Zum Inhalt der Seite

looking for inner peace

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

a hair-raising day

Kapitel 1 - a hair-raising day
 

- Ich wollte dich aufheitern,

wollte dein Lächeln sehen.

Ich möchte einfach, dass es dir gut geht. -
 

Anfang August
 

Aoi seufzte genervt auf.

Das gab’s doch nicht! Heute wollte auch gar nichts so recht klappen!

Jetzt hockte er seit geschlagenen zehn Minuten vor diesem Spiegel herum und versuchte verzweifelt diese halbe Explosion auf seinem Kopf in Form zu bringen, die der Stylist in einem Anflug modernen Kunstverständnisses veranstaltet hatte. Egal was er versuchte, aufgrund der Tonnen von Spray in seinen Haaren bewegten sich diese kein Stück und sprangen prompt immer wieder in ihre alte Position zurück.

Es war zum Haare raufen und das wortwörtlich.

Am liebsten hätte Aoi jetzt sofort seinen Kopf unter fließendes Wasser gehalten und von vorne angefangen, doch zum einen wäre dann die ganze Arbeit der Visagisten dahin gewesen, da ihm dabei garantiert das Wasser über das Gesicht laufen würde, und zum anderen hatte er kaum mehr Zeit, bis er selbst mit dem Fotoshooting dran wäre. Aktuell warf sich Reita vor der Kamera in Pose, doch solange brauchte dieser nie. An seiner Mimik konnte der momentane Maskenträger sowieso nicht viel versauen, da schließlich die Hälfte seines Gesichts verdeckt blieb und somit genügte es, wenn er immer gleich aus der Wäsche schaute. So einfach war das.

Deprimiert ließ Aoi den Kopf hängen und schloss resigniert die Augen.

Mit dieser Wuschelfrisur wollte er sich auf gar keinen Fall für die Nachwelt verewigen lassen. Das sah doch lachhaft aus.

Aoi hätte sich zwar nie als übermäßig eingebildet bezeichnet, aber eine gesunde Portion Eitelkeit und das nötige Selbstbewusstsein gehörten einfach zum Leben dazu und aktuell hatte letzteres einen deutlichen Knacks erlitten.
 

Ein leises Rascheln nahe an seinem Ohr holte ihn aus seinem tranceähnlichen Zustand, der bis eben mit einer Mischung aus Rachegedanken gegen den Stylisten und einer ordentlichen Dosis Selbstmitleid durchzogen war. Scheinbar ging dem Verursacher dieses Raschelns Aois Rückkehr in die Realität nicht schnell genug, denn gleich darauf spürte er ein sanftes Stupsen an seinem Rücken.

Vor sich hin murrend hob er schwerfällig den Kopf und entdeckte im Spiegelbild Uruha, der sich von hinten über ihn beugte, um sein Äußeres in der spiegelnden Oberfläche zu prüfen und dabei ein paar Haarsträhnen zu richten. Resigniert sackte Aoi weiter in sich zusammen.

Wenn es bei ihm selbst mit nur ein paar Strähnen getan wäre...

Er fühlte Uruhas fragenden Blick auf sich ruhen, den er allerdings nur mit einem schwachen Kopfschütteln beantwortet.

„Du hockst jetzt schon eine halbe Ewigkeit hier und knurrst dein Spiegelbild an. Was ist denn los?“

Aoi seufzte und wandte den Blick ab.

„Ich sehe aus wie ein gerupftes Huhn…“, nuschelte er leise vor sich hin.

Das samtene Lachen bestätigte ihm, dass Uruha ihn trotzdem verstanden hatte.

„Ach… so schlimm finde ich das gar nicht“, kam es leicht belustigt von dem Brünetten. „Ist doch mal was Neues.“

Dabei zupfte er an einigen Haarsträhnen und versuchte sich mehr schlecht als recht ein Lachen zu verkneifen. Aoi war kurz davor völlig in Selbstmitleid zu versinken. Jetzt machte sich schon Uruha über ihn lustig. Das war doch alles eine einzige Katastrophe.
 

Unbewusst hatte er den Kopf gesenkt, erst ein Piksen an der Schulter ließ ihn vorsichtig durch seine Haarsträhnen zu Uruhas Spiegelbild linsen. Das Grinsen war verschwunden und machte eher einem mitleidigen Blick Platz. Nicht, dass Aoi sich deshalb besser fühlen würde. Mitleid bestätigte ihn nur in seinem Wissen, völlig verunstaltet auszusehen.

„Ach komm, Aoi. Ich helfe dir.“

Auffordernd deutete Uruha mit einer Kopfbewegung zu einem der Tische an der Wand. Und obwohl sich der Schwarzhaarige sicher war, dass bei dieser Katastrophe auf seinem Kopf nichts mehr zu retten war, wollte er seinem neuen und winzigen Hoffnungsschimmer namens Uruha in diesem Moment einfach glauben. Als er sich erhob und zu seinem Kollegen herumdrehte, knackte sein Rücken gut vernehmbar, was ihn ein wissendes Schmunzeln einbrachte.

„Sag einfach nichts…“ Mit diesen Worten ging Aoi hinüber zu einem hüfthohen Tisch und setzte sich, darauf wartend, dass Uruha mit Haarsprayflasche und Bürste bewaffnet zu ihm zurückkehrte. Vielleicht… Ja, vielleicht wäre sein Haar und sein damit verbundener, angeknackster Stolz wenigstens etwas zu retten. Für einen Augenblick konnte er sich ja wohl dieser Hoffnung hingeben. Er seufzte, während sich der Brünette dicht vor ihn stellte und gleich damit anfing, sich durch das Gewühl auf Aois Haupt zu arbeiten.

„Ich frage mich echt, ob der Stylist was gegen dich hatte… Was hat der denn da für ein Zeug reingeklatscht?“, vernahm er Uruhas leises Murmeln.

Aoi ließ das Gezupfe und Gezerre auf seinem Kopf wortlos über sich ergeben und starrte lieber trübsinnig vor sich hin. Sein Blick glitt gedankenverloren über Uruhas Ketten, die direkt vor seinen Augen schwebten. Allmählich driftete er mit seinen Gedanken ab. Das Gezupfe hatte schon fast etwas Beruhigendes an sich, so wagte er es, für einen Moment seine Augen zu schließen und das angenehme Gefühl zu genießen.

Doch die Versuchung Wegzudämmern wurde immer größer, so zwang er seinen Blick wieder auf Uruhas Schmuck. Hatte der andere schon immer so viele Ketten getragen?

Stirnrunzelnd griff er nach einem ihm unbekannten Anhänger.

„Ist die neu?“

Uruha hielt in seiner Arbeit inne und senkte verwirrt den Blick.

„Hmmm… nein, die hat mir meine Schwester zum Geburtstag geschenkt, aber ich bin bisher nicht dazu gekommen, sie zu tragen.“

„Ach so.“

Er ließ das kühle Metall zurück auf Uruhas Haut fallen und dieser fuhr mit seiner Arbeit fort. Aois Aufmerksamkeit wanderte weiter an Uruhas Körper nach unten und blieben an dessen schlanken Beinen hängen. Diese glänzenden, engen Lederhosen hatten schon etwas für sich. Ohne es wirklich zu merken, hatte er schon die Hand ausgestreckt und fuhr sanft mit den Fingern den glatten Stoff hinauf, der die Oberschenkelinnenseiten verdeckte.

Mit einem recht unmännlichen Quieken fuhr dieser zusammen und brachte schnell einen Schritt Sicherheitsabstand zwischen sie beide, was wiederum den Schwarzhaarigen aus seinem leicht abwesenden Zustand holte.

„Aoi! Was soll das? So kann ich mich echt nicht konzentrieren!“

Aoi schenkte seinem Freund ein entschuldigendes Lächeln, welcher ihn wiederum aus großen Augen anstarrte.

„Entschuldige. Irgendwie hat mich deine Hose zum Anfassen verleitet.“ Er lachte kurz auf. „Die sieht wirklich scharf aus und fühlt sich toll an.“

Blinzelnd starrte sein Freund ihn einige Sekunden lang an, ehe er sich fasste und wieder nähertrat.

Ein Schnauben war zu hören.

„Die Hose ist auch echt toll und trägt sich angenehm, das kann ich dir versichern. Tu dir keinen Zwang an, aber warne mich das nächste Mal vor, wenn du das Bedürfnis verspürst, mich betatschen zu wollen“, drang Uruhas tiefe Stimme an Aois Ohr.

„So und nun lass deine Patschehändchen bei dir, sonst werden wir hier nie fertig und du wirst als Wischmopp in unsere Bandchronik eingehen.“
 

~*~
 

Zauberei. Anders konnte Aoi es sich nicht erklären, dass Uruha doch noch das Schlimmste hatte verhindern können und ihn gut auf den Fotos aussehen zu lassen. Wie auch immer er es geschafft hatte, Aoi war ihm mehr als dankbar dafür.

Mittlerweile war es Abend geworden und das Fotoshooting für ihre kommende Tour seit ein paar Stunden vorbei.

Gelangweilt lümmelte Aoi auf der Wiese sitzender Weise herum und besah sich das bunte Treiben, das sich in einiger Entfernung vor ihm abspielte. Die Band und etwa ein Dutzend Staffmitglieder waren hier auf einem gemieteten Grundstück zusammengekommen, um ordentlich zu feiern und sich auf die in einigen Wochen startende Konzerttour einzustimmen. Es war einer der wenigen, freien und entspannten Abende im zum Bersten gefüllten Terminkalender und das musste genutzt werden.

Auch wenn das Barbecue bisher nicht sonderlich entspannt wirkte. Seit Minuten befanden sich Kai und Ruki in einer hitzigen Diskussion über die sinnvolle Reihenfolge des Grillguts, während die übrigen Anwesenden das ganze Spektakel schweigend und mit sichtlicher Belustigung verfolgten. Und wie es momentan aussah, konnte es durchaus noch eine Weile dauern, bis sich die Beiden einigen würden.
 

Aoi legte den Kopf genervt in den Nacken und betrachtete die dunklen Schemen der Bäume, die das Grundstück begrenzten. Irgendwie wurde ihm gerade alles zu viel. Ein paar Mal atmete er tief durch, dann schloss er die Augen und versuchte auf diese Art ein wenig ruhiger zu werden. Er hatte Hunger, seine Laune war mies und das Stimmengewirr wirkte einfach nur ohrenbetäubend laut. Wenn das so weiterging, würde er heute Nacht mit Kopfschmerzen ins Bett gehen.

Ein plötzliches Pieken in seine Seite ließ ihn erschrocken auffahren. Wer wagte es ihn völlig unverfroren und so unsanft aus seiner Lethargie zu reißen?!

Uruha hatte sich geräuschlos an ihn herangeschlichen – oder Aoi war einfach zu tief in seinen Gedanken versunken gewesen – und kniete nun spitzbübisch grinsend neben ihm. Sein aufmerksamer Blick ruhte auf Aois Gesicht.

„Du bist heute nicht so gut drauf, oder?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

„Mhmmm…“, brummte der Angesprochene, bevor er aufseufzte.

„Ich weiß auch nicht. Heute ist nicht so mein Tag und das ganze Durcheinander hier ... Mein Kopf dröhnt schon langsam.“

Aoi wusste, dass er sich gerade wie ein Jammerlappen anhörte, aber er konnte seiner Laune gerade nicht anders Ausdruck verleihen. Momentan nervte ihn einfach alles. Uruha lächelte verständnisvoll und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

„Ich denke, wenn du was im Magen hast, wird es besser.“

Der Jüngere warf einen schnellen Blick über die Schulter zu den anderen und fügte grinsend hinzu: „Solange wird es nicht mehr dauern. Scheinbar haben sich die beiden Meisterköche mittlerweile geeinigt.“

Aoi schnupperte und sein Magen reagierte prompt mit einem gut vernehmbaren Grummeln auf den herüberwehenden Grillgeruch, was Uruha zum Lachen brachte. Murrend ließ sich der Schwarzhaarige zurück ins Gras sinken und streckte, während sein Blick über den Nachthimmel glitt, seine Gliedmaßen von sich. Dann konnte er auch noch eine Weile liegen bleiben, bis das Essen fertig wäre und hier etwas abseits würde er niemanden mit seiner heutigen Ungeselligkeit nerven – Uruha einmal ausgenommen. Aber der war es ja schon gewohnt, außerdem hatte er freiwillig seine Nähe gesucht.

Mit einem Mal spürte er ein Gewicht auf seinem Bauch.

Aoi senkte leicht den Blick, seine Augen fanden Uruhas, der mit dem Kopf seitlich gedreht auf ihm lag und ihn ansah. Sein hellbraunes Haar bildete einen schönen Kontrast zu Aois schwarzem Shirt, wie er bemerkte.

„Na, du alter Brummbär… dann bleiben wir halt erst einmal liegen und hoffen darauf, dass die anderen uns Bescheid sagen, wenn es was zu futtern gibt.“ Die volle Lippen verzogen zu einem warmen Lächeln, ehe er den Blick abwandte und die Augen schloss. Es war ein anstrengender Tag gewesen, was dem Leadgitarrist mittlerweile auch anzusehen war.

„Du musst nicht hier bleiben…“ Den Rest des Satzes ließ Aoi offen. Er wollte wirklich nicht, dass Uruha sich zu irgendetwas verpflichtet fühlte, auch wenn es schön war, dass er bei ihm war. Doch jener schnaubte nur, während sich das Lächeln hartnäckig in seinen Mundwinkeln hielt, seine Lider blieben geschlossen.

„Als ob ich dich in deiner schlechten-Laune-Wolke alleine lassen würde.“ Dieser Ausdruck brachte Aoi zum Schmunzeln. „Außerdem liegt es sich hier so bequem.“
 

Nicht, dass Aoi dagegen etwas einzuwenden hätte. Ihr kleiner, selbst erschaffener Ort der momentanen Ruhe entfaltete gerade seine volle, beruhigende Wirkung auf ihn, insbesondere während er den friedlich wirkenden Gesichtsausdruck seines besten Freundes vor sich betrachtete. Da wurde ihm glatt warm ums Herz.

Geistesabwesend stütze sich er auf den Unterarmen ab. Seine Hand strich dem Brünetten wie von selbst einige verirrte Strähnen aus der Stirn, ehe sie zu seiner kurz rasierten Seite weiter wanderte.

Sanft fuhr er über Uruhas Sidecut. Es war ein schönes Gefühl diese feinen Haare zwischen den Fingern zu spüren. Herrlich weich. Fast als würde er einen kleinen Hund streicheln. Aoi musste schmunzeln, als er Uruhas zufriedenes Schnurren vernahm.

Nein – kein Hund – definitiv eine Katze.

„Ich mag die Frisur an dir“, sprach der Schwarzhaarige seinen Gedanken aus und brach damit die angenehme Stille zwischen ihnen, während er Uruha behutsam durch die Haare fuhr. Ein wohliges Seufzen war zu hören. Da genoss wohl jemand die Streicheleinheiten.

„Ich glaube, ich muss mich noch etwas daran gewöhnen…“, kam es leise von dem Jüngeren zurück. „Es fühlt sich irgendwie nackt und manchmal kalt auf meinem Kopf an. Ich hoffe, bis zum Winter sind sie nachgewachsen, sonst erfriere ich“, fügte Uruha kichernd hinzu.

„Ich hätte nie gedacht, dass du dir deine heiligen Haare mal so kurz schneiden lassen würdest.“

Uruha hob den Blick.

„Na ja, ich wollte halt mal was anderes und gegebenenfalls kann ich den Sidecut ja verstecken, wenn ich die Haare drüber fallen lasse... dann wirkt es fast wieder so wie vorher.“

Das brachte Aoi zum Lachen.

„Stimmt! Wie gesagt, ich finde es hübsch, wie es ist. Und die Stoppeln fühlen sich angenehm an“, gestand er schmunzelnd. „Als würde ich eine Katze streicheln. Irgendwie beruhigend.“

„Da du mich ja scheinbar sowieso gern anfasst…“ Ein Augenzwinkern folgte. „…bin ich dann wohl ab jetzt deine persönliche Hauskatze, bis meine Haare nachgewachsen sind. Wenn ich dir damit weiterhin die Laune verbessern kann, ist mir das recht.“
 

Mit diesen Worten richtete sich Uruha auf und blickte zum Barbecuegrill hinüber.

„Ich glaube, allmählich wird’s etwas mit dem Essen.“ Er stemmte sich in die Höhe und schaute zu Aoi herunter. „Kommst du, bevor uns Reita alles wegfuttert?“

„He! Das hab‘ ich gehört!“ Wie heißt es so schön, wenn man vom Teufel – in diesem Fall Reita – spricht…? Eben Erwähnter kam mit einem vollbeladenen Teller in der Hand über die Wiese auf sie zu geschlendert. „Ich wollte euch gerade holen.“

„Alles klar. Aoi?“ Uruha sah abwartend auf seinen Freund hinab, der immer noch im Gras saß und ein wenig verwirrt zurückstarrte.

Ein Räuspern folgte. „Geht schon mal vor, ich komm gleich nach. Ihr wisst schon, alter Mann und so braucht halt etwas länger.“

Er rang sich ein Lächeln ab. Dass es etwas wackelig war, schienen seine Kollegen nicht zu bemerken, denn sie nickten bloß und gingen zu den anderen, um etwas Essbares zu ergattern.
 

Was war das denn gewesen? Nachdenklich blickte Aoi auf seine Hand. Er fasste Uruha also gern an? Schon möglich. Bisher war ihm das nie aufgefallen und er hatte sich auch nichts dabei gedacht. Das war doch normal, wenn man befreundet war, oder? Aber warum prickelte seine Haut mit einem Mal? Komisch.

circus of thoughts

Kapitel 2 - circus of thoughts
 

- Aoi, was ist mit dir?

Du bist irgendwie anders. -
 

Irgendwo knarrte eine Holzdiele.

Der Wind suchte sich durch jeden noch so schmalen Spalt den Weg nach drinnen und brachte die Schiebetüren, die zum Garten führten, damit zum Klappern. Aus dem Nebenraum war ein Grunzen zu hören, das gleich darauf wieder erstarb. Hatten sie diese Unterkunft nicht eigentlich wegen der Ruhe gemietet? Draußen übertrumpften sich die Grillen mit ihren Paarungsgesängen gegenseitig und als wäre das nicht schon genug, erschienen Aoi die Geräusche in diesem alten, traditionellen Holzhaus ohrenbetäubend laut.

Wie konnten Uruha und die anderen in den Nachbarzimmern so seelenruhig schlafen, während er sich schon seit Stunden auf dem weichen Futon von einer zur anderen Seite wälzte und einfach nicht zur Ruhe kam? Es war zum Verzweifeln.
 

Genervt stöhnend blieb Aoi auf dem Bauch liegen und drückte einen Moment lang sein Gesicht in das für ihn viel zu harte Kissen, ehe er sein Kinn darauf abstützte und nach draußen linste. Die Papierschiebetüren des kleinen Zimmers, das er sich mit Uruha teilte, waren ein Stück weit geöffnet, das Mondlicht beleuchtete sanft die Tatamimatten vor Aoi. Ohne diese schmale Luftzufuhr wäre es bei den schwülen Temperaturen im Zimmer noch weniger auszuhalten gewesen. Die dünne Decke berührte gerade einmal seine Füße und dennoch war ihm zu heiß. Frustriert seufzend wandte er den Kopf zur Seite. Zum Schlafen kommen würde er wohl heute nicht mehr und dafür bräuchte er dann morgen ohne Sonnenbrille gar nicht erst rausgehen. Augenringe des Todes konnten eben auch nicht mit dem besten Make-up versteckt werden.

Neben sich hörte er ein Murren, begleitet von Rascheln.

Er warf Uruha einen Blick zu, der sich gerade leise schmatzend zu ihm herumdrehte und ungerührt weiter schlummerte, ohne seinem inneren Kampf auch nur ansatzweise zu bemerken. Dieser Verräter! Selbst wenn der Größere weniger als drei Stunden Schlaf bekam, sah er trotzdem immer wie das blühende Leben aus. Da konnte man echt neidisch werden.
 

Im Stockwerk über ihnen klappte eine Tür.

Resigniert wechselte Aoi zum wiederholten Male in dieser Nacht die Position und blieb auf der Seite liegen, wobei er sich erschöpft mit der Hand über die Augen fuhr. Er wollte doch einfach nur schlafen. Aber es steckte ja bereits seit dem Morgen der Wurm drin. Obwohl – wenn er es genau nahm, war das gestern gewesen, wenn ihn sein Handy gerade nicht anlog.

Sein Blick wurde erneut von der schlafenden Gestalt neben sich angezogen. Da schien wohl wer einen angenehmen Traum zu haben, wenn Aoi den zufriedenen Gesichtsausdruck und die leicht zu einem Lächeln verzogenen Lippen richtig deutete. Wenigstens einer von ihnen.

Einen Augenblick lang spielte Aoi mit dem Gedanken, den anderen zu wecken, um nicht mehr alleine wach zu liegen, verwarf die Überlegung aber sofort wieder. Zum einen wollte er ihn nicht belästigen und zum anderen war es sowieso ein Ding der Unmöglichkeit Uruha überhaupt zu wecken. Wenn Uruha einmal schlief, dann schlief er und sollte er doch kurz wach werden, dauerte es nur Sekunden bis er wieder einschlief. Keine Chance überhaupt etwas zu sagen.

Während er seinen schlafenden Freund im schwachen Licht betrachtete, erinnerte er sich an unterschiedliche Situationen zurück, in denen er versucht hatte, Uruha aus seinem Traumland zu reißen.

Vor Jahren hatten sie nach einer Hausparty gemeinsam in einem Bett übernachtet. Während der Nacht waren Aoi sowohl Kissen als auch Decke abhandengekommen und der Versuch, sich seine Sachen von Uruha zurückzuholen, war spätestens dann gescheitert, als dieser ihn mit einigen Tritten beinahe aus dem Bett beförderte und dafür sein Diebesgut nur noch fester umklammert hatte. Schlussendlich hatte Aoi die restlichen Stunden unter einer viel zu dünnen Wolldecke verbracht, was im Nachhinein, aufgrund der damaligen winterlichen Temperaturen, zu einer fetten Erkältung geführt hatte. Als Uruha ihn am nächsten Morgen verwundert gefragt hatte, warum er ihn denn nicht geweckt hätte, hatte er ihm nur schweigend seine inzwischen sichtbaren, blauen Flecke präsentiert und sich innerlich geschworen, nie wieder einen tief schlafenden Uruha zu wecken.

Die Erinnerung brachte Aoi zum Schmunzeln. Seither hatte er sich zu etwa siebzig Prozent an den Schwur gehalten – kurze Schläfchen zwischendurch zählten zu den Ausnahmen. Bei denen war die Gefahr nicht allzu groß, aus Versehen vermöbelt zu werden.

Aoi unterdrückte ein belustigtes Schnauben, als Uruha die Stirn krauszog und sich auf die Lippen biss, ehe sich sein Gesicht wieder entspannte. Mit dem Schmollmund sah er wirklich niedlich aus, als wäre er wesentlich jünger und nicht Mitte Dreißig.

Es war spannend, ihm beim Schlafen zuzusehen. Mal schnitt er regelrechte Grimassen, dann lag er wieder still, wirkte dabei, als wäre er einem Gemälde entstiegen.

Ein lautloses Seufzen entfloh Aoi. Es war nicht zu leugnen – egal ob mit Make-Up und im Bühnenoutfit oder in Natura und schlafend – Uruha blieb einfach immer schön. Eine Tatsache, die nicht neu war, ihm nur gerade wieder einmal besonders bewusst wurde.
 

Erst als Uruha kurz schnaufte und sich tiefer in sein Kissen kuschelte, wurde Aoi aus seiner Betrachtung gerissen. Verwirrt über sich selbst runzelte er die Stirn.

Seit wann starrte er seinen Freund eigentlich so an? Und dass das Shirt leicht nach oben verrutscht war und somit den Blick auf einen Teil von Uruhas flachem Bauch freigab, sollte ihn theoretisch nicht interessieren. Ebenso unangebracht war der Wunsch, dieses Stück Haut berühren zu wollen.

Aoi schüttelte schnell den Kopf, um diese Gedanken zu verscheuchen.

Hatte Uruha vielleicht recht und er ging wirklich ständig auf Tuchfühlung?

Ach, das war doch Quatsch…

Er konzentrierte sich erneut stärker auf Uruhas Gesichtszüge: die wohlgeformten Lippen, die jetzt einen Spalt geöffnet waren, die langen Wimpern, die weich auf der Haut lagen. Wirklich wie aus einem Gemälde entsprungen.

Die Umgebungsgeräusche, die Aoi bisher wach gehalten hatten, waren mit einem Mal aus seiner Wahrnehmung verschwunden und machten einer wohltuenden Stille in ihm Platz, während er sich in der Beobachtung seines besten Freundes verlor.

Er lauschte Uruhas gleichmäßiger Atmung – dem leisen, beruhigenden Ein- und Ausatmen. Sachte senkten sich seine Lider, als er allmählich in den Schlaf hinüberglitt.
 

~*~
 

Aois erster Blick am Morgen, nachdem er die Augen aufgeschlagen hatte, fiel auf Uruha, der ziemlich zerzaust um die Haare, neben ihm im Schneidersitz auf dem Futon saß und einen vor sich hindösenden Koron seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Rukis kleiner Chihuahua hatte es sich auf dessen Beinen gemütlich gemacht und genoss in vollen Zügen die Streicheleinheiten, die ihm gerade zuteilwurden, was ein wirklich niedliches Bild ergab. Auch Uruha schien Gefallen an dem Kleinen zu finden, wie sein Lächeln bewies. Ja, das sah nach einer angenehmen Morgenbeschäftigung aus.

Schmunzelnd betrachtete Aoi die Beiden vor sich, allerdings nur solange bis sich seine Gedanken auf Abwege begaben und er mit einem Mal glaubte, sanfte Finger in seinem Nacken zu spüren.

Um das ungewollte Gefühl zu vertreiben, kniff er kurz die Augen zusammen und fragte in die Stille: „Ruki ist wohl noch nicht wach?“ Sein Freund zuckte zusammen. Okay, es hätte sicher eine dezentere Methode gegeben, um auf sich aufmerksam zu machen.

Uruhas verwirrtes Blinzeln wurde schließlich von einem freudigen Lächeln abgelöst, als er sah, dass Aoi wach.

„Guten Morgen. Nein, ich glaube nicht. Koron hat sich vorhin durch den Garten hereingemogelt und nimmt mich seither in Beschlag.“

Leise lachend streichelte er dem Hündchen den Rücken, was dieser sichtlich genoss.

Aoi schluckte schwer. In seinem Magen zog es leicht, seine Haut kribbelte. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm, aber das lag garantiert am Schlafmangel. Bestimmt.

Schweigend drehte er sich auf den Rücken, um der Zimmerdecke seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Alles war gerade besser, als Uruha anzuschauen, während sein Körper ihm einen Streich spielte.

Zu seinem Glück musste er sich nicht weiter mit seltsamen Gedanken und Gefühlen herumschlagen, denn diese wurden von einem lautstarken Rumpeln und einem anschließenden Fluchen abgelenkt, welches sich verdächtig nach Reita anhörte. Der Bandälteste schnaubte belustigt. Vermutlich war ihr Bassist über eine von Rukis unzähligen Taschen gestolpert, mit denen dieser das gemeinsame Zimmer zugestellt hatte.
 

Die Außenschiebetür wurde geöffnet und das strahlende Gesicht von Kai lugte vorsichtig herein.

„Guten Morgen, ihr Zwei. Ihr seid ja auch schon wach“

Aoi grinste.

„Na ja, spätestens jetzt, nach Reitas wundervollen Morgenklängen auf jeden Fall.“

Kai lachte schallend auf.

„Mich hat Rukis Prinzchen heute in aller Frühe geweckt“, meinte der Drummer und deutete mit dem Kinn Richtung Koron, der unschuldig zu ihm herüberschielte und mit seinen großen Hundeaugen kein Wässerchen trüben konnte.

„Er trampelte auf mir herum, da er wohl der Meinung war, dass nur ich ihn raus in den Garten lassen könnte.“

„Oder er wollte Rücksicht auf sein geliebtes Herrchen nehmen“, erscholl es von der Tür und ein verwuschelter Ruki spähte ins Zimmer. Augenblicklich erhob sich Koron und flitzte zu dem Sänger, der ihn auf den Arm nahm und ihn in Babysprache begrüßend an sich drückte.

Aoi beobachtete kopfschüttelnd die eigentümliche Szene, während Uruha nur milde lächelte.

„Na so wie der verwöhnt wird, ist es kein Wunder, Ruki, dass er sich nur noch in deiner Handtasche herumgetragen lässt.“

exhilaration

Kapitel 3 – exhilaration
 

- Ich weiß nicht, was los ist.

Sonst war es immer so einfach zwischen uns. Irgendetwas hat sich verändert. -
 

Ein paar Wochen später
 

Leise Gitarrenklänge drangen aus dem Nachbarraum herein und umschmeichelten Aois Gehör. Blinzelnd öffnete er die Augen und starrte einen Moment auf die gegenüberliegende, kahle Wand. Noch ein wenig verschlafen hing er für ein paar Augenblicke seinen Gedanken nach und ließ dabei die zarten Töne auf sich wirken.
 

Die bisherigen drei Konzerte der Tour waren gut verlaufen, nur bei der heutigen Probe hatte für Aoi nichts so recht klappen wollen. Erst war eine seiner Gitarren unauffindbar gewesen, was alle etwas aus dem Häuschen hatte geraten lassen. Glücklicherweise tauchte sie auf wundersame Weise kurz darauf wieder auf.

Beim Outfitcheck zwang ihn eine defekte Naht spontan kleidungsmäßig umzudisponieren. Und als wäre das noch nicht ausreichend, machte Aois In-Ear-Monitoring während der Soundprobe nicht das, was er machen sollte, denn Aoi hörte sich selbst kaum und fühlte sich stattdessen von Bass und Schlagzeug komplett überschwemmt. Alles nicht unbedingt förderlich für Aois Blutdruck und Stimmung. Er war kurz davor gewesen, wirklich in die Luft zu gehen, hatte sich im letzten Moment dennoch beherrscht und dafür lieber eins der Sofas in der Garderobe in Beschlag genommen und sich gedanklich ausgeklinkt.

Mittlerweile war sein Blutdruck in den Normalbereich zurückgekehrt, nur sein vorkonzertliches Hochgefühl, das sonst immer zur Stelle war, ließ ihn heute gänzlich im Stich. Eigentlich kaum verwunderlich bei dem Stress und den damit zusammenhängenden Ärgernissen. Allerdings war es auch nicht das erste Mal, dass nicht alles glattlief und sonst hatte ihn so etwas auch nur kurzfristig seiner Vorfreude beraubt. Stattdessen waberte nun schon seit Stunden ein Nebel aus Lethargie, Teilnahmslosigkeit und einer Prise gereizten Unmuts in seinem Geist herum und schien sich auch in keinster Weise verziehen zu wollen. Würde seine Frisur heute nicht schon perfekt sitzen, hätte er sich die Haare gerauft.
 

Seufzend löste sich Aoi aus der Betrachtung der hochinteressanten Wand, erhob sich von dem weichen Polster und ging fast schon traumwandlerisch die paar Schritte bis zum Durchgang, der die beiden Garderobenräume, die ihnen zur Verfügung standen, verband. Die leisen Klänge wurden mit jedem Meter lauter, bis Uruhas hellbrauner Schopf in seinem Blickfeld auftauchte. Der andere Gitarrist saß mit dem Rücken zu ihm in einem Sessel und spielte einige Akkorde auf seiner Akustikgitarre, um sich für das Konzert aufzuwärmen, das in einer halben Stunde begann, wie Aoi mit einem leicht erschrockenen Blick auf die Uhr feststellte. So langsam sollte sich Euphorie in ihm breit machen, doch davon fehlte in ihm weiterhin jede Spur.

Mit einem lautlosen, resignierten Schnauben trat er leise näher von hinten an Uruha heran, der ihn gar nicht wahrnahm, da er völlig auf seine Saiten konzentriert war.
 

Aois Konzentration lag in diesem Moment widerum weniger auf Uruhas Spiel, sondern viel mehr auf dessen Hinterkopf.

Waren seine Haare nachgewachsen?

Mit frisch erwachter Neugier streckte Aoi die Hand nach Uruhas Sidecut aus und fuhr sanft mit Fingern durch die kurzen Haare. Nein, sie fühlten sich genauso angenehm an wie vor einigen Wochen. Der Brünette hatte sie doch nachschneiden lassen, obwohl er beim Barbecue noch nicht sonderlich begeistert gewirkt hatte.

Recht dissonante Töne rissen Aoi aus seinen Überlegungen. Die unerwartete Berührung hatte Uruha die Saiten verreißen lassen.

„Mann! Erschreck mich doch nicht so!“

Weit aufgerissene Augen starrten ihn einen Moment lang über die Schulter hinweg an, ehe Uruha den Blick abwandte, sein Instrument zur Seite stellte und sich tief durchatmend in den Sessel zurücklehnte.

„Entschuldige. Das wollte ich nicht.“

Mit diesen versöhnlichen Worten trat Aoi um den Sessel herum und setzte sich auf die Armlehne. Wie selbstverständlich strich er dem Jüngeren, der ihn aus halb geschlossenen Augen heraus musterte, besänftigend durch das weiche Haar, das ausnahmsweise mal nicht komplett aus Stylingprodukten bestand.

„Deine Gitarrenklänge haben mich anscheinend in andere Sphären versetzt, weshalb ich meine guten Manieren vergessen habe“, fügte er scherzend hinzu, was Uruha leise auflachen ließ.

Ein angenehm freudiges Kribbeln breitete sich in Aois Bauch aus.
 

Einige weitere Sekunden lang hielt Uruha still, genoss die Streicheleinheiten, dann stemmte er sich aus dem Sessel und streckte sich genüsslich.

„Na ja, wenn ich nachher unsere Fans mit meiner Gitarre auch in andere Sphären versetzen kann, läuft doch alles wie geplant.“

Für einen Moment ruhten dunkle, warme Augen auf Aoi, doch dieser konnte nur auf den zu einem milden Lächeln verzogenen Mund starren. Kurz darauf fand er sich in einer sanften Umarmung wieder und spürte, wie eine Hand zärtlich über seinen Rücken strich.

„Vergiss einfach, was vorhin bei den Proben passiert ist und freu dich lieber auf das Konzert“, drang die samtene Stimme leise an sein Ohr. „Es wird trotzdem toll.“

So schnell wie die Umarmung gekommen war, verschwand sie wieder.

Irritiert blinzelnd verfolgte er, wie Uruha ihm ein letztes Lächeln schenkte und sich anschließend seine Gitarre griff.

Was war das gewesen?

Hätte Uruha ihn nicht wieder an die ärgerlichen Vorkommnisse des Tages erinnert, wären sie vollkommen aus seinem Gedächtnis verschwunden – als wären sie niemals dagewesen.

Ein Grinsen ließ seine Mundwinkel zucken, als er Uruha hinaus auf den Gang folgte. Seine Euphorie war zurück und ein aufregend prickelndes Gefühl durchflutete ihn. Er war bereit für Bühne.
 

~*~
 

Aois Blick glitt durch die Halle und sein Mund verzog sich zu diesem typisch verschmitzten Lächeln, das bei den Fans in den vordersten Reihen in regelmäßigen Abständen zu Schnappatmung führte. Das Kreischen, das augenblicklich aufbrannte, nahm er dennoch kaum wahr, seine Augen hielten lieber an der atemberaubenden Aussicht fest, die sich vor ihm auftrat.

Die ganze Halle war bis auf dem letzten Platz gefüllt und das Publikum verschmolz zu ihrer Musik zu einem großen Ganzen.

Das Lächeln wurde breiter und er atmete tief durch. Diese wogende Menschenmenge erinnerte ihn an das Meer in Mie. Selbst die Scheinwerfer, die ihn teils blendeten und langsam dafür sorgten, dass ihm einige Schweißperlen über den Oberkörper rannen, wirkten fast wie Sonne, die an warmen Sommertagen auf ihn herunterschien. Es fühlte sich an wie Heimat.
 

Eine leichte Berührung an seiner Schulter zog Aoi aus seinen Gedanken und ließ ihn nach links blicken. Uruha.

Der andere Gitarrist hatte seine Seite verlassen und war zu ihm herübergekommen, damit sie wie gewohnt ihre Parts zusammenspielten. Und Aoi hatte es nicht mal gemerkt, zu sehr hatten ihn seine Gefühle und die vor ihm liegende Szenerie vereinnahmt. Nun konzentrierte er sich vollends auf seinen Gitarrenpartner, der dicht vor ihm stand und ihn auf seine niedliche, katzenhafte Art anlächelte. Er konnte nicht anders, als dieses Lächeln zu erwidern und als sich ihre Blicke trafen, durchfuhr ihn ein elektrisierendes Kribbeln, das umgehend seinen gesamten Körper gefangen nahm und ihn wohlig aufseufzen ließ. Ja, er fühlte sich lebendig und glücklich. So könnte es immer bleiben.
 

~*~
 

Natürlich blieb es nicht immer so. Auch bei den folgenden Konzerten gab es hin und wieder einige Zwischenfälle, doch tangierten ihn diese nur noch selten. Größtenteils überwog eine angenehm prickelnde Zufriedenheit in ihm. Und drohte er doch einmal in schlechter Laune zu versinken, dann stellte er sich diese sanften, dunklen Augen und das aufmunterndes Lächeln vor und schon fühlte er sich gut.

Sein bester Freund hatte inzwischen beinahe etwas von einem Aufputschmittel an sich, einer Freude bringende Droge – nicht, dass er damit jemals Erfahrung gemacht hätte. Dennoch konnte Aoi nicht bestreiten, dass Uruha einen positiven Einfluss auf ihn hatte und er genoss dieses Gefühl, suchte sogar aktiv danach.
 

Heute machte sich allerdings eher dezente Langeweile, gepaart mit einer minimalen Unzufriedenheit in Aoi breit.

Während die Staff-Mitarbeiter emsig wie die Bienen um sie herumschwirrten und die Technik auf der Bühne aufbauten, stand ein Teil von Gazette – einschließlich Aoi – abwartend im Zuschauerraum und besah sich die ersten Scheinwerfer-Kombinaten, die am Abend die Atmosphäre der Show unterstützen sollten. Desinteressiert an der Absperrung lehnend beobachtete Aoi, wie Ruki angeregt mit dem Techniker über die Reihenfolge und Intensität des Lichts diskutierte.

Ein leises Seufzen kam über Aois Lippen, als sein Blick langsam durch die Halle wanderte. Solche Diskussionen kannte er bereits zur Genüge und meistens zogen sie sich unnötig in die Länge. Doch ehe der Sänger nicht vollkommen zufrieden war, brauchte keiner von ihnen auch nur mit einer Silbe an die Feintonabstimmung zu denken.

Das lange Warten war definitiv nichts für ihn. Er wollte endlich etwas tun, denn gerade fühlte er sich definitiv überflüssig. Er hätte Reita einfach zuvorkommen müssen und das Sofa im Aufenthaltsraum in Beschlag nehmen sollen, um ein paar Stunden zu schlafen. Aber Langsamkeit wollte bestraft werden und so gehörte der beste Schlafplatz vor Ort nun ihrem Bassisten.
 

Erst als Aoi leicht mit dem Ellenbogen in die Seite gestoßen wurde, bemerkte er, dass er nicht mehr alleine war.

„Was grummelst du schon wieder vor dich hin?“

Die Worte drangen seltsam unverständlich, fast genuschelt, an sein Ohr, was ihn veranlasste, sich zu Uruha, der sich unbemerkt von hinten angeschlichen hatte, umzudrehen und ihm einen fragenden Blick zuzuwerfen. Der Brünette lehnte locker am Geländer und biss gerade von seinem mitgebrachten Onigiri ab, als er den verwirrten Gesichtsausdruck seines Freundes bemerkte. Trotz der kauenden Bewegungen seines Kiefers konnte Aoi das verschmitzte Grinsen deutlich erkennen.

„Auch eins?“

Ein verpackter Reisball tauchte in Aois Blickfeld auf, während sein Blick an Uruha festhing. Dessen Haare waren mit einigen Klammern fixiert, sein Gesicht war zurecht geschminkt und nahezu konzertbereit. Uruha war meist einer der ersten mit Make-Up und Bühnenoutfit, da er es entspannter fand, nicht erst auf dem letzten Drücker gestylt zu werden. Jedenfalls hatte er das einmal vor geraumer Zeit verkündet.

Apropos entspannt.

Wenig entspannt, sondern vielmehr ungeduldig wedelte die Hand mit dem zweiten Onigiri Aoi aus seiner gedankenverlorenen Musterung.

„Willst du nun eins, sonst esse ich es selbst?“

Im Nachhinein konnte er nicht mehr sagen, was genau ihn in dem Moment zu dieser spontanen Handlung bewogen hatte: War es Übermut gewesen oder doch Hunger? Oder doch nur Neugier darauf, wie Uruha reagieren würde. Er wusste es nicht.

Seine Hand machte sich einfach selbstständig, griff nach dem Handgelenk des Jüngeren und dirigierte ihn mit dem schon angebissenen Reisbällchen zu Aois Mund. Einen Augenblick lang berührten seine Lippen die weiche Haut, ehe er das Onigiri mit einem Bissen verschlang, Uruha dabei keine Sekunde aus den Augen lassend.

Verdattert war gar kein Ausdruck. Sprachlos starrte Uruha ihn an, brachte ihn damit zum Grinsen.

Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, strich er mit dem Daumen über dessen Mundwinkel und raunte ihm ein leises „Du hattest da was.“ zu, bevor er sich provokant das Reiskorn vom Finger leckte.

Uruha ähnelte in diesem Moment einem Goldfisch im Glas und Aoi konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Früher hatte er öfter solche Aktionen gebracht, allerdings war das Jahre her. Warum hatte er damit aufgehört, wenn die Reaktion darauf doch so wunderbar erfrischend war?
 

Feixend wandte er sich ab und ging gemäßigten Schrittes auf den Bühnenaufgang zu, Uruhas Blicke im Rücken spürend. Mit der neugewonnenen Energie und einem kribbelnden Gefühl im Bauch könnte er sogar Reita von der Couch vertreiben und noch ein paar Minuten schlafen.

confusion

Kapitel 4 – confusion
 

- Ich kann nicht mehr so tun, als ob nichts wäre.

Mit jeder Annäherung, jeder Berührung verunsicherst du mich, machst mich unruhig.

Ich weiß nie, was als Nächstes kommt. -
 

Mitte Oktober
 

Das ruhige und gleichmäßige Heben und Senken des Brustkorbes vor seinen Augen wirkte fast schon hypnotisch auf ihn. Dazu kamen die leisen Atemzüge. Am liebsten hätte es Aoi dem schlafenden Uruha gleichgetan und sich einfach für ein paar Minuten den Wonnen des Schlafes hingegeben. Aber nein, er wehrte sich erfolgreich gegen die einschläfernd beruhigende Wirkung des Bildes, das sein Freund gerade abgab.

Als Uruha vor einer halben Stunde in den Proberaum gestürmt war und das Sofa mit einem „Hab schlecht geschlafen!“ für sich einnahm, hatte Aoi noch nicht damit gerechnet, dass er nun hier vor eben jenem Sofa hocken und den anderen beim Schlafen beobachten würde. Doch scheinbar hatte eine geheimnisvolle Kraft ihn dazu verleitet, seinen bequemen Platz im Sessel gegen diesen wenig knieschonenden einzutauschen.

Kais Papierrascheln aus dem Nachbarraum drang nur von fern an sein Ohr, während seine gesamte Aufmerksamkeit dem anderen Gitarristen lag.

Was war mit Uruha los?

Er hatte aufgewühlt gewirkt. Selbst im Schlaf sah er erschöpft aus, das Gesicht war angespannt und leichte Augenringe zeichneten sich auf seiner blassen Haut ab. Das war ein ungewohnter Anblick. Eigentlich sah man dem Brünetten Schlafmangel niemals an.

Versonnen strich er seinem schlafenden Freund ein paar verirrte Strähnen aus der Stirn. So kannte er Uruha nicht. Sonst war er pure Tiefenentspannung pur, Mr. Relax himself. Irgendetwas schien ihn aus dem Konzept gebracht zu haben. Und das nicht erst seit heute.

Gedankenverloren fuhr Aoi mit seinen Fingern durch Uruhas weiche Haare.

Vor drei Wochen hatten sie den ersten Teil der Tour beendet. Nach einer kleinen Pause voneinander hatten sie sich nun alle erstmals vor vier Tagen wieder getroffen, um über die weitere Planung der kommenden Konzerte für Mitte November zu sprechen. Und seither schien Uruha verändert. Er wirkte aufgekratzt und nicht ganz bei sich.

Was war geschehen, dass es ihn so aus der Bahn geworfen hatte?

Aoi seufzte auf und vergrub das Gesicht in seinen Händen, während er weiter vor seinem besten Freund hockte.

Vorgestern war ihm dann das erste Mal bewusst aufgefallen, wie untypisch sich er verhielt. Der Brünette war von einer Ecke des Raumes zur nächsten gewuselt und hatte immer wieder in den Tiefen seiner Tasche gekramt, obwohl es dort eigentlich nicht mehr viel zu kramen gab, denn die Hälfte des Inhaltes hatte bereits neben ihm auf dem Tisch gelegen.

Wann war sein sonst so ausgeglichener Freund durch dieses Nervenbündel ersetzt worden?

Aoi hatte diese Unruhe in Person nicht mehr länger ertragen können, weshalb er sich dem anderen unauffällig genähert hatte und dicht neben ihm stehen geblieben war, ohne dass dieser ihn zunächst registriert und stattdessen weiter in seiner Tasche herumgewühlt hatte.

„Was ist los? Du bist so unruhig. Ist was passiert?“, hatte er leise gefragt. Obwohl er ihn nicht hatte erschrecken wollen, war Uruha zusammengezuckt und hatte Aoi einen Moment lang mit weitaufgerissenen Augen angestarrt.

„Aoi!“ Ein kurzes Luftholen, das auf eine seltsame Art zittrig gewirkt hatte.

„Du hast mich erschreckt.“

„Sorry. Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“

Erst war nichts passiert und Aoi war schon versucht gewesen, Uruha zu fragen, ob er was im Gesicht hatte, so wie er ihn ansah. Doch dann war ein Blinzeln und ein stockendes „Hm, nein…“ gefolgt.

„Ich weiß gerade gar nicht mehr, was ich wollte. Du bringst mich echt um meine Konzentration, Aoi.“
 

Er brachte Uruha also um seine Konzentration?

Ein Grinsen ließ sich auf seine Mundwinkel zucken, als er an diese wohl unbedachte Aussage zurückdachte, dabei Uruhas feine, schlafende Gesichtszüge betrachtend.

Ein verlockender, aber auch ungewohnter Gedanke.

Uruha, stets die Ruhe selbst, der Aoi auch an seinen miesen Tagen zur Seite stand und sein Gejammer ertrug, ließ sich jetzt von ihm aus dem Konzept bringen? Und dabei hatte er doch eigentlich nichts Schlimmes getan, oder? Aber vielleicht interpretierte er einfach nur zu viel in diese Worte hinein, die nur der Situation geschuldet sein könnten und seine Stimmung rührte von etwas anderem her.

Ja, so war es sicher.

Denn Aoi wollte auf keinen Fall, dass Uruha sich seinetwegen unwohl fühlte. Er war doch Aois persönliches, beruhigendes, aber auch stimmungsaufhellendes Medikament. Und was brachte schon ein Medikament, dessen Inhaltsstoffe nicht mehr dieselben waren?

Gedankenverloren kaute Aoi auf seiner Unterlippe herum. Es musste einen anderen Grund für Uruhas Gemütszustand geben.

Wobei – wenn Uruha auf ihn stets eine bestimmte Wirkung hatte, dann könnte es doch umgekehrt auch so sein.

Aber… Nein!

Jetzt war er schon wieder zu diesem Thema zurückgekehrt.

Energisch schüttelte Aoi den Kopf über sich selbst und vergrub eine Hand in seinem Haar. So groß konnte sein Einfluss auf den Jüngeren nicht sein. Irgendwas anderes musste Uruha in Aufruhr versetzt haben, dass er scheinbar so schlecht schlief, dass er sogar hier im Proberaum ein Nickerchen hielt. Und das kam für gewöhnlich niemals vor. Denn nachdem Reita und Ruki vor einer geraumen Weile mal auf die dumme Idee gekommen waren, dem schlafenden Kai ein neues Gesicht aufzumalen, vermieden es die Übrigen inzwischen im Proberaum zu schlafen. Doch anscheinend war ihm diese Gefahr im Moment egal.

Bevor sich Aoi tiefer in seine Überlegungen verstricken konnte, ertönten schnelle Schritte auf dem Gang. Nach einigen Sekunden wurde die Tür energisch aufgerissen und ein gehetzt und verstrubbelt aussehender Reita stürmte herein. Mit atemlosen Worten, die wie „Auto – Batterie – musste laufen“ klangen, ließ sich der Bassist in einen der Sessel fallen und krallte sich ohne Umschweife eine Wasserflasche vom Tisch. Kurz darauf war sie halb leer.
 

Der plötzliche Lärm hatte Uruha unsanft aus seinem Traumland gezerrt. Verwirrt blinzelnd saß er nun auf dem Sofa und schien erst langsam wieder in die Realität zurückzufinden, wie Aoi schmunzelnd beobachtete. Das sah schon echt niedlich aus, wie der Brünette versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. Ein fragender Blick traf ihn. Sein Grinsen wurde breiter, während er sich aus der unbequemen Position erhob und erst einmal streckte.

„Wie lange hockst du schon hier?“

Irrte er sich oder klang die leise Stimme unsicher? Vielleicht lag es aber auch daran, dass er die Worte, aufgrund des lautstarken Gesprächs zwischen Reita und Kai, der sich mittlerweile dazugesellt hatte, mehr erahnte, als dass er sie wirklich verstanden hatte.

„Eine Weile. Ich wollte dich nicht wecken. Anscheinend hattest du den Schlaf dringend nötig“, antwortete er lächelnd und wuschelte kurz durch Uruhas heilige Haarpracht. Dieser ging allerdings gar nicht weiter auf diese Bemerkung ein, sondern wandte den Kopf einfach ab. War er verlegen oder warum schien der, sonst so nach außen hin abgeklärt und kühl wirkende, Gitarrist leicht rot zu werden? Ehe Aoi sich weiter über diese seltsame Reaktion wundern konnte, ging die Tür erneut auf und ein mies gelaunter Ruki beglückte als Letzter alle mit seiner Anwesenheit.

„Sag nicht, dein Auto ist auch kaputt?!“, kam es sofort von Reita.

Ein Knurren war die einzige Antwort.

Who…?

Kapitel 5 – Who…?
 

- Ich versteh das nicht. Du machst mich nervös, Aoi.

Wenn du mir so nah kommst, kann ich nicht mehr richtig atmen. -
 

Das hauchzartes Streicheln ließ Aoi genussvoll die Luft einziehen. Gänsehaut folgte den fremden Fingern, die über seinen Körper glitten. Die Berührungen waren sanft wie Federn, flüchtig und dennoch erregend. Ein überraschtes Keuchen entfloh ihm, als sich weiche Lippen den Weg über seinen Oberkörper bahnten und sich gleich darauf einer seiner Brustwarzen widmeten. Augenblicklich schoss ihm ein elektrisierendes Ziehen in den Unterleib. Es war berauschend – diese leicht rauen Finger, die ihn erkundeten, diese vorwitzige Zunge, die die empfindliche Haut liebkoste. Er wollte sich dem anderen entgegendrängen, nach mehr Zuwendung betteln, doch kräftige Hände drückten ihn zurück in das weiche Bett, verwiesen ihn auf seinen Platz.
 

Wer…?
 

Er stöhnte hingebungsvoll auf, ehe er den Gedanken auch nur zu Ende führen konnte. Diese Lippen, die über seinen Körper wanderten und scheinbar jede seiner sensiblen Stellen kannten, brachten ihn schier um den Verstand. Sein Keuchen erfüllte den halbdunklen Raum, während er sich den aufreizenden Berührungen hingab. Er wollte mehr davon. Sein Kopf war wie leergefegt, dafür sog sein Körper jede einzelne Liebkosung in sich auf. Alles fühlte sich so herrlich intensiv an.
 

Wer löste solche Empfindungen in ihm aus?
 

Mühsam versuchte Aoi den Kopf zu heben, um einen Blick auf die Gestalt über ihm zu erhaschen. Doch ehe er etwas erkennen konnte, sank sein Kopf mit einem langgezogenen Stöhnen wieder nach hinten auf das Kissen. Unbemerkt hatte sich eine Hand in tiefere Regionen verirrt und massierte sanft seine unbedeckte Körpermitte, ehe sie sich gänzlich und mit Nachdruck darum schloss. Sein Rücken bog sich nach oben, zuckte der Berührung entgegen. Das erregte Zittern, das ihn erfasste, wurde durch die weichen, fremden Lippen an seinem Hals nur noch verstärkt. Und diese Hände – sie schienen überall gleichzeitig zu sein.
 

Wer…?
 

Er schaffte es kaum die flatternden Lider offen zu halten. Er bebte, lechzte nach mehr. Dabei wollte er – nein, er musste einfach wissen, wer es war. Wer sich im Dunkeln verbarg und solche Empfindungen in ihm auslöste. Doch der schwache Schein der Straßenlaterne vor dem Fenster vertiefte nur die Schatten um ihn herum.

Schwerfällig hob er den Kopf ein Stück weit, blickte auf den nacktem Körper vor ihm. Sein Herz raste, während die geschickten Finger ihn reizten und ihn zum Stöhnen brachten. Ihm war unsagbar heiß, gleichzeitig ließ ihn das Gefühl von kühlem Metall auf seiner erhitzten Haut erschaudern. Sein leicht verschleierter Blick wanderte weiter nach unten. Das sanfte Licht von draußen brach sich in etwas silbern Glänzendem. Sein Mund wurde trocken, als er versuchte mehr Details zu erkennen, ohne sich erneut ablenken zu lassen. Zwei breite Ringe zierten die Finger, die gerade zärtlich über seinen Bauch strichen, während die andere Hand weiter unten deutlich intensiver ihr Tun fortsetzte.

Für einen Schlag setzte sein Herz aus. Er kannte diese Ringe.

Mühsam streckte Aoi die Hand aus und strich durch die weichen Haare des anderen. Seine Finger stockten, als sie über die kurzen Härchen an der Seite fuhren.
 

Uruha?
 

Aoi richtete sich erschrocken auf.

Was…?

Er rang nach Atem, sein Herz hämmerte von innen gegen seine Brust. Orientierungslos geisterte sein Blick durch den Raum, suchte nach Halt.

Was war das denn gewesen?

Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander, während er versuchte durch tiefes Ein- und Ausatmen seinen Puls zu beruhigen. Nach und nach klärte sich sein Blick und er sah sich verwirrt um. Dies war definitiv sein Schlafzimmer. Da war keine Straßenlaterne vor dem Fenster, nur die Sonne und die Fassade des gegenüberliegenden Wohnturms, der durch die nicht komplett geschlossenen Vorhänge zu erkennen war. Kein Zweifel, das war seine Wohnung. Aoi ließ sich zurück in die Kissen sinken, drückte die Handballen gegen die Augenlider, um die restlichen Traumfetzen für einen Moment beiseite zu schieben.
 

Oh Mann.
 

Allmählich normalisierte sich seine Atmung, auch wenn sich sein Körper seltsam zittrig anfühlte. Was für ein Erwachen. Langsam nahm Aoi die Hände vom Gesicht und blinzelte erneut in die Helligkeit. Sein Blick schweifte zum Fenster, blieb geistesabwesend an dem strahlend blauen Himmel hängen. Hatte er wirklich so lange geschlafen? Es war doch bestimmt fast Mittag. Das helle Blau, gemischt mit einem zarten Goldton, versprach einen angenehmen Herbsttag. Aber eigentlich war ihm das gerade ziemlich egal, seine Gedanken fingen schon wieder an zu kreisen.

Was auch immer sich sein Hirn im Schlaf zusammengebastelt hatte, es war intensiv gewesen, wie ihm seine noch immer erregte Körpermitte nur zu gern bestätigte. Es war nicht so, dass er nie einen solchen Traum gehabt hätte, doch dieser hatte sich deutlich realer angefühlt als alle vorangegangenen. So etwas konnte einem beim besten Willen nicht kalt lassen.

Stöhnend richtete sich Aoi auf und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, seinen pochenden Kumpel vorübergehend ignorierend.

Das war nicht nur irgendein Traum – nein, es war ein Sextraum mit Uruha gewesen, seinem besten Freund und Gitarrenpartner.
 

Oh, was hatte sein kreatives Hirn da nur zusammengesponnen?
 

Hatte er jetzt wirklich so oft über den Jüngeren nachgedacht, dass dieser ihn inzwischen selbst in seinen Träumen heimsuchte und das nun auf diese überaus spezielle Art?

Aoi befeuchtete flüchtig über seine trockenen Lippen, ehe sich diese zu einem versonnenen Lächeln verzogen.
 

Ach Mann.
 

Seufzend fuhr er sich durch die Haare und schloss kurz die Augen. Ja, es war mehr als heiß gewesen und dass es ihm gefallen hatte, konnte und wollte er nicht leugnen. Obwohl es ihn auch etwas irritierte, wer ihn da in seinem Kopf verführt hatte. Irgendwie konnte er es nicht glauben und dennoch ließ es ihn nicht los.

Sein Lächeln wurde breiter.
 

Uruha, Uruha… immer für Überraschungen gut.
 

Auch wenn der echte davon nichts ahnte. Leise lachend schüttelte Aoi über sich selbst den Kopf. Das war echt ein Ding und etwas, das er wohl nicht so schnell vergessen würde.

Ob Uruha -? Nein! Über so etwas sollte er nicht zu genau nachdenken. Wobei – Warum nicht?

Wie wäre es in der Realität? Würde es sich ebenfalls so erregend anfühlen wie in seiner Fantasie? Wäre Uruha genauso sanft oder eher stürmischer? Das Pochen in seiner Mitte nahm schlagartig wieder zu, nur weil er darüber nachdachte. Die Situation war komisch, aber er war nicht sonderlich schockiert, vielmehr gefiel und amüsierte es ihn. Schnaubend blickte er auf seinen nach Aufmerksamkeit verlangenden Kumpel hinab. Ihm war wohl echt nicht zu helfen.

Doch auch wenn ihm selbst das Ganze nichts ausmachte, er würde sich hüten, Uruha davon zu erzählen. Bis vor ein paar Monaten hätte er für so etwas vermutlich einen nicht ganz ernst gemeinten Schlag in die Magengrube dafür kassiert, gefolgt von der Nachfrage, was für bescheuerte Ideen denn durch sein Kopf geisterten. Das war früher gewesen. Mittlerweile würde Uruha ihn wohl nur sprachlos anstarren oder einfach die Flucht ergreifen. Er, sein ganzes Selbst, war angeschlagen, was Aoi einen kleinen Stich ins Herz versetzte, als er sich an die letzten Wochen erinnerte. Uruha ging es nicht besonders gut, da musste er ihn nicht noch mehr zusetzen. Vielleicht, wenn irgendwann alles wieder normal wäre, könnte er es ihm in einer lockeren Runde ‚Was sonst noch keiner von mir wusste‘ erzählen und ihn fragen. Sie waren seit Jahrzehnten Freunde und immer ehrlich gewesen, da würde sie dieses Thema nicht auseinanderbringen. Aber nicht jetzt, denn er wollte auf gar keinen Fall, dass sich Uruha seinetwegen unwohl fühlte. Lieber wollte er später mit ihm gemeinsam darüber lachen. Momentan war leider dieses warme Lachen, was Aoi so mochte, seltener geworden.
 

Wehmütig rieb sich Aoi kurz mit den Händen über das Gesicht, um nicht gleich wieder in endloses Sinnieren von Uruhas Verhalten zu verfallen. Sein Blick wurde vom freundlichen Wetter draußen angezogen und für einen Moment musste er die Augen geblendet schließen, als sich die Sonne in einem der gegenüberliegenden Fenster, das gerade geöffnet wurde, verfing und dadurch genau in sein Gesicht zielte. Doch der Moment verging so schnell, wie er gekommen war. Gedankenverloren betrachtet Aoi die Fassade des benachbarten Hochhauses.

Er konnte Uruha und diesen Traum nicht vergessen – nicht dieses Bild, nicht das Gefühl auf seiner Haut. Es ließ ihn einfach nicht los. Und es machte ihn neugierig.

Dass ihn sein Freund auf eine gewisse Art und Weise anzog, hatte er inzwischen bemerkt und akzeptiert. Doch dass sein Interesse anscheinend noch weiterging, war neu. Ebenso der Gedanke, wie Uruha darüber dachte und ob jener einer gleichgeschlechtlichen Beziehung überhaupt zugeneigt wäre. In Aois bisheriger Vorstellung hatte sich sein Freund diesbezüglich keine Grenzen gesetzt. Nur wirklich darüber diskutiert, hatten sie beide nie darüber. Natürlich wurde immer mal über dieses und jenes im Liebesleben des jeweils anderen gesprochen, aber mit dem nötigen Ernst hatte Aoi diese Themen nicht verfolgt und die Erwähnung von männlichen Partnern war nie vorgekommen. Sicher hatte sein Freund durchaus das ein oder andere Abenteuer und Detail ausgelassen, generell hielt er sich bei solchen Gesprächen gern bedeckt. Man musste schließlich auch nicht alles bis ins kleinste Detail erörtern – sie waren schließlich keine Klatschtanten. Dafür interessierte es ihn jetzt um so mehr. Und selbst wenn Uruha Männern nicht abgeneigt wäre, bliebe noch die Frage, ob er sich dann überhaupt auf Aoi einlassen würde.

Fragen über Fragen und keine würde sich so schnell beantworten lassen. Nicht, solange er nicht wusste, was mit Uruha los war und wie er ihm womöglich helfen konnte. Da war sein eigenes Interesse momentan sekundär, auch wenn seine Körpermitte ihn bereits schon wieder auf sich aufmerksam machte.

Ein selbstvergessenes Lächeln schlich über Aois Gesicht und er erhob sich von der Bettkante.

Jetzt verlangte es ihm erst einmal nach einer ausgiebigen Dusche.

realization

Kapitel 6 - realization
 

- Warum kommst du mir so nahe und erweckst längst Vergessenes zu neuem Leben?

Spürst du was in mir vorgeht? Ich versuche es doch zu verbergen.

Spielst du nur mit mir? -
 

November
 

Lautes Gelächter und Musik erfüllten den Raum. Rauchschwaden von dutzenden Zigaretten waberten umher und verliehen der Bar, zusammen mit dem leicht düsteren Licht der wenigen Lampen, die urige Atmosphäre einer in die Jahre gekommenen Hinterhofkneipe. Dass dies allerdings ein recht angesagter Treffpunkt in einem der Außenbezirk Tokios war, hätte man wohl auf den ersten Blick nicht vermutet. Nur die vollbesetzten Tische und Sitznischen zeugten von der Beliebtheit des Ortes.
 

Aois Blick schweifte seit einer Weile etwas gelangweilt durch die Bar, dabei immer in der Hoffnung jemanden von der Bedienung auszumachen, um nicht selber zum Tresen gehen zu müssen. Vergebens. Scheinbar waren alle Angestellten wie vom Erdboden verschwunden oder einfach extrem gut zwischen all den Gästen getarnt. Frustriert aufseufzend ließ er den Kopf hängen. Dann blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich selbst auf den weiten, gefährlichen Weg ans andere Ende der Bar zu machen. Während er innerlich noch mit sich rang, schlitterte ein Pappuntersetzer auf dem Tisch in Aois Blickfeld. Missmutig die Stirn darüber runzelnd, wer ihn denn hier mit Bierdeckeln attackierte, hob Aoi seinen Blick und sah direkt in Reitas breit grinsendes Gesicht.

„Bringst du mir ein Bier mit, wenn du bestellen gehst?“, rief er über den dauerhaft anhaltenden Lärmpegel hinweg. Aois Augenbrauen wanderten verwundert nach oben.

„Na, dein Glas ist schon seit einer halben Stunde leer und so suchend, wie du dich die ganze Zeit umschaust…“, beantwortete der momentan um die Nase nackte Bassist die unausgesprochene Frage.

Seufzend gab Aoi sich geschlagen und erhob sich von seinem Platz. Wenn er nicht verdursten wollte, musste er da jetzt wohl oder übel durch. Vor Antritt seiner beschwerlichen Reise wandte er sich noch einmal zu seinen übrigen Anwesenden, um gegebenenfalls weitere Getränkewünsche entgegenzunehmen. Doch Kai, der zusammengesunken auf dem Stuhl neben Aois saß, wirkte eher als würde er gleich einschlafen. Ruki und Uruha auf der anderen Seite des Tisches waren unterdessen in ein angeregtes Gespräch vertieft, so dass sie gar nichts mitbekamen. Außerdem sahen ihre Drinks recht gut gefüllt aus.
 

Mit leicht verkniffener Miene ging Aoi los, Richtung Bar, was sich als wahrer Hindernisparcours herausstellte. Ständig blockierten Stühle oder andere Gäste seinen Weg. Es war einfach nervig.

Endlich am Ziel angekommen, ließ sich Aoi auf einen der Barhocker fallen und gab seine Bestellung auf. Während er wartete, drehte er sich auf dem Sitz herum und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tresen. Trotz des schummrigen Lichtes fand sein Blick treffsicher die Ecke, in der sich ihre etwas abgelegene Nische befand. Es wirkte, als würden Ruki und Uruha über etwas lachten, das Reita wohl von sich gegeben hatte. Auf die Entfernung hin war es unmöglich genaueres zu erkennen oder gar zu hören, dennoch versetzte es ihm einen eifersüchtigen Stich. Den ganzen Abend fühlte er sich schon ausgeschlossen – einfach fehl am Platz. Und bei dem fröhlichen Bild, das seine Freunde gerade abgaben, ohne dass er ein Teil davon war, nur noch mehr.
 

Aoi biss sich auf die Lippen und blickte weiter zu ihrer Sitzecke oder vielmehr auf seinen besten Freund.

Uruha. Warum musste der Gitarrist heute ausgerechnet zwischen Reita und Ruki an dem runden Tisch sitzen? Als würde er Aoi bewusst auf Abstand halten wollen. Ein Seufzen entwich ihm, während seine Augen wie magisch von dem anderen angezogen wurden und sich ein unangenehmes Ziehen in seiner Brust ausbreitete.

Ja, er fühlte sich heute definitiv nicht dazugehörig. Nicht, dass die anderen ihn ignorierten – auf gar keinen Fall. Sie alberten wie immer herum, doch irgendetwas war anders. Nein, nicht irgendetwas, sondern vielmehr Uruha. Der Leadgitarrist hatte ihn kaum eines Blickes gewürdigt, sich dafür lieber, nach einer flüchtigen Begrüßung, sofort in eine Diskussion mit Ruki gestürzt und wenn der Sänger einmal in Fahrt war, konnte sein Redeschwall kaum noch gestoppt werden. Es war, als hätte Uruha ihn direkt weggestoßen und würde ihn seither ignorieren.

Das tat weh – sehr weh.

Doch nicht nur heute schien Uruha ihn kühler zu behandeln als sonst. Bei den Meetings, die sie in den letzten Tagen vor Beginn des neuen Tourteils abgehalten hatten, war er nie auf diese bestimmte Art mit Uruha zusammen gewesen. Ständig war einer der anderen anwesend oder der Jüngere verließ einfach den Raum, sobald Aoi eintraf. Das konnte kein Zufall sein.

Es war, als hätte sich eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen aufgebaut und sie wären plötzlich nur noch lose Bekannte. Ihre gemeinsamen Momente oder selbst der Barbecue-Abend schienen so unendlich weit weg. Nichts davon war mehr übrig: keine längeren Gesprächen, kaum Blick- oder Körperkontakt. Als hätte Aoi irgendeine ansteckende Krankheit.

Es war frustrierend. Dabei wollte er doch einfach mit ihm reden, seine wohltuende und vertraute Nähe um sich haben – wie früher. Er vermisste seinen Freund und dass obwohl sie sich ständig sahen.

Und trotz, dass die Situation zwischen ihnen so zermürbend war, hatte Uruhas einzigartige Wirkung auf ihn in keinster Weise nachgelassen hatte. Sie war sogar noch stärker. Seine Gedanken und Gefühle konnte er nun einmal nicht kontrollieren und diese überbrückten diese Distanz zeitweilig sehr gut. Aber eben nur in seinem Kopf.

Er hatte sich nie weiter von Uruha entfernt gefühlt als jetzt. Und trotz allem blieb dieses angenehm warme Prickeln in ihm, begleitete ihn die ganze Zeit, selbst wenn Uruha nicht da war.

Aoi war nicht naiv, er wusste nur zu genau, was mit ihm los war. Aus Neugierde und einem unschuldigen, positiven Gefühl war mittlerweile etwas Anderes geworden. Etwas Stärkeres. Auch dieser intensive Traum letztens war kein Einzelfall geblieben und so wurde Aoi immer wieder aufs Neue in eine Mischung aus erregter Faszination und einer kribbelnden, wohligen Zufriedenheit versetzt, wenn er an den Brünetten dachte. Obwohl die Realität schmerzhaft anders war. Dennoch versuchte er sich so gut wie möglich normal zu benehmen, um den anderen nicht spüren zu lassen, was für Gefühle er in Aoi verursachte. Es war nicht so, dass Aoi kein Vertrauen in ihre jahrelange Freundschaft hatte, aber zum einen wollte er seinen Freund nicht noch mehr verunsichern und zum anderen konnte er ihn gerade einfach nicht richtig einschätzen. Alles schien denkbar.
 

Das dumpfe Geräusch von Glas auf Holz riss Aoi aus seinen Überlegungen. Das Bier. Endlich. Seine Kehle fühlte sich staubtrocken an. Mit seinen neusten Errungenschaften begab sich Aoi auf den Rückweg zum Tisch, wo ihn Reita schon erwartungsvoll entgegensah und freudestrahlend sein kühles Goldenes entgegennahm.

„Hat ja ganz schön lange gedauert.“

Aoi überging die Aussage des Bassisten, denn etwas anderes zog seine Aufmerksamkeit auf sich: die Bank neben Uruha war leer.

„Wo ist denn Ruki?“, fragte er mehr zu sich selbst. Reitas äußerst präzise „Klo“- Antwort erreichte ihn kaum, da war der Schwarzhaarige schon um den Tisch herumgetreten und nahm Rukis Platz in Beschlag.

Uruha schaute kurz von seinem Smartphone auf, was Aoi indirekt dazu zwang, sein Handeln mit einem lapidaren „Der Stuhl war so unbequem“ zu kommentieren.

Seit wann musste er sich eigentlich rechtfertigen?

Ein abwesend wirkendes Nicken war die einzige Reaktion des Brünetten, der sich sofort wieder dem Display vor seiner Nase widmete. Aoi presste die Lippen enttäuscht zusammen, während er versuchte dem starken Kribbeln in seinem Bauch, das sich unweigerlich als Reflex auf Uruhas Nähe eingestellt hatte, Herr zu werden. Es war zum Verzweifeln. Sein Körper spielte verrückt und Uruha zeigte ihm ganz offensichtlich die kalte Schulter. Er ignorierte ihn eindeutig.

Doch warum? Gedankenverloren betrachtete er das schöne Profil des Gitarristen. Dessen Konzentration lag ungebrochen auf dem leuchtenden Gerät in seiner Hand, während seine Zähne auf der vollen Unterlippe herumkauten.
 

Rukis kurz darauf erfolgende Beschwerde über den geklauten Sitzplatz drang gar nicht erst in Aois Bewusstsein vor, zu sehr vereinnahmten ihn seine Gedanken und Gefühle.

War es wirklich seine Schuld? Es musste so sein.

Dabei behandelte er Uruha doch nicht anders wie in den Wochen zuvor, oder? Warum war der Gitarrist so abweisend zu ihm? Hatte er nicht vor geraumer Zeit noch verkündet, er wäre bei Bedarf gerne Aois persönliche Hauskatze, wenn es ihm helfen würde? Von Anschmiegsamkeit war mittlerweile keine Spur mehr übrig und diese spürbare Distanz tat körperlich weh.

Was hatte er getan, um Uruha so zu verändern? Dass es etwas mit ihm persönlich zu tun hatte, war offensichtlich, denn allen anderen gegenüber verhielt sich sein Freund völlig normal. Nur in seiner Gegenwart erkannte er Uruha nicht wieder.
 

Erst als Uruha ruckartig den Kopf zu ihm wandte und ihn aus dieses dunklen Augen ansah, fiel er aus seiner gedanklichen Wolke. Der Blick wirkte fragend und kühl, dennoch machte sein Magen einen Salto und ein leichter Hauch von Triumph durchflutete ihn. Da war sein intensives Starren wohl doch auffällig genug gewesen, um Uruha zu einer Reaktion zu zwingen.

„Was ist denn los, Aoi? Du brennst mir ja förmlich Löcher ins Gesicht“, hörte er seine leise Stimme. Er hatte Mühe, die Worte unter Reitas und Rukis lautstarker Diskussion herauszuhören, doch das war egal. Endlich – endlich beachtete Uruha ihn.

Aois Lippen verzogen sich zu einem feinen Lächeln, als er prüfend zu den beiden debattierenden Hitzköpfen sah, die sie nicht beachteten. Und Kai – dessen Kopf lag seelenruhig auf der Tischplatte und Aoi glaubte ein leises Schnarchen zu vernehmen.

Aber was sollte er sagen, ohne dass sich Uruha gleich wieder zurückzog? Mit der Tür ins Haus zu fallen, war vielleicht nicht der beste Weg, aber Aoi war noch nie gut darin gewesen, vorsichtig oder gar diplomatisch vorzugehen. Er wollte ganz einfach seinen Freund zurück und ihr altes Verhältnis, in dem sie ehrlich zueinander hatten sein können.

Er rutschte noch ein Stückchen näher an Uruha heran.
 

„Du redest ja wieder mit mir…“, raunte Aoi seinem Freund ins Ohr, der aufgrund der plötzlichen Nähe zu erschaudern schien. War das ein schuldbewusster Ausdruck in Uruhas Gesicht gewesen? Wenn ja, war dieser im Bruchteil einer Sekunde wieder verschwunden.

War das alles? Das konnte doch nicht sein.

Jetzt hatten sie schon einmal einen Augenblick mehr oder weniger alleine und dann das.

Aoi gab nicht auf. Vermutlich war es töricht anzunehmen, ein kurzes Gespräch würde alles klären, doch es war Aois einzige Hoffnung. Er wollte eine Reaktion von Uruha, er konnte diese distanzierte Art nicht länger ertragen.

„Ich habe letztens von dir geträumt.“

Die Worte hatten seinen Mund schneller verlassen, als er über sie nachdenken konnte. Sein Herz schlug wild in seiner Brust, während er wartete.

Würde Uruha darauf eingehen?

Wenn ja, wie viel würde Aoi ihm wirklich von seinem Traum erzählen? Er war hin- und hergerissen. Warum hatte er nicht vorher nachdenken können? Im Zweifel würde er wohl einfach eine lustige und abgedrehte Geschichte, vielleicht über Tiere oder Filme, zum Besten geben. Lieber das, als Uruha noch mehr zu verschrecken. Denn die Hauptsache war doch, sie redeten miteinander.

Für einen Moment wirkte Uruha wie erstarrt, ehe er sich räusperte.

„Na, da hoffe ich, dass es ein schöner Traum war.“

„Ein sehr schöner…“

Das war‘s. Mehr kam nicht, Uruha hatte ihr Gespräch anscheinend an dieser Stelle für ausreichend und beendet erklärt. Aois leise gemurmelten Worte blieben ungehört, denn Uruha hatte sich schon abgewandt und folgte mit neuem Interesse der Debatte der anderen beiden.

Aoi fühlte sich wie betäubt. Nur ein einziges Wort geisterte durch seinen Kopf, als er diesen betrübt senkte.

Warum?

Warum servierte er ihn so eiskalt ab? Warum konnten sie nicht mehr miteinander reden? War Uruha ihre Freundschaft plötzlich egal? Warum?
 

~*~
 

Ein leises Rascheln war zu hören, dann herrschte Stille.

Das Licht der niemals ruhenden Stadt tauchte das Zimmer in einen nachtgrauen Schein und zauberte sanfte Schatten an die Wände. Auf dem breiten Bett, das den Raum dominierte, kauerte eine bewegungslose Gestalt, den Blick starr aus dem Fenster gerichtet.

Uruha.

Ein lautloses Seufzen kam über Aois Lippen, während er seinen Freund von der Tür aus beobachtete. So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er vor wenigen Stunden, trotz der angespannten und schwierigen Situation zwischen ihnen, aus einer spontanen Eingebung heraus angeboten hatte, dass Uruha bei ihm übernachten könnte. In der Bar waren die Getränke reichlich geflossen, weshalb eine Heimfahrt mit dem eigenen Auto in Uruhas Fall sowieso ausgeschlossen gewesen war.

Ruki und Reita, die mit dem Bus hergekommen waren, wurden von dem inzwischen wieder wachen und ausgenüchterten Kai nach Hause gefahren. Natürlich hätte auch Uruha mitfahren oder sich ein Taxi nehmen können, aber sein Auto stand nun einmal vor der Bar, weshalb Aoi seinem Freund nicht ganz uneigennützig vorgeschlagen hatte, bei ihm zu übernachten, da er schließlich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Bar wohnte.

Es war ein neuer, fast verzweifelter Versuch gewesen, der unangenehmen Distanz auf den Grund zu gehen und sie eventuell zu überbrücken. Uruha war dem Alkohol reichlich zugetan gewesen und wer weiß – vielleicht half dies ein wenig. Dass er sich von dieser Idee alles andere als begeistert gezeigt hatte, hatte Aoi nicht sonderlich überrascht. Doch nach Rukis angetrunkener und feuriger Rede über die reine Zeit- und Geldverschwendung, die der doppelte Fahrtweg quer durch die Stadt am nächsten Tag mit sich bringen würde, um Uruhas Flitzer aufzusammeln, hatte er schlussendlich zugestimmt. Wenn auch eindeutig widerwillig. Aoi hatte nichts gegen das schmerzhafte Ziehen in seiner Brust tun können, gleichzeitig gab sich ein winziger Teil in ihm der Freude hin.
 

Bis vor wenigen Monaten hatten solche Abende nie ein Problem darstellte. Meist hatte Uruha von sich aus bei Aoi übernachten wollen. So hatten sie unzählige Male die Nacht mit schlechten Trashfilmen und Pizza auf der Couch verbracht oder stundenlang im Bett über alles Mögliche diskutiert. Manchmal sogar bis zum Morgengrauen.

Und nun wirkte es eher so, als hätte er Uruha regelrecht dazu gezwungen, ihn zu begleiten. Der Heimweg war sehr wortkarg verlaufen. Der Brünette schien in sich gekehrt seinen Gedanken nachzuhängen, während ihn Aoi immer wieder verstohlen von der Seite gemustert hatte. Dabei war seine Hoffnung wirklich groß gewesen, nach dem gescheiterten ersten Versuch noch einmal mit seinem Freund reden und damit der Mauer, die zwischen ihnen stand, Risse verpassen zu können.

Was war nur zwischen ihnen passiert, dass sie sich nicht einmal mehr ansatzweise normal miteinander unterhalten konnten?
 

Und nun stand Aoi in seinem dunklen Schlafzimmer und betrachtete dieses anziehende Wesen auf seinem Bett. Sein Herz schlug wehmütig vor sich hin, während sich in seinem Magen ein harter Klumpen gebildet hatte. Uruha ging es nicht gut, das konnte Aoi selbst in der Dunkelheit erkennen. Allerdings wirkte er nicht mehr kalt und abweisend wie in den Stunden zuvor – vielmehr verloren, so wie er seine angezogenen Beine umschlang und gänzlich in seinen Gedanken gefangen zu sein schien. Bisher hatte er den Schwarzhaarigen nicht einmal bemerkte, der den Raum vor einigen Minuten betreten hatte.

Aoi erkannte seinen sonst so ausgeglichenen Freund wirklich nicht wieder. Er konnte es kaum ertragen, Uruha nicht so verletzlich sehen, er wollte ihm helfen. Und selbst wenn es bedeuten würde, seine eigenen Gefühle vorerst zu vergessen. Er musste wissen, was er ihm getan hatte. Er vermisste Uruhas liebes Lächeln und seinen warmen Blick, der ihn oft berührt und in Hochstimmung versetzt hatte. Diese kalte Art passte einfach nicht zu ihm. Sie stach ihm in die Seele.

Etwas musste passieren.

Aoi löste sich von der Tür und ging auf leisen Sohlen zum Bett, ehe er sich vor dem anderen in die Hocke niederließ. Behutsam legte er eine Hand auf Uruhas Knie, sofort bereit sie wegzuziehen.
 

„Was ist los?“
 

Mehr als ein Flüstern kam nicht über seine Lippen. Doch Uruha hatte ihn auch so verstanden. Sein Blick wanderte vom Fenster zu der Hand, die auf seinem Bein ruhte. Eine gefühlte Ewigkeit passierte nichts, Aoi rechnete schon beinahe damit, mit Schweigen gestraft zu werden, da ging ein Ruck durch den Körper des Jüngeren ging. Seufzend schloss jener die Augen. Es war, als hätte er die Frage schon längst erwartet. Mit klopfendem Herzen wartete Aoi ab, studierte das Gesicht seines Freundes. Die Stirn leicht gerunzelt, die Lippen zusammengekniffen, als würde er mit sich ringen.

Als die dunklen Augen ihn plötzlich musterten, wäre er vor Schreck fast nach hinten umgefallen.

Einen Moment später gab der Brünette seine schützende Körperhaltung auf und saß nun im Schneidersitz vor ihm. So einem schnellen Umschwung hatte Aoi nicht erwartet und für einige Sekunden war er unfähig überhaupt zu reagieren. Ob es nun der Restalkohol war, der Uruhas Abwehr schmelzen ließ, oder etwas anders war nebensächlich. Augenblicklich versetzte ein hoffnungsvolles Kribbeln seinen Körper in Aufruhr. Uruha hatte ihn nicht angeherrscht, weggeschubst oder war gar abgehauen. Er saß hier, in seiner Wohnung, auf seinem Bett, obwohl ihn keiner gezwungen hatte und Rukis Rede nun nichts gewesen war, was ihm keine andere Wahl gelassen hätte. Also war er doch freiwillig hier – jedenfalls ein bisschen.

Etwas mutiger geworden, setzte sich Aoi umsichtig auf das Bett, darauf bedacht Uruha nicht zu verschrecken, schließlich konnte er ihn weiterhin nicht richtig einschätzen. Sein Mut reichte sogar so weit, dass er eine Hand beruhigend über Uruhas Oberschenkel streichen ließ, so wie er es früher unzählige Male getan hatte, wenn dieser aufgewühlt gewesen war. Einen Moment lang schien er zu erstarren, dann drang ein erneutes Seufzen an Aois Ohr.

„Ich weiß nicht, was los ist…“

Die kühle Hand, die sich über seine schob, ließ ihn verblüfft blinzeln.

„Ich fühle mich in letzter Zeit nicht wie ich selbst…“

Zitterte Uruhas leise Stimme? Seine Hand tat es auf jeden Fall, wie der Schwarzhaarige bemerkte.

„Irgendwie bin ich seit neustem so unruhig und nervös. Ich kann nicht mehr klar denken.“

Seine Hand klammerte sich regelrecht an seine, gleichzeitig erklang ein unsicheres Lachen.

„Es nervt mich, da ich mir gerade selbst nicht über den Weg traue.“

Für einen Augenblick war Aoi sprachlos. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, doch dass Uruha mit einem Mal so viel und so ehrlich mit ihm sprach, überraschte ihn gleichermaßen, wie es ihn freute.
 

„Und darum bist du mir ausgewichen?“

Es war mehr eine Frage, als eine Feststellung, die seinen Mund zu schnell verlassen hatte, als dass er die fast vorwurfsvollen Worte noch einmal hatte überdenken können. Doch statt sich wieder zurückzuziehen, hob Uruha seinen Blick und sah ihn direkt an. Aoi schluckte. Was er in den dunklen Augen seines Gegenübers zu lesen glaubte, ließ ihn sich schuldbewusst auf die Unterlippe beißen. Ein trauriger Glanz lag in ihnen und dennoch strahlten sie eine ungeheure Wärme aus.
 

„Ich wollte dich nicht abweisend behandeln, aber ich hatte das Gefühl nicht mehr richtig atmen zu können, wenn du in meiner Nähe warst.“

Uruha presste kurz die Lippen zusammen, ehe er fortfuhr.

„Mit deinen ständigen Annäherungen hast du mich mit einem Mal komplett aus dem Konzept gebracht und mich in absoluter Unruhe zurückgelassen. Ich … ich bin nur noch unkonzentriert und aufgewühlt, wenn du bei mir bist.“ Ein Schniefen war zu hören. „Ich will das nicht. Ich will mich nicht so fühlen. Ach, ich weiß auch nicht… Es wird einfach nicht besser, egal wie viel Abstand ich zwischen uns bringe. Was soll ich denn machen, Aoi? Es macht mich fertig und trotzdem vermisse ich dich. Ich ertrage diese Distanz nicht mehr.“
 

Noch während der unsicheren und immer leiser werdenden Erklärung, hatte Aoi ihn in eine feste Umarmung gezogen. Besänftigend strich er über den Rücken des anderen, der sich wiederum an ihm festkrallte.

„Ich will dich als Freund nicht verlieren.“

Die in sein Shirt genuschelten Worte brachten Aoi eine Gänsehaut am ganzen Körper, während er das Gesagte erst einmal gänzlich verarbeiten. Meinte Uruha das ernst?

Er konnte nicht verhindern, dass der hoffnungsvolle Funken in ihm aufloderte, allein durch die Aussage, die zwischen Uruhas Worte hindurch gesickert war. Hoffnung darauf, dass es nicht ausweglos mit ihnen war – dass nicht alles kaputt war. Vielleicht auch Hoffnung darauf, in Uruha etwas bewegt zu haben, das irgendwann einmal in einem ähnlich positiven Gefühl enden würde, wie Aoi es empfand.

Eine verwirrende Mischung aus Emotionen brodelte in ihm, Freude und Schuldbewusstsein wechselten sich ständig miteinander ab. Das schlechte Gewissen nagte an ihm. Es war definitiv seine Schuld. Er war zu übermütig, zu gedankenlos gewesen, hatte nur an sich gedacht. Das, was ihn in Uruhas Nähe ruhiger und entspannter hatte werden lassen und ihn stets in Hochstimmung versetzte, brachte bei seinem Freund eher das Gegenteil: er wurde fahrig und unkonzentriert und ließ ihn auf Abstand gehen, fast schon die Flucht ergreifen.

Als Aoi sich des bebenden Etwas in seinen Armen bewusst wurde, das sonst einer der ausgeglichensten Menschen gewesen war, die er kannte, tat es ihm leid. Wirklich leid. Er hatte Uruha nie so durcheinanderbringen wollen oder gar, dass es diesem schlecht ging. Zufrieden darüber, dass er sich zu dem anderen hingezogen fühlte, hatte er verdrängt, dass es umgekehrt vielleicht anders sein könnte und dass Uruha unter dieser Zuneigung litt.

Er seufzte tief, drückte den warmen Körper noch etwas stärker an sich.
 

Was sollte er tun?
 

Er wollte Uruha auf keinen Fall verlieren, aber das würde er sicher auch nicht, denn Uruha brauchte ihn ebenso als Freund. Doch etwas musste passieren. Die Situation hatte sie beide durcheinander gebracht, sie verändert, vermutlich mehr als Uruha bisher überhaupt bisher ahnte. Sie konnten nicht zurück. Aber vielleicht konnten sie zu etwas Neuem werden.

Behutsam löste Aoi sich aus der Umarmung, betrachtete seinen Freund, der ihn beinahe Hilfe suchend ansah.

Etwas Neuem… Das wäre schön. Zwar hatte er seine eigenen Gefühle im Griff, doch Uruha nicht. Selbst wenn sie es irgendwie zum alten Status ihrer Freundschaft zurückschafften, würden diese Gefühle in ihnen nicht augenblicklich verschwinden. Diese Unruhe wäre weiterhin da und würde Uruha verunsichern, da er sie nicht einzuordnen wusste. Nein, ein Zurück war keine Lösung.

Aoi lauschte in sich hinein, spürte seinen schnellen Herzschlag, das angenehme Prickeln, das seinen Körper durchströmte, seit er sich Uruhas Wirkung auf sich bewusst geworden war.

Sie konnten es schaffen. Unabhängig davon, was dabei herauskommen würde: ob Liebe, eine Beziehung oder eine andere Art tiefer Freundschaft. Er glaubte an sie, hatte Vertrauen. Und genau dieses Vertrauen brauchte Uruha ebenso. Vertrauen darauf, dass egal was passieren würde, sie einander hatten und sich immer auffangen würden, wenn einer von ihnen fiel. Dass sie keine Angst vor der Reaktion des anderen haben mussten.
 

Sanft strich Aoi über Uruhas Haar und ließ seine Hand auf dessen Wange ruhen.

„Uruha… Kouyou… auch wenn es gerade kompliziert zwischen uns ist…“

Er hielt inne und griff nach Uruhas Hand. Mit dem Daumen fuhr er zärtlich über den Handrücken, um seine folgenden Worte unterstreichen.

„Du bist mein bester Freund und warst auch immer mein persönlicher Ruhepol, anscheinend so etwas wie meine Entspannungstherapie.“
 

„Ja, das hab ich gemerkt.“ Uruha schniefte, gleichzeitig war ein zaghaftes Lachen aus den Worten herauszuhören.

Da war er wieder – sein Uruha. Ein Schmunzeln glitt über Aois Lippen.
 

„Diese Distanz zwischen uns habe ich nie gewollt, wirklich nicht. Deine Nähe hat mich immer aufatmen lassen und mich in ein wunderbares Hochgefühl versetzt.“
 

Ob sich Uruhas Augen wegen seiner Worte weiteten oder weil sich Aois Hand in seinen Nacken gestohlen hatte und zart darüber strich, konnte Aoi nicht genau sagen. Vielleicht war auch nur die Gänsehaut, die seinen Fingern folgte, dem letzteren geschuldet.
 

„Wir bekommen das wieder hin. Vertraust du mir?“

Das zögerliche Nicken spürte er mehr, als dass er es sah.

„Dann schließe die Augen.“

Sanft fuhr er mit der Nase über Uruhas Wange hinauf zum Ohr. Noch wusste Aoi nicht genau, was er tun sollte, doch das würde schon kommen. Er wollte Uruha zeigen, dass er sein Vertrauen verdiente, dass sie die Nähe des jeweils anderen brauchten und es nichts gab, was sie ängstigen musste. Wirklich nichts.

Er spürte, wie Uruha unter seiner Berührung erbebte, als er ihm zuflüsterte:

„Lass dich fallen und denk nicht darüber nach. Ich glaube, ich weiß einen Weg, der uns beiden Entspannung bringt.“
 

~~*~~
 

sleepless night

Kapitel 7 – sleepless night
 

– Keine Angst. Vertrau mir einfach. –
 

Ein Stöhnen erfüllte den Raum.

Das gab’s doch nicht! Seit wann war das Ticken der Uhr so ohrenbetäubend laut?

Frustriert wälzte sich Uruha im Bett herum und blieb schließlich auf dem Rücken liegen, den müden Blick an die Decke gerichtet. Für gewöhnlich war er Meister darin, dieses momentan echt nervige Geräusch aus dem Nachbarzimmer zu ignorieren. Aber jetzt schien es, als würde die Wanduhr direkt neben seinem Bett hängen und ihn mit ihrer Arbeit bewusst vom Schlafen abhalten wollen.

Uruha seufzte und rieb sich mit der Hand über die geschlossenen Augenlider. Er kannte das Gefühl von Schlaflosigkeit sonst überhaupt nicht. Eigentlich konnte er immer und überall schlafen. Und nun? Nun lag er unruhig und zerschlagen im Bett und verfluchte innerlich den alten Zeitanzeiger.

Grummelnd richtete sich der Brünette auf und blieb einen Moment auf der Bettkante sitzen, ehe er sich langsam auf den Weg ins Nachbarzimmer machte, um der Uhr ihren Saft abzudrehen, beziehungsweise um die Batterien entfernen.
 

Wenige Minuten später kuschelte Uruha sich wieder in sein weiches Kissen, zerrte die warme Decke über sich und kniff die Augen zusammen.

Endlich Stille. Vielleicht würde es ja jetzt etwas mit dem Schlaf werden.
 

‚Ich weiß einen Weg, der uns beiden Entspannung bringt.‘
 

Uruha riss die Augen auf. Was zur -?!

Sein Blick wanderte unstet durch das Halbdunkel seines Schlafzimmers. Okay, da war die Stille definitiv schlimmer als die Uhr. Denn jetzt hatte sein Hirn genug freie Spitzen, um sich mit anderen Dingen zu beschäftigen – Dinge, über die er auf keinen Fall nachdenken wollte und die er seit Tagen versuchte, in die hinterste Ecke seines Kopfes zu verdrängen.
 

‚Lass dich fallen…‘
 

Halt! Nicht weiterdenken!

Eine Gänsehaut überzog Uruhas Körper, die definitiv nicht nur der Raumtemperatur geschuldet war. Da half auch die Decke nichts, unter der sich Uruha so gut wie möglich vergrub. Die Gänsehaut blieb. Ebenso wie das Gefühl, diese dunkle, leicht raue Stimme direkt an seinem Ohr zu spüren. Er begann zu zittern.

Oh Mann! Er wollte das Ticken zurück. Dann hätte sein Hirn wenigstens etwas, auf das es sich konzentrieren könnte und es käme nicht mehr auf die glorreiche Idee, jetzt zur nachtschlafenden Zeit mit der Verarbeitung unerwünschter Erinnerungen zu beginnen.

Uruha war zum Heulen zumute.

Aber noch einmal aufzustehen, um die Uhr zu reaktivieren, war auch nicht die Lösung des Problems. Und wieso musste gerade heute der blöde Mistköter von gegenüber friedlich vor sich hinschlummern, obwohl er sonst zu jeder erdenklichen Tages- und Nachtzeit sein Revier lauthals und wichtigtuerisch verteidigte – sogar gegen Fliegen?

Die Totenstille, die nun herrschte, schien ihn regelrecht auf die Matratze niederzudrücken und wirkte dröhnender, als ein anderes Geräusch es je könnte. Wobei – er wusste ja selbst, dass die Stille nicht der Auslöser für seine Ruhelosigkeit war.

Ach, das brachte doch alles nichts.

Seufzend setzte Uruha sich erneut auf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, bevor er den Blick zum geöffneten Fenster wandte. Die Vorhänge bewegten sich sanft in dem kühlen Lüftchen, das von draußen hereindrang. Der Himmel verfärbte sich langsam in ein helles Grau. Der Morgen nahte und er hatte bisher kein Auge zugemacht. Nur gut, dass sie heute freihatten. So könnte er wenigstens im Laufe des Tages noch einmal versuchen, Schlaf und Entspannung zu finden.
 

‚Entspannung‘ – das war eines der Wörter, an die er aktuell nicht denken wollte, denn es brachte ihm genau das Gegenteil und spornte sein Hirn wie jetzt zu Höchstleistungen an. Und diese Höchstleistungen führten in gedankliche Richtungen, in die er ebenso nicht wollte. Es war wie ein Teufelskreis.
 

‚… denk nicht darüber nach.‘
 

Sein Kopf war da wohl völlig anderer Meinung und zerrte Bilder und Gefühle hervor, die er am liebsten vergessen hätte. Doch ewig ignorieren konnte er das Geschehene ohnehin nicht, das gerade sehr anschaulich vor seinem geistigen Auge emporstieg. Er biss sich auf die Unterlippe. Sein Körper fing an stärker zu kribbeln, während die Erinnerungen an diese eine Nacht vor mittlerweile drei Tagen regelrecht körperlich spürbar wurden. Oh Mann…

Uruha gab auf. Was hatte Aoi nur mit ihm gemacht?
 

‚Vertraust du mir?‘
 

Natürlich vertraute er ihm. Mehr als das. Er war schließlich einer seiner besten Freunde und das schon seit vielen Jahren. Und dennoch – Aoi war ein Lügner. Von wegen, es würde sie beide entspannen.

Frustriert stieß Uruha die Luft durch die Nase aus.

Gut, er konnte nicht abstreiten, im Dunkel der Nacht hatte sich das, was Aoi mit ihm gemacht hatte, irgendwie richtig angefühlt. Sie waren einander auf eine besondere Art nah gewesen – auf eine Art, die man auch nicht unbedingt mit Freunden teilte, dennoch war es in Ordnung gewesen. Endlich hatte sich sein Kopf einmal ausgeschaltet, er hatte nicht mehr denken wollen, hatte all die Zweifel eine Nacht lang vergessen. Es war schön gewesen und beinahe zu viel. Aois angenehme und so vertraute Nähe hatte ihn eingehüllt und aufatmen lassen. Verschwunden waren die von ihm selbstauferlegte Distanz, die zwischen ihnen herrschte; die Unruhe und das Wirrwarr in seinen Gedanken – einfach alles, was seit Wochen in Uruhas Innerem festsaß. Wichtig in diesem Moment war nur die Wärme und das wohlige Prickeln, das seinen Körper vereinnahmte, als sie einander nah waren.

Doch am nächsten Morgen war alles zurück gewesen, verschwunden war die Ausgeglichenheit, und jetzt im Nachhinein fühlte er sich verwirrter und unentspannter als je zuvor.
 

Warum hatte er das überhaupt zugelassen?

Er hätte es auf den Alkohol in seinen Adern schieben können, auf die partielle Unzurechnungsfähigkeit, die mit seinem geliebten Wein einherging und sein Gehirn in diesen wichtigen Entscheidungsmoment vernebelt hatte.

Aber nein, er konnte es nicht leugnen, er hatte es so gewollt – in diesem Moment, als er sich nach Aois Berührungen, seiner Nähe gesehnt hatte. Er hatte diese Distanz, für die er selbst verantwortlich gewesen war, nicht mehr ertragen können. Die letzten Wochen waren zermürbend gewesen, ständig hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, ob es richtig war, was er tat und wenn ja, warum er sich dann nicht besser fühlte. Egal, was er getan hatte, die Unruhe war niemals verschwunden und schlussendlich tat es ihm einfach nur weh, Aoi mit seinem Verhalten, das sowieso nichts brachte, zu verletzen. Doch das alles war vor drei Tagen plötzlich unwichtig geworden. Es gab nichts mehr, worüber er hätte nachdenken müssen.

Und dann hatte sich sein Kopf im Morgengrauen wieder an die Arbeit gemacht und alles war zunichte.

War es wirklich richtig gewesen?

Schließlich war Aoi ein Mann und noch dazu sein bester Freund. Es konnte nicht richtig sein! Das Gefühl nicht atmen zu können, war schlagartig zurück gewesen, seine Unsicherheit hatte ihn regelrecht überrollt.

Und Aois Anwesenheit hatte es nicht besser gemacht. Wie er entspannt neben ihm gelegen hatte und ihn dabei mit diesem typischen Lächeln auf den Lippen betrachtete. Uruha hatte sich kurzzeitig wie eines ihrer Fangirlies gefühlt, die regelmäßig einen Ohnmachtsanfall bekamen, wenn der Schwarzhaarige dieses verführerische Schmunzeln auf der Bühne aufsetzte.

Doch die Ohnmacht kam nicht, vielmehr ergriff ihn die Panik, die stets auftrat, wenn er das Gefühl hatte, nicht mehr Herr der Lage zu sein. Prinzipiell war es nichts Schlimmes oder gar Neues neben Aoi aufzuwachen – unzählige Male hatten sie sich ein Hotelzimmer geteilt oder sich bei einem von ihnen die Nächte um die Ohren geschlagen.

Doch an diesem einen Morgen hatte es sich komplett anders angefühlt. Als hätten das Dunkel der Nacht und die Nähe, die sie geteilt hatten, die restlichen Gefühle, die bisher noch nicht in Uruhas verwirrtem Geist durcheinander gewirbelt waren, hervorgezerrt.

Sein Körper war so in Aufruhr gewesen, dass er sich wenig erwachsen verhalten hatte und dafür wie ein verschreckter Teenager aus der Wohnung seines Freundes geflüchtet war.

Was Aoi wohl von ihm in diesem Moment gedacht hatte?
 

Verschämt zog Uruha die Knie an seinen Körper und bettete das Gesicht darauf.

Mit Ruhm hatte er sich bei der Aktion wohl nicht bekleckert. Wieso hatte er nicht etwas cooler reagieren können? Wie musste das auf Aoi gewirkt haben, als er, einem scheuen Reh gleich, aufgesprungen war und sich stammelnd verabschiedet hatte? Das war einfach nur peinlich. Es war ja nicht mal so, dass sie irgendetwas Verwerfliches getan hatten. Sie hatten einander gehalten, waren sich nah gewesen, auf eine für ihn komplett neue und elektrisierende Art, die in ihm augenblicklich wieder die Hitze aufsteigen ließ, als er daran zurückdachte. Er wusste selbst nicht, warum er so darauf reagierte, aber diese Nacht hatte ihn verwirrt. Er hätte nicht einmal den Finger darauf legen können, was ihn so irritierte und aus dem Konzept brachte, aber das Gefühl war nun einmal da und wollte partout nicht verschwinden.

Ob er Aoi je wieder in die Augen schauen könnte, ohne zu erröten? Er hasste sich gerade selbst dafür, wie pubertär er sich verhielt, doch Aoi schien gerade Verhaltensweisen an ihm hervorzuzerren, die Uruha an sich gar nicht kannte und die eigentlich komplett untypisch für ihn waren. Und das nicht erst seit dieser Woche, sondern schon deutlich länger. Eigentlich seit Aoi begonnen hatte, vermehrt seine Nähe zu suchen oder wie er es nannte, Uruha als seine Entspannungstherapie anzusehen. Warum auch immer, aber sein Körper hatte auf Aois Annäherung mit einer solchen Nervosität reagiert, dass es ihn ganz durcheinanderbrachte und er mit der Zeit etwas auf Abstand gehen musste, um wenigstens etwas klarer denken zu können.
 

Oh Mann… Er wollte endlich seine Ruhe zurück. Das ging doch nicht, dass sein Puls ständig eine Achterbahnfahrt hinlegte, wenn er an seinen Freund dachte und sein Magen im schlimmsten Fall gleich mitmachte!

Ein lautes Seufzen entfloh ihm. Er musste etwas ändern. Die Frage war nur ‚wie‘. Ein distanzierter Umgang miteinander hatte nicht funktioniert, denn dieser hatte ihn mehr gequält, als die verwirrende Nähe zu Aoi ihn je hätte ängstigen können.

Am einfachsten wäre es, wenn er diese Nacht einfach vergessen könnte. Dann würde sich die Ausgangslage wenigstens anders anfühlen und er könnte sich einen neuen Plan zurechtlegen, wie er mit Aoi umgehen könnte. Aber nein – die Vergessensfunktion war scheinbar in seinem Hirn nicht vorprogrammiert und mit Alkohol ließ sich das Ganze ebenfalls nicht wegspülen. Im Buch oder Film war das doch immer so einfach: Man betrank sich und hatte einen Blackout oder sah alles lockerer und fertig. Aber nicht bei ihm. Die letzten zwei prozentreichen Abende hier in seiner Wohnung hatten nichts in diese Richtung bewirkt, nicht mal ansatzweise – weder das Vergessen noch Lockerheit. Er erinnerte sich weiterhin an jedes verfluchte Detail dieser Nacht und konnte dies auch nicht mit einem Schulterzucken und Lächeln abtun. Nein, diese Details schienen auch immer greifbarer zu werden, je mehr er gegen sie ankämpfte.

Uruha zog fröstelnd die Schultern hoch, obwohl ihm innerlich heiß wurde. Er hatte das Gefühl diese schönen, eleganten Hände auf seiner Haut zu spüren, wie sie zärtlich über seinen Oberkörper glitten und ein warmer Atem ihnen folgte. Na toll! So etwas half definitiv nicht dabei, dass die Gänsehaut, die seinen Körper überzog, verschwand. Er glaubte sogar, immer noch Aois Parfüm an sich wahrzunehmen. Dieses Parfüm – es konnte einem aber auch wirklich die Sinne vernebeln.
 

Schluss jetzt!

Uruha schüttelte energisch den Kopf.

Erst versuchen die Sache zu verdrängen und sich nun in Details zu verlieren – so sollte das nicht laufen.

Er brauchte erst einmal Klarheit und Ordnung in seinem Kopf. Solange er noch nicht wusste, was er wollte, brauchte er sich über weitere Schritte noch gar keine Gedanken zu machen. Eines war jedenfalls Fakt: Er hatte die Nacht genossen und war währenddessen derart entspannt gewesen, wie lange nicht mehr. Auch dass der Ältere ihn in Aufruhr versetzte, ließ sich nicht abstreiten und das war etwas, was Uruha an dieser Situation am meisten nervte. Früher war das nicht so gewesen. Ihre Freundschaft hatte sich einfacher und leicht angefühlt, ungezwungener. Und nun war alles kompliziert und er schob jeder Kleinigkeit eine größere Bedeutung zu, als es diese verdiente. Er dachte eindeutig zu viel nach und das war echt zum Verzweifeln. Er wollte diese Leichtigkeit zurück, die ihr Beisammensein einmal ausgemacht hatte.

Vermutlich wäre es am einfachsten, erneut mit Aoi darüber zu reden, aber irgendwie wollte sich Uruha nicht noch mehr die Blöße geben. Er wollte sich nicht derart verletzbar machen. An dem Abend war er in einem seiner schwächsten Momente erwischt worden und dieses eine Mal sollte vorerst reichen.
 

Dass er sich, abgesehen von ihrer engen Freundschaft, der Präsenz und dem Charisma des anderen Gitarristen nicht entziehen konnte, war Uruha seit Jahren bewusst. Wer konnte ihm schon widerstehen, wenn er seine Show auf der Bühne abzog? Aber auch das verschmitzte und dennoch liebe Lächeln, das Aoi ebenso privat häufig auf den Lippen trug, verfehlte seine Wirkung selten. Der Mann wusste um seine Ausstrahlung und nutzte das nur allzu gern schamlos aus, vielleicht teils sogar unbewusst.

Und genau das war der Punkt, der Uruha nie auf den Gedanken gebracht hatte, seine Beziehung zu Aoi in irgendeiner anderen Art und Weise weiter zu vertiefen. Außerdem hatte der Schwarzhaarige mehr als einmal in Interviews betont, ausschließlich an Frauen interessiert zu sein. Somit hatte es keinen Grund für Uruha gegeben, irgendwelche stärkeren Wünsche oder Gefühle gegenüber dem anderen zu entwickeln. Aber durch Aois Aktionen der letzten Zeit war seine gut strukturierte Gefühlswelt durcheinandergeraten. Er konnte einfach nicht einschätzen, wie ernst es dem Älteren war. Aoi war schon immer ein Spieler gewesen: Er testete gern seine Grenzen aus, wickelte andere mit Leichtigkeit um den kleinen Finger und beobachtete dann mit einem Grinsen auf den Lippen, welche Auswirkungen er damit bei anderen hatte. So wie er es in den letzten Wochen vermehrt bei Uruha selbst getan hatte.
 

Uruha ließ sich stöhnend zurück auf sein Kissen fallen. Ein Blick nach draußen verriet ihm, dass der Morgen deutlich nähergerückt war. Das Grau des Himmels hatte sich inzwischen zu einem leuchtenden Orange verfärbt. Also war es eine, an verwirrende Gedanken verschwendete Nacht gewesen, die weder erholsam war, noch ihm gefühlsmäßig Aufschluss gegeben hatte. Ein Seufzen kam über die vollen Lippen des Brünetten. Es war frustrierend.
 

Wenn Aoi nur wieder eine seiner Spielphasen hatten, dann sollte er diese bitte nicht an ihm ausleben. Das machte alles nur verzwickter. Uruha wollte einfach nur seinen Freund und die Unkompliziertheit ihres Verhältnisses zurück, damit wäre er schon glücklich. Alles andere würde sich schon finden – auch ein verwirrter Geist konnte wieder geordnet werden, daran glaubte er fest.

Bei der Probe übermorgen, die gleichzeitig die Abschlussprobe vor dem zweiten Teil der Tour darstellte, würde er es mit einem lockeren Umgang und etwas Normalität in Bezug auf Aoi versuchen, also Taktik Nummer Zwei.

Jawohl!

nervousness

Kapitel 8 - nervousness
 

– Atme tief durch! Es ist alles gut. –
 

Von wegen locker und normal. Der Plan war vom Grundgedanken her gut gewesen, doch Uruhas Umsetzung konnte nur als mangelhaft und miserabel bezeichnet werden.

Mit recht guter Laune, begleitet von einem leichten, aufgeregten Kribbeln in der Magengegend, war er am Vormittag im Proberaum aufgekreuzt. Alles schien sich nach einem guten und vor allem normalen Tag anzufühlen. Doch dieses Gefühl und seine positive Stimmung hatten nur solange angehalten, wie der andere Gitarrist noch nicht auf der Bildfläche aufgetaucht war.
 

Gerade diskutierten Ruki und Kai über die Reihenfolge der Songs für die kommenden Konzerte, als Aoi verspätet und als Letzter der Runde eintraf. Uruhas erste Reaktion auf das Eintreten des Älteren war leider alles andere als locker und unauffällig. Denn das Wasser, das er trank, suchte sich verräterischer Weise nicht den vorgeschriebenen Weg durch seine Speiseröhre, sondern war zu einem kleinen Umweg bereit. Es kam wie es kommen musste: Er verschluckte sich prompt. Sein Herzschlag, der bei Aois Erscheinen deutlich an Fahrt aufgenommen hatte, verlangsamte sich auch dadurch nicht, dass der Schwarzhaarige, der sich gleich neben ihm auf das Sofa gesetzt hatte, ihm nun mitfühlend auf den Rücken klopfte, um Uruha in seinem Hustenanfall beizustehen. Eher im Gegenteil. Als sonderlich guter Start konnte dies nicht gesehen werden und lag leider weitab von dem, was er sich eigentlich vorgenommen hatte. Wäre er in der Lage gewesen zu seufzen, hätte er es sicher getan, doch momentan war mehr als husten nicht drin.

Oh Mann.

So hatte er sich ihr erstes Zusammentreffen nicht vorgestellt.

Nach einer Weile verebbte der Husten und er zwang sich zum Durchatmen. Aois warme Hand, die weiterhin sanft über seinen Rücken strich, schickte ihm eine Gänsehaut von Kopf bis Fuß – definitiv nicht hilfreich. Zum Haare raufen war das.

Doch anstatt seine hübsch hergerichtete Frisur zu zerstören, vergrub er lieber das Gesicht in den Händen und versuchte sowohl diese aufwühlende Nähe seines Gitarrenpartners auszublenden, ebenso wie das Gespräch der anderen. Er musste erst einmal seinen Puls beruhigen, ehe er wieder aufnahmefähig wäre.

Einfach atmen… ein, aus.
 

Ein leises Knistern und das harte Etwas, das ihn kurz darauf schmerzhaft am Kopf traf, katapultierten ihn zurück ins Hier und Jetzt. Irritiert blinzelnd rieb er sich über die Stirn und entdeckte dabei Rukis grinsendes Gesicht, der gegenüber auf dem anderen Sofa neben Kai saß.

„Geschenk an dich“, kam es nur von dem kleinen Sänger und deutete Richtung Uruhas Füße. „Hilft bei Halskratzen.“

Stirnrunzelnd senkte Uruha den Blick und entdeckte einen kleinen Bonbon auf dem Boden liegend.

„Danke“, murmelte Uruha, während er die mit quietschgelber Folie umwickelte Süßigkeit aufhob und sich anschließend entpackt zwischen die Lippen schob.

„Das ist aber kein Grund, mich damit zu bewerfen.“

Sein zu einem Schmollen verzogener Mund vergrößerte Rukis Grinsen nur noch mehr.

„Na ja, du hast mich ja nicht gehört. Da will man einmal helfen und gleich hagelt es Beschwerden.“ Rukis dezent theatralische Aussage, gepaart mit seinem Grinsen, ließ Uruha leicht lächeln.

„Nein, schon gut. Danke dafür. Es geht auch schon besser.“

Und es stimmte wirklich. Während sich der wohltuende Geschmack von Honig in seinem Mund ausbreitete und damit das Kratzen in seinem Hals verringerte, fühlte Uruha sich allmählich wieder mutig genug, seine Aufmerksamkeit von Ruki, oder wahlweise der Tischplatte vor ihm, zu dem Mann neben sich wandern zu lassen, der gerade in einem Gespräch mit Reita vertieft war. Die Stelle auf Uruhas Rücken, auf der Aois Hand lag, schien regelrecht zu glühen und machte ihn ganz hibbelig. Merkte er das nicht? Diese nach außen hin freundschaftlich wirkende Geste versetzte Uruhas Körper in Aufruhr. So wurde das definitiv nichts mit innerer Ruhe und Ausgeglichenheit. Momentan war er so weit davon entfernt wie nur eben möglich.
 

Der verschmitzte Blick aus diesen dunklen Augen, der Uruha einen Augenblick später traf, brachte ihn beinahe erneut zum Verschlucken, nur diesmal am Bonbon. Im letzten Moment schaffte er es dieses Unglück abzuwenden und konnte seine Lippen sogar dazu bewegen, sich zu einem etwas wackeligen Lächeln zu verziehen.

Na wenigstens schon mal ein Anfang auf dem Weg zur Besserung.

Ein lautes Klatschen ließ Uruha zusammenfahren. Der Blickkontakt mit Aoi brach, als sie sich Kai zu wandten, der inzwischen aufgestanden war und mit vor Tatendrang funkelnden Augen auf seine sitzenden Bandkollegen hinabsah.

„So, wenn wir jetzt vollzählig sind, würde ich sagen, wir lassen erst einmal die Musik sprechen und klären die restlichen Formalitäten später. Auf, auf!“

Mit wedelnden Händen scheuchte der wie immer dauergrinsende Leader einen nach dem anderen hoch.

Uruha folgte als Letzter seinen Freunden zu seinem Instrument. Ein kurzer Blick zu Aoi ließ ihn einen Moment lang innehalten. Der Schwarzhaarige lächelte ihn an und nickte ihm kaum merklich zu.

Herrje. Jetzt fühlte er sich doch tatsächlich von dem anderen ertappt. Das konnte ja heute heiter werden.

Als er mit leicht zittrigen Fingern nach seiner Gitarre griff, um sie sich umzuhängen, hatte er immer noch das Gefühl Aois Hand auf seinem Rücken zu spüren.
 

~*~
 

Wie schon von Uruha befürchtet hatte, wurde die Probe seinerseits zur halben Katastrophe.

Das, was ihn sonst mit Leichtigkeit die Töne finden und sich der Songs hingeben ließ, fehlte heute anscheinend vollkommen. Selbst in seinen Ohren hörte sich sein Spiel hölzern an. Wie musste es dann erst den anderen damit ergehen?

Aber egal was er tat, er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Nach seinem fünften Patzer hätte er sich am liebsten seine Gitarre heruntergerissen und wäre aus dem Raum gestürmt. Seine Augen brannten, so sehr versuchte er den Frust zu unterdrücken. Ihm war echt zum Heulen zumute. Stattdessen musste seine Unterlippe dran glauben, auf der er herumkaute, während er einen erneuten Versuch startete, sich in die Melodie hineinzufühlen.

Wenn das so weiterging, würde der kommende Auftritt zu einem Desaster werden. Was sollte er nur tun? Diese Blamage wollte er sich und der Band auf gar keinen Fall antun und noch weniger wollte er die Fans enttäuschen, weil er scheinbar die eigenen Lieder nicht mehr kannte.
 

Ein überraschendes Händeklatschen riss Uruha aus seinen verzweifelten Gedanken. Kai hatte sich von seinem Hocker erhoben und sah in die Runde.

„Wir machen erst einmal eine Viertelstunde Pause.“

Sein Lächeln wirkte etwas verkrampft, als er von einem zum anderen schaute. Uruha glaubte, obwohl Kais recht neutraler Blick nicht länger auf ihm ruhte als auf seinen Kollegen, die deutliche Botschaft an ihn persönlich dahinter erkannt zu haben: ‚Komm runter und reiß dich zusammen!‘

Uruha senkte betrübt den Kopf, während er die Gitarre abnahm und in ihre Halterung stellte. Die fragenden Blicke schienen ihn regelrecht zu durchbohren, während seine Augen den grauen Betonboden des Proberaums deutlich interessanter fanden. Er wollte die Gesichter der anderen nicht sehen, wusste er doch, dass er schuld an dieser Zwangspause war. Aber sich in sein imaginäres Schneckenhaus zu verkriechen, brachte leider auch nicht viel. So straffte er die Schultern, als er sich zu ihrer Sitzecke begab und vom Tisch eine Wasserflasche klaubte. Er brauchte etwas, woran er sich festhalten konnte und wenn es eben nur die Flasche war, die er in diesem Moment beinahe krampfhaft umklammerte, während er die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf sich spürte. Reita und Kai unterhielten sich zwar gedämpft am Drumset und dennoch schienen Fragezeichen mit seinem Namen über ihren Köpfen aufzuleuchten, als Uruha einen schnellen Blick in die Runde warf.

Ruki war im Gegensatz zu den beiden weniger dezent, sondern betrachtete den Brünetten aus zusammengekniffenen Augen, als würde er ihn röntgen wollen, um so seine Gedanken zu erfahren. Unauffälligkeit hatte noch nie zu den großen Stärken des Sängers gehört.

Doch mehr als Rukis Starren warf ihn Aois Blick aus der Bahn, als er wenige Augenblicke später versuchte recht normalen Schrittes – ohne den Anschein von Flucht zu erwecken – den Raum zu verlassen. Dies hatte zur Folge, dass sein Bein schmerzhafte Bekanntschaft mit einer Ecke des kleinen Schränkchens neben der Tür machte, als er mit den Worten „Bin kurz draußen“ auf den Gang hinaustrat.
 

Frustriert seufzte Uruha auf, während er durch den Seitenausgang ins Freie floh.

Ein eleganter Abgang sah definitiv anders aus.

Er ließ sich auf die Bank neben der Tür nieder und rieb sich über die schmerzende Stelle seines Oberschenkels. Sein Zusammenstoß mit ihrem schon jahrelang dort stehenden Mobiliar war garantiert nicht unbemerkt geblieben, außerdem hätte er spätestens morgen einen blauen Fleck als persönliches Andenken daran.

Während er sich zurücklehnte und seine Augen gen Himmel wanderten, verließ ein erneutes Seufzen seine Lippen, diesmal allerdings eher resigniert als frustriert.

So konnte es wirklich nicht weitergehen!

Er hatte sich doch vorgenommen zur Normalität zurückzukehren und dazu gehörte nicht das Gegen-Schränke-Rennen oder dass er sich ständig verspielte. Gerade lief einfach nichts nach Plan.

Und dann noch Aoi.

Das Gesicht des Gitarristen tauchte vor seinem geistigen Auge auf, er musste schlucken. Die dunklen Augen hatten ihn beinahe mitleidig angesehen – da war ihm Rukis stechender Blick beinahe lieber. Wie konnte der Schwarzhaarige heute, bei ihrem ersten Zusammentreffen nach dieser Nacht, denn so cool und ruhig wirken, als wäre nichts passiert, während Uruha wie ein aufgescheuchtes Huhn herumrannte? Und als Krönung des Ganzen hatte er anscheinend auch noch Mitleid mit ihm.

Großartig!

Ahnte Aoi etwa schon, was mit ihm los war? Wobei – so auffällig wie Uruha sich benommen hatte, hätte man schon blind sein müssen, um nicht in seinem Gesicht ablesen zu können, dass er gerade etwas neben sich stand. Dabei hatte er doch gehofft, das Geschehene vergessen zu können und alles wäre wieder gut und auf Anfang gedreht. Aber wenn er sich an diesen Blick erinnerte… Nein, Aoi würde sicher nichts vergessen. Die Frage war nur, war das gut oder schlecht? Und wie würde es jetzt weitergehen mit ihnen?
 

„Was ist los mit dir?“

Die plötzliche Frage ließ Uruha erschrocken zusammenzucken. Er war so in seinen Gedanken vertieft gewesen, dass er nicht einmal bemerkt hatte, dass Ruki sich zu ihm nach draußen auf die Bank gesellt hatte und ihn fragend von der Seite musterte.

Unwillkürlich senkte er den Kopf. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, er hatte doch nur etwas Ruhe gewollt. Und nun? Dem Sänger konnte er nicht entkommen, wenn dieser erst einmal gewittert hatte, dass etwas im Busch war. Aber was sollte er ihm sagen? Mit Ausreden käme er nicht durch, denn diese durchschaute Ruki immer sofort. Da machte der Sänger jedem Profiler Konkurrenz. Obendrein war Uruha sowieso ein schlechter Lügner und Ruki kannte ihn dafür auch viel zu gut. Aber was sollte er antworten, wenn er im Moment noch nicht einmal für sich selbst richtig definieren konnte, was überhaupt sein Problem war? Deshalb konnte er das umso weniger für andere in Worte fassen. Er brauchte einfach Zeit.
 

„Ich kann es dir nicht sagen, da ich selbst nicht weiß.“

Irgendwie tat es gut, wenigstens diese Tatsache laut ausgesprochen zu haben. Ein kleiner Schritt, wenn auch nicht in Richtung Problemlösung. Aber eben ein kleiner Schritt.

Eigentlich hatte Uruha mit erneutem und sofortigem Nachbohren von Seiten seines Freundes gerechnet, aber als nach einigen Augenblicken immer noch nichts kam, riskierte er einen vorsichtigen Blick zu dem Kleineren. Was er sah, ließ ihn verwirrt blinzeln. Ruki lächelte – eine Reaktion, die er nicht unbedingt erwartet hatte und die er auch nicht so recht einzuordnen wusste.

„Alles gut, Uruha.“

Er spürte, wie Ruki ihm leicht durchs Haar fuhr. Es war irritierend, denn er fühlte sich mit einem Mal wie ein kleiner Junge, der getröstet werden musste.

„Mach dir keinen Kopf, das wird schon.“

Misstrauisch runzelte Uruha die Stirn. Dieses Verhalten war recht untypisch für Ruki, der zwar eigentlich meistens relativ umgänglich war, aber gerade dann, wenn man es nicht gebrauchen konnte, solange nachbohrte, bis kein Geheimnis mehr verborgen blieb. Da stimmte was nicht. Und das leicht schelmische Grinsen auf den Lippen des anderen trug nicht gerade dazu bei, dieses ungute Gefühl in irgendeiner Form abzuschwächen. Dennoch – er wollte sich jetzt nicht auch noch mit Ruki beschäftigen müssen, dafür war sein Kopf einfach zu voll, und wenn der Sänger jetzt nicht nachhakte, umso besser.

Uruha lehnte sich nach vorne und stütze sich mit den Ellenbogen auf den Oberschenkel ab, während er sein Gesicht in den Handflächen vergrub.

„Ich glaube nicht, dass das so leicht mit ‚das wird schon‘ abgetan ist...“, murmelte er leise.

Rukis Finger strichen ihm weiter über das Haar. Und obwohl Uruha diese Geste nur allzu bekannt war, fühlte sie sich trotzdem völlig anders an. Nicht unangenehm, aber anders. Diese Hand hier war kleiner als die Aois. Sie hinterließ nicht diese Gänsehaut auf seinem Körper, auch wenn das beruhigende Gefühl, das diese Geste mit sich brachte, ähnlich war.

„Was auch immer dich so aus der Bahn geworfen hat, schiebe es erst einmal zur Seite.“

Rukis klare Stimme drang an sein Ohr und ließ ihn scheu durch seine Finger linsen.

„Ich weiß, dass es vielleicht nicht das ist, was du gerade hören willst, aber wir haben einen Job zu erledigen und blamieren willst du dich auch nicht auf der Bühne, oder?“

Uruha schüttelte schweigend den Kopf. Ruki hatte ja recht, aber zur Seite schieben war nicht so einfach. Besonders nicht, wenn in seinem Kopf die Gedanken ein Tänzchen umeinander wagten, um anschließend übereinander zu stolpern. Das konnte einen einfach nur irre machen.

„Ich schlage vor, du atmest tief durch, dann gehen wir rein zu den anderen, um zu Ende zu proben.“

Uruha presste seine Lippen zusammen, er war noch nicht bereit dazu, den anderen wieder unter die Augen zutreten. Er wollte nichts erklären oder sich gar für seinen Zustand rechtfertigen müssen.

„Uruha, es reißt dir keiner den Kopf ab, weil du mal einen miesen Tag hast. Haben wir doch alle mal. Die anderen werden auch nicht fragen, glaube mir. Hey, guck nicht so ungläubig! Nein, ich kann keine Gedanken lesen, aber dein Gesichtsausdruck spricht nun mal Bände.“

Rukis amüsiertes Grinsen machte beinahe Kais Konkurrenz. Uruha gab sich geschlagen. Seufzend erhob er sich und streckte sich kurz. Es half ja nichts. Wie Ruki so schön gesagt hatte, er hatte einen Job und den machte er sonst super. Und er hatte auch schon deutlich schlechtere Tage überstanden, also würde er es diesmal ebenso hinbekommen. Über den Rest konnte er später noch nachdenken.

„Na, wenn du meinst, du alter Gedankenleser.“

Ein kurzes Lächeln huschte über Uruhas Lippen. Manchmal war es vielleicht doch ganz gut, dass sein Gesicht wie ein offenes Buch war, jedenfalls für den Sänger. So konnte Ruki ihn wenigstens immer wieder in die richtige Richtung schubsen.

„Ich schaff das schon, denke ich.“

Mit neuer Motivation bückte Uruha sich zu der Wasserflasche, die er mit hinaus genommen hatte und seither ein einsames Dasein neben der Bank gefristet hatte.

„Nicht denken, Uruha. Klar, schaffst du das! Du bist doch nicht aus Zucker.“

Der bestimmende Ton in Rukis Stimme brachte Uruha zum Lachen.

„Okay, okay.“

„Und wenn es dich aufmuntert, ich kann ja am Wochenende mal auf eine Runde … Zocken bei dir vorbeikommen, um dich abzulenken.“

Ah ja.

Da war also der Haken an Rukis, für seine Verhältnisse, rücksichtsvollem und nettem Verhalten. Gedanklich schüttelte Uruha den Kopf über seinen Freund. Er bezweifelte sehr stark, dass der Kleinere wirklich nur Zocken wollte, denn das neugierige Funkeln in den Augen des Sängers hatte kein bisschen nachgelassen. Vielmehr sah sich Uruha schon mit einer Fragestunde konfrontiert, die einer Dampfwalze gleichen würde. Demnach nichts mit Ablenkung und so. Aber wenigstens hatte der andere die Höflichkeit besessen nach einem Vorwand zu suchen, um ihm zu Hause auf die Pelle rücken zu dürfen. Na ja, wie gesagt, sobald Ruki einmal etwas gewittert hatte, ließ er nicht so schnell locker.

Uruha schnaubte. Aber vielleicht – ja vielleicht wäre es auch eine Möglichkeit mal nicht nur mit sich selbst diskutieren zu müssen und womöglich könnte Ruki etwas Ordnung in seinem wirren Kopf bringen, auch wenn seine Methoden da meist verbal recht brachial waren. Ein Versuch war es auf alle Fälle wert.

Uruha sah lächelnd auf den kleinen Sänger herab. Das Gefühl von ein wenig Dankbarkeit und Hoffnung auf etwas Besserung durchzog seine Brust.

„Das klingt nach einem guten Plan.“

question time

Kapitel 9 – question time
 

– Uruha, wogegen wehrst du dich so verzweifelt? –
 

Natürlich blieb es, wie Uruha bereits geahnt hatte, nicht nur beim Zocken.

Als Ruki am Samstag mit drei Flaschen Wein bei ihm aufgetaucht war, hatte sich Uruha gedanklich bereits auf einen sehr langen Abend eingestellt.

In den letzten beiden Tagen war es ihm einigermaßen gut gelungen, sich von seiner emotional instabilen Verfassung abzulenken. Seine Wohnung hatte den intensivsten Hausputz seit Jahren erlebt – nicht, dass er sonst ein unordentlicher Mensch war, das auf keinen Fall – und nun war es selbst mit einer Lupe nur schwer möglich irgendwo ein Staubkrümel zu finden. Die Zimmer glänzten um die Wette, was Ruki bei seinem Eintreten vor wenigen Stunden dazu veranlasst hatte, Uruhas vier Wände als Museum zu titulieren.

Nachdem einigen weiteren Kommentare bezüglich des Ordnungsstandes der Wohnung waren sie schließlich recht schnell dazu übergegangen, Rukis neuste Spielerrungenschaft zu testen. Überraschenderweise verbrachten sie sogar mehr Zeit mit Pizza und Konsole, als Uruha im Vorfeld vermutet hätte. Doch mit jeder verstreichenden Minute glaubte er die Ungeduld und Neugierde immer stärker als dunkle Wolke um den kleinen Sänger wabern zu sehen. Es war regelrecht erdrückend, wie stark Rukis Aura auf ihn wirkte.
 

„So…!“

Erschrocken fuhr Uruha zusammen, als eine Hand mit einem klatschenden Geräusch seinen Oberschenkel traf. Anscheinend war jetzt der Augenblick gekommen, in dem Ruki endlich seinen Hunger nach Neuigkeiten stillen wollte. Und dem kam es kein Entkommen.

Vorsichtig, um nichts zu verschütten, stellte Uruha das bereits zum dritten Mal gefüllte Weinglas auf den Couchtisch vor ihm ab. Ein Wunder, dass nichts auf seiner Hose gelandet war, bei dem spontanen Übergriff.

Ein Seufzen verließ seine Lippen, als er sich langsam zu dem Sänger umdrehte, der neben ihm auf dem Sofa saß und ihn breit angrinste. Wenigstens hatte er ein paar Stunden Schonfrist gehabt, bis die eigentliche Fragestunde oder vielmehr der Durchlöcherung von seiner Gedanken begann.

Das konnte ja heiter werden.

Doch so leicht wollte er es ihm nicht machen. Langsam lehnte er sich zurück und blickte Ruki fragend an.

„Was denn? Soll ich dir noch etwas bringen? Kaffee? Tee?“

Der Kleinere schnaubte, dabei wanderte seine linke Augenbraue bedenklich weit nach oben.

„Komm schon, Uruha. Jetzt lass dich nicht erst bitten. Ich weiß, dass du weißt, was ich wissen will.“

Uruha konnte sich nur schwer ein Schmunzeln verkneifen.

Was für ein Satz.

Manchmal war es ganz gut, dass sein Freund alles andere als zurückhaltend war. Aber was sollte er ihm sagen? Sein Kopf war noch genauso wirr wie am Tag ihrer Probe und seither hatte sich Uruha jeden weiteren Gedanken an Aoi und seine damit einhergehenden Gefühle verboten. Die meiste Zeit hatte das sogar funktioniert.

Um noch etwas Zeit zu schinden, griff er erneut nach seinem Weinglas und trank einen großen Schluck, ehe er es zurückstellte.

„Nun gut, was willst du wissen?“

Rukis genervt wirkendes Augenrollen war alles andere als unauffällig.

„Ganz einfach: Was ist los mit dir? Sorry, wenn ich das jetzt so sage, aber du bist komisch in letzter Zeit.“

Musste ihm der Kleinere gleich als Erstes an den Kopf werfen, dass er sich nicht normal verhielt?

„Jetzt schau nicht so beleidigt. Ich habe ein paar Tage gewartet, aber du rückst ja nicht von allein mit der Sprache raus, deshalb muss ich fragen.“

So konnte man natürlich auch mit der Tür ins Haus fallen. Ihm war nur allzu sehr bewusst, dass er nicht ewig schweigen konnte und wenn er Rukis Gesicht so musterte, in dem sich eine Mischung aus Besorgnis und Neugierde widerspiegelte, war sowieso jeder Versuch Ausflüchte zu finden sinnlos. Der Sänger würde solange nachhaken, bis ihm die Antwort logisch und befriedigend erschien, deshalb war lügen definitiv keine Alternative.

„Ach Ruki, was soll ich sagen? Ich weiß es nicht.“

„Das habe ich jetzt schon oft genug aus deinem Mund gehört, langsam wird’s langweilig. Versuch‘s noch mal. Ich gebe dir einen Tipp, falls du es selbst bisher nicht gemerkt hast: Es könnte mit Aoi zu tun haben, würde ich mal ganz kühn behaupten.“

Der ironische Unterton war nicht zu überhören, dennoch zauberte er Uruha ein leichtes Schmunzeln ins Gesicht. Wieder einmal dankte er Ruki im Stillen für seine Art.

„Hmmm … derart offensichtlich?“

Vielsagend wurde er gemustert. Die Frage hätte er sich auch selbst beantworten können, so fuhr er leise fort: „Na ja, ich fühl mich momentan einfach nicht wie ich selbst. Als stünde ich neben mir.“

Rukis „Das hab‘ ich gemerkt“ – Einwurf bekam er nur am Rande mit. Viel mehr konzentrierte er sich auf die Worte, die sich ganz langsam in seinem Kopf zusammenfanden. Bisher hatte er seine Gefühle nur einmal offenbart und das noch dazu Aoi gegenüber, was ihm inzwischen ziemlich peinlich war. Und jetzt das Ganze erneut vor jemanden anderen auszubreiten, fiel ihm deshalb auch nicht viel leichter.

„Ich bin einfach durcheinander. Aoi bringt mich durcheinander. Ich fühle mich ständig seltsam, wenn er in meiner Nähe ist, kann dann nicht mehr klar denken. Mein Körper spielt verrückt, gaukelt mir Sachen vor. Ich kann’s dir nicht mal genau beschreiben, aber diese Unruhe, wenn er bei mir ist, macht mich fertig. Ich will das nicht.“

Resigniert ließ sich Uruha gegen die Lehne des Sofas sinken und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Jetzt, wo er seine Gefühle laut ausgesprochen und definiert hatte, fühlte es sich fast noch schlimmer und peinlicher an als vorher.

„Ich will eigentlich nicht, dass er es merkt.“

Er spürte, wie Rukis Hand beruhigend über sein Knie strich.

„Ganz ehrlich, man müsste schon blind und taub sein, um nicht mitzubekommen, wie du auf Aoi reagierst. Ein Pokerface sieht eindeutig anders aus.“

Diese Ehrlichkeit ließ ihn amüsiert schnauben.

„Hmm... Ich habe es befürchtet. Na ja und eigentlich weiß er es ja schon.“

„Wie -?“

„Ich hab’s ihm gesagt“, gestand Uruha kleinlaut.

„Du hast was?!“

Einen Moment lang blickte Ruki ihn nur aus großen Augen ungläubig an, ehe er in lautes Gelächter ausbrach.

„Und dann machst du dir noch einen Kopf drum? Mensch, du bist echt ein Meister darin, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen.“

Während Ruki versuchte, sich wieder zu beruhigen, konnte Uruha ihn nur schweigend anstarren. Er kam sich dämlich vor. Natürlich wusste Aoi, wie es ihm ging. Schließlich hatte er es ihm in der berühmten Nacht erzählt. Aber irgendwie brachte ihn das keinen Schritt weiter. Sein Kopf und sein Körper wollten sich einfach nicht einigen. Egal, was er tun würde, es konnte nicht gut gehen. Niemals.

„Da hat es unser alter Playboy doch geschafft, unsere Queen aus ihrer Tiefenentspannung zu reißen.“ Das beleidigte „Bin keine Queen...“ ignorierte der Sänger, als er erneut auflachte.

Die Worte taten weh. War er gerade noch froh über Rukis Direktheit gewesen, hätte er ihm jetzt am liebsten den Mund verboten. Er meinte es garantiert nicht böse, tat er nie, er redet gern nur einfach frei heraus.

Mit zusammengekniffenen Lippen wandte Uruha den Blick ab und starrte auf die Tischplatte vor sich. Ein zentnerschwerer Stein lag in seinem Bauch und machte ihm das Atmen schwer.
 

Warum hatte er dem Zocker-Abend gleich nochmal zugestimmt?
 

Am liebsten wollte er sich augenblicklich unter seiner Bettdecke verkriechen und nicht mehr rauskommen. Er machte sich doch sowieso nur lächerlich – vor Ruki, vor Aoi, vor allen. Schmerzhaft biss er sich auf die Unterlippe, versuchte das Brennen in seinen Augen niederzukämpfen.
 

Seit wann war er derart schnell auf der Fassung zu bringen? Warum reagierte er so schnell über, anstatt wie bisher alles mit stoischer Ruhe hinzunehmen? Er konnte doch ständig nicht alles überbewerten!
 

Womöglich war an Aois Verhalten gar nichts Besonderes. Wie Ruki gesagt hatte: Aoi war ein Playboy, ein Spieler. Er flirtete gern und viel, teste dabei seine Grenzen aus, um dann mit großem Interesse seine Wirkung auf andere zu beobachten. Allerdings waren seine Flirts bisher ausschließlich der Damenwelt vorbehalten – nicht den Herren und besonders nicht Uruha. Aber warum wirkte es trotzdem so, als würde er mit ihm flirten? Warum schenkte er ihm so viel Aufmerksamkeit und verwirrte ihn damit? Sie waren seit Jahren befreundet, aber doch nicht auf diese Weise. Aoi meinte es sicher nicht ernst, denn warum sollte er plötzlich all seine Prinzipien über den Haufen werfen?

Nein… und wenn dann nicht für ihn.

Diese Verwirrung, diese ungewollten Hoffnungsfunken, die jedes Mal in ihm aufloderten, sobald Aoi in seiner Nähe war, mussten aufhören.
 

Erst ein leichtes Stupsen gegen seinen Arm riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn aufschauen. Rukis dunkle Augen lagen forschend auf ihm.

„He Uruha, das geht dir echt nahe, oder?“

Er brachte nur ein unsicheres Nicken zustande.

„So schlimm?“

Ehe Uruha erneut nicken konnte, spürte er mit einem Mal Rukis Arme um sich. Überrascht riss er die Augen auf. Nach dem Lachanfall hatte er gar nicht mit so einer einfühlsamen Geste vonseiten des Sängers gerechnet. Seine Augen brannten immer noch, während ihm beruhigend über den Rücken gestrichen wurde.
 

Er konnte nicht mehr.
 

„Wenn es dich so quält, dann tu was. Von alleine wird es nicht besser.“

Das wusste er und dennoch lähmte ihn schier das Gefühl, sich möglicherweise erneut bloßzustellen. Seufzend drückte er sein Gesicht in Rukis Halsbeuge und murmelte leise: „Ich weiß, aber irgendwie… Er meint es ja doch nicht ernst.“

Sanft wurde er zurückgeschoben, allerdings blieben die Hände auf Uruhas Armen, während er intensiv gemustert wurde.

„Was meinst du genau?“

Er versuchte dem Blick abzuwenden, nur Ruki ließ es nicht zu, sondern verstärkte stattdessen den Griff um seine Arme.

„Aoi… er verarscht mich doch nur.“

Er sah sofort, dass Ruki ihn nicht verstand, so fügte er hinzu: „Ständig sucht er meine Nähe.“

„Und? Hat er das nicht schon immer getan? Ihr seid Freunde…“

„Nein, das meine ich nicht.“

Er atmete tief durch, versuchte sich zu erklären.

„Es ist anders. Er ist anders zu mir, schon seit Beginn der Tour. Ich kann es dir nicht genau beschreiben, aber ich merke es einfach. Und das macht mich nervös und lässt mich nicht los.“

Immer noch schwang ihm Verständnislosigkeit entgegen.

„Und was ist das Problem? Dann ist er halt an dir interessiert, ist doch nicht schlimm.“

„Wie kann er an mir interessiert sein – SO interessiert sein?!“, brauste Uruha auf. „Er hat oft genug gesagt, dass er nur auf Frauen steht. Warum dann plötzlich ich? Warum sollte er sich ausgerechnet für mich interessieren, wenn ihm die ganze Frauenwelt zu Füßen liegt? Denn wenn es dir noch nicht ausgefallen ist, ich bin ein Mann und auch nicht erst seit gestern da.“

„Ach, daher weht der Wind.“

Ein leicht amüsierte Schmunzeln umspielte die Mundwinkeln des Sängers, nahm Uruha damit den Wind aus den Segeln. Er schnaufte, versuchte sich zu sammeln. Es war, wie er gesagt hatte und erst jetzt wurde ihm der volle Umfang seiner Zweifel bewusst. Warum ausgerechnet jetzt?

„Mach’s dir nicht schwerer als es ist. Schau mal, du weißt, dass unser Aoi früher manchmal etwas – na ja, wie soll ich sagen? – festgefahren war, was gewisse Themen anging. Und hey, das ist Jahre her, wer weiß, wie es jetzt ist. Menschen ändern sich, Uruha. Halt dich nicht krampfhaft an solchen Aussagen fest, du müsstest ihn doch inzwischen kennen.“

„Aber das ändert leider nichts an der Tatsache, dass - “

Weiter kam Uruha nicht, da wurde er schon durch eine wegwischende Handbewegung unterbrochen.

„Außerdem habe ich Aoi nie für so verbohrt gehalten, dass er nur an einem Weg festhält, auch wenn er gern mal etwas anderes gesagt hat. Er ist immer noch dein Freund, vergiss das nicht. Glaubst du wirklich, dass er mit Absicht etwas tun würde, wodurch du leiden könntest oder dich schlecht fühlst?“

Nach einem kurzen Moment folgte ein Kopfschütteln.

„Siehst du. Also vertraust du Aoi?“

Diese Frage ließ den Gitarristen innehalten. So etwas hatte Aoi ihn auch gefragt und er hatte es bejaht. Und er würde es wieder tun.

Sein „Ja“ war mehr ein Hauchen als eine überzeugte Antwort, aber Ruki hatte ihn trotzdem verstanden. Ein verständnisvolles Lächeln lag auf seinen Lippen.

„Dann denk nicht so viel nach. Vertrau auf ihn und auf euch. Ich glaube nicht, dass Aoi eure Freundschaft damit gefährden würde, nur weil er aus einer Laune heraus mit dir Spielchen treiben möchte.“

Die kleine Ansprache stimmte Uruha milder und zauberte ihm ein vorsichtiges Lächeln auf die Lippen.

„Und wenn doch, bekommt er es mit mir zu tun!“

Er konnte nicht anders als zu lachen. Ruki sah aber auch einfach niedlich aus, wie er angriffslustig die Augen zusammenkniff und die Stirn runzelte, wobei sich sein Grinsen kaum verstecken ließ, als er sah, wie sich Uruhas Laune allmählich hob.

„Danke, Ruki! Jetzt geht’s mir besser.“

„Na dann, Ziel erreicht.“

Ein freches Zwinkern folgte.

„Aber ehrlich Uruha, schalt deinen Kopf aus und hör auf deinen Körper. Ich meine es ernst. Es bringt dir nichts, dich fertig zu machen, so kommst du nicht weiter. Genieß doch einfach das Gefühl, was Aoi in dir auslöst. Hilfe, wie das klingt!“ Der Sänger schüttelte sich kurz. „Ach du weißt, wie ich das meine. Jedenfalls, kämpfe nicht die ganze Zeit dagegen an, sondern schau was passiert. Vorher wirst du keine Ruhe finden, klar?“

Uruha nickte.

Wenn er es recht bedachte, hatte er bisher nur ein Mal – wie Ruki so schön sagte – dieses Gefühl wirklich genossen und es war schön gewesen, das konnte er nicht bestreiten. Nur sein Kopf hatte eben am nächsten Tag seine Arbeit wieder zu gut aufgenommen und seine Zweifel erneut hervorgezerrt. Aber vielleicht sollte er es noch einmal versuchen.

Und Aoi – wie ihm jetzt erst richtig bewusst wurde, hatte Aoi ihn bisher weder ausgelacht, noch ihn anderweitig negativ damit konfrontiert. An sich hatte er ihn auch nicht anders behandelt als die Wochen zuvor. Er war ihm nur nah gewesen.

Womöglich war es wirklich an der Zeit, den Kopf auszuschalten und sich nur von seinem Gefühl leiten lassen, ohne zu viel hineinzuinterpretieren.

relaxation

Kapitel 10 - relaxation
 

– Entspann dich und denk nicht so viel darüber nach. –
 

Mit einem Murren fuhr Uruha sich über den Nacken, während er den Kopf leicht senkte.

Sofort spürte er ein schmerzhaftes Ziehen, was ihn ein wenig wehleidig und resigniert die Augen zusammenkneifen ließ.

Das konnte ja heiter werden.

Sobald er seinen Kopf auch nur minimal bewegte, taten ihm Genick und Schultern weh. So würde es heute nichts mit Headbangen werden, geschweige denn, dass er die Musik heute bei ihrem Auftaktkonzert überhaupt richtig mit seinem Körper genießen könnte, wie er es sonst gern tat. Eine Katastrophe! Jetzt wollte jede Bewegung genau überdacht werden. Er fühlte sich wie ein alter Mann und dabei war er noch nicht einmal Mitte Dreißig und selbst das war kein Alter. Es war zum Verzweifeln. Im besten Fall würde er nachher auf der Bühne einer Taube ähneln, die mühsam durch die Gegend spazierte und dabei den Kopf ruckartig vor- und zurückbewegte. Viel mehr war einfach mit diesen Schmerzen nicht drin.

Das hatte er jetzt davon, dass er seine Gedanken nicht in den Griff bekam.

Nachdem Ruki am Samstag gegangen war, hatte er entgegen seiner Vorsätze die halbe Nacht wach in seinem Bett gelegen und sich schlaflos von einer auf die andere Seite gewälzt. Sein Kopf hatte keine Ruhe geben wollen und hatte einfach ungefragt, fast das gesamte Gespräch noch einmal Revue passieren lassen und bis ins kleinste Detail analysiert, was natürlich nicht sonderlich hilfreich war, wenn man theoretisch schlafen sollte.

Seufzend rieb Uruha sich stärker über den Nacken – das war nun das Endergebnis aus zu viel Kopfarbeit und ein wenig Zugluft. Eigentlich hatte er es ja nicht anders verdient, wenn er seine Gedanken nicht in den Griff bekam. Seit zwei Tagen konnte er den Kopf kaum drehen, weil seine Muskeln derart verspannt waren und schmerzten. Die Versuche mit warmen Umschlägen und Selbstmassage hatten leider bislang kaum Wirkung gezeigt.
 

Mit einem Mal spürte er, wie sich warme Hände über seine schoben und sie behutsam von seinem Hals dirigierten, um anschließend selbst darüber zu streichen. Uruha erstarrte, saß stocksteif auf dem Sofa des Backstagebereiches und versuchte das Atmen nicht zu vergessen.

Auch wenn er nicht sehen konnte, wer da hinter ihm stand und über seine Haut fuhr – dieses unverkennbare Parfüm eilte Aoi voraus und verstärkte damit nur noch mehr Uruhas Gänsehaut, die sich durch diese überraschende Berührung gebildet hatte.
 

Was tat -?
 

Uruhas Hirn brachte keinen vernünftigen Gedanken zusammen. Sein Herz hämmerte mit einem Mal in seiner Brust, während die leicht rauen Fingerkuppen des anderen Gitarristen mal sanft, mal stärker über seine Haut glitten und versuchten die sich darunter befindliche Muskulatur zu lockern. Doch mit jedem verstreichenden Augenblick, in dem Uruha sich mehr an dieses unerwartete Gefühl gewöhnte, nahmen schließlich sowohl sein Geist als auch seine Stimme ihre Arbeit langsam wieder auf.

„Aoi?“, kam es leise von seinen Lippen.

„Hm?“

Die warmen Hände wanderten unbeirrt an seinen Hals hinab, zu seinen Schultern und wieder zurück. Uruha biss sich auf die Lippen, als Aoi eine besonders schmerzende Stelle fand.

„Warum -?“

Er brach ab, als die Finger erneut der Verspannung kräftig zu Leibe rückten, was ihn scharf die Luft einziehen ließ. Doch Aoi hatte seine unausgesprochene Frage auch so verstanden.

Während Uruha mittlerweile mit zusammengekniffenen Augen, immer noch angespannt auf dem Sofa saß und vergeblich versuchte jedes Geräusch zu unterdrücken, drang Aois leicht heiser klingende Stimme leise an sein Ohr.

„Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie sehr du dich hier quälst. Wir wollen doch nachher zusammen rocken und Spaß haben und da macht sich eine Uruha-Statue nicht unbedingt gut.“

Diese beinahe amüsierten Worte ließen Uruha langsam die Augen aufschlagen und auf den Boden vor sich schauen, während Aoi ungerührt hinter ihm weiter seinen Hals bearbeitete.
 

Okay, diese Antwort hatte er nicht unbedingt erwartet. Doch was hatte er überhaupt hören wollen?
 

Er wusste es selbst nicht. Irgendetwas anderes, was jedenfalls nicht so klang, als würde sich Aoi über ihn lustig machen. Eigentlich waren diese Worte alles andere als schlimm, aber Uruha wusste, dass er gerade auf alles, was mit Aoi zu tun hatte, sehr überempfindlich reagierte. Er war sich darüber im Klaren, dass sich sein Kopf momentan ständig irgendwelche Wunschvorstellungen zurecht spann und sollten diese nicht haargenau auf diese Weise eintreffen, reagierte sein Herz jedes verdammte Mal mit einem kleinen Stich.
 

Oh Mann! Was wollte er überhaupt?
 

Aois Antwort war einfach normal und realistisch gewesen und hatte Uruha nicht Normalität gewollt? Scheinbar nicht…

Er kniff über sich selbst genervt die Augen zusammen und versuchte das Gefühl, das sich in seinem Inneren ausbreitete, in eine Ecke zu drängen. Es war das erste Mal seit besagter Nacht, dass sie beide sich wieder so nahe waren und sein Körper und Geist reagierten prompt: mit Gänsehaut, wirren Gedanken und eigentlich nicht von ihm gewünschten Wohlgefallen. Soweit es möglich war, verkrampfte sich Uruha unter der Berührung noch weiter, während er versuchte dem Kampf in sich Herr zu werden.

Diese Veränderung blieb Aoi natürlich nicht verbogen. Die sanften, in sein Ohr geraunten Worte ließen Uruhas Herz einen Moment lang aussetzen.

„Hey, Ruha. Entspann dich mal. So wird es nicht besser.“

Leichter gesagt als getan, besonders wenn das der Mann sagte, der gerade fast schon zärtlich über seine Haut strich und ihn mit dieser Nähe verwirrte.

„Ich will dir nichts Böses.“

Der Kloß, der sich in Uruha Hals gebildet hatte, wog schwer und schnürte ihm die Luft ab. Eine leichte Panik überkam ihn.
 

War er wirklich derart einfach zu durchschauen? Er wollte das doch nicht.
 

Seine Augen brannten. Natürlich wusste er, dass Aoi ihm nichts Böses wollte, doch er konnte einfach nicht aus seiner Haut. Die Fürsorge, die in diesen wenigen Wörtern mitklang, ließen seine Augen feucht werden.
 

Nein, Aoi wollte ihm nichts Böses, hatte es nie gewollt.
 

Der Kloß in seinem Hals wurde kleiner und verschwand nach und nach. Vielleicht – vielleicht sollte er langsam wirklich seinen Kopf ausschalten.

Wie um seine Gedanken zu unterstreichen, drang Aois Stimme in sein Bewusstsein.

„Denk nicht so viel nach.“

Anscheinend konnte Uruha wirklich seine Gefühle schlecht verstecken, selbst wenn er mit dem Rücken zu Aoi saß. Uruha seufzte lautlos und versuchte seinen Körper etwas zu entkrampfen, was sogar besser gelang, als er erwartet hätte. Aber das Konzentrieren auf diese angenehmen Berührungen half, der Sturm in seinem Inneren legte sich allmählich. Und wie hatte Ruki beim Abschied ihres Zocker-Abends so schön gesagt?
 

‚Lass dich darauf ein und schau einfach was passiert. Dein Körper wird es dir schon sagen.‘
 

Na, wenn das jetzt schon beide meinten. Uruha atmete tief ein. Mit seinem sich langsam beruhigenden Puls wurde auch sein Kopf leerer. Seine gesamte Aufmerksamkeit und Empfindungen schienen nur noch diesen Fingern zu folgen, die gerade von seinen Schultern abwärts, zum Rand seines weit ausgeschnittenen Shirts wanderten und darunter glitten, um mit etwas mehr Druck über seine verkrampften Schulterblätter zu fahren. Es tat unglaublich gut zu spüren, wie seine Muskeln unter dieser Behandlung nachgaben. Als würde dadurch sämtliche Anspannung aus seinem Körper weichen.

Er konnte das genießerisches Seufzen, das ihm entflog, nicht unterdrücken. Aois leicht belustigtes Schnauben ignorierte er dabei gekonnt. Er wollte sich jetzt keinen Kopf darum machen, was Aoi von ihm dachte. Offensichtlich genug waren seine Reaktionen heute ohnehin schon gewesen, also war weiteres Verstecken sowieso sinnlos.

Während die geschickten Hände irgendwann ihre Arbeit weiter oben am Hals fortsetzten, versank Uruha in einer sanften Wolke aus angenehmen Empfindungen, die ihn langsam einlullte. Ja, so konnte es gern noch eine Weile bleiben. Seine Haut kribbelte leicht an den Stellen, wo Aois Hände darüberfuhren, und die Ruhe, die sich in seinem Inneren ausbreitete, war einfach wohltuend. Sein Atem wurde ruhiger, während seine Gedanken schwiegen.
 

Umso mehr erschrak er, als eine zarte Berührung sein Bein streifte. Er riss die Augen auf und hob erschrocken den Kopf. Sein Blick traf auf Aois dunkle Augen und ließen ihn erstarren.

Wann -?

Der andere Gitarrist hockte vor ihm und strich ihm gerade vorsichtig über seinen bloßen Oberschenkel – genauer gesagt über den langsam verblassten, blauen Fleck darauf. Irritiert blinzelte Uruha und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er musste wohl eingenickt sein, denn er hatte nicht einmal gemerkt, wie Aoi die Massage beendet und seine Position hinter ihm verlassen hatte.

Beschämt biss sich er auf die Unterlippe und versuchte die Röte, die sich unweigerlich auf seinen Wangen ausbreitete, zu unterdrücken, während Aoi ihn immer noch leicht schmunzelnd betrachtete. Seine Hand lag weiterhin warm auf Uruhas Haut.
 

Mist, warum musste sein Outfit ausgerechnet heute für die Show so kurz geschnitten sein?
 

Das Relikt seines peinlichen Schrankunfalls, den er fast schon wieder vergessen beziehungsweise vielmehr verdrängt hatte, konnte man damit definitiv nicht verstecken. Und natürlich, wie sollte es anders sein, war eben dieses Relikt Aois aufmerksamem Blick nicht entgangen.

Eine Gänsehaut folgte den warmen Fingern seines Freundes. Das machte der doch mit Absicht!

„Tut’s noch weh?“

Uruha schluckte und versuchte sich auf das Gesagte zu konzentrieren, was allerdings recht schwerfiel, da es ihm der andere alles andere als leicht machte, so verwegen grinsend, wie er Uruha gerade ansah. Seine Hand tänzelte zart über dessen Haut.

„Nein“, murmelte Uruha mit etwas Verzögerung. „Ist ja auch schon fast weg.“

Das Grinsen wurde breiter.

„Gut. Kannst ihn ja trotzdem etwas überschminken. Wäre schade, wenn der Fleck mehr Aufmerksamkeit vom Publikum bekommen würde als deine schönen Beine.“

Und da war sie wieder: Aois manchmal sehr unverblümte Art. Augenblicklich stieg Uruha die Hitze in die Wangen und er konnte ihn nur aus großen Augen anstarren. Aois Miene wirkte in diesem Moment sehr selbstzufrieden, als er sich elegant aus der Hocke erhob und einen Moment nach unten gebeugt vor ihm stehen blieb. Und um seine überaus gesunde Gesichtsfarbe scheinbar weiter auf die Spitze zu treiben, beugte sich der Schwarzhaarige noch ein wenig dichter zu ihm und raunte ihm etwas zu, während er ihm sanft über den Schenkel strich, ehe er sich abwandte und verschmitzt grinsend zur Tür ging und aus dem Raum verschwand.
 

„Wobei ich bestimmt nichts dagegen hätte, wenn ich der Einzige wäre, der dich überhaupt in dieser Aufmachung sehen könnte.“

advance

Kapitel 11 - advance
 

– Genieß doch einfach was passiert. –
 

Dieser… dieser verdammte...!

Uruha fiel einfach kein passendes Wort ein, das auch nur ansatzweise das wiedergeben konnte, was er gerade über Aoi dachte. Das machte der doch definitiv mit purer Absicht!

Uruha schnaubte und wandte sich genervt ab. Er nahm die Flasche von einem der Staffs entgegen und trank einen kräftigen Schluck daraus – allerdings weniger, weil er Durst hatte. Die Pause bis zum Encore und nun die erste Hälfte von „Ride with the Rockers“ hatten ihm mehr als genug Zeit zum Trinken gegeben und um seinen Wasserhaushalt wieder aufzufüllen. Nein, jetzt wollte er sich einfach nur ablenken. Und auch irgendwie Aoi entkommen, der es sich heute anscheinend zur Aufgabe gemacht hatte, ihm besonders nah sein zu wollen. Gut, nicht nur heute, sondern schon seit Tagen.
 

An sich war ihr erstes Konzert nach der zwei monatigen Pause sehr gut verlaufen – das war vor einer Woche gewesen. Selbst Uruhas Angst, sich überhaupt ordentlich zur Musik bewegen zu können, hatte sich dank Aois Massage in Nichts aufgelöst. Ab und zu hatte es zwar noch hier und da gezwickt, aber prinzipiell fühlte er sich seither besser – jedenfalls was seinen Nacken anging. Seinem Kopf wurde dafür keine Besserung zu teil, denn Aois offene Avancen hielten sich hartnäckig in seinen Gedanken. Egal, wie oft er sie von einer in die andere Ecke seines Kopfes schob oder versuchte sie anders zu interpretieren oder ihnen eine andere Bedeutung anzudichten, er kam immer wieder zu demselben Schluss: Aoi war anscheinend in den Angriffsmodus übergegangen.

Und das nun schon tagelang – eben seit besagter Massage-Aktion.

Denn wie sollte er sonst die ständigen Berührungen auffassen, die Aoi ihm inzwischen zukommen ließ? Mal strich er ihm kaum spürbar über den Rücken oder sogar tiefer, mal fuhr er ihm durchs Haar, mit der Begründung eine Strähne hinge nicht da, wo sie hingehörte. Und wäre das nicht Grund genug, um Uruha eine kräftige Gesichtsfarbe zu verpassen, brachten ihn Aois Lächeln, welches der Schwarzhaarige scheinbar nur ihm schenkte, und seine intensive Blicke, teils völlig aus dem Konzept und ließen sein Herz rasen. Das war doch nicht normal! Warum tat ihm sein Freund das überhaupt an? Er wusste doch inzwischen, wie Uruha auf so etwas reagierte. Das hieß, Aoi machte das mit voller Absicht und Uruha hatte nicht mal mehr die Möglichkeit, so zu tun, als würde er nichts merken.
 

Trotz dass Aois Aufmerksamkeit ihm gegenüber im Vergleich zu den ganzen letzten Wochen und Monaten kein bisschen nachgelassen hatte, und er scheinbar seine Anstrengungen verstärkt hatte, blieben die Zweifel.

War sein Interesse wirklich echt? Er war doch ein Mann. Wusste Aoi was er sich damit aufbürdete? Und immer wieder die Frage: warum ausgerechnet er und jetzt?

Auch wenn Ruki meinte, Vorlieben könnten sich ändern – Uruha wollte der aufkeimenden Hoffnung einfach noch nicht nachgeben. Das Misstrauen blieb. Zu groß war seine Angst, sich lächerlich zu machen, wenn sich das Ganze doch nur als Scherz herausstellen sollte. Was wäre, wenn Aoi später mit Reita und den anderen über ihn lachen würde, weil Uruha seinem dummen Herzen und seinen Gefühlen zu viel Freiraum gegeben hatte? Nichts wäre demütigender und verletzender als das.
 

Uruha schüttelte kurz den Kopf, um das Bild eines ihn auslachenden Aois aus seinen Gedanken zu verscheuchen, während die euphorischen Rufe der Fans, die Reitas Part folgten, immer lauter wurden, als sicheres Zeichen, dass sich der Drum- und Bass-Teil kontinuierlich dem Ende zuneigte. Seufzend griff Uruha nach seiner Gitarre, die ihm gereicht wurde, und hing sie sich um. Jetzt war eindeutig der völlig falsche Zeitpunkt, um sich über die Motivation seines Freundes Gedanken zu machen, aber es ließ ihn einfach nicht los. Die Zweifel legten sich mittlerweile sogar auf seinen Magen. Er bekam kaum noch etwas runter und hatte keinen Appetit mehr. Sein Körper rebellierte gegen seinen Kopf. Egal wie sehr er sich einredete, irgendwann wieder zu seiner früheren Form und zur Einfachheit ihrer Freundschaft zurückzukönnen, sein Körper ließ sich nicht mal mehr ansatzweise davon überzeugen. Sein Herz raste auch im Moment und eine andere Art der Nervosität ergriff ihn, als er Aois Blick begegnete, von dem er wusste, dass dieser schon eine Weile auf ihm gelegen hatte.
 

Der Schwarzhaarige trat näher an ihn heran.

„Uruha, wir müssen gleich raus.“

Eine Hand legte sich warm auf seinen Rücken und strich leicht darüber, während das liebe Lächeln Uruha kurz blinzeln ließ. Vielleicht sollte ihn diese nett gemeinte Geste beruhigen, aber leider wirkte sie eher gegenteilig. Sein Herz setzte für einen Schlag aus, ein Kloß im Hals machte ihm das Atmen schwer. Auch half es herzlich wenig, dass sich der Schwarzhaarige noch etwas weiter zu ihm beugte. Dennoch versuchte Uruha sich mit aller Gewalt auf die Worte zu konzentrieren, die Aoi ihm ins Ohr raunte.

„Du denkst schon wieder zu viel. Genieß doch einfach, was passiert. Alles wird gut.“

Mit diesen Worten trat Aoi einen Schritt von ihm zurück und schenkte ihm einen aufmunternden Blick, ehe er sich zum Bühnenausgang wandte und mit zielstrebigen Schritten nach draußen trat, wo er von den Fans mit begeisterten Applaus begrüßt wurde.
 

Mühsam schluckte Uruha den Kloß in seinem Hals hinunter, während er seinem Freund hinterhersah. Unabhängig worauf Aoi das Gesagte jetzt genau bezogen hatte – ob auf ihre Situation oder den Auftritt – er hatte ja recht. Es brachte nichts, sich den Kopf zu zermartern.

Ungewollt schlich sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen, als er sah, wie Aoi Reita begrüßte, Kai zunickte und anschließend die Menge noch mehr anstachelte.

Nein, Aoi würde ihn niemals so demütigen. Niemals. Auch wenn sie einander in der Vergangenheit schon den ein oder anderen Streich gespielt hatten, das hier war etwas anderes. Und Aoi wusste das sicherlich auch.
 

Uruhas Lächeln wurde breiter, als er mit zielstrebigen Schritten aus dem Dunkel heraustrat und die Saiten seiner Gitarre zum Schwingen brachte. Er klopfte sowohl Reita, als auch Aoi auf die Schulter, ehe er sich neben sie positionierte und mit in den Song einstieg. Dabei warf er, das Flattern seines Magens ignorierend, Aoi einen kurzen Blick zu, den dieser sogleich auffing.

Er hatte lange gebracht, doch jetzt war er langsam bereit, ihm in diesem Punkt restlos zu vertrauen.

Wie hatte ihm der Schwarzhaarige bereits mehrfach versichert?

Er wollte ihm nichts Böses. Warum sollte er ihm nicht endlich Glauben schenken?
 

~*~
 

Die Euphorie und das sichere Gefühl, angekommen zu sein, ließen Uruha die restlichen Songs des Konzerts noch einmal richtig aufleben. Die Hitze der Scheinwerfer brachte ihn ins Schwitzen, während die glücklichen Gesichter ihrer Fans und die gute Laune seiner Kollegen ihn zu Höchstleistungen anstachelten. Ein großartiges Gefühl.

Uruhas Blick schweifte über die begeisterte Menge und seine Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln. Unabhängig davon, wie aufgewühlt er war oder unsicher er sich fühlte, dieser Augenblick hier auf der Bühne, in dem sie als Band gefeiert wurden und sie alle zusammen ihren Spaß hatten, war einfach unheimlich belebend und etwas, das ihn immer wieder aufs Neue erdete.
 

Eine leichte Berührung an der Schulter riss Uruha aus seiner Betrachtung. Aoi stand neben ihm und lächelte ihn sanft an, während er Uruha mit einer Kopfbewegung bedeutete, ihm aufs Podest in der Mitte zu folgen.

Stimmt, ihr gemeinsamer Gitarrenpart war gleich dran.

Bereitwillig stellte er sich neben Aoi und ließ sich in die Melodie des Songs fallen. Mit Leichtigkeit fanden seine Finger die passenden Saiten und Akkorde, auf die ihm Aoi mit seiner Gitarre zu antworten schien. Als würden sie sich über die Musik hinweg miteinander sprechen und gleichzeitig zu einer Einheit verschmelzen.

Uruha lehnte sich gegen Aois Rücken und während der Jubel der Fans zunahm, konnte er nur ihrer musikalischen Unterhaltung folgen. In diesem Moment, in dem ihre Gitarren eins zu werden schienen, standen sie sich näher als zuvor und alles fühlte sich weniger kompliziert an. Auf musikalischer Ebene waren sie einfach unzertrennlich, egal was passiert war oder noch kommen würde.
 

Ein zarter Hauch auf seiner Wange ließ Uruha überrascht blinzelnd aufsehen.

Was -?

Seine aufgerissenen Augen fanden die von Aoi, der ihm mit einem verwegenen Lächeln im Mundwinkel ansah. Und ehe Uruha überhaupt reagieren konnte, spürte er die weichen Lippen auf seiner anderen Wange. Hatte er behauptet, dass das Publikum vorher schon am Toben war, musste er seine Meinung revidieren, denn jetzt kannten die Fans kein Halten mehr. Doch der Lärmpegel erreichte sein Bewusstsein kaum. Wie paralysiert starrte er Aoi an, dessen Grinsen gerade eine Spur selbstzufriedener wurde.

Hatte er ihm wirklich einen Kuss aufgedrückt? In aller Öffentlichkeit?

Ja, hatte er und das zweimal.

Uruha konnte nur ungläubig den Kopf schütteln, während sein Herz durch diese Erkenntnis wieder einmal stolperte. Oh Mann… Diese Art von Fanservice hatten sie schon seit Jahren nicht mehr gemacht und jetzt mit dem gefühlsmäßigen Durcheinander der letzten Monate, bezweifelte er stark, dass Aoi hiermit nur die Fans erfreuen wollte. Das Funkeln in den dunklen Augen seines Freundes wirkte dafür selbst auf ihn eine Spur zu intensiv.

Was hatte Aoi gesagt?
 

„Genieß doch einfach, was passiert.“
 

Uruhas Mund verzog sich zu seinem typisch katzenhaften Lächeln, ehe er vom Podest sprang und auf seine Seite zurückkehrte, doch nicht ohne Aoi noch ein Blick über die Schulter zugeworfen zu haben. Na dann würde er es eben endlich genießen.

loneliness at Christmas

Kapitel 12 – loneliness at Christmas
 

– Ich wollte dich sehen. –
 

Gedankenverloren ließ Uruha den Blick zum Fenster schweifen. Vereinzelte Blätter wehten vorbei, während dicke, graue Regenwolken einander über den Himmel jagten.

Im Laufe der letzten Wochen war der bunte Herbst vom Winter abgelöst wurden, der allerdings nicht einmal ansatzweise etwas Schnee mit sich brachte, dafür trübes und ungemütliches Wetter. Eigentlich passend, um sich mit einer heißen Tasse Tee oder Kakao auf die Couch zu verziehen und sich unter einer kuscheligen Decke zu vergraben.
 

Gestern hatten sie Abschlusskonzert gegeben und sich somit von ihren Fans für dieses Jahr verabschiedet. Dass dieser Auftritt am Vorabend zu Weihnachten statt gefunden hatte, war ein kleines, symbolisches Geschenk an ihre Fans gewesen, die dieses mit größter Freude und Hingabe angenommen hatten. Ein Lächeln schlich auf Uruhas Lippen, als er an die unzähligen, strahlenden Gesichter denken musste, in die sich bei Rukis Dankesrede auch die ein oder andere Träne gemischt hatten. Ja, sie konnten wirklich froh über eine derart treue Fangemeinde sein. Doch jetzt stand erst einmal der Jahreswechsel bevor und eine längere Pause, die sie sich alle redlich verdient hatten. Denn egal, wie lange sie als Band schon zusammenhielten und eine Tour nach der anderen veranstalteten, ab einem gewissen Zeitpunkt schlauchte der Stress immer.
 

Mit einem Seufzen fuhr sich Uruha durchs Haar, ehe er aufstand und zum Fenster ging, um es zu schließen. Es war merklich kühler im Raum geworden. Aber etwas Lüften musste sein, sonst glaubte er zu ersticken. Er mochte es einfach nicht, wenn sich die Luft im Raum zu warm und stickig anfühlte. Einen Moment lang verweilte sein Blick auf der Straße, auf der kaum Personen unterwegs waren, und wenn doch, waren sie kaum unter ihren Regenschirmen zu erkennen. Bei dem Wetter traute sich ja nicht mal ein Hund vor die Hütte. Gut, der nervige Köter von gegenüber mal ausgenommen.

Aber dennoch waren die Straßen spürbar leerer. Vielleicht lag das aber zusätzlich daran, dass die meisten heute am 25. Dezember mit ihren Liebsten zusammensaßen, um den Tag gemeinsam zu zelebrieren.

Wieder verließ ein Seufzen Uruhas Lippen, als er sich von dem regnerischen Bild draußen vor seinem Fenster löste und zurück zum Sofa ging. Für einen paar Atemzüge betrachtete er unschlüssig die Kerze vor sich auf dem kleinen Couchtisch, ehe er nach seinem Feuerzeug in der Hosentasche kramte und den Docht entzündete. Etwas Gemütlichkeit durfte schon sein, gerade da es draußen zunehmend dunkler wurde.

Er ließ sich zurück gegen die Lehne sinken, ohne die flackernde Kerze aus den Augen zulassen. Ein leises Knistern war zuhören, bis die Flamme sich langsam beruhigte und schließlich friedlich vor sich hin loderte. Mit einer Hand griff er nach der Decke neben sich und zog sie mit sich, als er sich auf dem weichen Polster der Couch zusammenrollte. Die Decke schenkte ihm Wärme und ein zartes Gefühl von Geborgenheit, während seine Augen weithin am goldenen Licht der Kerze festhingen.
 

Geborgenheit… Irgendwie fehlte diese ihm gerade, dagegen konnte auch die Decke nicht helfen. Obwohl er sich momentan recht ruhig und entspannt fühlte, machte sich schon den ganzen Tag eine ungewohnte Leere in ihm breit. Die Aufregung der letzten Wochen – die Mischung der unterschiedlichsten Gefühle, die ihn die ganze Zeit begleitet hatte – war auf einmal wie weggeblasen und ließ sich nur noch als kleiner Nachhall in seinem Inneren erspüren. Sonst war es in ihm plötzlich leer. Als hätte er etwas Wichtiges verloren.

Resigniert schloss er die Augen und drehte sich auf den Rücken, mit einem Arm die Augen verdeckend. Dass ihm Ruhe mal so zu schaffen machen würde, hätte er bis vor wenigen Monaten niemals gedacht. Dabei hatte er sie sich solange herbeigesehnt, doch jetzt war es irgendwie anders.

Die letzten vier Wochen bis zum Finale waren alles andere als entspannt und ruhig gewesen, sondern viel mehr aufregend – diesmal im positiven Sinne. Und das lag nicht nur an ihrem straffen Zeitplan. Nachdem sein Geist und sein Körper sich anscheinend geeinigt hatten, nicht mehr dauerhaft einen Kampf auszufechten und einander zu misstrauen, hatte Uruha angefangen, die Gefühle, die Aoi in ihm auslöste, wirklich zu genießen. Er freute sich sogar darüber, wenn Aoi zu ihm kam oder einfach nur dicht neben ihm auf dem Sofa saß. Die Distanz, die in der Vergangenheit zwischen ihnen gestanden und ihr Verhältnis belastet hatte, war geschmolzen. Sie lachten wieder gemeinsam und Uruha genoss ihr Beisammensein. Es war fast wie früher.

Nur einen spürbaren Unterschied gab es: Eine beinahe körperlich greifbare Spannung lag in der Luft – ein Knistern, das sie beide zu umgeben schien. Und dennoch war, bis auf vereinzelten Fanservice auf der Bühne oder eben den mittlerweile zur Normalität gewordenen Annäherungen von Seiten Aois, nichts weiter passiert. Wobei Uruha sowieso froh war, dass diese unerträgliche Mauer mitsamt seinen eigenen niederdrückenden Zweifeln fast vollständig verschwunden war.
 

Selbst den anderen war mit der Zeit diese veränderte Stimmung zwischen ihnen aufgefallen. Während Kai es dabei beließ, ihm hin und wieder fragende Blicke und ein wohlwollendes Lächeln zu zuwerfen und ansonsten eher abzuwarten schien, waren Ruki und Reita diesbezüglich weniger zurückhaltend oder gar einfühlsamer. Reita ließ es sich nicht nehmen, vermehrt Anspielungen über die neue Zweisamkeit der beiden Gitarristen loszuwerden, auch mal in großer Runde, was Uruha des Öfteren die Röte ins Gesicht trieb. Es war ja schon peinlich genug, dass es scheinbar jeder mitbekommen hatte, dass Aoi und er irgendeine Art von Stress miteinander gehabt hatten oder dass er selbst sich seltsam verhalten hatte. Nein, Reita hatte eine diebische Freude daran, ihn immer wieder daran zu erinnern und grinsend zu beobachten, wie er sich wand, während Aoi die zweideutigen Kommentare des Bassisten seelenruhig ignorierte. So viel Coolness wünschte Uruha sich in diesen Situationen auch, aber er war eben einfach wie ein offenes Buch, das leider auch all zu gern errötete.

Ruki hingegen war bei dieser Thematik sogar noch deutlich offensiver. Unabhängig von seinem intensiven Beobachten – was ihn einige Mal ertappt zusammenzucken lassen hatte und er mit der Zeit das Gefühl bekam, Ruki würde ihn gar nicht mehr aus den Augen lassen – hatte der kleine Sänger ihn nach einem Auftritt direkt zur Seite genommen. Uruha hatte daraufhin versucht, Ruki in wenigen Sätzen zu erklären, dass er sich dessen Worte in gewisser Weise zu Herzen genommen hatte und sich nun nicht mehr selbst bekämpfte. Doch auf die Frage, wie jetzt der aktuelle Stand zwischen ihm und Aoi wäre, war Uruha ihm eine klare Antwort schuldig geblieben, da er es selbst nicht wusste. Er hatte Rukis Neugier schließlich soweit zufrieden stellen können, indem er ihm erklärte, dass sich zwischen ihnen etwas verändert hatte – positiv verändert hatte. Anscheinend war diese Aussage ausreichend gewesen, denn Ruki entließ ihn mit einem Lächeln aus dem Verhör, allerdings nicht ohne ihm noch ‚Viel Erfolg‘ zu wünschen. Dennoch ahnte Uruha, dass er weiterhin unter der Beobachtung des Sängers stand. Denn für den Sänger war das Thema sicherlich noch nicht beendet.

Aber ‚viel Erfolg‘ war kein schlechter Wunsch, denn den konnte Uruha gut gebrauchen. Nach den Wochen des Zögerns und des mit sich Haderns, war er nun an einem Punkt, an dem er Veränderungen wollte. Dieses momentane ‚in der Schwebe stehen‘ nagte an ihm. Nun hatte er sich einmal überwunden, jetzt sollte sich auch wirklich etwas ändern. Gut, geändert hatte sich ja schon etwas, aber inzwischen ging es ihm nicht mehr weit genug.
 

Tief einatmend rieb sich er mit den Händen über das Gesicht, ehe sein Blick an der Decke hängen blieb.

Eigentlich war es fast beschämend, wie schnell er jetzt auf einmal Veränderungen wollte, gegen die er sich bisher gesträubt hatte. Und trotzallem fehlte ihm der Mut, weiter auf Aoi zu zugehen. Lieber wartete er. Doch er war bereit dazu, Aois Hand – im bildlichen Sinne – zu ergreifen, sollte dieser sie ihm reichen.

Sie würden sich zu Silvester wiedersehen, soviel stand fest. Ruki hatte sie alle, einige Freunde und Crewmitglieder in sein geräumiges Appartement eingeladen, damit sie gemeinsam den Jahreswechseln verbringen konnten. Wenigstens etwas. Und dass Aoi und er so die Möglichkeit hatten, zusammen das neue Jahr zu begrüßen, bedeutete ihm ungemein viel. Auch wenn sie in den letzten Jahren in regelmäßigen Abständen Silvester genau in dieser Form gefeiert hatten. Doch damals war Uruhas Gefühlslage noch eine andere und damit war der Jahreswechsel auch nie von so ungemeiner Bedeutung für ihn gewesen wie dieser aktuelle. Denn das neue Jahr sollte ein Neuanfang sein. Er hoffte einfach darauf, fieberte dem regelrecht entgegen.
 

Das Geräusch der Türklingel riss Uruha unsanft aus seiner aufgewühlten Gedankenwelt. Irritiert setzte er sich auf. Wer wollte ihn denn heute besuchen? Angekündigt hatte sich niemand. Langsam begab er sich in den Flur, die Decke weiterhin um die Schultern geschlungen, und öffnete die Tür.

Er erstarrte. Aois dunkle Augen schauten ihm entgegen, ein Lächeln zierte seine Lippen. Trotz, dass sich sein Verstand beim Anblick des Schwarzhaarigen für ein paar Augenblicke ausklinkte und sein Herz dafür zurasen begann, nahm er jedes kleine Detail an ihm war: die Regentropfen, die von seinem Mantel perlten; die schwarzen, langen Haare, die vom Wind leicht durcheinander gebracht worden waren und dennoch so seidig glänzten, dass er sie am liebsten aus Aois Gesicht gestrichen hätte; der warme Blick und dieses Lächeln, das nur ihm, Uruha, zu gelten schien.

Beinahe hätte er die Frage gar nicht wahrgenommen, so sehr hatte er sich in die Betrachtung seines Freundes verloren. Doch nun blinzelte er sich in die Gegenwart zurück, als Aoi seine Frage wiederholte.
 

„Darf ich kurz reinkommen?“

„Ja… ja, natürlich. Komm rein.“

Er trat einen Schritt beiseite und nahm geistesgegenwärtig den Schirm entgegen. Aoi umgab ein angenehmer Duft, der Uruha sofort gefangen nahm, als jener an ihm vorbei ging – eine Mischung aus Parfüm, Regen und etwas undefinierbarem.

Uruha musste sich räuspern, als er die Tür schloss und Aoi folgte, nachdem dieser sich seiner Schuhe und seines Mantels entledigt hatte.

Himmel, da ließ er sich einmal auf diese Gefühle ein und schon verlor er sich in allem möglichen Einzelheiten.

Bevor er sich ins Wohnzimmer begab, machte er einen schnellen Abstecher in Bad, um Aois Schirm über der Wanne aufzuhängen. Als er schließlich den Nachbarraum betrat, stockte er kurz an der Tür. Aoi stand seitlich zu ihm, den Kopf leicht gesenkt, anscheinend in der Betrachtung der Kerze vertieft. Welch schönes Bild, wie der Schwarzhaarige nur vom sanften Schein der kleinen Flamme erleuchtet wurde. Einen Moment später blickte er auf und Uruha rief sich innerlich zur Räson.
 

„Willst du dich nicht setzen? Ich mach dir einen … Tee? Kaffee?“

„Tee, danke.“

Während er in die Küche ging, hörte er wie Aoi sich auf der Couch niederließ. Es raschelte leise, dann herrschte wieder Stille, nur Sekunden darauf unterbrochen vom Rauschen des Wasserkochers.
 

Wenig später stellte Uruha die dampfende Tasse vor seinem Gast ab und setzte sich neben ihn.

„Danke dir.“

Aois Lächeln brachte das Kribbeln in Uruhas Magengegend zurück.

„Ich habe mir übrigens erlaubt, deine Heizung etwas höher zudrehen, wenn du hier schon mit Decke durch die Gegend läufst.“

Er spürte, wie seine Wangen heiß wurden, als er Aoi leise dankte, der ihn nur schelmisch angrinste. Dabei war ihm eigentlich nicht mal sonderlich kalt, er mochte einfach nur das flauschig weiche Gefühl, das ihn dank der Decke umgab und damit auch einen gewissen Schutz bot.

„Was führt dich her?“, fragte er zögerlich. Ihr Konzert war schließlich erst einen Tag her.

„Ich wollte dich kurz sehen. Und dir das hier geben.“

Aoi zauberte ein kleines, flaches Päckchen aus seiner Manteltasche und überreichte es dem überraschend dreinschauenden Uruha.

„Aber öffne es bitte erst, wenn ich wieder weg bin.“

Irritiert löste Uruha den Blick von dem hübsch verpackten Geschenk in seinen Händen.

Warum wollte Aoi, dass er es erst später öffnete? Aber gut…

„Okay, wenn du das so möchtest. Vielen Dank dafür.“

Das Lächeln, mit dem Aoi ihm bedachte, ließ die Wärme in seinem Inneren noch einmal deutlich ansteigen. Doch ehe er wieder gedanklich abdriften konnte, fiel Uruha etwas ein.

„Oh, ich hab auch etwas für dich.“

Mit diesen Worten erhob er sich und eilte ins Schlafzimmer, um wenige Augenblicke später mit dem Geschenk zurückzukehren, das er vor Aoi auf die Couch ablegte.

„Eigentlich wollte ich es dir ja zu Silvester geben, deshalb ist es nicht eingepackt“, versuchte Uruha seine Nervosität zu überspielen, als Aoi den kuscheligen Wollschal hochnahm und ihn sich kurz in die Wange drückte.

„Ist doch egal. Er ist schön weich. Vielen Dank.“

„Ich dachte, wenn du mal wieder Skifahren gehst…“

Weiter kam Uruha mit seiner Erklärung nicht. Aois Arme lagen um ihm und zogen ihn sanft, aber dennoch bestimmt an den anderen Körper. Die leise Stimme bereitete ihm Gänsehaut, sein Herz stolperte.

„Ja… da kann ich ihn gut gebrauchen. Danke.“
 

Etwas länger als üblich hielten sie sich in den Armen. Während Aois Hände sachte über seinen Rücken strichen, genoss Uruha das Gefühl der Umarmung und die Nähe seines Freundes. Wenn es nach ihm ging, könnte es noch eine Weile so bleiben. Doch irgendwann mussten sie sich wieder voneinander lösen.

Er räusperte sich, versuchte seine Stimme nach diesem intensiven Moment wiederzufinden.

„Und deins soll ich wirklich erst nachher öffnen?“

„Ja, bitte. Aber ich mach eh gleich wieder los, wenn ich ausgetrunken habe.“

Uruhas leichte Enttäuschung darüber wurde augenblicklich gemildert, als Aoi ihm anscheinend gedankenverloren eine Strähne hinter das Ohr schob, als er weitersprach.

„Meine Schwester hat sich angekündigt, weil sie Anfang Januar nicht da ist. Also habe ich noch ein bisschen was zu tun, damit sie nicht zu viel Staub in meiner Wohnung findet.“

Er lachte kurz auf, was Uruha zum Lächeln brachte.

„Aber ich wollt dich wenigstens kurz sehen.“

Damit griff der Ältere zu seinem mittlerweile abgekühlten Tee und trank ihn aus, ehe er sich erhob. Uruha folgte ihm mit kurzer, geistiger Verzögerung, was dem letzten Satz geschuldet war, hinaus in den Flur, wo Aoi gerade seinen Mantel zuknöpfte. Als Uruha die kleinen Wassertropfen bemerkte, die Aois Schuhe zum Glänzen brachten, eilte er schnell ins Bad zurück.
 

„Hier dein Schirm. Fast vergessen.“

„Danke. Spätestens draußen hätte ich es bemerkt.“

Aoi betrachtete ihn einen Augenblick lang, bis er sich abwandte und die Tür öffnete.

„Also dann, wir sehen uns am 31.“

Mit diesen Worten wurde Uruha in eine erneute Umarmung gezogen.

„Uruha, lass uns den ersten Sonnenaufgang des Jahres gemeinsam ansehen. Nur wir beide.“

Er glaubte sich verhört zu haben, als Aoi ihn schließlich losließ und mit einem letzten Lächeln auf den Lippen den Schirm öffnete und nach draußen trat.

Er verschwand um die Ecke und ließ dabei einen sprachlosen Uruha zurück.

closeness

Kapitel 13 - closeness
 

– Ich habe mich in das Gefühl verliebt, das du mir gibst, wenn du bei mir bist. Deine Nähe zieht mich einfach an. –
 

Nervös biss Uruha sich auf die Unterlippe.

Ob er wohl kommen würde? Er hoffte es so sehr. Es war schließlich Aois Idee gewesen, sich gemeinsam den ersten Sonnenaufgang des Jahres anzusehen. Doch als er ihm vor gut einer Woche diese Worte ins Ohr geraunt hatte, war auch noch nicht abzusehen gewesen, dass sich die Sonne hinter dicken Wolken verstecken würde. Ausgerechnet heute, wo sonst für gewöhnlich der winterliche Himmel über Tokio tiefblau war. Und als wäre das nicht schlimm genug, trafen die ersten Regentropfen auf den Boden vor seinen Füßen und färbten diesen nach und nach dunkel.

Nein, so hatte er sich das wirklich nicht vorgestellt.

Enttäuscht stieß Uruha die Luft aus und verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Sein Blick schweifte langsam von der unruhigen Wasserfläche unter ihm zum Sky Tree, der sich deutlich von den Gebäuden, die das Flussufer säumten, abhob.

Es hätte so schön sein können…

Vor mehr als einem Jahrzehnt hatten sie sich alle zusammen als Band hier am 1. Januar getroffen und gemeinsam beobachtet, wie die aufgehende Sonne den Sumida River und seine Umgebung in herrlich goldenes Licht getaucht hatte. Dieses Ereignis war so einprägsam und bedeutend für sie gewesen, dass sie mittlerweile in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen, den Neujahrsmorgen an dieser Stelle begrüßten, manchmal auch nur als zweier oder dreier Grüppchen. Aber immerhin, denn irgendwie gehörte es zur Tradition. Deshalb war Uruha sofort klar gewesen, wo Aoi sich mit ihm treffen wollte, als er diesen Vorschlag gemacht hatte. Und nun machte das Wetter ihnen einfach einen Strich durch die Rechnung.

Dabei hatte er sich wirklich gefreut. Der erste Sonnenaufgang des Jahres war immer etwas ganz besonders und noch mehr, wenn er ihn mit Aoi geteilt hätte.
 

Doch nun schien seine Aufgekratztheit der letzten Tage völlig umsonst gewesen zu sein, denn Aoi würde bei diesem Wetter sicher nicht herkommen. Uruha konnte nicht verhindern, dass ihm ein enttäuschter Seufzer über die Lippen kam und seine Augen anfingen zu brennen.

So ein Mist!

Die vergangene Woche hatte er mehr wie durch eine Nebelwolke erlebt. Die allzu bekannte Unruhe war sein ständiger Begleiter gewesen, während sich sein Hirn immer wieder neue Szenerien ausgemalt hatte, wie das Neujahr wohl für ihn verlaufen könnte. Irgendetwas würde passieren, es lag fast greifbar in der Luft. Und dass Uruha mal wieder zu viel in Aois Worte hineininterpretierte, glaubte er nicht. Wenn sich Aoi mit ihm zusammen den Sonnenaufgang anschauen wollte und noch extra betonte, dass nur sie beide da sein würden – was sollte man da schon anders deuten? Es fühlte sich beinahe nach einem Date an.

Sein Kopf hatte es jedenfalls so verstanden und sich immer tollere Wunschfantasien erdachte, die seine Aufregung dadurch keinen Deut gemindert hatten. Diese Fantasien waren immer wieder auf das Gleiche hinausgelaufen und ließen nur eine Erkenntnis zu: er wollte Aoi nah sein. Auch wenn er sich die letzten Monate dagegen gesträubt hatte, war dieser Wunsch mittlerweile allgegenwärtig – und eigentlich auch nicht neu, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Gerade in ihrer Anfangszeit hatte er sich immer wieder vorgestellt, wie es sich wohl anfühlen würde, Aoi zu berühren, ihn zu küssen und noch einiges mehr. Er war neugierig und jung gewesen und vielleicht hätte man es sogar als leichte Verliebtheit bezeichnen können. Dennoch hatte er diese Träume in den letzten Jahren ganz tief in die hinterste Ecke seines Verstandes vergraben, denn sie waren zu diesem Zeitpunkt nicht mal im Ansatz realitätsnah genug, um weiter an ihnen festzuhalten oder sie gar zu verfolgen. Er wollte sie vergessen. Und genau deshalb hatten Uruha Aois neuste Annäherungsversuche auch so durcheinandergebracht. Er hatte verhindern wollen, dass diese längst vergessenen Wünsche wieder an die Tagesoberfläche traten und damit eine Hoffnung aufkeimen ließen, die zu diesem Zeitpunkt gar keine Daseinsberechtigung hatte.

Doch inzwischen wusste er, dass da etwas zwischen ihnen war. Nach dem ganzen Hin und Her der letzten Zeit konnte er sich nun wieder erlauben, ein bisschen in diese Richtung zu träumen. Besonders, nachdem er Aois Geschenk ausgepackt hatte. Uruha hatte zwar nicht verstanden, warum Aoi darauf bestanden hatte, dass er es nicht in seinem Beisein öffnete, aber er hatte nach einigem gründlichen Nachdenken diesbezüglich eine leichte Ahnung bekommen, was den Grund anging. Vermutlich hatte Aoi ihm nicht bedrängen wollen oder ihm damit einfach die Chance gegeben, seine Gedanken zu ordnen. Er kannte ihn zu gut.

Unabhängig davon, was wirklich dahintersteckte, waren Uruha die Tränen gekommen, als er das eingerahmte Foto in den Händen gehalten hatte, das unter dem Geschenkpapier verbogen gewesen war. Ein Foto von ihnen beiden. Sie waren zwar ein paar Jahre jünger darauf, aber dennoch hatte es ihn ungemein berührt, als er sah, wie Aoi und er auf dem Bild lachend auf der Bühne mit ihren Gitarren standen, eng aneinander gelehnt, mit diesem bestimmten Funkeln in den Augen.

Es hatte eine Weile gebraucht, bis Uruha den Kloß heruntergeschluckt bekam, der sich bei der Betrachtung des Bildes in seinem Hals gebildet hatte. So sah Aoi sie also: Glücklich zusammen und wenn sie wollten, auch als perfekte Einheit funktionierend.

Aois Geschenk hatte sofort einen Ehrenplatz in seinem Regal erhalten, wo Uruha es die letzten Tage mehr als nur einmal gedankenverloren betrachtet hatte. Dabei breitete sich jedes Mal eine Mischung aus Wehmut und einem Glücksgefühl in seinem Inneren aus. So etwas wie auf dem Foto wollte er wieder haben: diese Unbeschwertheit und Nähe und noch viel mehr.
 

Während der Silvesterparty bei Ruki hatte Uruha es allerdings nicht geschafft, den Älteren auf das Geschenk oder das Thema, das ihn so beschäftigte, anzusprechen. Generell hatten sie kaum miteinander geredet, was aber mehr daran lag, dass ständig jemand eine neue Idee für Unterhaltung und Spiele in den Raum warf, weshalb sie keine einzige, ruhige Minute gefunden hatten. Aber Aois liebes Lächeln hatte seine Laune immer wieder steigen lassen, wenn diese drohte abzustürzen, und sein Körper hatte dabei mit einem angenehmen Kribbeln reagiert. Mit der Zeit hatte sich Uruha auch damit abgefunden, dass es an diesem Abend kein Gespräch geben würde, aber er wusste ja, dass sie sich am nächsten Morgen wiedersehen würden. Nur sie beide – und das hatte seinen Puls mehr als einmal hochschnellen lassen, wenn er daran dachte.

Im Laufe des Abends war irgendwann die Frage aufgekommen, die Uruha schon die ganze Zeit gefürchtet hatte. Er war schon versucht gewesen, sich im Vorfeld eine Ausrede zurechtzulegen, als Reita zu fortgeschrittener Stunde und mit einer ordentlichen Anzahl leerer Bierflaschen vor seiner unbedeckten Nase, vorschlug, man könnte ja mal wieder gemeinsam den Sonnenaufgang anschauen. Uruhas Herz hatte für einen Schlag ausgesetzt.

Nein, das wollte er nicht. Jedenfalls dieses eine Mal nicht.

Dieser Sonnenaufgang sollte nur Aoi und ihm gehören. Doch er kam gar nicht erst in die Verlegenheit eine Notlüge äußern zu müssen, denn Ruki schaltete sich glücklicherweise in Reita Überlegungen ein.

„Lassen wir es dieses Jahr einfach, es soll eh regnen. Dafür feiern wir ja heute“, hatte er gemeint und damit Reitas vom Alkohol verschleierte Gedanken ziemlich schnell in eine andere Richtung gelenkt. Doch egal, wie plausibel Rukis Worte klangen, Uruha hatte eindeutig das Gefühl, dass Ruki dies nur wegen ihm gesagt hatte. Denn wie hätte Uruha sonst den intensiven Blick, den der Sänger ihm dabei zuwarf, deuten sollen? Ahnte Ruki schon wieder etwas? Vermutlich. Uruha wäre nicht verwundert gewesen, wenn der Sänger ihm eines Tages gestehen würde, doch Gedanken lesen zu können.

Eigentlich hatte der Originalplan für die Silvesternacht vorgesehen, dass die komplette Partygesellschaft das neue Jahr direkt am benachbarten Schrein begrüßte. Doch aufgrund der vermehrten Alkoholausfälle einzelner Anwesender wurde sich schlussendlich dagegen entschieden. Selbst von Rukis Balkon aus konnten sie die schweren Glockenschläge vernehmen, die das alte Jahr verabschiedeten und das war für die meisten unter ihnen in Ordnung. Der 2. Januar würde dann als erster, gemeinsamer Schreinbesuch ebenso völlig ausreichend sein.

Und so war der Jahreswechsel recht entspannt und ohne große Vorkommnisse vonstattengegangen. Theoretisch wären sogar einige Stunden Schlaf für Uruha drin gewesen, doch seine Aufregung war mit jeder Stunde gestiegen und somit hatte sich das Thema Schlafen ziemlich schnell für ihn erledigt.
 

Nun stand er hier und Ruki hatte wirklich recht behalten. Es regnete. Inzwischen sah sich Uruha sogar gezwungen, den mitgebrachten Schirm zu öffnen. Das Prasseln des Regens schien seine getrübte Stimmung nur noch mehr zu unterstreichen. Hätte der Wetterbericht nur einmal lügen können? Wenigstens heute?

Eine Hand auf seiner Schulter riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn erschrocken aufblicken.

Aoi.

Er war wirklich gekommen.

Überrascht blinzelnd sah Uruha seinen Freund an.

Wie anziehend er aussah. Nicht nur wie er neben ihm am Brückengeländer stand und ihn mit diesem bestimmten Lächeln auf den Lippen musterte. Nein, generell seine gesamte, elegante Erscheinung brachte Uruhas flatterndes Herz zum kurzzeitigen Aussetzen. Er konnte es nicht leugnen – dieser Mann ließ seinen Körper verrückt spielen.

Um Aoi nicht weiter derart auffällig anzustarren, schloss er für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln, ehe er es wagte, seine Stimme zum Sprechen zu bewegen.

Verdammter Kloß im Hals.

„Aoi, was machst du hier?“

„Wieso sollte ich nicht hier sein? Wir waren verabredet.“

Ein verwunderter Blick traf Uruha.

„Ja, aber es regnet doch und der Sonnenaufgang…“

Den Rest des Satzes ließ er offen, denn Aoi wusste sowieso, was er meinte. Dessen Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln, als er einen weiteren Schritt nähertrat.

„Schon, aber das hat dich schließlich auch nicht davon abgehalten, hier zu erscheinen.“

Ein Augenzwinkern folgte.

„Außerdem finde ich es gar nicht so schlimm. Es reicht doch, wenn wir hier zusammen sind, also sei nicht traurig.“

„Ich bin nicht traurig“, murmelte Uruha, als er den Kopf senkte und auf seine Hand sah, die Aoi ergriffen hatte. Seine Haut kribbelte ganz leicht.

„So schaust du aber aus. Vielleicht zieht es ja nachher wieder auf. Ich habe das Gefühl, es wird schon etwas heller.“

Uruha hob den Blick prüfend gen Himmel, der weiterhin von dunklen Wolken verhangen war. Da war Aois Gefühl scheinbar deutlich feiner gestrickt, was das anging, denn wirklich heller sah es für Uruha nicht aus. Aber mit etwas Optimismus könnte er sich wenigstens einbilden, dass das Prasseln des Regens, der auf den Schirm traf, sanfter klang als noch vor einigen Minuten.

Aois leises Lachen holte ihn aus seiner Betrachtung.

„Jetzt schau nicht so kritisch. Wenn es nicht regnet, können wir doch morgen unseren ersten gemeinsamen Sonnenaufgang betrachten.“

Uruha wollte gerade widersprechen, dass dies ja nicht dasselbe wäre, als die spezielle Betonung der Worte in seinen Verstand sickerte.

Gemeinsam. Meinte Aoi das so, wie er es glaubte, verstanden zu haben?

In seiner Magengegend fing es an zu prickeln, welches sich gleich darauf verstärkte, als Aoi seinen eigenen Schirm schloss, ans Geländer hing und unter Uruhas trat. Eine Hand legte sich auf seinen Rücken, zog ihn noch etwas näher zu sich, während sich die andere warm um Uruhas kalte Finger schloss, die den Schirmgriff umklammert hielten. Er hatte das Gefühl nicht mehr richtig atmen zu können, sein Herz drohte aus seiner Brust zu hüpfen.

„Uruha…“, raunte Aoi.

„Warum machst du es dir eigentlich manchmal dermaßen schwer? Es könnte so einfach sein…“

Dies wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, noch einmal nachzufragen, was Aoi genau damit meinte, um auch die letzten Unsicherheiten beiseite zu räumen, doch Uruhas Kopf war wie leergefegt. Er konnte nur Aois Lippen anstarren, die schließlich auch den letzten Abstand zwischen ihnen überbrückten.

Ein Sturm brach in ihn los – ein Sturm, der jeden Zentimeter seines Körpers in Aufruhr versetzte. Seine Haut kribbelte und sein Magen fuhr Achterbahn. Er hatte das Gefühl, er würde an seiner Aufregung ersticken. Und irgendwie war ihm schlecht. Nicht schlecht, weil der Kuss so furchtbar, sondern eher schlecht, weil ihn seine Aufgewühltheit zu erdrücken drohte. Ein Keuchen entfloh ihm.

Aois Lippen bewegten sich sachte gegen seine, zwangen ihn dazu, der Bewegung zu folgen. Sein Herz raste, während seine Hand fahrig und nach Halt suchend über den Rücken seines Freundes glitten und sich schlussendlich in seinem Mantel verkrallten. Die Hand, die den Schirm hielt, zitterte und nur Aois festem Griff war es zu verdanken, dass der Schirm sie überhaupt noch vor dem Regen schützte und nicht schon am Boden lag.

Er spürte, wie Aois Zunge sanft über seine Lippen fuhr, um Einlass bat und sein Gegenstück suchte.
 

Und plötzlich – plötzlich war die Schwärze, die Uruha gerade noch zu ertränken versucht hatte, verschwunden. Sein Innerstes glich einem ruhigen Ozean, obwohl sein Herz nach wie vor raste. Während ihre Zungen sich neugierig und fast schon träge umspielten, hatte er das Gefühl freier atmen zu können. Seine sonst wild durcheinanderwirbelten Gedanken schwiegen und er fühlte sich auf einmal ungemein ruhig. Aois Wärme hüllte ihn ein, schien ihn vor der Kälte und der Außenwelt zu schützen. Alles fühlte sich jetzt richtig und vollständig an, als hätte es schon immer so sein sollen.

Während Uruha fast traumwandlerisch dem Lippenspiel folgte, lösten sich seine verkrampften Finger und strichen zaghaft über den etwas angerauten Stoff von Aois Mantel. Mit einem Mal spürte er, wie Aoi sich behutsam von ihm löste, was ihn ein leises unwilliges Murren entlockte. Sein Körper fühlte sich herrlich leicht, fast schwebend an, während seine Knie weich wie Wackelpudding waren. Augenblicklich schmiegte er sich näher an Aoi. Er wollte die Augen nicht öffnen, wollte den Blick nicht sehen, mit dem sein Freund ihn betrachtet. Lieber ließ er die Lider geschlossen und spürte dem Kribbeln in seinem Körper und auf seinen Lippen nach, die regelrecht vor Sehnsucht nach ihren Gegenstücken zu brennen schienen. Es fühlte sich einfach unglaublich gut. Sein Puls raste, ebenso sein Atem. Und doch füllte eine lang vermisste Ruhe seinen Geist aus. Es war eine ungewohnte Mischung so derart unterschiedlicher Gefühle, die er dennoch nicht mehr hergeben wollte.

„Uruha?“

Aois beinahe unsicher klingende Stimme ließen ihn nun doch den Kopf von dessen Schulter heben.

Unsicher? Wieso sollte er unsicher sein? Nein, das musste er sich eingebildet haben.

Die dunklen Augen, die auf Uruha ruhten, funkelten intensiver als je zuvor. Er versank bereitwillig in ihnen – in diesen schwarzen Seen, die ihm so viel zu versprechen schienen.

Und wieder war es Aoi, der ihn aus seinem tranceähnlichen Zustand holte.

„Alles in Ordnung?“

Natürlich war alles in Ordnung, in bester Ordnung. Warum fragte er?

Als raue Fingerkuppen hauchzart seine Lippen nachfuhren, um die restliche Feuchte von deren Mundwinkeln zu entfernen, flammte das Prickeln in Uruha sofort wieder auf. Ohne bewusstes Zutun senken sich seine Lider und er stieß ein genießerisches Seufzen aus.

Wie hatte er nur je Bedenken haben können? Wovor hatte er sich so gefürchtet? Es war richtig, wie es war.

Dies bestätigte ihn auch Aois zufrieden lächelndes Gesicht, als sich ihre Blicke kurz darauf erneut trafen.

„Ja, alles gut“, murmelte er heiser und mit einiger Verspätung, was Aois Lächeln nur breiter werden ließ. Er zog Uruha für einen Augenblick zu sich, um dessen Lippen mit einem liebevollen Kuss zu verschließen. Als sie sich voneinander lösten, musste Uruha sich erst einmal räuspern, um seine Stimme wieder zu finden. Die ganze Situation überforderte ihn gefühlsmäßig sehr, auch wenn das Glücksgefühl, das sich in seinem Körper inzwischen ausgebreitet hatte, eindeutig überwog.

„Aoi, warum jetzt?“

Mehr brachte er nicht heraus, aber Aoi verstand auch so, was er meinte.

„Weil du jetzt offen dafür warst. Vorher bist du doch eher weggerannt, als dich von mir küssen zu lassen. Von daher hätte das nicht viel gebracht.“

Aois schelmisches Grinsen wirkte derart ansteckend auf Uruha, dass sich seine Mundwinkel automatisch nach oben zogen.

„Du musstest selbst erst einmal mit dir klarkommen und herausfinden, was du wirklich willst.“

Das klang einleuchtend.

Aois Einschätzung bezüglich seiner Verwirrtheit hätte nicht treffender sein können und er war ihm dankbar dafür, genau diesen Weg so verfolgt zu haben, wie es er getan hatte. Erst Aois Annäherung in dieser einen Nacht hatte ihn überhaupt dazu gebracht, sich mehr mit seinen Empfindungen auseinanderzusetzen und sich nicht auf ewig hinter einem Schutzwall vergraben zu wollen.

Dennoch brannte Uruha eine weitere Frage auf der Seele, deren Antwort ihm in keiner seiner Überlegungen wirklich plausibel erschienen war.

„Aber warum bist du überhaupt an mir interessiert? Nach all den Jahren. Das kam ziemlich plötzlich.“

„Na ja…“, lachte Aoi leise und etwas verschämt auf. Er kratzte sich unsicher am Kopf, ehe er fortfuhr.

„Deine Gegenwart war irgendwann einfach mehr als anziehend auf mich und hat mich nicht mehr losgelassen. Ich kann‘s dir nicht recht erklären. Dabei habe ich mich in das Gefühl verliebt, das du mir gegeben hast, wenn du bei mir bist. Deine Nähe hat mich einfach angelockt. Am Anfang war ich nur neugierig, es war irgendwie spannend für mich zu sehen, was diese Nähe in mir und auch dir veränderte. Sorry, das klingt gerade ziemlich egoistisch von mir.“

Entschuldigend strich Aoi ihm über die Wange.

„Es tat mir auch leid, mit anzusehen, wie du neben dir standest. Aber deine Nähe hat mich einfach immer glücklich gemacht, weshalb ich dich nicht mehr gehen lassen wollte. Und je mehr ich den eigentlichen Grund für deine Aufgewühltheit erkannte, desto mehr wuchs eben meine Zuneigung zu dir.“

Für einen Moment fand Aois Mund wieder Uruhas, ehe der Ältere seine Stirn gegen seine legte und ihn mit einem liebevollen Gesichtsausdruck ansah.

„Aber du warst zu verschreckt von der Situation und deinen Gefühlen, als dass ich mich schon eher hätte weiter vorwagen können.“

Uruha verkniff sich ein Grinsen, als er einwarf: „Du hast es trotzdem getan.“

„Ja, aber einfach um dir etwas auf die Sprünge. Du hast eben manchmal eine ziemlich lange Leitung, weißt du das?“

Unbewusst verzogen sich seine Lippen zu einem Schmollmund.

Aoi hatte ja recht, aber musste er es ihm denn gleich so an den Kopf werfen?

„Uruha, mir war schon in dieser einen Nacht nach unserem Trinkgelage klar, dass meine Zuneigung nicht nur einseitig sein kann. Aber du hast es dir einfach zu schwer gemacht, weil du zu viel denkst.“

Wieder hatte der Schwarzhaarige, der ihm gerade mit dem Finger gegen die Stirn stupste, den Nagel auf dem Kopf getroffen. Uruha dachte wirklich zu viel nach, dabei konnte er wirklich froh sein, dass Aoi nicht lockergelassen hatte.

„Du hattest enorm viel Geduld mit mir. Danke dafür.“

Ein zarter Kuss landete auf Aois Wange, dessen Grinsen nicht weniger wurde.

„Gerne doch“, zwinkerte er Uruha zu, der ihm lachend gegen den Oberarm pikte.

„Ich glaube übrigens, du kannst deinen Schirm jetzt schließen. Es hat aufgehört zu regnen.“
 

Es stimmte, wie Uruha ein überraschter Blick zur Seite verriet.

Wie viel Zeit wohl vergangen war? Gefühlt war es auch eine Spur heller geworden.

„Na, wenn das kein gutes Omen ist“, vernahm er Aois Stimme an seinem Ohr. Uruha lehnte sich unbewusst stärker gegen ihn, als er den Schirm geschlossen hatte und seinen Blick über den Fluss unter ihnen schweifen ließ.

„Wenn ich die Augen zusammenkneife, würde ich behaupten, dass es dort hinten schon etwas orangener aussieht als vorhin.“

Uruha musste unwillkürlich lachen, als er Aoi von der Seite betrachtete, der scheinbar hochkonzentriert in die Ferne starrte. Das Grinsen, das sich im Mundwinkel seines Freundes zu verstecken versuchte, war trotzdem unübersehbar.

„Auch wenn ein Sonnenaufgang in meiner Erinnerung anders aussieht, mein Lieber…“, feixte Uruha und drehte Aois Kopf mit sanftem Nachdruck wieder in seine Richtung. „… bin ich dir immer noch sehr dankbar für deinen Vorschlag.“

Ein sanfter Kuss schloss den Abstand zwischen ihnen für einen Augenblick, ehe Uruha fortfuhr.

„Und wie du schön sagtest, dann machen wir den morgigen zu unserem ersten, gemeinsamen Sonnenaufgang.“

Zufrieden kuschelte sich Uruha an Aois Schulter, dessen Hände sanft über seinen Rücken strichen. Eigentlich war ihm der Sonnenaufgang gerade egal – Hauptsache, sie waren zusammen. Hier, zu zweit am frühen Morgen trotz des miesen Wetters, auf der fast verwaisten Brücke zu stehen, barg eine ungemeine Romantik in sich, die sein Herz gleich wieder höherschlagen ließ, wenn er so darüber nachdachte. Und als hätte Aoi gespürt, was in Uruha vor sich ging, brachten seine nächsten Worte dieses vorfreudige Kribbeln zurück, das Uruha von Kopf bis Fuß zu erfüllen schien.

„Auch wenn ich bezweifle, dass wir morgen um diese Zeit schon wach sein werden. Ich denke, wir werden noch viele gemeinsame, erste Male haben, was glaubst du?“

inner peace

Epilog – inner peace
 

– Bring mir Entspannung. Lass alle Gedanken aus meinem Kopf verschwinden. –
 

Leises Gezwitscher drang an sein Ohr und holte ihn nach und nach aus seinem Traumland. Blinzelnd öffnete Uruha dieAugen einen Spalt breit, kniff sie aber sofort wieder zusammen.

Zu hell…

Murrend drehte er sich auf die Seite und vergrub das Gesicht im Kissen.

Hach, wie gut das duftete.

Frischgewaschene Bettwäsche roch einfach immer herrlich. Er drückte seine Nase noch ein wenig tiefer in den weichen Kissenbezug. Der Duft erinnerte ihn einmal mehr an eine Blumenwiese, durch die ein laues Frühlingslüftchen wehte.

Apropos Frühling. Die Vögel draußen vor seinem Fenster waren wohl ebenso der Meinung, dass der Winter vorbei wäre, so enthusiastisch wie sie ihre Lieder zum Besten gaben. Dabei dauerte es zum kalendarischen Winterende eigentlich noch mindestens anderthalb Monate. Doch scheinbar richteten sich die kleinen, zwitschernden Tierchen weder nach dem Kalender, noch nach der Uhrzeit, sondern ließen sich wohl ausschließlich von der Sonne leiden. Dafür, dass es erst Februar war, hatte diese schon schon erstaunlich viel Kraft, wie Uruha bemerkte. Ihr überraschend warmes Licht strich über seinen Oberkörper und hinterließ ein wohliges Gefühl auf seiner Haut. Seufzend drehte er sich auf den Bauch, drückte dabei abermals das Gesicht in die weichen Daunen. Eine leichte Gänsehaut breitete sich auf seinem Körper aus. Es wäre ein Leichtes seine Decke von seinen Hüften wieder nach oben zu ziehen, doch gerade siegte Faulheit. Da ließ er sich lieber ein wenig von der Sonne, deren sanfte Strahlen über seine Haut tänzelten, den Rücken wärmen. Der Rest seines Körpers durfte dafür auch gern etwas frieren.

Nach ein paar Minuten, in denen er erneut ein wenig weggedämmert war, wurde es ihm dann doch zu kühl.

Wo war eigentlich seine persönliche Wärmequelle?

Suchend streckte er seine Hand aus, fühlte aber nichts außer dem zerknitterten Bettlaken. Irritiert öffnete er nun zum zweiten Mal an diesem Tag seine Augen. Der Platz neben ihm war leer.

Wo war Aoi?

Der Restwärme nach, die die Stelle, wo der Schwarzhaarige heute Nacht eingeschlafen war, ausstrahlte, konnte es nicht allzu lange her sein, dass er aufgestanden war.

Etwas träge drehte sich Uruha zurück auf den Rücken und richtete sich vorsichtig ein Stückchen weit auf. Sein müder Blick huschte durch den Raum, ehe er in einer Ecke hängen blieb.

Da war er.

Hell vom Morgenlicht beschienen, saß Aoi im Sessel, welcher am Fenster stand. Sein Blick ruhte auf ihm. Uruha musste schlucken. Wie er so entspannt dort saß, nur mit Shorts und einem Hemd begleitet, das nicht einmal ansatzweise geschlossen war und eher mehr frei gab als verdeckte. Dieses Bild, zusammen mit dem einzigartigen Lächeln, ließ Uruhas Herz stolpern, bevor es sich zum schnellen Weiterschlagen entschied.

Er wusste, dass er starrte, aber er konnte sich einfach nicht aus der Betrachtung dieses unglaublichen Mannes reißen. Dieser Mann… Er machte ihn echt fertig, wenn ihn derart intensiv mit diesen dunklen Augen musterte. Ein kleiner Schauer lief über seinen Rücken, er fühlte sich gerade wie auf dem Präsentierteller. Mit seiner ganzen Geisteskraft, die er noch aufbringen konnte, schaffte es Uruha einen kurzen Augenblick seine Augen zu schließen, um ein Stückchen weit aus dem Bann des anderen lösen zu können und seine Gedanken zu ordnen.

Mit einem Räuspern suchte er erneut Blickkontakt.
 

„Warum sitzt du da?“
 

Okay, er hatte auch schon mal intelligentere Fragen gestellt.

Gedanklich schlug er sich gegen die Stirn. Aber wenigstens konnte er es auf seine allgegenwärtige, morgendliche Verpeiltheit schieben. Aois Lächeln wurde breiter. Er lehnte sich ein Stückchen vor, stütze sich mit den Ellenbogen auf seinen Knien ab und faltete seine Hände zusammen, wobei er Uruha keine Sekunde aus den Augen ließ.
 

„Ich werde einfach nicht müde, dir beim Schlafen zu zuschauen. Und wenn mich die Vögel schon so zeitig wecken, hatte ich bis jetzt wenigstens einen sehr angenehmen Zeitvertreib.“ Ein Zwinkern und ein verschmitztes Grinsen folgte, während Uruha spürte, wie die Hitze in seinen Wangen zunahm. „Sonst wäre ich mir ja auch dein bezaubernder Anblick entgangen, denn im Sonnenlicht siehst du einfach wunderschön aus.“
 

Das war dann doch zu viel für Uruhas verliebtes Herz, das ein weiteres Mal aussetzte, während sein Magen einen Purzelbaum schlug. Dieser… dieser unmögliche Mann. Er schaffte es immer wieder ihm die Sprache zu verschlagen, gerade wenn er so tief in die Schmalzkiste griff. In diesem Moment konnte er nicht anders, als seinen Liebsten stumm anzuschauen und kaum merklich den Kopf zu schütteln. Das war auch eindeutig zu viel am Morgen.
 

Im Versuch seine Stimme wiederzufinden, murmelte er zusammenhanglos: „Wir hätten das Fenster und die Vorhänge schließen sollen.“

Er ließ sich zurück auf sein Kissen fallen und fuhr sich mit den Händen über seine Lider. Ein Arm blieb auf ihnen liegen, als könnte er sich dahinter verstecken. Egal, wie oft Aoi ihm auf seine direkte Art und Weise Komplimente machte, er konnte sich nicht daran gewöhnen und jedes Mal brachte es ihn aus dem Konzept. Warum musste sein Mann auch gern so dick auftragen? Sein Mann… wie das klang. Selbst nach einem Monat ihres beinahe täglichen Zusammenseins konnte er sich immer noch nicht an diesen Gedanken gewöhnen. Sein Mann. Es war einfach zu neu für ihn.
 

Uruha hörte, wie sich leise Schritte von bloßen Füßen näherten. Gleich darauf gab die Matratze neben ihm ein Stückchen nach. Ein Zittern ergriff seinen Körper, als er spürte, wie ein Paar vorwitziger Finger zärtlich über seinen unbedeckten Oberkörper strichen und dabei an der ein oder anderen Stelle etwas länger verweilten. Eine kaum übersehbare Gänsehaut folgte diesen Berührung, Uruha erschauderte. Wenn er so weiter machte...

Das verhaltene Kichern ließ ihn aus seiner Starre aufwachen. Wenig ernst gemeint schlug er auf die freche Hand seines Freundes und drehte sich grummelnd auf die Seite, während er die Decke über sich zerrte. Er sollte bloß nicht glauben, ihn gleich wieder rumzubekommen. Nach der letzten Nacht hatte er sich eigentlich eine kurze Verschnaufpause verdient.

Aois heiseres Lachen bescherte ihm eine erneute Gänsehaut, als dieser sich zum ihm hinunterbeugte und ihn sanft auf die empfindliche Stelle unter seinem Ohr küsste.
 

„Och, ist mein Uruha etwa morgenmuffelig?“
 

Weitere Küsse auf seinen Hals und Schultern folgten und versetzten seinen Körper in ein aufgeregtes Kribbeln. Dieser verdammte… Verführer. So etwas wie Pause kannte er wohl nicht.
 

„Mhmm…“, murrte Uruha. „Du bist mir für meinen Geschmack momentan echt zu wach.“
 

Ein amüsiertes Schnauben auf seiner Haut schickte einen neuen Schauer über Uruhas Rücken, während er die Augen geschlossen hielt und krampfhaft versuchte sich dem Gefühl, das Aois Tun in ihm auslöste, nicht zu sehr hinzugeben. Der Schwarzhaarige sollte nicht schon wieder so einfach gewinnen.

Er merkte, wie die Decke angehoben wurde und sich ein warmer Körper hinter ihn legte. Ein Arm schlang sich um seinen Oberkörper und zog Uruha noch ein Stück näher an Aoi heran. Die Stellen auf seinem Nacken, auf die diese verführerischen trafen, schienen zu glühen. Sein Körper versank zusehends in einen aufregenden Strudel unterschiedlichster Gefühle, von Unwillen und noch einer minimalen Verschlafenheit, bis hin zu prickelndem Verlangen und Lust, wobei letzteres garantiert Aois angestrebtes Ziel war. Dessen Hand tänzelte beinahe spielerisch über Uruhas Brustkorb, während sich der andere Arm mittlerweile unter seiner Taille hindurch gemogelt hatte und Aoi ihn nun somit gänzlich umfangen hielt. Uruha seufzte genießerisch auf. Die Finger wanderten stetig abwärts und schickten ihm ein erregtes Ziehen durch den Unterleib. Er war so tief in seinen Empfindungen gefangen, dass er Aois Entgegnung auf seine letzte Aussage fast überhört hätte.
 

„Sei doch froh. So haben wir mehr Zeit zu kuscheln.“
 

Kuscheln? Uruha schnaubte. Das meinte Aoi doch nicht ernst, konnte er doch beinahe das selbstzufriedene Grinsen des anderen auf seiner Haut spüren. Was er gerade tat, führte definitiv in eine andere Richtung als Kuscheln. In eine tiefere Richtung, wie das eindeutige Streicheln über Uruhas Körpermitte bestätigte.

Ach, was soll’s! Pausieren konnte er später!

Mit einem plötzlichen Ruck drehte er sich in Aois Armen um, der ihn einem Moment lang überrascht ansah, bis Uruha seinen Mund hungrig auf Aois presste. Kuscheln wäre danach auch noch angemessen.

Gierig begann er seine Lippen gegen Aois zu bewegen, strich mit seiner Zunge über dessen Unterlippe. Er keuchte auf, als die fremde Zunge seine fand, sie sanft umgarnte und sie zu einem engen Zweiertanz einlud. Diese regelrecht elektrisierenden Küsse machten ihn süchtig, süchtig nach mehr – viel mehr. So in seinen Empfindungen gefangen, bemerkte Uruha kaum, wie Aoi ihn behutsam mit dem Rücken zurück aufs Laken drückte, ehe er sich über ihn beugte und mit seinen Fingern erneut begann, Uruhas Körper zu erkunden. Dabei unterbrachen sie zu keiner Zeit den hitzigen Kampf ihrer Lippen.
 

Als die Luft knapp wurde, mussten sie sich schließlich notgedrungen voneinander lösen. Uruha rang nach Atem, während seine Augen die seines Partners suchten. Wie anziehend schön Aoi aussah – mit diesem feurigen Glanz in den Augen. Dieser dachte anscheinend ähnliches, denn Aoi lächelte leicht versonnen, während er ihm einige Strähnen aus der Stirn strich.

Dann beugte er sich zu ihm hinab und verschloss seine Lippen erneut für einen kurzen Kuss, ehe er gegen sie raunte: „Kuscheln?“

Für diese sich selbst beantwortende Frage kassierte Aoi einen leichten Schlag gegen den Oberarm, was ihn zum Auflachen brachte.

„Frag doch nicht“, murrte Uruha und zog Aoi gleich wieder zu sich, um dessen frechen Mund zu verschließen. Zwischen den Küssen murmelte er gegen die verführerischen Lippen: „Mach weiter… und bring mir Entspannung.“
 

Er spürte, wie Aois Grinsen breiter wurde, ehe sich sein Liebster langsam zurückzog und begann eine feuchte Spur mit seinen Lippen von Uruhas Mundwinkel, über sein Kinn bis zu seinem Hals zuziehen. Dort biss er sich für einen Moment fest. Der leichte Schmerz löste ein elektrisierendes Ziehen in Uruhas Unterleib aus und ließ ihn erbeben. Aois Zunge leckte kurz entschuldigend über das rote Mal, das sich schon jetzt wunderbar leuchtend auf der blassen Haut abzeichnet. Uruha schnaubte.

Warum musste er auch immer ein Zeichen auf ihm hinterlassen? So würde es wieder ewig dauern, bis er was Passendes gefunden hätte, um den Fleck darunter zu verstecken. Aoi wusste doch, dass es ihn nervte, im Raum einen Schal tragen zu müssen.
 

Aoi, der Uruhas Mund mit seinem fest und energisch verschloss, holte ihn ziemlich schnell ins Hier und Jetzt zurück.

„Hey, Kopf aus. Sonst wird das nichts mit der Entspannung, Süßer.“

Scheinbar hatten ihm seine Gedanken schon wieder deutlich im Gesicht gestanden. Uruha musste lächeln, als er den prüfenden Blick auf sich ruhen sah. Wie gut sein Liebster ihn doch kannte.

Er zog Aoi ein Stück am Hemdkragen zu sich heran und hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe.

„Okay… dann lass alle Gedanken aus meinem Kopf verschwinden.“
 

Dann ließ er sich zurücksinken und schloss seine Augen, wusste er doch, dass Aoi nichts lieber tat, als ihm diese Bitte zu erfüllen. Er spürte, wie Aoi seine Beine sanft auseinanderdrückte, um selbst dazwischen Platz zu finden. Die leicht rauen Hände, begleitet von warmem Atem, wanderten über seine Haut und schickten Uruha kleine Stromstöße durch den Körper, während sein Freund wirklich jede Stelle an ihm zu erkunden schien. Und obwohl diese Berührungen sich dem Ziel immer weiter näherten und ihn damit stetig wilder machten, fühlte er deutlich, wie er trotz allem entspannter und ruhiger wurde. Nicht ruhiger im eigentlichen Sinne, denn sein Körper war erfüllt von Erregung und ließen ihn erwartungsvoll immer wieder Aois Berührungen entgegen zucken. Sein Herz raste und sein Körper sehnte sich nach mehr – mehr von Aoi. Er wollte ihn spüren. Überall.

Nein, ruhig war sein Geist, eine wohltuende Leere erfüllte ihn. Seine Gedanken schwiegen, obwohl er allem nachspürte, was Aoi mit ihm tat. Eine Woge innerer Zufriedenheit floss durch seine Adern.

Sein Liebster wusste einfach am besten, wie er ihn so zum Stöhnen bringen konnte, dass er alle Gedanken vergaß und sich nur noch seinen Gefühlen, der Lust auf mehr und seiner inneren Entspannung hingeben wollte.
 

Diese Mischung war einfach perfekt für ihn. Für sie beide.
 

– Ende –


Nachwort zu diesem Kapitel:
Erstmal vielen lieben Dank fürs Lesen :) Über Feedback würde ich mich natürlich sehr freuen^^
Aktuell ist die Geschichte noch nicht ganz fertig, aber sie steht schon zu 90% auf dem Papier, wobei sich die Charaktere gerne immer wieder selbstständig machen und ich sie erst einmal wieder einfangen muss *lach*
Vermutlich wird dies meine längste Fanfiction, da ich mittlerweile schon die Wörteranzahl meiner bisher umfangreichsten Geschichte überboten habe. Nach aktuellen Stand werden es vermutlich 10 oder 11 Kapitel ^^
Bin selbst gespannt, was rauskommt, da ich ja sonst eher der One-Shot Verfechter bin *lach*

Also viele Grüße
Luna <3
Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Anmerkung: „exhilaration“ ist hier im Sinne von „Hochgefühl“ zu verstehen ^^
Über Feedback würde ich mich natürlich wie immer freuen.

Liebe Grüße
Luna
Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo ^^
Endlich gings weiter... eigentlich mag ich das Kapitel nicht so wirklich, aber es musste halt rein, um Uruha mal etwas in die richtige Richtung zu treten *lach* Und eigentlich mag ich Ruki hier ganz gern. Aber irgendwie... naja... ich kann nicht benennen, was mich stört. Ich hoffe, es hat trotzdem gefallen ^^
Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo, ich schon wieder ^^
Da ich das Kapitel irgendwie ganz gerne mag, musste ich es einfach gleich mit hochladen.
ich hoffe es gefällt. ^^
Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, bald ist es geschafft. Manchmal ist Uruha wirklich arg schwer von Begriff, aber ich denk jetzt hat er es langsam gerafft *lach* Lange Leitung und so. Es folgen noch drei Kapitel inkl. des Epilogs, die insgesamt länger werden, als die letzten. Also ein bisschen Durchhaltevermögen braucht es noch. ^^

Liebe Grüße
Luna
Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:

Yeah! Sie haben es hinbekommen, hurra! *lach* Hat ja auch echt lange gedauert, sorry ^^; Irgendwie war dieses Ende (es folgt übrigens noch der Epilog) gar nicht so geplant. Aber nachdem ich mich vor einer Weile mal mit den Neujahrstraditionen in Japan auseinandergesetzt hatte, hat mich der Gedanke an den ersten Sonnenaufgang nicht mehr losgelassen und ich fand das einfach unheimlich schön. Auch wenns für die beiden nicht ganz so perfekt lief (wäre ja zu viel des Guten gewesen), mag ich das Ganze dennoch recht gerne ^^
Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:

So das war's jetzt endgültig.
Nach dem Motto: Meine tägliche Portion Kitsch gib mir heute *lach* Ich musste einfach noch mal etwas dick auftragen, sorry.
Über Feedback würde ich mich sehr freuen, gerade unter dem Gesichtspunkt, ob man dem Ganzen soweit folgen konnte. Es ist bisher meine längste Geschichte, die in meinem Kopf irgendwann im September/Oktober 2019 Gestalt annahm. Und irgendwie bin ich auch froh, sie beendet zu haben, da sie mich manchmal schon fertig gemacht hat, wenn die Charaktere sich mal wieder verselbstständigt hatten *lach* Jetzt ist mein Kopf wenigstens wieder für neue Sachen frei.

Viele Grüße und vielleicht liest man sich mal wieder
Luna

PS: Wer Fehler findet, kann sie mir gerne als private Nachricht schicken, darüber würde ich mich sehr freuen, da irgendwie sich immer mal wieder einer vor mir versteckt ^^
Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (13)
[1] [2]
/ 2

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  -Pharao-Atemu-
2023-07-25T16:25:00+00:00 25.07.2023 18:25
Wirklich eine sehr süße und schöne FF 🖤
Antwort von:  QueenLuna
27.11.2023 08:33
Danke ^^
Von:  Janine3878
2020-02-16T14:16:50+00:00 16.02.2020 15:16
Ich liebe diese Story und auch deinen Schreibstil, wirklich schön. Längere Storys mag ich generell mehr. Also ich würde mich sehr freuen mehr von dir zu lesen, besonders natürlich über meine beiden Lieblinge (Aoi & Uruha)!!!! Lg
Antwort von:  QueenLuna
16.02.2020 15:43
Liebe Janine, ich freu mich wirklich sehr, dass dir meine Geschichte zu den beiden gefallen hat <3 Aktuell werden es wohl erstmal ein paar kürzere bleiben, wobei ich momentan einiges eher zu Toshiya und Dai im Kopf habe, die allerdings immer irgendwie zusammenhängen und noch zu Karyu und Zero *lach* Aber wenn ich wieder zu Gazette was schreibe, dann zu diesen beiden hier, wobei mir noch die Idee fehlt^^ aber ich arbeite dran

Liebe Grüße
Luna
Von:  YutakaXNaoyukis_Mika
2020-02-13T18:34:20+00:00 13.02.2020 19:34
Oh Mann! Jetzt will ich unbedingt den Rest noch lesen. Schade, dass es schon bald vorbei is. Aber ich freu mich auch, dass es Uruha schon besser geht. Dennoch bin ich gespannt, was in diesem kleinen süßen Päckchen ist, was Aoi ihm dagelassen hat und was er auch erst öffnen darf, wenn der Übeltäter wieder weg ist. Ganz böser Cliffhänger XD
Aber wieder einmal ganz toll geschrieben.
Danke für das tolle Leseerlebnis. ^_^
Antwort von:  QueenLuna
13.02.2020 21:19
oh wie schön, dass es dir gefällt, da freu ich mich <3
Hilfe, jetzt bin ich mir nicht sicher ob ich deine Erwartung bezüglich des Cliffhangers erfüllen kann, mal sehen^^"
Ich denk, werde am Sonntag das nächste Kapitel hochladen, vielleicht inklusive des Epilogs :)
Liebe Grüße und ich hoffe, es wird weiterhin ein schönes Leseerlebnis für dich!
Luna
Von:  Janine3878
2020-02-08T12:27:26+00:00 08.02.2020 13:27
Süß das Kapitel! Da hat es den armen Uruha aber ganz schön erwischt. Zu so ner schönen Massage von Aoi würde ich auch nicht nein sagen ;-)
Antwort von:  QueenLuna
08.02.2020 18:34
Vielen lieben Dank. Ja wer wehrt sich schon gegen eine Aoi Massage ^^;
Von:  YutakaXNaoyukis_Mika
2020-01-29T16:56:12+00:00 29.01.2020 17:56
So, nun komm ich auch endlich mal dazu, einen Kommentar zu schreiben.
Nur durch Zufall hab ich diese FF entdeckt und ich bin echt froh darüber. Sie liest sich flüssig und ist überaus interessant schon von Beginn an. Ich mag das Thema, auch wenn die Kombi Uruha und Aoi natürlich nicht mehr neu ist. Neu ist allerdings die Idee, wie du sie so Stück für Stück in eine Richtung lenkst, die sie beide ziemlich durcheinander bringt. Das gefällt mir ausgesprochen gut und ich kann das nächste Kapitel meist kaum erwarten, wenn ich ehrlich bin.
Anfangs tat mir Aoi ziemlich leid, weil er voll durch den Wind war, jetzt hab ich tierisch Mitleid mit Uruha. Wer weiß, wo das noch mit den beiden endet XDD
Aber interessant war auf jeden Fall die eine gewisse Nacht. Fand zwar schade, dass es dazu keine Details gab, aber so blieb ein wenig Kopfkino für den Leser übrig.
Alles in allem eine wirklich tolle FF.
*Daumen hoch*
Ich werd auf jeden Fall weiterlesen und begierig auf die weiteren Kapitel warten.

LG
Mika
Antwort von:  QueenLuna
30.01.2020 08:11
Oooh vielen lieben Dank für deinen ausführlichen Kommentar <3 hab mich sehr darüber gefreut.

Ja ich weiß dass die Kombi Aoi Uruha nichts neues ist, aber irgendwie sind sie meine Lieblinge weshalb ich jetzt mal in einer eigenen Story meinen Senf dazu geben musste *lach* es musste einfach raus ^^;

Dass ich die Nacht nix explizit beschrieben habe, liegt wirklich daran dass ich der Fantasie Freiraum lassen wollte damit sich jeder selbst ein Bild machen kann wie sich Aoi um Uruha kümmert ^^

Und schön dass dir die beiden etwas leid taten wobei Uruha wohl noch ein wenig vor sich hin Jammern darf aber er ist schon mal auf dem Weg zur Besserung *lach*

Also vielen lieben Dank nochmal <3

Liebe Grüße
Luna
Von:  Janine3878
2020-01-21T13:59:39+00:00 21.01.2020 14:59
Ach ja, wer kann Aoi schon widerstehen... Ich kann Uruha da sooooo gut verstehen!!! ;-)
Antwort von:  QueenLuna
21.01.2020 21:23
hach ja... das ist richtig xD unwiderstehlich halt *lach*
Von:  Uruha-Gazette
2020-01-17T20:42:54+00:00 17.01.2020 21:42
Moah musst du ausgerechnet an dieser Stelle aufhören? Das ist echt nicht fair T_T, dennoch voll niedlich das kapitel^^
Antwort von:  QueenLuna
18.01.2020 22:16
Aaah es tut mir leid. Also so ein bisschen... Wobei ne doch nicht xDD Spannung steigern und so :P und vielen lieben Dank für deinen Kommentar <3 freu mich, wenns dir gefällt ^^
Antwort von:  Uruha-Gazette
18.01.2020 22:18
Ich verfolge die FF auf jedenfall weiter^^
Von:  Becci_heresy
2020-01-10T18:27:40+00:00 10.01.2020 19:27
Ich mag wie du schreibst. Irgendwie hat es was beruhigendes, wie eine Katze streicheln 😂😂😂🤔


Ich bin gespannt wie es weiter geht, wobei ich eigentlich mehr ein Reituki - Fan bin. Ich bleib bei dir 💪
Antwort von:  QueenLuna
10.01.2020 21:32
Haha schön, dass ich mit meinem Schreibstil eine beruhigende Wirkung auf dich habe xD so lange du nicht einschläfst *lach*
Ich freu mich, wenn du dabei bleibst <3
Von:  Janine3878
2020-01-08T14:47:01+00:00 08.01.2020 15:47
Das Kapitel macht mal wieder Lust auf mehr, freu mich schon riesig auf die nächsten... Ganz liebe Grüße!
Antwort von:  QueenLuna
08.01.2020 16:28
Oh es freut mich riesig, dass dir das Kapitel gefallen hat <3 werd jede Woche eins hochladen ^^ werden insgesamt 14 Kapitel, wie ich grad gemerkt habe xD
Von:  Janine3878
2020-01-01T18:48:24+00:00 01.01.2020 19:48
Das Ende des Kapitels find ich ja besonders süß....
Antwort von:  QueenLuna
01.01.2020 23:27
oh vielen Dank ^^


Zurück