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Angelo

von

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Glück im Spiel

„Faites vos jeux. Bitte das Spiel zu machen.“

Die Aufforderung des Croupiers hatte ein reges Setzen der anderen Spieler am Tisch zur Folge. Alle hatten die Augen auf den grünen Tisch gerichtet und verteilten hektisch oder auch weniger hektisch, je nach Anzahl der vor ihnen liegenden Chips, ihre Einsätze auf dem nummerierten Feld. Michael klickte seine letzten zwei Jetons gegeneinander. 15 Dollar. 15 verdammte Dollar waren alles, was er noch hatte. Die kleine, weiße Kugel, die jetzt anfing geräuschvoll durch die Rinne am Rand des Rouletterades zu laufen, hasste ihn heute Abend offensichtlich. Er presste die Kiefer aufeinander und überlegte.

Michael war im Grunde genommen kein Spieler. Niemals im Leben hätte er sich an einen der Black Jack oder Poker Tische gesetzt, denn die ganze Sache mit den Karten war ihm suspekt. Auch den lauten Würfelspielen konnte er nicht wirklich etwas abgewinnen. Sportwetten langweilten ihn und die unzähligen Slot Machines, die im vorderen Teil des Casinos vor sich hin blinkten und piepten, reizten ihn erst recht nicht. Das fühlte sich zu sehr nach etwas an, das Kinder taten. Oder alte Damen mit ihren Bechern voller Kleingeld, das sie Münze auf Münze in die Schlitze der Spielautomaten steckten, als wären sie selbst ebenfalls nicht mehr als Maschinen. Nein, Michael kam ins Casino wegen der Atmosphäre. Er liebte es, den Menschen zuzusehen, während er sich einen Drink oder auch zwei genehmigte, um sich dann unter sie zu mischen und ein wenig sein Glück zu versuchen. Beim Roulette. Immer nur beim Roulette. Das war einfach. Man nahm einen Plastikchip, setzte ihn auf eine Zahl oder Farbe und je nachdem, wo die Kugel landete, gewann oder verlor man. Für Michael hatte es heute Abend jedoch immer nur „Leider verloren“ geheißen und seine Jetons waren einer nach dem andren vom Tisch geräumt worden. Nun hielt er die letzten zwei Stücke seines Einsatzes in der Hand und es war noch nicht einmal halb zehn. Wenn das so weiterging, wurde das ein kurzer Abend. Natürlich hätte er noch mehr Geld einwechseln können, aber er hatte ein festes Limit. Nicht mehr als 200 am Abend. Meist machte er bereits bei der Hälfte Schluss, weil es zu spät wurde und er ja schließlich nicht nur zum Spielen hierhergekommen war. Aber heute? Heute lächelte Lady Luck auf jeden Fall jemand anderem zu. Mit einem Seufzen nahm er die beiden verbleibenden Jetons und wollte sie auf rot setzen – immerhin kam schon eine ganze Weile schwarz, da musste ja mal wieder eine andere Zahl fallen – als ihm plötzlich der Zehn-Dollar-Jeton aus den Fingern rutschte und auf den Tisch purzelte. Michael wollte gerade danach greifen, als der Croupier ausrief:

„Rien ne vas plus. Nichts geht mehr.“

Scheiße. Michael fluchte leise in sich hinein und starrte missmutig auf das kleine Plastikteil, das fast vollständig auf der 24 lag. Ausgerechnet eine schwarze Zahl. War ja klar. Die würde mit Sicherheit nicht kommen. Er schüttete den Rest seines Drinks in sich hinein und schob sich vom Tisch zurück. Zeit zu gehen. Vielleicht konnte er noch ein bisschen Zeit rausschinden, wenn er den letzten Jeton doch in Münzen für die Spielautomaten umtauschte. Seinen unbeabsichtigten Einsatz würde er ohnehin nicht wiedersehen. Er hörte, wie die Kugel mit einem Klackern aus der Rille sprang und anfing, zwischen den Zahlen hin und her zu hüpfen. Als das Geräusch verstummte, war er bereits einen Schritt vom Tisch weg. Mit halbem Ohr lauschte er noch der angesagten Zahl.

„Vignt-Quarte. 24. Die 24 gewinnt.“

Michael tat noch einen weiteren Schritt, bis das Gesagte in sein Gehirn vordrang. Hatte der Typ gerade „24“ gesagt?“

„Monsieur, Ihr Gewinn.“ Es klimperte hinter ihm, als der Croupier die Jetons über den Tisch schob. Michael fuhr herum und starrte auf den Haufen bunten Plastiks. Da lagen doch tatsächlich 350 Dollar. Fast das Doppelte von dem, was er heute Abend bereits ausgegeben hatte.

Der Mann, der neben ihm gesessen hatte, drehte sich zu ihm herum. „ Na Sie sind ja ein Glückspilz. Los, kommen Sie, ich gebe Ihnen einen aus.“

Michael trat zurück an den Tisch und wollte sich schon wieder setzen, als er es sich plötzlich anders überlegte. Er sah den Mann, einen übergewichtigen 50-jährigen, entschuldigend an.

„Danke, aber ich glaube, ich werde mein Glück heute Abend nicht weiter strapazieren.“

Der Mann lachte. „Wahrscheinlich haben Sie recht. Man muss wissen, wann man aufhören sollte. Wäre meiner Frau sicherlich auch lieber. Dann machen Sie es gut. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“

Michael nickte beflissen freundlich, warf einen der Jetons als Trinkgeld auf den Tisch und strich die restlichen ein, um sie in seiner Jacketttasche zu versenken. Die Tasche beulte sich aus unter der schieren Masse. Er tauschte normalerweise immer nur wenig, damit er sich genau mit diesem Problem nicht belasten musste. Nach den letzten zwei Wochen, in denen er quasi ständig mit einer Tasche oder einem Musterkoffer in der Hand herumgereist war, genoss er es, heute Abend einfach mal frei zu haben. Frei von allem, sogar davon, Gepäck mit sich herumzutragen.

 

Er sah noch einmal zum Tisch zurück. Der Croupier, der sein Trinkgeld inzwischen eingestrichen hatte, war bereits wieder voll auf das nächste Spiel konzentriert. Es war ein junger Mann, vielleicht Anfang 20, gut aussehend auf eine jungenhafte Art und Weise. Das weiße Hemd und die schwarze, enganliegende Weste ließen die Form seines Körpers unter dem Stoff erahnen. Wenn Michael ehrlich war, war er derjenige gewesen, weswegen er den Tisch mit dem 10-Dollar-Limit angestrebt hatte, statt wie üblich an einen der niedriger limitierten Tische zu gehen. Er war ihm ins Auge gesprungen und Michael hatte nicht widerstehen können, sich schon ein wenig Appetit zu holen für das, was ihn nach dem Spielen erwarten würde. Denn neben dem Trinken und dem Spielen lockte noch etwas Michael nach Las Vegas und das war die Aussicht auf eine Nacht in netter Begleitung. Männlicher Begleitung.

Es gab hier genug Clubs, in denen er auf Fischzug gehen konnte. Und wenn es gar nicht anders ging, konnte man sicherlich auch in den Nebenstraßen nach jemandem suchen, der am Ende Cash dafür sehen wollte. Normalerweise ging Michael nicht so weit, zumal die Augen der Polizei quasi überall waren und er ungern seine Nacht in einer Zelle verbringen und eine saftige Geldstrafe abdrücken wollte. Aber jetzt, wo ihm die Jetons ein Loch in die Tasche brannten, überlegte er ernsthaft daran herum. Es würde ihm eine Menge Zeit sparen und mit dem Gewinn wäre die Nacht quasi umsonst.

Die letzten zwei Wochen waren anstrengend gewesen. Nicht nur, dass er unzählige Stunden im Auto verbracht hatte, nein, seine Kunden waren auch allesamt auf dem Arschloch-Trip gewesen. Er hatte endlos auf harten Plastikstühlen warten müssen, sich mit biestigen Sekretärinnen und vergessenen Terminen und nicht zuletzt mit jeder Menge kritischen Fragen auseinandersetzen müssen. So langsam zweifelte er daran, dass es eine gute Idee gewesen war, sich auf den neuen Job in der frisch hochgezogenen Firma einzulassen. Sicherlich, es hatte sich verlockend angehört. Die Arbeitsbedingungen waren gut – besser als in seinem vorherigen Job – es gab Krankenversicherung, humane Arbeitszeiten, Sozialleistungen. Alles nicht von schlechten Eltern. Trotzdem war er sich nicht sicher, ob nun ausgerechnet er derjenige sein würde, der dem deutschen Unternehmen mit dem grinsenden, gelben Bären als Identifikationsfigur in den Vereinigten Staaten zu Ruhm und Bekanntheit verhelfen würde. Zumal er das Zeug, das er verkaufte, auf den Tod nicht leiden konnte. Wahrscheinlich ging es seinen Kunden nicht anders.

Sinnierend strich er über die Tasche mit den Jetons. 350 Dollar. Kein riesiges Vermögen, aber auch nicht zu verachten. Selbst, wenn er den ursprünglichen Einsatz abzog, blieb immer noch genug für jede Menge Spaß übrig. Er schwankte. Eigentlich war es noch früh genug und er konnte es sich leisten, zunächst einmal die Bars abzuklappern. Vielleicht ließ sich ja da etwas finden.

 

Michael ließ sich seinen Gewinn auszahlen und verließ die hell erleuchteten Hallen des Casinos mit ihrem ewig gleichen Licht, den fehlenden Uhren und der ständigen Beschallung mit Klimpern, Rasseln und jubelnden Stimmen. Sieh nur her, schien es rings um ihn herum sirenengleich zu singen. Sieh her, hier kannst du Spaß haben. Hier kannst du gewinnen. Hier bist du ein gerngesehener Gast. Bleib solange du willst. Trink, spiel, hab Spaß! Die moderne Version des klassischen „Panem et circenses“ nur mit weniger Löwen.

Natürlich ging das Konzept auf. Millionen und Abermillionen Spielwütiger konnten sich nicht irren. Die zahlreichen Leuchtreklamen, blinkenden Lichter und allgemein das, was man als das „Paradies in der Wüste“ bezeichnete, konnten so verkehrt nicht sein. Wenn Gott Geld gehabt hätte, hätte er die Erde so gebaut wie Las Vegas, hatte mal einer der Casino-Milliardäre behauptet und Michael war geneigt, ihm zuzustimmen. In Vegas gab es nichts, was es nicht gab, und kein Wunsch blieb unerfüllt. Wenn man genug Geld hatte.

 

Er trat aus dem Casino und stand im nächsten Moment auf dem Strip. Hinter ihm buhlten die unzähligen Lichter der riesigen Leuchtschrift um neue Kunden, die ebenso zahlreich hinein wie hinausströmten. Es war viel los heute. Kein Wunder an einem Freitagabend. Die schwülwarme Luft um ihn herum war erfüllt von Stimmen, Lachen, dem Klang der Musik und den Motorengeräuschen der vorbeifahrenden Autos. Hier steppte der Bär, hier tanzten die Puppen, hier pulsierte das Leben. Es war schwer, sich der Wirkung der Stadt zu entziehen. Doch Michael hatte das auch gar nicht vor. Er ließ sich treiben in dem Strom der Passanten, die ihn an den bunten Lichtern und künstliche bewässerten Palmen, den Fontänen und hell erleuchteten Springbrunnen, den Pyrotechnikeinlagen und zahlreichen Anwerbern vorbei immer weiter in Richtung des nächsten Vergnügens zogen. Derweil überlegte er, wo er hingehen sollte. Es gab einige Läden zur Auswahl. Das „Malibu“, das „Blue Oyster" oder die „Rainbow-Bar“ waren beliebt und zogen wechselndes Publikum an, zwischen dem sich für jeden Geschmack etwas finden ließ.

Michael wusste genau, wonach er suchte. Er mochte junge, knabenhafte Männer, nicht zu alt und möglichst nicht zu aufmüpfig. Wenn man so wollte ein Gegenstück zu ihm selbst. Er war mit seinen 1,95 m, den breiten Schultern und kräftigem Körperbau, muskulösen Armen und ebenso durchtrainierten Beinen nicht gerade das, was man einen Gartenzwerg nannte. Dadurch, dass auch sein Gesicht unter dem fast schon militärisch kurz geschnittenen, dunklen Haaren nicht unbedingt unansehnlich war, konnte er sich meist eines der Schnittchen aussuchen, um es für eine Nacht mit unter die Bettdecke zu nehmen. Eine Nacht wohlgemerkt und nicht mehr. Denn morgen würde er aufstehen, sich in seinen Wagen setzen, die eintönige Strecke nach Salt Lake City zurücklegen und in die liebenden Arme seiner Frau zurückkehren.

Gabriella würde ihn sicherlich nicht vor dem Abend erwarten, aber er hatte vor, sie zu überraschen und bereits gegen Nachmittag einzutreffen. Er vermisste sie und freute sich, noch ein nettes Wochenende mit ihr zu verbringen. Aber heute Abend gehörte noch ihm allein wie jedes Mal, wenn er von einer Geschäftsreise zurückkam.

 

Seine Füße trugen in den Strip entlang Richtung „Malibu“. Dort gab es oft eine Menge Latinos und ihm war, wie er feststellen musste, heute anscheinend nach ein bisschen Exotik. Es war nicht so, dass er auf die jungen Kerle, die er altersmäßig meist um gut zehn Jahre überbot, herabsah. Im Gegenteil. Er war immer sehr zuvorkommend und legte großen Wert darauf, dass auch sein Bettpartner auf seine Kosten kam. Aber er machte auch keinen Hehl daraus, dass er sie nicht für mehr als das Eine aus der Bar abzuschleppen gedachte. Wer in Vegas seine große Liebe suchte, hatte sowieso irgendwas ganz gründlich missverstanden. Hier kam man her um sich unverbindlich zu amüsieren, Party zu machen und es sich gutgehen zu lassen, solange die Geldbörse es eben hergab.

Vor dem Malibu rückte er noch einmal die Krawatte zurecht, überlegte kurz und band sie dann ab, um sie in der Tasche verschwinden zu lassen. Hier brauchte er nicht mehr den erfolgreichen Geschäftsmann zu mimen. Hier war er einfach nur ein großer Mann auf der Suche nach einem warmen Körper und etwas Spaß.

Dann mal nichts wie rein ins Vergnügen, dachte er bei sich und begab sich in die bunt beleuchtete Gay Bar.

 

 

„Ich kann mit meiner Zunge Sachen anstellen, die dir die Schuhe ausziehen.“

Der kleine Latino mit dem femininen Auftreten und dem knallpinken T-Shirt wickelte sich förmlich um ihn herum. Michael hob den Arm, um über seinen Kopf hinweg an sein Glas zu kommen, und trank den letzten Schluck Whiskey. Das Getränk brannte in seiner Kehle und er merkte, dass er langsam genug hatte. Genug zu trinken und genug von Pablo, Paco oder wie auch immer er hieß.

Eigentlich war es gut gelaufen. Er hatte sich an die Bar gesetzt und sich die Auswahl angesehen, die sich zu heißen Salsaklängen über die Tanzfläche bewegt hatte. Das Vögelchen, das ihm da gerade unter das Jackett kroch, war ihm gleich aufgefallen und nach einer mehr als aufreizenden Tanzeinlage, hatte er ihn zu sich gewinkt und in ein Gespräch verwickelt. Wenn man es denn so nennen konnte, denn Paco – er beschloss, ihn jetzt einfach mal so zu nennen – hatte sich nicht gerade durch außerordentlich intelligente Antworten ausgezeichnet. Ob das jetzt echt oder nur gespielt war, wusste Michael nicht. Fakt war jedoch, dass es ihn nervte und zwar mehr, als er gedacht hatte. Vielleicht deswegen, weil ihn Pacos Augen an die seiner Frau erinnerten. Gabriella mochte vieles sein, aber dumm war sie nicht. Michael seufzte. Es war mittlerweile spät geworden auf seiner inneren Uhr und das hier wurde nicht besser, wenn er es noch herauszögerte.

„Also schön, Paco ...“

„Ich heiße Rico.“

Als ob das wirklich sein richtiger Name wäre. Michael verkniff sich ein Schnauben.

„Okay, Rico, pass auf. Ich muss morgen früh raus und würde jetzt gern in mein Hotel zurückkehren. Hast du Lust, mich dahin zu begleiten?“

Rico leckte sich über die Lippen, die nach irgendeinem synthetischen Kirschzeug rochen.

„Was zahlst du?“

Michael glaubte, sich verhört zu haben.

„Wie bitte?“

„Du hast schon verstanden. Wie viel zahlst du? Wenn ich mitkommen soll, muss mindestens ein Fünfziger drin sein, ansonsten lohnt sich der Weg nicht. Alternativ gehen wir hinters Haus und ich blas dir einen, dann bist du mit 20 dabei.“

Fuck, ich hab einen Stricher erwischt.

Michael hätte fast gestöhnt. Dass die Kerle inzwischen auch das Innere der Bars unsicher machten, war ihm neu. Normalerweise guckten die Besitzer danach, dass ihre Läden sauber blieben. Aber entweder war Rico neu oder er hatte sich den Gefallen erkauft. Vermutlich in Naturalien. Die Tatsache, dass er Geld für seine Dienste wollte, blieb jedoch und wurde auch nicht dadurch besser, dass Rico jetzt seine Hand über Michaels Oberschenkel in Richtung seines Schritts schob.

„Also was ist, Daddy? Blowjob oder willst du richtig einen wegstecken?“

Michael schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Natürlich hätte er … Rico jetzt einfach mitnehmen können. Das Etablissement, in dem er sich eingemietet hatte, gehörte eher zur niedrigen Preisklasse und den Portier würde eher interessieren, dass er seine Rechnung bezahlte und nicht das Mobiliar zerdepperte, und weniger, wen er heute Nacht mit in sein Bett nahm. Aber irgendwie widerstrebte es Michael heute, eine dieser Straßenkatzen anzuheuern, die sich für ein paar Dollar an den nächstbesten verkauften, der es nötig hatte. Das war wirklich nur etwas für richtige Notfälle.

Er griff in seine Jacketttasche und holte blind einen Geldschein heraus. Einen Fünfziger, wie er feststellen musste. Nun ja, auch egal. Er hatte heute genug gewonnen.

Michael pflückte Ricos Hand von seinem Oberschenkel, wo sie schon gefährlich nah an der Endzone gewesen war, und drückte ihm unauffällig den Schein in die Hand.

„Hier, nimmt das“, sagte er und versuchte, nicht zu gönnerhaft zu wirken. „Kauf dir davon was zu essen und geh für heute Abend nach Hause. Wenn's dir hilft, stell dir einfach vor, ich hätte dich für die Nacht mitgenommen.“

Rico schielte nach dem Schein in seiner Hand und seine Augen wurden groß. „Im Ernst jetzt? 50 Dollar? Einfach so?“

„Ja, einfach so“, knurrte Michael. „Und jetzt verschwinde. Ich hab schon genug Zeit mit dir vergeudet.“

Rico schien kurz zu überlegen, aber dann beschloss er wohl, lieber die Beine in die Hand zu nehmen, bevor der komische Kauz für sein Geld doch noch eine Gegenleistung verlangen konnte. Er drehte sich herum und strebte, ohne sich noch einmal umzusehen, dem Ausgang zu. Irgendjemand rief ihm noch etwas nach, aber er hob nur grüßend die Hand, bevor seine schmale, pinke Silhouette in der Nacht abtauchte.

Michael überlegte, ob er noch einen Drink ordern sollte, doch dann stand er lieber auf und machte sich ebenfalls auf den Weg nach draußen. Die Stimmung für das „Malibu“ war ihm heute verdorben. Vielleicht fand sich ja im „Rainbow“ was Passenderes.
 

Er trat auf die Straße und sah sich um. Die Menschenströme waren, auch wenn das unglaublich schien, noch dichter geworden und strebten an ihm vorbei in Richtung Strip. Michael wäre fast von einem älteren Pärchen umgerannt worden, das sich lauthals in irgendeiner fremden Sprache stritt. Es klang, als würden sie sich gegenseitig mit Blechbüchsen bewerfen. Er blickte ihnen noch kurz nach und traute dann seinen Augen nicht, als er an der nächsten Ecke einen pinken Fleck ausmachen konnte. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen und sah genauer hin. Das war ziemlich eindeutig Rico, der von einem größeren Kerl, der ihm typmäßig ähnlich sah, am Arm festgehalten wurde. Wie es aussah, stritten die beiden sich. Michael wollte sich schon abwenden, weil ihn das immerhin nichts anging, als er sah, wie Rico dem größeren etwas aushändigte. Wenn Michael hätte wetten sollen, hätte er auf seinen 50-Dollar-Schein getippt.

 

Michael merkte, wie sich ohne sein Zutun seine Faust ballte. Er konnte solche Typen nicht leiden, die Kleinere schikanierten. Hatte er noch nie gemocht. Nur weil man groß war, hieß das ja nicht, dass man andere herumschubsen konnte, wie es einem passte. Und dass der blöde Wichser seinem Vögelchen gerade das Milchgeld abnahm, ging ihm ganz gewaltig gegen die Hutschnur.

Ohne besonders viel Rücksicht auf die anderen Passanten zu nehmen, bahnte sich Michael seinen Weg auf die beiden Latinos zu, die immer noch stritten. Anscheinend hatte Rico noch nicht genug abgeliefert und sein Zuhälter oder wer auch immer der größere Kerl war, wollte ihn wieder losschicken. Aber ohne Michael.

„Hey!“, rief er, als er nur noch ein paar Schritte entfernt war. „Lass den Kleinen in Ruhe.“

Die beiden drehten sich zu ihm um und Ricos Augen wurden noch größer als zuvor, als er den Schein erhalten hatte. Er flüsterte dem großen etwas zu und der schien zu fluchen. Er schubste Rico von Michael weg den Fußweg entlang und fing selbst an, in die gleiche Richtung zu gehen.

Das hast du dir so gedacht, knurrte Michael in Gedanken und wurde ebenfalls schneller. Der Zuhälter drehte sich um. Als er sah, dass Michael dabei war aufzuholen, ließ er alle Vorsicht fahren und begann zu laufen. Dabei zog er Rico mit sich und die beiden drohten im Gewühl zu verschwinden. Michael gab dennoch nicht so schnell auf. Er beschleunigte seine Gangart erneut und als die beiden Jungen an der nächsten Ecke abbogen, lief er ohne viel nachzudenken hinterher.

 

Kaum hatten sie den Strip hinter sich gelassen, begannen die beiden Jungen ohne jede Vorsicht zu rennen. Michael jagte hinter ihnen her und holte zusehends auf. Gleich würde er den Großen erwischen und dann konnte der sich schon mal auf was gefasst machen. Er streckte im Laufen die Hand aus, als sein Ziel plötzlich einen Haken schlug und in eine Seitengasse davonstürzte. Rico, der von all dem nichts mitbekommen hatte, rannte weiter geradeaus. Michael entschied sich innerhalb von Sekunden. Er wollte den Kerl mit seinem Geld erwischen. Also stürmte er ebenfalls in die schmalere Gasse, wo der Zuhälter inzwischen schon wieder an Boden gewonnen hatte. Michael lief, seine Beine griffen weit aus und langsam kam er wieder näher heran. Gleich, gleich würde er ihn haben.

Da schoss auf einmal ein Auto vor ihm über die Straße und hupte wild, als es ihm fast die Zehen abfuhr. Michael konnte gerade noch bremsen, um nicht mit voller Wucht gegen die Karosserie geschleudert zu werden. Er schickte dem Fahrer einen saftigen Fluch hinterher und sah sich um. Von dem Zuhälter war nichts mehr zu sehen und auch ansonsten schien es hier plötzlich niemanden mehr zu geben außer ihm. Er stand schwer atmend auf der Kreuzung und wusste nicht, in welche Richtung der Scheißkerl verschwunden war. Selbst von dem Auto gab es keine Spur mehr.

Michael stützte sich auf seine Oberschenkel und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er trieb durchaus Sport, wenn er zu Hause war. Joggen, Schwimmen und gerne auch mal eine Runde Basketball, da war er dabei. Nur weil er kein Football mehr spielte, hieß das ja nicht, dass er deswegen zur Couch-Potato mutieren musste. Trotzdem hatte ihn der Sprint ziemlich unvorbereitet erwischt. Diese viele Autofahrerei war einfach der Killer für jede Kondition.

Sitzen ist das neue Rauchen, dachte er und streckte den Rücken durch. Sein Geld und vor allem den Typen konnte er wohl vergessen. Den würde er in diesem Gewirr von unbekannten Straßen und Gassen nicht mehr finden.

 

Er sah sich um und stellte fest, dass ihn die kleine Verfolgungsjagd weiter von der gut erleuchteten Vergnügungsmeile weggetragen hatte, als angenommen. Um ihn herum war nichts mehr von den bunten Leuchtreklamen und der hellen Scheinwelt erkennbar, für die Vegas so berühmt war. Hier gab es Wohnhäuser mit riesigen, ratternden Klimaanlagen, überquellende Mülltonnen und die Leiche eines Autos, von dem er in der Dunkelheit nicht mehr erkennen konnte, ob es abgebrannt oder nur ausgeschlachtet war. Ein Fahrrad ohne Räder und eigentlich auch sonst ohne alles, was man zum Fahren brauchte, war noch mit einer rostigen Kette an die Laterne neben ihm gekettet. Deren heller Lichtkreis hob sich deutlich gegen die Dunkelheit ab und ihm wurde klar, dass er sich gerade ziemlich auf dem Präsentierteller befand. Er knurrte noch einmal und setzte sich dann in Bewegung, um den Rückweg anzutreten.

 

Die Gegend hier war wirklich nicht die Beste. In den Ecken lag Müll und Unrat und als ein Schatten über die Straße huschte, war er sich nicht sicher, ob es eine sehr kleine Katze oder doch eher eine sehr große Ratte gewesen war. Man riet den Touristen nicht umsonst, sich nach Anbruch der Dunkelheit quasi nicht mehr vom Strip zu entfernen, denn hinter der glitzernden Fassade war Vegas eine dreckige, alte Schlampe, die ihre Kinder langsam aber unaufhaltsam fraß. Oder sie fraßen sich gegenseitig. Manchmal hatte Michael das Gefühl, dass, wer es irgendwo anders zu nichts gebracht hatte, nach Vegas kam, um hier noch ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Vermutlich war das der Grund, warum auch er immer wieder hier aufschlug. Damit er sich noch ein bisschen besser vorkommen konnte als diejenigen, die hier tatsächlich lebten.

In der Ferne konnte er die Lichter sehen, die ihm den Weg wiesen. Er kannte also die ungefähre Richtung. Das Dumme war nur, dass anscheinend keine Straße gewillt war, in diese Richtung zu führen. Er konnte lediglich die ganze Zeit geradeaus laufen. War das auf dem Hinweg auch schon so gewesen? Er schnaubte.

Nun, verlaufen würde er sich schon nicht und es war ja auch nicht so, dass er ganz wehrlos war. Er atmete trotzdem auf, als er in der Ferne endlich eine Kreuzung auftauchen sah, an der eine Straße endlich wieder Richtung Strip führte. Er wollte gerade in einen leichten Trab fallen, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Es klang wie ein lautes Scheppern, gefolgt von mehreren Stimmen, die dreckig lachten und sich angeregt unterhielten. Er blieb stehen und lauschte. Irgendetwas an dem Stimmengewirr, das er nicht so ganz identifizieren konnte, ließ ihn aufhorchen. Langsam und ohne es wirklich zu merken, ging er wieder ein Stück die Straße zurück, den Kopf schräg gelegt und mit den Augen nach der Quelle des Lärms suchend.

Die Stimmen wurden lauter und inzwischen konnte er immerhin erkennen, dass sie wohl kein Englisch sprachen. Was im Grunde nicht verwunderlich war, denn in Vegas herrschte, was die Wahl der Sprache anging, relative Meinungsfreiheit. Es war nicht erforderlich, sich in der offiziellen Landessprache ausdrücken zu können, um hier wohnen und arbeiten zu dürfen. Wenn man in der Lage war, drei Kreuze unter einen Vertrag zu schmieren, reichte das vollkommen aus.

 

Michael blieb jetzt vor einer Einfahrt stehen, an der er gerade schon einmal vorbeigekommen sein musste. Hinter dem Hoftor mit der abblätternden weißen Farbe und großen Roststellen konnte er jetzt deutlich die Stimmen von mindestens vier oder fünf Männern hören. Wahrscheinlich schacherten sie gerade um irgendwelche Waffen oder Drogen und es wäre das Beste für ihn gewesen, sich möglichst schnell aus dem Staub zu machen. Dann allerdings hörte er einen Laut, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war eine helle Stimme, die eindeutig nicht zu den rau lachenden Gesellen gehörte. Eine Stimme, die jetzt ein gequältes „No! Vi prego. Lasciami in pace!“ von sich gab. Als Antwort gab es nur ein lauteres Lachen und ein Geräusch mit anschließendem Schmerzenslaut, das auf einen Schlag hindeutete. Michaels Gedanken begannen zu rasen.

Er hätte nicht mit einer gebürtigen Italienerin verheiratet sein müssen, um zu verstehen, dass dort drinnen jemand in Not war. Und dass, wenn niemand eingriff, sicherlich etwas Furchtbares passieren würde. Aber in dieser Stadt, ach was, in diesem Land passierte alle paar Sekunden irgendjemandem etwas Furchtbares und meist fuhr man besser damit, wenn man einfach nicht hinsah und sich um seinen eigenen Kram kümmerte. Nur leider war Michael niemand, der das besonders gut konnte. Gabriella witzelte oft, dass er doch hätte zur Polizei gehen sollen. Er wäre sicherlich einer dieser „guten Cops“ geworden, die versuchten, für Recht und Ordnung zu sorgen, nur um dann noch vor ihrem 40. Geburtstag an der Flasche zu hängen, weil sie es nicht mehr ertragen konnten, wie sehr das System doch alle Anflüge von Moral und Anstand unter seiner Schuhsohle zermalmte. Aber seit dem Unfall damals, der ihn seinen besten Freund, seine Karriere und beinahe sein linkes Bein gekostet hatte, war er nicht eben gut auf Uniformträger zu sprechen. Noch weniger gut allerdings auf Leute, die sich an Schwächeren vergriffen. Ohne lange zu überlegen, griff Michael nach dem nur angelehnten Tor und stürmte in den Innenhof.

 

Das Bild, das sich ihm bot, war in etwa das, was er erwartet hatte. Fünf zwielichtige Gestalten, seines Dafürhaltens nach mussten es Mexikaner oder Kubaner sein, hatten sich in dem Hinterhof um ihr Opfer versammelt, das am Boden lag und von dem er nicht mehr erkennen konnte, als das es offensichtlich nicht hierher gehörte. Kaum war er um die Ecke gekommen, sah er sich auch schon mit dem mutmaßlichen Anführer der fünf konfrontiert, der ihm brüsk den Weg vertrat. Eigenartigerweise war es nicht der Größte in der Runde, sondern ein relativ schmales Hemd, das Michael gerade mal bis zur Brust reichte und zum Glück überrumpelt genug war, um nicht gleich eine Waffe zu ziehen. Als Michael dieser Gedanke kam, wurde ihm erst bewusst, wie sehr er sich gerade in die Scheiße geritten hatte. Jetzt half nur noch die Flucht nach vorn.

„Hey, was geht hier vor? Lasst ihn in Ruhe!“ Er hatte keine Ahnung, ob die Typen ihn verstanden, aber so, wie er aufgetreten war, war das wohl schwerlich misszuverstehen.

Einer der restlichen vier schnaubte belustigt. „Eh, Alejandro! Lo matamos?“

Der Angesprochene hob die Hand, als wolle er seinen Kumpanen ein Zeichen geben, noch zu warten. Er knurrte etwas, das sich nach einer Drohung anhörte. Michael hatte keine Ahnung, worum es ging. Er selbst sprach kein Spanisch, das merklich über „Buenos Días“ und die Frage nach dem Weg zur nächsten Tankstelle hinausging.

„Ich hab gesagt, ihr sollt ihn gehen lassen“, wiederholte er, denn inzwischen war er sich ziemlich sicher, dass es sich bei dem Opfer um einen jungen Mann handelte. Der hatte die Beine an den Körper gezogen und wimmerte leise.

Der Mexikaner grinste und entblößte dabei einen unglaublich klischeehaften Goldzahn.

„Pass auf, Gringo, ich mache dir einen Vorschlag“, schnarrte er und Michael stellte fest, dass er nicht nur einen starken Akzent hatte, sondern zudem auch noch furchtbar lispelte. „Du verschwindest von hier und gehst dorthin zurück, wo deinereiner hingehört, und wir vergessen, dass wir dich hier gesehen habe. Was hältst du davon?“

Wer immer der Kerl war, er hatte offensichtlich mit Hilfe von Bugs Bunny Cartoons Englisch gelernt. Anders konnte sich Michael dieses Geschwafel nicht erklären. Andererseits war Michael niemand, der einem geschenkten Gaul allzu lange ins Maul schaute. Die Typen hatten ihren Standpunkt klargemacht, dass sie ihr Opfer nicht gehen lassen würden. Und Michael würde Ärger bekommen, wenn er blieb. Somit blieb ihm nur eine Wahl. Er ballte die rechte Hand zur Faust und schlug zu.

 

Die Wirkung des Schlags war so überwältigend, dass er es selbst gar nicht glauben konnte. Der Anführer der Bande sah ihn für einen Moment völlig entgeistert an, bevor sich seine Augen verdrehten und er bewusstlos nach hinten umkippte. Unter seinen Kumpanen herrschte für einen Augenblick fassungsloses Schweigen, bevor die sprichwörtliche Hölle losbrach. Gleich zwei der Kerle versuchten sich auf Michael zu stürzen, behinderten sich dabei aber zum Glück gegenseitig, sodass er ihnen ausweichen und einen von ihnen noch aus dessen Angriffsbewegung heraus gegen die nächste Wand schicken konnte, wo er dankenswerterweise liegenblieb. Der zweite hatte sich geduckt und knurrte ihn an. Das Geräusch sorgte dafür, dass sich die Haare in Michaels Nacken aufstellten. Irgendetwas war damit definitiv nicht in Ordnung. Als er erneut angriff und nach Michaels Beinen schnappte, um ihn zu Fall zu bringen, hieb Michael ihm mit der Handkante in den Nacken. Im nächsten Moment verzog er schmerzverzerrt das Gesicht. Seine Hand fühlte sich an, als hätte er damit gegen Beton geschlagen, während der andere sich nur schüttelte wie ein Hund, der gerade aus dem Wasser kam. Er umkreiste Michael und bleckte die Zähne, die im Mondlicht weiß aufblitzten.

Zu seinem Glück hatten die zwei restlichen Gestalten nicht so viel Kampfesmut. Einer von ihnen hatte sich des Anführers angenommen, während der andere den zweiten Verletzten auf die Beine zerrte. „Salgámonos de aquí“, zischte er. „Volveremos más tarde.“

Der Knurrer schüttelte den Kopf. „No le va a gustar al jefe."

Doch der Kerl, der dem immer noch ziemlich benebelten Wandknutscher auf die Beine geholfen hatte, gab ein Fauchen von sich, das den Knurrer anscheinend in seine Schranken wies. Er winkte seinen Kumpanen.

„Vámonos!“

Sie stürzten zur Tür hinaus, jedoch nicht ohne, dass der Faucher Michael noch einmal einen spöttischen Blick zuwarf. Seine Augen schienen von innen heraus zu glühen und ein böses Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.

„Du weißt nicht, in was du dich hier einmischst, Gringo. Ich wünsche dir viel Spaß mit dem Ángel.“

Er lachte noch einmal heiser und das Geräusch jagte erneut eine Gänsehaut über Michaels Rücken. Dann waren sie verschwunden und Michael stand plötzlich allein in dem verwaisten Innenhof. Das hieß, nicht ganz allein. Da war immer noch das zitternde Bündel Mensch, das sich inzwischen vollkommen zu einer Kugel zusammengerollt hatte und eigenartige Laute von sich gab. Michael atmete tief durch und näherte sich dem am Boden Liegenden langsam.

„Hey, du kannst aufstehen. Sie sind weg“, sagte er und beugte sich gleichzeitig zu dem jungen Mann hinunter. Als er seine Hand auf dessen Rücken legte, hätte er sie beinahe wieder zurückgezogen. Der schmale Körper stand förmlich in Flammen, obwohl er mit dem weißen T-Shirt und der hellen Jeans nicht eben übermäßig dick bekleidet war. Michael warf einen Blick auf seine Füße und stellte fest, dass er keine Schuhe trug. Was war hier los? Hatten die Bohnenfresser ihn etwa ausgeraubt? Aber warum hatten sie ihn dann nicht einfach liegenlassen und waren mit ihrer Beute abgezogen. In ihm keimte ein unschöner Verdacht …

 

Er fasste den Jungen an der Schulter und drehte ihn mit sanfter Gewalt in seine Richtung. Als dessen Kopf zu ihm herumrollte, gab Michael einen überraschten Laut von sich. Der junge Mann war außergewöhnlich gutaussehend. Ein schmales, beinahe edel wirkendes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem fein geformten Mund wurde umrandet von einem Kranz aus weißblonden, leicht gelockten Haaren, die ihm ein wenig unordentlich ins Gesicht hingen. Das Auffälligste waren jedoch seine Augen, die sich jetzt auf Michael richteten. Für einen Augenblick hatte der das Gefühl in einen kristallblauen Bergsee zu tauchen, dessen Kälte und Klarheit ihm schier den Atem raubten. Die Wirkung wurde jedoch ein wenig davon getrübt, dass in den den aquamarinblauen Iriden zwei dicke, schwarze Punkte schwammen. Die Pupillen waren derart erweitert, dass sie die blaue Farbe fast verschluckten und nur noch alle klaren Gedanken verschlingende Schwärze hinterließen.

„Verdammt“, fluchte Michael. Er wusste, was das hieß. Die Schweine hatten dem Kleinen irgendwelche Drogen verpasst, sodass dieser nicht mehr Herr seiner Sinne war. Eine schmale Hand klammerte sich an sein Revers.

„Aiutatemi“, flüsterte der Junge und seine Augen nahmen, so denn möglich, einen bittenden Ausdruck an.

Michaels Gedanken überschlugen sich. Er konnte den Jungen sicherlich in ein Krankenhaus bringen, aber wenn es etwas gab, das in Las Vegas noch schlimmer war, als die korrupte und gewalttätige Polizei, dann war es die örtliche Gesundheitsversorgung. Neue Silikon-Titten, kein Problem. Mit einem echten Notfall hingegen schlug man sich vermutlich lieber zum nächsten Krankenhaus in 300 Meilen Entfernung durch, bevor man sich von einem der ortsansässigen Quacksalber behandeln ließ. Aber so viel Zeit hatte der Junge nicht. Bis dahin würde sein Körper schlapp machen.

„Fuck!“, fluchte Michael und sah dem Jungen direkt ins Gesicht. „Du stehst unter Drogen. Verstehst du mich? Drogen.“ Er kramte in seinen rudimentären Italienisch-Kenntnissen. „Stupefacenti. Capice? Ich muss dich in ein Krankenhaus bringen. Du stirbst sonst.“

Der Junge sah ihn an und seine Lippen bewegten sich, als wolle er die Worte nachsprechen, die Michael gerade gesagt hatte. Einen Augenblick später schüttelte er den Kopf.

„Nein, kein Krankenhaus. Ich brauche ...“

Sein Körper zuckte zusammen und aus seinem Mund kam ein derart tiefes Stöhnen, das es Michael durch Mark und Bein fuhr … und dann direkt zwischen seine Beine. Oh scheiße! Das durfte doch nicht wahr sein.

Der Junge klammerte sich jetzt noch fester an ihn und sein stoßweiser Atem ließ plötzlich keinen Zweifel mehr an seinem Zustand. Sein Gesicht hatte sich inzwischen gerötet und in seine Augen war ein hungriger Ausdruck getreten. Ein Ausdruck, der Michael vollkommen auf dem falschen Fuß erwischte. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde, während der Junge immer näher kam.

„Hilf mir“, flüsterte der noch einmal, bevor er seine Lippen auf Michaels presste.

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Weil ich (mit Hilfe der lieben Pimiento von ff.de, die mit bei den spanisch Teilen zur Seite stand) ja so ein bisschen mit Fremdsprachen um mich geschmissene habe, schnell noch eine kleine Übersetzungslegende:

Lo matamos? - Sollen wir ihn töten?
Salgámonos de aquí. Volveremos más tarde. - Lasst uns abhauen. Wir kommen später wieder.
No le va a gustar al jefe. - Das wird dem Chef nicht gefallen.
Vámonos! - Gehen wir!

No! Vi prego. Lasciami in pace! - Nein. Bitte. Lasst mich in Ruhe!
Aiutatemi! - Hilf mir!
Stupefacenti – Drogen
Capice? -Verstanden? Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Kimi104
2019-12-14T15:38:33+00:00 14.12.2019 16:38
Guten Morgen (Ja als Nachtwache darf ich das auch um die Zeit sagen)
Wie ich sehe hat dich der plotbunny doch überwältigt... schön zu sehen das die kleinen fiesen Dinger uns so schöne Geschichten von dir schenken... ich freu mich auf weitere Kapitel...

Kannst du nur ggf wenn du mehr Fremdsprachen verwendest diese vllt gleich im Text unterbringen... ich meine es ist im Grunde fast klar was sie sagen aber wenn die beiden demnächst auf italienisch reden wäre ne kleine Übersetzung in einer Klammer etwas einfacher als nach unten zu scrollen und zu suchen...


Antwort von:  Maginisha
14.12.2019 16:52
Hallo Kimi,

eine Übersetzung innerhalb des Textes wird es definitiv nicht geben. Das erachte ich als sehr schlechten Stil. Da könnte ich gleich mit Smileys arbeiten. ^_~
Im Grunde finde ich es auch gut, wenn man als Leser genauso wie der Prota nicht weiß, worum es geht. Ich hätte auch einfach nur schreiben können, dass sie miteinander reden und gar keine Übersetzung liefern können, aber es hatte an der Stelle einen Sinn, es hinzuschreiben. Ich hatte überlegt, es als Glossar anzuführen. Das kann man parallel zum Text öffnen. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob das dann alle finden, da ein Hinweis darauf ja auch erst am Ende des Kapitels gestanden hätte.

Eventuell beruhigt es dich aber, dass das mit der Sprache nicht überhand nehmen wird. So exzessiv wie hier wird es vermutlich nicht wieder werden. Ausnahmen bestätigen die Regel. ;)


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