so viele Dinge einen Sinn. Angefangen von Angelos rätselhaftem Auftauchen bis hin zu der Tatsache, dass er gerade auf dem Weg zu dem einzigen Ort war, von dem es essentiell schien, dass er ihm fernblieb. „Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum er die Thompsons in die Sache verwickelt hat.“ Er sah Crystal an. „Sie sind ihm doch von keinem Nutzen.“ Der Sukkubus zuckte mit den Achseln. „Wer weiß, vielleicht reist er einfach nicht gern allein.“ Marcus schnaubte nur. Der Gedanke war so absurd, dass er nicht weiter darüber nachdachte. Wichtig war, dass sie Angelo ermöglichen mussten, sich unbemerkt Zugang zu den geheimen Hallen verschaffen. Etwas, dass besonders dann schwierig werden würde, wenn Belial demnächst Wind davon bekam, dass Marcus geflohen war. Sie mussten den Dämon irgendwie ablenken und beschäftigen, damit Angelo Gelegenheit bekam, seinen Auftrag auszuführen. Marcus’ Blick glitt zu der Leine, die jetzt nicht mehr in Crystals Hand lag. Er hatte sich anfangs wie ein Löwe dagegen gewehrt, sich von ihr herumführen zu lassen, aber sie hatte ihn davon überzeugt, dass das die einzige Möglichkeit war, wie er sich hier einigermaßen frei bewegen konnte. Die Idee, die ihm bei der Erinnerung an diese Diskussion kam, ließ seinen Magen unschön rebellieren. Er atmete noch einmal tief durch. „Du wirst mich zurückbringen müssen.“ „Was?“ Crystals Augen wurden groß wie Suppentassen. „Also wenn es einen Beweis dafür gebraucht hätte, dass du nicht mehr alle Nadeln an der Tanne hast, dann wäre der hiermit erbracht. Warum bei Belphegors stinkendem Schandmaul sollte ich das tun?“ „Weil ich Belial einen Vorschlag unterbreiten will. Er bekommt … mich. Ich werde ihm anbieten, ihm freiwillig zu dienen. Das sollte ihn lange genug beschäftigen, um den Plan durchzuziehen.“ Crystal bewegte den Kopf so heftig hin und her, als wollte sie ihn von ihren Schultern schütteln. „Nein. Niemals. Kommt gar nicht in Frage. Er seufzte. „Crystal, bitte. Wenn ich Belial nicht ablenke, wird er Angelo gefangennehmen und dann ist alles zu spät. Du musst nur dafür sorgen, dass er freikommt, wenn Alejandro ihn hierher gebracht hat. Schaffst du das?“ Sie zog geräuschvoll die Nase hoch. „Der Köter? Auf den spucke ich doch. Aber Belial wird dich durchschauen. Du kannst ihn nie im Leben davon überzeugen, dass du auf seiner Seite stehst.“ „Wenn ich mich ihm hingebe, vielleicht schon.“ Marcus hatte nicht gedacht, dass ihre Augen noch größer werden konnten. „Du willst … oh.“ Er sah, wie sie sich auf die Lippen biss in dem Versuch nicht zu grinsen. „Darf ich fragen, was daran so witzig ist?“ „Ach … äh … na ja. Die Vorstellung von euch beiden zusammen ist schon ziemlich heiß.“ „Ich kann darüber nicht lachen“, grollte er. Allein der Gedanke, die Hände des Dämons auf seiner Haut zu spüren – schon wieder – bereitete ihm Übelkeit. Entsprechend stark schrak er zusammen, als Crystal sich plötzlich an ihn schmiegte. „Also schön“, sagte sie. „Dein Plan ist vollkommen bekloppt, aber ich helfe dir. Vor allem dabei, Belial eine gute Show zu liefern.“ Er atmete ein und roch ihren süßlichen Duft. „Und wie willst du das anstellen?“ „Na so, wie ich allen Männern helfe, die ihren kleinen Freund nicht hochkriegen. Belial muss doch schließlich denken, dass du auf ihn stehst. Und dieses Mal dulde ich keine Widerrede.“ Marcus sah ihr in die Augen, die momentan seegrün waren. „Dann verwandle dich vorher wenigstens zurück“, bat er. „Ich will die echte Crystal küssen.“ Er spürte, wie sich der Körper unter seinen Händen veränderte. Knochen verschoben sich unter ihrer Haut, ihre Gesichtszüge wandelten und verformten sich und im nächsten Augenblick hielt er den stupsnasigen Dämon im Arm. „Besser so?“, fragte sie und grinste, sodass er ihre spitzen Eckzähne sehen konnte. „Ja“, bestätigte er, während er sich zu dem verhängnisvollen Kuss herabbeugte. „Viel besser.“       Michael beobachtete Angelo, dessen Blick auf die dunkle Ebene gerichtet war, die vor ihnen lag. Belials dunkles Domizil war nicht besonders weit entfernt. Trotzdem hatte Angelo gezögert, sich dorthin zu begeben. Er hatte seine Kräfte aktiviert und starrte nun schon seit mehreren Minuten mit unbewegtem Gesicht nach vorn. Man hätte ihn für eine leuchtende Statue halten können. „Und? Was siehst du?“, wollte nun auch Gabriella wissen. „Ich mache mir viel eher Sorgen um das, was ich nicht sehe“, antwortete Angelo kryptisch. Wieder verfiel er in Schweigen. Michael bemühte sich ruhig zu bleiben, doch diese unnatürliche Stille, die hier auf der anderen Seite noch viel drückender schien, machte ihn halb wahnsinnig. Es fühlte sich falsch an hier zu sein. Das hier war keine Welt, die für Menschen gemacht war. Sie gehörte zu einer anderen Realität, die der Dämonenfürst wie auch immer errichtet hatte. Alles in Michael drängte ihn, sich wieder auf die helle Seite zu begeben. Den knappen Meter zurück durch das Tor zu gehen, um dort wieder freier atmen zu können. Doch er blieb an Angelos Seite und wartete. Endlich begann Angelo wieder zu sprechen. „Es gibt Fallen. Unendlich viele. Ihnen allen auszuweichen dürfte ziemlich schwierig werden.“ „Dann lass deine Kräfte doch einfach aus, bis wir da sind.“ „Dann würde ich die Wächter nicht sehen. Sie sind ohnehin nur schwer erkennbar. Ich bin mir nicht ganz sicher, was sie sind oder ob sie nicht eigens von Belial ersonnen wurden, um sein Anwesen zu schützen. Sie sind nahezu unsichtbar und nur, wenn sie sich bewegen, kann man ihre Konturen erkennen. Sie ähneln riesigen, fliegenden Quallen oder Tintenfischen mit langen Tentakeln, die den Erdboden unter ihnen abtasten. Ich nehme an, das, was immer diese Tentakel berührt, von ihnen eingefangen und festgehalten wird. Möglicherweise könnte ich sie in dem Fall unschädlich machen, indem ich die Tentakel kappe, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie nicht eventuell eine Art Nervengift einsetzen, um ihre Opfer zu lähmen. In dem Fall wärt ihr in Gefahr. Außerdem werden diese Wächterquallen mit Sicherheit einen Alarm auslösen, der uns vor neue Probleme stellen würde. Ich kann es nicht allein mit ihnen allen aufnehmen.“   Michael schluckte. Das hörte sich nicht besonders gut an. Zumal er das Gefühl hatte, dass sein Bewusstsein immer noch leicht benebelt war von was auch immer ihm dieser Inkubus verabreicht hatte. Als er zu sich gekommen war, hatten Gabriella und Angelo an seiner Seite gekniet. In ihren Gesichtern hatte tiefe Besorgnis gestanden, die ehrlicher Erleichterung gewichen war, als sie sahen, dass er wieder erwacht war. Ein Teil von ihm schämte sich immer noch dafür, dass er Rafaels hübschem Gesicht so auf den Leim gegangen war, auch wenn er inzwischen wusste, dass er nicht der Einzige gewesen war. „Es gibt also keinen Weg da durch?“, wollte er wissen. „Das versuche ich gerade herauszufinden. Es erscheint mir möglich, dass es einen Pfad gibt, auf dem man gehen kann, aber ihn mir zu merken ist ein Ding der Unmöglichkeit. Zumal auf dem Weg die Fallen angebracht sind. Es ist, als würde man versuchen über Wasser zu laufen.“ „Soll ja Leute geben, die das hingekriegt haben“, witzelte Gabriella und seufzte. „Und was jetzt?“ Angelo setzte gerade zu einer Antwort an, als er plötzlich verstummte und sein Gesicht höchste Alarmbereitschaft verriet. „Da kommt jemand. Schnell. Wir müssen hier weg.“ Michael und Gabriella fragten nicht lange. Angelo wies sie an, sich in dem Verschlag zu verstecken, in dem er zuvor mit Rafael … Victor gewesen war. Dort hing immer noch dieser penetrante Blumengeruch in der Luft, aber Angelo erstickte jeden Protest im Keim und Michael gehorchte. Er drückte sich gegen die raue Wand, Gabriella an seiner Seite, und lauschte.   Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er endlich etwas hörte. Es klang wie ein Hecheln und das Klappern von schmalen Hufen auf hartem Sandboden. Ohne auf Gabriellas lautlose Aufforderung, sich ruhig zu verhalten, einzugehen, schob sich Michael zur Türöffnung und spähte hinaus. Was er draußen sah, ließ seinen Atem stocken. Da waren zwei riesige, schwarze Bestien. So groß, das Michael sie schon gar nicht mehr Hunde nennen mochte. Ihre Augen glühten rot und um ihre Hälse wanden sich flammende Ketten. Statt normaler Pfoten hatten sie gespaltene Hufe und auf ihren Köpfen konnte Michael zwischen den Ohren tatsächlich kleine Hörner erkennen. Das erstaunlichste war jedoch, dass diese riesigen Teufelshunde von einem Tier begleitet wurden, das Michael sofort wieder erkannte. „Spike“, flüsterte er und korrigierte sich in Gedanken. Das war nicht „Spike“, sondern Alejandro, der Anführer der Bande von Strauchdieben, die in Belials Diensten standen. Kaum hatte er das gedacht, verwandelte sich der verwahrloste Hund in einen fast ebenso verwahrlost wirkenden Menschen zurück. Der Mexikaner mit dem Goldzahn ging neben Victors Leiche in die Knie. Michael hörte ihn leise fluchen. Mit gefletschten Zähnen wandte er sich an die zwei schwarzen Hunde. „Búsquenlos! Deben de estar por aquí.“ Die zwei Bestien schwärmten daraufhin aus, sodass Michael sich schnell zurückzog. Viel zu schnell näherte sich Hufgetrappel ihrem Versteck. Er hörte ein Schnüffeln, das von einem Grollen abgelöst würde. Ein riesiger, schwarzer Kopf schob sich durch die helle Türöffnung und glühend rote Augen richteten sich auf ihn und Gabriella. Sie sog erschrocken die Luft ein und krallte ihre Hand in Michaels Arm. Er packte die Eisenstange in seiner Hand fester und machte sich auf einen Angriff befasst. Der Hund entblößte eine ganze Reihe scharf aussehender Zähne und der Pestgestank, der das Untier umwehte, vertrieb auch die letzte Spur des süßlichen Blumendufts. Michael glaubte, seine Nase tief in einen Ziegenstall gesteckt zu haben, der gleich neben einer öffentlichen Toilette lag. Er versuchte flacher zu atmen und hob gleichzeitig seine improvisierte Waffe. Der Dämonenhund knurrte warnend. „Verschwinde, du Bestie“, rief Michael und hieb nach der Schnauze des schwarzen Hundes. Der wich aus und schnappte nach der Stange, verfehlte sie aber um Haaresbreite. Im gleichen Augenblick sprang er vor und zielte dieses Mal auf Michaels Arm. Der reagierte sofort und stieß mit der Spitze der Stange nach dem Brustkorb des Dämons. Getroffen jaulte dieser auf und prallte zurück. Er gab ein kurzes Bellen von sich und schon waren der zweite Hund und Alejandro ebenfalls heran. Schon von weitem konnte Michael den dürren Mexikaner grinsen sehen. „Ah, sieh an, wir haben ein Rattennest gefunden.“ „Die Ratte hier bist ja wohl du“, knurrte Michael und wollte sich auf die zähnefletschenden Hunde stürzen, als Gabriella ihn zurückhielt. „Nicht“, flüsterte sie. „Sieh doch.“ Michael wusste zunächst nicht, was sie meinte, doch dann bemerkte er die Bewegung in den Dachbalken über Alejandro. Er realisierte zu spät, dass sein Blick ihre Gegner vorgewarnt hatte. Alejandro stieß erneut einen Fluch aus, warf sich zur Seite und entging so im letzten Moment Angelo, der sich von oben mitten unter die Cadejos fallen ließ. Sein Schwert beschrieb einen leuchtenden, silbernen Kreis und im nächsten Augenblick jaulte einer der riesigen Hunde getroffen auf. Er brach in die Knie und eine Blutlache begann sich um ihn herum auszubreiten, bevor der große, schwarze Körper plötzlich in sich zusammenfiel. Binnen Sekunden vergingen Haut, Haare und Knochen und nur eine stinkende, schwarze Lache blieb von dem Dämon zurück. Sein Kumpan jaulte auf, als habe man ihm das Schwert durch den Leib gerammt. „Paco!“, schrie Alejandro und wandte sich mit einem grimmigen Zähnefletschen an Angelo. „Das wirst du mir büßen!“ Angelo hob das Schwert und verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. „Du kannst es gerne versuchen.“ „Arrogantes Arschloch!“ Alejandro hatte sich auf den freien Platz zurückgezogen, von dem Michael wusste, dass dort die Engelsfalle lauerte. Zu Alejandros Pech hatte Angelo seine Kräfte jedoch nicht aktiviert. Die Falle blieb unausgelöst. Die Augen des schäbigen Mexikaners wurden schmal. „Was ist das? Warum …?“ Er knurrte etwas Unverständliches. Sofort begann, der zweite Hund, sich von hinten auf Angelo zuzuschleichen. Michael wollte ihm zur Hilfe eilen, aber es war bereits zu spät. Das Untier nahm Anlauf, sprang auf Angelo zu und wurde noch im Flug von der silbernen Schwertklinge durchbohrt. Sein Körper fiel mit einem schweren Schlag zu Boden und verging ebenso wie der erste zu einer stinkenden Pfütze. Wieder ließ Angelo sein Schwert beinahe spielerisch durch die Luft kreisen. „So“, sagte er. „Nun sind nur noch wir beide übrig.“ Alejandro hatte begonnen, rückwärts zu gehen. Als er gegen einen der Balken stieß, die das Dachgebilde trugen, schrak er zusammen, strauchelte und kam nur mühsam wieder ins Gleichgewicht. Angelo folgte ihm unbarmherzig, das Schwert in der Hand. Als Alejandro schließlich die Scheunenwand erreichte, hetzte sein Blick zwischen Angelo und dem Tor zu Belials Festung hin und her. Er schien abzuwägen, wie groß seine Chancen waren, ihnen auf diesem Weg zu entkommen. „Nicht mit mir, mein Freund“, knurrte Michael und nahm mit der Eisenstange Aufstellung. An ihm würde dieser Köter zunächst vorbei müssen, wenn er mit dem Schwanz zwischen den Beinen zu seinem Herrn zurückeilen wollte. Alejandro sah das und wollte wohl gerade sein Heil in der Flucht in die entgegengesetzte Richtung suchen, als ihm Gabriella von dort entgegen trat. Sie hielt eine rostige Harke in ihrer Hand. „Endstation“, sagte sie und Michael kam nicht umhin, seine Mafioso-Piraten-Braut ein ganz kleines bisschen sexy zu finden. Jetzt jedoch hatten sie zunächst einmal einen Dämon zu besiegen. „Ihr könnt nicht … ich …“, stammelte Alejandro und drückte sich noch enger gegen die Holzwand in seinem Rücken. Ihm schien aufgegangen zu sein, dass das hier sein letztes Abenteuer sein würde. „Was wollt ihr von mir?“, stieß er schließlich hervor, als Angelo ihm nach einer ganzen Weile immer noch nur gegenüberstand und ihn musterte. „Du bist anders“, murmelte Angelo. „Anders als deine Brüder.“ „Komm schon, Angelo“, sagte Michael. „Erledige ihn und dann kümmern wir uns um diese Quallen.“ Angelos Blick traf ihn und Michael erschauerte. In den blauen Augen lag ein stummer Vorwurf. „Ich würde niemals sinnlos ein Leben nehmen.“ „Sinnlos? Nach all dem, was er dir angetan hat? Die anderen hast du doch auch getötet.“ „Sie haben mich angegriffen, ich habe mich verteidigt. Das ist ein Unterschied. Das hier wäre eine Hinrichtung und das steht mir nicht zu. Nicht in diesem Fall.“ Er wandte sich wieder Alejandro zu. Der hatte die Zähne gebleckt und lachte. Michael glaubte zunächst, sich verhört zu haben, aber der Kerl lachte tatsächlich. „Ihr werdet es niemals auf die andere Seite schaffen. Die Medusen werden euch nicht durchlassen. Wenn ihr ihnen zu nahe kommt, fangen sie euch und halten euch fest, bis die Wachen euch holen kommen.“ Angelo legte den Kopf ein wenig schief. „Du und deine Freunde, ihr seid hier unbeschadet hergekommen. Es gibt also einen Weg.“ „Oh ja, den gibt es, aber ihr werdet ihn niemals finden.“ „Dann hilf uns.“ Dieses Mal war Michael sich sicher, dass er sich verhört hatte. Hatte Angelo tatsächlich gerade diesen Köter um Hilfe gebeten? „Was soll das, Angelo? Er wird uns nicht helfen. Und wenn, dann wird er uns bei der erstbesten Gelegenheit in den Rücken fallen. Den Fehler mache ich bestimmt nicht noch einmal. Schlimm genug, dass ich das erste Mal auf ihn und seinen Kumpan hereingefallen bin.“ Gabriella nickte. „Ich muss Michael recht geben. Dieser Dämon hat uns schon einmal belogen und er wird es wieder tun.“ „Nein, wird er nicht.“ Angelo senkte plötzlich das Schwert. „Er wird uns helfen, weil ich der Einzige bin, der ihm geben kann, wonach es ihm am meisten verlangt.“ „Was?“ Michael begann langsam ernsthaft an Angelos Verstand zu zweifeln. „Du willst dich auf einen Handel mit ihm einlassen?“ „Vergiss es, Engel“, fauchte jetzt auch Alejandro. „Ich handle nicht mit dir. Ich würde meinen Herrn niemals verraten. Eher sterbe ich.“ „Ich weiß.“ Angelos Stimme war jetzt sanft und Michael wurde sich bewusst, dass er irgendwann seine Engelskräfte aktiviert haben musste. Da sie außerhalb des Wirkungsbereichs der Falle standen, hatte er es nicht bemerkt. Ein trauriges Lächeln glitt über Angelos Gesicht. „Er weiß es nicht, oder?“, fragte er Alejandro. „Er hat es nicht bemerkt. Über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg ist er zu blind geworden, um es zu erkennen.“ „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst“, knurrte Alejandro, doch etwas an der Art, wie er das sagte, ließ Michael aufhorchen. Es war nicht direkt eine Lüge. Eher etwas, dass er sich selbst und Angelo einzureden versuchte. Etwas, dass er selbst nicht wahrhaben wollte. „Oh doch, das weißt du“, erwiderte Angelo. Er schenkte Alejandro noch einen letzten, freundlichen Blick, dann legte er das Schwert auf den Boden. „Ich werde nicht gegen dich kämpfen.“ „Was?“ Der Ausruf kam aus drei erstaunten Mündern zugleich. „Aber Angelo …“, versuchte Gabriella ihr Glück, doch auch sie kam nicht besonders weit, denn Angelo hob sacht die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Er schickte ihr ein entschuldigendes Lächeln. „Es tut mir leid, aber dies ist ein Kampf, den Alejandro ganz mit sich allein auszutragen hat.“ „Was soll die Scheiße?“, bellte der Cadejo. Mitten in der Verzweiflung, die sich in seinen Augen spiegelte, glomm mit einem Mal ein Funke der Wut. „Was treibst du hier für ein perverses Spiel? Willst du, dass ich renne, damit du mich dann von hinten erschlagen kannst?“ „Nein. Ich will, dass du lebst. Und ich will, dass du uns auf die andere Seite führst. Warum also sollte ich dich töten wollen? Ein toter Führer ist kein guter Führer.“ Alejandro schnaubte trotzig. „Ich sagte doch schon, ich werde meinen Herrn nicht verraten.“ „Und warum nicht?“ „Weil …“ Alejandro unterbrach sich. Er begann hektischer zu atmen. Seine schmale Brust hob und senkte sich unter seinem schwarzen Hemd, das inzwischen voller Staubspuren war. „Warum würdest du immer zu deinem Herrn stehen, selbst wenn es deinen Tod bedeutet?“ Angelos Stimme war jetzt dringlicher, schärfer geworden. „Antworte mir, Alejandro! Warum würdest du ihn niemals verraten?“ Die Hände des Mexikaners krallten sich in die Stallwand. Auf seinem Gesicht stand pure Agonie. „Ich kann nicht“, wimmerte er. „Ich kann es dir nicht sagen.“ „Warum nicht?“ „Ich … ich habe Angst.“ Er sank an der Wand herab. Sein Körper zitterte ebenso wie sein Unterkiefer. Er schien kurz davor vollkommen zusammenzubrechen. Was immer Angelo mit ihm tat, schien für ihn ebenso schlimm wie Folter zu sein. Michael begann fast, Mitleid mit dieser Kreatur zu bekommen, und wie es schien hatte auch Angelo begriffen, dass er so nicht weiterkam. Er trat einen Schritt auf den zusammengekauerten Mann zu und ging in die Hocke. Langsam streckte er die Hand nach ihm aus. „Du brauchst dich nicht zu fürchten. Niemand von uns wird dich dafür verurteilen.“ Als er keine Reaktion bekam, seufzte er leise. „Alejandro. Du bist doch mit uns zusammen gewesen. Du hast es gesehen. Warum macht es dir solche Angst?“ Ein Schluchzen antwortete ihm. „Weil … weil ich es niemals haben werde. Niemals.“ „Und wenn ich dir helfen würde? Wenn ich dir helfen würde zu bekommen, was du dir schon so lange wünschst? Was, wenn es wahr sein könnte?“ Tränenverschleierte Augen richteten sich auf Angelo. „Das vermagst du nicht. Niemand kann das.“ „Und wenn doch? Was, wenn ich es zumindest versuchen würde? Was, wenn er es endlich sehen könnte?“ „Er würde mich in der Luft zerfetzen.“ „Nicht, wenn ich ihn vorher besiege. Wenn ich ihm alles nehme, was ihn über dich erhebt und ihn dir ebenbürtig mache.“ „Er würde trotzdem nicht …“ „Er könnte es lernen. Es wird dauern, vielleicht ein Leben lang, aber er könnte es wieder lernen.“ Michael wollte etwas sagen, aber Gabriella war schneller. Sie trat hinzu, sah Angelo an und fragte: „Worum geht es hier?“ Ein feines Lächeln umspielte Angelos Lippen. „Um Liebe, Gabriella. Um Liebe.“ „Was?“ Auf Gabriellas Gesicht war das gleiche Unverständnis zu sehen, das auch Michael erfasst hatte. Er versuchte einen Sinn in das zu bekommen, was Angelo gesagt und der Cadejo erwidert hatte und plötzlich ergab alles einen Sinn. Sein Blick richtete sich auf Angelo. „Willst du damit sagen …?“ Angelo stand auf und holte tief Luft, bevor er zu sprechen begann. „Wenn ein Engel fällt, verliert er einen großen Teil seiner Kraft. Dieser Verlust ist schwer zu ertragen, aber noch viel schwerer ist der Verlust der Liebe Gottes auszuhalten. Ein Engel, der sich von ihm abgewandt hat, verliert all die Wärme und Zuneigung, die ihn sein Leben lang begleitet haben, die Teil seines Wesens sind. Es ist schwer zu erklären, sodass ihr es auch versteht, aber es fühlt sich ein wenig so an, als würde einem bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust geschnitten. Es ist furchtbar, es tut weh und es hinterlässt eine Leere, die nichts und niemand zu füllen vermag. Die meisten Gefallenen wurden mit Gewalt aus dem Himmel geworfen. Durch die Zurückweisung wurde es leicht für sie, ihre Herzen zu kitten. Sie stopften sie voll mit Wut und Hass und Eifersucht, bis sie schwarz und verdorben waren und endlich die allumfassende Liebe vergessen konnten, die ihnen entrissen worden war. Ihr Gefühl der Sehnsucht und des Verlusts wurde in das pure Gegenteil verkehrt und sie verachten dieses Gefühl inzwischen zutiefst, sehen es als Schwäche an, als Krankheit, die es auszumerzen gilt auch in den Herzen der Menschen, damit auch diese sich von Gott abwenden.“ Angelos Augen schlossen sich und sein Gesicht zuckte, als würde er erneut die Schmerzen durchleben, die er erlitten hatte, als er zur Erde gestürzt war. „Als ich ankam, war ich ebenso wie sie einst. Ich war verletzt und einsam, mein Herz war gebrochen. Ich sehnte mich so verzweifelt danach, geliebt zu werden, dass ich jedem gefolgt wäre, der mir nur irgendeinen Ersatz dafür anbot.“ Angelos Augen öffneten sich wieder. „Und deshalb, Michael, bin ich zu dir geschickt worden. Du hast mir geholfen, mich angenommen und schließlich … geliebt. Ohne etwas dafür zu verlangen und ohne Hintergedanken. Du warst einer der guten Menschen, die die Engel damals in Sodom und Gomorrha zu finden gehofft haben. Und wo du zweifeltest, hat mich Gabriella aufgefangen und gehalten. Sie war mir eine große Stütze und ich empfinde tiefen Respekt ihr gegenüber. Mit eurer Hilfe konnte ich den Schmerz überwinden oder zumindest aushaltbar machen. Ich konnte leben, ohne dem Hass und dem Wahnsinn zu verfallen, den bisher alle anderen Gefallenen ereilt hat. Durch eure Liebe habt ihr mich gerettet.“ Er wandte sich jetzt wieder Alejandro zu. „Dein Herr, Belial, ist schon seit Äonen hier und der Schmerz so tief in sein Herz eingegraben, dass er ihn kaum noch spüren kann. Er hat anderes, in seinen Augen Besseres, gefunden, um die Leere in seinem Inneren zu füllen. Und du hast Recht, er würde sich niemals darauf einlassen, sich von dir lieben zu lassen. Doch wenn ich es schaffe, ihn zu besiegen, dann kann es wahr werden. Dann können wir gemeinsam Belial vielleicht vor der Ewigen Verdammnis retten. Doch dazu muss ich auf die andere Seite. Von daher frage ich dich noch einmal: Wirst du uns helfen?“ Alejandro blickte zu Boden. Michael konnte die Emotionen, die in seinem Inneren miteinander rangen, nur erahnen, aber ihm war klar, dass dieser Dämon gerade die schwerste Entscheidung seines bisherigen Lebens zu fällen hatte. Schließlich sah Alejandro auf. „Versprich mir etwas“, sagte er mit brüchiger Stimme zu Angelo. „Meinem … Belial darf nichts geschehen.“ Angelos Gesicht war eine ausdruckslose Maske. „Ich verspreche dir, dass ich ihn nicht töten werde. Aber wenn es zu einem Kampf kommt, werde ich ihn nicht schonen. Nicht, bis ich das Leben bis auf den allerletzten Tropfen aus ihm herausgepresst habe. Denn erst dann wird er in der Lage sein, sich in deine Arme zu begeben. In die Arme desjenigen, der ihn wirklich und aufrichtig liebt.“ Alejandro hielt den Blick weiter gesenkt. „Also schön“, sagte er leise. „Ich helfe euch. Aber wir werden nicht einfach so dort drüben reinspazieren können. Es gibt Wächter und wachsame Spitzel, die unsere Ankunft melden werden.“ „Wenn das so ist …“, Angelo streckte die Hände vor und hielt sie Alejandro mit gekreuzten Handgelenken entgegen, „Solltest du vielleicht tun, was dein Herr dir aufgetragen hat. Bring ihm einen gefangenen Engel.“ Kapitel 29: Dunkle Versuchung ----------------------------- Marcus saß auf dem breiten Bett des rotschwarzen Schlafzimmers, die Beine übereinandergeschlagen, den Rücken und Kopf an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen. Er wartete. Wie lange noch, war ungewiss. Er wusste nicht, wann Belial vorhatte, sich wieder an ihm zu ergötzen. Allerdings sagte ihm sein Gefühl, dass es nicht mehr allzu lange dauern konnte. Crystal hatte ihn schon vor einiger Zeit hierher gebracht, in seinem Blut eine gute Portion des Gifts, das seinen Körper bereits in Hochstimmung versetzte. Er lächelte, als er an den Kuss dachte. Es war, so eigenartig das klang, eine schöne Erinnerung, die er benutzte, um die restlichen Eindrücke der Nacht nach hinten zu drängen. Und gleichzeitig musste er sie wieder hervorholen, wenn er schaffen wollte, was er sich vorgenommen hatte. Musste die Erinnerung wachrufen an diesen Zustand, der ihn zwischenzeitlich erfasst hatte. Der, in dem alles egal war. Es waren nur sehr kurze Abschnitte gewesen, in denen das passiert war. Manchmal nur Sekunden. Flüchtige Momente, in denen er am Rand des Abgrunds gestanden hatte, bereit sich der Dunkelheit zu ergeben. Immer wieder hatte er sich selbst zurückgerissen. Hatte sich daran erinnert, wer er war und was ihn ausmachte. Er war nicht gebrochen, aber die Belastungsgrenze war nahe gewesen. Zu nahe. Dabei waren es nicht einmal die Schmerzen gewesen, von denen er sich sicher war, dass sie für ihn weniger schlimm gewesen waren als für einen normalen Menschen. Natürlich spürte er sie, aber sie verblassten auch schnell wieder. Nerven, Haut, Knochen, alles heilte innerhalb kürzester Zeit. Zudem hatte der Sukkubus ja die Aufgabe gehabt, ihn erregt zu halten, und war somit vielleicht nicht ganz so hart vorgegangen, wie man es getan hätte, wenn man ihn ernsthaft hätte verletzen wollen. Und doch war es gerade diese Erregung gewesen, die ihn am meisten gedemütigt hatte. Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Das Gefühl, irgendwann abzurutschen, zu kapitulieren, zu betteln und Belial damit zu geben, was er wirklich wollte. Denn das, dessen war sich Marcus sicher, war nicht allein sein Körper gewesen. Hätte er diesen haben wollen, hätte er ihn sich nehmen können. Nein, was der Dämon wollte, war, dass Marcus fiel, so wie er einst gefallen war. Dass er sich der Dunkelheit entgegenwarf und sie umarmte, zu einem Teil von ihr wurde. Dass er sich ihr freiwillig hingab. Das war der Triumph, den er erleben wollte. Und das war es auch, was Marcus ihm vorzuspielen gedachte. Der Plan war nicht ohne Risiko, das war ihm klar. Wenn Belial merkte, dass Marcus ihn belog, würde er vielleicht nicht mehr so zimperlich mit ihm umgehen wie zuvor. Marcus erinnerte sich an … Dinge. Dinge, die er lieber nicht gesehen hätte. Man mochte das Treiben einer Gottesanbeterin schrecklich und ekelerregend finden, aber ein Tier war nicht grausam. Belial war grausam.   Als er die Tür des Schlafzimmer hörte, öffnete Marcus die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Es war so weit. Das Warten war vorbei. Langsam erhob er sich vom Bett.   Belial trat ein Stück in den Raum hinein, die dunklen Augen zu Schlitzen verengt. „Ich hatte nicht erwartet, dich hier zu finden.“ „Ich hatte nicht erwartet, so lange auf dich warten zu müssen.“ Ein schmales Lächeln, ein amüsiertes Geräusch. Hinter Belial konnte Marcus Crystal in der Gestalt des rothaarigen Sukkubus sehen. Sie stand noch im Gang, beinahe verdeckt von zwei Wächterdämonen und einer weiteren Frau – vermutlich ebenfalls ein Sukkubus – die zwei weibliche, spärlich bekleidete Sklaven an dünnen Lederleinen führte. Woher diese Unglücklichen stammten, wusste Marcus nicht. Nur, dass ihre Lebenserwartung vermutlich nicht besonders hoch war. „Ich nehme an, dass es hierfür eine Erklärung gibt?“, sagte der Dämon und deutete mit einer Geste Marcus, den Raum, die Gesamtheit der Situation an. „Ja, die gibt es. Aber das würde ich lieber unter vier Augen besprechen.“ „So, würdest du. Und wenn ich es dir verweigere?“ „Wirst du nicht bekommen, was du wirklich willst.“ Wieder ein Geräusch, das nur fast ein Lachen war. Ein Lächeln entblößte Belials Eckzähne. „Nun gut. Ich will mir anhören, was du zu sagen hast. Du warst immerhin schon sehr fleißig heute Nacht. Wer weiß, vielleicht ist diese Unterhaltung meinem Ziel ja dienlich.“ Mit einem Wink seiner rechten Hand entließ Belial die beiden Wächter und auch der fremde Sukkubus zog unverrichteter Dinge von dannen. Einzig Crystal blieb in der Tür stehen. Sie warf den Kopf zurück und stemmte die Hand in die Hüfte. In ihrer Hand hielt sie eine lange Lederpeitsche. Ein Instrument, das Marcus inzwischen zu fürchten gelernt hatte. Es gab Schmerzen, die unangenehmer waren als andere. Belials Blick legte sich auf ihn. „Was ist mit ihr? Möchtest du, dass sie bleibt?“ Einen Augenblick lang war Marcus in Versuchung. Crystal hierzubehalten bedeutete eine zusätzliche, wenngleich auch trügerische Sicherheit für ihn. Er hätte versuchen können, sie in seinen Plan einzubeziehen, und sie im Notfall vielleicht sogar als Unterstützung gegen Belial einsetzen können. Allerdings war er sich bewusst, dass der Sukkubus dem Dämonenfürsten nicht gewachsen war. Außerdem hegte Marcus den starken Verdacht, dass die Beteiligung, die Belial im Sinn hatte, nicht die war, die Marcus sich in seiner halbmenschlichen Unschuld so vorstellte. In Belials Augen würde es vermutlich Sinn machen, wenn Marcus Rache nahm und den Sukkubus für das bestrafte, was der ihm angetan hatte. Das wollte Marcus um jeden Preis vermeiden. Er schüttelte den Kopf. „Nein, sie soll auch gehen. Und ich würde es vorziehen, wenn uns in den nächsten Stunden niemand stören würde. „Stunden gleich.“ Belials eine Augenbraue hob sich spöttisch. „Mir scheint, du überschätzt dich etwas. Oder du unterschätzt mich.“ „Möglich“, gab Marcus gelassen zurück. „Aber jetzt schick sie weg und verriegele die Tür.“ Wieder diese enervierende Lachen. „Nun gut, wie du wünschst. Ich hoffe, dass hier wird wenigstens halb so amüsant, wie du mir versprichst.“ „Ich halte meine Versprechen in der Regel.“ „Im Gegensatz zu mir?“ „Exakt.“ Diese Mal lachte Belial tatsächlich. Er schnippte mit dem Finger und Crystal gehorchte. Als sie die Tür hinter sich schloss, atmete Marcus innerlich auf. Jetzt musste er nur noch überzeugend sein. Sehr überzeugend.   „Also“, begann Belial, „du wolltest mit mir sprechen. Ich höre.“ „Nun, die Sache ist die, ich …“ Marcus stockte bewusst, als wisse er nicht recht, was er sagen sollte. „Ich hatte Zeit, nachzudenken.“ „Ach wirklich?“ Belial klang amüsiert. „Dann scheint meine Dienerin ihre Aufgabe nicht gut genug verrichtet zuhaben. Eigentlich hatte ich ihr gesagt, sie solle dich um den Verstand bringen.“ „Oh, das hatte sie geschafft. Fast zumindest.“ Marcus wandte den Blick ab und blickte ein wenig scheu zu Boden. „Allerdings hatte ich ja eine interessante Aussicht zu genießen.“ Belial trat näher und musterte Marcus, der immer noch die schwarze Hose trug, die Crystal ihm für seine Verkleidung herausgesucht hatte. Den Rest des Kostüms hatte er abgelegt. „Mhm“, machte Belial. „Du hast dich umgezogen. Gibt es dafür einen Grund?“ „Ich … ich dachte, es gefällt dir vielleicht.“ Im nächsten Moment fand sich Marcus auf dem Boden wieder mit Belial über sich, der sein Knie gegen Marcus Hals drückte und ihm die Luft abschnürte. In seinen Augen glitzerte kalte Wut. „Lüg mich nicht an. Du bist alles aber keine keusche Jungfrau, die versucht, die Sympathie des Biests durch ihren hübschen Augenaufschlag zu erlangen. Also sag mir: Was willst du wirklich?“ „Ich … ich will …“, keuchte Marcus und versuchte erfolglos zu schlucken. „Ich will nicht mehr wie ein Tier gehalten werden.“ Belial nahm sein Knie von Marcus schmerzendem Hals. „Na also, es geht doch. Warum nur erst dieser stümperhafte Versuch mich zu täuschen? Du taugst nicht dazu, also versuch es gar nicht erst.“ Marcus sah vom Boden aus zu Belial auf. „Ich …“, er schluckte und dieses Mal ließ er es zu, dass etwas seiner echten Beklemmung an die Oberfläche geriet. „Ich habe so etwas noch nie gemacht.“ „Was?“ „Na das hier.“ Marcus sprach es nicht aus. Er wusste, dass Belial wusste, was er meinte. Es war vermutlich der Teil dieses Spiels, den der Dämon am meisten genoss. „Aber du willst es probieren. Du willst deine Seele verkaufen für deinen Stolz?“ Belials Stimme war lauernd und Marcus nickte zögernd. „Mhm“, war die einzige Antwort, die er erhielt. Statt weiter auf ihn zu achten, ging der Dämon zu dem Tisch, auf dem ein frisches Glas bereit stand. In Ermangelung eines Dieners übernahm Belial selbst die Aufgabe, sich etwas von dem Wein einzuschenken. Als sein Blick auf die Karaffe fiel, hielt er sie hoch und in Marcus’ Richtung. „Ich nehme an, du möchtest nichts?“ In Anbetracht der Situation wäre es vielleicht schlau gewesen, wieder zu verneinen. Stattdessen nickte Marcus langsam. „Doch, ich glaube, ich … hätte gerne ein Glas.“ Ein winziges Lächeln huschte über Belials Züge. „Das freut mich. Er ist wirklich vorzüglich, auch wenn ich schon edlere Flüssigkeiten in diesen Gefäßen hatte.“ Der Gesichtsausdruck des Dämons zeigte Marcus deutlich, worauf dieser anspielte. Er blickte zur Seite. „Ich hab mir Mühe gegeben“, erwiderte er trocken. Ein ernsthaft amüsiertes Lachen folgte seiner Bemerkung. „Weißt du denn inzwischen auch schon, was ich damit anstellen werde?“ „Ich habe es mir zusammengereimt. Ein ehrgeiziger Plan.“ „Nicht wahr? Aber so bin ich eben. Understatement war noch nie so mein Stil.“ Marcus sah sich in dem protzigen Schlafzimmer um. „Das sehe ich.“   Mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck ließ Belial sich auf seinem Chaiselongue nieder, nahm einen Schluck Wein und musterte Marcus eindringlich. Fast glaubte Marcus, seinen Blick wieder wie streichelnde Finger auf seiner Haut zu spüren. Er unterdrückte ein Schaudern. Crystals Gift hatte ihn seltsam sensibel werden lassen für derlei Stimulation. Er räusperte sich. „Hattest du mir nicht etwas zu trinken angeboten?“ „Dein Glas steht auf dem Tisch. Wenn du es willst, musst du es dir holen.“ Marcus kam der Aufforderung nach, stand auf, ging zum Tisch und ergriff das schwere Kristallgefäß. Der Pokal war facettenreich geschnitten, sodass sich das Licht darin brach und die rote Flüssigkeit im Inneren zum Leuchten brachte. Marcus zögerte kurz. „Gift?“ fragte er. „Dieses Mal nicht“, versprach Belial. Im Grunde hätte Marcus sich die Frage sparen können. Er würde sowieso nie wissen, ob der Dämon log oder die Wahrheit sagte. Also setzte er den Wein an und trank. Der Geschmack war vollmundig und süßer, als Marcus erwartet hatte. Er leckte sich über die Lippen und nahm noch einen Schluck. „Gut?“, fragte Belial. „Besser als erwartet“, gab Marcus zu. „Möchtest du es dir nicht etwas bequemer machen?“ Die Frage war selbstverständlich anzüglich gemeint, aber Marcus ging nicht weiter darauf ein. Er ließ seinen Blick über Belial schweifen, der vollkommen entspannt auf dem langen, gut gepolsterten Möbelstück ruhte. Marcus drehte das Weinglas in den Händen. „Darf ich … mich setzen?“ „Wenn du möchtest.“ Marcus musste noch einmal an die Gottesanbeterin denken. Ob Insekten wohl etwas fühlten? Wenn ja, kam Marcus sich gerade wie ein Heuschreckenmännchen vor.   Einige Minuten lang passierte gar nichts und Marcus wurde zunehmend nervöser. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Er drehte sich zu Belial herum und knurrte: „Willst du nicht irgendetwas tun?“ Belial tat erstaunt. „Ich? Ich dachte du wolltest mir einen Vorschlag machen, den ich nicht ablehnen kann. Aber bisher sehe ich nur, dass du meine Weinvorräte dezimierst. Möchtest du noch etwas?“ Marcus sah in sein Glas, das er wohl irgendwann geleert hatte, ohne es wirklich zu merken. Er spürte die Wirkung des schweren Weins, die sich mit der des Sukkubus-Gifts mischte. „Ich … ich sollte vielleicht nicht.“ „Der Wein macht es leichter. Auch wenn ich dir vielleicht ein wenig skrupellos erscheinen mag, so habe ich durchaus auch Spaß an meinen Gespielen, die dabei Genuss empfinden. Echten Genuss. Genuss, der sie nach mehr betteln lässt. Ich bin ein talentierter Liebhaber.“ Marcus entwich ein freudloses Lachen. „Eingebildet bist du wohl gar nicht.“ „Nein. Und wenn doch, wären die meisten hier zu feige, es mir zu sagen.“ Die Bemerkung ließ Marcus unwillkürlich lächeln. Ja, das Heer an Speichelleckern konnte er sich lebhaft vorstellen. Zumindest das von denen, die wirklich in der Lage waren, Belials Interesse zu wecken. Der Umgang mit dem Cadejo hatte Marcus deutlich gezeigt, dass Belial wählerisch war. Sehr wählerisch. Er nahm noch einen Schluck Wein aus dem frisch eingeschenkten Glas, bevor er es entschieden auf den Tisch stellte und sich zu Belial herumdrehte. Der beobachtete das mit nur mäßig verhohlenem Spott. Erneut ließ Marcus seinen Blick über den Dämon wandern. Er fand nichts an Männern, hatte das noch nie getan. Trotzdem sah er wohl, dass Belials Äußeres in höchstem Maße gefällig war. Seine Züge verrieten den Engel, der er einst gewesen war. „Gefällt dir, was du siehst?“, fragte Belial. Marcus überlegte einen Augenblick, bevor er antwortete. „Du bist schön“, sagte er. „Nicht, wie man oft von Männer sagt, dass sie einfach gut aussehen, sondern regelrecht schön.“ „Ich gefalle dir also?“ „Ja, ich denke schon.“ „Mhm.“ Belial beugte sich vor und stellte nun ebenfalls sein Glas ab, bevor er sich wieder nach hinten gegen die Rückseite des Chaiselongues lehnte. „Und was gedenkst du jetzt zu tun?“ Erneut schluckte Marcus. Er wünschte sich mehr Wein, mehr Mut, mehr irgendwas, um das hier durchzuziehen. Unwillkürlich fühlte er sich in das schäbige Motelzimmer zurückversetzt, als er versucht hatte, das erste Mal mit Crystal zu schlafen. Im Gegensatz zu Belial war sie Marcus jedoch ein Stück weit entgegengekommen. Diese Brücke hier würde er anscheinend ganz allein überqueren müssen. Er musste zugeben, dass er das nach dem ersten Zusammentreffen mit Belial nicht erwartet hatte. Irgendetwas übersah er. Aber was?   „Mir scheint, wir sind hier fertig“, sagte Belial plötzlich. Er erhob sich, schenkte Marcus noch einen mokanten Blick und wandte sich zum Gehen. „Ich werde Delilah zu dir schicken. Sie wird sich um alles kümmern.“ „Nein!“ Marcus’ Hand schnellte vor und hielt Belials Arm fest. Seine Finger krampften sich um den schwarzen Stoff. Er durfte nicht gehen. „Bleib.“ Er sah zu Belial auf. „Bitte.“ Marcus fühlte sein Herz in seiner Brust schneller schlagen. Ließ zu, dass Crystals Gift endlich frei in seinem Körper zirkuliert und unterdrückte die Wirkung nicht länger. Langsam zog er Belials Hand zu sich heran, hielt sie neben sein Gesicht und dann … lehnte er sich vor und platzierte einen vorsichtigen Kuss auf der Handfläche. Belials Finger schmiegten sich an seine Wange, umfassten seinen Kiefer und strichen von dort aus federleicht abwärts. Marcus konnte die scharfen Nägel fühlen, die, ganz ähnlich wie Crystal Krallen, seine Haut streiften. Er wusste, dass sie seine Luftröhre binnen Sekunden zerfetzen und ihn töten konnten. Und doch lag in der Berührung eine Sanftheit, die er nicht erwartet hatte. Eine tödliche Waffe gehüllt in kühle Seide und schmeichelnden Samt. Die schwarzen Augen des Dämons richteten sich auf ihn und er spürte, wie Belials Daumen über seine Lippen fuhr. Wieder war die Berührung nur ganz zart, fast nicht spürbar. Es machte Marcus wahnsinnig und er musste sich beherrschen, ihr nicht entgegenzukommen, um den Reiz erträglicher zu machen. Das bin ich nicht, das will ich nicht, hämmerte es in seinem Kopf. Er manipuliert dich! Wieder eine sachte Berührung, ein Streicheln ganz am Rand des Spürbaren und doch jagte sie tausend Stromstöße durch Marcus’ Körper. Seine Augen schlossen sich wie von selbst und als er Daumen erneut seine Lippen streifte, öffnete er diese ganz leicht. Ließ zu, dass Belial die feuchte Innenseite berührte. Sein Atem beschleunigte sich und er spürte die Hitze, die sich zwischen seinen Beinen sammelte. Das Gift, der Wein und diese Beinahe-Berührung waren auf beunruhigende Weise berauschend. Er wollte mehr und als Belial sanft sein Kinn umfasste und es nach unten zog, öffnete er bereitwillig den Mund. Die Luft ließ seine Schleimhäute trocken werden und er schluckte instinktiv, bevor sich seine Lippen erneut teilten. Wieder strich Belial mit seinem Finger darüber und als er sanft in seinen Mund eindrang, schob Marcus seinen Stolz beiseite, streckte seine Zunge vor und ließ sie über die Fingerspitze gleiten. Sofort hielt der Dämon in seiner Bewegung inne. Marcus, der das Gefühl hatte, einen Fehler gemacht zu haben, öffnete die Augen und sah auf. Auf Belials Gesicht war keinerlei Regung zu erkennen. Kein Muskel zuckte und verriet, was ihm gerade durch den Kopf ging. Und plötzlich wünschte sich Marcus genau das. Dass er eine Reaktion bekam. Dass dieses engelsgleiche Gesicht ihm verriet, was Belial von ihm dachte. Noch einmal ließ er seine Zungenspitze über den Finger in seinem Mund gleiten. Einen winzigen Augenblick zögerte er ob des ungewohnten Gefühls, bevor er die Lippen darum schloss und zu saugen begann. Ihm war bewusst, was das hier andeutete. Ihm war bewusst, dass er im Angesicht dieser Bedrohung nicht hart sein sollte. Ihm war bewusst, dass das hier allem zuwider lief, was er bisher über sich zu wissen geglaubt hatte. Ein mikroskopisches Lächeln erschien auf Belials Lächeln. „Ich nehme an, dass du damit etwas bezweckst?“ Marcus unterbrach sein Tun. Er ließ Belials Finger wieder aus seinem Mund gleiten. Sein Atem ging schnell. „Ich … Ich will …“ „Ja?“ Belial beugte sich zu ihm herab, so dicht, dass Marcus dessen warmen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. Schwarze Augen bohrten sich in seine. „Sag es mir, Marcus. Was willst du?“ Marcus schluckte. Da war er, der Rand des Wahnsinns. Die Klippe, über die er sich fallen lassen musste, ungewiss, was ihn auf der anderen Seite erwartete. Ungewiss, ob es einen Rückweg geben würde. Er spürte, wie Angst seinen Nacken hinaufkroch. Nein, nein, das durfte nicht passieren. Wenn er jetzt einen Rückzieher machte, würde Belial den Raum verlassen und alles war verloren. Ihm blieb keine Wahl. Er musste springen. Noch bevor er wusste, was er wirklich tat, griff er nach vorn, erwischte Belials Hemd zwischen seinen Fingern und zog ihn an sich. Ihre Münder krachten aufeinander und verschmolzen zu einem gierigen, brennenden, alle Zweifel hinfortfegenden Kuss, der die letzten Lichter in Marcus’ Kopf ausschaltete. Mit einem letzten Aufbäumen seines Willens dachte er noch einmal daran, wofür er das hier alles tat, bevor er sich endgültig der Dunkelheit ergab.       Mit zwischen die Zähne geklemmter Zunge malte Crystal die letzten Zeichen von dem Fetzen Papier in ihrer Hand ab. Sie musste leise sein, damit Belial sie nicht hörte oder einer der Wächter darauf aufmerksam wurden, was sie hier tat. Ansonsten könnte das wirklich unangenehm werden. Wie sollte sie schließlich erklären, dass sie hier gerade einen Schutzauber gegen Dämonen an Belials Schlafzimmertür anbrachte? Das würde ihr doch keiner abkaufen. Sie wunderte sich im Grunde genommen sogar darüber, dass Ernie nicht misstrauisch geworden war, als sie ihm erzählt hatte, dass sie eine Verabredung mit Delilah plante und dabei nicht gestört werden wollte. Nicht mal bei der Bitte um Extrasymbole zur Schallisolierung hatte er gezuckt. Die besten Märchen waren eben die, die man immer wieder erzählen konnte, ohne dass sie langweilig wurden. Nach dem letzten Kreidestrich verglich sie noch einmal die Zeichnung auf dem Bild mit der auf der Tür. Joah, sah gut aus und würde somit hoffentlich diese nervigen, kleinen Mistkerle abhalten, die Beelzebub ihrem Herrn und Meister zur Verfügung gestellt hatte. Mochte ja angehen, dass diese winzigen Spitzel manchmal ganz nützlich waren, aber Crystal fand sie ungefähr genauso toll wie die Scheißhausfliegen, die sie nun mal waren. Ach, sieh an, da ist ja schon so ein Brummer. Der fliegengroße Dämon schwirrte in Richtung Tür, kam den Schriftzeichen darauf ein bisschen zu nahe, es gab einen kurzen Lichtblitz und schon schwirrte ein stinkendes Häuflein Asche zu Boden. Okay, das funktioniert, dachte Crystal zufrieden. Jetzt muss ich mich nur noch um die 499 anderen Dämonenspezies kümmern, die hier rumkreuchen und -fleuchen. Na dann mal los. Crystal straffte sich, zog noch einmal den roten Pferdeschwanz fest und stolzierte dann auf die beiden gehörnten Riesen zu, die rechts und links der Tür Wache hielten. Als sie direkt vor ihnen stand, wedelte sie mit der Hand, um die Aufmerksamkeit der dummen Kraturen zu erwecken. „Ihr da, mal herhören! Also Folgendes, unser Herr will jetzt nicht gestört werden. Das heißt, egal wer hier ankommt und durch diese Tür will, ihr haltet ihn auf. Verstanden?“ Die gehörnten Dämonen reagierten nicht. „Ey, ich rede mit euch. Hört ihr mich?“ Wieder rührte sich keiner der beiden. Crystal stöhnte. „Echt jetzt? Halloooo? Sprechen Sie Deutsche? Do you speak English? Parlez-vous français? Español? Italiano? Nein? Och kommt schon. Ich muss jetzt nicht mein Aramäisch ausgraben, nur weil ihr euch doof stellt, oder?“ Ein Auge des schwarzen Giganten vor ihr verschob sich und richtete sich auf sie, sodass Crystal schon beim Hinsehen ganz schlecht wurde. Wie konnte man nur so schielen? „Ah, super, du bist wach. Hatte schon Angst, dass du eingepennt bist. Also nochmal: Es darf niemand durch diese Tür gehen. Niemand. Hast du das kapiert? Niemand gehen durch Tür.“ Ein Grunzen antwortete ihr. Sie lächelte. „Ich werte das mal als Ja. Also schön, dann mal viel Spaß, Jungs, und nicht vergessen: Keinen reinlassen.“ Crystal wollte sich schon entfernen, als ihr noch etwas einfiel. Möglicherweise überforderte sie damit die zwei Gehirnzellen der Muskelberge, aber das Risiko musste sie eingehen. „Nur noch mal zur Sicherheit. Wenn ich sage, dass hier niemand reindarf, gilt das auch für den Kö… den Cadejo. Alle von ihnen.“ Wieder ein Grunzen. Crystal drehte sich erneut um und stiefelte los, als ihr noch etwas einfiel und sie auf dem Absatz kehrtmachte. „Ach ja, noch was. Wenn ich sage, niemand, dann gilt das auch für mich. Besonders für mich, alles klar? Ihr lasst hier niemanden rein. Absolut niemanden. Und wenn es Luzifer persönlich ist. Niemand darf vorbei. Wiederhole das: Du … kannst nicht … vorbei!“ Das zweite Auge gesellte sich zu dem ersten schielenden, der Wächter zwinkerte … einmal … zweimal … und hieb seine Axt so plötzlich vor Crystals Füße, dass sie gerade noch rechtzeitig rückwärts springen konnte, um nicht in zwei Hälften geteilt zu werden. „Sag mal hast du sie noch alle?“, zeterte sie los und wollte gerade zur Peitsche greifen, um dem ungehobelten Klotz Manieren beizubringen, als ihr plötzlich auffiel, dass der Wächter sich genau zwischen sie und die Tür geschoben hatte. Sie trat sich probeweise ein winziges Stückchen nach vorn und sofort hob der Wächter die Axt und knurrte drohend. Auf Crystals Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. „Oookkkaayyyy, ich sehe, wir verstehen uns. Dann mal schön aufpassen und nicht in der Nase bohren. Wir wollen ja nicht, dass ihr noch dümmer werdet, nur weil ihr aus Versehen einen Popel rauspult.“   Endlich zufrieden mit ihrer Arbeit machte sie sich auf den Weg die Treppe hinunter. Derweil überlegte sie, was Marcus ihr gesagt hatte. Es war absolut wichtig, dass dieses Engelchen nicht zu Belial gelangte, sondern zuerst in den verbotenen Bereich hinter der Schutzmauer ging, um dort alles in Schutt und Asche zu legen. Um ihn davon zu überzeugen, musste Crystal ihm Belials geheimen Plan darlegen, mit Hilfe von Engelssperma eine Armee von Halbdämonen zu züchten, die die Erde übernahmen. „Also ehrlich, wie er auf die Idee gekommen ist, möcht ich mal wissen. Ich meine, ich schlucke ja gerne und auch gegen einen gelegentlichen Cum Swap ist so an und für sich nichts zu sagen, aber derart mit dem Zeug rumzuspielen kommt selbst mir etwas abartig vor. Na ja, der Big Boss hatte ja schon immer etwas eigenartige Vorlieben. Ob ich wohl was aus seinem Spielkästchen bekomme, wenn Angelo ihn aus dem Weg geräumt hat? Brauchen wird er den Kram dann ja nicht mehr.“ Crystal runzelte die Stirn, während sie überlegte, wo sie wohl anfangen sollte, den Weg zur Geheimkammer freizumachen. Allzu viel Zeit blieb ihr nicht. Gleichzeitig war der Gedanke, dass sie gerade für die „Guten“ arbeitete, ganz schön seltsam. Zumal sich deren Chef ja wohl gerade anschickte, hier alles plattzumachen. Wenn sie schlau gewesen wäre, hätte sie wohl ihre Siebensachen gepackt und hätte gerettet, was noch zu retten war. Andererseits … sie hatte es Marcus versprochen. Der war nämlich der Meinung, dass sie das ganze Weltuntergangsdingens noch aufhalten konnten, wenn das Engelchen erfolgreich war. Also doch nicht das Ende aller Tage und so. Und Crystal war irgendwie geneigt, dem süßen Spinner zu glauben. Immerhin würde sie, wenn er Recht hatte, vielleicht die Gelegenheit bekommen, ihn sich nochmal zur Brust zu nehmen. Normale Kerle hatte sie in ihrem Leben schließlich schon genug gehabt. Nicht, dass man da je genug haben konnte, aber der hier war irgendwie anders. Allein die Erinnerung an dieses geile Kribbeln, das er in ihr ausgelöst hatte, ließ sie gleich wieder ein bisschen feucht werden. Also ja, den musste sie unbedingt nochmal haben, wenn Belial genug von ihm übrigließ. „Wehe wenn der ihm den Arsch zu sehr aufreißt. Dann werd ich ihm höchstpersönlich die Eier abschneiden und in sein Maul zu stopfen. Der kleine Cop gehört mir.“ Crystal zog noch einmal die Nase hoch, bevor sie sich in Richtung des vorderen Tors in Bewegung setzte. Die Wachen würden zwar bestimmt ne Runde murren, wenn sie sie auf Patrouille einmal um das Anwesen schickte, aber immerhin erhöhte dass die Chance, dass das Engelchen und seine Begleiter eine Lücke in der Verteidigung fanden, die es ihnen erlaubte hier reinzukommen. Blieb nur noch der dumme Köter und seine Spießgesellen. Lächelnd strich Crystal über die Peitsche, die an ihrer Hüfte hing. War zwar schon ne Weile her, dass sie damit jemanden bearbeitet hatte, aber so was verlernte man schließlich nicht. Und wenn doch, tat es eben einfach noch ein bisschen mehr weh. Sie grinste und machte sich pfeifend und hüftschwingend auf den Weg.       Gabriella konnte ihren Blick nicht von dem Gebäude lösen, auf das sie sich zu bewegten. Mit Alejandro an der Spitze folgten sie bereits seit einiger Zeit einem für sie unersichtlichen Weg durch die eintönige Landschaft. Bevor sie aufgebrochen waren, hatte sie Angelo, der jetzt mit gefesselten Händen direkt hinter ihrem Führer ging, gefragt, was genau dieser denn nun eigentlich war. Angelo jedoch hatte nur gelächelt und geantwortet: „Was er ist, ist nicht wichtig. Was er tut, entscheidet darüber, wer er ist.“ Ihr war klar, dass er das vermutlich nur gesagt hatte, um Alejandro zu beruhigen. Um auszudrücken, dass er ihm vertraute. Doch genau dessen war Gabriella sich nicht vollkommen sicher. Was, wenn sie an dem Haus ankamen, das sich inzwischen immer deutlicher gegen den merkwürdig gleichbleibenden Himmel abhob, und er ihnen in den Rücken fiel? Was war dann? „Hab keine Angst“, flüsterte Michael hinter ihr. „Ich habe keine Angst“, gab sie unwirsch zurück. „Ich habe Augen im Kopf“, war alles, was er darauf erwiderte. Gabriella gab ein Knurren von sich, drückte den Rücken durch und schritt wieder schneller aus. Das würde ihm so passen. Allein der Gedanke daran, dass er vorgeschlagen hatte, dass sie bei dem verlassenen Gehöft zurückblieb, ließen sie wieder fester auftreten. Sie hatten dieses Abenteuer zusammen begonnen und jetzt würde sie mit Sicherheit nicht irgendwo sitzen und sich die Fingernägel abkauen, während die „Männer“ sich hier in Schwanzvergleichen ergingen. Nein, ganz bestimmt nicht. Als sie ein leises Lachen hinter sich hörte, sah sie sich um und blickte in Michael amüsiert funkelnde Augen. Als er ihren Blick bemerkte, wurde sein Lächeln breiter und der Ausdruck in seinen Augen wärmer. „Ich liebe dich“, formten seine Lippen und sie konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. „Ich dich auch“, wisperte sie ebenso tonlos zurück, bevor sie sich wieder auf den verborgenen Pfad vor ihren Füßen konzentrierte. Den Gedanken daran, was ein Stück weiter rechts und links davon für unsichtbare Gefahren auf sie lauerten, unterdrückte sie lieber.   „Wir sind gleich da“, gab Alejandro schließlich zu wissen, als sie nur noch ein kleines Stück von ihrem Ziel entfernt waren. „Die Medusen liegen jetzt hinter uns.“ Gabriella gab sich Mühe, kein allzu deutliches Aufatmen von sich zu geben. Anhand der drohenden Silhouette, die vor ihnen lag, war das auch nicht besonders schwer. Dies war kein Ort um aufzuatmen. Das Haus, von dem man immer noch nicht viel mehr als dessen Umriss mit den vielen Türmen und Erkern erkennen konnte, machte auf sie einen eigenartig feindseligen Eindruck. Fast so, als besäße das Gebäude selbst Zähne und Klauen, mit denen es nur darauf wartete, jeden Besucher zu zerfetzen. Gleichzeitig war es in undurchdringliche Schatten gehüllt, die es unmöglich machten, irgendwelche Details zu erkennen. Wenn sie die Augen schloss, hätte sie nicht einmal mehr sagen können, ob in einem der Fenster Licht brannte. Um das Anwesen, das von dichten Nebelschleiern überzogen wurde, verlief ein hoher, schmiedeeiserner Zaun mit einem massiv wirkenden, schwarzen Tor. Als sie darauf zuschritten, bemerkte Gabriella die Statuen, die auf den in die Umzäunung eingelassenen Mauerpfosten saßen. Es waren kauernde, gedrungene Gestalten mit gehörnten Köpfen und Hundeschnauzen sowie einem Paar ausladender, steinerner Flügel, die sie um ihre Körper geschlungen hatten. Ein jeder von ihnen war verschieden. Mal waren die Hörner ein wenig dicker, mal geschwungen oder in sich gedreht, mal ähnelte die Form der Schnauze eher der einer Fledermaus oder das Antlitz wirkte gar nahezu menschlich. Allen gemein war jedoch der feindselige Gesichtsausdruck und die Tatsache, dass sie lebendig waren. „Das sind Gargoyles“, erklärte Angelo neben ihr leise. „Sie bewachen das Grundstück.“ „Sind sie gefährlich?“ „Das kommt darauf an. Meist tragen sie ihre Opfer hoch in die Luft und lassen sie von dort aus fallen. Bei Tage erstarren sie normalerweise zu Stein, aber ich bin mir nicht sicher, ob das hier noch als Tag durchgeht.“ Dessen war sich Gabriella allerdings auch unschlüssig. Die Tageszeit war ebenso verschwommen wie man an dem Haus keine festgelegte Form ausmachen konnte und der Teil des Anwesens, den sie gerade durchquerten, auf den ersten Blick ein Garten zu sein schien, auf den zweiten jedoch alles vermissen ließ, was einen solchen ausmachte. Hier gab es keinerlei Leben und nicht einmal der Vergleich mit einem Friedhof wurde dem Eindruck gerecht, den Gabriella von dem schattenumspülten Büschen und Bäumen hatte, zwischen denen sie hindurchgingen. Kein Laut, nicht einmal ihre Schritte auf dem knochenbleichen Kies, war zu hören, lediglich das leise Heulen eines fernen Windes, den sie nicht auf ihrem Gesicht zu spüren vermochte. Gleichzeitig schien unter dem, was man nicht hörte, ein stetiges Summen und Wispern, ein Raunen und Murmeln zu liegen wie von unsichtbaren Wesen, die man nicht bewusst wahrnehmen konnte, deren Anwesenheit jedoch auch nicht vollkommen verborgen blieb. „Kommt“, sagte Alejandro und erhöhte das Tempo ein wenig. „Wir sollten reingehen. Und bleibt vom Gras weg. Es ist féar gortach.“ Gabriella wusste nicht, was das bedeutete, aber da sie Angelo nach dieser Eröffnung einen deutlichen Abstand von den gleichzeitig gepflegt und wild wuchernd wirkenden Grasflächen nehmen sah, folgte sie seinem Beispiel. Sie gingen auf eine große Freitreppe zu, die sich von zwei Seiten zu einer einem klaffenden Maul ähnelnden Eingangstür emporschwang. Als Gabriella blinzelte, erschien es plötzlich eine ganz normale, aus dunklem Holz gefertigte Tür zu sein. Rechts und links des Eingangs wuchsen zwei riesige Büsche, die sich aus einem dicken Stamm in unzählige, mit schwertförmigen Dornen besetzte Ranken teilten. Als sie näherkamen, begannen die Ranken sich zu bewegen. Mit ungeahnter Schnelligkeit entrollten sie ihre Äste, deren Enden wie hungrige Schlangenköpfe in ihre Richtung pendelten. Durch die Bewegung entstand ein zischelndes Geräusch, das den Eindruck der Bösartigkeit des Gewächses nur noch verstärkte. „Ya-te-veos“, meinte Alejandro. „Nicht zu nah rangehen. Der vampirische Wein ist auch mit Vorsicht zu genießen.“ Gabriella sah nach oben und entdeckte, das Teiles des Gebäudes von dunkelgrünen Ranken überwuchert wurde. Als sie länger hinsah, meinte sie auch dort Bewegungen ausmachen zu können, die nicht allein durch den nicht vorhandenen Wind ausgelöst sein konnten. Kurz bevor sie das Gebäude betraten, sah Alejandro sich mehrmals um. Es schien, als würde er etwas suchen. Als Michael ihn danach fragte, schüttelte er den Kopf. „Es ist nichts“, murmelte er. „Es sollte nur eigentlich Wachen hier stehen. Dass sie es nicht tun, gefällt mir nicht.“ Als Angelo das hörte, blieb er stehen. Auch sein Blick strich über das Gebäude. „Wenn die Wachen fort sind, heißt das entweder, dass wir in eine Falle laufen oder dass uns jemand hilft.“ Er sah Alejandro an. „Was hältst du für wahrscheinlicher?“ „Eine Falle“, antwortete der sofort. „Und was sollten wir deiner Meinung nach tun? Gibt es noch einen anderen Weg ins Haus?“ Der schmale Mexikaner zögerte sichtlich. „Wir könnten über den Hof und den Seiteneingang gehen. Das Personal betritt das Haus normalerweise auf diesem Weg.“ „Aber?“ Alejandro senkte den Kopf. „Dort ist es nicht … sicher.“ Gabriella wusste sofort, dass er log. Er hatte zunächst etwas anderes sagen wollen, aber Angelo nickte nur. „Gut. Wenn du es sagst, werden wir diesen Eingang hier nehmen. Ich vertraue deinem Urteil.“ Gabriella war sich nicht ganz sicher, aber für einen Moment glaubte sie noch ein Zögern zu erkennen, bevor Alejandro die Hand an die Klinke der Tür legte und diese für sie öffnete.   Sie betraten die Eingangshalle eines zugegebenermaßen sehr luxuriös wirkenden Herrenhauses. Gabriella war überrascht, wie normal alles wirkte, wenn man davon absah, dass die Beleuchtung mehr als dürftig war und sowohl an den Wänden wie auch auf den Böden dunkle Farben vorherrschten. Vor ihnen lag erneut eine große Treppe, die zu einer Galerie hinaufführte, beides aus schwarzem Marmor gefertigt. Alejandro wollte schon darauf zu eilen, als plötzlich jemand, mit dem er nicht gerechnet zu haben schien, auf der Bildfläche erschien. „Ah, mein lieber Alejandro. Du bist schon zurück von deinem Ausflug? Und wie es aussieht, hast du Gäste mitgebracht. Die rothaarige Frau, die von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet war und auf dem Gesicht eine strassbesetzte Spitzenmaske trug, lächelte freundlich. Ungefähr so wie eine Katze einen Kanarienvogel anlächeln würde. Gabriella erschauerte, als sie die Absätze ihrer Schuhe bemerkte. Sie sahen aus, als könnte man damit jemanden in Scheiben schneiden. „Delilah“, knurrte Alejandro und wandte sich ab. „Halt dich da raus, das geht dich nichts an.“ „Oh, im Gegenteil. Unser Meister hat mir aufgetragen, dir auszurichten, dass er im Moment nicht gestört werden möchte. Wir sollen doch mit dem Engel schon einmal in den Keller gehen. Du weißt, was ich meine?“ „Was soll das heißen? Womit ist er beschäftigt?“ „Oh, der Nephilim hat um eine Audienz gebeten. Belial hat sie ihm gerne gewährt.“ Marcus, schoss es Gabriella durch den Kopf. Er befand sich offenbar in der direkten Gewalt des Dämonenfürsten. Sie sah, wie Angelo unruhig wurde. „Wir sollten uns beeilen“, meinte er und wollte schon auf die Treppe zugehen, als sich die Frau vor ihn schob und einen rotlackierten Fingernagel in seine Brust bohrte. „Schön hiergeblieben, Schnucki. Du wirst noch früh genug zum Zug kommen. Es sei denn, du bist an einem Dreier interessiert.“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Gabriella hörte, wie Angelo nach Luft schnappte, doch bevor er etwas sagen konnte, hatte die fremde Frau ihm den Finger auf den Mund gelegt. „Ah-ah, nicht so vorlaut. Ein Gentleman genießt und schweigt, hat dir das denn keiner beigebracht?“ Gabriella merkte, wie Michael auffahren wollte, und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Warte“, flüsterte sie. „Irgendetwas geht hier vor.“ Michaels Blick irrte kurz zu der Frau und dann wieder zurück zu Gabriella. „Was meinst du damit?“ Gabriella runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Irgendetwas an ihr kommt mir bekannt vor. Ich komme nur nicht darauf, was es ist.“ Michael wirkte immer noch unsicher, hielt sich jedoch tatsächlich zurück. Währenddessen hatte sich ein handfester Streit zwischen Alejandro und dieser Delilah entspannt. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung“, keifte die Frau gerade. „Ihr Cadejos seid eben total beschränkt. Nanette kann da ein Lied von singen, sag ich dir. Die hat mal ne Nacht mit Luis verbracht und die einzige Stellung, die er draufhatte, war doggy-style.“ „Was hat denn das jetzt damit zu tun?“ „Nichts. Aber ich fand’s trotzdem ganz schön armselig.“ „Rede nicht so über ihn, er …“ Alejandro verstummte und funkelte Delilah an. „Ich werde jetzt zu unserem Meister gehen und ihm die Ankunft des Engels melden. „Fein“, höhnte sie gedehnt. „Dann grüß ihn schön von mir und sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“ Alejandro schnaubte und wandte sich an Angelo. „Du wartest hier. Beweg dich nicht vom Fleck.“ Mit einem letzten, wütenden Blick wandte er sich zum Gehen und stieg die lange Treppe empor, an dessen Ende er ihrem Sichtfeld entschwand. Kaum war er weg, schnappte sich die fremde Frau Angelos Arm und zerrte ihn in Richtung eines Seitenganges. „Man, der Kerl hat aber auch ne lange Leitung heute. Also los, wir haben nicht viel Zeit. Ich muss euch einiges erzählen.“ „Crystal?“, fragte Angelo und sprach damit endlich aus, was Gabriella schon die ganze Zeit im Hinterkopf herumspukte. Diese Frau war nicht nur ein Sukkubus, sie war auch noch ausgerechnet der Sukkubus, mit dem sie vor nicht allzu langer Zeit telefoniert hatten Ein Grinsen breitete sich auf Crystals Gesicht aus. „Hey, du hast mich erkannt. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie oft mich der Köter schon gesehen hat und sich trotzdem durch eine einfache Verwandlung täuschen lässt.“ „Verwandlung?“, warf Michael ein. Gabriella entging nicht, dass er seinen Blick dabei einmal über Crystals gesamten Körper gleiten ließ. „Mhm-mhhm, das hier ist nur ne Form, die der echten Delilah ähnlich sieht. Alles nur Augenwischerei. Wenn ihr eure Astralleiber endlich mal in Bewegung setzen würdet, könnte ich euch auch zeigen, wie ich richtig aussehe. Allerdings müssen wir uns beeilen.“ „Und was ist mit Marcus?“ Angelo blickte nach oben zur Galerie. „Der beschäftigt gerade Belial. Wenn ihr also nicht wollt, dass das alles umsonst war, kommt ihr jetzt endlich mal. Ich erkläre euch auf dem Weg, worum es geht.“ Angelo entwand Crystal seinen Arm und blieb stehen. „Nein“, sagte er entschieden. „Ich habe Alejandro ein Versprechen gegeben und das muss ich halten.“ „Du hast einen Handel mit dem Köter?“ Crystal riss die gezupften Augenbrauen in die Höhe. „Ist nicht wahr? Was hast du ihm denn versprochen?“ „Das ist eine Sache zwischen ihm und mir. Aber ich kann ihn nicht einfach zurücklassen.“ „Auch, nicht, wenn du damit das Ende der Welt verhinderst? Marcus hat nämlich gesagt, dass du der Einzige bist, der das kann.“ In Angelos blaue Augen trat echtes Erstaunen. Er sah noch einmal zur Treppe, bevor er tief durchatmete. „Also schön“, sagte er langsam. „Wir gehen. Aber er wird mit uns kommen.“ Oben auf der Galerie hörte man jetzt Alejandros keifende Stimme und kurz darauf ein Krachen. Es klang, als habe jemand eine große Axt in einem Holzfußboden versenkt. Crystal wirkte, als zweifele sie ein wenig an Angelos Verstand, doch dann seufzte sie schwer. „Na gut, ich hole ihn. Aber dann müssen wir wirklich die Hufe schwingen und damit meine ich nicht nur diejenigen von uns, die wirklich welche haben. Marcus wird nämlich nicht bis in alle Ewigkeit durchhalten und schließlich ist euer Big Boss doch auch auf dem Kriegspfad. Das wird ne verdammt knappe Kiste.“ Angelo schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Es wird sich alles fügen.“ „Na das hoffe ich doch sehr, Schnuckiputz. Ansonsten schuldest du mir nämlich ne Orgie.“   Kapitel 30: Engelsfeuer ----------------------- Fackellicht huschte über die dunklen Wände, als sie eine versteckte Treppe in das Untergeschoss hinabstiegen. Alejandro hatte gezögert, diesen Weg zu nehmen. Es erschien ihm nicht richtig. All das hier lief überhaupt nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte, nachdem er der Abmachung mit dem Engel zugestimmt hatte. Noch immer spürte er den Blick der kristallblauen Augen auf sich. Nie hatte er gedacht, noch einmal einer Kreatur zu begegnen, die derart perfekt war. Fast so wie Be… sein Herr. So gleich und doch vollkommen anders. Es war wundervoll und verstörend zugleich. „Wo sind die Wachen?“ Misstrauisch sah er sich um. Normalerweise hätten hier einige der gehörnten Riesen herumstehen müssen. Sturmtruppen, die die meisten Ein- und Ausgänge bewachten. Heute jedoch war die Residenz wie ausgestorben. Dass sie oben in der Halle und vor der Tür keine Wachen gefunden hatten, hatte er noch akzeptiert, da es ihm geholfen hatte, den Engel so schnell wie möglich zu seinem Herrn zu bringen. Jetzt jedoch erschien ihm diese Tatsache mehr als merkwürdig. „Die habe ich weggeschickt“, antwortete Delilah und grinste ihn an. „Du hast was?“ Alejandro bleckte die Zähne. „Wie kannst du es wagen?“ „Reg dich wieder ab. Diese Schläger hätten uns nur unnötig Scherereien gemacht.“ „Aber du hast keine Befehlsgewalt über sie. Sie gehorchen nur dem Meister.“ Delilah seufzte. „Hast du es mal ausprobiert? Mal ehrlich, die meisten von denen sind strohdoof. Du sagst ihnen, dass du in Belials Auftrags kommst, und schon fressen sie dir aus der Hand.“ Alejandro zischte. „Sag seinen Namen nicht!“ „Warum denn das nicht? Hast du Angst, dass er uns hört? Keine Sorge, dagegen habe ich auch was gemacht. Außerdem ist er ja beschäftigt.“ Sie grinste und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Alejandro knurrte und ballte die Fäuste. „Verräterin.“ Der Sukkubus schnalzte mit der Zunge. „Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute. Schon mal an die eigene Nase gefasst, Köter?“ „Nenn mich nicht so.“ „Wie denn, Köter?“ „Ich warne dich.“ „Ach ja? Was willst du denn machen? Mich ankläffen? Oder dein Beinchen an der nächsten Ecke heben? Jetzt hab ich aber Angst.“ Alejandros Hände ruckten zu der Pfeife an seinem Hals. Er war kurz davor, die anderen zu rufen, als ihm plötzlich einfiel, dass nur noch Hugo von seinen Brüdern übrig war. „Ich kann dich immer noch hier und jetzt in Stücke reißen lassen.“ Die Finger des Sukkubus legte sich wie zufällig auf die Peitsche an ihrer Hüfte. „Ach ja? Versuch's doch mal. Mit euch werde ich noch spielend fertig. Ihr vier seid keine Herausforderung für mich.“ „Zwei“, sagte der Engel und legte beruhigend die Hand auf ihren Arm. „Es sind nur noch zwei. Und Alejandro ist unser Verbündeter. Er war es, der uns hierher gebracht hat. Wir brauchen euch beide, Crystal.“ „Crystal?“ Alejandros Ausruf war nicht mehr als ein heiseres Keuchen. Der Sukkubus stöhnte auf und rollte mit den Augen. „Ja, du Blitzmerker. Als Wachhund taugst du aber echt nicht viel. Ist dir wirklich immer noch nicht aufgefallen, dass ich nicht Delilah bin?“ Sie nahm die Maske ab und sah ihn herausfordernd an. Als er nicht reagierte, begann sie plötzlich, sich die Schuhe von den Füßen zu zerren. „Man, die Dinger regen mich eh schon die ganze Zeit auf. Bloß weg damit. Ich frage mich echt, wie Delilah darauf laufen kann. So und dann noch …“ Der Körper des Sukkubus begann sich zu verändern. Die Haare krochen zurück in den Schädel, während die Zehen ineinanderflossen und sich schwarz verfärbten. Fell spross aus ihren Beinen, die sich in einem schier unmöglichen Winkel knickten. Ihre Gestalt schrumpfte insgesamt etwas und unter dem mehr als knappen Rock ringelte sich ein dünner Teufelsschwanz hervor. Als sie aufsah, waren ihr Augen gelb und hatten geschlitzte Pupillen wie die einer Ziege. Sie passten zu den Hufen an ihren Füßen und den kleinen Hörner, die aus den kurzen, schwarzen Haaren mit der violetten Ponysträhne herausstaken. „Uff“, machte sie und grinste von einem spitzen Ohr zum anderen. „Man, ist das gut, endlich wieder ich zu sein. Dieses ständige Getue macht einen ja ganz vogelig.“ Alejandro konnte nicht glauben, was er da sah. „Du … du bist …“, stammelte er. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. „Ach, keine Sorge, ich verrat’s keinem, dass du mich und Marcus hast direkt vor deiner Nase herumspazieren lassen, ohne was zu merken.“ „Du … der Sklave … das war …“ „Ach, na toll. Jetzt fällt’s dir auf. Ja, das Pony war Marcus. Ich hatte echt Bammel, dass ihr Cadejos was merkt, aber wie es scheint, seid ihr in eurer menschlichen Form ganz schön blind. Keine Ahnung, was sich Belial dabei gedacht hat, nun noch mehr von euch machen zu wollen. Aber vielleicht nimmt er beim nächsten ja auch ne intelligentere Spezies zum Reinmixen.“ „Es reicht jetzt.“ Die Stimme des Engel war leise, aber Alejandro erzitterte ob der Kraft, die er dahinter spüren konnte. Auch der Sukkubus senkte betreten den Blick. Es dauerte allerdings keine zwei Sekunden, bevor sie den Kopf wieder hob und den Engel anblitzte. „Ey, was soll das denn? Mach das nie wieder, sag ich dir. Ich steh nich so auf dieses Master and Slave Zeug. Wenn du was von mir willst, kannst du mich darum bitten und musst nicht die Befehlsstimme rausholen, klar?“ Ein kleines Lächeln huschte über das Gesicht des Engels. „Ich werde es mir merken.“ „Na das will ich auch hoffen, Schnucki, sonst wird das hier ne kurze Allianz.“ Alejandro wandte sich abrupt ab und ging weiter die Treppe herunter. Er fing einen kurzem Blick der Menschenfrau auf, aber er kümmerte sich nicht weiter darum. Sie war nicht mehr als Anhängsel des Engels. Sie hatte keine Bedeutung. „Wir kommen jetzt in den Keller. Noch ein Stück, dann erreichen wir den Durchgang. Ihr solltet euch bereithalten.“   Sie durchquerten die dunkle Halle, die ein Abbild der Eingangshalle im Erdgeschoss war und bogen in einen Gang, der sie zu einer zweiten, etwas kleineren Ausbuchtung im schwarzen Fels führte. All das hier unten war von seinem Herrn künstlich geschaffen worden. Er hatte ein ganzes Dutzend Cherufe dafür herbeordert, die ihm die Festung und die darunter liegenden Katakomben nach seinen Wünschen geschaffen hatten. Einer von ihnen stand jetzt als ewige Statue oben in seiner Sammlung. Die Geschichte hinter der erstarrten Kreatur aus lebendiger Magma zu hören hatte Alejandro einmal mehr bewiesen, wie groß die Macht seines Herrn war. „Wir sind da“, verkündete er, als sie vor der Felswand standen, hinter der sich der geheime Trakt des Kellers befand. Er trat nach vorn und legte seine Hand gegen den Stein. Er war warm und Alejandro spürte ein leichtes Prickeln, bevor sich das massive Hindernis einfach in Luft auflöstet und den Blick auf einen weiteren Gang freigab. „Kommt“, sagte er und hob die Fackel. „Wird das auch wirklich gutgehen?“, fragte der Mann und hielt den Engel am Arm zurück. Der Engel bedeckte die Hand des Mannes mit seiner eigenen. „Du hast doch gehört, was Crystal erzählt hat. Solange ich ein Mensch bin, wird mir nichts geschehen. Und ich glaube nicht, dass Belial dort drinnen Fallen aufgestellt hat. Warum sollte er? Allein an dieser Wand sind hunderte von ihnen platziert. Ich werde nicht in Gefahr sein.“ Der Mann murrte noch, bevor er den Arm des Engels losließ und dieser an die Barriere trat. Er hob den Kopf, straffte sich und trat dann auf die andere Seite. Dort angekommen drehte er sich um und lächelte. „Siehst du, alles in Ordnung.“ Der Mann atmete noch einmal tief durch und folgte dem Engel. Die Frau und der Sukkubus gingen ebenfalls hindurch, sodass Alejandro der Letzte war, der den Durchgang passierte, bevor sich der Fels hinter ihm wieder schloss.   Auch auf der anderen Seit erwartete sie ein in den schwarzen Stein gegrabener Gang. Allerdings waren hier Lampen an den Wänden befestigt, sodass er die Fackel beiseite legte, bevor er sich wieder an die Spitze des kleines Zugs setzte. Als sie an einer ihm nur zu bekannten Tür vorbeikamen, blieb der Sukkubus plötzlich stehen und rümpfte die Nase. „Hey, das ist doch der Raum, in dem diese Höllenmaschine steht. Echt eklig das Ding.“ „Ich würde sie gerne sehen“, sagte der Mann und Alejandro horchte auf. „Meinst du, dass das klug ist?“, antwortete die Frau. Sorge stand auf ihrem Gesicht. „Ja, ich … Jeff musste wegen diesem Ding sterben. Ich habe das Gefühl, dass ich ihm das schuldig bin.“ Der Engel nickte langsam. „Ich denke auch, dass wir uns das einmal ansehen sollten.“ Er wandte sich an Alejandro. „Würdest du uns bitte einlassen?“ Alejandros Hände zuckten. Er wusste, dass die Bitte nur eine Farce war. Der Engel hätte einfach eintreten können, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen. Und doch tat er es. Warum? „Natürlich“, antwortete er und hoffte, dass seine Zweifel nicht allzu deutlich erkennbar waren. Er öffnete die Tür, trat hindurch und machte anschließend den Durchgang für die Nachfolgenden frei. Einer nach dem anderen betrat die große Kammer.   Eine Weile lang stand der Mann einfach nur da und starrte die Konstruktion an, die sein Herr hatte errichten lassen. Als er endlich zu sprechen begann, schwankte seine Stimme. „Sie ist … abscheulich.“ Der Sukkubus schnaubte laut. „Oh, das kannst du laut sagen, Hase. Und das ist noch gar nichts im Vergleich dazu, wenn du da drin bist. Das fühlt sich an, als wärst du ein lebendes Nadelkissen.“ Auch der Engel trat näher. Sein Blick glitt über die Maschine, die wie ein lauerndes Tier aus Leder und Stahl in seiner Ecke stand und auf ein neues Opfer wartete. Als er seine Inspektion beendet hatte, wandte er sich an Alejandro. „Wie funktioniert sie?“ Alejandro zuckte die Achseln. „Ich … ich weiß nicht. Man hat es mir nicht erklärt.“ „Bist du sicher?“ Die blauen Augen durchbohrten ihn förmlich. Er wusste es. Er wusste, dass Alejandro log. Gleich würde er ihn bestrafen; er konnte den Schlag schon spüren. Doch der erwartete Hieb blieb aus. Stattdessen trat der Engel näher an die Regler und Hebel heran, die sich auf dem Pult an der Seite befanden. „Dann werde ich es wohl selbst herausfinden müssen.“ Alejandros Herz begann schneller zu schlagen. Er begann zu schwitzen. „Nein, halt, ich … es ist mir eingefallen. Man befestigt einen Sukkubus mittels der Riemen in der Maschine. Dann drückte man auf diesen Knopf, um die Nadeln zu platzieren, und mit diesem Regler bestimmt man die Intensität der Schmerzen.“ Er schluckte. „Es ist eigentlich ganz einfach.“ Jetzt … jetzt würde er ihn bestrafen. Es war zu offensichtlich, dass er ihn betrogen hatte. Wieder wurde er enttäuscht. Statt die Hand gegen ihn erheben, lächelte der Engel nur. „Ich danke dir“, sagte er. „Und jetzt wartet einen Augenblick. Ich habe da eine Idee.“   Der Engel atmete tief ein, schloss die Augen und … veränderte sich. Alejandro spürte deutlich, dass da mit einem Mal etwas Neues an ihm war. Etwas, das er vorher noch nicht gespürt hatte. Auch der Sukkubus holte tief Luft. „Wow, Feuerwerk“, sagte sie verblüfft. „Macht er das manchmal auch beim Sex?“ Alejandro hätte zu gerne gesehen, was sie meinte, doch dazu hätte er sich in seine Dämonenform verwandeln müssen und er wollte dem Sukkubus nicht noch mehr Angriffsfläche bieten. Wieder glitt seine Hand zu der Pfeife um seinen Hals. Wenn Hugo jetzt hier gewesen wäre, hätte er es ihm sicher beschreiben können. Seine Finger schlossen sich um das warme Metall. „Ich spüre die Anwesenheit mehrerer Dämonen. Sie sind hier in der Nähe. Was sie tun, kann ich nicht sagen. Allerdings scheinen sie uns noch nicht bemerkt zu haben.“ Der Engel öffnete die Augen und sah Alejandro an. „Crystal hat gesagt, hier unten gäbe es ein Labor. Stimmt das?“ Alejandro nickte vorsichtig. Er mochte diesen Teil des Kellers nicht besonders. Zuviel erinnerte ihn daran, wo er hergekommen war. Da waren Tanks, große Bäder mit Flüssigkeiten, Körper und Körperteile in Glasgefäßen. Abgetrennte Gliedmaßen zu Studienzwecken konserviert. Babys. Nicht wenige davon hatten ihm ähnlich gesehen. Er erinnerte sich an die Mischung aus Grauen und Faszination, die er als kleiner Junge empfunden hatte, als er sie zum ersten Mal sah. Das war kurz bevor er zu Mama Sita gekommen war. Sein Herr hatte ihm die misslungenen Experimente damals gezeigt und zu ihm gemeint, dass er großes Glück gehabt habe, nicht in so einem Glas gelandet zu sein. Und dass er, wenn er nicht fleißig lernte, dort immer noch landen konnte. Dass man ihn bei lebendigem Leib in Stücke schneiden und ihn bei vollem Bewusstsein bis zur letzten Faser auseinandernehmen würde, wenn er sich keine Mühe gab. Damals war er in einem Alter gewesen, dass bei Menschen etwa einem Vierjährigen entsprach. Er hatte sich gefürchtet, aber er hatte genickt. Da hatte sein Meister gelächelt und ihm über den Kopf gestrichen. Es war das schönste Geschenk gewesen, äädas er bis dahin bekommen hatte. „Wir müssen es zerstören. Es darf nichts übrigbleiben.“ „Was?“ Alejandro erschrak, als ihm klarwurde, dass er die Frage laut ausgesprochen hatte. Ein unbestimmter Blick aus kristallblauen Augen traf ihn. „Ich muss das hier stoppen, Alejandro. Das verstehst du doch? Wenn ich es nicht tue, wird die Welt vernichtet werden.“ „Aber … er wird … er wird das nicht zulassen.“ Ein Lächeln. „Ich hatte nicht vor, ihn um Erlaubnis zu bitten.“ Erneut schloss der Engel die Augen, auch wenn diese hinter den geschlossenen Lidern zuckten, als suche er etwas. Mit Faszination und Grauen beobachtete Alejandro das Minenspiel auf dem perfekten Gesicht. „Ich sehe es. Da sind Leitungen, wie Adern durch den Fels gezogen. Sie führen zu einem Raum ein Stück von hier, in dem ein großer Metallkasten steht. Weißt du, worum es sich handelt?“ Dass die letzte Frage an ihn gerichtet war, verstand Alejandro erst, als sich die Augen aller Anwesenden auf ihn gerichtet hatten. Er schluckte erneut. „Ich … ich weiß nicht.“ Es war nie notwendig gewesen, dass er sich über so etwas Gedanken machte. Alles, was er wissen musste, war ihm mitgeteilt worden. Er hatte nie Fragen gestellt. „Ich glaube, ich weiß, was das ist“, sagte plötzlich der Sukkubus. Sie zeigte auf den Engelsbrecher. „Das Ding hat jede Menge Nadeln, die sie in mich reingebohrt haben. Durch die Dinger fließt Strom.“ „Strom braucht einen Generator“, mischte sich der Mann ein. „Es muss hier unten etwas geben, mit dem Elektrizität erzeugt wird. Eine große Maschine.“ Er sah Alejandro an. „Gibt es die?“ Alejandro spürte den Drang in sich aufsteigen, ein Stück zurückzuweichen. Sich einfach umzudrehen und zu fliehen. „Ich … ich weiß nicht“, sagte er wieder. Er kam sich sehr dumm vor. „In diesem Labor … gibt es dort auch Maschinen?“, fragte jetzt die Frau. Sie lächelte freundlich. „Lichter, Schalter, Regler. So etwas wie das da?“ Sie wies auf das Bedienpult des Engelsbrechers. Alejandro folgte ihrer Geste mit den Augen, bevor sein Blick wieder zurückhuschte. Er nickte vorsichtig. Sie sah zufrieden aus. „Ein Generator muss angetrieben werden“, erklärte sie den anderen. „Er braucht Treibstoff und der ist …“ „Brennbar.“ Der Mann sah seine Frau an. „Du bist genial.“ Sie lachte. „Ich hab in der Schule aufgepasst. Außerdem hatte ich schon Häuser, die über eine eigene Notstromversorgung verfügen. Die Leute wollen unabhängig sein für den Fall, dass etwas passiert.“ Der Mann wandte sich an den Engel. „Es muss etwas geben, dass den Generator antreibt. Wenn ich raten müsste, würde ich auf Gas oder Erdöl tippen. Viel davon. Kannst du das finden?“ „Ich kann es versuchen.“ Wieder folgten einige Augenblicke, in denen der Engel schwieg. „Ja“, sagte er dann. „Ich sehe es. Das könnte funktionieren.“ Er trat noch ein Stück näher an den Engelsbrecher heran, der hoch über ihm aufragte. „Ich werde die Maschine benutzen“, sagte er. „Mit ihrer Hilfe sollte ich in der Lage sein, die Anlage zu zerstören.“ Als er Anstalten machte, sich in das Innere des Engelsbrechers zu begeben, schürzte Sukkubus die Lippen. „Also ich will ja nicht meckern, aber das Ding ist echt ne fiese Nummer. Bist du sicher, dass du das tun willst?“ Ein schmales Lächeln glitt über das Gesicht des Engels. „Ich will nicht, aber ich werde es trotzdem tun. Weil es unsere einzige Chance ist.“ Der Sukkubus schnaubte nur. „Man, bin ich froh, dass ich keiner von den Guten bin. Nur Arbeit und kein Spaß? Würde mich an deiner Stelle ja echt ankotzen.“ Sie warf einen Blick auf den Mann. „Obwohl man mit dem bestimmt ne Menge Spaß haben kann, oder? Verleihst du den auch? Dann machen wir es uns mal zu dritt nett.“ „Hey“, protestierte die Frau und der Sukkubus grinste breit. „Du kannst natürlich auch mitmachen. Oh und wir holen Marcus dazu, dann krieg ich doch noch mein Fuckfest.“ Der Engel lachte nur und schüttelte den Kopf. „Du bist unglaublich, Crystal. Aber meinst du, du könntest mir helfen, mich richtig zu positionieren? Ich möchte genau dorthin, wo du letztes Mal gelegen hast.“ Der Sukkubus blies die Backen auf und ließ geräuschvoll die Luft entweichen. „Na gut, wenn du meinst. Aber sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt hätte. Das macht wirklich, wirklich dolles Aua.“   Alejandro beobachtete, wie der Sukkubus dem Engel in die Maschine half und ihn mit Hilfe der Riemen darin festschnallte. Dabei gab der Sukkubus allerlei Anzügliches von sich, doch kein Wort des Tadels kam über die Lippen des Engels. Stattdessen wirkte er dankbar für das, was der Dämon tat. Wie konnte das sein? Hätte er nicht Abscheu und Ekel empfinden müssen, von so einer Kreatur berührt zu werden? Stattdessen gehorchte er widerstandslos, als der Sukkubus ihm befahl, sich auszuziehen und mit freiem Oberkörper auf der Liege zu platzieren. Er ließ sich binden und akzeptierte sogar den Kuss, den sie ihm einfach auf den Mund drückte, bevor sie wieder von der Plattform stieg. „Alles klar, wir können loslegen.“ Der Blick des Engels glitt zu Alejandro. „Wenn du so freundlich wärst, die Maschine zu bedienen? Ich möchte, dass du sie anstellst und auf die maximale Stufe bringst. Danach wendet du dich ab. Ihr anderen ebenso. Das, was ich vorhabe, könnte euren Augen schaden.“ Alejandro zögerte. Wenn dem Wunsch des Engels entsprach, würde die Arbeit seines Herrn vernichtet werden. Alles, wovon er geträumt hatte, wäre dahin. Aber wenn es es nicht tat, würden sie alle sterben. Die Erde würde untergehen. Der Engel hatte es gesagt. Langsam trat er auf das Pult zu. Er bestätigte den Schalter, der alles zum Leben erweckte und drückte den Knopf, der die silbernen Spitzen aus dem Dunkel herabfahren ließ. Lückenlos schlossen sie sich um den Engel, der dazwischen gefangen war wie ein unglücklicher Vogel in den Fängen eines Raubtiers. Ein Opfer. Wehrlos. Machtlos. Alejandro zitterte. „Beginne.“ Das Wort traf auf sein Ohr und fuhr direkt in seine Glieder. Sein Körper gehorchte ohne sein Zutun. Ohne es verhindern zu können, wanderten seine Finger zu dem runden Regler und er begann ihn nach oben zu drehen. Die Nadeln senkten sich weiter herab und duchbohrten die helle, perfekte Haut des Engels. Blaue Blitze tanzten daran entlang und ein Aufkeuchen entwich der schönen Kreatur, als sie seinen Körper erreichten. „Weiter. Und beeil dich. Ich muss …“ Der Rest des Satzes ging in einem gequälten Stöhnen unter. Alejandro sah, wie die Frau ihren Mann zurückhielt, damit er dem Engel nicht zur Hilfe eilte. Der Sukkubus hielt sich längst die Augen zu und summte vor sich hin und der Engel … Alejandro sah das Strahlen, das sein Körper auszusenden begann. Heller und heller wurde es, je höher er den Regler schob. Das Licht brannte in seinen Augen und auf seiner Haut. Tränen verschleierten seinen Blick. „Weiter!“, schallte der Ruf des Engels zu ihm. „Alejandro, bitte!“ Mit einem Laut, der irgendwo zwischen einem Stöhnen und einem Schluchzen lag, ergriff er den Regler und drehte ihn bis zum Anschlag auf. Die Gestalt des Engels, deren Umrisse in der gewaltigen Lichtkorona verschwammen, bäumte sich auf. Einer der ledernen Riemen zerbarst mit einem Knall, als sich der Engel instinktiv zu befreien versuchte. Er ballte die Fäuste, öffnete den Mund und schrie. Ein Laut so voller Leid und Zorn, dass es Alejandro beinahe das Trommelfell zerriss. Reines, blauweißes Feuer raste durch den Raum. Es setzte die Konstruktion des Engelsbrechers in Brand und fraß sich von dort aus weiter und weiter durch die Wände. Die Konsole vor Alejandro explodierte und ging in Flammen auf. Der Boden wankte. Steine fielen von der Decke. Irgendjemand rief seinen Namen. Er glaubte innerlich zu verbrennen. Die Schmerzen waren unvorstellbar. Seine Augen kochten, sein Gesicht war nass von Tränen. Trotzdem konnte Alejandro seinen Blick nicht von der Gestalt abwenden, die ihm Zentrum des Infernos stand. So rein und schön und gleichzeitig so unglaublich schrecklich, das es ihn bis ins Mark erschütterte. Das da war der Feind. Die absolute Vernichtung. Der Tod von allem, was Alejandro kannte. Er würde nicht zu stoppen sein. In seiner Wut würde er alles niederbrennen, was ihm in den Weg kam. Niemand wäre vor ihm sicher. Niemand. Auch er nicht. Mit einem letzten Blick auf den brennenden Engel, wirbelte er herum und rannte. So schnell, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war.       Marcus’ Hand lag auf dem schwarzen Satin. Er fühlte den glatten, kühlen Stoff unter seiner Haut, während er seine Finger betrachtete. Ein Anblick, der sicher war. Sicherer als das, was hinter ihm lag. Oder wer. Sicherer als die Empfindungen, deren Echo noch immer durch seinen Körper hallte wie der ferne Donner eines vorbeigezogenen Gewitters. Erneut meinte er, die sengende Hitze in seinen Adern zu spüren. Die Einschläge, die näher und näher kamen, bevor sie ihn hatten in Flammen aufgehen lassen. Jetzt jedoch löschte der Regen der Scham die letzten, ersterbenden Glutnester und der Gestank von verbranntem Holz und verkohlten Vögeln lag in der Luft. Das Gefühl ließ ihn beinahe würgen. Körperlich ging es ihm gut. Seine Selbstheilungskräfte hatten bereits die wenigen Spuren ihres … Liebesspiels beseitigt. Marcus verzog das Gesicht ob des Worts, das ihm unweigerlich in den Sinn kam. Denn nichts anderes war es gewesen. Belial hatte sich als überraschend … zärtlich erwiesen. Auch hier mangelte es Marcus an einem anderen Wort. Der Dämon hatte ihn nicht, wie er befürchtet hatte, mit Gewalt genommen, sondern ihn nach allen Regeln der Kunst verführt. Eine Tatsache, die Marcus jetzt, da die Wirkung der Droge langsam abklang, einen bitteren Geschmack in den Mund spülte. Wieder fühlte er den Drang in sich aufsteigen, sich seines Mageninhalts zu entledigen. Allein der Gedanke, wie er sich hatte füttern lassen. Wie er gierig die Nahrung direkt aus Belials schlanken Fingern angenommen hatte. Finger, die nur wenig später vollkommen ungeahnte Empfindungen in ihm ausgelöst hatten. Es war gut gewesen und das machte es nur umso schlimmer. Als er eine Bewegung hinter sich spürte, versteifte er sich instinktiv. Es war nicht auszuschließen, dass Belial ihn noch einmal … wollte. So war es beim zweiten und auch beim dritten Mal gewesen. Zuerst hatte Marcus sich gesträubt, bevor er doch wieder von dem vergifteten Wein getrunken hatte. Er hatte sich davon betäuben lassen, um sich erneut dem Rausch hinzugeben. Einem Rausch ohne Sinn und Zweck, wie er erstaunt hatte feststellen müssen, als Belial das Ergebnis seiner Bemühungen einfach fortgewischt hatte. Marcus hatte seine Verblüffung darüber nicht verbergen können, doch Belial hatte nur gelächelt. „Du wirst mir noch dienlich genug sein. Dies hier ist rein zu deinem Vergnügen. Sieh es als Belohnung an.“ Wie lange es wohl dauern würde, bis das Zuckerbrot wieder durch die Peitsche ersetzt werden würde. „Schon wieder so in Gedanken?“, raunte es an seinem Ohr. Er spürte die Hitze von Belials Körper in seinem Rücken, dessen Lippen an seinem Ohr, seinem Nacken. Finger, die über seine bloße Hüfte strichen. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, aus dem Bett zu springen, um sich in der hintersten Ecke des Raumes zu verstecken. Durchhalten, wies er sich selbst an. Du schaffst das. Wenn du einmal begonnen hast, geht es doch wie von selbst. „Man sollte meinen, dass du inzwischen aufgehört hast zu zweifeln.“ „Wenn das eine Frage sein soll, ob du gut warst …“, entfloh es Marcus, bevor er es verhindern konnte. Ein leises Lachen antwortete ihm. „Oh, das brauche ich nicht zu fragen. Ich habe es gesehen und gehört.“ Marcus’ Gesicht wurde warm. Ja, das hatte er wohl und das nur allzu deutlich.   Ein dumpfes Krachen unterbrach seine Grübelei. Er fuhr auf und auch Belial war mit schier unmenschlicher Geschwindigkeit auf den Beinen. „Was ist das?“, knurrte er mehr zu sich selbst. „Was geht hier vor?“ Er warf noch einen Blick auf Marcus, der immer noch nackt auf seinem Bett saß und funkelte ihn an. „Du bleibst, wo du bist. Ich werde das untersuchen.“   Binnen kürzester Zeit war er in seine Hose geschlüpft und zur Tür gelaufen, als diese bereits aufgerissen wurde. Alejandro stürzte herein, die Augen groß, das Gesicht eine blasse, schweißbedeckte Grimasse. Von draußen konnte man Kampflärm hören, das Knurren eines großen Hundes und das Geräusch von splitterndem Holz. „Herr, ruft die Wachen zurück. Sie töten Hugo.“ „Was?“ Belial wirkte für einen Moment überrascht, bevor er ein einzelnes, fremdartige Wort rief. Der Lärm vor der Tür verstummte schlagartig. Im nächsten Moment stürmte ein Cadejo in seiner Dämonenform herein. Die Zunge hing ihm aus dem Hals und er humpelte leicht. Jemand hatte seinem linken Hinterlauf eine lange, blutende Wunde zugefügt. Als Belial das sah, fuhr er zu Alejandro herum „Was ist hier los?Was soll das? Erkläre dich!“ „D-der Engel, Herr. Er ist hier.“ „Was? Wo? Und warum wurde ich nicht umgehend informiert?“ „Ich … ich habe …“ Alejandros Stimme versagte. Sein Gesichtsausdruck wurde gequält. Belial hingegen zögerte nicht. „Wo ist er?“, verlangte er zu wissen. „I-im Keller. Der Engelsbrecher. Er …“ „Was? Wie ist das möglich? Die Mauer hätte ihn aufhalten müssen.“ „Das müsst Ihr den Nephilim fragen. Er hat all das hier geplant.“ Marcus’ Herz setzte für einen Schlag aus, bevor es mit doppelter Geschwindigkeit wieder zu schlagen begann. Woher wusste Alejandro das? Hatte er Crystal erwischt? Ging es ihr gut? Hatte Angelo Erfolg gehabt? Würde der Plan aufgehen? Belials schwarze Augen richteten sich auf ihn. Er fragte nicht, ob Alejandro die Wahrheit gesagt hatte. Das Einzige, was er sagte, war: „Tötet ihn. Ich kümmere mich um den Engel.“ Im nächsten Augenblick war er fort und Marcus allein mit Alejandro und dem zweiten Cadejo, der knurrend und mit gebleckten Zähnen auf ihn zukam. Marcus ignorierte ihn und wandte sich an Alejandro. „Siehst du? Ich habe es dir gesagt. Er wird uns beide umbringen lassen. Wir sind für ihn nur Spielzeuge.“ Alejandro antwortete nicht. Er sah Marcus nur an, bevor sein Blick langsam über das zerwühlte Bett glitt, die Dinge, die am Boden lagen, Marcus’ Kleidung und nicht zuletzt die kleine Phiole mit Sukkubus-Essenz, die neben der halbleeren Weinkaraffe stand. Als er den Kopf wieder hob, war etwas in seinem Blick, das Marcus nicht entziffern konnte. War es Enttäuschung? Wut? Trauer? Was immer es war, es spielte keine Rolle mehr, denn in diesem Augenblick setzte der andere Cadejo zum Sprung an. Sein fellbedeckter Körper flog durch die Luft und hätte Marcus nicht blitzschnell reagiert, hätten er seine Zähne in Marcus’ Kehle versenkt. So trafen jedoch sie nur seine Schulter und bohrten sich schmerzhaft in das schutzlose Fleisch. Marcus schrie auf. Ohne zu überlegen griff er nach dem Hundedämon und versuchte ihn von sich herunterzudrücken. Die Hufe des Tieres traten nach ihm und trafen seinen Bauch, seine Oberschenkel. Er fühlte quasi schon den Schmerz, wenn sie noch empfindlichere Teile erwischen würden. Der Gestank des Dämons nahm ihm zusätzlich den Atem, während sich dessen Zähne immer tiefer gruben. Mit dem Mut der Verzweiflung griff Marcus nach dessen Kehle und drückte zu. Er krallte seine Finger in das weiche Gewebe, bis der Griff des Kiefers sich lockert. Sofort riss er den Cadejo von sich herunter und brachte ihn unter sich. Er schlang den Arm um den Hals des strampelnden Tieres und hielt es unbarmherzig fest. Der Cadejo wehrte sich, er knurrte und jaulte, aber Marcus ließ nicht los und drückte erneut zu. Er wusste, wenn er den Halt verlor, war er tot. Die Gegenwehr des Tier wurde stärker. Ein Teil von Marcus betete, dass er nicht auf die Idee kam, sich zu verwandeln. Plötzlich fiel sein Blick auf das Messer, als Belial zuvor benutzt hatte, um Fleischstücke für ihn kleinzuschneiden. Die silberne Klinge blitzte im Licht der unzähligen Kerzen. Mit einem Keuchen warf Marcus sich zur Seite und auf den Rücken. Beinahe hätte er den Halt verloren, als der Cadejo plötzlich über ihm lag. Dessen Pfoten durchschnitten wirkungslos die Luft. Er warf sich hin und her, um der tödlichem Umklammerung zu entkommen. Marucs’ Hand tastete nach dem Messer. Er erwischt den Griff, aber er glitt ihm wieder aus den Fingern, als der Cadejo sich aufbäumte und sich zu verändern begann. Mit letzter Kraft ließ Marcus locker, angelte nach der Klinge, ergriff sie und stach zu. Ein Laut, der irgendwo zwischen einem menschlichen und einem tierischen lag, entwich dem Cadejo. Er hustete, knurrte, versuchte sich herumzudrehen, doch Marcus hatte ihn bereits wieder im Würgegriff. Er schloss die Augen und ließ die silberne Klinge wieder und wieder auf den zappelnden Leib in seinen Armen niedergehen, bis dessen Bewegungen endlich erlahmten. Ein letztes Zittern ging durch den massigen Leib, bevor er mit einem Mal zu einer schwarzen, stinkenden Pfütze zerfloss. Schwer atmend sah Marcus auf seine Hände, die jetzt schwarz besudelt waren ebenso wie das Messer, das er noch darin hielt. Angeekelt ließ er es fallen. Sein ganzer Körper klebte von den Überresten des Cadejo. Er würgte. Wegen des Gestanks. Wegen des Gefühls des sterbenden Körpers in seinem Armen. Vor seinen Augen tanzten flimmernde Punkte und er fühlte eine Ohnmacht herannahen. Mit purer Willenskraft drängte er sie zurück und sah auf. Das Raum war leer.       Er hetzte durch die Gänge. Vor seinem inneren Auge noch das Bild, wie der Nephilim Hugo erstach. Wieder und wieder hatte er die Klinge im Körper desjenigen versenkt, der wie ein Bruder für Alejandro gewesen war. Oder ein Cousin vielleicht. In jedem Fall Familie. Seine Familie war tot. Nur er allein war noch übrig und der Einzige, der ihm noch etwas bedeutete, lief genau in die Arme des schrecklichen Engels. Er musste ihn warnen, er musste ihn aufhalten. Wie von selbst wurden Alejandros Hände und Füße zu Pfoten, während er schneller ausgriff. Er musste sich beeilen.       Geblendet schloss Michael die Auge, aber das Licht drang selbst durch die zusammengekniffenen Lider und ließ ihn Angelo sehen, wie er brannte. Das Engelsfeuer, das seine Körper einhüllte, fraß sich durch die Wände, folgte den Leitungen immer ihrem Ziel entgegen. Als sie es erreichten, erschütterte eine gewaltige Explosion die steinerne Halle. Steine regneten von der Decke und unter Michaels Füßen barst der Fels. Er hörte Gabriella erschrocken aufschreien und öffnete die Augen. Das unheimliche Leuchten hatte sich wieder zurückgezogen. Crystal jammerte und lag zusammengerollt in einer Ecke. Michael hingegen hatte nur Augen für Angelo. Er hing in den Riemen des Engelsbrechers und regte sich nicht mehr. „Angelo!“ Michael wusste nicht, wie er dorthin gekommen war. Im nächsten Augenblick versuchte er erfolglos, die Schallen zu lösen, die Angelo an Ort und Stelle hielten. Er brüllte frustriert und rief nach Gabriella. „Ich bin da“, hörte er und im nächsten Augenblick wurden seine Hände beiseitegeschoben. „Lass mich das machen. Halte ihn.“ Er tat, was sie gesagt hatte, und griff nach Angelo, der, sobald Gabriella den letzten Riemen gelöst hatte, wie tot in seine Arme fiel. Michael heulte auf und drückte den leblosen Körper an sich. „Angelo! Angelo, hörst du mich?“ „Leg ihn auf den Boden“, wies Gabriella ihn an. Ihre Finger zitterten, als sie sie an Angelos Hals legte, um seinen Puls zu fühlen. „Er lebt noch“, sagte sie. „Aber er ist schwach. Wenn wir nicht …“ Was immer Gabriella hatte sagen wollen, ging in einem erneuten Brüllen unter, unter das sich ein dunkles Grollen mischte. Erst jetzt merkte Michael, dass das Schwanken, das er spürte, nicht allein auf seine eigene Schwäche zurückzuführen war. Der Boden erbebte aufgrund der Explosionen, die irgendwo tief unter ihnen die Erdölvorräte in Brand gesetzt hatten. Und das Geräusch wurde lauter. „Los, hilf Crystal“, sagte er zu Gabriella, während er Angelo auf seine Arme lud. „Wir müssen hier raus.“ Gabriella nickte nur und nahm sich des Sukkubus an, der inzwischen fluchte wie ein Kesselflicker und Angelo die schlimmsste Folter androhte, sobald sie wieder etwas sehen konnte. „Ich kille ihn. Da muss sich Belial hinten anstellen“, hörte er sie lamentieren, während sie durch die Tür nach draußen in den Gang hetzten. Ein beißender Gestank lag in der Luft. Schwarzer, öliger Rauch kroch an der Decke entlang. Er kratzte im Hals und Michael duckte sich, um dem Schlimmsten zu entgehen. Aus der Richtung, aus der der Rauch kam, hörte er Schreie. Es klang, als würden Tiere verenden. Schnell wandte er sich in die andere Richtung und begann zu laufen. „Michael." Angelos Stimme war so leise, dass Michael sie eigentlich gar nicht hätte hören dürfen. Trotzdem vernahm er sie so deutlich, als wäre sie direkt in seinem Kopf. „Ich bin da“, versicherte er Angelo und drückte ihn enger an sich. „Ich bring dich hier raus.“ „Nein … ich muss … ihn aufhalten.“ „Das hast du. Es ist vorbei. Du hast es geschafft.“ „Nein, er … kommt. Ich fühle es. Er …“ Ein urtümlicher Schrei erschütterte die Halle, die sie gerade betreten hatten. Um sie herum suchten einzelne Dämonen ihr Heil in der Flucht und achteten gar nicht auf die zwei Menschen und den Engel, an denen sie vorbeistürzten. Am oberen Ende der großen Treppe jedoch, die in das über ihnen liegende Geschoss führte, tauchte in diesem Moment ein Mann auf, der genau in die entgegengesetzte Richtung lief. Gabriella atmete hörbar ein. „Das ist Belial“, flüsterte sie und deutete auf den Neuankömmling. „Wo ist er?“, fauchte der gerade und hielt einen der vorbeieilenden Dämonen an einem seiner vier Arme fest. Die Kreatur, deren Erscheinung Michael an einen behaarten Frosch erinnerte, jaulte auf und erbrach einen Redeschwall, den Michael nicht verstand. Es war jedoch unübersehbar, dass das Gesagte Belial missfiel. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor er sie entdeckte. „Ich werde ihn aufhalten“, erklärte Michael. „Ihr seht zu, dass ihr hier rauskommt.“ Gabriella schüttelte entschieden den Kopf. „Das wirst du nicht tun. Es ist Wahnsinn. Er wird dich umbringen.“ „Aber wenn ich es nicht tue, wird er uns alle töten. Bitte, Baby, diskutier das jetzt nicht mit mir. Schaff Angelo hier raus und dann …“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte keine Ahnung, was sie dann machen sollten. Sein Blick fiel auf Crystal, die inzwischen unsicher blinzelte und zu testen schien, ob sie ihren Augen inzwischen wieder trauen konnte. „Hey. Du kennst dich doch hier aus, oder? Gibt es einen Weg, wie du die beiden hier rausschaffen kannst?“ Crystal sah mit zusammengekniffenen Lidern zu ihm auf. „Es gäbe vielleicht eine Möglichkeit, aber erst mal holen wir Marcus und da steht leider ein gewisser Jemand im Weg.“ Sie deutete mit einem krallenbewehrten Finger auf Belial. Michael nickte. „Okay. Dann holt ihr eben erst Marcus und dann bringst du sie alle hier raus. Kriegst du das hin?“ Der Sukkubus blies die Backen auf. „Na ich kann’s probieren. Aber nur, wenn uns vorher nicht die Decke auf den Kopf fällt.“ Michael sah noch einmal zu dem Mann, der jetzt Befehle in alle Richtungen bellte. Er hatte zwar keine Ahnung, wie er den Dämon aufhalten konnte, aber irgendetwas würde ihm dazu hoffentlich noch einfallen, wenn er erst einmal vor ihm stand. Vorsichtig setzte er Angelo auf den Boden. „Kannst du laufen?“ Angelo schüttelte den Kopf. „Geh nicht.“ „Ich muss. Und auch mit dir werde ich das nicht diskutieren.“ Er drückte Angelo einen schnellen Kuss auf den Mund, bevor er ihn an Gabriella übergab. Auch sie küsste er zum Abschied. „Ich liebe dich, Baby. Pass auf dich auf.“ „Und was ist mit mir?“, maulte Crystal und schob die Unterlippe vor. „Wer knutscht mich?“ „Du kriegst einen Kuss, wenn du die beiden heil nach Hause bringst.“ „Uh ja, aber mit Zunge“ Der Sukkubus grinste und zwinkerte ihm zu, bevor sie die andere Seite von Angelo übernahm, um ihn zu stützen. „Na los, beeilt euch. Und seht zu, dass er euch nicht sieht.“ Michael beobachtete, wie die drei sich langsam am Rand der Halle in Bewegung setzten. Wenn er es schlau anfing, würde Belial sie vielleicht nicht bemerken. Kapitel 31: Ein letzter Gefallen -------------------------------- Ein urtümlicher Schrei erschütterte die Halle, die sie gerade betreten hatten. Um sie herum suchten unzählige Dämonen ihr Heil in der Flucht und achteten gar nicht auf die zwei Menschen und den Engel, an denen sie vorbeistürzten. Am oberen Ende der großen Treppe jedoch, die in das über ihnen liegende Geschoss führte, tauchte in diesem Moment ein Mann auf, der genau in die entgegengesetzte Richtung lief. Gabriella atmete hörbar ein. „Das ist Belial“, flüsterte sie und deutete auf den Neuankömmling. „Wo ist er?“, fauchte der gerade und hielt einen der vorbeieilenden Dämonen an einem ihrer vier Arme fest. Die Kreatur, deren Erscheinung Michael an einen behaarten Frosch erinnerte, jaulte auf und erbrach einen Redeschwall, den Michael nicht verstand. Es war jedoch unübersehbar, dass das Gesagte Belial missfiel. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor er sie entdeckte. „Ich werde ihn aufhalten“, erklärte Michael. „Ihr seht zu, dass ihr hier rauskommt.“ Gabriella schüttelte entschieden den Kopf. „Das wirst du nicht tun. Es ist Wahnsinn. Er wird dich umbringen.“ „Aber wenn ich es nicht tue, wird er uns alle töten. Bitte, Baby, diskutier das jetzt nicht mit mir. Schaff Angelo hier raus und dann …“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte keine Ahnung, was sie dann machen sollten. Sein Blick fiel auf Crystal, die inzwischen unsicher blinzelte und zu testen schien, ob sie ihren Augen inzwischen wieder trauen konnte. „Hey. Du kennst dich doch hier aus, oder? Gibt es einen Weg, wie du die beiden hier rausschaffen kannst?“ Crystal sah mit zusammengekniffenen Lidern zu ihm auf. „Es gäbe vielleicht eine Möglichkeit. Aber erst mal müssen wir Marcus holen und da steht leider ein gewisser Jemand im Weg.“ Sie deutete mit einem krallenbewehrten Finger auf Belial. Michael nickte. „Okay. Dann holt ihr eben erst Marcus und dann bringst du sie alle hier raus. Kriegst du das hin?“ Der Sukkubus blies die Backen auf. „Na ich kann’s probieren. Aber nur, wenn uns vorher nicht die Decke auf den Kopf fällt.“ Michael sah noch einmal zu dem Mann, der jetzt Befehle in alle Richtungen bellte. Er hatte zwar keine Ahnung, wie er den Dämon aufhalten konnte, aber irgendetwas würde ihm dazu hoffentlich noch einfallen, wenn er erst einmal vor ihm stand. Vorsichtig setzte er Angelo auf den Boden. „Kannst du laufen?“ Angelo schüttelte den Kopf. „Geh nicht.“ „Ich muss. Und auch mit dir werde ich das nicht diskutieren.“ Er drückte Angelo einen schnellen Kuss auf den Mund, bevor er ihn an Gabriella übergab. Auch sie küsste er zum Abschied. „Ich liebe dich, Baby. Pass auf dich auf.“ „Und was ist mit mir?“, maulte Crystal und schob die Unterlippe vor. „Wer knutscht mich?“ „Du kriegst einen Kuss, wenn du die beiden heil nach Hause bringst.“ „Uh ja, aber mit Zunge“ Der Sukkubus grinste und zwinkerte ihm zu, bevor sie die andere Seite von Angelo übernahm, um ihn zu stützen. „Na los, beeilt euch. Und seht zu, dass er euch nicht sieht.“ Michael beobachtete, wie die drei sich langsam am Rand der Halle in Bewegung setzten. Wenn er es schlau anfing, würde Belial sie vielleicht nicht bemerken. Ein letzter Gefallen Michael atmete tief durch. Das ist wie bei einem Football-Spiel, versuchte er sich zu sagen. Wenn ich ihn ablenke und er nicht mitbekommt, dass sich die eigentliche Action ganz woanders abspielt, haben wir vielleicht eine Chance. Das einzige Problem dabei war, dass das normalerweise nicht seine Aufgabe war. Für so etwas war der Quarterback zuständig. Jeff war ein Meister des Trickspiels gewesen und er lediglich dafür da, ihm den Rücken freizuhalten. Na gut alter Freund. Dann tun wir mal so, als wenn ich in Ballbesitz wäre. Er straffte sich und rief, so laut er konnte: „Hey! Hey du! Bist du hier der Boss?“ Der Kopf des Mannes ruckte herum. Dunkle Augen taxierten Michael. Bei dem Anblick richteten sich seine Nackenhaare auf. Sein Gegenüber war ohne Zweifel sehr attraktiv und wäre selbst mit mehr Oberbekleidung auf jeder Party das Zentrum weiblicher Aufmerksamkeit gewesen, aber der Blick, mit dem er Michael maß, war kalt und berechnend. Er sieht aus wie ein Anwalt, schoss es Michael durch den Kopf, während sein Gegenüber begann, die Treppenstufen hinabzusteigen. „Wer bist du?“ Die Stimme des Mannes passte zu seinem Äußeren. Sie war angenehm und volltönend, wie geschaffen um die Massen damit einzulullen und ihnen Märchen ins Ohr zu flüstern. „Was tust du hier?“ Michael nahm all seinen Mut zusammen. „Das Spiel ist aus, du hast verloren. Ich hab deine Maschine zerstört. Den Engelsbrecher, dein Labor, einfach alles.“ Einige Augenblicke lang musterte Belial ihn schweigend, bevor er schlussendlich ein amüsiertes Schnauben von sich gab. „Ich kann mich nicht entscheiden. Soll ich dir zu dieser infamen Lüge gratulieren oder dir für deine Unverschämtheit einfach den Kopf abschlagen lassen. Zufälligerweise weiß ich nämlich genau, dass sich ein Engel in diesen Hallen befindet. Wenn ich raten müsste, würde ich vermuten, dass du der Mensch bist, der ihn bei sich aufgenommen hat.“ Michaels Gedanken überschlugen sich förmlich, während er über seinen nächsten Schritt nachdachte. Belial hatte inzwischen das Ende der Treppe erreicht, aber wenn er dort blieb, würden die anderen nicht ungesehen an ihm vorbei kommen. Er musste ihn noch weiter provozieren. „Genau der bin ich“, verkündete er daher und versuchte, dabei möglichst gelassen zu wirken. „Wenn du ihn haben willst, musst du zuerst an mir vorbei. Also … warum zeigst du mir nicht, was du draufhast? Nur wir beide. Mann gegen Mann.“ Belials Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. „Du hast Mut, Mensch. Es wäre wirklich eine Verschwendung, jemanden wie dich einfach so umzubringen. Ich könnte mir vorstellen, dass ich an anderer Stelle weit bessere Verwendung für dich hätte.“ Michael sah den Blick des Dämons über seinen Körper gleiten. Die Musterung war so intensiv, dass er fast meinte, sie körperlich spüren zu können. Das Gefühl verursachte ihm eine Gänsehaut. Das Lächeln seines Gegenübers wurde anzüglich. „Ja, ich denke, wir wären in der Lage eine Position zu finden, die deinen Fähigkeiten angemessen ist.“ Michael brauchte einen Augenblick, um die Doppeldeutigkeit dieser Aussage zu begreifen. „Nein danke, kein Interesse“, entfuhr es ihm, bevor er darüber nachgedacht hatte. „Ach nein? Wie schade. Ich mag Menschen. Einige von ihnen geben eine wirklich amüsante Gesellschaft ab.“ Michael schnaubte verächtlich. „Oh ja, du bist ein ganz großer Menschenfreund. Fragt sich nur, warum du uns dann alle aus dem Weg räumen willst.“ Der Dämon blinzelte überrascht. „Aus dem Weg räumen? Wovon sprichst du?“ „Na deine Zuchtstation, diese Halbdämonen. Das alles dient doch dazu, die Menschen durch deine Kreaturen zu ersetzen. Um eine Armee zu errichten, die den Himmel erstürmen kann.“ Belials Kehle entkam ein Lachen. „Wer hat dir denn diesen Unsinn erzählt? Eine Armee? Sehe ich etwa aus wie ein Feldheer? Nein. Ich bevorzuge eine subtilere Vorgehensweise. Der einzige Zweck meiner Kreaturen ist es, die Engel zu jagen. Euch Menschen soll dabei kein Haar gekrümmt werden. Im Gegenteil. Ihr sollt endlich wahre Freiheit erlangen. Die Freiheit zu tun, was immer ihr wollt. All eure Wünsche, eure Begierden, sie wären so leicht zu stillen, wenn wir nur endlich diese dummen Regeln abschaffen würden, um deren Aufrechterhaltung sich diese gefiederten Bastarde kümmern. Nur zu diesem Zweck habe ich vor, meine Krieger in die Welt zu entlassen.“ „Aber …“ Michael wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Belial unterbrach ihn mit einem Lächeln. „Ich verstehe schon. Du hast Angst um deinen kleinen Freund, nicht wahr? Aber wir müssen doch deswegen nicht streiten. Wenn es deine Entscheidung leichter macht, können wir sicherlich einen Handel ausmachen. Ich könnte den Engel, an dem dir so viel liegt, verschonen. Bestimmt findet sich ein anderer, den ich für meine Zwecke nutzen kann.“ „Das könnte allerdings schwierig werden.“ Michael und der Dämon zuckten zusammen. Beinahe gleichzeitig wirbelten sie zu der schmalen Gestalt herum, die ein wenig schwankend zwischen ihnen stand. Angelo lächelte leicht. „Hallo Belial.“ „Du?“, keuchte der Dämon und sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Hasses. „Natürlich. Ich hätte es wissen müssen, dass …“ Er stockte und nahm Angelo genauer in Augenschein. Auch Michael sah die feinen Schweißperlen auf dessen Stirn, die dunklen Ringe unter seinen Augen, das leichte Zittern, das bei jedem Atemzug durch seinen Körper lief. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch stehen konnte. „Du bist … kein Engel“, murmelte Belial misstrauisch. „Und doch … du musst es sein. Allein die Narben auf deiner Brust. Ich kenne nur einen, der dieses spezielle Zeichen trägt. Eine Erinnerung an die Schlacht. Weißt du noch, wie er deinen Namen geflüstert hat, bevor er fiel? Er hat dich geliebt. Wir alle haben das. Und doch hast du uns verraten.“ Angelo war nicht anzusehen, ob er wusste, wovon Belial sprach. „Du musst das hier beenden“, sagte er. „Gib auf und stell dich. Vielleicht können wir es so noch aufhalten.“ „Aufhalten? Was denn aufhalten?“ „Armageddon.“ „Wie bitte?“ Zum ersten Mal konnte Michael wirklich Verblüffung auf Belials Gesicht erkennen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sie hinter einem nichtssagenden Lächeln zu verbergen. „Was soll das heißen?“ „Das was ich vorhin schon sagte. Du wirst keinen anderen Engel mehr finden. Sie sind alle fort. Zurückgerufen, um sich für die letzte Schlacht zu sammeln. Es kann jeden Moment beginnen.“ „Aber …“ Belial sah zu Boden und Angelo wartet ab, während Michaels sich nach Gabriella und Crystal umsah. Die beiden versteckten sich in der Nähe des Treppenaufgangs hinter einer umgefallenen Säule. Unter ihnen rumorte es, als abermals Explosionen das Erdinnere erschütterten. „Du lügst“, verkündete Belial plötzlich. Er hob den Kopf und seine Augen sprühten dunkles Feuer. „Das ist ein billiger Trick, um mich zu übertölpeln. Wenn das die Wahrheit wäre, würdest du jetzt dort oben die Truppen befehligen und nicht hier unten herumkriechen, kaum ein Schatten deiner selbst, als hättest du nie göttliche Kräfte besessen. Als wärst du nicht mehr als ein gewöhnlicher Sterblicher. Das …“ Er stockte, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. Seine Augen weiteten sich. „Das ist es, nicht wahr? Du bist ihretwegen hier? Du willst sie retten. Und das sogar gegen Seinen Willen. Deswegen diese Scharade. Weil du Angst um deine kleinen Freunde hast. Hast du wirklich so einen Narren an ihnen gefressen, dass du sogar bereit bist, dich selbst aufzugeben, nur um sie zu retten?“ Er knurrte und der Laut ließ einen Schauer Michaels Rücken hinablaufen. „Ja, natürlich würdest du das. Du hast sie ja schon immer gemocht. Hast wieder und wieder für sie eingestanden und dich mit ihnen sogar gegen deine eigenen Brüder verbündet. Erinnerst du dich an die Geschichte in Sodom? Einen einzigen von ihnen hast du dem Sumpf der Verderbtheit entreißen können und selbst der hat sich versündigt, kaum dass du ihm den Rücken zugedreht hattest. Oder nimm diesen Salomon. Welche Macht hast du ihm in die Hände gelegt, indem du ihm diesen elenden Ring gabst. Und doch konnte er am Ende seine menschlichen Schwächen nicht überwinden. Aber anstatt irgendwann mal zu kapieren, dass sie nicht die niedlichen Schoßhündchen sind, für die du sie hältst, kommst du wieder und wieder auf die Erde, um ihnen beizustehen. Du bist so naiv.“ Michael sah zu Angelo hinüber. Dessen Blick hatte angefangen zu flackern. „Wovon spricht er, Angelo?“ Belial lachte nur. „Angelo? So nennst du dich jetzt?“ „Es ist der Name, den Michael mir gegeben hat.“ Angelos Stimme war nur noch ein Flüstern. Belials Augenbrauen hoben sich ein Stück, als sein Blick zu Michael huschte. „Das ist interessant. Hattest du das geplant oder ist dir das zufällig in den Sinn gekommen? Was für eine Farce. Du hast alles aufgegeben und wofür? Dafür, dass du mit deinen teuren Menschen zusammen untergehen wirst. Ist dir das eigentlich klar?“ „Aber … wenn ich dich aufhalte, dann wird es vorbei sein. Dann wird Er nicht …“ „Wird Er nicht?“ Belial lachte bitter auf. „Das glaubst du? Nach allem, was wir bisher von ihm erlebt haben, würde ich nicht davon ausgehen, dass er seinen Plan jetzt noch einmal ändert. Er ist ein alter, sturer, nachtragender Esel. Oh, und ich weiß, warum er jetzt schon den Weltuntergang angesetzt hat, obwohl es noch gar nicht an der Zeit ist. Weil er nicht verlieren kann. Ja, mein Lieber, Gott mogelt. Er hat gemerkt, dass wir dabei waren aufzuholen. Doch anstatt die Partie zu Ende zu spielen, fegt er jetzt einfach die Figuren vom Brett und erklärt sich selbst zum Sieger. Und du hast das auch erkannt. Deswegen bist du nämlich hier. Ich weiß genau, was passiert ist. Du hast endlich eingesehen, dass unser liebender Vater nicht mehr als ein selbstgerechtes Arschloch ist und hast dich von ihm abgewandt.“ Er seufzte. „Wenn ich das nur früher gewusst hätte. Ich hätte dich doch gebührend in Empfang genommen, dich gehegt und gepflegt. Du hättest es gut hier gehabt. Wir müssen doch keine Feinde sein. Immerhin stehen wir auf derselben Seite. Auf der Seite der Gefallenen. Oder glaubst du etwa, er nimmt dich wieder zurück. Nach all dem, was du getan hast? Du hast dich versündigt, Angelo. Ich sehe es genau. Hochmut, Jähzorn, Neid, Völlerei und insbesondere die Wollust. Ich kann sie alle an dir sehen. Und jetzt gerade gibst du dich der Sünde der Trägheit hin, indem du zauderst und herumstehst, statt dich endlich für das einzig Richtige zu entscheiden. Schließ dich mir an und wir werden als Sieger aus dieser ganzen Sache hervorgehen.“ „Wie?“, flüsterte Angelo. Michael fuhr herum. „Was? Nein! Du darfst ihm nicht zuhören. Er lügt. Das kann alles nicht stimmen.“ Angelos sah ihn an und in seinen sonst so strahlend blauen Augen lag eine tiefe Traurigkeit. „Ich fürchte doch. Ich kann es spüren. All das, was er gesagt hat, ist die Wahrheit.“ „Aber dann … dann wird die Erde untergehen?“ Angelo hob die Schultern. „Ich weiß nicht. Es ist möglich, dass … dass ich mich geirrt habe. Vielleicht sollten wir doch …“ In diesem Moment öffnete sich die Tür, die in das obere Geschoss führte. Eine kleine Gestalt drängte sich hindurch und schoss auf vier Pfoten die Stufen der großen Treppe hinab. Kaum, dass der Hund unten angekommen war, verwandelte er sich zurück. „Herr!“ Alejandro schnappte nach Luft. Seine schmale Brust hob und senkte sich und er schien kurz davor zusammenzubrechen. „Herr, ihr müsst vorsichtig sein. Der Engel, er wird …“ „Angelo, ist unser Gast. Du wirst dich entsprechend verhalten.“ „Herr?“ Unsicherheit kroch auf Alejandros Gesicht. Er sah von einem zum anderen. „Ich sagte, Angelo ist unser Gast. Er hätte es viel früher sein können, wenn du nichtsnutziger Schwachkopf die dir übertragene Aufgabe besser erledigt hättest. Du solltest ihn finden und hierher bringen, aber hast du das getan? Nein. Stattdessen …“ „Doch, das habe ich.“ Alejandro richtete sich auf und in seiner Haltung lag fast so etwas wie Stolz. „Ich habe Euch den Engel gebracht, wie Ihr es verlangt habt. Ja, es hat lange gedauert und ich mag zwischendurch vom Weg abgekommen sein, aber …“ „Schweig!“ Das Wort rollte wie ein Gewitterschlag durch die Halle und übertönte selbst das dunkle Grollen, das in diesem Moment durch die Grundfesten des Gebäudes lief. Schmutz und kleine Steine rieselten von der Decke der Halle herab und trübten Michaels Sicht. Trotzdem konnte er die Abscheu, mit der Belial seinen Untergebenen musterte, deutlich erkennen. „Aber Herr …“ Alejandro war zusammengezuckt, wich jedoch keinen Millimeter zurück. Seine Augen waren weit aufgerissen. „Bitte, seid vorsichtig. Der Engel ist gefährlich. Ich habe gesehen, wie er den Engelsbrecher in Flammen aufgehen ließ.“ „Ach, hast du das?“ Belials Stimme hatte einen lauernden Unterton angenommen. „Aber wie kann es sein, dass du dann noch hier stehst? Hättest du dich ihm nicht mit Leib und Leben entgegenwerfen müssen, um das zu verhindern? Oder mich wenigstens so schnell wie möglich informieren? Außerdem frage ich mich schon die ganze Zeit, wie er überhaupt dorthin gelangen konnte. Selbst mit diesem kleinen Trick, mit dem er sich in einen Menschen verwandelt, hätte er trotzdem Hilfe gebraucht, um die Hindernisse und Fallen zu umgehen, die ich auf dem Weg hierher aufgestellt habe. Wie also konnte er ungehindert bis in das Allerheiligste gelangen, ohne dass ihn jemand aufgehalten hat?“ „Nun, ich …“ Alejandro wand sich unter dem vernichtenden Blick seines Herrn und Meisters, der jetzt einen Schritt auf ihn zumachte. „Ich hatte … Ich wollte doch nur … Er hat mir versprochen, dass er … dass Ihr …“ „Er hat dir … versprochen? Willst du damit sagen, dass du mich hintergangen hast? Dass du einen Handel mit dem Feind eingegangen bist?“ „Ja, aber doch nur um Euch zu retten, Herr. Er hat gesagt …“ „Mich retten?“ Belial stieß ein abfälliges Geräusch aus. „Sehe ich so aus, als wenn ich vor etwas anderem gerettet werden müsste als vor der Dummheit meiner Untergebenen? Du hast alles vernichtet, was ich aufgebaut habe. Alles! Ist dir das eigentlich klar?“ Alejandros Augen begannen verdächtig zu glitzern. Er zitterte. „Aber ich … ich wollte … ich dachte …“ „Ich, ich, ich“, äffte Belial den winselnden Tonfall nach. „Alles, was ich von dir zu hören bekomme, sind Ausflüchte und Entschuldigungen. Aber weißt du was? Ich habe genug von dir. Geh mir aus den Augen und komm nie wieder zurück.“ „Aber Herr!“ Alejandro sah aus, als wäre er geschlagen worden. „Ihr könnt mich nicht fortschicken. Bitte! Ich war Euch immer treu ergeben.“ „Ja, das warst du. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem du einen Engel in meinem Zuhause hast herumwüten lassen. So einen Diener kann ich nicht brauchen. Verschwinde!“ „Nein, Herr. Bitte! Ich flehe Euch an.“ Die Tränen, die schon so lange in Alejandros Augen gelauert hatten, rannen ihm jetzt über das Gesicht. Blind gegenüber Belials Wut wagte er sich noch weiter vor, streckte die Arme aus und wollte seinen Meister berühren, doch der war schneller. Mit einer Hand holte er aus und verpasste dem schmalen Mexikaner eine Schelle, die ihn mehrere Meter durch die Luft schleuderte. Michael wollte auffahren und auch Angelo gab einen warnenden Laut von sich, aber Belial beachtete sie nicht. Mit drei gewaltigen Schritten war er heran und klaubte seinen Diener vom Boden auf, als wäre er lediglich eine übergroße Stoffpuppe. „Ich habe dich erschaffen“, donnerte er, „Ich habe dich genährt und aufgezogen und du dankst es mir, indem du mich verrätst?“ „Halte ein!“ Angelos Stimme zitterte, als er sich bemühte, den tobenden Dämon sowie das immer lauter werdende Grollen, das unter der Erde wütete, zu übertönen. „Er hat dir nichts getan. Im Gegenteil. Er ist deine Rettung.“ „Meine was?“ Belial wandte den Kopf und Michael erschauerte. Für einen Augenblick meinte er unter dem engelhaften Gesicht etwas anderes, sehr viel Bösartigeres erkennen zu können. „Sieh genau hin“, sagte Angelo und in seiner Bitte lag so viel Schmerz, dass es Michael fast das Herz abdrückte. „Erkennst du es nicht? Erkennst du nicht, was du geschaffen hast?“ Die kalten Augen des Dämons legten sich auf Alejandros zerstörte Gestalt. Blut lief aus einer Schürfwunde auf seiner Stirn und aus seinem Mund. Er hatte einen weiteren Zahn verloren, ein Arm schien gebrochen und auch sein rechter Fuß stand in einem Winkel ab, der Michael unwillkürlich das Gesicht verziehen ließ. Trotzdem versuchte Alejandro den Kopf zu heben, um Belial anzusehen. „Herr“, flüsterte er, „es tut mir so leid.“ „Kannst du es nicht sehen?“, wiederholte Angelo. Er schien am Ende seiner Kräfte. Als er einen weiteren Schritt in Belials Richtung machte, strauchelte er und brach in die Knie. Michael ließ alle Vorsicht fahren und sprang ihm bei. Gerade noch rechtzeitig griff er ihm unter die Arme. „Du musst …“ Angelo ließ ihn nicht ausreden. „Nein“, krächzte er. „Halte ihn auf. Er darf nicht …“ Belial stand immer noch da, den halb bewusstlosen Alejandro in die Luft gehoben, als würde er nicht das Geringste wiegen. „Was plappert ihr da herum. Sag endlich, was du zu sagen hast. Was ist mit diesem wertlosen Haufen Dreck, dass du dich so für ihn einsetzt?“ Angelo schüttelte leicht den Kopf. „Du kannst es tatsächlich nicht sehen, nicht wahr? Du bist so blind, dass du die Liebe nicht einmal mehr erkennen kannst, selbst wenn sie direkt vor dir steht.“ „Liebe?“, höhnte Belial und hob Alejandro noch ein Stück höher. „Du musst dir deinen Kopf stärker gestoßen haben, als ich dachte. Er ist ein Dämon. Ein Dämon kann nicht lieben.“ „Und doch tut er es. Er ist wahrscheinlich das einzige Wesen auf dieser Welt, dass dich je aus tiefstem Herzen lieben wird. Denn das ist es, was ihn so besonders macht. Er ist keine reine Kreatur der Finsternis, sondern verfügt ebenso wie alle Menschen über einen freien Willen. Und er liebt dich.“ Für einen Moment schwieg Belial. Es schien, als hätten Angelos Worte ihn tief beeindruckt. Michael wollte gerade aufatmen, als Belials Mundwinkel zu zucken begannen. Erst nur ein wenig, doch dann brach mit einem Mal ein ohrenbetäubendes Gelächter aus ihm heraus. „Er liebt mich?“, japste er. „So ein Unsinn. Er ist dazu gar nicht fähig und selbst wenn. Soll ich dir zeigen, wie sehr mich das interessiert?“ Er grinste noch einmal, packte dann unvermittelt mit beiden Händen zu und vollführte eine schnelle Drehung. Alejandros Genick brach mit einem ekelerregenden Knacken. Im nächsten Augenblick ließ Belial ihn fallen. Als der leblose Körper auf dem Boden aufschlug, hörte Michael Gabriella aufschreien. Der Dämon hingegen blieb vollkommen ungerührt. Er lächelte immer noch, während sein Blick unverwandt auf Angelo lag. „Siehst du? So viel halte ich von deiner sogenannten Liebe. Sie ist eine dumme Erfindung der Menschen, die es nicht ertragen haben, dass sie aus dem Paradies geworfen worden sind. Ein billiger Abklatsch dessen, was wahre Vollkommenheit bedeutet. Alles, was geringer ist als das, ist wertlos.“ Michael spürte den Ruck, der durch Angelos Körper lief. Es war, als habe man im Inneren einen Schalter umgelegt. Äußerlich blieb Angelo vollkommen ruhig, doch Michael konnte fühlen, wie die schmale Gestalt unter seinen Händen erbebte. „Du hast ihn umgebracht.“ Angelos Flüstern war wie ein Windhauch, der durch die Baumkronen fuhr, kurz bevor ein Sturm losbrach. Seine Finger klammerten sich um Michaels Hand, während er sich Stück für Stück nach oben kämpfte. Als er den Kopf hob, war da etwas in seinem Blick, das Michael frösteln ließ. „Du hast ein Wesen, das dich geliebt und dir vertraut hat, einfach kaltblütig ermordet. Nicht etwa, weil es dir etwas zuleide getan hat, sondern weil es dir egal war.“ Belial gab sich unbeeindruckt. „Ja und? Was kümmert es dich? War er nicht ohnehin eine Sünde gegen die Natur? Du solltest froh sein, dass er dich nicht mehr mit seiner Anwesenheit belästigt.“ Ein trauriges Lächeln legte sich auf Angelos Gesicht. „Ja, aber du solltest trauern. Um das einzige Geschöpf, dass in der Lage gewesen wäre, dich zu retten. Denn jetzt, da er tot ist, erlischt mein Versprechen ihm gegenüber und ich habe keinen Grund mehr, dein Leben zu verschonen.“ „Mein Leben?“ Belial lachte auf. „Das ist lächerlich. Du kannst ja kaum stehen.“ „Das ist richtig. Vielleicht gibst du mir einen Moment, um mich zu sammeln und mich zu verabschieden? Um der alten Zeiten willen?“ Belial nickte knapp. „Ich danke dir.“ Mit diesen Worten drehte Angelo sich zu Michael um. Kristallblaue Augen blickten ihn an und plötzlich hatte Michael das Gefühl, dass die Zeit stehenblieb, nur um dann mit irrwitziger Geschwindigkeit rückwärts zu laufen zu dem Punkt, an dem alles angefangen hatte. Auf einmal war er wieder in diesem Hinterhof, in dem Angelo ihn zum ersten Mal angesehen hatte, als würde er bis auf den Grund seiner Seele hinab blicken. Er wagte kaum zu atmen. „Michael.“ Angelos Stimme war so leise, das er ihn kaum verstand. „Ich fürchte, ich muss dich noch einmal um Hilfe bitten. Einen letzten Gefallen, bevor …“ „Einen letzten Gefallen? Aber was …?“ „Sch, lass mich ausreden. Belial hat recht, wenn er sagt, dass ich nicht gegen ihn kämpfen kann. Aber du kannst es. Du kannst ihn besiegen, wenn ich dir helfe.“ Michael glaubte sich verhört zu haben. „Aber wie soll ich das anstellen? Er ist ein Dämon, Angelo. Ein mächtiger noch dazu. Er ist mir körperlich haushoch überlegen. Du hast gesehen, was er mit Alejandro gemacht hat. Mich zu töten wird ihn kaum mehr Mühe kosten.“ „Und doch bist du es, auf den es ankommt. Erinnerst du dich, dass ich dir sagte, dass ich mit einem Auftrag hierher gekommen bin? Meine Anweisung lautete ganz klar 'Finde Michael'. Das war das Einzige, an das ich mich noch erinnern konnte, als ich auf der Erde zu mir kam. Der Gedanke dich zu finden hat mich aufrecht erhalten, selbst als die Lage hoffnungslos schien. Er hat mich alles ertragen und erdulden lassen. Weil ich wusste, dass alles gut enden wird, solange wir beide zusammen sind.“ Michael lächelte, obwohl da ein Kloß in seinem Hals saß, der einfach nicht weggehen wollte. Hinter Angelos Worten lauerte eine Wahrheit, die seine Kehle eng werden ließ. Er schluckte. „Das klingt furchtbar kitschig.“ Angelos Mundwinkel hoben sich ein Stück weit. „Das stimmt wohl. Und ich fürchte, es wird noch kitschiger, denn um Belial zu besiegen, müssen wir beide eins werden.“ „Eins werden? Wie meinst du das?“ Angelo sah an sich herab. „Ich werde diesen Körper aufgeben und alles, was darin an Energie enthalten ist, auf dich übertragen. Nur so wirst du eine Chance haben, ihn zu bezwingen.“ „Aber, dann wirst du …“ „Ja. Angelo wird aufhören zu existieren. Aber er ist es nicht, auf den es ankommt. Michael ist derjenige, der sich Belial in den Weg stellen muss, um die Wahrheit über die Lüge siegen zu lassen. Obwohl …“ „Ja?“ Michael hielt gebannt den Atem an. „Ich kann dich nicht zwingen. Nur, wenn du dieser Vereinigung wirklich zustimmst, wird sie funktionieren.“ Michael versuchte, das Stechen in seinen Augen zu ignorieren. „Ich will nicht, dass du gehst. Gibt es denn keinen anderen Weg? Vielleicht können wir Belial doch überreden. Ihn irgendwie überlisten, damit er …“ Dass er Unsinn redete, wusste Michael in dem Augenblick, als Angelo ihn ansah. Ein melancholisches Lächeln begleitete seinen Blick. „Ein Kampf ist unausweichlich. Ich wünschte, ich könnte mich Belial selbst entgegenstellen, aber ich fürchte, ich hätte keine Chance. Nur du wirst ihn aufhalten können. Mit meiner Hilfe.“ Michael fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Das war alles so irre. „Jetzt sagst du bestimmt gleich so was wie 'ich werde immer bei dir sein' und diese ganze Scheiße, die man halt so sagt, damit es sich nicht nach einem Abschied anfühlt, obwohl es verdammt nochmal einer ist.“ Angelo hob die Hand und strich sanft über seine Wange. „Würde das helfen?“, fragte er. Michael wusste keine Antwort darauf. „Also eins sage ich dir“, knurrte er stattdessen und versuchte, sich ein bisschen an der aufkommenden Wut festzuhalten. „Wer immer für diesen bescheuerten Plan verantwortlich ist, sollte sich besser warm anziehen, wenn ich ihn erwische. Er hat dich in den Tod geschickt.“ Angelos Lächeln wurde freundlicher. „Ich glaube, er war ziemlich verzweifelt.“ „Woher weißt du das?“ „Ich habe inzwischen so eine Ahnung, wer es war.“ „Und wer?“ Angelo schüttelte den Kopf. „Das kann ich dir nicht sagen. Wenn alles gut geht, wirst du es selbst herausfinden.“ Michael atmete tief durch. Wie es aussah, gab es keinerlei Möglichkeit, Angelo zu retten. „Also schön“, sagte er langsam. „Ich mache es. Wir machen es. Aber wenn das nicht klappt, dann finde ich dich irgendwo in deiner komischen Ewigkeit und versohle dir ganz gewaltig den Hintern.“ Angelos Mundwinkel zuckten und auch Michael musste lächeln. „Na komm her, du verrückter Engel. Lass mich dich wenigstens noch einmal umarmen, bevor ich dich nie mehr wiedersehe.“ Er presste Angelo so stark an sich, dass er glaubte, dessen Rippen knacken zu hören. Gleichzeitig fanden sich ihre Lippen zu einem Kuss, indem so viel mehr lag als nur ein Abschied. Es war ein Dankeschön, ein Versprechen, eine Entschuldigung und noch viel mehr, für das Michael keine Worte fand. „Ich werde dich vermissen“, flüsterte er, als der Kuss irgendwann endete. „Und ich werde immer bei dir sein.“ Im nächsten Augenblick war Angelo verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Michael starrte auf die Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte, aber der Platz war und blieb leer. Für einen Moment wollte Verzweiflung ihn übermannen, als sich plötzlich ein fremdes Bewusstsein wie Balsam über seine Seele legte. Es hinterließ eine tröstliche Wärme, die auch nicht verging, als das Gefühl langsam abebbte. Michael begann zu lächeln. „Wo ist er hin?“ Belials Stimme riss ihn aus seiner friedlichen Stimmung. Der Dämon schäumte vor Wut. „Wo ist er?“, brüllte er erneut. „Wer?“ „Du weißt genau, von wem ich rede. Du …“ Belial stockte und musterte ihn misstrauisch. „Was ist hier los? Was hast du getan?“ „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Etwas berührte Michaels Fingern. Es fühlte sich an, als würde ihm jemand etwas dazwischen schieben. Als ihm klar wurde, was es war, wurde sein Lächeln breiter. „Wage es nicht, mich zu verhöhnen“, grollte Belial. „Das könnte dir schlecht bekommen.“ Michael machte ein abfälliges Geräusch. „Willst du nur reden oder lässt du auch Taten folgen?“ Der Dämon nickte langsam. „Nun gut. Du hast es nicht anders gewollt.“ Mit einem Fingerschnippen von ihm stürmte von irgendwo her ein ganzer Trupp schwarzer, gehörnter Gestalten. Sie nahmen hinter Belial Aufstellung, auf dessen Gesicht ein überhebliches Lächeln lag. „Dann wollen wir doch mal sehen, wie viel dein Mut wirklich zählt, Michael.“ „Ich kann es kaum erwarten“, erwiderte er und ging leicht in die Knie, um sich auf den ersten Angriff vorzubereiten. „Heilige … Michael!“ Gabriella wollte aufspringen, aber Crystal hielt sie im letzten Moment zurück und zog sie kurzerhand zurück in ihr Versteck. „Glaub mir, Schwester, da willst du dich jetzt nicht einmischen. Zu viel Testosteron, zu viele Muskeln und viel zu wenig Hirn.“ Gabriella versuchte sich loszumachen. „Aber ich muss ihm helfen.“ Der Sukkubus schnaubte nur. „Und wie? Indem du dich ausziehst und nackt für sie tanzt? Also nicht, dass ich nicht schon Situationen erlebt hätte, in denen das tatsächlich funktioniert hat. Du glaubst ja nicht, wie viele Diskussionen man einfach so abkürzen kann, indem man sein Oberteil auszieht. Aber diese Viecher da sind einfach zu dumm, um mit den Reizen einer Frau irgendwas anfangen zu können. Da zählt nur rohe Gewalt und die kann dein Kerl eher aufbringen als du.“ Gabriella sah zu Michael hinüber, der gerade dem Angriff eines der gehörnten Riesen auswich. Er entging nur haarscharf dem Hieb der riesigen Axt, rollte sich ab und stand gleich darauf wieder auf den Füßen. Allerdings schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis ihnen einer der finsteren Streiter erwischte. „Aber … er hat keine Chance gegen diese Biester. Es sind einfach zu viele. Und wo ist überhaupt Angelo? Gerade war er doch noch da.“ Crystal zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, das kann ich dir nicht sagen. Engelsmagie ist nicht mein Spezialgebiet. Keine Ahnung, ob die Kerle unsichtbar werden können oder grün anlaufen, wenn man sie in warmes Wasser hält. Aber ich kenne jemanden, der das vielleicht weiß.“ „Marcus?“ „Exakt der.“ Gabriella sah zu der Treppe, die jetzt frei und unbewacht vor ihnen lag. Die Gelegenheit war günstig und vermutlich sollten sie die Zeit nutzen, die Michael ihnen verschaffte. Aber die Entscheidung, ihn wirklich hier zurückzulassen, fiel ihr unglaublich schwer. „Na komm“, drängte Crystal, „wir müssen los. Marcus wartet sicherlich schon auf uns.“ Gabriella zögerte immer noch. „Würdest du ihn zurücklassen, wenn er an Michaels Stelle wäre?“ Der Sukkubus legte die Stirn in Falten. „Wahrscheinlich wäre ich nicht begeistert. Aber wenn ich wüsste, dass ich ihm eh nicht helfen kann und er gerade sein Leben riskiert, um mich zu retten, würde ich ihn vermutlich machen lassen und mich hinterher an einen sehr klugen Rat halten, den ich mal im Fernsehen gehört habe.“ „Der da lautet?“ „Du bist eine Frau, du kannst es ihm jederzeit wieder vorhalten.“ Gabriella glaubte, sich verhört zu haben. „Von wem stammt denn diese Weisheit? Hillary Clinton?“ „Wenn ich mich richtig erinnere, war ihr Name Marge Simpson. Ich mochte ihre Haare.“ Für einen Moment überlegte Gabriella, ob Crystal sie veralbern wollte, aber der Sukkubus schien das vollkommen ernst zu meinen. Noch einmal sah sie zu Michael, der gerade mit gleich zwei der schwarzen Ungetüme rang. Für einen Moment sah es aus, als wenn sie ihn überwältigen würden, doch dann schaffte er es, sich aus dem Griff des einen zu befreien und ihn gegen seine Kameraden zu schleudern. Kaum lagen die beiden am Boden, war bereits der nächste Gegner heran. 'Vertrau mir', hatte Angelo zu ihr gesagt, bevor er sich von ihr losgemacht hatte und langsam auf die beiden Kontrahenten zugewankt war. 'Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um ihn zu dir zurückzubringen.' Sie dachte an das Bild des Engels, das früher über ihrem Bett gehangen hatte. Vielleicht … vielleicht war es an der Zeit, wieder an Wunder zu glauben. Denn nur ein Wunder würde ihnen jetzt noch helfen. „Gut“, sagte sie und wandte sich entschieden ab. „Gehen wir und finden Marcus. Vielleicht hat der ja ein bisschen mehr Grips im Kopf als diese Idioten, die diese Körperteile anscheinend nur besitzen, damit sie sie sich gegenseitig einschlagen können.“ „Die Einstellung mag ich.“ Ohne die Kämpfer noch eines weiteren Blickes zu würdigen, eilten sie die Treppe hinauf und schlüpften durch die Tür in den oberen Teil des Hauses. Hier hatte das Erdbeben ungleich größeren Schaden angerichtet. Möbel waren umgestürzt, Bilder von den Wänden gefallen. Risse zierten überall den einst so makellosen Marmor. Ein Teil der Galerie war eingestürzt und hatte die Hälfte der Halle unter sich begraben. Eine in Tränen aufgelöste Frau zerrte an einem Arm, der unter einem der Trümmerstücke hervorragte. Gabriella stockte der Atem, als sie sah, dass die Frau mit einer Kette an genau diesem Arm festgemacht war. Sie wollte gerade hinzueilen, als eine keifende Stimme das Wehgeschrei unterbrach. „Sei endlich still, du blöde Kuh!“ Im nächsten Moment sackte die weinende Frau leblos in sich zusammen. In ihrer Stirn steckte ein nadelspitzer, schwarzer Dolch. Eine Gestalt kletterte über die Trümmer, griff nach der Waffe und zog sie rücksichtslos aus der Leiche. Als sie sich aufrichtete, erkannte Gabriella die rothaarige Frau wieder, auch wenn diese inzwischen Hufe, Hörner und einen Schhwanz hatte. „Ist das etwa …?“, flüsterte sie und Crystal nickte. „Das ist die echte Delilah. Und irgendwie scheint sie nicht gerade bester Laune zu sein.“ Der andere Sukkubus, dessen knappes Outfit in Fetzen hing, entdeckte sie und ihre Augen wurden zu wütenden Schlitzen. Es hätte Gabriela nicht gewundert, wenn sich ihre Frisur, die ohnehin nicht mehr die ordentlichste war, wie bei einer Katze in alle Richtungen gesträubt hätte. „Du!“, fauchte sie und meinte damit ohne Zweifel Crystal. „Du hast mich betrogen.“ Der Sukkubus an Gabriellas Seite hob gleichgültig die Schultern. „Ja sorry, dass ich unsere Verabredung nicht einhalten konnte. Mir ist da ein hübscher Kerl dazwischen gekommen. Du weißt, dass ich da einfach nicht widerstehen kann.“ „Du hast unseren Meister hintergangen.“ „Ach, jetzt hör schon auf. Der Typ ist ein Arschloch. Wenn du ehrlich bist, weinst du dem doch keine Träne nach.“ Delilah antwortete nicht mehr darauf. Ein Beben erfasste die Halle und riss Gabriella beinahe von den Füßen. Eilig klammerte sie sich an das nahe Treppengeländer, während um sie herum die Welt aus den Fugen geriet. Mit Getöse brach ein Teil des Daches ein. Die donnernde Last aus Steinen und Ziegeln stürzte herab und begrub den fremden Sukkubus unter sich. Gabriella schrie und hörte auch Crystal etwas rufen, das jedoch im Lärm des Erdbebens unterging. Die Erschütterungen ebbten ab und Gabriella hätte beinahe noch einmal aufgeschrien, als plötzlich eine finstere Gestalt neben ihr stand und die Hand nach ihr ausstreckte. Ein fieser Gestank ging von dem Wesen aus und es fragte besorgt: „Geht es dir gut? Bist du verletzt?“ Gabriella blinzelte überrascht. „Marcus?“, fragte sie und das stinkende Etwas gab einen knurrenden Laut der Zustimmung von sich. „Was von mir übrig ist. Wo sind die anderen?“ „Ich bin hier, Schnuckiputzi. Hast du dir etwa Sorgen gemacht?“ Crystal stand am Fuß der Treppe und grinste zu ihnen herauf. Für einen Moment glaubte Gabriella ein Lächeln über Marcus verschmiertes und staubbedecktes Gesicht huschen zu sehen, bevor er sich wieder in die steinerne Miene rettete, die Gabriella schon von ihm kannte. Sie musste unwillkürlich ein wenig schmunzeln. „Also“, verkündete Crystal, während sie sich in der jetzt fast völlig zerstörten Halle umsah, „da wir jetzt ja alle verlorenen Schäfchen wieder beisammen haben, habe ich eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist, dass wir Delilah los sind. Die hätte es bestimmt noch fertiggebracht, mich zu einem Vick'o-Gar herauszufordern.“ „Einem was?“, fragte Marcus nach. „Einem Sukkubus- Duell. Dabei befummeln wir uns gegenseitig und wer als erstes kommt, hat verloren. Wenn du Interesse hast, kann ich dich mal zu einem mitnehmen. Ist so ne Art Sport bei uns.“ „Äh, ja, danke, ich überleg’s mir“, murmelte Marcus und räusperte sich. „Und was ist die schlechte Nachricht?“ „Dass der Weg nach unten versperrt ist. Ich wollte euch eigentlich zur Beschwörungshalle bringen. In dem Chaos hätte ich euch da bestimmt irgendwie rausschmuggeln können. Aber der einzige Weg, der jetzt noch dorthin führt, geht direkt unter Belials Nase entlang. Das heißt, entweder wagen wir uns jetzt zurück in die Höhle des Löwen …“ Ihr Blick glitt zur Vordertür, die inzwischen nur noch schief in den Angeln hing. „Oder wir versuchen es da draußen. Hier können wir auf jeden Fall nicht bleiben. Was immer Angelo da in den Tiefen geweckt hat, es ist definitiv nicht gut drauf.“ Wie um ihre Argumentation zu unterstützen, grollte die Erde erneut und Gabriella hatte das Gefühl, dass zwischen den Geräuschen auch etwas anderes, weitaus Böseres lag. Crystal hatte recht. Hier konnten sie nicht bleiben. „Fein“, knurrte sie. „Wir gehen raus. Schnappt euch irgendeine Waffe, denn ich bin mir sicher, dass wir sie brauchen werden. „Oh ja, so gefällt mir das.“ Crystal legte die Hand an die Stirn, als würde sie salutieren, bevor sie nach einem mannslangen Speer griff, den sie mühelos herumwirbelte. Marcus nickte ebenfalls und nahm einen Morgenstern an sich, der zu einer Rüstung gehört haben mochte, von der inzwischen nur noch ein verbeulter Blechhaufen übrig war. Gabriella sah sich um und ihr Blick fiel auf den Dolch, den Delilah fallengelassen hatte. Sie zögerte. Irgendetwas in ihr weigerte sich, diese Mordwaffe an sich zu nehmen. „Nimm die hier.“ Crystal reichte ihr eine Holzlatte, die sie irgendwo aus den Überresten der Galerie gezogen haben musste. „Es geht nichts über einen Schlag auf den Kopf mit einem stumpfen Gegenstand. Immer feste druff, verstanden?“ Gabriella nickte gehorsam und gemeinsam machten sie sich auf den Weg über die Trümmerberge. Marcus schob den zerstörten Türflügel aus dem Weg und ließ sie und Crystal hindurchklettern, bevor er ihnen folgte. Draußen angekommen richtete Gabriella sich auf und erstarrte. Von dem friedhofsgleichen Garten war nur noch ein Schlachtfeld übrig. In der Erde hatten sich tiefe Gräben gebildet. Bäume waren umgekippt, Büsche entwurzelt oder abrasiert. Auf den ehemals gepflegten Rasenflächen lagen verschiedene Körper, von denen die wenigsten menschlich waren. Anscheinend hatten hier noch mehr Bewohner der Residenz ihr Heil in der Flucht gesucht. Es war Gabriella jedoch nicht vergönnt, sich lange mit ihrem Anblick zu beschäftigen. Ihre Aufmerksamkeit wurde vielmehr von der Schlacht angezogen, die am Himmel in Gange war. Dort schwirrten unzählige, geflügelte Gestalten herum, die wieder und wieder abtauchten, um sich kurz darauf mit einem schreienden Opfer in die Lüfte zu erheben. Manchmal konnte das anvisierte Ziel sich zwar erfolgreich zu Wehr setzen und den Gargoyle in seine steinernen Einzelteile zerlegen, doch oft genug attackierten im nächsten Augenblick zwei oder drei der Steinmonster den Unglücklichen, um ihn dann doch seinem bestürzenden Schicksal zuzuführen. Das, was Gabriella jedoch wirklich Angst machte, waren die gigantischen, glühenden Kuppeln, die sich mit pendelnden Fangarmen gemächlich aber unaufhaltsam auf das Anwesen zubewegten. Sie wusste nicht, warum sie diese riesigen, quallenartigen Wesen so abschreckten. Als jedoch im nächsten Moment Crystal erschrocken die Luft einsog, wusste sie, dass ihr Gefühl sie nicht getäuscht hatte. „Scheiße“, fluchte der Sukkubus, den Blick ebenfalls auf die leuchtenden Riesenquallen gerichtet. „Irgendwer hat die Medusen aktiviert.“ „Und das ist schlecht?“, fragte Marcus. „Schlecht ist gar kein Ausdruck“, murmelte Crystal. „Die Dinger sind … Sie sind wie Haie. Der Blutgeruch der vielen Leichen lockt sie her. Doch Haie oder sogar diese tumben, gehörnten Gesellen, die Belial als Wachen eingestellt hat, sind wahre Intelligenzbestien gegen diese Ungetüme, deren einzige Aufgabe es ist zu fressen. Und wenn ich fressen sage, dann sprechen wir hier davon, etwa hundert Jahre lang langsam in einer gallertartigen Suppe herumzuschwimmen und sich dabei langsam Fetzchen für Fetzchen aufzulösen. Bei vollem Bewusstsein. Es gibt kein Entkommen aus diesen Dingern.“ Gabriella sah auf die Ebene hinaus, wo mehr und mehr der gewaltigen Quallen zum Leben erwachten. Es schien, als laufe eine regelrechte Welle durch ihre Reihen, die sich zwischen ihnen und dem Gebäude erstreckten, das nur mehrere hundert Meter von hier und gleichzeitig in unerreichbarer Ferne den Ausgang in die Wirklichkeit markierte. „Na fein“, sagte sie und packte ihre Holzlatte fester. „Zuerst kümmern wir uns um die Gargoyles und dann werden wir irgendwie einen Weg an diesen Dingern vorbei finden. Und wenn es das letzte ist, was wir tun.“ „Die Ansprache hätte mir ohne den letzten Satz besser gefallen“, witzelte Crystal und griff nach ihrem Speer. „Aber gut, probieren wir es. Ich wollte schon immer mal kochen lernen und heute scheint Schisch Kepab auf dem Speiseplan zu stehen.“ Mit gerunzelter Stirn und weichen Knie folgte Gabriella dem Sukkubus, der sich mit wahrem Freudengeheul auf einen vorbeifliegenden Gargoyle stürzte und ihn mit einem gezielten Speerstoß vom Himmel holte. Als sie unten ankam, zerbarst die Figur in tausend Stücke. „Na immerhin kein neues Futter für die Medusen“, murmelte Gabriella, bevor auch sie eines der fliegenden Scheusale aufs Korn nahm. Als der Kopf der gehörnten Kreatur zu Boden fiel, schoss ein Schwall schwarzen Dämonenblutes aus ihrem Halsstumpf empor und tränkte den Fußboden in widerliche Schmiere. Angewidert wich Michael zurück und ließ die Axt fallen, die er kurz zuvor noch den Händen des jetzt toten Dämons entrissen hatte, um ihm dann im nächsten Moment den Kopf von den Schultern zu schlagen. Schwer atmend drehte er sich zu dem einzigen, noch stehenden Gegner herum. „War das alles oder hast du noch mehr auf Lager?“ Belials Gesicht zuckte, als würde etwas daraus hervorbrechen wollen. „Du hast sie alle geschlagen“, zischte er wütend. „Und das ohne einen einzigen Kratzer davonzutragen. Wie kann das sein? Was für eine Art Zauber liegt auf dir?“ „Einer, der du nicht verstehst“, gab Michael zurück. Er war froh, dass Belial nicht bemerkt hatte, dass einige der Wachen ihn durchaus getroffen hatten. Doch wann immer er eine Verletzung davongetragen hatte, war diese auf wundersame Weise fast ebenso schnell wieder verheilt, wie sie ihm zugefügt worden war. „Wie meinst du das?“, wollte Belial misstrauisch wissen. Michael spürte, wie sich sein Gesicht zu einem Lächeln verzog. „Es ist etwas, dass du nicht verstehst und auch nie verstehen wirst. Weil du dein Herz verschließt, Bruder. Weil du nicht sehen willst, was direkt vor deiner Nase ist.“ „Michael.“ Belial klang so hasserfüllt, dass Michael instinktiv zurückweichen wollte, als ihm mit einem Mal aufging, dass der Dämon nicht von ihm sprach. Langsam nickte er. „Das war es doch, was du wolltest. Der Kampf, der von Anbeginn der Zeiten geschrieben steht. Der Kampf des Lichts gegen die Dunkelheit. Der Wahrheit gegen die Lüge. Michael gegen Belial.“ „Aber du bist nicht …“ Er lächelte wieder. „Ich bin Michael.“ Belial stieß einen lauten Schrei aus und spannte sich. Michael erwartete, dass er sich ohne weitere Verzögerung auf ihn stürzen würde, doch stattdessen ging eine furchtbare Veränderung mit dem Mann vor sich. Sein wunderschönes Gesicht zerfloss und aus der eben noch makellosen Haut formten sich graue Schuppen. Seine Haare wichen zurück und aus dem kahlen Schädel schossen vier gekrümmte Hörner hervor. Sein Mund wurde zu einem klaffenden Maul, das vor spitzen Zähnen nur so strotzte. Eine gespaltene Zunge schoss dazwischen hervor, als die Kreatur, zu der Belial geworden war, zischend fauchte. „Dasss Sspiel issst ausss“, zischelte sie. „Jetzzt wirsst du ssterben.“ Mit unmenschlicher Geschwindigkeit schoss das groteske Halbwesen auf ihn zu und dieses Mal war Michael zu langsam. Belials inzwischen mit langen Klauen besetzte Hand schloss sich um seinen Hals. Erbarmungslos pressten sich die Krallen in die empfindliche Haut seiner Kehle. Er spürte warmes Blut daran entlang fließen. „Ich werde dich töten“, versprach der Dämon und erhöhte den Druck. Bunte Punkte erschienen vor Michaels Augen. „Nein, wirst du nicht“, würgte er mühsam hervor. Seine Finger schlossen sich um den Griff von Angelos Schwert, den er schon die ganze Zeit gespürt hatte. Nein, nicht Angelos Schwert. Michaels Schwert, verstand er plötzlich und wusste, was er zu tun hatte. Mit einer präzisen Bewegung zog er die blitzende Klinge hervor und bohrte sie an die Stelle von Belials Brustkorb, an der sein Herz sitzen musste. Der Dämon lachte nur. „Dein lächerlichess Sspielzzeug kann mich nicht verletzzen.“ „Das vielleicht nicht. Aber es kann dich trotzdem töten. Denn wisse, dass das hier das Schwert ist, das den Drachen vom Himmel holte.“ Die Erkenntnis, die auf Belials Gesicht erschien, kam Bruchteile von Sekunden zu spät. Die Waffe in Michaels Hand hatte bereits zu glühen begonnen. Eine blauweiße Flamme sprang über das silberne Metall direkt in den Körper des Dämons, der gequält aufjaulte. Er öffnete den Mund zu einem tonlosen Schrei, während mehr und mehr des Engelsfeuers in seinen Körper floss, ihn von innen heraus zerfraß und schließlich explodieren ließ. Geblendet schloss Michael die Augen, als die freiwerdende Energie in einer gewaltigen Welle durch die gesamte Halle raste. Die ohnehin schon instabilen Wände begannen zu schwanken, als die Explosion ihr Echo in den Tiefen der Erde fand. Der Boden unter ihm bäumte sich auf, Steine fielen von der Decke. Dieses Mal waren auch größeren Brocken darunter. Einer von ihnen stürzte zu Boden und ließ Michael die Vibrationen des Aufpralls spüren. Was immer auch das Gebäude bisher intakt gehalten hatte, war offenbar endgültig zusammen gebrochen. Er musste hier so schnell wie möglich raus. Sein Blick fiel auf den schmalen Körper, der ein Stück weit von ihm auf dem Boden lag. Ein Schmerz, so heftig, das Michael es sich nicht erklären konnte, raste durch seine Brust. Nimm ihn mit, flüsterte eine Stimme in seinem Inneren. Er hat Besseres verdient als das hier. Ein Teil von ihm bezweifelte das, aber ein anderer übernahm einfach die Kontrolle, ging zu Alejandros Leichnam und hob ihn auf. „Wenigstens wiegt der Kerl nichts“, knurrte er, bevor er die Treppe hinaufeilte, die vor ihm schon Gabriella und Crystal genommen hatte. Seine größte Sorge galt jetzt seiner Frau, die hoffentlich mehr Glück gehabt hatte auf ihrem Weg nach draußen. Immer wieder musste er sein Gleichgewicht ausbalancieren, wenn die zunehmenden Bodenbewegungen ihn erneut von den Füßen reißen wollten. Selbst das geringe Gewicht auf seinen Armen begann an ihm zu zerren, als würde es mit jedem Schritt schwerer werden. Komm schon, nicht schlappmachen, spornte er sich selber an und sprang über einen tiefen Riss, der mitten durch die in Trümmern liegende Eingangshalle verlief. Darin konnte er ein unheimliches Leuchten sehen, das näher und näher kam. Gleichzeitig stieg die Temperatur stetig an. Er wartete jedoch nicht ab, was der glühenden Klauenhand aus flüssigem Stein und Lava folgen mochte, die sich jetzt über den Rand schob. Was immer da auch aus der Erde hervorgekrochen kam, er wollte es nicht kennenlernen. Eilig stieß er die ramponierte Vordertür auf und stolperte ins Freie. Dort herrschte immer noch dasselbe, eigenartige Zwielicht wie zuvor, doch etwas hatte sich daran verändert. Sturmwolken jagten über den Himmel und Blitze zuckten dazwischen heraus. Das alles geschah vollkommen lautlos und ließ Michael nur umso mehr erschauern. Hier bricht alles zusammen. Er konnte nur vermuten, dass das mit Belials Tod zusammenhing. Die Macht des Zaubers, mit dem er diesen Ort erschaffen hatte, schwand. Schon stürzten die ersten Erker des Hauses vom Dach und bohrten sich nur wenige Meter neben Michael in den Sand. „Gabriella!“ Er hatte das Gefühl, dass seine Stimme von der unwirklichen Luft verschluckt und fortgerissen wurde, noch bevor sie seinen Mund verlassen hatte. „Wo bist du?“ Unversehens bebte die Erde wieder und brachte ihn beinahe dazu, in die Knie zu gehen. Ein weiterer Erdspalt tat sich auf und der gezackte Riss lief weiter und weiter, bis er kurz vor Michaels Füßen endete. „Das war knapp“, murmelte er und mochte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er sich wohl hätte auf das verfluchte Gras retten müssen, dass nur wenige Zentimeter hinter ihm begann und scheinbar gierig die Halme nach ihm ausstreckte. Er hatte jedoch keine Zeit mehr, sich darüber Gedanken zu machen, denn plötzlich sah er seine Frau verstrickt in einen Kampf mit diesen widerlichen Kreaturen, die Angelo „Gargoyles“ genannt hatte. Sie wehrte gerade eines der fliegenden Wesen mit einem Holzstück ab, das sie schließlich auf dessen steinernem Kopf zertrümmerte. Der Gargoyle stürzte ab, nur um gleich darauf von einem weiteren ersetzt zu werden. Jetzt jedoch war Gabriella waffenlos. „Nimm deine dreckigen Pfoten von ihr!“ Michael überlegte nicht lange, bevor er den Leichnam aus seinen Armen zu Boden gleiten ließ, ein weiteres Mal das Schwert hervorzog und sich auf die geflügelten Angreifer stürzte. Ein gezielter Streich beraubte einen von ihnen ihrer Schwingen, woraufhin er wie ein sprichwörtlicher Stein vom Himmel fiel und in tausend Stücke zerbarst, während er dem anderen einfach den hässlichen Kopf abschnitt. Auch er stürzte zu Boden und zersplitterte. „Na endlich, die Kavallerie. Wurde aber auch Zeit.“ Crystal grinste ihn an und stach mit einer Art Lanze nach dem Gargoyle, der gerade versuchte, sie zu packen und in die Luft zu heben. Direkt hinter ihr stand ein ziemlich verschmiert aussehender Marcus, der sich mit einer stachelbewehrten Keule gegen die fliegenden Biester zur Wehr setzte. Als er Michael sah und was er in Händen hielt, wurden seine Augen groß. „Das ist Angelos Schwert.“ „Er hat’s mir ausgeliehen“, erwiderte Michael und erlöste zwei weitere Gargoyles von ihrem Schicksal. „Wo ist er?“ „Längere Geschichte. Erst mal sollten wir hier weg.“ „Ach echt?“, schnaufte Crystal und wischte sich ihre reichlich zerzauste, violette Strähne aus dem Gesicht. „So weit waren wir auch schon. Aber wir haben da ein kleines Problem. Oder auch ein größeres. Und zwar viele davon.“ Sie wies hinter sich. Michaels Blick folgte ihrer Geste und erschrak. Vor ihm wogte ein Meer aus tentakelbesetzten Riesenquallen, die sich einer lebendigen Mauer gleich auf sie zuschoben. Doch das war noch nicht alles. Am Himmel über den leuchtenden Kreaturen war schlichtweg die Hölle los. Immer mehr und mehr Blitze zuckten über die unveränderliche graue Fläche und mehr als einmal schien einer von ihnen plötzlich in der Luft stehen zu bleiben. Es sah aus wie … „Risse.“ Er blinzelte und sah noch einmal genau hin, aber der Eindruck blieb. Der Himmel war kurz davor zu kollabieren. Er sah zurück und wurde gerade noch Zeuge, wie das einst so prächtige Herrenhaus in sich zusammenfiel. Die Überreste verschwanden in einem riesigen, glühenden Schlund, an dessen Rand reptilienartige Wesen aus flüssigem Stein herumkrochen. Sie waren gefangen zwischen den Kreaturen des Himmels und der Erde. Jetzt konnte ihnen nur noch ein Wunder helfen. „Schnell, zu mir!“, rief Michael einem plötzlichen Einfall folgend und hob das Schwert in die Luft. Bitte mach, dass das funktioniert. Er betete und schloss die Augen. Ein Krachen ertönte. Das Zerbrechen dieser Welt stand kurz bevor. Ich muss sie beschützen. Das Bild des leuchtenden Schildes, den Angelo beschworen hatte, entstand vor seinem inneren Auge. Genau das brauchte er jetzt. Einen Schild, das sie alle davor bewahrte, mit in den Abgrund gerissen zu werden. Einen Schild. „Hilf mir“, flüsterte er und spürte, wie seine Bitte erhört wurde. Kapitel 32: Was am Ende bleibt ------------------------------ Ein Lichtstrahl zerbrach den Himmel. Wie ein leuchtender Pfeil zog er seine Bahn und ging inmitten der Medusen nieder. Ein zweiter folgte, ein dritter, vierter, fünfter. Immer mehr der goldenen Speerspitzen durchstießen die Finsternis, die Stille, die Hoffnungslosigkeit. Durch die Reihen der gigantischen Himmelswesen ging ein Aufruhr. Explosionen blitzen zwischen ihnen auf wie ein Gewitter unter dem Meer. Eine Fackel, die in der rauschende Tiefe verschwand und dort nicht etwa verlöschte, sondern anfing heller und heller zu brennen, bis schließlich die erste der monströsen Quallen zu Boden ging. Wie in Zeitlupe neigte sich der riesige, durchscheinende Leib der Erde entgegen und als er sie endlich berührte und den Sand der toten Wüste aufwühlte, glaubte Michael, nie etwas Schöneres gesehen zu haben. Eine weitere Meduse wurde von der unbekannten Kraft zu Fall gebracht und dann noch eine. Und immer noch kamen die Lichtstrahlen. „Seht!“ Gabriella deutete zu der Stelle, wo einst Belials Haus gestanden hatte. Michael senkte das Schwert und drehte sich um. Zwischen den Ruinen des Anwesens, in denen die unheimlichen Lavamonster herumkrochen, war ein Kampf entbrannt. Jetzt endlich konnte Michael sehen, was oder vielmehr wer sich ihren Gegnern in den Weg stellte. „Sind das …“ „Engel“, hauchte Crystal. Sie rückte näher an Marcus heran, der, wohl ohne es wirklich zu merken, den Arm um sie legte. Gemeinsam starrten sie zu den goldglänzenden Kriegern, die kurzen Prozess mit den feurigen Echsen machten. Eine nach der anderen wurden sie entweder niedergemäht oder zurück in den Höllenschlund geworfen, aus dem sie gekrochen waren. Auch die Reihen der Himmelsquallen lichteten sich nach und nach, wenngleich auch ungleich langsamer. Michael wollte schon aufatmen, als einer der Lichtstrahlen in unmittelbarer Nähe den Boden berührte. Als das Licht verging, ließ es die Gestalt eines Mannes zurück. Eines Mannes, der in ihre Richtung sah. „Iek“, machte Crystal und wich ein Stück zurück. Michael konnte es ihr nicht verdenken. Das, war er dort sah, war schrecklich und schön zugleich.   Der Mann, der in eine leichte, goldglänzende Rüstung gehüllt war, sah sie unverwandt an. Trotz der Panzerung, die sowohl seinen Körper, wie auch seine Arme und Beine schützte, trug er keinen Helm. Stattdessen wurden seine langen, dunkelblonden Haare von einem goldenen Reif zurückgehalten. Er wirkte wie ein Krieger und gleichzeitig wie jemand, der diese Bürde nur ungern trug. Seine Gesichtszüge waren weicher, als Michael es von einem Feldherrn erwartet hätte. Je länger er hinsah, desto gütiger wirkte er und auf einmal wusste Michael, wen er vor sich hatte. Ein einzelnes Wort fiel von seinen Lippen. „Gabriel.“ Der Engel, dessen Blick immer noch unverwandt auf ihm lag, nickte langsam. „Du hast um Hilfe gebeten. Ich habe geantwortet.“ Michael spürte den Drang, einen Schritt auf den Mann zuzugehen. Ihn in die Arme zu schließen und ihm auf die Schulter zu klopfen. Ihn zu begrüßen wie einen alten Bekannten und Freund. Gleichzeitig hatte er das dumme Gefühl, sich vor ihm verneigen oder ehrfürchtig auf die Knie fallen zu müssen. Dieser Tumult in seinem Inneren führte dazu, dass er stocksteif dastand und sich nicht rühren konnte. Die hellen Brauen des Engels furchten sich leicht. „ Wo ist er?“ Es brauchte keine Erklärung, nach wem er sich erkundigte. „Das ist … ein wenig kompliziert“, gestand Michael. „Er ist fort. Oder nicht wirklich. Er ist in mir. Er gibt das irgendeinen Sinn für dich?“ „Mhm“, machte der Engel. Er kam einen Schritt näher. Michael hielt den Atem an. Die graublauen Augen des Kriegers musterten ihm und ihr Blick war ebenso intensiv wie der, mit dem Angelo ihn immer angesehen hatte. Nur dass dieses Wesen eine Aura ungleich größerer Macht umgab. Einer Macht, die Michael beinahe aufstöhnen ließ. „Wie ist das möglich?“, murmelte der Engel, den Michael immer noch zögerte mit seinem Namen anzusprechen. Ja, ihn überhaupt nur zu denken. „Du bist es und auch wieder nicht.“ „Wir haben gekämpft. Belial … er steckt hinter all dem hier.“ „Der Herr der Lügen? Wo ist er?“ „Ich habe ihn getötet.“ Wie zum Beweis hob Michael das Schwert und reichte es Gabriel. Der nahm es entgegen und betrachtete die Waffe einige Augenblick lang. Anschließend richtete sich sein Blick auf die kleine Gruppe, die hinter Michael stand. Seine Gesichtszüge wurden härter. „Du hast noch etwas vergessen“, sagte er. „Dieser dort, der Engelsblut in sich trägt, und diese, die aus dem Vermächtnis der Lilith stammt. Warum hast du sie verschont?“ Bevor Michael antworten konnte, trat Gabriella vor. „Marcus und Crystal sind unsere Freunde. Sie haben uns geholfen, diese Abenteuer zu bestehen. Ohne sie wären wir jetzt nicht hier.“ Der Engel neigte den Kopf ein wenig, um die Frau anzusehen, die sich ihm da so dreist in den Weg stellte. „Ich kenne dich“, meinte er nach einigen Augenblicken, die Michael wie Stunden vorkamen. „Du wurdest unter meinen Schutz gestellt. Und ich sehe, dass du denkst, die Wahrheit zu sagen. Dies alles scheint Teil einer längeren Geschichte zu sein.“ Gabriella versuchte ein Lächeln. „Das ist es. Wenn du erlaubst, würden wir sie dir gerne erzählen.“ Gabriel überlegte, bevor er den Kopf schüttelte. „Dies ist nicht die Aufgabe, für die ich gekommen bin. Meine Aufgabe lautet, den Verräter zu finden und in Gewahrsam zu nehmen.“ Erneut drehte er sich zu Michael um und der verstand plötzlich. „Aber Ang… er hat euch nicht verraten. Er kam hierher, um uns zu retten. Wie kann das ein Verrat sein?“ „Es war nicht seine Aufgabe.“ „Und doch etwas, das getan werden musste, wenn die Schöpfung nicht einen sinnlosen Tod sterben sollte. Ich mag gegen den Willen unseres Vaters gehandelt haben, aber ich bin der Überzeugung, dass es notwendig war. Wenn du musst, bring mich zu ihm. Dann werde ich selbst mit ihm sprechen und mich seinem Urteil beugen.“ Michael staunte über die Worte, die er ohne sein Dazutun von sich gab. Wie konnte er es wagen, so mit Gabriel zu sprechen? Der Engel wäre mit Leichtigkeit in der Lage gewesen, sie alle auszulöschen. Trotzdem zögerte er sichtlich. „Wie?“, fragte er und blickte Michael unverwandt an. „Du weißt wie.“ Erneut kam Michaels Antwort, ohne dass er das Gesagte beeinflussen konnte. Gabriel nickte langsam. „So sei es.“ Er hob das Schwert und setzte die Spitze auf Michaels Brust. Der hielt erschrocken den Atem an, als sein Gegenüber zu sprechen begann. „Exorcizo te, immundissime spiritus …“ Etwas passierte. Michael konnte es fühlen. Die fremdartigen Worte waren wie eine Klinge, die tief in sein Inneres fuhr. Er zuckte, als heißer Schmerz durch seinen Geist schnitt. „Omnis incursio adversarii, omne phantasma …“ Nein …. nein, nein, nein, nein nein. Das durfte er nicht. Das konnte er nicht machen. Michael wollte schreien. Wollte Gabriel anflehen, damit er aufhörte, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Er war gefangen in der uralten Magie der Formel, die unaufhörlich weiter in ihn vordrang und ihn auseinanderriss. „Omnis legio, in nomine Domini nostri …“ Er wand sich, er wehrte sich. Wollte die Kräfte zurückdrängen, die versuchten, seine Seele in zwei Hälften zu spalten. Er durfte das nicht zulassen. Wenn er das tat, würden sie beide sterben. Er musste ihn beschützen. 'Michael', flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. 'Vertrau mir und lass los. Ich bitte dich. Lass mich gehen.' 'Nein', schrie er zurück und kämpfte gegen sein eigenes Ich. 'Ich lasse dich nicht los. Ich beschütze dich. Deswegen bist du doch zu mir gekommen. Damit ich dich beschütze.' 'Du hast alles getan, Michael. Lass jetzt los. Du musst mich gehen lassen.' 'NEIN!' Wie im Wahn klammerte er sich an das Gefühl, das durch seinen Geist toste. Er wusste, wenn er ihn losließ, würde etwas Schreckliches geschehen. Er würde sterben. Vergehen. Verglühen wie ein Funke, der in die Nacht hinausschwebte und noch einmal aufleuchtete, bevor er für immer erlosch. Ein letzter Lichtstrahl, bevor die Finsternis eintrat. Er würde ihn nicht gehen lassen. Niemals. Doch je länger es dauerte, desto mehr spürte er, wie sein Griff schwand. Wie ein Finger nach dem anderen seiner Hand entglitt, bis die Verbindung sich schließlich löste. Bis es unwiederbringlich vorbei war.   „NEIN!“ Die Worte entkamen jetzt wieder aus seinem Mund, als die Starre, die ihn befallen hatte, verschwand. Er fiel auf die Knie. Ein Aufschrei begleitete seinen Sturz. Schmale Hände griffen nach ihm und als er den Kopf hob, sah er in Gabriellas tränenüberströmtes Gesicht. „Michael“, flüsterte sie und sah dabei so verzweifelt aus, dass es ihm das Herz abdrückte. „Ich dachte, ich hätte dich verloren.“ „Was …?“ Er stockte, als er sich der Reihen goldgerüsteter Krieger bewusst wurde, die sich um ihn versammelt hatten. Sie bildeten einen perfekten Kreis um die kleine Gruppe herum. Wann waren sie hierher gekommen? Wann hatten sie die restlichen Medusen zu Fall gebracht? Die letzte Echse besiegt? Wann war der Schlachtlärm verstummt und hatte wieder die tonlose Stille hinterlassen, in der sein Schrei immer noch nachzuhallen schien wie ein geisterhaftes Echo? „Es war schrecklich“, schluchzte Gabriella. „Er hat … er …“ Gabriel, der mit stoischer Miene vor ihm stand, senkte das Schwert. Der blaue Stein am Griff glomm ein letztes Mal auf, bevor der Schein erstarb und die Wirkung des Zaubers endgültig verflog. „Der Exorzismus war erfolgreich“, verkündete er mit tonloser Stimme. „Der unreine Geist beherrscht nicht mehr deinen Körper.“ „Unreiner … Geist?“ Michael hörte die Worte, aber sein Verstand weigerte sich, sie zu begreifen. „Wie kannst du das sagen? Angelo war nicht … Er war mein Freund.“ Mein Geliebter. „Und ich hoffe, ich bin es immer noch.“ Erschrocken fuhr Michael herum und starrte die leuchtende Gestalt an, die inmitten des Bannkreises stand, den jemand in den Sand geschrieben hatte. Magische Symbole glühten rund um sie herum auf und goldglänzende Ketten wanden sich um ihre Glieder. Sie lächelte leicht. „Angelo!“ So schnell es ihm möglich war, kam Michael auf die Füße und wankte auf den Engel zu, der jetzt gefangen von Seinesgleichen nur noch ein Schatten seiner Selbst war. Durch ihn hindurch konnte Michael den Wüstensand sehen. „Du bist …“ „Ein Geist. Oder etwas in der Art. Es ist nicht mehr genug von mir übrig, um mir einen Körper zu geben. Selbst diese Form zu erhalten ist ein wenig ermüdend.“ Das goldene Leuchten flackerte kurz, bevor Angelo sich wieder in der Gewalt hatte. „Aber dann …“ „Ich werde heilen. Oder vergehen. Das zu entscheiden steht nicht mehr in meiner Macht.“ „Aber du bist …“ Michael verstummte. Alles, was er hatte sagen wollen, erschien ihm mit einem Mal lächerlich. Was wusste er denn schon? Er hatte ja nicht einmal erkannt, wen er vor sich gehabt hatte. „Du bist …“, hub er erneut an. „Du bist Michael, nicht wahr? Also der Michael. Bist es die ganze Zeit gewesen.“ „So scheint es wohl, auch wenn ich dir versichere, dass ich das nicht wusste. Ich hatte mich schlichtweg selbst vergessen.“ „Wie konnte das passieren?“ Angelos Lächeln wurde traurig. „Es ist nur ein Name. Er ist … nicht von Bedeutung.“ „Du lügst.“ Michael war sich plötzlich so sicher, wie er sich noch nie wegen irgendetwas sicher gewesen war. „Du wagst es mir ins Gesicht zu sehen und mich so anzulügen? Nach all dem? Ich habe gesehen, wie erschüttert du warst, als es dir klar wurde. Es war diese Geschichte, die Belial erzählt hat, nicht wahr? Durch sie hast du erkannt, wer du wirklich bist. Nicht irgendein Engel, sondern der verdammt nochmal mächtigste Scheißerzengel, der da oben rumfliegt.“ Mit der Zeit war Michael immer lauter geworden und am Ende hatte er geschrien. Er sah, wie Gabriella erschrocken die Hand vor den Mund schlug und auch Crystal und Marcus rückten ein wenig von ihm ab. Einzig Gabriel beobachtete ihn ohne jegliche Gefühlsregung. Sein Anblick machte Michael nur noch rasender, weil er wusste, dass Angelo einst genauso gewesen war. Er ballte die Hände zu Fäusten. „Was hast du dir denn dabei gedacht?“, herrschte er den gefangenen Engel an. „Dass du dir mal eben die Flügel abschneidest und hier runterkommst und die Welt rettest? Hast du dir eigentlich überlegt, was passiert wäre, wenn die Dämonen dich tatsächlich mitgenommen hätten? Du hättest der dunklen Seite einen neuen, nahezu unbesiegbaren Champion geliefert. Auf einem verdammten Silbertablett. Der ganze Plan, von dem du immer gefaselt hast, war ein einziges Vabanquespiel, nur darauf aufgebaut, dass du vielleicht irgendwo den entscheidenden Hinweis erhältst, der dich möglicherweise in die richtige Richtung führt, damit du dort unter ganz besonderen, nicht sehr wahrscheinlichen Umständen dann eventuell doch noch den Weltuntergang aufhalten kannst. Und komm mir nicht damit, dass dich jemand geschickt hat. Den verdammten Erzengel Michael schickt niemand außer dem Allmächtigen höchstpersönlich. Und wage es nicht mich zu fragen, woher ich das alles weiß. Ich war DU verdammt nochmal, und ich kenne all deine kleinen Geheimnisse. Du hast mich angelogen und zwar von Anfang an.“ Schwer atmend stand Michael vor Angelo und hätte ihn am liebsten geschlagen. Fest geschlagen, damit er wusste, dass es ihm mit jedem, aber auch wirklich jedem verdammten Wort von dem, was er gerade gesagt hatte, ernst gewesen war. Und es war ihm wirklich scheißegal, dass er gerade im Angesicht des wohlgemerkt zweitmächtigsten aller Engel herumgeflucht hatte wie ein Droschkenkutscher. Er war so verdammt wütend auf Angelo, dass er nicht einmal mehr dessen Anblick ertrug. „Ich bin fertig mit dir“, knurrte er und war versucht auf den Boden zu spucken. „Meinetwegen können sie dich mitnehmen und irgendwo anbinden, bis du schwarz wirst. Ist mir egal.“ Abrupt drehte er sich um und wollte wütend in irgendeine Richtung davonstapfen – im Stillen hoffte er, dass einer der gesichtslosen Engel ihm einen Grund gegen würde, wenigstens ihn zu schlagen – als er Angelos leise Stimme hörte. „Michael, bitte warte. Es … es tut mir leid.“ Michael blieb stehen. „Was tut dir leid?“ „Dass ich dich so enttäuscht habe.“ „Enttäuscht?“ „Ich wollte nicht, dass es so kommt. Ich … mein Plan war ein anderer. Ich wollte nie …“ „Dein Plan?“ Michael musste sich beherrschen, um nicht laut aufzulachen. „Was genau war denn dein Plan? Das musst du mir mal erklären. Was genau hat dich zu dieser absolut hirnrissigen Aktion verleitet? Und warum musstest du mich mit dort hineinziehen. Hättest du dir nicht irgendeinen anderen Dummen suchen können, der für dich den Hampelmann spielt? Es gibt doch bestimmt jede Menge Gläubige, die gerne zu deiner Schachfigur hätten werden wollen. Warum bist du ausgerechnet zu mir gekommen? Oder war das auch nur ein Versehen?“ Angelo schwieg eine Weile, bevor er leise sagte: „Das glaubst du? Dass es alles nur ein Zufall war?“ Michael schnaubte nur. „Was soll ich denn sonst glauben? Im Endeffekt warst es doch du, der Belial getötet hat. Ich war nicht mehr als deine willige Hülle.“ „Michael!“ Gabriella drängte sich in sein Sichtfeld, das seltsam verschwommen war. „Siehst du denn nicht, was du ihm antust? Er leidet. Und du hast nichts Besseres zu tun, als wieder einmal deiner Wut über deine eigene Hilflosigkeit nachzugeben. Mach die Augen auf und sieht hin. Dann erkennst du vielleicht, dass du ihm Unrecht tust.“ Michael schloss die Augen und atmete tief durch, bevor er sich langsam wieder zu Angelo herumdrehte. Der stand immer noch in dem goldenen Kreis. In seinen Augen stand ein tiefer Schmerz. Der Anblick ließ Michael schwer schlucken. „Also schön. Erzähl es mir. Von Anfang an. Und wehe du lässt etwas aus.“ Ergeben senkte Angelo den Kopf. „Ich … also gut. Ich werde versuchen, es dir zu erklären.“ Für einen Moment flackerte Angelos Gestalt erneut, bevor er leise zu sprechen begann.   „Als ich gerufen wurde und Er mir verkündete, dass er die Welt beenden wolle, war ich tief bestürzt. Ich dachte an all die Leben, die damit zerstört werden würden. Fragte, ob ich nicht etwas tun könne. Ob es einen Feind gäbe, den es zu bekämpfen gälte. Ein Heilmittel für das, was die Schöpfung bedrohe. Er jedoch antwortete mir, dass jegliche Bemühungen, das Problem auf diese Weise aufzuhalten, es nur noch verschlimmern würden. Ich solle gehen und tun, was er mir befohlen hatte. Als ich ihn verließ, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich konnte nicht glauben, welch furchtbaren Auftrag ich gerade erhalten hatte. Um mich zu sammeln und zu beruhigen tat ich, was ich oft tue. Ich beobachtete die Leben der Sterblichen. Ich hoffe, das klingt jetzt nicht überheblich, aber sie bei ihren alltäglichen Problemen zu betrachten, erschien mir tröstlich in Anbetracht des Ende aller Tage, das auch sie für immer auslöschen würde. Während ich so auf sie hinabsah, begriff ich jedoch urplötzlich, wie falsch ich lag. Das Problem konnte nicht in einem großen, übermächtigen Gegner begründet sein. Wenn ja, wären wir wie so oft in der Lage gewesen, ihn aufzuhalten. Es musste irgendwo dort unten verborgen sein zwischen all diesen winzigen Wesen, über die man in Anbetracht göttlicher Allmacht nur allzu leicht hinwegsehen konnte. Zumindest hoffte ich das, denn die Alternative war einfach zu schrecklich, um sie wirklich in Betracht zu ziehen. Aber was sollte ich tun? Wo sollte ich anfangen zu suchen? Erneut wollte ich mich an unseren Vater wenden, wollte ihm von meiner Idee erzählen, doch er ließ mich nicht zu sich. Ich weiß nicht, warum er sich von mir zurückzog. Vielleicht war auch er von der Trauer überwältigt worden. Einsam und auf mich gestellt entschloss ich mich, auf eigene Faust zu handeln. Mir war klar, dass ich damit gegen das Gesetz verstieß, doch ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen. Also schlich ich mich in aller Heimlichkeit weg und …“ Angelo verstummte. Michael sah, dass sein Blick zu Gabriel gewandert war. Mit einem Mal verstand er, dass Angelo bei seinem Weggang auch ihn verraten hatte. Er konnte zwar nur erahnen, in was für einer Beziehung die beide Engel zueinander standen, aber die Tatsache, dass sie oft genug in einem Atemzug genannt wurden, sprach für eine engere Bindung. Als Gabriel jedoch keine Regung zeigte, fuhr Angelo schließlich fort, auch wenn er jetzt noch leiser sprach als zuvor. „Ich wusste, dass ich gefunden werden würde, wenn ich meine Kräfte behielt. Ich musste unsichtbar werden, wenn ich Erfolg haben wollte. Daher entschloss ich mich zu fallen und dabei mehr von meiner Macht aufzugeben, als es jemals ein Engel getan hatte. Wenn ich gewusst hätte, dass ich allein mit dieser Überlegung der Lösung des Problems schon so nahe gekommen war … Im Nachhinein kann ich nur den Kopf darüber schütteln, was für ein Tor ich gewesen bin.“ Wieder verstummt Angelo, offenbar überwältigt von der Verzweiflung über seine eigen Dummheit. Michael konnte es ihm nicht verübeln. In Anbetracht so viel göttlicher Weisheit erschien seine Entscheidung wirklich nicht besonders klug. Trotzdem gab es da noch etwas, dass er wissen musste. „Und wieso kamst du dann ausgerechnet zu mir?“ „Nun … das war tatsächlich eine Art Glücksspiel. Ich hatte dich schon früher beobachtet. Ich wusste um deine Vergangenheit. Dass ein Dämon deinen Freund getötet hatte und dass die Umstände seines Tods nie vollkommen entschlüsselt worden waren. Rund um diesen Vorfall gab es noch eine Reihe weiterer Vorkommnisse, deren Aufklärung uns nie ganz gelungen war. Es war … nenn es Intuition, aber ich hatte das Gefühl, dass du ein guter Startpunkt für meine Nachforschungen sein konntest. Ich war auf der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen und du schienst mir ein kleines Aufblitzen zu sein, das vermutlich nur mir aufgefallen war. Immerhin warst du durch deinen Namen unter meinen Schutz gestellt worden. Ich beschloss, mit meiner Suche bei dir zu beginnen.“ „Und das war alles?“ Michael versuchte, die Enttäuschung aus seiner Stimme herauszuhalten, aber es gelang ihm nicht so recht. „Es lag also im Grunde genommen nur an Jeff, dass du zu mir gekommen bist. Michael heißen schließlich viele Leute.“ Er sah Angelo an, doch der wirkte nicht im Mindesten schuldbewusst. Im Gegenteil. Er lächelte. „Es war nicht nur das. Du hast außerdem eine Gabe, Michael. Ich sagte dir bereits, dass ein Engel den Verlust der göttlichen Liebe nur schwer verkraftet. Ich brauchte jemanden, der in der Lage war, mir den Halt zu geben, den ich brauchte, um nicht dem Wahn der andere Gefallenen anheimzufallen. Du hast ein gutes Herz, Michael. Ein großes Herz. Du kümmerst dich um die Schwachen und die, die du liebst. Ich war mir sicher, dass, wenn ich zu dir käme, du dich meiner annehmen würdest. Dass du nicht vorbeigehen und wegsehen würdest, wie so viele andere es getan hätten. Ich wusste einfach, dass ich auf dich zählen kann.“ Er lachte plötzlich. „Auch wenn im Nachhinein gesehen die Planung vielleicht etwas besser hätte sein können. Ein Rouletterad an der richtigen Stelle anzuhalten ist selbst mit göttlichen Kräften gar nicht so einfach.“ Michael blinzelte verblüfft. „Ein Rouletterad? Das heißt … du hast dafür gesorgt, dass ich an dem Abend gewonnen habe?“ „Eigentlich habe ich eher dafür gesorgt, dass du verloren hast.“ Angelo sah ehrlich zerknirscht aus. „Ich wollte sichergehen, dass du das Casino so schnell wie möglich verlässt und dich in eine der Bars begibst. Leider hat das beim letzten Mal nicht wirklich gut funktioniert und nachdem du diesen großen Gewinn eingestrichen hattest, konnte ich nur noch hoffen, dass mein Plan trotzdem aufgehen würde. Allerdings bin ich, wie wir beide ja wissen, nie im 'Malibu' angekommen.“ Michael schnappte nach Luft. „Du wolltest mich wirklich in dieser Bar …? Also das … das ist …“ „Ja?“ „Das ist der dümmste Plan, den ich je gehört habe. Warum bist du nicht einfach ins Casino gekommen?“ „Weil du dich dort nicht auf ein Gespräch mit mir eingelassen hättest. Genauso wenig wie ich dich irgendwo außerhalb von Las Vegas hätte ansprechen können. Dich in dieser Bar abzufangen erschien mir die beste Möglichkeit, mit dir in Kontakt zu treten.“ „Das ist …“ Michael klappte den Mund auf und wieder zu. Was Angelo gesagt hatte, entsprach den Tatsachen. Allerdings fand er es noch viel ungeheuerlicher, dass dieser verrückte Kerl, von dem er inzwischen ja immerhin wusste, dass es sich um den leibhaftigen Erzengel Michael handelte, tatsächlich vorgehabt hatte, ihn in einer Gaybar abzuschleppen. Wobei er ihm zugutehalten musste, dass seine Chancen, wenn er ihm dort begegnet wäre, tatsächlich nicht schlecht gewesen wären. Er seufzte. Mit einem Mal fühlte er sich vollkommen erschöpft. All die Anspannung fiel von ihm ab und ließ lediglich eine dumpfe Leere zurück. Das und die Ungewissheit, wie es jetzt weitergehen sollte. „Was geschieht jetzt mit uns?“ Michael war sich nicht sicher, ob er diese Frage an Angelo oder an Gabriel richten musste, somit sah er beide an. Es war Gabriel, der ihm schließlich antwortete. „Ihr Menschen werdet an euren Heimatort zurückkehren und Stillschweigen über das bewahren, was euch widerfahren ist. Solltet ihr das nicht tun, werden wir wiederkommen. Michael war in Versuchung ihm zu sagen, dass er wie Arnold Schwarzenegger in „Terminator“ klang, aber dann ließ er es lieber bleiben. Gabriel sah nicht aus wie jemand, dem dieser Vergleich gefallen hätte. Stattdessen wies er auf Marcus und Crystal. „Was ist mit unseren beiden Freunden?“ „Die Entscheidung über ihr Schicksal wird nicht hier gefällt werden. Wir werden sie zunächst in Gewahrsam nehmen, bevor über sie gerichtet wird.“ „Dann will ich aber einen Anwalt. Und jemanden anrufen.“ Crystal hatte es anscheinend nicht mehr ausgehalten, die ganze Zeit den Mund zu halten. Marcus funkelte sie wütend an. „Das hier ist kein Spaß.“ „Na was denn, da hab ich auch schon kapiert“, schnaubte der Sukkubus. „Aber was bleibt mir denn anderes übrig außer ein bisschen Galgenhumor? Da rettet man die Welt und was ist der Dank dafür? Nichts als Ärger und goldene Handschellen. Kein Wunder, dass denen die Leute scharenweise weglaufen. Immer nur Beten und Arbeiten ist einfach Schnee von gestern. Sieh dir doch an, was sie mit dem Engelchen gemacht haben. Ich meine, der steckt in einer Dämonen-Falle. Hallo?“ Als sie das sagte, runzelte Marcus die Stirn. „Das ist wahr. Wie kann das sein? Ich dachte, die wirken nur bei Dämonen.“ Angelo senkte den Kopf. „Wie es aussieht, habe ich inzwischen genug Schuld auf mich geladen, um die Kriterien zu erfüllen.“ „Schuld?“ Michael runzelte die Stirn „ Aber als wir hierher kamen, warst du doch noch … also … da haben dich doch noch die Engelsfallen aufgehalten. Was ist passiert?“ Angelo sah ihn nicht an, sondern blickte weiter zu Boden. „Erinnerst du dich nicht“, sagte er leise. „Ich habe … ich habe für einen Moment gezweifelt. Ich wollte mich Belial anschließen, weil ich dachte, dass er vielleicht doch recht damit hatte, dass unser Vater … also, dass er … im Unrecht ist. Dass ich ihm vielleicht den Rücken gekehrt hatte, weil ich … die Sicht der Dämonen teilte. Damit habe ich eine Grenze überschritten, die ich nicht hätte überschreiten dürfen.“ „Aber du hast es doch nicht getan.“ „Manche Dinge muss man nicht tun, um ihrer schuldig zu sein. Dass nicht mehr passiert ist, habe ich allein Alejandro zu verdanken. Wenn er nicht gewesen wäre, wenn Belial ihn nicht vor meinen Augen getötet hätte, dann wäre ich … ich wäre übergelaufen, Michael. Ich war bereit dazu. Ich dachte, es wäre der einzige Weg, um euch noch zu retten. Um dich zu retten.“ Er hob den Kopf. „Würdest du mir einen Gefallen tun? Es ist auch wirklich der letzte, um den ich dich bitte.“ Michael schluckte schwer. „Welchen?“ „Sorge dafür, dass Alejandro ein ordentliches Begräbnis erhält. In heiligem Boden. Vielleicht wird er auf diese Weise in der Lage sein, Vergebung zu erhalten.“ Michael nickte langsam. „Und was ist mit deiner Vergebung? Ich meine, du hast immerhin die Welt gerettet. Ist denn das nichts wert?“ Wieder lächelte Angelo schmal. „Das Konzept gilt leider nicht für Engel. Es ist allein den Menschen vorbehalten. Ich fürchte, das hier“ , er hob die Hände mit den goldenen Ketten, „ wird jetzt mein Schicksal sein. Zudem wäre für Vergebung Reue vonnöten und ich bereue nicht, was ich getan habe. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich es wieder tun.“ Michael wollte noch etwas sagen, aber Gabriel stand mit einem Mal neben ihm und sah auf ihn herab. „Es ist an der Zeit, Mensch. Ihr müsst gehen. Wir werden diesen Ort jetzt reinigen.“ „Was bedeutet das?“ „Wir werden ihn läutern. Mit Feuer und Wasser und der Kraft des Heiligen Geistes. Ihr solltet nicht mehr hier sein, wenn das geschieht.“ Er blickte nach rechts und sofort lösten sich zwei der goldenen Krieger aus dem Verbund und nahmen neben Michael Aufstellung. Zwei weitere flankierten Gabriella und noch zwei nahmen Marcus und Crystal in ihre Mitte. Das alles passierte mit einer Präzision, die Michael erschaudern ließ. Es erinnerte ihn unangenehm an Belial. Sicherlich, diese Krieger waren schön, wo die Dämonen hässlich gewesen waren, diszipliniert, wo in Belials Truppen das Chaos geherrscht hatte, doch sie waren ebenso unnachgiebig, eben so fremdartig und ebenso grausam. Als er das erkannte, glitt sein Blick zu Angelo. Der nickte leicht, so als wollte er sagen: Ja, ich bin einer von ihnen. „Geht jetzt“, sagte Gabriel. Michael wandte sich ab. Er konnte hier nichts mehr tun. Nichts außer den letzten Wunsch zu erfüllen, den Angelo an ihn gerichtet hatte. Ohne sich um die zwei Engel an seiner Seite zu kümmern, ging er zu Alejandros Leichnam, hob ihn auf seine Arme und drehte sich dann wieder zu seiner Eskorte herum. Gabriel musterte den toten Körper. „Wer ist das?“ Michael sah, wie Angelo im Hintergrund leicht den Kopf schüttelte. Das zu erklären würde nicht Michaels Aufgabe sein. „Nur jemand, der nicht so viel Glück hatte wie wir.“ Der Erzengel nickte, die zwei Krieger nahmen wieder Aufstellung und mit einem letzten, tiefen Atemzug setzte Michael sich in Bewegung. Er wollte nicht zu Angelo hinübersehen, aber als er an ihm vorbeiging, wurde sein Blick wie magisch von der schmalen Gestalt angezogen, die immer noch festgekettet in dem goldenen Kreis stand. Ein letztes Mal noch. Ein letztes Mal wollte er in diese wunderschönen, blauen Augen sehen. Ihn ein letztes Mal halten, ein letztes Mal küssen. Doch er wusste, dass das nicht ging. Sie hatten ihren Abschied gehabt. Das hier war jetzt Sache der Engel.   Schließlich musste er den Kopf nach vorne wenden, um nicht zu stolpern. Vor ihm lag die weite, sandige Ebene der 'Zona del Silencio'. Was wohl damit geschehen würde, jetzt, da Belial nicht mehr da war? Würden die Phänomene aufhören? Die geheimnisvollen Besucher verschwinden? Würde dies hier wieder zu einem ganz normalen Stück Wüste werden, so wie es sie zu tausenden auf der Erde gab? Oder würde die Magie des Ortes auch über die Grenzen der Realität hinweg erhalten bleiben? „Woran denkst du?“, fragte Gabriella plötzlich. Sie hatte ihre Wachen hinter sich gelassen und lief jetzt direkt neben ihm. „Ich denke darüber nach, was jetzt wohl mit diesem Stück Land geschieht. Ob es wohl so ein magischer Ort bleiben wird?“ Gabriella lächelte leicht. „Ich glaube, wenn etwas einmal von göttlicher Macht berührt wurde, bleibt immer etwas davon zurück.“ Michael wollte einwenden, dass dies hier doch von einem Dämon erschaffen wurde, doch dann verstand er plötzlich und nickte. „Ich glaube, da hast du recht. Irgendetwas bleibt immer zurück.“   Hinter ihnen nahmen die Engel Aufstellung. Als der erste von ihnen, das Feuer entzündete, zuckte Michael zusammen. Er sah den leuchtenden Schein und meinte die Hitze zu fühlen, die von den gewaltigen Kräften ausging, die die himmlischen Wesen hier entfesselten. Trotzdem blieben seine Schritte fest und trugen ihn unablässig dem Ausgang entgegen. Er wusste, dass er hier nichts mehr verloren hatte. Dieser Ort würde fallen und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Die Schlacht war gewonnen, der Krieg war vorüber. Jetzt wurde es Zeit, die Toten zu begraben. Epilog: Glaube, Liebe, Hoffnung ------------------------------- Vier Wochen später.     „In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen.“ „Amen.“ Das Wort kam ganz von selbst über Michaels Lippen, obwohl er sich bei dem lateinischen Gebetstext anfangs instinktiv versteift hatte. Doch das hier war nicht irgendeine einsame Wüste, auf seiner Brust ruhte keine Schwertspitze und um ihn herum wurde keine Schlacht geschlagen. Im Gegenteil. Es war friedlich, die Vögel sangen, die Sonne schien. Es kam ihm irgendwie unpassend für eine Beerdigung vor. Hätte es nicht regnen müssen? Stattdessen standen sie hier auf dieser Wiese mit den vielen Bäumen und der malerischen Bergkette im Hintergrund. Der Platz schien wie dafür geschaffen ein Picknick zu veranstalten, wären da nicht die unzähligen Grabsteine gewesen, die in schier endlosen Reihen um sie herum standen. Es gab große und kleine, eckige und runde, graue, beige, schwarze und rötliche, welche die hoch hinausragten und welche, die nur aus einer flachen Platte im Gras bestanden. Hier und da war sogar eine Figur auf einem der Gräber errichtet worden, die mit klagend traurigem Antlitz in die Welt hinaussah. Ein Versuch, dem Toten in seiner letzten Ruhestätte noch so etwas wie Individualität mitzugeben, nahm er an. Vor einer dieser Stauen war er auf dem Weg hierher stehengeblieben. Sie hatte einen Engel mit einem Schwert in der Hand gezeigt. Heiliger Erzengel Michael, steh uns bei, hatte darunter gestanden. Und Michael hatte nur geseufzt und war dem kleinen Totenzug weiter zu der abgelegenen Grabstätte gefolgt. „Möchten Sie noch Abschied nehmen?“, fragte der Geistliche, der neben dem Grab stand. Michael schüttelte den Kopf. Ihm war warm in seinem schwarzen Anzug und, wenn er ehrlich war, war er ein bisschen froh, dass das Ganze jetzt vorbei war. Es war zwar nur ein kurzer Gottesdienst gewesen, aber die ganze Zeit auf die schwarze Urne mit dem goldenen Rand starren zu müssen, war ziemlich deprimierend gewesen. Dabei hatte der Geistliche zu leiser Orgelmusik vom Leben und dem Tod und der Auferstehung gesprochen und von Engeln, die den Toten auf die andere Seite begleiten würden. Es war eigenartig, diese Worte zu hören, jetzt, da er wusste, dass diese Wesen tatsächlich existierten. Und dass sie vermutlich Besseres zu tun hatten, als sich um die verkrüppelte Seele eines Halbdämons zu kümmern. Aber … was wusste er schon wirklich? Gabriella, die in einem schwarzen Kostüm neben ihm stand, sah zu ihm auf und lächelte leicht. Sie hatte all das hier organisiert. Wie sie den Reverend dazu bekommen hatte, eine Beerdigung für jemanden zu veranstalten, der weder Papiere noch sonst irgendwas besaß, war ihm immer noch ein Rätsel. Aber vielleicht hatten dabei tatsächlich die Engel ihre Finger im Spiel gehabt. Denn sie waren wieder da. Als er das erste Mal einen gesehen hatte, war er stocksteif stehengeblieben und hatte den Mann auf der anderen Straßenseite angestarrt wie eine Erscheinung. Woher er gewusst hatte, dass der Mann im grauen Anzug, der scheinbar teilnahmslos in einer Zeitung geblättert hatte, einer von ihnen war, wusste Michael nicht. Aber der Blick, den er ihm zugeworfen hatte, bevor er sich umgedreht hatte und einfach davongegangen war, war ihm durch Mark und Bein gefahren. Seit dem wusste er, dass sie beobachtet wurden. Subtil zwar, aber es waren einfach ein paar unauffällige Begegnungen zu viel, als dass er noch an einen Zufall glauben konnte. Sein Blick glitt zu der dritten, schwarzgekleideten Gestalt hinüber, dem einzigen weiteren Gast dieser Veranstaltung. Der junge Mann mit den immer ein wenig unordentlichen, schwarzen Haaren und der schlaksigen Gestalt, hatte die Hände ineinander verschränkt und blickte starr auf das Grab hinab. Michael wusste nicht, was Marcus gerade durch den Kopf ging. Eigentlich war er sogar ein wenig erstaunt, dass er tatsächlich gekommen war. Immerhin waren er und Alejandro nicht gerade Freunde gewesen. Marcus hatte seinetwegen viel ertragen müssen. Und doch war er hier, um diesem anderen Halbwesen die letzte Ehre zu erweisen. Vielleicht war es das, weswegen er Gabriellas Einladung gefolgt war. Die Erkenntnis, dass, würde er irgendwann auf einem Friedhof enden, wohl ebenfalls niemand zu seiner Beerdigung erscheinen würde. Obwohl … inzwischen hatte sich das vielleicht geändert. „Na komm. Feierabend für heute“, sagte Michael und legte Marcus den Arm um die Schulter. Er spürte, wie der junge Mann unter seiner Berührung zusammenzuckte, doch er ließ nicht los. Gabriella versuchte ihm zwar immer wieder zu sagen, dass das nicht die richtige Therapie war, aber Michael war da anderer Meinung. Vermutlich hätte sie ihm seine ganz persönliche Hölle heiß gemacht, wenn sie gewusst hätte, was er wirklich mit Marcus angestellt hatte an diesem ersten Abend, an dem er zu ihnen zu Besuch gekommen war. Ihm war aufgefallen, dass Marcus sich von ihm ferngehalten hatte, und so hatte er ihn irgendwann zur Rede gestellt. „Es ist nichts“, hatte Marcus behauptet, doch Michael hatte das nicht gelten lassen. Und so war Marcus irgendwann mit der Wahrheit herausgerückt. Dass ihn dieses Zusammentreffen mit Belial sehr verunsichert hatte. Dass er immer noch unter Albträumen litt. Albträume, die ihm sein Zusammensein mit dem Dämon wieder und wieder vor Augen führten; was er getan hatte und was ihm angetan worden war und vor allem aber, dass er nicht alles davon schlecht gefunden hatte. „Und jetzt befürchtest du was? Dass du zur anderen Seite überlaufen könntest?“ „Eher zum anderen Ufer“, hatte Marcus gebrummt. Michael hatte einen Moment gebraucht, bis er begriffen hatte, was Marcus meinte. Er hatte sich ein Schmunzeln verkneifen müssen. “Nur, weil du einmal mit einem Mann im Bett warst, heißt das nicht, dass du gleich schwul bist. Oder bi, denn wenn mich nicht alles täuscht, hast du ja durchaus etwas für weibliche Reize übrig.“ Zumindest wenn es um die Reize eines gewissen Sukkubus ging, der sich bei Marcus einquartiert hatte, seit die beiden von den Engeln wieder auf freien Fuß gesetzt worden waren. „Das hat Crystal auch gesagt“, hatte Marcus geseufzt und noch einen Schluck von dem Bier genommen, das Michael ihm aufgenötigt hatte. „Sie hat sogar gemeint, ich solle es doch einfach mal ausprobieren. Sie wäre mir auch dabei behilflich, einen geeigneten Kandidaten auszusuchen. Als wenn ich ...“ In dem Moment hatte sich Michael zu Marcus herübergebeugt und hatte ihn geküsst. Hart und mitten auf den Mund. Zuerst hatte Marcus sich gewehrt, doch dann hatte er einsehen müssen, dass er nicht gegen Michael ankam. Also hatte er es ertragen, bis Michael ihre Lippen wieder voneinander gelöst hatte. „Und?“, hatte er gefragt. „Hat dir das gefallen?“ „Ging so“, hatte Marcus gemurmelt. „Du musst dich mal wieder rasieren.“ Michael hatte in diesem Moment laut losgelacht und sich dafür einen finsteren Blick von Marcus eingehandelt. Keiner von beiden hatte danach noch ein Wort darüber verloren, aber Michael war sich sicher, dass er damit immerhin ein deutliches Zeichen gesetzt hatte. Sollte Marcus irgendwann den Wunsch verspüren, mit jemandem darüber zu sprechen, würde er Zeit haben.   „Hey, da seid ihr ja endlich. Ich langweile mich hier draußen zu Tode.“ Crystal sprang von der Friedhofsmauer und kam mit aufreizendem Hüftschwung auf sie zu. Die menschliche Verkleidung, die sie neuerdings trug, ähnelte ihrer wahren Gestalt. Die kurzen, dunklen Haare, die Stupsnase mit den Sommersprossen, die immer leicht vorgeschobenen, vollen Lippen. Nur die Augenfarbe war anders. Statt des dämonischen Gelbs hatte Crystal sich für ein klares Blassblau entschieden und wann immer sie Michael damit ansah, musste er ein wenig schlucken. „Du solltest doch im Auto warten“, murrte Marcus sofort. Der Sukkubus hatte nicht auf den Friedhof mitkommen können, ohne sich dabei die Füße zu verbrennen. „Aber im Auto war es langweilig.“ Der weinerliche Tonfall schien Marcus wenig zu beeindrucken. „Und was, wenn du gesehen wirst?“ „Dann fallen dem, der mich in diesem absolut heißen Fummel sieht, hoffentlich nicht die Augen raus.“ Crystal drehte sich in ihrem knallroten und sehr knappen Stretchkleid einmal um sich selbst. Sie hatte sich geweigert, eine dezentere Farbe zu tragen, weil es ihr um den „Köter“, wie sie Alejandro immer noch nannte, so überhaupt nicht leidtat. Marcus sah sich nervös nach allen Seiten um, aber Crystal tätschelte ihm nur nachsichtig die Hand, nachdem sie sich bei ihm untergehakt hatte. „Keine Bange, Darling. Uns kennt doch hier keiner. Außerdem habe ich diesen tollen Passierschein. Verbrieft und versiegelt, dass ich höchstpersönlich an der Verhinderung des Endes der Welt mitgearbeitet habe. Wenn mich ein Engel aufgreift, kann ich ihm den Wisch einfach unter die Nase halten.“ „Und wenn er erst zuschlägt und dann nachfragt?“ Crystal machte ein unanständiges Geräusch. „Als wenn ich mich einfach so von einer Weißschwinge k.o. hauen lassen würde. Ich laufe immerhin schon ein paar hundert Jahre länger auf dieser Erde rum als du, wenn ich dich daran erinnern darf.“ „Was dann das dritte Mal heute wäre.“ „Dann solltest du es dir vielleicht einfach mal merken.“ „Höheres Alter bedingt nicht immer größere Weisheit.“ „Natürlich, mein kleiner Glückskeks. Aber eine weise Frau hat mal gesagt: Unanständig jung bleiben ist viel interessanter als mit Anstand alt werden.“ „Hast du das wieder aus dem Fernsehen?“ „Nein, aus einem deiner Bücher.“ Marcus hatte bereits den Mund zu einer Antwort geöffnet, als das Gesagte offenbar endlich in sein Gehirn vordrang. Daraufhin machte er den Mund wieder zu und beschränkte sich darauf grimmig zu gucken. Crystal strahlte ihn an und gab ihm einen Kuss. „Ist er nicht niedlich, wenn er schmollt?“ Gabriella unterdrückte sichtbar ein Lachen und auch Michael musste sich beherrschen, nicht allzu offensichtlich zu grinsen. „Wollen wir noch etwas essen gehen?“, fragte Gabriella und hakte sich ebenfalls bei Michael unter. „Es gibt hier in der Nähe ein sehr nettes, italienisches Restaurant.“ Crystal klatschte begeistert in die Hände, aber Marcus schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Wir fahren gleich wieder. Ich muss morgen früh raus.“ Nun war es Crystal, die die rotgeschminkten Lippen schürzte. „Och, du bist ein Spielverderber. Wir gehen nie aus.“ „Weil du dich immer danebenbenimmst.“ „Was ist denn falsch daran, wenn man ein bisschen Spaß hat.“ „Wenn Spaß beinhaltet, sich halbnackt auf einer Bartheke zu rekeln, so ziemlich alles.“ Der Sukkubus seufzte. „Ich seh schon, da ist jemand unausgelastet. Er hat heute Nacht einfach nicht gewollt, nur weil uns jemand hätte hören können. Ich sei zu laut, hat er gemeint.“ „Crystal!“ „Na ist doch wahr. Ich kann doch nichts dafür, dass du so talentiert bist, mein starker Hengst. Das muss ich eben kundtun. Du hast echt dazugelernt.“ Marcus stöhnte. Crystal ignorierte es. Sie grinste und zwinkerte Gabriella zu, die daraufhin lächelte. „Es war schön, dass ihr hier wart.“ „Fand ich auch.“ Die beiden Frauen verabschiedeten sich und Michael nutzte die Gelegenheit, um Marcus noch einmal zur Seite zu nehmen. „Du solltest dir das mit der Versetzung noch mal überlegen. Salt Lake City ist wirklich gar nicht so übel.“ Marcus verzog den Mund. „Ja, ich weiß. Wahrscheinlich wäre es klug, aber irgendwie … hänge ich an Vegas. Eigentlich hatte ich immer gedacht, dass ich nichts lieber täte, als dieser Stadt den Rücken zu kehren, aber der Gedanke, es wirklich zu tun, ist eigenartig. Ich … ich denke, ich werde dort gebraucht.“ Michael nickte nur. „Alles klar. Aber wenn, lass es uns wissen. Wir helfen dir. Euch.“ „Danke.“ Marcus schien einen Augenblick lang zu zögern, reichte Michael dann aber doch nur die Hand, bevor er sich von Gabriella verabschiedete und den bereits wieder kokettierenden Sukkubus kurzerhand ins Auto beförderte. Mit gemischten Gefühlen sah Michael dem Wagen nach. Es war albern, die beiden zu vermissen, obwohl er sie doch eigentlich kaum kannte. Aber vielleicht … vielleicht war es das Gefühl, das er hatte, wenn er mit ihnen zusammen war, dass er vermisste. Das Gefühl, etwas Besonderes in seinem Leben zu haben.   „Und was machen wir beide jetzt?“ Gabriella sah ihn erwartungsvoll an. Sie hatte in den letzten Wochen so viel Geduld bewiesen. Hatte ihm Zeit gegeben zu trauern, das Geschehene zu verarbeiten. Sie verdiente es, dass er wieder zu dem Mann wurde, den sie geheiratet hatte. Doch er konnte es nicht. Noch nicht. Ja, er hatte gedacht, dass er all das heute hier zusammen mit Alejandro begraben konnte. Es hatte nicht funktioniert. Denn der, an den er die ganze Zeit denken musste, war nicht tot. Dieses Mal nicht. „Lass uns nach Hause gehen“, sagte er leise. Fast erwartete er, dass sie aufbegehren würde, ebenso wie es Crystal getan hatte, aber Gabriella schwieg. Sie lächelte nur verständnisvoll und begleitete ihn zum Wagen.     Zu Hause angekommen entledigte er sich des Anzugs zugunsten eines Poloshirts und einer bequemen Hose und nahm sich anschließend ein Bier mit vor den Fernseher. Wie von selbst wählte er den Kanal, auf dem die wissenschaftlichen Dokumentationen liefen. Seine Augen glitten zum Newsticker, der unten am Bildschirmrand entlanglief. Waren wieder neue Meldungen über die 'Zona del Silencio' dabei? Seit die Engel den Ort eingeebnet hatten, hatten sich die Wissenschaftler förmlich überschlagen. Es war, als hätte jemand das Bermuda-Dreieck zugeschüttet und darauf ein Ferienparadies für Forscher errichtet. Alles, was Rang und Namen hatte, war mit irgendeinem Messgerät im Wüstensand herumgekrochen und hatte nach den rätselhaften Phänomenen Ausschau gehalten, die von einem Moment auf den anderen verschwunden waren. Augenzeugen wurden zu den seltsamen Lichterscheinungen befragt, die man in der Nacht zuvor gesehen hatte. Erklärungen gab es viele, nicht eine davon stimmte. Michael wusste es, denn er war dabei gewesen. Und niemand würde es je erfahren. „Schon wieder Dicovery-Channel?“, fragte Gabriella. Auch sie hatte sich umgezogen. „Ja, ich … ich wollte …“ Michael verstummte. Er hätte selbst nicht sagen können, was er sich davon versprach. Es zögerte den Abschied nur heraus. Gabriella kam zu ihm herüber und nahm auf der Sofalehne Platz. „Willst du nicht langsam aufhören, ihn beschützen zu wollen?“ „Was?“ Michael sah auf und ahnte, dass er dabei ziemlich ertappt aussah. „Du hast mich schon verstanden. Du machst dir Sorgen um ihn. Deswegen kannst du nicht loslassen. Du kannst es nicht ertragen, dass du nicht weißt, wie es ihm geht.“ Er wollte protestieren, doch dann er ließ es bleiben. Er wusste, dass sie recht hatte. Es war, als ständen immer noch jede Menge ungeklärte Fragen im Raum. Als wäre es nicht richtig abgeschlossen und das machte ihn verrückt. „Ich glaube nicht, dass es ihm schlecht geht.“ Michael machte ein abfälliges Geräusch. „Also wenn ich mich recht erinnere, haben die ihn als Verräter angeklagt und dann in Ketten gelegt hinter sich her in den Himmel zurückgeschleift. Da ist es doch wohl nicht unangemessen, wenn ich mich frage, was sie dort mit ihm angestellt haben.“ Gabriella seufzte. Sie stand auf und ließ sich neben ihn auf die Sitzfläche gleiten. „Du hast ja recht. Trotzdem denke ich nicht, dass er eine allzu harte Strafe bekommen hat.“ „Wie kommst du denn darauf?“ „Na denk doch mal nach. Wie genau soll er es eigentlich geschafft haben sich fortzuschleichen, ohne dass der himmlische Vater etwas davon gemerkt hat. Er ist immerhin der Allmächtige. Allwissend. Er muss gewusst haben, was passiert, wenn er Angelo diesen Auftrag gibt. Gewusst oder vielleicht sogar … gehofft.“ Michael runzelte die Stirn. „Du meinst, das war Absicht? Aber warum?“ „Nun, Gott mag allmächtig sein, aber etwas gibt es doch, zu dem er nicht imstande ist.“ „Und das wäre?“ „Er kann seinen Engeln nicht befehlen zu fallen. Denn in dem Moment, in denen er ihnen den Auftrag dazu gibt, wären sie bereits keine Gefallenen mehr sondern in seinem Namen unterwegs.“ „Aber Luzifer und die anderen hat er doch auch einfach rausgeworfen.“ „Das ist wahr. Allerdings hätte Angelo sich in diesem Fall mit ziemlicher Sicherheit gegen ihn gewandt. Zumal es ja für eine Verbannung auch gar keinen Grund gab. Damit war das Einzige, was Ihm übrigblieb, zu hoffen, dass Angelo sich von ihm abwenden und trotzdem das Richtig tun würde.“ Michael starrte eine Weile auf den Bildschirm, ohne wirklich etwas zu sehen. Als er das Ganze durchdacht hatte, schüttelte er den Kopf. „Der Plan ist noch bescheuerter als der, den Angelo sich ausgedacht hat. Wie konnte er wissen, dass Angelo so weit gehen würde?“ „Nun, er kennt seine Söhne immerhin schon eine ganze Weile. Er kann sie einschätzen. Deswegen war es auch Angelo, den er zu sich rief. Denjenigen, der stets eine Schwäche für die Menschen hatte. Der sie nicht einmal dann aufgeben würde, wenn es sein eigenes Ende bedeutete.“ „Mhm“, machte Michael und trank noch einen Schluck von dem Bier, das inzwischen schon viel zu warm geworden war. „Und du glaubst wirklich, dass das alles von Gott so geplant war? Aber warum hat er Angelo dann von den Engeln verfolgen lassen?“ Gabriella seufzte laut. „Was weiß denn ich? Vielleicht, um ihn auf die richtige Spur zu bringen oder um ihm einen Anreiz zu geben oder den Schein zu wahren oder ich hab keine Ahnung. Es heißt schließlich nicht umsonst 'Gottes Wege sind unergründlich'. Also erwarte bitte nicht von mir, dass ich sie dir erkläre. Ich meine ja nur, dass Er Angelo sicherlich nicht allzu hart bestrafen wird. Vielleicht eine hübsche Zelle mit Blick auf die Erde oder so.“ „Jetzt wirst du albern“, knurrte Michael und stellte das Bier weg. Er griff nach Gabriella und küsste sie. „Was meinst du? Wollen wir nach oben gehen?“ Sie erwiderte seine Zärtlichkeit kurz, bevor sie sich mit einem entschuldigenden Lächeln von ihm schob. „Tut mir leid, aber ich habe noch Arbeit. Es ist jede Menge liegengeblieben und irgendwer muss ja schließlich Geld verdienen.“ Michael verzog ein wenig das Gesicht dabei und ließ Gabriella los, was vermutlich auch ihre Absicht gewesen war. Er wusste, das sie es nicht böse meinte. Sie stand hinter ihm und seiner Entscheidung, seinen Job zu kündigen und sich beruflich umzuorientieren. Zum einen war er nie wirklich ein Verkäufer gewesen und zum anderen hatte er einfach keine Gummibären mehr ansehen geschweige denn sie verkaufen können. Also musste etwas Neues her. Was genau wusste er noch nicht. Vielleicht würde er sich doch in Richtung Sport orientieren. Als Trainer irgendwo. Immerhin hatte er …   Seine Gedanken wurden unterbrochen, als es an der Tür klingelte. Michael stellte den Fernseher auf lautlos und ging nach vorn. Als er öffnete, stand ein UPS-Kurier vor der Tür. „Sind Sie Michael Thompson?“ „Ja.“ „Dann habe ich eine Sendung für Sie. Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden?“ Der junge Mann mit der kurzen, khakifarbenen Uniform und der Schirmmütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, reichte ihm ein Klemmbrett und zeigte ihm, wo er seine Unterschrift hinsetzen sollte. Michael tat es und nahm den Umschlag entgegen, den er gereicht bekam. „Einen schönen Tag noch, Sir.“ Geistesabwesend erwiderte Michael die Verabschiedung und sah auf den Pappumschlag herab. Was konnte das sein? Statt sich in Spekulationen zu ergehen, riss Michael das Päckchen kurzerhand auf und sah hinein. Ganz unten im Umschlag steckte ein kleiner, dunkler Gegenstand. Als er ihn herausschüttelte, fiel ein schwarzer Plastikchip in seine Hand. Es war ein Zehn-Dollar-Jeton. „Was zum …? Wer schickt mir denn so was?“ Er suchte auf dem Umschlag nach einem Absender, fand aber keinen. Stattdessen gab es nur einen Strichcode. Er sah hoch und bemerkte den Lieferwagen des Kuriers, der immer noch am Straßenrand parkte. Der Fahrer stand an dessen hinterem Ende und räumte auf der Ladefläche herum. „Hey … hey Sie! Entschuldigen Sie. Kann ich Sie mal was fragen? Der Fahrer drehte sich nicht zu ihm um. „Kann ich Ihnen noch irgendwie helfen, Sir?“ „Ja, ich … ich wüsste gerne, woher dieser Brief stammt. Es steht kein Absender darauf.“ „Da müssen Sie sich an die Zentrale wenden.“ „Aber … Sie haben doch bestimmt irgendwelche Unterlagen dazu, oder nicht? Was ist mit diesem Code? Kann man darüber irgendetwas ablesen?“ „Das würde Ihnen nur verraten, dass der Umschlag in einem Postamt in Las Vegas aufgegeben wurde.“ „Aber wer hat ihn geschickt?“ „Wenn Sie das nicht wissen, Sir, kann ich es Ihnen nicht verraten.“ Der junge Mann schloss jetzt die Türen des Lieferwagens und blieb neben Michael stehen, den Kopf weiterhin gesenkt. „Vielleicht sollten Sie sich überlegen, ob der Gegenstand irgendeine Bedeutung für Sie hat. Eventuell kommen Sie ja so auf den Absender.“ Er ging weiter zur Fahrertür des Autos und ließ Michael verwirrt zurück. Ein Spiel-Jeton? Was für eine Bedeutung konnte der schon haben? Natürlich verband er damit ein Casino. Zumal wenn der Chip aus Vegas kam. Aber … Er stockte, als er den Namen las, der in silberner Schrift auf dem Rand der Plastikmarke stand. Das war nicht irgendein Chip. Er stammte aus dem Casino, in dem Michael an dem Abend gewesen war, als er Angelo getroffen hatte. Und plötzlich wusste er mit untrüglicher Sicherheit, dass das nicht irgendein Chip war. Es war derjenige, der ihm an diesem Abend aus der Hand gefallen war. Der Chip, mit dem alles angefangen hatte. Ohne den Gewinn hätte er diesem Jungen kein Geld zugesteckt. Er wäre ihm und seinem Zuhälter nie gefolgt, wäre nie in diesem Hinterhof gelandet. Es wäre alles vorbei gewesen, noch bevor es richtig angefangen hatte. Michaels Finger schlossen sich so eng um das kleine Plastikteil, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Mit einem Mal war wieder alles da, was er in den letzten Wochen so unerfolgreich zu verdrängen versucht hatte. Die Angst, die Sehnsucht, das verdammte Gefühl, als hätte ihm jemand ein Stück seines Herzens herausgeschnitten und es in einen gläsernen Käfig gesteckt. Er konnte es sehen, es vermissen, aber nie erreichen. „Und, Sir? Ist ihnen jemand eingefallen, der ihnen diesen Chip geschickt haben könnte?“ Der Kurier stand immer noch neben dem Lieferwagen. Er hatte die Hand bereits an den Türgriff gelegt, aber er hatte die Tür nicht geöffnet. Fast so, als würde er auf etwas warten. Plötzlich fiel Michael sein schlanker Körperbau auf. Die langen Beine, die in den kurzen Hosen nicht so lächerlich aussahen, wie sie es hätten tun sollen. Der ziemlich sehenswerte Hintern, der schmale Rücken, die langen, schlanken Finger, die sich jetzt an den Türgriff klammerten, als müsste sich ihr Besitzer an etwas festhalten, der leicht gebeugte Nacken und schließlich der Ansatz blonder Locken, die aus der tief gezogenen Schirmmütze herausquollen. Michael fühlte seinen Mund trocken werden. „Angelo?“ Das Wort hatte seinen Mund verlassen, bevor er darüber nachgedacht hatte. Es war … unmöglich. Er war weg, gefangen, eingesperrt, viele hunderttausend Meilen weit weg von hier. Und doch … Die Ähnlichkeit war verblüffend. „Wer ist Angelo?“ Michael schluckte. Seine Knie wurden weich, sein Herz raste und doch stand er vollkommen reglos da. Er musste sich irren. „Jemand, der mir viel bedeutet hat. Aber er ist … nicht mehr hier.“ „Und wenn er es doch wäre?“ In diesem Augenblick drehte der Kurier sich um und zog die Mütze vom Kopf. Michael vergaß zu atmen. „Hallo Michael.“ Angelo hielt weiterhin das komische Cap in seinen Händen und drehte es ein wenig hin und her. Er sah zu ihm hinüber und schnell wieder weg, bis sich sein Blick schließlich an dem Chip in Michaels Händen festkrallte. „Ich … ich hab gedacht, du hättest vielleicht gern ein Erinnerungsstück. War … war das eine schlechte Idee?“ „Wie kommst du hierher? Was machst du hier?“ Michael war froh, dass sein Mund zu funktionieren schien, ohne dass er sein Gehirn dafür brauchte. Angelo zuckte leicht mit den Schultern. „Ich arbeite. Die Miete, Essen … Von irgendwas muss ich ja leben. Mensch sein ist gar nicht so einfach.“ Er sah von unten herauf zu Michael hoch. „Gabriel hat mir diesen Job besorgt. Er hat gemeint, er wolle mich hier unten lieber ein bisschen im Blick behalten, damit ich nicht wieder irgendwelchen Unsinn anstelle.“ „Gabriel? Aber er hat doch … Du warst doch …“ Ein kleines Lächeln stahl sich auf Angelos Gesicht. „Ja, war ich. Aber ich habe noch einmal eine Chance bekommen. Ich … ich kann mir meine Begnadigung erarbeiten. Wenn ich es richtig anstelle.“ „Wie?“ Wieder ein Achselzucken. „Indem ich ein guter Mensch bin, vermutlich. Ich sag dir Bescheid, wenn ich es herausgefunden habe.“ Angelo machte Anstalten, den Lieferwagen zu öffnen. Michael fühlte sein Herz einen Schlag lang aussetzen. „Warte!“, rief er schnell. „Willst du denn jetzt einfach so gehen?“ Angelo sah ihn nicht an. „Ich sollte wohl. Eigentlich ist das hier nicht meine Route. Ich … ich wollte nur sichergehen, dass du ihn erhältst. Den Chip meine ich. Ich habe noch jede Menge auszuliefern.“ Wieder wandte er sich zum Gehen. „Angelo, warte!“ Endlich fand Michael die Kraft, sich zu bewegen. Er machte einen unsicheren Schritt auf Angelo zu und dann noch einen, bevor er wieder stehenblieb. „Sehen wir uns wieder?“ „Möchtest du das denn?“ Am liebsten hätte Michael ihm ein „Ja“ entgegengeschleudert. Aber er hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. Wollte er das? Konnte er das? Was, wenn er ihn erneut in sein Leben ließ und er irgendwann zurückbeordert wurde? Sie hatten nur eine Woche miteinander verbracht und Michael hatte sich bereits viel zu sehr an diesen verrückten Engel gewöhnt. Hatte viel zu viel investiert. Was, wenn er das nächste Mal ging? Würde er dann sein ganzes Herz mitnehmen? „Wie … wie lange bleibst du?“ Er musste es einfach wissen. „Tja, ich weiß nicht. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes liegt in diesen Breitengraden bei etwa 80 Jahren. Da habe ich wohl noch ein bisschen was vor mir.“ Der Blick, der Michael nach dieser Aussage traf, war anders als zuvor. Darin lag ein bisschen Schalk, ein belustigtes Funkeln, dass seine Überraschung so gelungen war, aber auch Hoffnung und ein wenig Angst. Angst, wie Michael darauf reagieren würde. Der schluckte erneut. „Heißt das, du … du bleibst ein ganzes Menschenleben lang hier?“ „Tja, so sieht es wohl aus. Ich werde alt und dick und schrumpelig werden und all das. Gehört leider mit dazu, hat Er gesagt. Er hat gemeint, wenn ich denn so viel Gefallen an den Menschen gefunden hätte, dass ich euretwegen sogar meine himmlischen Pflichten vergäße, dann hätte ich es wohl verdient, mal ein ganzes Leben lang als einer von euch zu verbringen.“ Er überlegte kurz. „Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das wirklich eine Strafe sein sollte oder eine Belohnung. Was meinst du?“ „Ich meine, dass Michael endlich mal seinen Hintern in Bewegung setzen und dich zum Abendessen einladen sollte. Wenn er es nicht tut, mache ich das nämlich.“ Gabriella war unbemerkt aus dem Haus getreten und stand jetzt mit einem breiten Lächeln auf dem Rasen vor dem Haus. Sie nickte zu Angelo hinüber. „Schön, dass du wieder da bist.“ Angelo lächelte zurück. „Ich freue mich auch, dich zu sehen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob Michael …“ „Ach, der kriegt sich wieder ein. Also, was ist? Kommst du heute Abend vorbei?“ „Sehr gerne. Michael?“ Er schreckte hoch, als Angelo ihn direkt ansprach. Ein vorsichtiges Lächeln saß auf dem Gesicht des ehemaligen Engels. „Ich … ich weiß, dass es zwischen uns nicht allzu gut gelaufen ist in letzter Zeit. Aber ich würde mich freuen, wenn du … wenn du dem mit uns noch eine Chance geben würdest.“ Michael atmete bewusst ein und aus. Er hatte die Worte gehört, die Angelo gesagt hatte, aber es schien, als würde sich sein Kopf weigern zu begreifen, was sie bedeuteten. Er hatte Angst, dass sie wieder vor seinen Augen zerspringen würden. Und was, wenn er sich tatsächlich darauf einließ? Wie sollte das funktionieren? Er hatte sich in den letzten Wochen so lange eingeredet, dass das hier nicht das war, was er wollte. Dass es ohnehin nicht von Dauer gewesen wäre. Dass er Gabriella hatte und dass es gut war, so wie es war. Und jetzt stand Angelo vor ihm und bot ihm genau das an, von dem er die ganze Zeit gedacht hatte, dass er es nie haben könnte. Das machte ihm Angst. „Ich … ich muss darüber nachdenken. Wir hätten viel zu besprechen. Es müsste Regeln geben und all das.“ Er hob ein wenig hilflos die Hände, als wolle er begreifen, was nicht zu begreifen war. Angelo nickte leicht. „Das ist wahr. Ich … ich kenne mich da auch nicht so aus, aber vielleicht …können wir es gemeinsam herausfinden? Ganz langsam?“ Es lag so viel Hoffnung in seiner Stimme, dass Michael ihn am liebsten in die Arme geschlossen hätte, um ihn nie wieder loszulassen. Aber wenn das hier tatsächlich von Dauer sein sollte, dann würde es mehr brauchen als das. Viel mehr. „Gut“, sagte er schließlich und bemerkte, wie Angelo sich etwas entspannte. „Beginnen wir mit einem Abendessen. Heute um sieben?“ „Halb acht wäre besser. Vorher schaffe ich es nicht.“ „Dann halb acht. Soll ich dich irgendwo abholen?“ „Nein, ich … ich fahre Bus. Es gibt eine Linie, die ganz hier in der Nähe hält.“ „Das hast du also schon herausgefunden?“ „Ich hatte Hoffnung.“ Der Satz legte ein Lächeln auf Michaels Gesicht. Hoffnung. Was für ein wundervolles Wort. Eines, das er in seinem Sprachschatz in letzter Zeit nur schwer hatte unterbringen können. Doch jetzt … jetzt erschien es ihm als das wichtigste Wort überhaupt. „Dann lass uns hoffen, dass du deinen Bus nicht verpasst. Gabriella kann es nicht leiden, wenn das Essen kalt wird.“ „Hey, jetzt schieb nicht alles auf mich“, protestierte Gabriella lachend und trat an seine Seite. „Aber wenn es später wird, rufst du einfach an. Hier ist unsere Nummer.“ Sie reichte Angelo einen Zettel und er nahm ihn so andächtig entgegen, als hätte sie ihm gerade einen dieser kleinen Kekse gegeben, die es manchmal in der Kirche gab. „Ich … ich werde anrufen. Also ich werde hoffentlich nicht anrufen, aber wenn, dann … dann rufe ich an.“ Angelo grinste ein bisschen schief und drehte seine Mütze in Händen. „Ich glaube, ich muss dann mal los. Die Leute warten auf ihre Post.“ „Dann solltest du sie nicht warten lassen.“ Gabriella löste sich von Michael, trat zu Angelo und zog ihn in eine kurze Umarmung. „Es wird alles gut werden“, flüsterte sie so laut, dass Michael sie auch hören konnte. Als sie zurücktrat, standen er und Angelo sich auf einmal gegenüber. „Ja dann … bis heute Abend, nicht wahr?“ „Ja, bis heute Abend.“ Eine kleine Pause entstand, in der niemand sich bewegte. Keiner von ihnen wollte, dass es endete, und doch war es zu früh, um überhaupt von einem Anfang zu sprechen. Trotzdem schwang da so viel mehr in der Stille zwischen ihnen mit. So viel mehr.   Es war Angelo, der schließlich die Distanz zwischen ihnen überwand. Er trat auf Michael zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich freue mich auf dich“, wisperte er fast unhörbar. „Und ich mich auf dich“, antwortete Michael ebenso leise, bevor er die Umarmung, in die er Angelo unbewusst gezogen hatte, wieder löste. Seine Wange prickelte an der Stelle, an der Angelos Lippen sie berührt hatten. „Na dann, ich … gehe jetzt.“ „Ja, geh endlich. Sonst kannst du nämlich nicht wiederkommen.“ Angelos gelöstes Lachen erklang hell in seinen Ohren und plötzlich war Michael sich sicher, dass es funktionieren würde. Vielleicht würde es am Anfang holprig werden und es würde sicherlich Höhen und Tiefen geben, aber am Ende würde es funktionieren. Er wusste es einfach. Am Ende würden sie zusammensein und es würde für sie funktionieren. Für sie alle drei. Hosted by Animexx e.V. 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