Zum Inhalt der Seite

Angelo

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Schatten der Vergangenheit

Als die ersten Ausläufer des Virgin River Valley in Sicht kamen, musste Michael lächeln. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er das letzte Mal mit Angelo hier entlang gefahren war. Sie hatten es sogar gewagt, vorhin in der gleichen Tankstelle wie beim letzten Mal zu frühstücken, obwohl Gabriella eingeworfen hatte, dass es sicherlich nicht gut war, so offensichtliche Spuren zu hinterlassen. Es war trotzdem toll gewesen mit ihr zusammen an dem gleichen Tisch zu sitzen und Angelo erneut dabei zuzusehen, wie er Unmengen von Pancakes in sich hineinschaufelte.

„Ich möchte wissen, wo du das alles lässt“, hatte Gabriella lachend gemeint und Angelo hatte gegrinst und sich noch ein siruptriefendes Stück zwischen die Zähne geschoben.

„Vielleicht muss ich meine Engelsbatterien aufladen“, hatte er anschließend geantwortet und Gabriella hatte erwidert, das sie so etwas auch dringend bräuchte.

 

Jetzt saßen sie wieder im Wagen mit Gabriella auf dem Beifahrersitz und Angelo auf der Rückbank zwischen ihnen. Michael bemerkte, dass er wieder hinaussah und die unglaubliche Landschaft mit den Augen aufsog.

„Soll ich mal anhalten?“, fragte Michael aus einem Gefühl heraus. Im Rückspiegel sah er Angelo lächeln.

„Nein, das ist nicht notwendig. Ich … ich werde hoffentlich später irgendwann mal Zeit haben, mir das anzusehen.“

„Ich habe nur gedacht, weil es hier in der Nähe einen Platz gibt, der sich Angel’s Landing nennt. Die Aussicht von da oben soll beeindruckend sein. Fast so, als könne man fliegen. Er liegt im Zion National Park.“

Angelo schien einen Augenblick über das Gehörte nachzudenken. „Zion ist Hebräisch und bedeutet so viel wie Zufluchtsort oder Heiligtum.“

Er schwieg eine Weile, bevor er plötzlich zu Gabriella sagte: „Kannst du mir mehr von dem erzählen, was dir deine Großmutter früher vorgelesen hat?“

„Mhm“, machte sie und schürzte die Lippen. „Ich bin mir sicher, dass ich einen großen Teil davon schon vergessen habe, aber ich kann es versuchen. Hattest du etwas Bestimmtes im Sinn?“

„Was weißt du über Engel?“

Gabriella überlegte einen Augenblick, bevor sie zu erzählen begann. „Es gibt einige Stellen aus der Bibel, in denen ein Engel vorkommt. Die meisten, die ich kenne, erzählen davon, wie ein Engel den Menschen eine Botschaft von Gott überbringt.“

„Das macht Sinn“, murmelte Angelo. „Angelos ist altgriechisch für Bote oder Abgesandter.“

Gabriella schickte Michael einen kurzen Blick, bevor sie fortfuhr.

„Eine der Geschichten, von der mir meine Großmutter immer wieder erzählte, ist die Stelle, an der ein Engel Maria erscheint, um ihr zu verkünden, dass sie den Sohn Gottes zur Welt bringen wird. Die Worte, die er damals an sie gerichtet haben soll, finden sich in einem der bekanntesten Gebete wieder, dem Ave Maria. Der Name des Engels war übrigens Gabriel.“

„Gabriel?“, fragte Michael nach. „Du wurdest nach einem Engel benannt?“

Sie lachte. „Eigentlich nach meinem Großvater väterlicherseits. Aber du teilst dir deinen Namen auch mit einem der bekannteren Engel, wusstest du das nicht?“

Michael schüttelte den Kopf. In seinem Zuhause war die Bibel nie ein Thema gewesen. Natürlich hatten sie Weihnachten gefeiert und all das, aber der Hintergrund dieser Feste hatte bei ihnen nur wenig bis gar keine Rolle gespielt.

„Warte, ich schau mal, was es zu den beiden so zu sagen gibt.“ Gabriella zückte ihr Handy und rief eine Suchmaschine auf. Michael warf einen kurzen Blick zu Angelo.

„Darf ich vorstellen? Die zweite Realität dieser Welt. Das Internet.“

Angelo lächelte. „Ich glaube, davon habe ich schon gehört.“

In diesem Moment gab Gabriella einen überraschten Laut von sich. „Also zum einen steht hier, dass Gabriel der Schutzheilige der Post und der Müllmänner ist. Das werde ich unserem Entsorgungsfacharbeiter mal unter die Nase reiben, wenn er sich das nächste Mal weigert, unsere Tonne mitzunehmen, nur weil sie nicht um Punkt sechs Uhr an der Straße stand. Gabriel war außerdem nach islamischem Glauben der Engel, der Mohammed das Wort Gottes diktiert hat, und sogar unsere lieben Nachbarn kennen Gabriel, der sich laut ihren Lehren im biblischen Noah manifestiert hat.“

„Du meinst den Typen, der die Arche gebaut hat?“

„Ja genau den.“

Michael hob die Augenbrauen. „Na das war ja ein umtriebiges Kerlchen. Erinnert mich ein bisschen an dich.“ Er grinste Gabriella an. „Und warum warst du jetzt so überrascht? Weil du der Schutzheilige von UPS bist?“

„Nein, es ging darum, dass laut jüdischen Überlieferungen Michael und Gabriel die beiden Engel waren, die nach Sodom und Gomorrha gingen. Gabriel, um die Stadt zu zerstören, und Michael, um Abrahams Neffen Lot zu retten.“

„Ha, ich wusste es“, rief Michael mit einem Lachen. „Michael ist der Nette von den beiden.“

„Nun ja, das ist wohl Ansichtssache“, erwiderte Gabriella schmunzelnd. „Michael wird im christlichen Glauben immerhin als Anführer der himmlischen Heerscharen angesehen. Er ist der Schutzpatron der Soldaten und führt außerdem ein Verzeichnis über die guten und schlechten Taten eines jeden Menschen. Die wohl bekannteste Geschichte ist jedoch die, in der er den abtrünnigen Luzifer in der Gestalt eines großen Drachen besiegt und für immer aus dem Himmel verbannt.“

Michael warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, dass Angelos Gesicht sich verfinstert hatte. Irgendetwas an dieser Sache schien ihn zu beunruhigen.

„Wie kam es dazu, dass sich einige der Engel von Gott abwandten?“, wollte er schließlich wissen, noch bevor Michael ihn danach fragen konnte.

Gabriella musste einen Augenblick überlegen.

„Ich habe mal gelesen, dass die Abspaltung der gefallenen Engel mit der Erschaffung des Menschen zusammenhing. Diese Engel, allen voran Luzifer, weigerten sich, die Menschen als Krone der Schöpfung zu verehren, da sie sich selbst für weit überlegen hielten. Sie rebellierten gegen den Willen Gottes und wurden daher im Zuge einer großen Schlacht aus dem Himmel verbannt. Aus Rache soll Luzifer die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies erwirkt habe, indem er sie dazu verführte, vom Baum der Erkenntnis zu essen, was Gott den beiden vorher verboten hatte. “

„Das heißt also, dieser Luzifer war nicht nur eingebildet und eifersüchtig, sondern auch noch ein schlechter Verlierer“, schlussfolgerte Michael. „Ich würde sagen, dann war seine Strafe wohl verdient.“

„Und worin bestand diese Strafe?“

Michael blieb das Lachen, das er gerade noch auf den Lippen gehabt hatte, buchstäblich im Halse stecken. Angelo klang absolut ernst.

„Nun ja“, gab Gabriella zögernd zurück. „Da gibt es die Verbannung in die Hölle, nicht mehr Teil der Schöpfung zu sein, gebrandmarkt, ausgestoßen, von allen anderen Kreaturen verachtet ...“

Michael entging nicht, dass Angelo hinter ihnen immer stiller wurde. Es war eine ungute Art von Ruhe, die ihn alarmiert in den Rückspiegel sehen ließ.

 

Angelos Gesicht war blass geworden. Michael legte Gabriella die Hand auf den Arm und wies mit dem Kopf nach hinten. Als sie sich umdrehte, sah er auf ihrem Gesicht die Bestürzung über Angelos Zustand.

„Hey, ich wollte damit nicht sagen, dass du so bist. Aber du hast gefragt und ...“

„Schon gut“, kam es leise von der Rückbank. „Du hast recht, ich hatte gefragt.“

Eine unangenehme Stille breitete sich im Auto aus, während die Berge an ihnen vorbeiglitten und der Asphalt unter ihnen hinwegrauschte. Irgendwann hielt Michael es nicht mehr aus.

„Hey, Angelo, sieh mich an.“

Ernste, blaue Augen begegneten ihm im Rückspiegel.

„Es mag ja sein, dass du nach der Definition irgendwelcher alter Männer kein Musterengel bist. Aber seit du hierher gekommen bist, habe ich nichts feststellen können, dass an dir irgendwie böse wäre. Im Gegenteil. Du hast mich und Gabriella vor diesem Ding im Pool gerettet.“

„Das nicht zu euch gekommen wäre, wenn ich nicht gewesen wäre.“

Michael seufzte. Anscheinend wollte Angelo es nicht verstehen.

„Das ist doch unerheblich. Du hast uns geholfen. Du hilfst uns jetzt bei dieser Sache mit Jeff. Vielleicht haben die anderen Engel einfach das Memo noch nicht bekommen, dass es okay ist, dass du hier bist. Ich meine, vielleicht hat der Schutzpatron der Post da einfach ein bisschen gepennt.“

Er bekam von Gabriella einen Knuff und sah, dass auch Angelo wieder zaghaft lächelte.

„Also schön“, sagte er. „Ich versuche, mich nicht von der Vorstellung auffressen zu lassen, dass ich möglicherweise den größten Frevel von allen begangen habe und jetzt ein geächteter Gesetzloser bin, auf den mit großer Wahrscheinlichkeit ein himmlisches Kopfgeld ausgesetzt wurde. Aber zu unserer Sicherheit sollten wir vielleicht davon ausgehen, dass die anderen Engel das so sehen."

Michael entging nicht, dass Angelo zum ersten Mal davon gesprochen hatte, dass es um ihrer aller Wohlergehen ging und nicht nur um das von Gabriella und ihm. Das machte Michael Hoffnung.

„Du wirst schon sehen, wir kriegen das hin“, sagte er zuversichtlich. „Als erstes werden wir mal sehen, ob Jeffs alte Professorin noch am College ist und ihr etwas auf den Zahn fühlen. Außerdem habe ich in etwa eine Ahnung, wo er nach diesen Gruselmaschinen suchen wollte. Es gibt einen Teil des Colleges, der nach einem Brand lange stillgelegt war. Inzwischen haben sie ihn wohl renoviert, aber wenn es noch Spuren von dem gibt, was Jeff entdeckt haben will, finden wir es vermutlich dort.“

Er grinste. „Und wenn wir nichts finden, kann ich dir immerhin mal meine alte Schule zeigen. War ’ne lustige Zeit damals. Ich glaube, das hätte dir gefallen.“

Er hörte, wie Gabriella neben ihm schnaufte.

„Also wenn du jetzt anfängst, Angelo etwas von deinen früheren Eroberungen zu erzählen, dann schwöre ich, dass ihr beide aussteigt und den Rest der Strecke bis Salt Lake City lauft. Wenn mich das Schild gerade eben richtig informiert hat, sind das noch etwa 250 Meilen.“

„Autsch.“ Michael zog den Kopf ein und zwinkerte Angelo zu. „Du hast die Chefin gehört. Keine anzüglichen Geschichten vor dem Mittagessen.“

Angelo erwiderte nichts, aber das amüsierte Funkeln in seinen Augen gefiel Michael schon sehr viel besser als der betrübte Ausdruck, der vorhin darin gelegen hatte. Ein echtes Lachen musste er sich allerdings verkneifen, als Angelo Gabriella im nächsten Augenblick bat, ihm doch stattdessen die Geschichte von Sodom und Gomorrha zu erzählen. Es blieb eben keine gute Tat unbestraft.

 

 

 

Marcus hatte verschlafen. Das war, soweit er sich erinnern konnte, noch nie vorgekommen. Und obwohl er nur eine halbe Stunde vom panischen Erwachen bis zum letzten Knopf seines Uniformhemdes gebraucht hatte, klingelte just in dem Moment, als er die Wohnung verlassen wollte, sein Telefon. Er überlegte eine Millisekunde lang, bevor er sich entschloss ranzugehen. Von der anderen Seite dröhnte ihm Ted Carter entgegen.

„Morgen, Jungchen. Schon aufgestanden?“

„Bin bereits auf dem Weg“, versicherte Marcus, und fuhr sich durch die noch feuchten Haare.

„Kannst du dir sparen. McWright hat beschlossen, dich in die Wüste zu schicken.“

„Er hat was?“

Der Captain hatte ihn rausgeworfen? Suspendiert!?

„Er brauchte zwei Freiwillige, die sich mit den Lackaffem vom FBI etwa 20 Meilen vor der Stadt treffen, weil die da ’ne Leiche gefunden haben. Ohne Kopf. Kannst du dir das vorstellen? Jetzt machen die ein Riesenbohei darum und wir sollen da antanzen, um denen zu assistieren, was immer das auch heißen soll. Wahrscheinlich die Straße absperren, die es da gar nicht gibt, oder irgendsoeinen Blödsinn. Sollen die den armen Teufel halt eintüten und uns damit in Ruhe lassen. Dafür interessiert sich doch eh keiner. Also wenn ich was zu sagen hätte …“

„Hast du Leiche gesagt?“ Marcus wurde für einen Augenblick übel. Vielleicht war die Milch, die er zusammen mit einer halben Schüssel Cornflakes hinuntergeschlungen hatte, doch schlecht gewesen.

„Jupp, Leiche. Mausetot der Kerl. Es fehlt aber, wie gesagt, die Hälfte. Na zumindest hat McWright gesagt, dass wir beide da rausfahren sollen. Ich hole dich also gleich ab. Bis dann.“

In der Leitung klickte es und nur zwei Sekunden später erklang draußen eine Polizeisirene.

Warum kann er nicht einfach hupen?, grollte Marcus innerlich. Oder mir sagen, dass ich runterkommen soll. Ganz ehrlich, der Mann hat zu viel Spaß an seinem Job.

Er legte das Telefon zur Seite, griff nach seinem Schlüssel und zog die Tür hinter sich zu.

 

Die Fahrt zum Fundort der Leiche war genauso lang und ereignislos, wie sie es bereits Sonntagnacht gewesen war. Marcus fragte sich insgeheim, wie jemand darauf hatte aufmerksam werden können. Er hatte den Balam mitten ins Nirgendwo gekarrt, ein wirklich tiefes Loch gegraben und die Überreste dort verscharrt. Wer oder was hatte das Ding wieder an die Oberfläche gebracht? Und was noch viel schlimmer war: Wer hatte das FBI dazu eingeladen? Marcus sah seine Vermutung diesbezüglich bestätigt, als sie endlich das Ende der kaum erkennbaren Staubstraße erreichten, das sie zu mehreren dunkeln Fahrzeugen, darunter einen Transporter und einem zivilen Einsatzwagen brachte. Den Beamten, der ganz in vorderster Reihe stand, hätte Marcus auf 300 Meter gegen den Wind erkannt und dazu hätte es nicht den Hauch von Engelsgeruch gebraucht, den eben dieser Wind mit sich brachte.

Zum Glück schien sein Vater beschlossen zu haben, so zu tun, als wenn sie sich nicht kannten. Marcus war das nur Recht. Er hielt sich hinter Carter, der mit dem Einsatzleiter des FBI besprach, was er und Marcus hier tun sollten. Es lief im Endeffekt auf „Schaulustige fernhalten und nicht im Weg rumstehen“ heraus. Marcus bezweifelte allerdings stark, dass sich bei den momentan herrschenden Temperaturen, jemand freiwillig hierher begeben würde.

„Wie wurde die Leiche denn entdeckt?“, wagte er einen der Typen zu fragen, die auf dem Boden herumkrochen und nach irgendwelchen Reifenspuren suchten. Bevor der antworten konnte, mischte sich bereits eine bekannte, blasiert klingende Stimme in die Unterhaltung ein.

„Jemand hat vom Gass Peak aus eine Drohne starten lassen, wurde auf die aufgewühlte Erde aufmerksam und hat daraufhin die Polizei verständigt.“ Erik hatte ihn nicht angesehen, während er das sagte, sondern den Blick irgendwo in die Ferne gerichtet. „War ziemlich dumm vom Täter, einen so offensichtlichen Ablageplatz zu wählen.“

Marcus presste die Kiefer aufeinander. „Was hätte er denn sonst tun sollen? Die Leiche zerstückeln und in Müllcontainern über die ganze Stadt verteilen? Das wäre ja ein Spaß geworden, alle Teile wieder zusammenzusuchen.“

Erik schickte ihm einen Blick durch die dunkle Sonnenbrille. „Er hätte die Leiche verbrennen können.“

„Was mitten in der Nacht bestimmt kaum auffällig gewesen wäre.“

„Vielleicht hätte er dabei um Hilfe bitten sollen.“

„Vielleicht wollte er es ja lieber allein hinkriegen.“

Sie starrten sich einen Augenblick lang an, bevor Marcus den Blick abwandte.

„Ich gehe mal die Straße absperren.

„Ich glaube, das ist unnötig, Officer Reed.“

„Danke, Agent … wie war doch gleich Ihr Name? Ach wissen Sie was, es ist mir auch egal. Wir werden uns eh nie wieder sehen.“

Mit diesen Worten drehte Marcus sich um und stapfte durch die glühende Hitze in Richtung Straße. Der Schweiß lief ihm schon nach wenigen Metern in Strömen den Rücken herab und er sehnte sich fast nach der drückenden Atmosphäre der Stadt zurück, in der es wenigstens Klimaanlagen gab. Und deutlich weniger arrogante Engel!

 

Nach drei weiteren Schritten fiel ihm ein, das er seinem Vater sagen könnte, dass er diesen Angelo gefunden hatte. Er hätte ihm die Adresse des Motels geben können, das Kennzeichen des Mietwagens, eine genaue Beschreibung der zu suchenden Personen. Aber etwas in ihm sträubte sich dagegen, das zu tun. Er würde sich um die verdammte Absperrung kümmern und nachher um den entsprechenden Papierkram. Anschließend würde er alles fein säuberlich in den Computer eingeben, seine Schicht durchstehen und dann, kurz vor Feierabend, noch die Suchanzeige aktualisieren, die auf Thompson und den Rest ausgestellt war. Und dann konnte Erik seine Arbeit schön selber erledigen. Marcus würde es nicht für ihn tun. Er war ja schließlich nur ein dummer, kleiner Streifenpolizist. Niemand von Bedeutung.

Als er Schritte hinter sich hörte, dachte er, dass Ted Carter ihm gefolgt war.

„Gibst du mir mal das Absperrband?“, bat er ihn. Als nichts passierte, drehte er sich um. Vor ihm stand Erik. Dunkler Anzug, Sonnenbrille, unbewegte Miene und kein einziger Schweißtropfen.

Arschloch.

„Du benimmst dich zu auffällig“, sagte sein Vater mit ruhiger Stimme.

„Ach wirklich?“, ätzte Marcus. „Dass du jetzt hinter mir herkommst und mit mir ein Schwätzchen hältst, wird natürlich niemand bemerken.“

„Ich habe gesagt, dass ich mit dir die weiteren Details durchgehe. Was im Prinzip heißt, dass du gar nichts tun wirst. Ich werde versuchen, den Fall ohne weitere Nachforschungen abzuschließen. Eventuell muss ich ihn dafür erst einmal eine Weile auf Eis legen, aber der fehlende Kopf erschwert immerhin die Identifikation.“

Marcus schnaubte nur. „Ja, wenigstens das habe ich hingekriegt. Das ist es doch, was du damit sagen wolltest.“

„Ich versuche nur, dich zu schützen.“

„Dann hör auf damit. Ich will deine Hilfe nicht.“

Das Gesicht hinter der Sonnenbrille blieb unbewegt. „Das ist keine persönliche Entscheidung, sondern das Standardverfahren bei Verbrechen, in die Dämonen verwickelt waren. Spuren beseitigen, Erklärungen liefern, die Anwesenheit übersinnlicher Mächte verschleiern. Das ist es, was wir tun. Es wird immer behauptet, es wäre der größte Trick des Teufels, die Menschen glauben zu machen, dass es ihn nicht gibt. Dabei ist das nicht sein Verdienst, sondern unserer.“

 

Marcus musterte seinen Vater noch einen Augenblick lang schweigend, bevor er sich wieder der Straßensperre zuwandte. Die vollkommen sinnlos war. Er spürte die Blicke in seinem Nacken und hielt sie etwa eine halbe Minute lang aus, bevor er sich wieder umdrehte.

„Was?“, schnauzte er. „Willst du jetzt ein Dankeschön? Einen Orden?“

„Der Gefallene ist immer noch verschwunden“, antwortete Erik vollkommen ruhig. „Er ist zusammen mit diesem Thompson auf der Flucht.“

Marcus biss sich auf die Zunge, um nicht mit einem „Was du nicht sagst“ herauszuplatzen. Von ihm würde Erik kein weiteres Wort mehr erfahren.

„Das ist kein gutes Zeichen. Ich habe mir die Akte von Thompson mal angesehen.“

„Hab ich auch. Da war nichts“, rutschte es Marcus heraus. Er spürte förmlich, wie sein Vater dieses kleine Lächeln lächelte. Dieses zum Kotzen nachsichtige, mikroskopische Hochziehen der Mundwinkel. Er hasste es, wenn er das tat.

„In der menschlichen Akte sicherlich nicht.“

„Ach, gibt es etwa auch Engels-Akten? Und ihr seid dann der HGD, der himmlische Geheimdienst, oder wie?“

„Du bist ein Zweifler, Marcus. Dir fehlt es am richtigen Glauben.“

„Oh, ich muss da nichts glauben. Ich weiß ja schließlich, dass es euch gibt. Und ich kann nicht sagen, dass es mir dadurch besser geht. Im Gegenteil.“

Wieder dieses Lächeln!

„Du hast dir gerade selbst den besten Beweis dafür geliefert, dass es für Menschen besser ist, wenn sie nicht wissen, was für Mächte in ihrer Welt am Wirken sind. Sie könnten in Panik ausbrechen. Dumme Dinge tun. Dinge, an denen wir sie hindern müssten.“

Marcus ballte die Hände zu Fäusten. Er war so kurz davor, seinem Vater eine reinzuhauen oder es zumindest zu versuchen. Ob Angelo wohl ebenso schnelle Reflexe hatte wie Erik? Oder nur, wenn er seine Engelskräfte aktivierte.

„Woran denkst du?“

Offenbar waren seine Überlegungen ein wenig zu offensichtlich gewesen.

„An das, was du über Thompson gesagt hast. Du hast erwähnt, dass es über ihn eine Akte gibt?“

„Er wird in einer Fallakte erwähnt. Der Unfall, bei dem er als Zeuge aufgeführt wurde … das Unglück wurde von einem Dämon verursacht. Er hat den Wagen angegriffen, in dem Thompson und ein gewisser Jeff Fleming saßen. Wir vermuten einen Lufferlang oder einen ähnlichen Arachnoiden hinter der Tat. Der ermittelnde Engel fand einige verdächtige Spinnenweben am Tatort. Wenn es tatsächlich ein Lufferlang war, wurde das Biest vermutlich von den Spiegeln am Auto verjagt, bevor es dazu kam, sein Opfer zu fressen.“

„Und was hat dass jetzt mit Thompson zu tun?“

„Nun, für sich allein genommen scheint das nicht außergewöhnlich zu sein. Er hatte vielleicht einfach nur Glück. Aber dass sich jetzt ein gefallener Engel ausgerechnet an ihn wendet, setzt das Ganze wiederum in ein anderes Licht. Es besteht die Möglichkeit, dass er es damals war, der den Dämon auf seinen Freund angesetzt hat.“

Marcus starrte seinen Vater fassungslos an. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Thompson soll mit Dämonen im Bunde stehen? Das ist lächerlich! Ich habe ...“

Er biss sich auf die Zunge. Beinahe hätte er gesagt, dass er ihn heute Morgen noch gesehen hatte und Michael eher wie ein übergroßer Wachhund denn wie ein durchtriebener Schurke gewirkt hatte. Wenn er ein Problem mit jemandem hatte, klärte er das vermutlich selber und zwar auf eine ziemlich körperliche Art und Weise.

Eriks Miene blieb unbewegt. „Du weißt, was die häufigsten Motive für Mord sind?“

„Natürlich. Habgier, Eifersucht, Rache und nicht zu vergessen verletzte Eitelkeit“, betete Marcus mit einem Schnauben herunter. „Letztere wird es bei Thompson wohl nicht gewesen sein.“

„Die beiden hatten Zeugenaussagen zufolge auf der Party, von der sie kamen, einen Streit. Vielleicht sind die Gefühle bei Thompson da ein bisschen hochgekocht und er wollte die Sache ein für alle Mal klären. Oder vielleicht seinem Freund auch nur einen Schrecken einjagen und es ist schiefgegangen. Junge Menschen neigen dazu, Gefahren zu unterschätzen.“

Marcus ignorierte den versteckten Seitenhieb gekonnt.

„Selbst wenn … Thompson saß immerhin mit im Auto. Warum hätte er dieses Risiko eingehen sollen?“

„Dämonen halten sich nicht immer an die Abmachungen. Und warum sich nicht gleich vom unliebsamen Auftraggeber befreien? Zwei Fliegen mit einem Netz sozusagen.“

„Mit einer Klappe“, berichtigte Marcus automatisch. Erik stand immer noch wie ein schwarzer Fels in der Wüstenbrandung. „Denkst du wirklich, dass es so war?“

„Ich gebe zu, die Theorie fußt auf keiner besonders stichhaltigen Beweislage. Tatsache ist jedoch, dass er jetzt den flüchtigen Gefallenen versteckt und ihm zur Flucht verholfen hat. Er hat sich damit einiges zu schulden kommen lassen.“

Marcus lachte bitter auf. „Ja, so einfach ist das, oder? Jemand macht etwas falsch und wird dafür bestraft. Auf die Idee, dass er vielleicht trotzdem unschuldig sein könnte, kommt ihr gar nicht, oder? Vielleicht weiß Thompson ja nicht mal, dass A … der Engel einer von euch ist.“

„Er ist keiner von uns.“ Erik wirkte jetzt für seine Verhältnisse regelrecht aufgebracht, was im Klartext bedeutete, dass er die Sonnenbrille abnahm und Marcus ernst ansah. „Die Gefallenen haben sich gegen den Willen Gottes gewandt. Er nahm ihnen daher die Macht zu erschaffen und stürzte sie vom Himmel auf die Erde nieder, wo sie im Staub kriechen und nur noch Tod und Vernichtung über alles bringen. Wir Engel haben die Aufgabe bekommen sie aufzuhalten. Ein Gefallener wird daher immer ein Zerstörer sein, so wie ein Engel ein Bewahrer ist. Es liegt in der Natur der Dinge.“

„Und die Menschen? Wo bleiben die in deinem tollen Schwarz-Weiß-Bild?“

„Die Menschen …“ Eriks Stimme wurde leiser. „Die Menschen erschaffen. Ihnen allein gebührt inzwischen diese Ehre. Aber sie sind zu blind, um das zu erkennen. Sie sehen nicht, was wir ihnen zuliebe aufgegeben haben. Inzwischen sind sie fast ebenso schlimm wie die Gefallenen und die Dämonen, die aus ihrem schwarzen Blut hervorgegangen sind. Sie hören nicht mehr darauf, was wir ihnen zu sagen haben und ignorieren Gottes Wort. Stattdessen nutzen sie ihre Kräfte dazu, sich selbst zu bereichern oder sich gegenseitig Leid zuzufügen. Uns bleibt nur, aus den Schatten heraus dafür zu sorgen, dass das Elend, das sie über sich bringen, allein aus ihnen selbst hervorgeht und nicht noch von den Dämonen angefacht wird. Selbst wenn das bedeutet, dass wir uns dabei die Hände schmutzig machen. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen.“

Marcus war bei Eriks Ansprache ein unschöner Verdacht gekommen. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. „Im Unfallbericht stand, das Fleming Drogen genommen hatte. Entspricht das der Wahrheit?“

Erik musterte ihn schweigend.

„Nein, tut es nicht“, sagte er schließlich. „Aber es musste eine Erklärung für den Unfall gefunden werden und auch dafür, dass wir anschließend das Haus und seine Schule durchsucht haben. Wir mussten sichergehen, dass der Angriff des Dämons nicht noch tieferliegende Wurzeln hatte. Es sah jedoch alles nach einem Zufall aus. Wir haben nichts gefunden.“

„Und das Bild, das die Hinterbliebenen von dem getöteten Jungen hatten? War euch das egal?“

„Seine Seele war rein und er wird am Tag des Jüngsten Gerichts gerecht beurteilt werden. Das allein zählt.“

Für einen Augenblick war Marcus einfach sprachlos. So sah sein Vater das? Er konnte das einfach nicht glauben. Erik setzte die Sonnenbrille wieder auf und wandte sich zum Gehen. Im letzten Moment zögerte er und blickte Marcus noch einmal mit diesem engelhaften Ausdruck im Gesicht an.

„Manchmal, mein Sohn, ist die Frage, die sich stellt, nicht die, welche Möglichkeit die richtige ist, sondern welche von ihnen das kleinere Übel darstellt. Eine Wahl, vor die wir Tag für Tag wieder gestellt werden und die Entscheidung ist niemals leicht.“

 

Damit ließ er Marcus stehen und ging zurück zum Fundort der Leiche, die der Gerichtsmediziner inzwischen in einen dieser großen Plastiksäcke verpackt hatte. Marcus sah zu, wie sich der Reißverschluss um den kopflosen Körper schloss und musste unwillkürlich an den Augenblick denken, als er ihn getötet hatte.

Ich muss diesen Cadejo finden, dachte er bei sich. Erik war zu sehr damit beschäftigt, Angelo und den Rest zu suchen und hatte Marcus anderer Beobachtung daher kaum Beachtung geschenkt. Aber nachdem, was Crystal so von sich gegeben hatte, schien ein hohes Tier in die Sachen verwickelt zu sein. Vielleicht ebenfalls ein Gefallener?

Wahrscheinlich sollte ich Erik davon erzählen. Aber wenn ich das tue, wird er wissen wollen, woher ich meine Informationen habe, und das werde ich ihm garantiert nicht auf die Nase binden.

Bei der Erinnerung an seinen Handel mit dem Sukkubus, fühlte Marcus einen Anflug von Wärme in sein Gesicht kriechen. Mal abgesehen von der Fragwürdigkeit seines Handelns hatte er sich austricksen lassen wie ein Schuljunge. Er konnte von Glück sagen, dass Crystals Zauber nicht allzu lange angehalten hatte, sonst hätte ihn womöglich am nächsten Morgen die Putzfrau gefunden. Oder die Hotelgäste, die sicherlich eine unangenehme Überraschung hatten, als sie ihr Motelzimmer beziehen wollten.

Für einen Moment sah er Angelo vor sich und fragte sich, ob sich hinter den unschuldigen, blauen Augen wohl wirklich das Scheusal verbarg, das Erik dort vermutete. Aber dann beschloss er, dass es ihn nichts anging, wenn sich die Engel gegenseitig die Köpfe einschlugen, und er sich lieber wieder um die Dämonen kümmern würde. Bei denen wusste man wenigstens, woran man war.

 

 

 

„Denkst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“ Gabriellas Stimme klang besorgt und ihr Blick irrte wieder zu dem Haus, vor dem Michael den Wagen geparkt hatte. Es war ein durchschnittliches Einfamilienhaus mit ein paar Büschen und Beeten, einer Doppelgarage, an der ein Basketballkorb hing, einem weißen Postkasten und einer Veranda, auf der eine Holzbank stand. Daneben sah man einen kleinen, roten Handwagen und auf dem Rasen lag eine vergessene Frisbeescheibe.

„Nein, ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist“, antwortete er etwas verspätet. „Aber ich denke, dass es die beste Chance ist, die wir haben. Wir müssen Jeffs alte Professorin finden und, so leid es mir tut, ich weiß ihren Namen nicht mehr. Es ist einfach zu lange her. Der einzige Mensch, der ihn uns vielleicht verraten könnte, lebt in diesem Haus.“

Michael drehte sich zu Angelo herum. „Du wartest hier zusammen mit Gabriella. Und keinen Unsinn anstellen, solange ich weg bin.“

Angelo nickte ernst. Michael hatte ihm erzählt, wo sie waren und dass der Besuch hier sicherlich kein Spaziergang werden würde. Trotzdem blieb ihm nichts anderes übrig. Er atmete noch einmal tief durch und stieg aus.

 

Der Weg zum Haus war mit Natursteinen gepflastert. Es sah hübsch aus. Geschmackvoll. Nicht wirklich das, was er erwartet hatte, als er die Adresse herausgesucht hatte. Michael klingelte und sah sich weiter um. Auf dem Handwagen lagen einige Blätter, Stöcke und Steine sowie eine Spielzeugpistole. Plötzlich vernahm er Kinderlachen, das aus dem Garten zu ihm herüberwehte. Alarmiert hörte Michael genauer hin. Ja, es kam definitiv aus dem Garten hinter dem Haus. Er musste sich geirrt haben. Das hier war die falsche Adresse.

Er wollte gerade gehen, als die Haustür vor ihm zurückwich und eine Frau in der Türöffnung erschien. Sie war ein ganzes Stück älter als Michael, hatte glatte, dunkle Haare, die ihr bis auf die Schulter fielen, und trug lockere Freizeitkleidung. Ihre Füße steckten in geblümten Gummilatschen, wie Michael etwas irritiert feststellte. Gabriella hätte so etwas nie getragen.

„Ja bitte? Kann ich Ihnen helfen?“ Die Frau musterte ihn mit freundlichem Interesse.

„Ich …“ begann er und merkte, wie er instinktiv zurückweichen wollte. „Mein Name ist Michael Thompson. Ich … ich suche jemanden. Dwayne Fleming. Ich war ein Freund seines Sohnes.“

Michael erwartete, dass sie jetzt entschuldigend sagen würde, dass sie Jeffs Vater nicht kannte. Dass er sich in der Adresse geirrt hatte und es anderswo versuchen musste. Stattdessen wurde ihr Gesicht ernst.

„Kommen Sie rein.“

Sie trat von der Tür zurück und ließ ihn eintreten. „Hier entlang.“

Die Frau geleitete ihn vorbei an einer überquellenden Garderobe, an der ein buntes Sammelsurium an Kleidungsstücken hing – nicht zuletzt ein regenbogenfarbenes Etwas mit Flügeln, das Michael auf den zweiten Blick als Feenkostüm identifizierte – in ein Wohnzimmer, in dem ebenfalls ziemliches Chaos herrschte. Überreste einer Mahlzeit zierten den niedrigen Couchtisch, während der eigentliche Esstisch von einem Konvolut aus bunter Pappe, Papier, Stoff, Plastikperlen und Heißklebepistolen beherrscht wurde.

„Bitte entschuldigen Sie das Durcheinander. Ich habe mit den Kindern gebastelt und bin noch nicht zum Aufräumen gekommen. Sie sind mit ihrem Vater zusammen draußen im Garten.“

Die Frau ging zu einer halb geöffneten Terrassentür und rief hinaus: „Dwayne? Kommst du mal bitte? Hier ist jemand, der dich sprechen will.“

„Wer? Wer?“, hörte Michael eine helle Stimme rufen und im nächsten Moment schneite ein kleines Mädchen herein. Sie war unbezweifelbar die Besitzerin des Feenkostüms, denn sie trug gerade ein ähnliches Outfit mit einem regenbogenfarbenen Einhorn, das mitten auf ihrer Brust prangte. Auf dem Kopf saß inmitten eines dichten, dunklen Schopfes ein Haarreif mit einem bunten Horn aus Stoff.

„Dich kenne ich nicht“, stellte sie fest. „Ich bin Myra und das da ist mein Bruder Tom. Er ist acht und echt doof, weil er nicht an Einhörner glaubt. Und wer bist du?“

Michael lächelte. „Ich bin Michael. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es Einhörner gibt.“

Ein großer Schatten erschien an der Tür direkt neben dem finster dreinblickenden Jungen, den seine Schwester als Tom vorgestellt hatte.

„Dad, schau mal, das ist Michael. Er ist zu Besuch gekommen und glaubt an Einhörner. Kann er mit uns spielen?“

 

Jeffs Vater sah Michael schweigend an. Seine ehemals dunklen Haare waren jetzt von einem Grauschleier durchzogen und er war insgesamt etwas schlanker geworden als zu der Zeit, als Michael regelmäßiger Gast in seinem Haus gewesen war. Er hatte Falten bekommen, allerdings waren es keine Sorgenfalten. Er wirkte wie jemand, der viel lachte. Jetzt jedoch war sein Gesicht ernst, ja fast feindselig.

„Iris, bitte bring die Kinder raus. Das hier wird nicht lange dauern.“

„Aber Dad, wir wollten doch mit Michael spielen.“

„Oder fernsehen“, mischte sich der Junge ein. Sein Stirn lag immer noch in tiefen Falten und er sah seinem Vater unglaublich ähnlich. Viel ähnlicher als Jeff es je getan hatte, der immer mehr nach seiner Mutter gekommen war.

„Au ja und Eis!“, quietschte seine Schwester begeistert. „Bitte Mum, dürfen wir ein Eis?“

„Na meinetwegen. Aber passt auf, dass ihr nicht auf die Couch kleckert.“

Die drei restlichen Familienmitglieder verschwanden in der Küche und Michael blieb mit Jeffs Vater allein zurück.

„Ist lange her, Mr. Fleming“, sagte er. Sie hatten sich nie besonders nahegestanden und Jeffs Vater hatte immer erkennen lassen, dass er einen gewissen Respektabstand von Michael erwartete.

„Nicht lange genug“, antwortete Jeffs Vater. „Was willst du?“

Michael räusperte sich. Er hatte nicht erwartet, dass Jeffs Vater ihn freundlich empfangen würde. Dazu war einfach zu viel vorgefallen. Aber das hier …? Ein gemütliches Haus, eine neue Frau, neue Kinder? Das war, als hätte es Jeff nie gegeben. Als wäre dieses Kapitel in seinem Leben nicht mehr als eine flüchtige Affäre gewesen, dabei hatte er all das hier schon einmal gehabt. Mit Jeff. Wie es sich wohl anfühlte? Noch einmal all das zu durchleben. Ob er Angst hatte? Ob er fürchtete, diese Kinder ebenso zu verlieren wie sein erstes? Oder hatte er damit abgeschlossen und Michael war nicht mehr als ein unliebsamer Schatten aus der Vergangenheit, den es loszuwerden galt, so schnell es ging? Für Michael sah es aus, als wäre letzteres der Fall.

„Ich bin auf der Suche nach einer von Jeffs ehemaligen Lehrerinnen am College. Leider weiß ich ihren Namen nicht mehr und wollte daher fragen, ob Sie vielleicht noch Jeffs alte Unterlagen haben. Damit ich nachsehen kann.“

Jeffs Vater reagierte nicht. Er starrte Michael einfach nur an, als könne er nicht glauben, wer da gerade in seinem Wohnzimmer stand. Plötzlich kam sich Michael dumm vor. Vielleicht wäre es besser gewesen, gleich am College nachzufragen. Irgendeine Sekretärin hätte ihm den Namen vielleicht trotz der langen Zeit mit drei Handgriffen aus einem Computerverzeichnis heraussuchen können. Er hätte nicht gewaltsam hier eindringen sollen.

„Ich … es tut mir leid, Mr. Fleming. Es war falsch von mir, hierher zu kommen. Ich wollte nicht …“

„Dann geh“, erwiderte Jeffs Vater. „Ich kann dir ohnehin nicht helfen. Ich habe nichts mehr von dem alten Kram aufbewahrt. Es war kein Platz mehr dafür.“

Die Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Nur undeutlich nahm Michael war, wie Iris die Kinder an ihnen vorbei zum Fernseher bugsierte und dort irgendeinen Cartoon anschaltete, bevor sie zu ihrem Mann zurückkam. Sanft berührte sie ihn am Arm.

„Alles okay, Dwayne?“

„Ja, ist es. Michael wollte gerade gehen. Er hat nach Jeffs alten Sachen gefragt, aber ich habe ihm gesagt, dass wir sie weggeworfen haben.“

Noch einmal musste Michael sich bemühen nicht zusammenzuzucken. Die Stimme von Jeffs Vater war so kalt, als er das sagte. Unwillkürlich wandte Michael sich von ihm ab und seiner Frau zu. Er wollte sich gerade auch noch bei ihr entschuldigen, als er sah, dass sie sich auf die Lippen biss und ihrem Mann einen scheuen Seitenblick zuwarf.

„Also eigentlich, Schatz, sind die Kisten noch da.“

Der Kopf von Jeffs Vater ruckte herum. „Was hast du gesagt?“

Iris zog entschuldigend die Schultern hoch. „Ich habe gesagt, dass die Sachen noch da sind. Oben auf dem Speicher. Ich weiß, dass du gesagt hast, dass ich sie wegwerfen soll, aber ich habe gedacht, dass du es dir vielleicht irgendwann noch einmal anders überlegst. Ich wollte nicht, dass du etwas tust, was du später bereust.“

Für einen Moment schien es so, als würde Jeffs Vater wütend werden, doch dann glätteten sich seine Züge wieder.

„Wir reden später darüber“, sagte er nur und der Blick, den seine Frau ihm zuwarf, ließ Michael innerlich erschauern. Hatte er hier mehr heraufbeschworen, als er gewollt hatte? Er zögerte, bevor er weiter sprach.

„Wäre es möglich, dass ich mir die Sachen ansehe? Oder vielleicht … ich könnte sie mitnehmen und später wiederbringen? Meine Frau und ich sind mit dem Auto da.“

Die Erwähnung von Gabriella ließ Jeffs Vater aus seiner Erstarrung erwachen. „Deine … Frau?“

„Ja, ich bin verheiratet. Seit etwas mehr als zehn Jahren schon. Wir haben uns damals kennengelernt, als meine Eltern von hier weggezogen sind. Gabriella war mit dem Verkauf unseres Hauses beauftragt.“

„Ich verstehe“, murmelte Jeffs Vater. „Ich dachte eigentlich, dass du mit deinen Eltern zusammen …“

Michael schüttelte den Kopf. „Es ist einiges kaputtgegangen damals.“

Er erwähnte nicht, dass er Jeffs Vater manchmal gesehen hatte. Von weitem. Dass er ihm ausgewichen und mit Gabriella zusammen in einen anderen Stadtteil gezogen war. Dass sie sogar überlegt hatten ganz wegzuziehen, aber wegen Gabriellas Arbeit geblieben waren. Vielleicht war es bei Jeffs Vater so ähnlich gewesen.

 

Schweigen breitete sich aus, nur unterbrochen von der fröhlichen Musik, die aus dem Fernseher drang. Sie kündigte das Ende der Sendung an. Plötzlich kam Bewegung in die kleinen Figuren, die gerade noch wie gebannt vor der Mattscheibe gesessen hatten.

„Mum, können wir noch eine Folge? Biiitteee?“

„Ja, meinetwegen. Aber nur noch die eine.“ Iris sah aus, als wolle sie sich entschuldigen. Entschuldigen dafür, dass es sie gab.

Michael rief sich innerlich zur Ordnung. „Ich sollte langsam wieder gehen. Aber … es wäre mir wirklich wichtig, wenn ich die Unterlagen durchsehen könnte. Ich würde die Sachen in ein paar Tagen zurückbringen?“

Jeffs Vater nickte. „Ich … ich werde dir die Sachen nach draußen bringen. Es wird einen Moment dauern.“

„Kein Problem. Ich warte dort.“

Michael nickte Iris zu, bevor er sich zum Gehen wandte. Sein Blick glitt noch einmal über Schulranzen und Gummistiefel, über gerahmte Fotos an der Wand und Kinderzeichnungen am Kühlschrank. Das hier war ein Haus ohne böse Geister und er hoffte sehr, dass das auch in Zukunft so bleiben würde und sein Kommen nicht etwas ausgelöst hatte, dass all das hier ins Wanken brachte.

 

Als er nach draußen trat, sah er bereits, wie sich die Beifahrertür öffnete und Gabriella ausstieg. Auch Angelo verließ das Fahrzeug und sah ihm entgegen.

„Was hat er gesagt?“ wollte Gabriella wissen.

„Er … er bringt mir die Sachen. Ich glaube, ich habe da ein wenig an einer Vergangenheit gerührt, die er lieber vergessen hätte.“ Michael stockte kurz, bevor er anfügte: „Er hat Kinder. Einen Jungen und ein Mädchen. Es ist eigenartig und es kommt mir … falsch vor. Wenn überhaupt sollten es Jeffs Kinder sein, die hier herumlaufen. Stattdessen sind es seine Geschwister. Das ist einfach …“

Ihm fehlten die Worte dafür zu beschreiben, wie es sich anfühlte. Er sah, dass Gabriella anhob, etwas zu sagen, aber Angelo war schneller. Er trat zu Michael und zog ihn in eine Umarmung. Es war ein wenig umständlich, und für einen Moment wünschte sich Michael, dass Angelo tatsächlich einer dieser wunderbaren Engel aus Gabriellas Geschichten wäre, die überlebensgroß auf die Erde herabstiegen, um die Unglücke der Welt mit einem Flügelschlag von der Bildfläche zu fegen. Der Gedanke, Angelo an seiner Seite zu wissen, war nichtsdestotrotz tröstlich. Ihn und Gabriella. Michael hatte, was er brauchte. Er war glücklich.

Verstohlen wischte er sich über die Augen, die ein wenig feuchter waren, als sie es hätten sein sollen. Er schickte Gabriella, die inzwischen ebenfalls um das Auto herumgekommen war, einen dankbaren Blick und trat dann gerade in dem Moment von Angelo zurück, als Jeffs Vater aus dem Haus kam. Auf seinem Arm trug er zwei große Pappkartons mit Deckel. Sein Blick glitt von Michael zu Gabriella und blieb an Angelo hängen, den er ein wenig misstrauisch musterte, bevor er sich entschieden wieder an Michael wandte.

„Hier ist alles, was ich noch habe. Ich weiß nicht, ob du darin fündig werden wirst. Ist ein ziemliches Durcheinander, glaube ich. Ich habe nicht mehr hineingesehen, nachdem die Polizei die Kisten damals wiedergebracht hat. Es bestand keine Notwendigkeit dafür.“

„Danke“, sagte Michael nur, bevor sich Jeffs Vater noch zu weiteren Rechtfertigungen gezwungen sah. Das hier war etwas, dass er wollte. Er hatte kein Recht dazu, Jeffs Vater dafür zu verurteilen, wie er mit seiner Trauer umgegangen war. Vielleicht war es einfacher so für ihn. Ein neues Leben, ein neuer Anfang. Ohne Jeff.

Michael nahm die kostbare Fracht entgegen. Er räusperte sich. „Soll ich … anrufen, bevor ich die Sachen zurückbringe?“

„Ja, das wäre gut. Ich möchte nicht … die Kinder. Sie wissen nichts davon. Wir wollten warten, bis sie älter sind.“

Es schien, als wollte er noch etwas sagen, doch dann wandte Jeffs Vater sich abrupt ab und ließ sie einfach stehen. Michael sah auf die Kartons in seinen Armen herab.

„Ich glaube, wir sind hier fertig“, sagte er. „Kommt, lasst uns fahren.“

Michael verstaute die Kartons auf der hinteren Sitzbank und setzte sich dann wieder hinter das Steuer. Als Gabriella neben ihm Platz nahm, sah er sie an.

„Und jetzt? Sollen wir in ein Motel oder …?“

Sie schüttelte leicht den Kopf. „Lass uns nach Hause fahren. Wenn sie uns finden wollen, dann werden sie das tun. Dort oder anderswo. Wir können ebenso gut eine Nacht im eigenen Bett verbringen, bevor wir uns auf die Jagd begeben.“

Er lachte leise. „Auf die Jagd? Das klingt, als würdest du erwarten, dass wir etwas finden.“

Sie erwiderte sein Lachen. „Ich wäre nach all dem enttäuscht, wenn es nicht so wäre. Ich meine: Dämonen im Pool, ein Engel an unserer Seite, da wäre es doch wirklich eigenartig, wenn uns jetzt nur Staub und alte Akten erwarten würden. Nein, ich bin mir sicher, dass da irgendetwas ist, und wir werden es finden. Zusammen.“

Michael fühlte ein unglaublich warmes Gefühl in seiner Brust aufwallen. Er lehnte sich vor, und drückte seiner Frau einen Kuss auf den Mund, bevor er den Motor startete und den Wagen wieder auf die Straße lenkte. Auf dem Rücksitz Angelo und zwei Kisten voller Erinnerungen.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Lufferlang - Spinnenmonster, das die Wälder Nordamerikas bewohnt. Es wird sehr unterschiedlich beschrieben, teilweise mit einem Tiger- oder Pferdekopf, manchmal aber auch einfach nur als sehr große Spinne mit einem auffälligen, blauen Streifen auf dem Rücken. Mit seinen langen Beinen kann es angeblich in alle Richtungen laufen, fürchtet sich jedoch vor seinem eigenen Spiegelbild. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück