Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 1: Erkältung -------------------- Heißer Dampf von einem Sud aus Kamille und Salz in einer Schüssel drang ihr in die Lungen und sofort musste sie husten. „Ich mache das nicht mehr länger mit!“, knurrte sie, schob ein Tuch von ihrem Kopf und richtete sich auf. Angenehme Kühle umfing ihr verärgertes und mit Schweißperlen bedecktes Gesicht. Sie nahm das Tuch, unter dem sie gerade diese unangenehme Prozedur gegen Erkältung ertragen musste, und rieb sich damit ihr Gesicht trocken. Eigentlich durfte sie gar nicht hier sein! Nur weil sie sich vor zwei Wochen eine Erkältung zuzog, hatte man sie auf das elterliche Anwesen geschickt. Aber nicht damit sie sich kurieren konnte, sondern um die Ansteckungsgefahr für die Kronprinzessin und den Kronprinzen zu vermeiden. Wie absurd! Sie musste doch gerade jetzt in Versailles sein und noch mehr Augen auf Kronprinzessin halten und noch wachsamer den Kronprinzen bewachen! Denn vor etwa drei Wochen hatte Marie Antoinette einen schwedischen Grafen auf einem Maskenball kennengelernt und nun besuchte er sie öfters am Hofe. Das wäre nicht das Problem, wenn die zwei sich nicht zueinander hingezogen fühlen und ihre Gefühle offen zu Schau tragen würden.   „Noch ein, zwei Tage und dann seid Ihr wieder gesund, Lady Oscar.“ Ihr einstiges Kindermädchen Sophie nahm ihre Launen nicht ernst. Sie kannte sie von klein auf und wusste einfach, was gegen die Erkältung am besten helfen würde. „Ich mache für Euch noch eine Tasse heiße Milch mit Honig und einem Löffel Gänsefett!“   Oscar rümpfte angewidert mit der Nase. „Verschone mich bitte mit diesem grässlichen Gebräu!“ Seit zwei Wochen war sie erkältet und jeden Tag bekam sie die gut bewährte Medizin von Sophie, abgesehen von der, die Doktor Lasonne ihr hinterließ. Am frühen Morgen gab es Hühnerbrühe zu trinken, mittags Hühnersuppe mit Fleisch und Kartoffeln, abends heiße Milch mit Honig und Gänsefett oder Butter. Als wäre das nicht schon unerträglich genug, musste sie im Laufe des Tages Kamillen- oder Salbeitee mit Honig trinken. Eigentlich trank sie gerne Tee, aber doch nicht so etwas Grässliches! Und zuallerletzt, nach dem Abendessen, musste sie auch noch über eine Schüssel gebeugt den Dampf vom Sud aus Kamille und Salz zehn bis fünfzehn Minuten einatmen. Oscar kam es so vor, als machte Sophie es Spaß, sie derart zu quälen.   „Das ist nur zu Eurem Besten.“, merkte Sophie an und räumte die Schüssel und das Tuch vom Tisch weg.   Zu ihrem Besten? Sophies Methoden, um gesund zu werden, schienen noch schlimmer zu ertragen zu sein als die Erkältung selbst! „Wo ist eigentlich André?“, fragte Oscar ihr einstiges Kindermädchen. Ihr Freund hat sie schon seit gestern nicht mehr besucht. Das war nicht seine Art, sich von ihr den ganzen Tag fernzuhalten und zugegeben, begann sie ihn langsam zu vermissen.   „Er hat auch eine Erkältung abbekommen und macht das Gleiche auf seinem Zimmer wie Ihr. Ich habe ihm verboten, Euch zu besuchen, damit Ihr besser genesen könnt.“ Oder besser gesagt, damit er sie nicht ansteckt und sie wegen ihm nicht rückfällig würde. Sonst wäre die ganze Mühe umsonst und ihr Schützling würde noch länger auf dem Anwesen ihrer Eltern bleiben. Der Gedanke gefiel zwar Sophie, aber dass Lady Oscar noch länger krank wäre, lag auch nicht in ihrem Sinne. Also war sie erst einmal froh, dass die Erkältung so gut wie vorbei war.   „André ist auch erkältet?“, wunderte sich Oscar. Dann hatte sie ihn wohl angesteckt und das hieß, dass sie nicht so schnell nach Versailles kommen würden. Verdammt! Warum nur musste sie sich unbedingt jetzt erkälten? Es gab doch viel zu tun und als erstes musste sie die Kronprinzessin noch mehr beobachten, wenn dieser junger Graf aus Schweden sie besuchte! Sonst würde es nicht lange dauern, bis das erste Hofgetuschel aufkommt und sie sich mit Intrigen herumschlagen müssten. Hoffentlich war die Erkältung bei André nicht so schlimm wie ihre und sie würden schon bald wieder an dem Hof von Versailles sein können.   „Ja, Lady Oscar.“ Sophie nahm das Tablett, schmunzelte ihren Schützling an und verließ ihren Salon.   Oscar begleitete sie mit ihrem Blick, schnäuzte in ihr Taschentuch und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Sophie würde ihr noch dieses grässliche Gebräu aus warme Milch, Honig und Fett bringen und dann ins Bett gehen. Bis dahin würde etwa eine halbe Stunde vergehen und erst dann konnte sie ihr Zimmer unbemerkt verlassen. Sie spielte etwas auf ihrem Klavier, merkte wie Sophie zurückkam und für sie eine Tasse auf dem Tisch abstellte und wieder ging. Oscar brach die Musik seufzend ab, trank vehement die Milch und schlich dann bis zur bescheidenen Kammer ihres Freundes. Also, wenn André sie nicht besuchen kommen konnte oder durfte, dann würde sie das tun. Ihr ging es doch viel besser und zudem noch musste sie mit eigenen Augen sehen, wie schlimm er erkältet war. Sie klopfte leise an der Tür, wartete bis sie aufging und André mit rotem Gesicht und Augenringen sie hereinließ.   „Dich hat die Erkältung also auch erwischt. Das hat mir deine Großmutter gesagt.“ Oscar setzte sich auf einen Stuhl, der direkt neben Andrés Bett stand und verfolgte jede Bewegung ihres Freundes. André trug ein knielanges Nachthemd, sein langes Haar lag ihm offen über die Schultern und verübte wieder diese Wirkung von angenehmen Kribbeln in ihrem Bauch auf sie. Das war nicht das erste Mal, dass sie ihn so sah und dass war auch nicht das erste Mal, dass sie für ihn warme Gefühle bekam. Seit er ihr im vorletzten Monat ein besonderes Geschenk zu ihrem achtzehnten Lebensjahr gegeben hatte, fühlte sie eine gewisse Veränderung in sich und auch an ihm.   „Ja, das stimmt und sie hat mir deswegen verboten, dich zu besuchen.“ André schlüpfte, nachdem er die Tür geschlossen hatte, schnell unter seine warmen Decken und saß aufrecht, um sich mit ihr nicht im Liegen zu unterhalten. „Aber es geht mir besser.“, fügte er schnell hinzu, als er ihren besorgten Blick sah. „Und ich hatte auch kein Fieber.“   „Gott sei Dank.“ Oscar lächelte erleichtert und es kribbelte ihr sogleich in der Nase. Noch rechtzeitig holte sie ihr Taschentuch und nieste darein. „Ich werde froh sein, wenn das endlich vorbei sein wird.“, sagte sie nach dem Schnäuzen und verfrachtete ihr Taschentuch wieder weg.   „Ich auch. Aber wenigstens habe ich keinen Schnupfen.“ André schaute mitfühlend seine langjährige Freundin an. Ihre Nase war noch röter als ihre Wangen und sie tat ihm leid.   „Das stimmt.“ Oscars Nase verstopfte sich auf einer Seite und sie öffnete leicht ihren Mund, um besser atmen zu können. „Ich werde wohl gehen.“, krächzte sie. Ihre Kehle fühlte sich an wie Reibeisen. „Gute Besserung.“   „Danke, dir auch, Oscar.“ André schaute auf ihren leicht geöffneten Mund. Obwohl Oscars gerötetes Gesicht und schniefende Nase nicht gerade einen hübschen Anblick bot, trugen aber ihre schmale Lippen noch immer diese Süße, die er vor einigen Wochen kosten durfte … Er erinnerte sich an jenen Tag mit einem angenehmen Schauer, als wäre es gestern gewesen: Es hatte viel geschneit und das neue Jahr stand kurz vor der Tür. Genaugenommen war das der 25. Dezember und es gab noch etwas zu feiern – der achtzehnte Namenstag von Oscar. Eigentlich feierte kein Mensch den Tag, an dem man geboren wurde – es wurde meistens nur in den Büchern verzeichnet und dann vergessen. Aber nicht für André. Jedes Jahr brachte er eine kleine Gefälligkeit für seine Freundin und erinnerte sie daran, dass sie ein Jahr älter geworden war. Meistens waren das selbstgebastelte Sachen, wie ein weißbemaltes Holzpferd, oder ein Schneemann aus Wachsresten der Kerzen oder neue Metallsporen für ihre Stiefel. Diesmal brachte er nur eine Flasche Wein und zwei Gläser, um auf ihr Wohl zu trinken. Und sie tranken, lachten und scherzten bei den Erinnerungen an ihre fröhliche Tage der Kindheit und den Schabernack, den sie fast tagtäglich angestellt hatten - bis die Flasche irgendwann leer wurde, der Lachkrampf abebbte und zwischen ihnen plötzlich Stille eintrat. Nur das Knistern des Feuers im Kamin unterbrach sie, aber weder Oscar noch André hatten es wahrgenommen. Ihre Gesichter hatten sich genähert, ihre Lippen zärtlich einender berührt und Oscars: „Ich danke dir für dieses außergewöhnliche Geschenk, André!“, klang in seinem Kopf noch immer wie eine sanfte Melodie ... Vielleicht war diese völlig unbekannte Aktion und der Mut, sie zu küssen, dem Wein geschuldet. Oder weil er das schon immer tun wollte, aber sich nie getraut hatte, um Oscar nicht zu verärgern und ihre langjährige Freundschaft nicht aufs Spiel zu setzen. Dennoch hatte es ihr offensichtlich gefallen und zusätzlich in beiden ein Gefühl erweckt, den die Troubadouren aus früheren Jahrhunderten als Liebe zwischen zwei Menschen besangen.   Oscar hatte diesen Abend voller Magie, schnelleren Herzklopfen und flatternden Gefühlen auch nicht vergessen können. Ebenso seine trockenen und warmen Lippen, an denen noch der süße Geschmack vom Wein gehaftet hatte. Das hatte sie als besonderes Geschenk von ihm und als einmalige Sache empfunden. Vorerst. Aber ab den nächsten Tag begannen ihr Denken und ihre Gefühle auf eigenartiger Weise sich zu verändern. Sie betrachtete André nicht mehr als ihren Freund aus Kindertagen, sondern anders. Sie fing Dinge an ihm zu bemerken, denen sie früher keine Beachtung geschenkt hätte: Seine verstohlene Blicke in ihre Richtung zum Beispiel, wenn sie unterwegs in Versailles waren, schenkten ihr Zärtlichkeit und erinnerten sie immer wieder an diesen unschuldigen Kuss. Eigentlich wollte sie sich damit nur für seine Aufmerksamkeit und Freundschaft bei ihm bedanken. Stattdessen wurde sie Opfer ihrer weiblichen Gefühlen, die sie niemals zulassen durfte. Sie war doch zu einem hartherzigen Soldaten erzogen worden, war in eiserner Disziplin geübt und deswegen gab es keinen Platz für so etwas wie Liebe in ihrem Herzen. Oder etwa doch?   Sie schaute André an und wollte nicht gehen. Wie eine Porzellanpuppe blieb sie noch auf dem Stuhl, der vor seinem Bett stand, sitzen und rührte sich nicht. Einerseits wollte sie gehen, aber andererseits wollte sie noch bei ihm bleiben. Früher, als sie noch Kinder waren, hatten sie manchmal miteinander in einem Zimmer genächtigt, wenn es einem von ihnen schlecht gegangen war. So gesehen konnten sie das noch einmal tun. Es war doch nichts Schlimmes dabei, ihre alte Gewohnheit aufzufrischen und geschehen würde auch nichts. Vielleicht würde sie dadurch ihre Gefühle noch mehr verstehen und eine Lösung finden, um sie zu bewältigen. André war noch immer ihr Freund, dem sie vertraute und den sie zu gut kannte. „André, darf ich heute bei dir über Nacht bleiben? So wie in unserer Kindheit.“, fügte sie noch schnell hinzu, um Missverständnisse zu vermeiden.   Hatte er das jetzt richtig gehört? Oscar wollte bei ihm übernachten? So wie in ihrer gemeinsamen Kindheit? André standen diese Fragen im Gesicht geschrieben. Dennoch rückte er seinen Körper zur Seite und machte ihr Platz. „Natürlich, Oscar.“   Er war so schnell einverstanden? Seine Antwort kam Oscar eine Spur zu schnell, aber sie zog bereits ihre Hausschuhe aus und schlüpfte zu ihm vollkommen angekleidet unter die Decke. Sie lagen nur beieinander und berührten sich auf keine Weise. „Gute Nacht, André.“ Oscar schloss ihre Augen und in Kürze entrann ein leises Schnaufen von ihr. André betrachtete ihr Gesicht mit aufsteigender Wärme in seinem Körper. Aber es war kein Fieber. Es war eher eine magische Kraft der Anziehung und Sympathie zu ihr, die seit ihrem ersten Kuss und mit jedem Tag stärker wurden. Er berührte ihre Haarsträhne und schob sie von ihrem Gesicht, was sein Herz noch höher schlagen ließ. Sie sah wie ein Engel aus – unschuldig und rein. Er konnte dem Anblick nicht mehr länger widerstehen und hauchte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Dann legte er sich hin, schloss seine Augen und mit süßer Erinnerung an den einen Kuss von ihr, schlief er irgendwann ein.       Im Winter waren die Nächte länger und die Tage kürzer. Die Sonne ging immer so spät auf und wenn sie mit bleischweren Wolken verhangen war, blieb es draußen und im Haus noch immer düster. Aber egal ob Winter, Sommer, Frühling oder Herbst, Oscar wachte meistens um dieselbe Zeit auf. Sie zog sich auf ihren Ellenbogen hoch und schaute ihren Freund an. André schlief noch und Oscar wollte ihn nicht wecken. Seine ruhenden und entspannten Gesichtszüge im Schlaf zu beobachten, ließ ihr Herz wieder schneller schlagen und sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Sie berührte ihre Wange, wo er ihr in der Nacht einen Kuss hinterlassen hatte und dachte daran, ihm dies zurückzugeben. Zaghaft streichelte sie sein Haar an der Schläfe, schob es ihm aus dem Gesicht und schenkte ihm einen Kuss auf die Wange. „Wie du mir, so ich dir.“, flüsterte sie dabei und kaum dass sie ihr Gesicht von ihm entfernte, öffnete er seine Augen. „Guten Morgen, Oscar.“ Natürlich hatte er ihre Lippen auf seiner Haut gespürt, aber er würde nie etwas dazu sagen. Er würde lieber weiter in ihren meerblauen Augen wie ein Schiff versinken, solange sie noch so nah bei ihm war.   „Guten Morgen, André. Wie geht es dir?“ Oscar dachte derweilen an den lauwarmen Sommer, an die grünen Blätter an den Bäumen, wo der Wind rauschte, je mehr sie in Andrés Augen sah. Wie gerne hätte sie jetzt in dem sanften Gras gelegen, das Kitzeln des Windes auf ihrer Haut gespürt und den betörenden Duft der Wiesenblumen in sich eingeatmet. Warum nur musste gerade Winter herrschen? Hoffentlich würde der Februar bald vorüber sein, danach der März und der April könnten auch schnell vergehen und ab Mai würde ihr Wunsch wahr werden.   André lächelte verwegen. „Seit du bei mir bist, geht es mir viel besser.“, antwortete er auf ihre Frage und unterdrückte den Drang, ihre Wange zu streicheln, sich zu ihr hochzuziehen und ihre süßen Lippen zu küssen. Dafür waren sie beide noch nicht ganz gesund und den ersten Kuss betrachtete sie sicherlich als eine einmalige Sache. „Wie geht es eigentlich dir, Oscar?“   Ihre Nase war frei und die morgige Heiserkeit im Hals war auch verschwunden. Lag es etwa tatsächlich an den heilenden Methoden von Sophie? Oder weil sie heute bei André übernachtet hatte? Oscar erwiderte ihm das Lächeln. „Mir geht es auch besser.“   „Dann können wir bald wieder nach Versailles aufbrechen.“ Das war mehr eine Feststellung als eine Frage und Oscars Lächeln verschwand von ihren Lippen. Irgendwie wollte sie nicht mehr an ihre Pflichten als Kapitän der königlichen Garde erinnert werden. Zumindest dann nicht, wenn sie bei André war und seinen sanften Blick genoss. „Ich werde lieber gehen, bevor mich jemand so bei dir sieht.“, sagte sie, stieg aus seinem Bett und verließ sein Zimmer. Ihre Wangen glühten, ihr Herz pochte schnell und sie musste ihre Gefühle unbedingt in Ordnung bringen. Aber wie? Es gab doch keine Medizin dafür, wie bei einer Erkältung und würde es nie geben. Oscar ahnte das bereits und musste entweder es akzeptieren, sich darauf einlassen oder so tun, als fühlte sie nichts und das Leben eines Mannes wie gewöhnlich weiterführen. Kapitel 2: Liebesfieber ----------------------- Es war nicht so, dass sie dagegen ankämpfte, sie wollte nur etwas Sicherheit und Gewissheit bekommen. Unüberlegt auf ihr Herz zu hören, ihren weiblichen Gefühlen nachzugeben und sich darauf einzulassen, konnte nur Schwierigkeiten mit sich bringen. André wusste das. Schon alleine wegen ihrer außergewöhnlichen Erziehung konnte sie das Leben eines Mannes nicht wie ein Kleidungsstück ablegen und aus heiterem Himmel das Leben einer Frau führen. Das brauchte seine Zeit und die Zeit verstrich schnell. Zwar könnte es ein wenig schneller sein, aber er gehörte zu einem der geduldigsten Menschen und würde warten, bis Oscar mit ihren Gefühlen klar kam und ihre eigene Entscheidung traf.   Zwei Tage nach der Genesung war es jedoch noch zu früh, um sich zu entscheiden. Nur noch ein oder zwei Tage und dann konnten sie nach Versailles zurückkehren. Oscar wollte aber noch Klarheit zwischen ihr und André schaffen, bevor sie sich in ihre Pflichten stürzte und die Sache mit ihm in den Hintergrund rücken würde. Sie platzte in die Küche, wo André seiner Großmutter beim Aufwaschen des Geschirrs vom Mittagessen half. „André, lass uns ausreiten!“ Sie und ihr Freund waren bereits wieder gesund und konnten endlich das Haus verlassen.   André lächelte breit. „Ja, natürlich, Oscar!“ Nach Oscars Übernachtung bei ihm waren schon drei Tage vergangen und weder Oscar noch er hatten weder Schnupfen noch Husten. Also konnten sie wieder nach draußen gehen und frische Luft schnappen. Das hatten sie seit der Erkältung schon lange nicht mehr gemacht.   Allerdings war da jemand einer ganz anderen Meinung als sie. „Auf gar keinen Fall!“, empörte sich Sophie. „Oder wollt Ihr wieder krank werden, Lady Oscar?“   „Morgen brechen wir wieder nach Versailles auf und ob wir deshalb einen Tag früher nach draußen rausgehen, macht keinen Unterschied.“ Oscar war es leid, zuhause zu sitzen und nicht einmal vor der Tür gehen zu können, ohne dass Sophie gleich einen Aufstand machte. Man könnte ja sich wieder erkälten! Oscar richtete ihr Augenmerk sogleich auf ihren Freund. „Also, André, du kannst dich schon mal anziehen und die Pferde satteln. Ich komme gleich nach.“   „Nein, Lady Oscar, wartet!“, wand Sophie ein, aber ihr Schützling war schon weg. Diese Kinder! Sie drohte ihrem Enkel mit Zeigefinger: „Wenn sie sich wieder erkältet, dann wirst du dafür zu Verantwortung gezogen, weil du sie nicht vor ihrem Vorhaben abgehalten hast!“   „Ja, Großmutter.“ André war froh, die Küche zu verlassen und in seinem Zimmer die warmen Wintersachen und Mantel anzuziehen. Dann ging er in den Stall und sattelte die Pferde. Bald kam Oscar, half ihm bei den letzten Handgriffen und dann ritten sie zu dem vereisten See, in dem Oscar vor mehr als zwölf Jahren beinahe ertrunken wäre. Sie stiegen ab und führten ihre Pferde zu dem kleinen Jagdhäuschen. André band die Pferde an einen Pfosten. „Wollen wir hier fechten?“   „Nein. Ich muss dir etwas sagen.“ Oscar bewegte ihre Füße und André ging neben ihr her. „Dann sprich dich aus. Ist das wegen uns?“   „In gewisser Weise, ja.“ Oscar warf ihm einen Blick von der Seite zu. Konnte er etwa ihre Gedanken lesen? Oder war das nur ein Zufall, weil ihn die gleichen Gefühle beschäftigten wie sie? Sie hatten bisher nicht darüber gesprochen, aber sie spürten, dass in dem anderem das Gleiche vorgehen musste. Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, während sie das kleine Jagdhaus am See umrundeten.   André öffnete die Tür, ließ sie eintreten und ging selbst herein. Bis auf einen Tisch, eine breiten Bank und Jagdgeräten, befand sich hier nichts. Weil die Familie der de Jarjayes nicht so viel zum Jagen herkam, blieb das Haus unbenutzt. Oscar und André hatten es deshalb noch in ihrer Kindheit für sich beansprucht und verbrachten gerne ihre Zeit hier. „Ich bin ganz Ohr.“ Er schloss die Tür und kam zu ihr. Diese himmelblauen Augen und blutrote Lippen … Im Kontrast zu ihrer sahneweißen Haut und goldblonden Locken, die aus ihrer Kapuze hervor lugten, zeichneten sie sich wie kleine Saphire und Rubine ab. Er hätte sie gerne an der Wange gestreichelt, ihr darauf einen Kuss gegeben und von ihren süßen Lippen gekostet. Das war zwar ein passender Ort dafür, aber nicht der passende Zeitpunkt. Oscar wollte über sie beide reden und womöglich auch über die tiefen Gefühle, die sie zueinander empfanden, sich aber bisher noch nicht gestanden haben. Die Aufregung in André wuchs. Entweder würden seine Träume wahr werden und Oscar ihn zum glücklichsten Menschen auf Erden machen, oder ihm das Herz in Stücke reißen, weil sie dafür nicht bereit war.   Oscar lehnte sich mit ihrem Gesäß an der Tischkante, sah André vor sich stehen bleiben und konnte einfach nicht mehr den Blick von ihm abwenden. Sogar hier, in den frostigen und vereisten Holzwänden, schenkte er ihr Wärme, ohne etwas getan zu haben. Obwohl doch. Er hatte ihr mit seinem ersten Kuss an ihrem achtzehnten Namenstag ein Gefühl gegeben, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Und vor drei Tagen, als sie bei ihm übernachtete, hatte er ihr einen Kuss auf die Wange geschenkt und dabei ihr Herz zum Schmelzen gebracht. Er dachte wohl, sie würde das nicht merken, aber er hatte sich geirrt. Sie hatte alles bemerkt und hatte mit jedem Tag, an dem sie sich sahen, nach einer Lösung gesucht und gefunden. Hoffentlich würde das die richtige Entscheidung sein, die weder sie bereuen noch ihn verletzen würde. Wie sollte sie ihm das am besten sagen? „André … es kann zwischen uns nicht mehr so weitergehen…“ Der Anfang war schon mal gut gewählt, aber für Weiteres fehlten ihr die Worte, denn André machte eine Bewegung, die sie innehalten ließ. Seine Hände schoben ihr die Kapuze vom Kopf und enthüllten ihre ganze Haarpracht. „Ich weiß.“, sagte er in so einem zarten Ton, dass sie glaubte, Schmetterlinge im Bauch flattern zu spüren. Er zog sie wieder in seinen Bann und sie konnte nicht anders, als ihm zuzuhören: „Ich weiß, dass du das Gleiche fühlst wie ich und deshalb ...“ André sprach nicht weiter. Er setzte alles auf eine Karte, er konnte nicht mehr warten, bis sie ihre Worte zu Ende aussprach. Sein Blick wurde sanfter, liebevoller und spiegelte die Zuneigung wider, die er ihr schon öfters in unbeobachteten Momenten geschenkt hatte und die eine Sehnsucht nach ihm in ihr hervorrief.   „Deshalb was?“, fragte Oscar, aber André sagte nichts mehr. Stattdessen näherten sich ihre Gesichter und ihre Lippen berührten sich. Wie damals beim ersten Mal: zart, betörend und einfühlsam. Diesmal aber war kein Wein im Spiel. Alles, was Oscar ihm sagen wollte, verlor an Bedeutung. Aber vielleicht war das genau das, wofür sie einfach keine Worte gefunden hatte, im Gegensatz zu André. Irgendwie spürte sie Erleichterung, dass er ihr in dieser Hinsicht die Entscheidung abnahm. Sie war nicht gewohnt oder gar unwissend, wie man mit diesen weichen Gefühlen und Zuneigung umging. Er dagegen schon. Oscar öffnete ihre Lippen und seine Zunge verflocht sich langsam mit der ihren wie in einem Zopf. Ihr Körper glühte, ihr Herz schlug rasend gegen ihren Brustkorb und irgendwo in der Leistengegend stieg ein Verlangen hoch, das sie schon oft in diesen Tagen nach ihrer Erkältung und in seiner Nähe gespürt hatte. Einfühlsam massierte seine Zunge die ihre und nahm ihr fast den Atem. Ihre Hände schoben sich unter seinen Mantel und ruhten an seiner Hüfte. Seine Hände dagegen lagen um ihren Nacken und streichelten ihr das schulterlange Haar.   Die Zeit blieb wieder für einen kurzen Augenblick stehen, das schnelle Atmen in der frostigen Stille erzeugte kleine Atemwolken und ihre Wangen überzogen sich mit rötlicher Farbe, als sie ihre Lippen voneinander trennten. Gesättigt von dem Kuss lehnte Oscar ihre Schläfe an Andrés Brust und hörte sogar durch seine dicke Winterkleidung, wie schnell sein Herz schlug. André legte um sie seine Arme und vergrub seine Nase in ihrem weichen, aber kaltem Haar. Oscar schmiegte sich an ihn und fühlte in sich diese Geborgenheit, die sie beflügelte und zeitgleich in ihr schmerzte. Das war aber ein angenehmer, gut ertragbarer Schmerz, der ihr kein Leid zufügte. „André, sag mir, was das ist?“   „Ich weiß es nicht, aber es ist schön.“ Sachte nahm er sie bei den Armen, schob sich etwas von ihr und schaute ihr Gesicht an, als versuche er dort etwas zu entdecken. „Du bist wunderschön, Oscar.“   Obwohl ihr seine Worte schmeichelten, verspürte sie ein Bedauern. Vielleicht hatte sie etwas anderes von ihm erwartet. Aber was? „Wir sollen lieber nach Hause gehen und es herausfinden.“ Sie schob sich an ihm vorbei, verließ das Haus und ging zu den Pferden.   André folgte ihr auf dem Fuße. Ohne Eile banden sie ihre vierbeinigen Gefährten ab, stiegen in die Sattel und ritten im gemächlichen Gang an. Das verwunderte ihn ein wenig. Oscar besaß eigentlich ein hitziges Temperament und wenn ihr etwas nicht passte, sei es auch ihre eigenen Gefühle, flüchtete sie meistens wütend davon. Diesmal jedoch passierte nichts dergleichen. Tief in Gedanken versunken, hielt sie nicht einmal die Zügel fest und André ritt direkt neben ihr einher. „Oscar, hatte es dir überhaupt gefallen?“, wollte er mitten auf dem Heimweg wissen und als sie schon fast die Hälfte der Strecke hinter sich ließen. Es hatte eine Weile gedauert, bis er ihr diese Frage ganz vorsichtig stellte. Er dachte, wenn er sie schon nicht im Jagdhaus verstimmt hatte, dann würde Oscar jetzt heftig ihrem Pferd die Sporen geben und von ihm davon galoppieren. Aber er täuschte sich. Er hatte sie zwar aus ihren Gedanken gerissen, aber weder Wut noch Zorn konnte er in ihrem Gesicht erkennen. Das konnte ein gutes Zeichen sein.   „Ja.“, gab Oscar zu, ohne ihn anzusehen. „Es war schön. Aber wir dürfen das bestimmt nicht. Wir sind doch kein Liebespaar.“ Jetzt nahm sie die Zügel fester in ihre behandschuhten Hände, gab ihrem Pferd die Sporen und galoppierte davon.   André seufzte schwer. Anscheinend hatte er sich getäuscht und zu früh gefreut. Oscar ließ wieder einmal sich nichts anmerken und er war darauf reingefallen. Im Stall wurde Oscars Pferd bereits von anderen Stallburschen abgesattelt. „Du sollst sofort zu Lady Oscar kommen, wenn du hier bist.“, sagte einer von ihnen und übernahm sein braunes Pferd.       Sanfte Melodie von einem Klavier erfüllte die Gänge des Anwesens der de Jarjayes, als André das Hauptgebäude betrat, seine Stiefel vom Schnee abklopfte und die Treppe nahm, die in das obere Stockwerk führte. Vor der Tür zu Oscars Gemach blieb er kurz stehen und lauschte der Musik zu. Das half ihm, sich zu entspannen und seine Gefühle zu ordnen, die er gerade für Oscar mehr und mehr empfand. Er musste es ihr unbedingt sagen, sonst würden sie sich beide damit quälen und nie einen Weg finden, wie sie damit umgehen sollten. Es gab so viele Möglichkeiten und doch müssten sie sich nur für eine entschieden. Vor allem Oscar, weil für sie das keine einfache Sache war. Eine Truppe Soldaten zu befehligen oder mit dem Degen fechten und mit der Schusswaffen umgehen, war für sie tausendfach leichter als der Kampf gegen ihre weiblichen Gefühle, den sie nie gewinnen würde. Die Natur konnte man doch nicht überlisten und das würde er ihr sagen, falls sie sich gegen ihn entscheiden sollte.   André atmete tief ein und aus, sammelte seinen Mut, drehte den Türknauf und trat in ihr Zimmer ein. Sofort brach Oscar das Klavierspiel ab und schaute fragend zu ihm. Sie war bereits in ihre warmen Hauskleider umgezogen und wartete, bis er sie erreichte. Fühlte sie sich von seiner Ankunft etwa gestört? Aber sie hatte doch den Stallknechten gesagt, dass er zu ihr kommen sollte. Jetzt sah sie jedoch danach aus, als hätte sie das schon vergessen. Wie dem auch sei, er würde es ihr trotzdem mitteilen. „Ich weiß, was das ist, Oscar.“ Er schloss die Tür hinter sich und kam zu ihr.   Oscar erhob sich, um auf der gleichen Augenhöhe mit ihm zu sein, wobei sie noch immer einen Kopf kleiner war als er. „Was?“   André blieb direkt vor ihr stehen. Jetzt oder nie. „Das ist Liebe.“   „Liebe?“ Natürlich wusste Oscar was Liebe ist, obwohl sie selbst damit noch nicht konfrontiert wurde, bis vor wenigen Tagen, aber darum ging es ihr nicht. Es war gut möglich, dass André recht hatte, denn der Kuss im Jagdhaus und die Hitze in ihrem Körper hatten wieder diese schönen Gefühle der Zuneigung zu ihm hervorgerufen. Sie konnte es nicht leugnen, dass sie noch mehr davon hätte, aber es gab gewisse Hindernisse und die musste sie mit ihm klären. Deswegen hatte sie den Stallknechten gesagt, dass er sofort zu ihr kommen sollte, sobald er auf dem Anwesen war.   „Ja.“, bestätigte er und bei seinem liebevollen Blick, stach es ihr schmerzlich im Brustkorb. Wie sollte sie ihm das nur sagen, ohne ihn zu verletzen? Aber das musste sie tun, denn sonst würde sie selbst keine Ruhe finden und ihm etwas vorzugaukeln, wollte sie auch nicht. „André, verstehe mich nicht falsch, aber wir dürfen uns nicht lieben, weil ich das Leben eines Mannes führe.“ Ihre Worte trafen ihn wie einen Faustschlag mitten ins Gesicht. Sie merkte, wie seine Augen, die gerade eben voller Liebe geglänzt hatten, sich mit Schmerz füllten. Ihr blutete selbst das Herz, aber das waren die harten Tatsachen, die nicht ausgeschlossen werden durften.   André dachte, er stürzte in einen Abgrund und würde gleich sterben. „Aber du bist eine Frau, Oscar.“, murmelte er gebrochenen Herzens und fügte noch leise hinzu: „Ich sehe immer in dir die Frau.“   Wie bitte? Oscar missverstand ihn. Das Blut erhitzte in ihren Adern und ihr Gesicht überzog sich mit Zornesröte. „Wie stellst du dir das denn vor?“, fauchte sie ihn gedämpft an, um nicht laut zu schreien und womöglich die Dienerschaft oder gar Sophie damit in ihr Zimmer zu locken. Sie wollte das ganz alleine mit André klären, ohne dabei gestört zu werden. „Soll ich jetzt deiner Meinung Frauenkleider tragen, einen unliebsamen Mann heiraten und Kinder in die Welt setzen? Willst du das von mir?“ Ihr kamen ihre Schwestern in den Sinn, die schon längst zwangsverheiratet waren und bestimmt schon einen Haufen Kinder hatten.   „Nein, Oscar, ich werde dich niemals zu etwas zwingen, was du nicht willst!“ André war erschrocken. Was dachte sie denn von ihm?! Der Schmerz, den sie ihm zuvor zugefügt hatte, rückte in den Hintergrund. „Ich werde deine Entscheidung, egal welche das ist, akzeptieren, denn ich liebe dich!“   André liebte sie? Und er nahm sie so an wie sie war, obwohl er in ihr eine Frau sah? Oscar fühlte sich auf einmal miserabel. Wie konnte sie sich nur anmaßen zu glauben, dass er etwas von ihr verlangen würde? Er hatte doch niemals ihre Entscheidungen in Frage gestellt und stand ihr immer zur Seite, wenn sie ihn brauchte. Der Zorn verwandelte sich in Gewissensbisse. „Verzeih ...“, murmelte sie und lehnte sich unverhofft an ihn. So ähnlich wie in dem Jagdhaus am See und als wäre die Kraft aus ihr gewichen. „Ich kann nicht mehr.“, gestand sie ihm in seinen Mantel und schlang ihre Arme um seine Mitte, als befürchtete sie, er würde gleich gehen.   „Was hast du, Oscar?“ André zog sie an sich und ihr Körper kam ihr viel zerbrechlicher vor, als jemals zuvor. Wie konnte der General nur so einem zarten Geschöpf wie Oscar, so eine schwere Last eines Soldaten auferlegen? Aber vielleicht war das auch Glück. Denn wenn ihr Vater sie wie ihre Schwestern erzogen hätte, dann hätten sie sich niemals kennengelernt.   „Die Liebe …“, entrann es Oscar leise von den Lippen. „Ich glaube, du hast mich mit der Liebe angesteckt ... Aber ich kann und darf nicht lieben … Dafür wurde ich nicht erzogen.“   Andrés Herz füllte sich einerseits mit Freude und andererseits, tat ihm Oscar leid. Sie liebte ihn auch, aber konnte das nicht zulassen, weil ihre Erziehung dies verbat. Es lag an ihm, den Weg zu zeigen und es lag an ihr, sich für oder gegen die Liebe zu entscheiden. „Doch, Oscar, das kannst du.“, flüsterte er in ihr Haar und hauchte ihr einen zärtlichen Kuss auf den Scheitel. „Nur darf das niemand erfahren.“   Eine heimliche Liebe also, verstand Oscar und überlegte. Das wäre durchaus machbar, sie müssten nur vorsichtig sein und ihre Liebe im Verborgenen genießen. Oscar hob ihren Kopf, schob sich etwas von ihm und schaute ihn an. „Kannst du mir dein Wort darauf geben, dass es nur zwischen uns bleibt?“   André lächelte und legte ihr eine Hand auf die Wange. „Natürlich, meine geliebte Oscar, ich schwöre es dir sogar bei meinem Leben!“   Oscar fühlte sich jetzt viel besser, schmiegte ihre Wange in seiner Handfläche und genoss diese Wärme der Zuneigung, die ihr Körper gerade durchströmte. „Ich liebe dich auch ...“, gestand sie, stellte sich auf Zehenspitzen zu ihm und flüsterte noch, bevor sie ihn auf den Mund küsste: „Mein André, lass mich deine Liebe spüren und bleibe immer bei mir …“ Kapitel 3: Am Hofe von Versailles --------------------------------- Heute schlief er bei ihr. Wie ein Dieb stahl er sich nach Mitternacht in ihre Gemächer und dann in ihr Schlafzimmer. Die Kerzen waren bereits gelöscht und nur der Schein des Feuers im Kamin zeigte ihm den Weg bis zu ihrem Bett. Oscar saß unter der warmen Daunendecke und wartete auf ihn. „Wo warst du so lange?“, fragte sie ihn, als er sich in der Bogenöffnung zu ihrem Zimmer zeigte. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“ Nachdem sie sich heute ihre Liebe gestanden hatten, beschlossen sie, die letzte Nacht zusammen zu verbringen, bevor sie am nächsten Tag nach Versailles aufbrachen.   „Entschuldige, Liebes, ich wollte sicher gehen, dass wirklich alle im Haus schlafen. Du weißt, meine Großmutter geht manchmal später ins Bett als sonst.“ André setzte sich auf die Bettkante und zog seine Hausschuhe aus.   „Und?“ Oscar öffnete die Decke und ließ ihn zu sich.   André schlüpfte angekleidet zu ihr, legte sich mit ihr gemeinsam hin und sie schmiegten sich aneinander. Im Winter gingen sie immer in Hose und Hemd ins Bett. „Alle schlafen tief und fest.“ André schenkte ihr sogleich einen Kuss auf den Mund und Oscar erwiderte ihn. Und wieder stieg das altbekannte Verlangen in ihnen, breitete sich im ganzen Körper aus und endete mit einem Ziehen und Pulsieren in der Leistengegend. In Andrés Hose wurde es härter und in Oscars feucht. Auch wenn ihre Herzen schmolzen und nach noch mehr verlangten, durften sie nicht nachgeben und sich vollends vereinen. Oscar, obwohl sie ihn sehr liebte, war trotzdem noch nicht bereit dazu und André wollte sie weder bedrängen noch ihr weh tun. Es war zwar schwierig, fast kaum auszuhalten, aber sie hielten durch und behielten die Oberhand über ihr Verlangen. So blieb der einfühlsame Kuss die einzige Leidenschaft zwischen ihnen. Bis zum Morgen und dann würden sie am Hofe von Versailles wieder eine geordnete Distanz zwischen sich halten und sich wie gute Freunde verhalten. Nicht mehr und nicht weniger. „Ich liebe dich, Oscar.“, flüsterte André, nach dem sie beide vom Kuss gesättigt waren.   „Ich liebe dich auch, mein André.“ Oscar schmiegte sich mehr an den warmen Körper von ihrem Geliebten und schloss ihre müde Augen. „Gute Nacht.“   „Gute Nacht, Liebste.“ André legte um sie einen Arm, schloss auch seine Augen und zusammen mit ihr schlief er ein. Als er aufwachte, war Oscar schon aufgestanden und machte die Morgenwäsche. Es war noch fast dunkel im Zimmer und doch erkannte er ihren schmalen Körper an dem Spiegeltisch. Über eine Schüssel gebeugt, wusch sie ihr Gesicht, Hals und Dekolleté. André beobachtete jede ihre Bewegungen, während er aus dem Bett stieg, zu ihr ging und ihr ein Tuch reichte. „Guten Morgen, meine Liebe. Hast du gut geschlafen?“   „Guten Morgen, Geliebter.“ Oscar nahm das Tuch und trocknete sich damit ab. „Ich habe gut geschlafen, danke.“ Vor allem, wenn er neben ihr die Nacht verbracht hatte. Beim nächsten Mal, wenn sie wieder auf dem Anwesen sein würden, würde sie ihn in der Nacht besuchen.   „Ich werde dann gehen, mich umziehen und für uns Frühstück bringen.“ André schenkte ihr noch einen Kuss auf die Stirn, auf den Mund und verließ ihre Gemächer. Später, als er zurückkam, hatte sie schon ihre Uniform angezogen. Sie frühstückten gemeinsam, tauschten noch letzte Küsse miteinander aus und brachen dann nach Versailles auf. Dort wurde Oscar sofort zum König bestellt, von ihm begutachtet und mit Freude wieder zurück auf ihren Posten geschickt. Das Kronprinzenpaar freute sich auf ihre Rückkehr, besonders Marie Antoinette. Aber noch mehr freute sich die Kronprinzessin auf den Besuch des schwedischen Grafen, den sie letzten Monat auf einem Maskenball kennengelernt hatte.   Oscar merkte sofort, dass sie wegen der Erkältung wertvolle Zeit von zwei Wochen verloren hatte. Die Kronprinzessin und der schwedische Graf sahen sich mit verliebten Augen an und verbargen das nicht einmal. „Fällt dir am Verhalten der Prinzessin etwas auf, André?“, wollte Oscar wissen. Sie stand mit ihm abseits von Marie Antoinette, ihren Hofdamen und Graf von Fersen und beobachteten sie mit verschränkten Armen. Von Fersen erzählte etwas, die Damen lachten in ihre Fächer und die Kronprinzessin ließ ihre Augen nicht von ihm. Ihre Wangen waren leicht gerötet, während er mit ihr liebäugelte.   „Nein, sie ist flott wie immer und albert herum.“, meinte André auf ihre Frage und ohne die kleine Gruppe der Menschen anzusehen. Seine Aufmerksamkeit galt nur Oscar, auch wenn ihm bewusst war, dass seine sanften Blicke zu ihr von vorbeilaufenden Höflingen gesehen werden konnten. Aber wie sollte er das aushalten und so tun, als wäre er nur ihr Gefährte? Er war nicht einmal einen halben Tag mit ihr in Versailles und schon hatte er qualvolle Sehnsucht nach ihr, nach ihren weichen Lippen, flinken Zunge und ihrer Liebe...   Oscar hatte die gleiche Sehnsucht nach ihm, seinen starken Armen, die sie während des berauschenden Kusses an seiner Brust festhielten und ebenso nach seiner Liebe und Zuneigung. Jedoch nicht hier am Hofe von Versailles, wo Wände Ohren und Augen hatten. Jeder erdenkliche Fehler der Unaufmerksamkeit konnte ihre Liebe gefährden und deshalb trug sie standhaft eine undurchschaubare Miene und ihren eisigen Blick nach außen. „Ich finde, Marie Antoinette hat sich sehr verändert, als wir sie zuletzt gesehen hatten. Sie trägt ihre Gefühle offen zur Schau.“   André dämmerte es langsam, worauf Oscar hinaus wollte, entriss seufzend den Blick von ihr und schaute auch das Grüppchen an. „Meinst du in Bezug auf diesen Grafen?“   „Ja, der Graf ist ihr Schwachpunkt. Wenn man in Versailles aufrichtig ist, seine Gefühle nicht versteckt und die höfischen Regeln und Vorschriften nicht beachtet, dann ist man schnell in einer gefährlichen Situation.“, erklärte ihm Oscar und bezog sich damit auch ihre frische Liebe. „Marie Antoinette hat viele Feinde am Hofe, die nur darauf warten, dass sie einen Fehler macht. Sie werden alles daran setzen, um einen harmlosen Flirt, ihr zum Verhängnis werden zu lassen.“   Nun gut, so unrecht hatte Oscar nicht, gestand sich André ein. Nicht nur, was die Kronprinzessin und den Grafen aus Schweden betraf, sondern er bedachte auch sich selbst und seine Geliebte. Auf gar keinen Fall wollte er, dass Oscar seinetwegen in Verruf geriet. Also würde er mehr aufpassen und seine Gefühle verstecken, so wie seine Geliebte es tat.   Nahende Schritte und knirschende Stiefel auf Marmorboden erregten ihre Aufmerksamkeit. Ein Untergebener von Oscar, mit dem sie sich vor etwa vier Jahren um den Posten des Kapitäns in der königlichen Garde duelliert hatte, salutierte vor ihr. „Seid gegrüßt, Kapitän.“ Graf Victor Clement de Girodel war zweiundzwanzig Jahre alt und hatte seinen Vorgesetzten heute noch gar nicht gesehen. „Es freut mich Euch bei bester Gesundheit wieder anzutreffen, Lady Oscar.“   „Die Freude ist ganz meinerseits.“, antwortete Oscar kühl. Sie schätzte ihn als einen treuen Untergebenen, auf dem man sich verlassen konnte. „Gab es Zwischenfälle in meiner Abwesenheit?“   Girodel hob und senkte seine Schultern. „Nein, Lady Oscar, alles war in bester Ordnung.“   War sie etwa die einzige, der das Verhalten von Marie Antoinette und Graf von Fersen auffiel? „Seht Ihr das, Graf de Girodel?“ Oscar wies mit ihrem Kinn auf die Kronprinzessin und den schwedischen Grafen. „Was sagt Ihr dazu?“   „Graf von Fersen besucht Ihre Hoheit fast jeden Tag, verbring viel Zeit mit ihr und nach ein paar Stunden ist er wieder weg.“ Girodel hatte anscheinend keine so ausgeprägte Beobachtungsgabe wie seine Vorgesetzte.   „Das wollte ich nicht wissen.“, bemerkte Oscar stirnrunzelnd und ein wenig hinweisend. „Ist Euch aufgefallen, wie die beiden sich ansehen?“   Ach das … Natürlich hatte es Victor das eine oder andere Mal bemerkt, aber er machte sich nichts daraus. Es war nicht seine Aufgabe, der Kronprinzessin nachzulaufen und auf sie aufzupassen. Seit er das Duell vor vier Jahren gegen Oscar verloren hatte und sie der Kapitän der königlichen Garde wurde, war sie diejenige, die Marie Antoinette im Auge behalten und auf sie aufpassen sollte. Er dagegen vertrat sie nur während ihrer Abwesenheit in Versailles und sorgte für Ordnung unter den Soldaten der königlichen Garde. „Ja, Lady Oscar, das ist mir in der Tat aufgefallen.“, berichtete er wahrheitsgemäß. „Und nicht nur mir. Unter Soldaten wird darüber geredet, dass der schöner Graf aus Schweden die Herzen einiger Damen am Hofe bereits erobert hat und sie wären gerne seine Favoritinnen geworden.“   Oscar wurde hellhörig. „Und Marie Antoinette?“, wollte sie auf der Stelle wissen. „Was reden sie über die Kronprinzessin?“   „Die Soldaten nicht viel, dafür aber vereinzelt Hofdamen, die von dem Grafen nicht beachtet werden, weil er mehr Augen auf ihre Hoheit hat.“ Girodel senkte auf einmal seine Stimme, damit nur Oscar es hören konnte: „Die besagten Damen tuscheln darüber, dass, wenn die Kronprinzessin nicht mit dem Thronfolger Frankreichs verheiratet wäre, sie schon längst mit von Fersen ins Bett gestiegen wäre.“   „Wie bitte?“ Oscar war empört. Warum war sie nur krank geworden?! Sie musste unbedingt dem Hofklatsch ein Ende setzen, bevor er sich weiter verbreitete und viele Menschen noch daran glauben würden! „Graf de Girodel, Ihr achtet noch mehr darauf, was die Soldaten reden!“ Sie drehte ihren Kopf und schaute kurz ihren Freund an. Nun gut, die Erkältung hatte sie und ihn zusammen gebracht, aber das war keine Entschuldigung für ihr Fernbleiben von der Kronprinzessin. „André, du beobachtest Marie Antoinette noch mehr!“   Wie? André war etwas überrascht. Was hatte er mit der Kronprinzessin zu tun? Seine Aufgabe bestand darin, an der Seite von Oscar zu sein und sie vor jeglichen Gefahren zu schützen! Besonders jetzt, wo sie sich liebten. Dennoch widersprach er ihr nicht, um sie nicht zu verärgern. Sie würde schon wissen, warum sie ihn damit beauftragte. „In Ordnung, Oscar. Aber was willst du jetzt machen?“   „Ich werde herausfinden, wer solche falschen Gerüchte verbreitet und denjenigen zu Verantwortung ziehen!“ Oscar marschierte los. Wo sollte sie anfangen? Es konnte jeder sein, der der Kronprinzessin nicht wohlgesonnen war. Die erste Person, die ihr einfiel, war die Mätresse des Königs. Nach der Vermählung zwischen Marie Antoinette aus Österreich und dem Thronfolger Frankreichs und der Ankunft in Versailles vor drei Jahren, durfte Madame Dubarry kein Wort an die zukünftige Königin von Frankreich richten, weil sie aus einfachen Verhältnissen stammte. Und weil sie noch zusätzlich eine Mätresse des Königs war, hatte die Kronprinzessin kein Wort an sie gerichtet. Im Laufe der Zeit wurde es zu einer stummen Auseinandersetzung und nicht nur der Hof, sondern ganz Frankreich hatte darüber offen getuschelt und Wetten gestellt, wer von beiden Damen denn gewinnen würde. Es wäre fast zu einem neuen Krieg zwischen Frankreich und Österreich gekommen, weil die Mätresse des Königs zu beleidigen, hieß auch den König selbst zu beleidigen. Zum Glück hatte die Kronprinzessin nachgegeben und am Neujahresfest 1772 Madame Dubarry angesprochen. Zwar waren das nur sieben Worte: „Es sind heute viele Menschen in Versailles“, aber der Streit war damit endlich beigelegt.   Oscar überlegte, ob das mit den falschen Gerüchten über Marie Antoinette und Graf von Fersen eine Art Rache von Seiten Dubarrys war? Sollte sie vielleicht gleich zu ihr gehen und sie damit konfrontieren? Aber würde das nützen? Die Mätresse des Königs würde sicherlich alles abstreiten und sie würde aus diesem Grund bei ihr nicht viel erreichen. Und am Hofe gab es noch viele andere Menschen, die die österreichische Kronprinzessin nicht sonderlich mochten. Oscar seufzte und änderte ihre Richtung zu ihren Gemächern. Es blieb also nur zu beobachten und die Augen überall offen zu halten, denn es fehlten ihr noch zusätzlich Beweise, um die Verursacherin zu überführen und sie zur Rede zu stellen.       „Sie hat sich kaum verändert.“ Graf de Girodel schaute Oscar nach. Es war schön sie wieder in Versailles zu haben und er ging daher auf seinen Posten zurück. Den restlichen Tag beobachtete er die Soldaten, fand nichts heraus, was das Getuschel über die Kronprinzessin und den Grafen aus Schweden betraf. Die Männer erfüllten ihre Pflicht ordnungsgemäß und das wollte Girodel seinem Kapitän nach dem letzten Rundgang am Abend mitteilen. Er ging in die Gemächer von Lady Oscar, die Tür war nicht verschlossen und er trat nach kurzem Klopfen in den Salon ein. Er wollte sich melden, als er Stimmen aus dem Nebenraum hörte und stockte. Eine sanfte und weiche Frauenstimme drang an seine Ohren, nicht mehr wie ein Flüstern und doch verstand er alles: „André, du sollst jetzt lieber gehen ...“   War das etwa Lady Oscar? Oder hatte sich André eine Dreistigkeit erlaubt und tändelte mit einem der Dienstmädchen in ihrem Zimmer? Was erlaubte sich dieser Bursche eigentlich?! Und wo war Lady Oscar selbst?   „Ja, gleich, meine geliebte Oscar, nur noch ein letzter Kuss ...“ Es trat Stille ein und dann sagte André: „Ich liebe dich. Gute Nacht und schlaf schön.“   Girodel traute seinen Ohren nicht. Das war doch Lady Oscar! Aber was machte sie dort im verborgenen Nebenzimmer mit André? Nur küssen? Oder lief mehr zwischen den beiden? Aber wie konnte sich so eine stolze und hartherzige Lady wie Oscar auf einen mittellosen Diener einlassen? Nun gut, beiden waren zusammen aufgewachsen, aber zwischen ihnen lag trotzdem ein gewaltiger Standesunterschied!   „Gute Nacht, mein geliebter André, wir sehen uns morgen.“   Girodel hörte das Rascheln der Stoffe und das erweckte seine Lebensgeister. Er verschwand lautlos wieder aus dem Zimmer und konnte noch immer nicht richtig glauben, was er gehört hatte. Es sah danach aus, als wären sein Vorgesetzter und dessen Freund ein Liebespaar! Aber wie konnte dann so ein einfacher Diener das Herz von so einem hartherzigen Menschen erobern? Lag das etwa daran, weil sie beide seit Kindheit zusammen waren? Das beschäftigte Victor den ganzen Abend und er fand auf keine der Fragen eine Antwort.   Am nächsten Morgen erschien Lady Oscar mit André auf dem Übungsplatz, wo einige Soldaten, die gerade keinen Dienst hatten, den Kampf mit dem Degen übten. „Guten Morgen, Graf.“, grüßte Oscar ihren Untergebenen. „Ist Euch gestern unter den Soldaten etwas aufgefallen?“   „Guten Morgen, Kapitän.“ Girodel warf einen Blick auf sie und ein schmerzlicher Stich durchzog seine Brust, als er daran dachte, dass sie und André ein Liebespaar waren. Natürlich würde er niemals sagen, was er gesehen hatte und meinte deshalb: „Nein, es war alles ruhig.“   „Gut.“ Oscar wandte sich ab und ging mit André zu der Kronprinzessin.   Girodel sah ihr sehnsuchtsvoll nach. Lady Oscar verhielt sich wieder wie immer. Aber wie oft ließ sie ihre Maske aus eiserner Disziplin und Hartherzigkeit fallen? Denn gestern, als er sie und André belauscht hatte, klang ihre Stimme so zart und sanft, dass er beinahe dachte, es wäre eine andere Frau. Oder tat sie das nur in Gegenwart von André und wenn sie sich unbeobachtet fühlte? Das wäre durchaus möglich, dass sie eine heimliche Beziehung führten. Wenn man den Standesunterschied zwischen den beiden betrachtete, wäre die heimliche Affäre das Beste für sie. Oscar würde ihren Posten und ihren Rang verlieren, von ihrer Familie verstoßen und André drohte auch eine harte Strafe, wenn ihre Liebe an die Öffentlichkeit kommen sollte. Girodel beschloss Lady Oscar und André unterschwellig zu beobachten, um sicher zu stellen, was genau zwischen den beiden lief. Kapitel 4: Vorfall ------------------ André mochte es, Oscar im Schlaf zu beobachten, noch mehr denn je, seit sie etwa vor drei Monaten sich zum ersten Mal geküsst und vorletzten Monat sich die Liebe gestanden hatten. Sie sah immer so zerbrechlich und unschuldig aus. Das geschah meistens in verborgenen Momenten ihrer Zweisamkeit, wenn Oscar Dienstfrei bekam und mit ihm auf dem elterlichen Anwesen die Zärtlichkeit und Geborgenheit genoss. Heute befanden sie sich zwar wieder auf dem Anwesen der de Jarjayes, aber diesmal brannten ihm jedoch die Augen vor anlaufenden Tränen und sein Herz zerriss sich. Denn Oscar schlief nicht, sondern war seit gestern Abend bewusstlos. Sie hatte die Kronprinzessin von einem verrückten Pferd gerettet, sich dabei eine Verletzung am Arm zugezogen und dann auch noch ihn, André, vor der Hinrichtung bewahrt. Mutig und entschlossen hatte sie dem König die Stirn geboten, weil dieser ihren André für den Unfall der Kronprinzessin verantwortlich gemacht hatte und ihn dafür mit dem Tode bestrafen wollte. Sie war sogar bereit gewesen, für ihn zu sterben, wenn seine Majestät weiterhin auf das Todesurteil bestanden hätte. Zum Glück aber musste niemand sterben. Graf von Fersen war von Oscar anscheinend so beeindruckt, dass er sich für André auch eingesetzt hatte. Nach ihm erschien die Kronprinzessin höchstpersönlich und nahm die Schuld des Vorfalls auf sich. Erst nach ihrer Bitte, niemanden hinzurichten, ließ der König Gnade walten und als alle erleichtert aufatmeten, fiel Oscar bewusstlos direkt in Andrés Arme. Deshalb lag sie jetzt in ihrem Bett auf dem elterlichen Anwesen und nach der Untersuchung des Arztes blieb nur übrig zu beten, dass sie bald aufwachen möge.   André hatte die ganze Nacht an ihrem Bett gewacht und konnte kein Auge zumachen. Im Gegensatz zu seiner Großmutter, die auf der anderen Seite des Bettes auf einem Stuhl sitzend, kurz vor Morgengrauen eingeschlafen war. Ihr Oberkörper ruhte auf der Kante des Bettes, aber André beachtete sie nicht. Sein trauriger Blick galt nur Oscar. Wach bitte auf, meine Liebste…, flehte er in Gedanken immer und immer wieder. Was sollte er denn ohne sie tun? Sie war sein Leben, sein Sonnenlicht und ohne sie würde er keinen einzigen Tag mehr überleben – so sehr liebte er sie.   Draußen stieg die Sonne höher, erhellte alles mit ihren warmen Strahlen und die Gebete schienen nach langem Bangen und Warten erhört worden zu sein. Oscars Augen bewegten sich hinter geschlossenen Lidern. In André stieg sofort eine unbeschreibliche Glückseligkeit und Erleichterung auf. „Mach deine Augen auf. Kannst du mich hören, Oscar?“   Langsam öffneten sich ihre Augen und das erste, was sie sah, war der strahlende Gesichtsausdruck von ihrem André. „André, du?“ Ihre Stimme war noch schwach und dennoch verzauberte sie ihn mit einem Lächeln auf ihren süßen Lippen.   „Oscar, was für ein Glück, du bist gerettet!“ Seine Freude weckte sogar seine Großmutter, die sogleich ihr Taschentuch holte, unter ihrer Brille die Augen vor anlaufenden Tränen tupfte und dabei erleichtert schniefte: „Oh, Lady Oscar, ich bin ja so glücklich!“   Das war Oscar auch. Sie hörte zwar die Stimme ihrer einstigen Kinderfrau, aber ihre Augen waren nur auf ihren Freund und Geliebten gerichtet. „Ich habe von unserer Kindheit geträumt, André. Du hast nach mir mit einer ganz traurigen Stimme gerufen.“   „Ach, Oscar ….“ André wusste nicht mehr, was er sagen sollte.   Dafür aber seine Großmutter. Noch immer in ihr Taschentuch schluchzend, erhob sie sich auf noch etwas wackeligen Beinen. „Ich werde Eurem Vater und Graf von Fersen Bescheid sagen, dass Ihr endlich aufgewacht seid.“   „Graf von Fersen ist auch hier?“, wunderte sich Oscar und erinnerte sich sogleich, dass er eigentlich auch zur Rettung von André beigetragen hatte.   „Ja, er war genauso besorgt wie wir alle, Lady Oscar. Euer Vater hatte ihm ein Gästezimmer angeboten und der Graf hatte es angenommen. Sie beide sind bestimmt schon wach und frühstücken im Kontor Eures Vaters.“ Sophie verließ das Zimmer und André blieb mit Oscar alleine. Er half ihr beim Aufsitzen und stopfte ein Kissen hinter ihren Rücken. „Ist das dir bequem?“   „Ja, danke.“ Oscar lehnte sich zurück und hob ihren gesunden Arm, um mit ihren Fingern an Andrés Wange zu streicheln. Er lebte, er war bei ihr und sie hatte es geschafft, ihn vor der Hinrichtung zu retten! Wenn Graf de Girodel sie nach dem Unfall nicht bei der bewusstlosen Kronprinzessin aufgesucht und ihr die Verhaftung von André mitgeteilt hätte, dann hätte sie ihren Geliebten womöglich nie wieder gesehen. Welch ein Glück, dass auch Marie Antoinette sich später für ihn eingesetzt und somit den entscheidenden Punkt für seine Rettung beigetragen hatte. Dafür würde sie ihr ewig dankbar sein. Denn ohne André, seiner Liebe und Zuneigung, wäre auch ihr Leben sinnlos. „André … mein André ...“, flüsterte sie mit dem tief eindringlichen Blick in seine smaragdgrünen Augen und fuhr mit dem Daumen über die Kontur seiner vollen Lippen.   André sagte nichts. Worte waren jetzt überflüssig und Oscar wusste auch so, wie sehr er sie liebte. Sachte nahm er ihre Hand von seiner Wange, neigte sich zu ihr und küsste sanft ihre Lippen. Oscar erwiderte ihm den zärtlichen Kuss mit Hingabe und inniger Freude, dass sie ihn nicht verloren hatte. Die Wunde an ihrem linken Arm, die sie bei der Rettung der Kronprinzessin und durch einen Ast sich zugefügt hatte, schmerzte und brannte leicht unter dem Verband, aber das blendete sie aus. Die flatternden Gefühle der Liebe und Zuneigung zu André überdeckten ihren körperlichen Schmerz. Ihr Herz hüllte sich mit Wärme der Wonne und Geborgenheit ein. „Ich liebe dich.“, flüsterte sie nach dem berauschenden Kuss und leckte sich die Lippe mit der Spitze ihrer Zunge.   „Ich liebe dich noch mehr.“ André schenkte ihr noch ein liebevolles Lächeln, bevor sein Gesichtsausdruck wieder ernst wurde und er sich hastig von ihr entfernte.   Oscar verstand, denn auch sie hörte nahende Schritte außerhalb ihres Zimmers und setzte auch eine undurchschaubare Miene auf. Nichts verriet mehr ihre Liebesgefühle zu André, als in wenigen Augenblicken ihr Vater, ihr einstiges Kindermädchen und Graf von Fersen mit strahlenden Gesichtern sich um ihr Bett versammelten. General de Jarjayes setzte sich sogleich auf den Stuhl, wo Sophie vor kurzem gesessen hatte und befragte sie nach ihrem Wohlbefinden. „Wie fühlst du dich, meine Tochter?“   Oscar schenkte ihm ihre Aufmerksamkeit und versuchte nebenbei ihr aufgeregtes Herz wegen Andrés Kusses zu beruhigen. „Danke, Vater, mir geht es besser.“, sagte sie und schaute von ihm auf den jungen Mann, der neben ihrem Geliebten stand. André hatte sich unbemerkt an das Ende des Bettes gestellt und Oscar richtete ihre nächsten Worte nicht an ihn. „Graf von Fersen, vielen Dank, dass Ihr gekommen seid.“   „Das ist doch selbstverständlich.“, meinte von Fersen und lächelte freundlich. „Ich habe mir große Sorgen um Euch gemacht.“   „Ich habe Euch jetzt erst richtig kennengelernt.“ Oscar sah es noch bildlich vor den Augen, wie er das Knie vor dem König und neben ihr gebeugt hatte und ihn darum bat, André zu verschonen. Wenn sie ihn bis gestern noch als Verursacher für Hofklatsch und Getuschel um die Kronprinzessin betrachtet hatte, dann bewunderte sie ihn jetzt für seinen Mut. Denn niemanden von den anwesenden Hofintriganten wäre es jemals in den Sinn gekommen, sich für einen einfachen Bürgerlichen einzusetzen. Alle versuchten doch an aller ersten Stelle ihre eigene Haut zu retten und die Menschen aus dem dritten Stand waren unter ihrer Würde. Graf von Fersen hatte jedoch mit seinem Einsatz bewiesen, dass nicht alle Adligen verkommen und selbstsüchtig waren, wofür Oscar ihm noch zusätzlich dankbar war.   „Das geht mir mit Euch ebenso.“, erwiderte von Fersen und Oscar schaute sich im Zimmer um. Alle waren soweit da, bis auf eine Person, was sie leicht wunderte. „Und meine Mutter? Wo ist meine Mutter?“   „Als Ihr außer Gefahr ward, hat sie sich gleich um die Kronprinzessin gekümmert.“, erklärte Sophie, die hinter dem General stand.   Das war gut und Oscar atmete erleichtert auf. Ihre Mutter würde sich wohl noch ein paar Tage um die Kronprinzessin kümmern müssen, während ihre Tochter sich auf dem elterlichen Anwesen von der Verletzung kurierte.   „Marie Antoinette hatte sich große Sorgen um Euch gemacht. Sie wird außerordentlich erfreut sein.“, ergänzte von Fersen und Oscar nickte ihm zustimmend zu. „Ja, das denke ich auch.“ Sie ließ ihren Blick von ihm auf André schweifen und ihr Herz begann wieder schneller zu schlagen. Wie verloren er da stand! „André, du stehst so schweigsam in der Ecke, fehlt dir etwas?“   „Nein, alles gut.“, sagte André in seinem typischen, freundlichen Ton und schwor nebenbei bei sich, für seine Geliebte irgendwann einmal sein Leben einzusetzen und zu geben – so wie sie das für ihn getan hätte.   „Dann sorge dafür, dass Oscar an nichts fehlt.“, sagte der General zu ihm und erhob sich, mit dem Blick auf seine Tochter. „Ich werde jetzt nach Versailles gehen und mitteilen, dass du in zwei Tagen deinen Dienst wieder antreten kannst.“   „In Ordnung, Vater.“   „Ich werde mitkommen, wenn Ihr es gestattet, General.“, erbot sich von Fersen.   „Ich gestatte es Euch, Graf.“ Der General verließ mit ihm das Zimmer und Sophie geleitete sie hinaus. „Ich werde gleich dafür sorgen, dass Ihr etwas Ordentliches zu Essen bekommt, Lady Oscar.“, fügte sie noch zu ihrem Schützling hinzu und schimpfte gleich auf ihren Enkel los. „Und du wirst mir helfen! Lady Oscar braucht jetzt Ruhe und nicht deine Anwesenheit! Mach dich im Stall oder woanders im Haus nützlich, aber steh nicht so faul herum! Du bist schließlich der Sohn eines Bediensteten und sollst dich dementsprechend auch verhalten!“   „Ja, Großmutter, ich komme gleich nach.“ André wartete, bis seine Großmutter gegangen war und kam näher zu Oscar. „Wie das sich anhört, werde ich höchstwahrscheinlich erst heute Abend frei sein und dich besuchen können. Aber bis dahin kannst du dich ausruhen.“   „Du weißt, wie ich das hasse, den ganzen Tag im Bett zu verbringen.“ Oscar verzog ihr Gesicht. Heute würde sie gezwungenermaßen im Bett bleiben, um ihren Arm zu schonen. Das erinnerte sie fast an die öden Tage der Erkältung und die grässlichen Heilmethoden von Sophie. Natürlich abgesehen von den letzten Tagen, in denen sie mit André zusammengekommen war.   „Ja, das weiß ich und deswegen werde ich dir heute Nacht Gesellschaft leisten.“, meinte André mit einem geheimnisvollen Lächeln, das nur Oscar verstehen konnte. „Natürlich nur wenn du es möchtest, meine Liebste.“   Das fragte er noch? Oscar schmunzelte. „Ich bestehe darauf, dass du heute bei mir übernachtest.“   André beugte sich über sie und schenkte ihr einen letzten Kuss, bevor er ging. Wie er es schon geahnt hatte, konnte er sie den ganzen Tag nicht besuchen. Seine Großmutter legte ihm eine Aufgabe nach der anderen auf und brachte das Essen höchstpersönlich zu ihrem Schützling. Oscar fragte nicht nach ihm und vertrieb sich den Tag mit Lesen oder Gedanken über André oder versuchte mit einer Hand auf dem Klavier zu spielen. Nach dem Abendessen konnte sie kaum noch seinen Besuch abwarten und als er nach Mitternacht erschien, machte sie sogleich Platz neben sich.   André legte sich zu ihr, wo ihr gesunder Arm war und sie küssten sich wie heute früh. „Oscar, meine Liebe, ich hatte große Angst, dich zu verlieren.“, flüsterte er dabei und zog sie enger in seine Arme, aber ohne sie dabei zu erdrücken oder ihr die Luft zu atmen zu nehmen.   Oscar schmiegte ihren Körper an ihn, spielte mit ihren Fingern an seinem Kragen und schaute ihm direkt ins Gesicht. „Und ich hatte Angst, dich zu verlieren, André. Ich werde niemals zulassen, dass dir etwas zustößt und deshalb habe ich eine Entscheidung getroffen.“   André wurde neugierig. „Welche?“ Für was sie sich auch immer entschieden hatte, es würde bestimmt nichts Schlimmes sein, denn sie hatten sich Liebe geschworen und würden für immer zusammen sein.   Oscar küsste ihn auf den Mund. „Lass uns morgen zum See ausreiten und das Aprilwetter genießen. Nur wir beide, du und ich. Danach kann ich dir die Entscheidung mitteilen.“ Oder besser gesagt, ihn damit überraschen. Auf ihrem Gesicht stieg feine Röte hoch. So eine Entscheidung wollte sie nicht unbedingt hier auf dem elterlichen Anwesen durchführen und der See schien ein viel passenderer Ort dafür zu sein. Ja, dort, in der blühenden Natur und dem Rauschen des Windes, würden die Worte viel leichter fallen und sie würde ihrem André ihre Entscheidung besser überbringen können. Kapitel 5: Aprilgewitter (Adult) -------------------------------- Dunkle Wolken zogen am Himmel am nächsten Tag und man hörte schon das Donnergrollen in der Ferne. Das erste Gewitter dieses Jahres. Oscar liebte Frühlingsgewitter und streckte schon ihr Gesicht dem Himmel entgegen, während sie in den Sattel stieg und mit André zum See aufbrach.   „Es wird gleich regnen.“, meinte André besorgt. Unter einem Gewitter zu reiten konnte gefährlich sein. Ein Blitz konnte einschlagen und sie verletzen oder gar töten. Das musste nicht unbedingt ihnen passieren, aber man hörte von solchen Unfällen zu genüge. „Sollen wir nicht lieber auf dem Anwesen bleiben?“, schlug er deshalb vor. Die Entscheidung, die Oscar gestern getroffen und ihm heute sagen wollte, konnte sie doch auch auf dem Anwesen tun.   „Sei nicht so ein Angsthase!“ Oscar gab ihrem Pferd die Sporen und galoppierte fort. Kein Gewitter und Sturm würde sie von ihrem Vorhaben abhalten! Es wehte zwar ein heftiger Wind, der die Baumwipfel der jungen Bäumen stark zur Seite bog und man hörte in Abständen den Donner grollen, aber solange der Regen sich nicht ergoss, würden sie nicht völlig durchnässt ankommen. Das Jagdhaus am See war nicht groß, wie eine kleine Hütte mitten im Wald aufgebaut und bot Schutz vor allen möglichen Naturgewalten. Wie oft hatten sie sich als Kinder dort vor Regen oder Schnee versteckt, zusammen gespielt und einfach die Zeit fernab vom elterlichen Anwesen vertrieben. Hier konnten sie alles tun, ohne dass Sophie ihnen vorschrieb, was man durfte oder was verboten war. Ein Ort ihrer Geheimnisse, ihrer Sorglosigkeit und voller Erinnerungen an ihre gemeinsame und unbeschwerte Kindheit. Niemand bis auf sie kam hierher und sie fühlten sich hier immer wohl.   Das Jagdhaus am See, ähnlich wie das kleine Stück Wald um ihn herum und das Anwesen nicht weit davon entfernt, gehörte seit Generationen der Familie de Jarjayes. Oscars Ahnen väterlicherseits hatten hier oft in der Umgebung gejagt, die Beute am Jagdhaus ausgenommen, die Innereien an die Hunde als Belohnung verfüttert und das erlegte Freiwild dann zur weiteren Verarbeitung auf das Anwesen gebracht. Das hatte General de Jarjayes seiner Tochter, als sie noch ein Kind war, erzählt. Er selbst hatte jedoch für so ein Vergnügen wie die Jagd nicht die Zeit, weil sein Leben größten Teils und wegen den Pflichten gegenüber dem Königshaus in Versailles ablief. Sogar auf sein Anwesen kam er selten, nur um sich kurz auszuruhen, nach dem Rechten zu sehen und sich dann wieder in seine Aufgaben am Hofe und im Auftrag des Königs zu stürzen. Deshalb hatten Oscar und André das Jagdhaus für sich beansprucht, vor dem Zerfall bewahrt und für ihre Zwecke benutzt.   Die ersten Regentropfen fielen vom Himmel, als Oscar und André an den See ankamen und aus dem Sattel stiegen. Schnell banden sie die Pferde in der vor Unwetter bedeckten und gut geschützten Scheune hinter dem Haus und eilten in das Gebäude, das nur aus einem einzigen und großem Raum bestand. „Das war knapp.“, sagte André beim Betreten und verriegelte die Tür hinter sich, damit der starke Wind sie nicht aufreißen konnte. Hier drin war es noch düsterer als draußen, aber durch das einzige Fenster noch alles gut erkennbar. Unter dem Fenster stand ein Tisch und Oscar lehnte sich an die Kante mit ihrem Hinterteil und Armen. „Nun, dann brauchen wir nicht so schnell nach Hause zurückkehren.“, meinte sie auf seine Aussage und lächelte ihn geheimnisvoll an, als er direkt vor ihr anhielt. Seine Finger schoben sich sogleich unter ihrem Haar am Nacken, sein anderer Arm umfasste ihre Mitte und zog ihren zierlichen Körper an sich. Egal was sie vor hatte, ihm zu sagen, vorerst wollte er sie küssen, von ihren weichen Lippen kosten und ihre flinke Zunge spüren. Denn hier waren sie ungestört und es gab kein bedrückendes Gefühl, dass sie erwischt werden konnten. Warum dann es nicht gleich ausnutzen? Danach konnte Oscar ihm sagen was sie wollte und er würde ihr brav zuhören. „Ich liebe dich mein Leben lang.“, sagte er noch und küsste sie mit all seiner Leidenschaft.   „André ...“ Sein berauschender Kuss raubte ihr den Atem, trieb die Hitze in ihrem Körper und ließ ihr Herz schneller schlagen. „... lass uns Mann und Frau werden ...“, sagte sie zwischen den Küssen und André ließ sie überrascht von seinen Lippen frei. Mann und Frau? Hatte er das richtig verstanden? Diese Fragen standen ihm im Gesicht geschrieben.   Oscar atmete pausenlos. Sie hatte noch immer das Gefühl, seine heißen Lippen zu spüren und wollte dies fortsetzen, aber sie beherrschte sich krampfhaft. Sie musste ihm doch noch etwas sagen. „Du weißt, ich habe gestern eine Entscheidung getroffen...“ André nickte noch ein wenig baff. Das stimmte, sie wollte ihm heute ihre Entscheidung mitteilen. Oscar atmete tief durch, sammelte sich und stieß mit den nächsten Worten ihn gänzlich vor den Kopf. „Also, hier ist meine Entscheidung: Ich will deine Frau werden, André.“   Seine Frau? Einfach so, ohne Ehegelübde? Einerseits beflügelte ihn ihre Entscheidung und machte ihn glücklich, aber andererseits wuchsen in ihm Bedenken und Angst. Er wollte ihr doch nicht weh tun und schluckte hart, um seine Stimme zu finden. „Du meinst, du willst mir ganz gehören?“   „Ja, mit Leib und Seele.“ Warum zögerte er noch? Er liebte sie doch und wollte sie genauso wie sie ihn! Das Verlangen mussten sie schon oft genug zurückhalten, als sie in den gemeinsamen Nächten beieinander einschliefen.   „Oscar … Geliebte …“ André wusste nichts mehr zu sagen. Wie oft hatte er sich vorgestellt, sie zu seiner Frau zu machen und nun, als sie selbst das wollte, zögerte er. „Bist du dir sicher?“   Wovor hatte er nur Angst? Sie sah ihm doch an, dass er sie wollte. In seinen Augen glomm das altbekannte Verlangen, dem er jetzt versuchte zu widerstehen. Warum nur? Oscar verstand das nicht und ergriff selbst die Initiative. Sie fasste ihn am Kragen seiner Ausgehjacke und schob sie ihm langsam von den Schultern. „Ich bin mir ganz sicher, mein geliebter André.“   Geräuschlos schlug seine Ausgehjacke auf dem Boden und draußen zuckte ein greller Blitz, gefolgt von einem Donner. Also gut. Er würde seinem Verlangen nachgeben und Oscar seine Liebe schenken, mit ihrem Körper sehr behutsam umgehen und ihr Mann werden. Vorsichtig zog er ihre Ausgehjacke aus und legte sie ausgebreitet auf den Tisch hinter ihr. Dabei behielt er tiefsinnigen Blickkontakt mit ihr und machte das Gleiche mit ihrer Weste. Jetzt stand sie nur im Hemd und Hose vor ihm und wartete darauf neugierig, was er als nächstes tun würde. Vor ihm hatte sie weder Scham noch Angst. So sanft und liebevoll wie er war, würde er ihr schon keinen Schmerz zufügen. Sie setzte sich auf den Tisch und André zog ihr die Stiefel mitsamt den Strümpfen aus. Dann richtete er sich auf und sie ließ ihn zwischen ihren Knien.   Draußen schepperte und krachte es gewaltig – der Blitz musste irgendwo eingeschlagen zu sein. Kurzzeitig beleuchtete grelles Licht das Jagdhaus und in nächster Sekunde wurde es wieder düster und still. Nur der starke Regen trommelte gegen die Fensterscheiben, auf dem Dach und an den Wänden des Häuschens, ohne dabei das Liebespaar im Inneren zu stören. Das Unwetter wurde weder von André noch von Oscar beachtet. Ihre Lippen waren in einem tiefen Kuss versiegelt, ihre Körper aneinander gepresst und beide verglühten in dem Feuer der Leidenschaft, das in ihnen derzeit herrschte.   Andrés Weste fiel zu Boden, gefolgt von seinem Hemd und Oscar erkundete mit ihren Fingern seinen Brustkorb. Ihre Lippen verteilten sanfte Küsse auf seiner warmen Haut, den rötlichen Abschürfungen und streiften an seinen dunklen Nippel. Ihre Wangen glühten, das Verlangen wurde größer und zeichnete sich mit Feuchtigkeit zwischen ihren Schenkeln ab. André schob seine Geliebte sachte von sich – er wollte ebenso ihren Körper sehen, streicheln und auch küssen. Er vertiefte den Ausschnitt ihres Hemdes und schob die Kanten auseinander. Zwei kleine Erhebungen, nicht größer wie Äpfel, mit rosigen und strammstehenden Brustwarzen kamen zum Vorschein und erregten ihn noch mehr. Gleich würde er sie berühren und liebkosen, aber zuerst musste das Hemd weg.   Leichte Gänsehaut bedeckte die Oberfläche ihres Körpers, als André ihr das Hemd auszog und irgendwo hinter ihrem Rücken auf dem Tisch ablegte. „Wunderschön.“, sagte er und küsste sie erneut auf den Mund. „Du bist wunderschön, Oscar, meine Liebe ...“ Seine Lippen hielten sich nicht lange auf ihrem Mund und küssten ihren schlanken Hals nach unten herab, während seine Finger eine ihrer weichen Brüste massierten. Was für ein herrliches Gefühl! Nur noch ein wenig und dann würde sie ganz die seine sein. Oscar lehnte sich etwas auf ihre Arme zurück, warf ihren Kopf in Nacken und genoss seine Küsse. Seine Lippen erreichten eine ihrer Brüste, saugten leicht daran und seine Zunge liebkoste die harte Knospe. Das kitzelte und Oscar hätte beinahe gelacht, wenn sie nicht so sehr von der Liebe und Leidenschaft berauscht wäre und wenn sie seine Lippen nicht bereits auf ihrem Bauch spürte. Seine Finger öffneten ihr dabei den Hosenbund, Oscar hob leicht ihr Becken und er zog ihr das letzte Kleidungsstück aus.   Erneut wurden die Wände im Jagdhaus beleuchtet, aber man hörte keinen darauffolgenden Donner mehr. Das Gewitter schien langsam sich zu verziehen und nur der Regen rauschte noch. Oscar presste sich an ihren Geliebten, sobald er sich aufgerichtet und auch seine Hose runtergezogen hatte. Gleich würde es soweit sein und er würde sie seine Frau nennen dürfen. Sie spürte seine harte Männlichkeit, die noch heißer als sein gesamter Körper zu sein schien, an ihren Schamlippen und bekam doch ein wenig Angst. Aber sie vertraute ihm doch! Wozu ist dann dieses merkwürdige Gefühl da?   André umarmte sie, streichelte beruhigend ihren Rücken und küsste liebevoll ihre Lippen. Denn auch er kämpfte mit dem ängstlichen Gefühl, etwas falsch zu machen und seiner Geliebten dabei weh zu tun. Immerhin war das sowohl ihres so auch sein erstes Mal. „Ich vertraue dir, mein Liebster ...“, flüsterte Oscar, entfernte ihren Oberkörper etwas von ihm und lehnte sich auf ihre Armen.   André streichelte zärtlich das kaum behaarte Dreieck und führte ganz vorsichtig seine Männlichkeit in ihre sehr feuchte Höhle ein. Er spürte die Sperre, Oscar auch und beide hielten kurz inne. „Ich gebe Acht...“, sagte er mit aufgeregtem Herzklopfen, schob sich etwas zurück und stieß etwas kräftiger in sie. Oscar unterdrückte einen Schmerzenslaut, ihre Sehnen spannten sich an und ihr Becken rutschte noch enger an ihn ran. André bekam Gewissensbisse, beugte sich über sie und küsste sie zärtlich. „Es tut mir leid, ich wollte dir nicht weh tun … Wenn das unerträglich ist, können wir aufhören ...“   „Nein, es geht schon.“ Oscar erwiderte den Kuss und schaute ihn dann mit einem liebreizenden Lächeln an. Sein Kuss hatte die Anspannung in ihrem Körper aufgelöst, den Schmerz vertrieben und sie spürte nur, wie sein bestes Stück in ihr pulsierte. „Jetzt bin ich deine Frau und darfst weiter machen.“ Sie küsste ihn auf den Mund, während André erleichtert und beruhigt sich langsam in ihr bewegte.   Der Regen draußen ließ langsam nach, das Keuchen und Stöhnen der beiden Liebenden im Jagdhaus wurde aber lauter. Die Sinne wurden vor Lust und Wonne betäubt, die Bewegungen der Gesäße schneller und trieb das Verlangen zur Spitze des Gipfels an. Oscar erreichte es als erste und während ihre Scheidewände seine Männlichkeit zusammendrückten, ergoss er sich in ihr, wie vor kurzem der erste Gewitterregen dieses Jahres.   André und Oscar schnauften ununterbrochen. Ihre rasenden Herzen beruhigten sich, die Hitze der Lust und Leidenschaft kühlte sich ab und auf ihren Lippen zeichnete sich ein zufriedenes und glückliches Lächeln. Sie blieben noch miteinander vereint und genossen einfach die Nähe des anderen. „Alles in Ordnung?“, fragte André, wobei er das an ihrem strahlenden Gesicht sah.   „Mir geht es bestens.“ Oscar zog sich an ihn enger ran und umarmte ihn. „Ich bin glücklich, deine Frau zu sein, André, mein geliebter Mann.“   Wenn sie glücklich war, dass war er das auch. „Das Glück ist auch meinerseits, meine liebste Frau, meine Oscar.“ André legte um sie seine Arme und beide genossen die vertraute Zweisamkeit, bis die Hitze der Leidenschaft sich endgültig abgekühlt hatte.       Nachts, auf dem Anwesen, kam Oscar zu ihm. „Ich kann nicht ohne dich.“ Sie zog ihre Nachtwäsche aus, stieg über ihn und ritt auf ihn. Dann war André über ihr und es dauerte lange, bis sie ihre Gelüste nacheinander gestillt hatten.   Am nächsten Tag versuchten sie sich zu beherrschen und kaum dass die Nacht einbrach, verglühten sie wieder in ihrer Leidenschaft. Kapitel 6: Auftrag ------------------ Nacht, silberner Schein des Mondes, die vertraute Umgebung in ihrem Zimmer auf dem elterlichen Anwesen und natürlich die Anwesenheit ihres Geliebten. Aber weder an die Liebe noch an einer Umarmung war zu denken. Beide standen nebeneinander auf dem Balkon und ihre Gemüter waren angespannt. André sagte genau das, was auch in ihr vorging. „Ich mache mir Sorgen. Wie soll es weitergehen? Der Gesundheitszustand seiner Majestät ist ernst.“   Oscar stimmte ihm mit einem stummen Nicken zu. Der König war vor wenigen Tagen bei der Jagd vom Pferd gestürzt und plagte über heftige Kopfschmerzen. Ja, die Lage war ernst und am Hofe von Versailles bereitete man sich schon auf das Schlimmste vor. Zu recht. Am nächsten Tag, während Oscar und André das Anwesen der de Jarjayes auf ihren Pferden verließen, preschte ihnen Graf de Girodel entgegen und berichtete mit Schreckensmiene, dass der König in der Nacht die Pocken bekommen hatte. Ab fortan durfte ihn niemand mehr außer den Ärzten am Krankenbett besuchen. Vor allem der Thronfolger und die Kronprinzessin nicht. Die Ansteckungsgefahr war zu groß und man wollte ja nicht nach dem König, wenn dieser sterben sollte, auch gleich dessen Nachfolger verlieren. Wer würde dann über Frankreich regieren? Die Zukunft des Landes wäre dann sicherlich ungewiss.   Viele der Höflinge versammelten sich in vereinzelten Grüppchen und berieten sich darüber, ihre Loyalität bereits dem Enkel des Königs und dessen Nachfolge auf dem Thron zu geben. Oscar rastete beinahe vor Wut aus. Anstelle für die Gesundheit des Königs zu beten, auch wenn das hoffnungslos schien, machten sie schon darüber Pläne, wie sie ihre Macht festigen konnten! Wenn André nicht an ihrer Seite wäre, dann hätte sie dem einen oder anderen das Maul gestopft. Aber so beherrschte sie sich krampfhaft und schluckte ihre Wut herunter.   Am 10. Mai 1774 machte der König seine letzten Atemzüge und als sein Tod bekannt wurde, erstürmte der gesamte Hofstaat die Gemächer von Marie Antoinette und ihrem Gemahl Ludwig, um das neue Königspaar zu huldigen. Oscar konnte kaum an sich halten und geriet in Weißglut. „Der König ist tot, lang lebe der König? Wir haben dem Verstorbenen noch nicht mal die letzte Ehre erwiesen und schon feiern sie den nächsten!“ Das war doch kaum zu fassen! Was erlaubten sich diese selbstsüchtigen und verkommenen Günstlinge?!   Graf Victor Clement de Girodel, der neben ihr stand und dem ganzen Spektakel zuschaute, sagte: „Das ist ein selbstsüchtiges Pack, aber das ist eine weitverbreitete Schwäche unter den Menschen. Ein Tag vergeht und der neue kommt. Was heute blüht, wird morgen verwelken. Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns an der Sonne des heutigen Tages zu wärmen.“ Er entriss den Blick von dem heuchelnden Hofstaat, dessen Ansturm auf die Gemächer des zukünftigen Königspaares nicht aufhörte, und warf einen Blick zu Oscar. Ihr Gesicht überzog sich bereits mit rötlicher Farbe des Zornes und es kam ihm so vor, dass ihre himmelblauen Augen Blitze in Richtung der Menschenmenge schleuderten. Er seufzte in sich hinein. Vor etwa zwei Wochen, nach dem Unfall der Kronprinzessin und dem Vorfall mit dem durchgegangenen Pferd, hatte er sich große Sorgen um sie gemacht. Als sie dann wieder in Versailles war, hatte er sich zwar über ihre Wiederkehr gefreut, aber seine Sorge und Kummer vergingen dadurch nicht. Denn Lady Oscar schien aufgeblüht zu sein und wenn sie im Verborgenen mit André Küsse austauschte, kam sie ihm noch weiblicher, reifer und schöner vor. Bei dem Gedanken, dass sie und André in den Tagen ihrer Genesung auf dem Anwesen der de Jarjayes womöglich ihre Liebe in vollen Zügen ausgekostet hatten, drehte ihm den Magen beinahe um. Eifersucht war eine grässliche Sache, die ihn nicht nur quälte und nachts schlechte Träume bescherte, sondern trieb in ihm auch die Mordlust. Wie oft hatte er sich bereits vorgestellt, André zu beseitigen und es als Unfall aussehen zu lassen? Sehr oft. Jedes Mal, nachdem André die Gemächer von Lady Oscar verlassen hatte und glückselig vor sich hin lächelte, überkam ihm der Drang seinen Dolch zu zücken und ihn hinterhältig niederzustechen! Aber das konnte er zu seinem Leidwesen nicht, weil er begriff, dass Lady Oscar ihren Gefährten ernsthaft liebte und würde jeden zur Rechenschaft ziehen, der André etwas antun würde. Victor erinnerte sich noch genau, wie sie sogar dem König die Stirn geboten hatte, als dieser André für den Unfall der Kronprinzessin beschuldigte und ihn hinrichten lassen wollte. Nun war dieser König gerade gestorben, aber es würde sicherlich nichts an der Liebe zwischen Lady Oscar und André ändern. Somit würde sich auch an seinem Liebeskummer und düsteren Eifersucht nichts ändern. Jedoch alles stillschweigend zu ertragen und sein Herz zu quälen, würde er nicht länger mitmachen. Im Gegensatz zu André, war er ein Graf, besaß Rang und Titel, und hatte Lady Oscar mehr zu bieten! Vielleicht sollte er mit General de Jarjayes und dem neuen König über sie sprechen und anfragen, ob er sie heiraten durfte? Das wäre eine sehr gute Idee und er würde dann ihr anstelle von André die Liebe schenken können! Allerdings nicht jetzt, wo in Versailles gerade Trubel herrschte und sicherlich bald die Vorbereitungen zu der Krönung des neuen Königspaares beginnen würden. Victor schwor sich, noch ein wenig abzuwarten und nach der Krönung seine Idee in die Tat umzusetzen.   In derselben Nacht wurde der verstorbene König beigesetzt. Aufgrund der Ansteckungsgefahr von Pocken wurde er nur von Soldaten zu letzter Ruhe gebettet und ab den nächsten Tag schien man ihn vergessen zu haben, denn die Menschen bejubelten bereits eifrig das neue Königspaar.   Die Krönung des neuen Königs wurde auf 11. Juni 1775 in Reims festgelegt und Oscar bekam bis dahin einen Auftrag: Sie sollte zusammen mit ihrem Untergebenen, Graf de Girodel und ihrem Gefährten André die wichtigsten Städte Frankreichs bereisen. General de Jarjayes, der mit seiner Tochter, Graf de Girodel und André ebenfalls im Audienzsaal seiner Majestät anwesend war, glühte vor Stolz, während Ludwig XVI seinen Satz beendete: „Ich würde begrüßen, wenn Ihr mir nach Eurer Rückkehr über die Lage Frankreichs berichten könnt.“   „Zu Befehl, Euer Majestät.“ Oscar verneigte sich tief. Ihr Kopf arbeitete jedoch. Sie sollte Frankreich bereisen? Aber warum ausgerechnet sie? Die neue Königin brauchte sie doch gerade jetzt am meisten! Dennoch, entgegen ihren sausenden Gedanken erwiderte sie beherrscht: „Wann sollen wir aufbrechen?“   „Das überlasse ich Euch, Lady Oscar. Mir ist nur wichtig, dass Ihr und Eure Gefolgsmänner bis zu meiner Krönung zurück seid.“, meinte der neue König und entließ Oscar zusammen mit André, ihrem Untergebenen Graf de Girodel und ihrem Vater aus dem Saal.   „Das ist ein sehr großer Auftrag und ich bin mir sicher, du wirst es mit Bravour meistern, Oscar.“, schwärmte der General und klopfte beglückwünschend seiner Tochter auf die Schulter. „Aber komme erst einmal in mein Kontor und schau dir die Landeskarte an, die wirst du auf dem Weg brauchen.“ Reynier warf einem Blick zurück. „Das gilt auch für euch, Graf de Girodel und André.“   „Jawohl, General.“, sagten beide im Chor und während André etwas verlegen seinen Blick senkte, schaute Girodel ihn von der Seite an. Victor konnte sich noch immer nicht damit abfinden, dass dieser einfacher Bursche, ohne Rang und Titel, Lady Oscars Herz erobern haben sollte. Bedauerlicherweise konnte er zurzeit nichts gegen ihn unternehmen, außer Zeuge deren Liebeleien irgendwo im Garten von Versailles und bei abendlicher Dunkelheit zu sein. Das schmerzte ihm jedes Mal tief im Herzen, aber bald würde er nicht mehr leiden brauchen. Nächstes Jahr würde er um Lady Oscar werben und den Nebenbuhlern verdrängen. Er würde Andrés Platz einnehmen und selber Lady Oscar anstatt André jede Nacht küssen, ihren Körper berühren und sie lieben. Ach, wenn es schon soweit wäre ...   „Graf de Girodel, habt Ihr verstanden?“ Die eisige Stimme von Lady Oscar drang an sein Gehör wie aus der Ferne und holte ihn in die Realität zurück. „Verzeiht, Kapitän.“, murmelte er ein wenig verdattert und gab Oscar damit zu verstehen, dass er nichts von der Unterhaltung zwischen ihr und ihrem Vater verstanden hatte.   Es gefiel Oscar nicht, wie Girodel ihren Geliebten von der Seite angestarrt hatte. Ahnte er etwas? Aber das wäre unmöglich, denn André und sie waren stets darauf bedacht, von niemanden gesehen zu werden. Auf jeden Fall würde sie ihren Untergebenen auf der Reise durch Frankreich beobachten müssen. „Wir werden zum ersten Juni aufbrechen und bis dahin haben wir genug Zeit, um alles Nötige für die Reise vorzubereiten.“, wiederholte sie und schaute Girodel noch strenger an.   Victor konnte ihrem messerscharfen Blick nicht lange standhalten und senkte sein Haupt. „Jawohl, Kapitän.“ Dabei dachte er an ihre andere Tonlage, die viel sanfter und lieblicher klang. Zwar hatte sie das nur zu André in ihrer verborgenen Zweisamkeit gesprochen, aber Victor stellte sich vor, dass ihre Liebesworte für ihn galten.   Oscar schaute wieder nach vorn und sprach mit ihrem Vater. „Wir werden bestimmt nicht in ein oder zwei Monaten zurückkommen können.“ Natürlich behielt sie das seltsame Verhalten von Graf de Girodel im Hinterkopf. André und sie würden wohl auf der Reise durch Frankreich noch achtsamer sein müssen und sich nur dann lieben, wenn das Verlangen nach Liebe nicht auszuhalten sein würde.   „Das macht nichts.“, hörte Oscar ihren Vater auf ihre Feststellung sagen und schenkte ihm ihre Aufmerksamkeit. „Je gründlicher du vorgehst, desto besseren Eindruck wirst du machen und vielleicht wird man dich danach sogar befördern.“, beendete der General mit Inbrunst und stolz geschwellter Brust.   Sie erreichten langsam seine Privatgemächer, die er hier in Versailles bewohnte und dort, auf einem Salontisch, legte er eine Landeskarte von Frankreich hin. Es gab insgesamt 39 Provinzen in Frankreich und Reynier zeigte Oscar und ihren Gefolgsmännern die Route, wie sie am besten reisen sollten:   Von Paris aus nach Rouen in der Normandie, danach Rennes in der Bretagne, Le Mans in der Grafschaft Maine, Orléans in dem Orléanais, Tours in der Touraine, Angers in Anjou, Poiteres in dem Poitou, La Rochelle in dem Aunis, Saintes in der Saintonge, Angouleme in dem Angoumois, Bordeaux in der Aquitaine, Pau in dem Béarn, Toulouse in dem Languedoc, Foix in der Grafschaft Foix, Perpignan in Roussillon, Avignon in der Grafschaft Venaissin, Aix-en-Provence in der Provence, Nizza in der Grafschaft Nizza, Ajaccio auf der Mittelmeerinsel Korsika, Grenoble in der Dauphiné, Chambéry in Savoyen, Lyon in dem Lyonnais, Clermont-Ferrand im Herzogtum Auvergne, Limoges in dem Limousin, Guéret in der Marche, Bourges in dem Berry, Moulins in dem Bourbonnais, Nevers in dem Nivernais, Dijon in dem Burgund, Besancon in der Franche-Comté, Montbéliard in der Grafschaft Mömpelgard, Mülhausen im Elsass (Teil der Schweiz, der alten Eidgenossenschaft), Straßburg im Elsass, Nancy im Lothringen, Troyes in der Champagne, Lille in Flandern, Arras in dem Artois und Amiens in der Picardie. Kapitel 7: Die Reise -------------------- Sommer 1774.   Es war soweit und die Sachen waren bereits auch gepackt. Gestern hatte sich Oscar schon von der königlichen Familie und von ihrer Garde verabschiedet, um Zuhause die letzten Schritte für die Reise zu erledigen. Die Nacht verbrachte sie natürlich mit André auf dem elterlichen Anwesen in ihrem Zimmer. Sie hatten sich so intensiv, leidenschaftlich und hemmungslos geliebt, dass es bestimmt ausreichen würde, die lange Reise ohne Verlangen, Sehnsucht und Gelüste nacheinander zu überstehen. Und heute, am 1. Juni, waren sie beide sehr zeitig aufgestanden, damit niemand von ihrer Liebesnacht Verdacht schöpfen konnte.   Sophie schniefte herzzerreißend in ihr Taschentuch, als würde es ein Abschied für immer sein, während Oscar in den Sattel ihres weißen Pferdes stieg. „Seid vorsichtig, Lady Oscar.“ Und an ihren Enkel gewandt verzog die Haushälterin ernst ihr Gesicht. „Und du, pass auf sie auf und sorge dafür, dass es ihr an nichts fehlt!“   „Das werde ich, Großmutter.“ André stieg galant in den Sattel seines braunes Pferdes und überlegte schnell im Kopf, ob sie alles Nötige für die Reise eingepackt hatten: Decken, falls sie im Freien übernachten sollten, Wechselkleidung, Regenumhänge, Proviant, die Landkarte von Frankreich und natürlich ausreichend Geld. General de Jarjayes hatte ihn sogar für drei Monate im Voraus bezahlt. Aber auch Oscar bekam ausreichend davon.   „Ich wünsche dir alles Gute auf der Reise und komm gesund wieder, mein Liebling.“ Madame de Jarjayes ließ zwar keine Tränen fließen wie Sophie, aber die mütterliche Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben.   „Oscar wird schon zurück kommen und sie wird unsere Familie stolz machen! Ich habe sie doch nicht umsonst wie ein Mann erzogen und ihr alles beigebracht, was ein Offizier in allen Situationen wissen muss.“ Reynier legte einen Arm um seine Frau und schaute dabei auf seine Tochter mit vor Stolz leuchtenden Augen. „Nicht wahr, Oscar? Du wirst es doch schaffen, oder?“   „Ja, Vater.“ Oscar winkte allen ein letztes Mal zum Abschied zu, stieß ihrem Pferd leicht in die Seiten und ritt im gemütlichen Gang an. Sie war nicht einmal aufgeregt und nahm die Reise als eine gewöhnliche Pflicht auf sich.   André machte es ihr gleich und führte noch zusätzlich zwei Packpferde hinter sich. Die Sonne stieg immer höher, die Natur erwachte vom nächtlichen Schlaf und André hörte verträumt dem Trällern der Singvögel zu, die auf den Bäumen im Wald und außerhalb des Anwesen der Jarjayes sich gegenseitig zu übertönen versuchten. „Ich finde es heute schön hier.“, sagte er, als würde er zum ersten Mal den Weg vom Anwesen der de Jarjayes nach Paris reiten.   „Das finde ich auch.“ Oscar schmunzelte und zügelte am Rande des Weges ihr Pferd. „Bevor wir uns mit Girodel treffen und unsere Reise fortsetzen, will ich dir noch etwas sagen.“ André hielt direkt neben ihr sein Pferd und merkte, wie ihr Körper sich langsam in seine Richtung rüber neigte. Ihre Hand fasste an seinem Kragen und ihr Gesicht kam ihm immer näher. „Egal wie stark unsere Gefühle, Liebe und Zuneigung zueinander sind, wir dürfen ihnen nicht vor Girodel nachgeben. Deshalb wird das der letzte Kuss zwischen uns sein.“ Sie drückte ihre weichen Lippen ihm auf den Mund und André erwiderte den Kuss leidenschaftlich. Er gab ihr Recht. Mit Graf de Girodel würde es schwierig sein, im Verborgenen ihre Liebe auszukosten. Denn er würde sich bestimmt irgendwo in der Nähe aufhalten und nur eine kleine Unaufmerksamkeit würde genügen, dass er sie ertappte. Also lieber jetzt das angesprochen zu haben, als später es noch vor ihm zu rechtfertigen. Wobei Oscar sich eigentlich nicht vor ihm rechtfertigen bräuchte, weil er ihr Untergebener war. Aber sicher war sicher und einen Mitwisser von ihrer geheimen Liebesbeziehung wollten sie auch nicht haben.   Gesättigt und noch etwas berauscht von dem letzten Kuss, setzten sie ihren Weg weiter fort. Mit Girodel hatte Oscar gestern in Versailles noch vereinbart, sich an der Notre Dame de Paris zu treffen und kaum dass sie die mächtige Kathedrale erreichten, sahen sie ihn schon bei zwei Pferden stehen. Genauso wie Oscar trug er keine Uniform. Da sie nicht am Hofe von Versailles waren oder eine Patrouille durch die Stadt machten, galten sie als außer Dienst und hatten deshalb ihre gewöhnliche Zivilkleidung angezogen. Der Tag hatte erst begonnen und es waren noch nicht so viele Menschen unterwegs. „Guten Morgen, Lady Oscar.“, grüßte Victor seine Vorgesetzte. Zu André nickte er nur und stieg auf sein graues Pferd.   „Guten Morgen, Graf de Girodel. Habt Ihr alles eingepackt, was für die Reise nötig ist?“ Oscar hatte erneut den seltsamen Blick von Victor in Richtung André bemerkt und das bereitete ihr wieder Unbehagen. Seit sie diesen Auftrag von dem neuen König erhalten hatten, warf ihr Untergebener öfters solche abfälligen Blicke zu ihrem Geliebten. Aber was hatte er gegen ihn? Früher war das doch nicht so. Wenn Oscar überlegte, dann hatte Girodel ihren André gar nicht beachtet, weil er in seinen Augen nur ein einfacher Diener war. Was auch immer das war, sie würde das noch herausfinden. Gut, dass sie mit ihrem André sich ausgesprochen, mit ihm die letzte Nacht verbracht und den letzten Kuss ausgetauscht hatte.   „Ich habe alles eingepackt, Lady Oscar, was wir auf der Reise brauchen werden.“ Victor fragte sich insgeheim, ob Lady Oscar und der Nebenbuhler in seiner Gegenwart auf der Reise es wagen würden, sich zu küssen oder gar in Gasthöfen ein Zimmer miteinander zu teilen. Denn sie würden ab nun keine bekannten Gesichter um sie haben, die sie verraten konnten. Natürlich abgesehen von ihm. Aber einen Verrat an einen für ihn den teuersten und liebsten Menschen zu begehen, wäre Victor nie in den Sinn gekommen. Höchstwahrscheinlich würde Lady Oscar ihn mit irgendeinem Auftrag fortschicken und selbst mit André im Gasthof unter sich bleiben. Auf diese Weise würden sie genügend Zeit haben, um ihrer Liebe nachzugehen. Und wenn er wieder zurück sein würde, dann würden sie bestimmt ihre Gelüste gestillt haben. Altbekannte Eifersucht und Groll auf André vereinnahmte Girodel wieder, als er sich Lady Oscar und ihren Gefährten in einer tiefen Umarmung und beim Küssen in Erinnerung rief. Das war schrecklich und er verjagte diese Bilder auf der Stelle aus seinem Kopf. Nur noch ein Jahr und dann würde Lady Oscar ihm gehören.   „Dann lasst uns aufbrechen. Unser erstes Ziel ist Rouen in der Normandie.“ Oscar achtete darauf, dass Girodel, nach Besteigen des Sattels, auf der anderen Seite von ihr ritt als André. Sein Packpferd führte der Graf selbst hinter sich und hatte keine Gelegenheit, André zu beobachten. Aber das war ihm zurzeit gleichgültig. Er ritt ja neben Lady Oscar und das beglückte ihn gewissermaßen.       Nach zwei Tagen und drei Stunden, mit zusätzlichen Rast und Übernachtung in örtlichen Gasthöfen, erreichten sie Rouen in der Normandie. Die Stadt existierte bereits seit tausenden vor Jahren und im Jahr 911 wurde sie zur Hauptstadt des Herzogtums Normandie. Als der Herzog der Normandie Wilhelm I im Jahr 1066 England erobert hatte, hatten dessen Nachfolger und die englische Könige seither Ansprüche auf den französischen Thron erhoben. Natürlich wollte kein Franzose einen Engländer auf dem französischen Thron haben und es wurde deshalb über Jahrhunderte erbitterte Kriege zwischen beiden Ländern geführt. Der entscheidendste Krieg hatte sogar hundert Jahre gedauert und hat von 1337 bis 1453 stattgefunden. Ein Bauernmädchen Namens Jeanne d´Arc tauchte dann plötzlich auf und mit Hilfe von heiligen Stimmen, die zu ihr gesprochen hatten, sah sie sich berufen, die Franzosen von den Engländern zu befreien. Das war ihr am Ende gelungen und sie hatte die französischen Truppen zum Sieg gegen die Engländer geführt. Karl VII, dem Jeanne d´Arc die Krone aufgesetzt hatte, fühlte sich jedoch von ihrem Ruhm bedroht und dachte wohl, wenn sie die Engländer besiegen konnte, dann würde sie auch ihn irgendwann stürzen können. Er veranlasste deshalb, dass gegen sie ein Komplott geschmiedet wurde. So wurde sie später verraten, den Engländern übergeben und im Jahr 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Dennoch wurde Rouen durch Karl VII im Jahr 1449 für Frankreich zurückerobert und vier Jahre später war dann der hundertjährige Krieg beendet.   Oscar dachte über die Geschichte nach, während sie mit Graf de Girodel und André nach einem passenden Gasthof, der nicht überfüllt war und wo keine dunklen und zwielichtigen Gestalten einkehrten, suchte. Jeanne d´Arc war bestimmt zu ihrer Zeit eine große Persönlichkeit, wenn sie als Frau geboren, ihre Männer in glänzender Ritterrüstung in die Schlacht geführt und den Sieg gegen die Engländer errungen hatte. Allerdings, im Gegensatz zu ihr, Oscar, wurde sie nicht wie ein Mann erzogen. Oscar wurde nur deshalb zu einem Offizier ausgebildet, um die Nachfolge ihres Vaters, General de Jarjayes, anzutreten.   „Hier scheinen die Menschen zufrieden zu sein.“, bemerkte Graf de Girodel und riss Oscar aus ihren Gedanken. Sie schaute sich um und musste ihm Recht geben. Die Menschen hier bereiteten sich für die Krönung des neuen Königs vor und freuten sich auf die neuen Zeiten genauso wie in Paris und Umgebung.   Oscar überlegte ihr Haus, das sie in der Normandie hatte, aufzusuchen, aber das wäre dann noch ein weiterer Umweg bis zur Küste und eine Zeitverschwendung. „Wir werden morgen die Stadt genauer ansehen und übermorgen, bei Sonnenaufgang, reisen wir weiter.“, sagte sie und entdeckte ein Gasthof. „Wir werden dort übernachten.“   Girodel und André folgten ihr. Der Gasthof war gut gepflegt, hübsch ausgestattet und nicht für Menschen mit kleinem Geldbeutel geeignet. Deshalb befanden sich auch wenige Gäste hier, was für die drei vollkommen ausreichte. Jeder von ihnen bekam ein Zimmer und Girodel war gespannt, was nun folgen würde. In den ersten Übernachtungen in anderen Gasthöfen und auf dem Weg hierher, war ihm zwischen Lady Oscar und André nichts aufgefallen. Aber das hieß noch lange nichts und vor ihnen lag noch eine lange Reise. Irgendwann würden sie es nicht mehr aushalten und die Nähe des anderen suchen. Dann würde er sie wieder beobachten und in seinen düsteren Gedanken André beseitigen und mit Lady Oscar die Liebe verleben. Jedoch auch diesmal passierte nichts. Umsonst hatte Girodel in dunkler Ecke gelauert und bis nach Mitternacht darauf gewartet, dass André ins Zimmer von Lady Oscar ging. Er gab auf, als die Müdigkeit ihn langsam ergriff und seine Augenlider schwerer wurden. Unverrichteter Dinge ging er in sein Zimmer zurück und am nächsten Tag, während sie zu dritt die Stadt erkundeten, versuchte er in ihre Gesichtern zu lesen und somit etwas über ihr heimliches Treffen herausfinden. Erfolglos. Lady Oscar und André trugen weiterhin eine undurchschaubare Miene zur Schau und verhielten sich unauffällig. Weder liebreizende und verstohlene Blicke zueinander, noch unbeabsichtigte Berührungen der Hände und nicht einmal ein kleines Lächeln zeigten sie sich gegenüber. Sie deuteten Victor damit an, dass sie gewöhnliche Freunde waren und sich dementsprechend auch verhielten. Wenn sie nur wüssten, was er bereits über sie in Erfahrung gebracht hatte…   Dieses distanzierte Verhalten pflegten sie auch auf der weiteren Reise. Nach Rouen in der Normandie war Rennes in der Bretagne dran. Danach Le Mans in der Grafschaft Maine, Orléans in dem Orléanais und Tours in der Touraine. An jedem Ort und in jeder Stadt, wo sie sich aufhielten, sah man fröhliche Gesichter der Menschen. Der neue König gab ihnen Hoffnung auf bessere Zeiten und alle bereiteten sich eifrig für dessen Krönung vor. Und überall änderte sich das kühle Verhalten zwischen Lady Oscar und André nicht. So, als hätten sie ihre Liebe aufgegeben. Aber Victor zweifelte daran. Er glaubte eher, dass die beiden sich noch vor der Reise abgesprochen hatten, um ihm keinen Grund zum Verdacht zu geben. Vielleicht war das auch gut so, denn sonst würde seine Eifersucht noch höher steigen und er hätte womöglich seine düsteren Gedanken in die Tat umgesetzt. Aber so hatte er sich im Griff und übte sich in Geduld, bis die Auftragsreise zu Ende sein würde.   Am Ende des Monats erreichten sie Angers in Anjou und blieben dort wegen dem starken Gewitterregen knapp zwei Tage, bevor sie ihre Reise fortsetzten. Als nächstes Ziel kam Poiteres in dem Poitou, dann La Rochelle in dem Aunis, Saintes in der Saintonge, Angouleme in dem Angoumois und Bordeaux in der Aquitaine. Alles lief wie sie es geplant hatten, überall freuten sich die Menschen auf den neuen König, und im heißen Juli erreichten sie Pau in dem Béarn, wo sie wieder wegen dem starken Unwetter und Sommerregen zwei Tage blieben. Und noch immer konnte Girodel nicht beobachten, wie Lady Oscar und André im Verborgenen nach gegenseitiger Nähe gesucht und miteinander Zärtlichkeiten ausgetauscht hatten. Entweder waren sie gute Schauspieler und übten sich gekonnt in Enthaltsamkeit, oder ihm war das eine oder andere Mal doch etwas entgangen. Aber wie auch immer sie das schafften, seine düstere Eifersucht kühlte sich mit der Zeit ab und er freute sich nur darauf, wenn sie wieder Zuhause sein konnten. Dann würde er unverzüglich den General de Jarjayes aufsuchen und ihn bitten, Oscar ehelichen zu dürfen.   Nachdem das Unwetter sich beruhigte, brachen sie nach Toulouse in dem Languedoc auf. Von dort nach Foix in der Grafschaft Foix, Perpignan in Roussillon, Avignon in der Grafschaft Venaissin und Aix-en-Provence in der Provence. Ende August erreichten sie nach einem gemütlichen Ritt Nizza in der Grafschaft Nizza. Kapitel 8: Überfahrt -------------------- Ende August, 1774.   Nizza in der Grafschaft Nizza war eine Hafenstadt im Südosten Frankreichs und lag an der Grenze zu Italien, zwischen Cannes und dem Fürstentum Monaco an der Côte – d´Azur am Mittelmeer. Während in manchen Provinzen Frankreichs bereits die ersten Blätter von den Bäumen fielen und sich der regnerische Herbst damit ankündigte, herrschte hier noch die Sommerhitze.   Graf de Girodel saß hoch im Sattel und wischte ununterbrochen den Schweiß von seiner Stirn und Gesicht mit seinem Taschentuch, aber es half nicht viel. Nicht einmal die Meeresluft am Hafen erfrischte die unbedeckte Haut. Hoffentlich würden sie bald in einen Gasthof einkehren und wenigstens die Ausgehjacke ablegen. Aber Kapitän Oscar wollte zuerst mit dem Fährmann wegen der Überfahrt nach Korsika verhandeln. Genauer gesagt nach Ajaccio. Im Jahr 1768 war diese Insel nach einem langen Unabhängigkeitskrieg gegen Genua (Italien) an Frankreich verkauft worden. Seitdem hatten sich die Franzosen Korsika bemächtigt und die Insel unter die Krone Frankreichs gestellt. Victor dachte nicht mehr darüber nach und betrachtete lieber Lady Oscar aus der Ferne. Nur noch etwas, nur noch ein bisschen und dann würde er sie zu seiner Frau machen. André würde er danach selbstverständlich verjagen, notfalls aus Frankreich fortschicken und mit Oscar glücklich leben. Ja, das war eine traumhaft schöne Vorstellung und Victor malte schon Bilder davon in seiner Phantasie.   André stand derzeit bei den Pferden und hielt sie an den Zügeln. Ihm war auch warm, aber nicht nur von der Sommerhitze. Sein Blick ruhte sanft auf Oscar, die wenige Meter entfernt mit dem Fährmann verhandelte, und erlaubte sich ein verträumtes Lächeln. Graf de Girodel saß doch auf seinem Pferd und sah sein Gesichtsausdruck nicht. Also warum dann nicht an die Liebe und die Leidenschaft, die er mit Oscar zuletzt vor zwei Monaten verlebt hatte, denken dürfen? Nachts tat er das ja auch. Und Oscar ebenfalls. Sie sagte das zwar nicht, aber er konnte sich das schon gut vorstellen. Es war zwar schwierig, sie in einer dieser Nächte im Gasthof nicht aufzusuchen und mit ihr nicht mehr die Liebe zu teilen, aber das haben sie sich vorgenommen und mussten wegen Graf de Girodel es auch einhalten. Wenn sie im getrauten Heim auf dem Anwesen der de Jarjayes sein würden, dann würden alle Gelüste nachgeholt und der Hunger nacheinander gestillt werden. Jetzt jedoch hieß es durchhalten und dem Grafen keine Möglichkeit geben, Verdacht über die Liebesbeziehung zwischen ihnen zu schöpfen.   Sein verträumtes Lächeln verschwand, als Oscar auf sie zu kam. Das Spiel der unterdrückten Empfindungen und Verlangen trat wieder in Kraft und André gab Oscar wie gewöhnlich die Zügel ihres Pferdes. „Und hast du mit dem Fährmann verhandeln können?“   „Ja.“ Oscar nahm die Zügel und stieg in den Sattel, ohne ihn anzusehen. „Morgen bei Sonnenaufgang werden wir nach Korsika übersetzen.“ Sie wartete, bis André auf seinem braunen Pferd saß und ritt an. Ihre Haltung trug sie wie immer gerade, ihr Gesichtsausdruck war verhärmt und ihren Blick richtete sie konzertiert nach vorn, aber mit ihrem Bauch stimmte etwas nicht mehr. Als sie mit dem Fährmann verhandelt hatte, hatte sie eine leichte Übelkeit verspürt. Das war das erste Mal seit dem Beginn der Reise. Lag das etwa an dem Meer? Aber das war unmöglich, denn sie liebte das Meer. In der Normandie ritt sie gerne der Küste entlang und hatte sich noch nie schlecht gefühlt. Im Gegenteil, sie fühlte sich am Meer immer wohl und irgendwie frei. Besonders wenn sie mit André um die Wette ritt und dabei den Gegenwind auf ihrer Haut spürte.   André… Ihre Gedanken schweiften zu ihrem letzten Beisammensein mit ihm. Sie sehnte sich nach ihm, nach seiner Liebe und Zärtlichkeit mit jedem Tag immer mehr und ihr Körper verlangte nach ihm. Aber sie durfte diesem schmerzlichen Verlangen nicht nachgeben und musste durchhalten! Ihr Vater hatte sie doch nicht umsonst eiserne Disziplin gelehrt und ihr zu kämpfen beigebracht. So würde sie das auch machen und das Verlangen nach Liebe und Zuneigung bekämpfen! André machte das doch auch und was er konnte, würde sie es noch besser können!   In einem Gasthof, den sie für die Übernachtung auswählten, nahmen sie als erstes ein kühles Bad, jeder in seinem Zimmer. Eine junge Frau, die Tochter des Wirtes Namens Constance, half Oscar sich den Männerkleidern zu entledigen und in den Zuber zu steigen. Sie war am Anfang überrascht, dass ein junger Mann aus nobler Herkunft ihre Anwesenheit beim Baden wünschte und hätte das als Beleidigung aufgenommen. Aber als Oscar erklärte, sie sei eine Frau, hatte sich Constance ihr gerne angenommen und dabei gedacht: Die Menschen in Versailles mussten bestimmt keine gewöhnliche Menschen sein, wenn Frauen dort Männerkleider oder Männer Frauenkleider trugen. Sie hatte nämlich von einem Mann Namens Chevalier d´Éon gehört, der im Auftrag des verstorbenen Königs angeblich Frauenkleider tragen sollte und nun begegnete sie einer Frau, die Männerkleider trug. Aber was soll´s. Ihre Aufgabe bestand darin, Gäste zu bewirten und für ihr Wohl zu sorgen. Alles andere ging sie nichts an.   Oscar entspannte sich im kühlen Wasser, während Constance ihr das Haar mit nach Lavendel duftender Seife einschäumte. Sich vom Staub und Schweiß der Reise zu befreien und sich im kühlen Bad zu erfrischen, war ein herrliches Gefühl und betörte Oscar etwas die Sinne. Sie nahm ein Stück Seife von Constance und wusch damit ihren Körper. Zuerst ihre Arme, Schulter und Brustkorb. Dann ihre etwas größer und straf gewordenen Brüste, die kleine Bauchwölbung und anschließend ihre langen Beine. Dabei fragte sie sich nicht zum ersten Mal, warum sich ihr Körper ausgerechnet auf der Reise veränderte und woher die Bauchwölbung kam. Sie aß doch noch weniger als André und Girodel und diese bekamen keinen Bauch! Dazu kam noch die Übelkeit am Hafen und das stimmte sie nachdenklich. Vielleicht sollte sie einen Arzt aufsuchen? Aber doch nicht bei einer solchen Nichtigkeit! Also dann abwarten und ihren Körper weiter beobachten. Womöglich lag das an der langen Reise und der Sommerhitze, vermutete Oscar und tauchte unters Wasser, um die Seife abzuspülen. Constance half ihr danach beim Abtrocknen und Oscar fühlte sich nach diesem kühlen Bad viel belebter und erfrischter. Auch die Übelkeit verschwand, was ihre Vermutung bestätigen ließ, dass alles an der Wärme und der Reise lag.       - - -       Ajaccio, Korsika. Oscar hätte am liebsten den Boden unter ihren Füßen geküsst, nachdem sie auf leicht wackeligen Beinen vom Bord des Schiffes kam. Zehn Stunden während der Überfahrt hatte sie sich elend gefühlt und dachte, sie würde es bis zu der Küste nicht überleben. Schon als das Schiff aus Nizza abfuhr war die Übelkeit in ihr gestiegen und sie musste sich über die Reling übergeben. Ein Matrose hatte ihr empfohlen, lieber unter Deck zu gehen und das tat sie. Das gleichmäßige Schaukeln des Schiffes auf der rohen See vertrieb zwar nicht die Übelkeit, aber förderte wenigstens nicht alles aus ihrem Magen heraus. Jetzt war aber die Seefahrt vorbei und Oscar war froh, wieder auf dem festen Boden zu stehen.   „Geht es dir besser, Oscar?“, fragte André noch immer um sie besorgt und stützte sie von einer Seite. Er war zu tiefst erschrocken, als Oscar sich auf der Seefahrt über der Reling erbrochen hatte. Als er nach der Empfehlung des Seemannes ihr unter Deck folgte, musste er ihr schon da unter den Arm greifen und sie stützen. Das war ihre erste Berührung seit Beginn der Reise, aber an irgendwelche Gelüste war nicht zu denken. Sorge und Angst um das Wohl seiner Geliebten waren die einzigen Empfindungen, die er während der Überfahrt nach Korsika hatte. Auch jetzt war Oscar noch grün um die Nase und das trug nicht gerade zur Beruhigung bei.   „Mir wird es gleich besser gehen.“ Oscar erlaubte zwar André, sie zu stützen, aber versuchte gleichzeitig auch selbst ihre Haltung gerade zu halten. Es sollte ja auch wie eine Stütze aussehen, ohne dass bei Girodel irgendwelche Hintergedanken aufkamen. Im Gegensatz zu ihr schienen André und ihr Untergebener die Seeüberfahrt hervorragend überstanden zu haben, denn die beiden hatten nicht einmal eine leichte Übelkeit gehabt. Wie beneidenswert… „Graf de Girodel, findet eine Kutsche, die uns zum nächst gelegenen Gasthof bringt.“, gab sie ihrem Untergebenen den Auftrag und dieser befolgte ihn unverzüglich. Da sie ihre Pferde im Gasthof in Nizza unter Obhut des Wirtes und dessen Tochter Constance gelassen hatten, waren sie hier in Korsika auf eine Kutsche angewiesen. Aber vielleicht war das gut so, denn Oscar wäre jetzt in ihrer Verfassung nicht unbedingt gewillt, in den Sattel zu steigen.   „Zu Befehl, Kapitän.“ Victor seinerseits machte sich um Lady Oscar auch große Sorgen und hätte sie gerne wie André gestützt, aber das hätte sie bestimmt abgelehnt. Sie war einfach zu stolz, um seine Hilfe anzunehmen, dachte er, und deshalb nahm sie lieber die Stütze von André an. Oder besser gesagt, weil André ihr Geliebter war. Girodel glaubte nicht daran, dass Lady Oscar ihn deshalb eine Kutsche holen schickte, um mit André für kurz die Liebeleien auszutauschen, weil sie wirklich erkrankt aussah. Also machte er sich anders nützlich und holte eine Kutsche, die sie dann auch in einen, ihrem Rang angemessenen, Gasthof brachte.   Zwei Tage hatte Oscar gebraucht, bis die Übelkeit gänzlich nachließ und sie sich wieder gut fühlte. Nur morgens erbrach sie das Abendessen in einen Nachttopf, aber sonst war alles wieder wie früher. Am dritten Tag erkundigte Oscar mit ihren Männern die Stadt und verhandelte am Hafen die Überfahrt nach Nizza mit dem Fährmann. Diesmal war sie von André und Girodel von beiden Seiten flankiert und so bekamen sie mit, dass sie morgen bei Sonnenaufgang die Insel Korsika verlassen und zurück nach Nizza übersetzen würden. „Mich graut die Überfahrt jetzt schon.“, gestand Oscar, als sie mit ihren Begleitern in Richtung des Gasthofes gingen.   Eine vornehme Familie, die bestimmt einem korsischen Kleinadel angehörte, ging ihnen entgegen und sie grüßten sich gegenseitig mit einem höflichen Nicken, so wie es am Hofe und unter den Adligen angebracht war. Oscar hätte vielleicht diese Familie gleich vergessen, wenn nicht der kleine Junge sie beim Passieren intensiv anschaute und ganz laut zu seiner Mutter sagte: „Ich habe keine Angst vor der Seeüberfahrt!“   „Das ist auch richtig so, Napoleon.“, erwiderte dessen Mutter, ohne anzuhalten und beachtete auch nicht, dass Oscar, André und Graf de Girodel ihnen ein wenig irritiert nachschauten. Sie waren sich sicher, dass der schwarzhaarige Junge, der schätzungsweise fünf Jahre zählte, die Aussage von Oscar gemeint hatte.   „Er wird sicherlich anders reden, wenn ihm die Seefahrt nicht gut bekommt.“, meinte Victor stirnrunzelnd und schaute wieder zu Oscar. „Nimmt seine Worte nicht ernst, Kapitän. Er ist noch ein Kind und weiß bestimmt nicht, was er da redet.“   „Mir ist es egal, was er gesagt hat.“ Oscar kehrte der korsischen Adelsfamilie, die in der Ferne bereits fast verschwunden war, den Rücken und setzte ihre Füße wieder in Bewegung. Die Worte des Jungen waren für sie in der Tat nicht von Bedeutung. Es war nur der Junge selbst und sein intensiver Blick, der in ihr ein mulmiges Gefühl verursachte. Oscar seufzte und versuchte nicht mehr an ihn zu denken. Morgen würde sie andere Sorgen haben und wappnete sich schon gegen die Überfahrt. Jedoch half ihr die Vorbereitung nicht im Geringsten und bei der Rückfahrt ging die Tortur erneut los. Die zehn Stunden auf der rohen See erschienen ihr diesmal noch länger und unerträglicher als bei der Hinfahrt. Sie versuchte unter Deck zu schlafen, um wenigstens die Zeit zu kürzen, aber durch das Schwanken des Schiffs hin und her ging das nicht.   André und Girodel machten sich noch mehr Sorgen um Oscar und hofften inständig, dass sie die Überfahrt nicht so hart treffen würde wie beim letzten Mal. Besonders André verging vor Kummer und Sorge um seine Geliebte und wich keine einzige Minute von ihrer Seite. Auch Girodel blieb in ihrer Nähe und zählte die Minuten, bis sie wieder an Land waren. „Lady Oscar, wenn Ihr etwas braucht...“   Oscar schüttelte verneinend den Kopf und es kam nur ein schwaches und gequältes: „Ich brauche nichts.“ von ihr.   Irgendwann erreichten sie das Festland und kaum dass sie vom Bord gingen, eilte Girodel unverzüglich durch den Hafen von Nizza und suchte nach einer Kutsche für Oscar. Währenddessen wurde sie von André gestützt und als sie im Gasthof ankamen, braute Constance einen Tee gegen die Übelkeit für Oscar. Die junge Frau in Männerkleidern war nicht die Erste und würde auch nicht die Letzte sein, der die Seeüberfahrten nicht gut bekamen. Kapitel 9: Verzögerung ---------------------- Die Nacht nach der Überfahrt war schrecklich. Stickige und erdrückende Luft von der Tageshitze hielt sich hartnäckig in ihrem Zimmer. Das offene Fenster und der leicht salzige Geruch von dem Meer, das unweit vom Gasthof ruhig rauschte und ankernde Schiffe schaukelte, half auch nicht viel. Oscar schlief nur in einem ärmellosen, knielangen Hemd und vom Lacken unbedeckt. Wobei das Wort „Schlafen“ war übertrieben. Sie wälzte von einer Seite auf die andere und konnte kein Auge zumachen. Aber wenigstens die Übelkeit, dank dem Tee von Constance, hatte nachgelassen.   Der Morgen graute und die Übelkeit kam zurück. Da Oscar sowieso die Nacht kaum geschlafen hatte, schob sie den Nachttopf, der unter ihrem Bett stand, heraus und erbrach ihr Abendessen darein. Wenn das so weitergehen würde, dann würde sich die Weiterreise um ein paar Tage verzögern. Das gefiel Oscar nicht und sie würgte die Reste raus. Dadurch hatte sie das Klopfen an der Tür nur wie aus weiter Ferne wahrgenommen und konnte nichts sagen. Aber das würde sowieso die Tochter des Wirtes sein, dachte Oscar und behielt recht. Constance brachte erneut den Tee gegen die Übelkeit und stellte das kleine Tablett auf den Tisch. „Guten Morgen, Mademoiselle Oscar.“ Die Reisende aus Versailles tat ihr beinahe leid. Constance bereitete für sie eine Schüssel mit frischem Wasser und legte auch Tücher zum Abtrocknen hin.   „Guten Morgen.“ Oscar wartete, bis ihr Magen sich etwas beruhigte und stieg dann aus dem Bett. Das Hemd klebte ihr auf der verschwitzten Haut, während sie zu der Waschschüssel ging und die Morgenwäsche machte. Das kühle Wasser erfrischte sofort ihren Geist und sie zog ihr Hemd aus, um auch ihren Körper zu waschen.   Constance räumte derweilen im Zimmer auf. „Soll ich für Euch noch etwas tun, Mademoiselle? Bis zum Frühstück ist noch etwas Zeit und Eure Begleiter sind noch nicht aufgestanden.“   Bei der Erwähnung von Girodel und André erinnerte sich Oscar, dass sie heute die Stadt erkunden wollten. Sie zog nach der Morgenwäsche ein frisches Hemd und Hose an. „Wenn meine Begleiter aufgestanden sind, dann teilt ihnen mit, dass sie heute ohne mich die Stadt erkunden sollen. Ich fühle mich nicht wohl.“   „Ich werde es ihnen ausrichten, Mademoiselle.“ Constance räumte den Nachttopf weg und verließ das Zimmer. Sie entleerte ihn auf dem Kompost im Hinterhof, spülte ihn ab und als sie zurück in das Zimmer kam, saß Oscar am Tisch und trank den Tee gegen die Übelkeit. „Eure Begleiter sind noch nicht wach.“, teilte sie ihr mit und stellte den Nachttopf wieder unters Bett hin. Weil der Gast heute im Zimmer zu bleiben beabsichtigte, brauchte sie nicht das Bett zu machen. Nur die Waschschüssel und Tücher wegräumen.   Oscar nickte auf ihre Aussage leicht abwesend und versank in Gedanken. Auch wenn der Tee für gewisse Zeit half, fühlte sie sich trotzdem nicht wohl. Ihr Körper war ermattet, ihre Brüste spannten sich unangenehm an und wirkten steif – so ähnlich wie ihre Bauchwölbung. Nein, heute würde sie lieber im Gasthof bleiben und die Landkarte anschauen, welche Provinzen sie noch bereisen mussten.   Constance verließ erneut das Zimmer und brachte die Waschschüssel mit den Tüchern weg. Als sie danach die Gaststube betrat, sah sie Graf de Girodel sich mit ihrem Vater an der Theke unterhalten und wie er ihm die Übernachtung bezahlte. „Wir werden sicherlich morgen abreisen und deshalb bezahle ich euch schon mal eine Nacht voraus.“, hörte sie ihn dabei sagen und wünschte ihm einen guten Morgen.   „Guten Morgen. Ist Lady Oscar schon aufgewacht? Und geht es ihr besser?“ Das war das einzige, was Victor interessierte. Er hatte in der Nacht an sie gedacht, sich um sie Sorgen gemacht und deswegen unruhig geschlafen.   Constance schüttelte verneinend den Kopf. „Mademoiselle Oscar geht es ganz und gar nicht gut. Sie wünschte heute im Zimmer zu bleiben und dass Ihr ohne sie die Stadt erkundigt.“   Dann war Lady Oscar offensichtlich seekrank geworden und das hieß, dass sie auch morgen hier bleiben werden, überlegte Girodel und traf eine Entscheidung. „Gibt es hier in der Nähe einen guten Arzt?“   „Ja, Monsieur.“ Constance war es gewohnt, dass Reisende, die hier zu Gast waren und eine Seeüberfahrt hinter sich hatten, nach einem Arzt fragten. „Auf der Seite von unserem Gasthof, zwei Häuser weiter, ist ein sehr guter Arzt und kann die Seekrankheiten schnell heilen.“   „Gut.“ Girodel wollte sich gleich auf den Weg machen, als ihm André einfiel. Er konnte ihn doch nicht im Gasthof alleine lassen! André würde sicherlich seine Abwesenheit ausnutzen und Lady Oscar aufsuchen. Sie werden bestimmt Liebesworte miteinander austauschen, vielleicht sogar sich küssen und dieser Gedanke trieb Victor schon wieder in die altbekannte Eifersucht. Nein, das durfte er nicht zulassen! Was könnte er aber tun? Untätig hier Zeit zu verbringen wollte er auch nicht.   Als hätte man André gerufen, kam er in die Gaststube. „Guten Morgen.“, grüßte er den Grafen, den Wirt und Constance.   Girodel nickte ihm nur zum Gruß zu und ihm kam sogleich eine Idee. „Schön, dass du wach bist, André. Lady Oscar ist anscheinend seekrank geworden und deshalb gehst du unverzüglich einen Arzt holen. Er befindet sich gleich hier, zwei Häuser weiter.“   André sagte nichts und blieb äußerlich ruhig, aber innerlich verging er aus Sorge um Oscar. Eigentlich tat er das seit der gestrigen Überfahrt und konnte deshalb die Nacht kaum schlafen. Warum war die Idee mit dem Arzt nicht ihm eingefallen? „Ich bin schon auf dem Weg.“ André bat dann Constance ihm den Weg zum Arzt zu zeigen und die junge Frau willigte ein. Bis auf diese drei waren ja sowieso keine Gäste im Gasthof anwesend. Also konnte sie dem jungen Mann den Weg zum Arzt zeigen. „Wie geht es Oscar genau?“, fragte André die junge Frau auf dem Weg zum Arzt.   „Unverändert schlecht.“, sagte Constance. „Sie hat heute früh sogar in den Nachttopf erbrochen.“   „Also ein Grund mehr, einen Arzt zu holen.“, seufzte André schwer und hoffte, sie würden den Arzt schon bald erreichen.   Girodel lächelte zufrieden und sobald André mit Constance die Gaststube verließ, ging er unverzüglich zu dem Zimmer von Oscar. Er musste unbedingt die Abwesenheit von André ausnutzen und klopfte an der Tür. „Kapitän, darf ich eintreten?“   „Ja, Graf de Girodel.“, hörte er ihre Stimme und betrat feierlich das Zimmer.   Oscar stand am Tisch, vor ihr lag die ausgebreitete Landkarte und sie schaute vornüber gebeugt darauf. Und sie sah etwas blass aus. Gut, dass ihm die Idee mit dem Arzt gekommen war, dachte Victor bei sich und teilte ihr sein Anliegen mit: „Ich hörte, Ihr seid nicht wohlauf und deshalb habe ich André nach einem Arzt geschickt.“   Wie bitte? Oscar schaute ihn verwundert an. „Einen Arzt? Ich brauche keinen Arzt.“ Was sie brauchte, war, dass sie so schnell wie möglich die Reise fortsetzen und noch bis zum Winter zurück in Versailles waren.   „Das würde Euch helfen, schnell zu genesen.“, erklärte Victor und blieb ihr gegenüber am Tisch stehen. Er versuchte ihr nur ins Gesicht zu sehen und verbat sich krampfhaft, einen Blick in ihr Ausschnitt zu werfen. Lady Oscar durfte nichts von seinen Gefühlen zu ihr merken und in ihm weiterhin den Untergebenen sehen. Wenn er sie geheiratet hatte, würde er sich solche Anblicke auf ihre nackte Haut noch genug erlauben und ihren Körper liebkosen, so viel wie er wollte.   „Hmmm ...“ Wenn Oscar überlegte, dann war das vielleicht doch kein schlechter Gedanke mit dem Arzt. So würden sie eher die Reise fortsetzen und den Auftrag schneller erledigen können. Und nebenbei beruhigte es sie, dass André nicht alleine mit Girodel bleiben musste. Sie hatte schon den Gedanken gefasst, nur Girodel auf die Erkundung der Stadt zu schicken und dass André bei ihr blieb. Das würde ihren Untergebenen bestimmt wundern, aber ihm nicht verdächtig vorkommen, weil André schon immer als ihr Gefährte zählte und das war überall bekannt. „Also gut, Ihr habt womöglich recht, Graf de Girodel. Nachdem der Arzt da war, könnt Ihr die Stadt erkunden. Je schneller der Arzt mich untersucht, desto eher können wir aufbrechen. Wir haben immerhin noch achtzehn Provinzen zu besuchen.“ Sie senkte den Blick über die Karte und zeigte mit dem Finger all die Provinzen, die sie noch vor sich hatten. Girodel folgte mit Argusaugen ihrem Finger und überlegte insgeheim, wie er es vermeiden konnte, dass André ohne ihn im Gasthof blieb. Dabei unterdrückte er den Drang, ihre Hand zu berühren und begnügte sich nur mit ihrer Nähe. Oscars Finger auf der Karte zog die letzte Linie von Paris nach Versailles und dann hob sie ihren Blick. „Wisst Ihr, ob das Frühstück fertig ist?“, fragte sie unvermittelt. Ihr Magen begann langsam zu knurren und es wäre ihr äußerst unangenehm, wenn ihr Untergebener das hören würde.   „Ich werde nachschauen, Lady Oscar.“ Girodel war zwar nicht begeistert, sie zu verlassen, aber ihr Wunsch ging eben vor. Auf dem Weg in die Gaststube begegnete er Constance und einem Mann in den mittleren Jahren. Das war sicherlich der Arzt, vermutete er und grüßte ihn freundlich. „Mein Name ist Graf Victor Clement de Girodel.“, stellte er sich gleichzeitig auch vor. „Und Ihr seid sicherlich der Doktor, nachdem ich unseren Burschen losgeschickt habe.“ Das war mehr eine Feststellung als eine Frage.   Der Arzt nickte zustimmend. Constance hatte ihm über die Gäste in ihrem Gasthof bereits erzählt und dass die Frau in Männerkleidern krank nach der Seefahrt geworden war. Der junge Mann, mit dem sie zu ihm gekommen war, hatte noch hinzufügt, dass sie im Auftrag des Königs auf der Reise durch Frankreich waren und dass sie so schnell wie möglich weiter reisen wollten. „Ja das bin ich.“, stellte sich auch der Arzt dem Grafen vor. „Euer Diener und Mademoiselle Constance haben mir die Situation erklärt. Ich vermute die lange Reise von Versailles ist noch ein zusätzlicher Auslöser vom Unwohlsein von Eurem Kapitän. Aber das kann ich genauer sagen, wenn ich Mademoiselle Oscar untersucht habe.“   „Ich danke Euch, dass Ihr so schnell gekommen seid, Herr Doktor. Die Gesundheit von Lady Oscar liegt mir sehr am Herzen.“, offenbarte Girodel mit ehrlicher Sorge in der Stimme und der Arzt beruhigte ihn sogleich verständnisvoll mit den Worten, „Das ist doch selbstverständlich, Graf, das Wohl meiner Patienten liegt mir auch sehr am Herzen.“ Er ging weiter und Constance zeigte ihm Oscars Zimmer.   Victor schaute noch, wie der Arzt mit der Tochter des Wirtes in das Zimmer hereinging und setzte seinen Weg fort. In der Gaststube entdeckte er André an der Theke und wie er dem Wirt über die lange Reise von Versailles bis hierher erzählte. Nebenbei fragte er den Wirt, wie die Menschen hier in Nizza sich über das neue Königspaar dachten. Einerseits erfüllte er damit den Auftrag und andererseits lenkte er sich damit von der Sorge um Oscar ab. Girodel nahm an einem der Tische Platz und wartete geduldig, bis der Arzt mit der Untersuchung von Lady Oscar fertig war.       Nach der formellen Begrüßung begann der Arzt mit der Untersuchung. Er fragte, wann das mit der Übelkeit begonnen hatte und Oscar erzählte es ihm. Auch über das Erbrechen am frühen Morgen und dass ihr Körper sich in letzter Zeit veränderte. Er war ja schließlich ein Arzt und würde vielleicht wissen, was mit ihr genau los war. Der Arzt kümmerte sich sofort fachmännisch um sie und Oscar ließ sich untersuchen. „Ihr seid zum Glück nicht seekrank geworden, Mademoiselle.“, sagte er zum Schluss und holte eine Medizin aus seiner Arzttasche. „Das müsst Ihr beim Essen einnehmen. Keine Sorge, das sind harmlose Kräuter, die Eurem Magen und auch Eurem Kind wohltun werden, sodass Ihr nicht so oft erbrechen müsst.“   Oscar starrte den Arzt perplex an und dachte, sie hätte sich verhört. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund leicht geöffnet. „Meinem Kind?“   Der Arzt wunderte sich über ihre Reaktion und schaute zu Constance, die ihm bei der Untersuchung behilflich war und jetzt neben ihm am Bett stand. Sie zuckte unwissend mit den Schultern. „Vielleicht ist das ihr Erstes?“, vermutete sie.   Das wäre durchaus möglich und würde die Fassungslosigkeit der jungen Frau erklären, dachte der Arzt und widmete sich wieder Oscar zu. „Ihr seid doch guter Hoffnung und deshalb dürft Ihr nicht jede Medizin einnehmen.“, erklärte er, ohne zu ahnen, was er gerade anrichtete. „Ihr müsst Euch viel ausruhen und Euch keine Anstrengungen zumuten. Eure Bauchwölbung zeigt, dass Ihr im vierten oder fünften Monat sein müsstet und deswegen empfehle ich noch zusätzlich auf Umstandskleider zu wechseln.“   „Ich erwarte ein Kind?“, unterbrach Oscar ihn fassungslos. Das war das einzige, was in ihrem Kopf durchging und sie fühlte sich so, als würde alles um sie herum zerbrechen. Nein, bitte nicht! Sie durfte keine Kinder erwarten – dazu wurde sie nicht erzogen!   „Mademoiselle Constance, seid so freundlich und bereitet bitte einen Tee zu Beruhigung für Lady Oscar zu.“, sprach derweilen der Arzt zu der Tochter des Wirtes und diese verließ augenblicklich das Zimmer. Dann schaute er mitfühlend Oscar an. „Mir scheint, Ihr wisst noch nichts von Eurem Glück?“   „Nein.“ Oscar schüttelte kaum merklich den Kopf. Woher sollte sie darüber wissen? Und wieso sprach der Arzt vom Glück? Sie fühlte sich keineswegs glücklich, sondern viel mehr am Boden zerstört! Wie sollte das nun weiter gehen?   „Dann gratuliere ich Euch, Mademoiselle.“ Der Arzt lächelte gütig. Sicherlich war das nur der Moment der Überraschung und Lady Oscar müsste das erst einmal verarbeiten. Sie brauchte ein wenig Zeit alleine und deshalb verabschiedete er sich. „Ich werde heute Abend nach Euch schauen, aber bis dahin ruht Euch aus und esst ausreichend, um bei Kräften zu bleiben.“ Er verließ das Zimmer und ließ seine Patientin alleine.   Oscar hörte wie die Tür hinter dem Arzt zu ging und warf sich aufs Bett. Wütend schlug sie auf das Kissen mit ihrer Faust und wollte am liebsten schreien. Ein Kind bedeutete ihren Untergang und das Schicksal von ihrem André wäre dann auch ungewiss. Ihr würde der Adelstitel aberkannt, ihr Vater würde sie bestimmt aus der Familie verstoßen und ihr Geliebter würde auch hart bestraft werden. Nicht, dass es ihr der Adelstitel wichtig wäre, das nicht. Ihre einzige Sorge galt André und jetzt auch nun ihrem gemeinsamen Kind. Was würde er dazu sagen, dass er Vater wurde? Und wie sollte sie ihm das beibringen? Sie konnte doch nicht mitten auf der Reise und in Gegenwart von Girodel ihm ihre Schwangerschaft offenbaren! Aber nach der Reise würde das auch nicht mehr gehen können, denn da würde das Kind höchstwahrscheinlich das Licht der Welt erblicken – mitten im nirgendwo. Wie schrecklich! Warum musste ihr das unbedingt passieren? Kapitel 10: Der Umstand ----------------------- Der Arzt kam in die Gaststube und spürte sofort zwei Augenpaare auf sich gerichtet. Sicher machten sie sich Sorgen um Mademoiselle Oscar und warteten ungeduldig auf das Ergebnis der Untersuchung. Den Diener an der Theke beachtete der Arzt nicht weiter und ging auf den Grafen zu, der sich gleich vom Tisch erhob und ihm entgegen eilte. Die Sorge stand ihm wortwörtlich ins Gesicht geschrieben. „Geht es Lady Oscar besser? Wie schlimm hat sie die Seekrankheit getroffen?“   Bei dem Gedanken, dass die junge Frau von ihrer Schwangerschaft selbst nichts wusste, dachte der Arzt, dass auch der Graf ahnungslos war. Also musste er es ihm beibringen. Womöglich war er der Vater des Kindes und die Nachricht würde ihn sicherlich erfreuen. Wenn nicht der Graf der Vater war, dann müsste er es trotzdem erfahren, denn Lady Oscar würde auf ihrer Weiterreise vieles beachten müssen und würde auch Unterstützung gebrauchen. Der Graf schien ihm ein guter Freund von ihr zu sein. „Ihr könnt beruhigt sein, Monsieur.“, erzählte der Arzt und lächelte dabei immer mehr. „Mademoiselle Oscar ist von der Seekrankheit verschont geblieben. Sie erwartet nur ein Kind und das auch im vierten oder fünften Monat. Ich empfehle ihr für ein paar Tage sich auszuruhen und wenn sie die Reise fortsetzt, dann soll sie nicht so schnell reiten und auch oft eine Rast einlegen. Ich werde später noch einmal vorbeikommen und weitere Sachen erklären, die sie beachten muss.“   „Danke, Doktor.“ Victor zeigte ein Lächeln, aber innerlich glaubte er zu sterben. Seine geliebte Lady Oscar trug ein Kind von André? Also war das zwischen ihnen keine oberflächliche Liebesaffäre? Seine Träume, Oscar zu heiraten, waren mit einem Mal vernichtet. Er konnte sie doch nicht ehelichen, wenn sie von jemand anderen schwanger war! Das war unter seiner Würde und er fühlte sich niedergeschlagen, am Boden zerstört und als würde ihm das Herz in tausende Stücke gerissen. Die Affäre mit André konnte er noch halbwegs ertragen und war bereit, sie trotzdem zu seiner Frau zu nehmen, aber nicht mit Kind. Wie sollte es nun weitergehen? Der Arzt sprach über den Wechsel auf Umstandskleider und betonte das vorsichtige Reiten auf dem Pferd, aber Victor hörte ihm mit halbem Ohr zu. Aus dem Augenwinkel merkte er, wie André eilends die Theke verließ und in den Gang mit den Zimmern der Gäste verschwand. Das würde er auch gleich machen, aber erst wenn der Arzt gegangen war. Denn er hatte Fragen, die nur Lady Oscar ihm beantworten konnte.   André stürmte in Oscars Zimmer ohne anzuklopfen. Sein Herz raste und drohte ihm aus dem Brustkorb zu springen. Die Worte des Arztes sausten wie grelle Blitze in seinem Kopf und brachten in ihm alles durcheinander. Seine Oscar war schwanger? Seit wann? Und wie ging es nun weiter? André sah seine Geliebte im Bett liegen, wie sie ihre Knie an sich gezogen hielt und mit einer Faust gegen das Kissen schlug. Offensichtlich hatte sie selbst vom Arzt über ihren Umstand erfahren, begriff er und schluckte hart. „Ist das wahr, Oscar?“, fragte er vorsichtig und kam langsam zu ihr ans Bett.   „Was?“ Oscar saß erschrocken auf und schaute ihn mit tränennassen Augen an. Eine dunkle Vorahnung stieg in ihr auf, dass André über ihren Umstand Bescheid wissen konnte und das machte es ihr nicht gerade leichter. Was sollte sie ihm darauf sagen?   André setzte sich neben ihr und hätte sie am liebsten in seine Arme gezogen, aber nicht bevor diese eine Frage geklärt war. Er versuchte Ruhe zu bewahren und seine durcheinandergeratenen Gefühle zu dämpfen. Denn seine Oscar hatte es anscheinend härter getroffen, sonst würde sie nicht so verloren und verzweifelt auszusehen. Ihr aufgelöster Anblick schmerzte ihm sehr, er musste es ihr sagen, was er erfahren hatte. „Der Arzt hat gerade in der Gaststube dem Graf de Girodel erzählt, dass du ein Kind erwartest.“   „Wie bitte?“ Oscar glaubte sich verhört zu haben. Warum ausgerechnet Girodel? Wenn es nur André wäre, dann wäre sie vielleicht dem Arzt sogar dankbar, dass er ihr die Entscheidung abgenommen und ihm über ihre Schwangerschaft erzählt hatte. Aber nicht doch Girodel! Oder glaubte der Arzt, dass es sein Kind war? Oscar schlug sich die Hand gegen die Stirn und ihr Körper zitterte leicht. Das konnte alles doch nicht wahr sein! Jetzt passierte auch noch das, was sie die ganze Zeit zu vermeiden versucht hatte – nämlich Girodel als Mitwisser zu haben! Sie hätte dem Arzt lieber sagen sollen, über ihren Umstand ihren Begleitern nicht zu erzählen. Jetzt war es jedoch zu spät, etwas daran ändern zu können und wohl oder übel musste sie nun überlegen, wie es mit Girodel weiterging. Auf jeden Fall würde sie ihn zum Schweigen ermahnen müssen und wenn er wirklich ihr so treu ergeben war, dann würde er es tun. Oscar zuckte leicht zusammen, als sie eine sachte Berührung auf ihrem Arm spürte und entfernte ihre Hand von der Stirn. In den grünen Augen ihres Geliebten las sie so viel Sorgen und Zärtlichkeit, dass es ihr noch mehr an der Seele schmerzte.   „Oscar, Liebste, sag doch etwas.“, bat er sie sanft und verzweifelt zugleich.   Oscar hielt es nicht mehr aus und warf sich ihm an die Brust. „Ich habe das alles nicht gewollt...“ Seine Berührung hatte in ihr allerlei Emotionen ausgelöst, sie schwach gemacht und sie klammerte sich an ihn wie an einem Strohhalm. „André, Geliebter, was machen wir jetzt? Wir können Girodel nicht mehr unsere Liebe verschweigen, da er jetzt über meinen Umstand weiß und genauso kann ich nicht mehr in meinem Zustand nach Hause kommen ...“   André umarmte sie, spürte wie ihr Körper leicht zitterte und litt mit ihr mit. Seine arme Oscar – so verzweifelt und hilflos hatte er sie noch nie erlebt. Wieso musste ihr das ausgerechnet jetzt passieren? Er hätte nichts gegen ein Kind mit ihr, aber doch nicht gerade jetzt! Vielleicht irgendwann einmal später und wenn sie das gewollt hätte. Aber nun war es geschehen, sie trug ein Kind von ihm unter ihrem Herzen und sie mussten unbedingt eine Lösung finden, wie es weiter gehen sollte. „Oscar, Geliebte, egal was passiert, ich werde dich und nun auch unser Kind nie im Leben verlassen.“ André vergrub seine Nase in ihrem weichen Haar und in dem Moment flog die Tür auf. Die zwei rissen sich von einander, als wären sie verbrannt.   Girodel hätte beinahe gelacht, wenn die Situation nicht so gravierend ernst wäre. Wie oft hatte er gelauert, um sie in ihrer Zweisamkeit zu ertappen, aber erfolglos. Jetzt hatte er sie bei einer Umarmung gestört und anstelle von düsterer Eifersucht, verspürte er Enttäuschung und Leid. „Lady Oscar, ich weiß alles. Von Eurer Liebesaffäre mit André und jetzt auch, dass Ihr ein Kind von ihm erwartet!“ Er atmete pausenlos, als wäre er gerade gerannt und in seinem Gesicht stand noch immer die Fassungslosigkeit geschrieben. „Liebt Ihr ihn?“, fragte er in einem Ton in einer Mischung aus Verzweiflung und Aufforderung.   „Girodel, was soll das?!“ Oscar sprang vom Bett auf, zusammen mit ihrem Geliebten. André hielt sie bei den Schultern und deutete ihr damit an, sie sollte sich in ihrem Zustand nicht aufregen. Aber wie sollte sie ruhig bleiben, wenn heute die Welt untergehen zu schien? Zuerst erfuhr sie, dass sie schwanger war, dann setzte der Arzt ihren André und Graf de Girodel darüber in Kenntnis und jetzt auch noch das?! War ihr Untergebener etwa verrückt geworden? Was fiel ihm ein, mit ihr in diesem Ton zu sprechen!   Victor schaute direkt in ihr wunderschönes Antlitz. Auf ihren Wangen glänzten die Spuren von Tränen, aber in ihren Augen sah er Zorn aufleuchten. Hatte er sie etwa wütend gemacht? Das tat ihm leid, aber er wollte es so gerne wissen. „Bitte, Lady Oscar, sagt es mir!“   Wieso interessierte ihn das? Ihr Magen knurrte vor Hunger und das machte sie noch wütender. Aber was soll´s! Offensichtlich wusste er noch mehr, als sie angenommen hatte und da er bereits über ihren Umstand in Kenntnis gesetzt wurde, konnte sie ihm den Rest offenbaren. „Wenn Ihr das so wollt, ja, ich liebe André, so wie er mich! Zufrieden?“, schleuderte sie ihm aufgebracht entgegen und nicht einmal die Hände von André auf ihren Schultern konnten sie beruhigen. „Jetzt sagt was Ihr von mir wollt, Graf de Girodel?! Warum stellt Ihr mir diese Frage? Seht Ihr nicht, dass ich nicht in der Verfassung bin, mich mit Euch zu unterhalten und dass ich mit André jetzt einiges zu besprechen habe?“   Doch das sah er. „Ich...“ Victor fehlten die Worte. Jetzt hatte er aus ihrem Mund gehört, was André für sie bedeutete und das schmerzte ihn. Er musste sie aufgeben. Sie liebte nicht ihn und würde höchstwahrscheinlich das auch niemals tun, das verstand er und schluckte hart, um seine Stimme wieder zu finden. „Ich will Euch helfen, Lady Oscar.“, brachte er in einem etwas versöhnlichen Ton.   „Mir helfen?“ Oscar war ein wenig irritiert, aber blieb auf der Hut und die Hände von André auf ihren Schultern gaben ihr auch eine gewisse Stütze und Kraft. „Wie wollt Ihr mir helfen?“ Mit anderen Worten: Konnte sie ihm trauen? Sie schätzte ihn als ihren Untergebenen, aber bei der Erinnerung, wie er immer André abfällig angesehen hatte, bekam sie Zweifel. Aber vielleicht hatte er ihn deshalb so angesehen, weil er über sie beide Bescheid wusste? Und er hatte geschwiegen? „Erzählt lieber, was Ihr über mich und André wusstet und woher!“   „Ich habe Euch oft mit André im Garten von Versailles gesehen und wie ihr euch geküsst habt.“, begann Victor und als er merkte, wie der Gesichtsausdruck sowohl bei André so auch bei Oscar sich verfinsterte, versicherte er aufrichtig: „Aber glaubt mir, ich habe niemanden etwas davon erzählt, weil ich Euch sehr schätze, Lady Oscar. Deshalb biete ich Euch meine Hilfe und meine Freundschaft an.“   Die Gesichtsausdrücke der beiden milderten sich. Oscar schaute etwas unsicher zu André und dieser zu ihr. Wir werden seine Unterstützung brauchen, besagte sein Blick und Oscar gab ihm recht. Girodel hätte sie schon früher verraten können, aber hatte es nicht getan. Das hieß, dass er den Kapitän der königlichen Garde wirklich schätzte und würde aus diesem Grund weiterhin schweigen. Oscar atmete tief ein und aus. „Also gut, Graf de Girodel, wir sind einverstanden. Aber wehe, wenn Ihr Euch verplappert...“   „Ich schwöre Euch bei meinem Leben, dass es nicht dazu kommen wird.“ Girodel legte sich sogar eine Hand aufs Herz, um seine Worte damit zu unterstreichen.   „Dann ist es geregelt.“ Zugegeben, Oscar war jetzt ein wenig beeindruckt von ihrem Untergebenen und ihr wurde ein wenig leichter ums Herz. „Jetzt lasst mich bitte mit André alleine, Graf. Wir treffen uns in einer viertel Stunde zum Frühstück in der Gaststube.“, ordnete sie an und Victor verneigte sich, bevor er ging. „Jawohl, Lady Oscar.“ Auch ihm fiel ein Stein vom Herzen, musste er zugeben. Obwohl die Tatsache, dass André der Liebhaber von Lady Oscar war und sie ein Kind von ihm erwartete, war er dennoch erleichtert, dass sie seine Unterstützung angenommen hatte.   Oscar setzte sich aufs Bett, kaum dass die Tür sich hinter Girodel schloss und vergrub ihren Kopf in den Händen. Es war alles zu viel für sie. André war sofort bei ihr und zog sie zärtlich in seine Arme. „Wir werden schon eine Lösung finden.“   „Du hast recht, Geliebter.“ Oscar schaute zu ihm auf. Es war ein schönes und tröstendes Gefühl, ihn an ihrer Seite zu wissen. „Wir haben noch eine lange Reise vor uns und es wird uns bestimmt etwas einfallen. Aber eins verspreche ich dir: Ich werde weder dich, noch unser Kind kampflos aufgeben. Denn du bist mein Leben, André. Ich liebe dich aus tiefstem Herzen.“   André streichelte ihr an der Wange mit einer Hand und die andere legte er auf ihren Bauch. Durch den dünnen Stoff des Hemdes spürte er die kleine Bauchwölbung und das war ein seltsames Gefühl von Unglaube, Freude und nach noch mehr Liebe zu Oscar. „Das gleiche verspreche ich auch dir, meine Liebste. Ich werde weder dich noch unser Kind jemals verlassen und für euch beide kämpfen, wenn es dazu kommen sollte. Denn du bist mein Ein und Alles. Ich liebe dich bis in die Ewigkeit.“ André küsste sie innig und Oscar erwiderte den Kuss als wäre sie ausgehungert.       - - -       Weitere sechs Tage waren vergeudet, bis sie ihre Reise fortsetzen konnten. Der Arzt war zwei Mal am Tag gekommen, hatte Oscar untersucht und ihr viele Ratschläge bezüglich der Schwangerschaft gegeben. Aber er hatte nie erfahren, von wem das Kind war und er hatte auch nie danach gefragt. Ihm ging es mehr um das Wohl der werdenden Mutter und der Rest gehörte nicht zu seinem Aufgabengebiet.   Oscar beruhigte sich langsam, fand sich mit ihrem Umstand ab und begann zu überlegen, wie es nun weiter gehen sollte. Das Kind war höchstwahrscheinlich im April entstanden und würde nach Berechnung des Arztes entweder Ende Dezember oder Anfang Januar zur Welt kommen. Das hieß auch, sie würden die Weiterreise noch langsamer fortsetzen, damit das Kind weder in Paris, noch in Versailles oder gar auf dem elterlichen Anwesen zur Welt kam. Wie es jedoch nach der Geburt des Kindes aussehen sollte, wusste Oscar zwar noch nicht, aber sie blieb zuversichtlich, denn ihr geliebter André war ja bei ihr. Auch Girodel hatte ihr seine Hilfe versichert und das müsste ja etwas Gutes bedeuten.   André wich nicht mehr von der Seite seiner Geliebten und nachts kam er sogar zu ihr ins Zimmer. Sie sprachen nicht viel und genossen hauptsächlich die vertraute Zweisamkeit mit all der Liebe und Zärtlichkeit wie schon seit langem nicht mehr. Noch immer konnte auch er nicht glauben, dass er Vater werden würde, aber mit der Zeit gewöhnte er sich daran wie seine Oscar und je größer der Bauch von ihr wurde, desto mehr war er auf das Ergebnis seiner Zeugung gespannt.   Auch Girodel, obwohl nicht er der Vater des Kindes war und ihm das gebrochene Herz noch schmerzte, gewöhnte sich an den Anblick der schwangeren Oscar und ließ sie nicht im Stich.       Der September brach an und die ersten Blätter an den Bäumen bei der Durchreise bekamen immer mehr gelbe und rötliche Farbe. Oscar fühlte sich noch nicht ganz erholt, aber setzte ihre Reiste trotzdem fort. Die Kleider wurden ihr langsam enger, besonders im Bauchbereich, wo das kleine Wesen unter ihrem Herzen wuchs und sich entwickelte.   Nach dem Aufbruch aus der Grafschaft Nizza besuchten sie weitere zwei Provinzen: Grenoble in der Dauphiné und Chambéry in Savoyen. Abgesehen von dem langen Weg blieben sie in den großen Städten wieder ein paar Tage länger als geplant, um die Reise ein wenig hinauszuzögern. Der eigentliche Auftrag des Königs rückte mehr in den Hintergrund, denn Oscar und ihr wachsender Bauch waren nun wichtiger geworden.   Oscar wurde immer launischer und als sie in Lyon in dem Lyonnais ankamen, ging sie gleich am nächsten Tag zu einem Schneider und nach neuen Maßen ließ sie sich eine neue Hose anfertigen – kein Umstandskleid, wie es der Arzt in Nizza empfohlen hatte. Ein Kleid würde sie noch mehr bei der Weiterreise hindern und Oscar hasste die Kleider ohnehin. In Lyon verloren sie weitere zehn Tage, was Oscars Launen verschlimmerte. Der Arzt in Nizza hatte sie davor gewarnt, dass ihre Gemütsverfassung sich Aufgrund der Schwangerschaft ändern würde und nun trat das auch ein. André trug das mit Fassung und verzieh ihr die schlechte Laune. Er wusste, dass Oscar es nicht mit Absicht machte und sie entschuldigte sich dann auch dafür, wenn sie nachts in sein Zimmer kam und bei ihm nach Zärtlichkeit suchte.       Der Oktober stand vor der Tür und nach Besuchen und weiteren Aufenthalten in Clermont-Ferrand im Herzogtum Auvergne, Limoges in dem Limousin, Guéret in der Marche, Bourges in dem Berry, erreichten sie in zwanzig Tagen Moulins in dem Bourbonnais, wo sie wieder eine Woche verbracht hatten. Die neue Hose von Oscar wurde wieder enger und auch ihre Weste und Ausgehjacke ließen sich schwer zuknöpfen, weil die Bauchwölbung größer geworden war. Wieder musste sie zum Schneider und nicht nur sie. André und Girodel brauchten wärmere Kleidung, denn es war bereits Ende Oktober und nach der Berechnung des Arztes in Nizza bleiben noch etwa drei Monate, bis es mit dem Kind soweit sein würde.       Erste Schneeflocken fielen bereits im November vom Himmel, als sie nach Nevers in dem Nivernais, Dijon in dem Burgund, Besancon in der Franche-Comté, Montbéliard in der Grafschaft Mömpelgard, Mülhausen im Elsass (Teil der Schweiz, der alten Eidgenossenschaft), Straßburg in Elsass erreichten und in ein Gasthof einkehrten. Der Bauch von Oscar war noch etwas größer geworden, aber sie brauchte nicht mehr einen Schneider aufzusuchen. Sie hatte beim letzten Mal etwas größere Maße bestellt und das müsste bis zur Entbindung ausreichen. In Straßburg verbrachten sie knapp zwei Wochen, denn ein Schneesturm kam auf und hinderte sie bei der weiteren Reise. Aber das störte sie nicht sonderlich, denn Oscar konnte sich etwas erholen und entspannen. Natürlich hatte Girodel einen Arzt in Straßburg ausfindig gemacht und dieser kümmerte sich um Oscar bis zu ihrem Aufbruch. An jedem Ort, wo sie sich mehrere Tage aufhielten, hatte es sich Victor zur Aufgabe gemacht, einen Arzt für Lady Oscar zu holen. Auf diese Weise unterstütze er sie und sein gebrochenes Herz heilte mit der Zeit.   Nachdem sich die ersten Schneestürme gelegt hatten, besuchten sie auf der Weiterreise Nancy im Lothringen und Troyes in der Champagne, wo sie wieder zwei Wochen verbringen mussten. Nicht nur wegen der Schneefälle. Oscars Bauch war noch größer geworden und neben ihren schlechten Launen wurde sie auch noch schwerfälliger. André und Giordel betrachteten sie mit noch größerer Sorge und mussten ihr das eine oder andere Mal sogar beim Aufsteigen des Pferdes helfen.   Etwa Mitte Dezember ging es weiter und mit Aufenthalten in Lille in Flandern und Arras in dem Artois erreichten sie in zwölf Tagen Amiens in Picardie. Nur noch zwei Tage und dann würden sie in Paris sein. Jedoch auch da verzögerte sich der Aufbruch wegen eines Schneesturms, was ein Fluch und Segen zu gleich war. Oscars Kind konnte jeden Tag kommen und alle waren angespannt.   Anfang Januar setzten sie, entgegen der Empfehlung des örtlichen Arztes, ihre letzte Etappe der Reise fort und es verblieben nur noch zwei Stunden vor dem Ziel, als Oscar heftige Schmerzen erschütterten. Kapitel 11: Das Kind -------------------- Schnee lag überall wie eine weiße Decke und die Reiter hüllten sich in ihre warmen Wollmäntel ein. Wenigstens wehte kein heftiger Wind und die Sonne lugte hin und wieder hinter den Wolken hervor. Allerdings wärmten ihre Strahlen kein bisschen und der Frost zwickte erbarmungslos die unbedeckten Gesichter. Im langsamen Tempo passierten die drei ein kleines Dorf, als Oscar heftige Schmerzen erfassten und sie sich im Sattel krümmte. Sofort wurde sie von beiden Seiten flankiert und spürte stützende Hände. „Machen wir eine Rast.“, empfahl André und Girodel stimmte ihm zu. „Ihr seht nicht gut aus, Kapitän.“   Oscar protestierte nicht, ihr ging es wirklich nicht gut. Vielleicht war es mit dem Kind soweit? „Sucht nach einem Gasthof.“, zischte sie mit zusammengepressten Zähnen und unterdrückte einen Schmerzenslaut. Die Männer schauten sich um. Das Dorf bestand aus etwa fünf Häusern, einer Kirche und einem Gasthof, der sich nur wenige Schritte entfernt von ihnen befand.   Girodel lenkte die Pferde, während André Oscar im Sattel mit einem Arm stützte und mit der freien Hand sein Pferd dirigierte. Die Packpferde waren an den Sattel gebunden und torkelten hinter ihnen her. Direkt vor dem genannten Gasthof zügelten sie die Tiere. Girodel stieg eilends aus dem Sattel und verschwand dann unverzüglich in dem Haus. André spürte das gesamte Gewicht von Oscar auf sich und versuchte krampfhaft ihr nicht zu zeigen, wie sehr er sich um sie sorgte. Das würde Oscar nicht wollen.   Girodel kehrte sehr schnell mit dem Wirt und dessen Frau zurück. Er hatte ihnen den Umstand von seinem Kapitän erklärt und das Ehepaar war sofort bereit, der werdenden Mutter zu helfen. Sie stellten sich kurz mit den Namen Hamo und Adaliz vor und halfen Oscar aus dem Sattel herabzusteigen. Sobald Oscar auf dem sicheren Boden stand, stieg auch André von seinem Pferd herab und gab seiner Geliebten die nötige Stütze. Der Wirt und seine Frau merkten sofort die nasse Kleidung und auch André und Girodel fiel ein dunkler Fleck auf dem unteren Bereich des Wollmantels von Oscar auf, was sie zu tiefst erschreckte. „Die Wehen haben eingesetzt!“, sagte Adaliz bestimmt und zeigte den drei jungen Menschen den Weg in ein Zimmer im Gasthof. André und Victor, die Oscar von beiden Seiten stützten, folgten der Frau durch die Gaststube und dann in ein Zimmer, während der Wirt sich um die Pferde der Gäste kümmerte. Zwei Jungen, etwa zehn und acht Jahre alt, kreuzten ihnen den Weg. „Holt Melisende, sofort!“, befahl ihnen Adaliz und die Jungen verschwanden augenblicklich. „Melisende ist unsere Heilkundige und Hebamme im Dorf. Meine Cousine hatte vor ein paar Tagen eine Tochter zur Welt gebracht und dank Melisende ist alles gut verlaufen.“, meinte Adaliz kurz angebunden zu den drei hinter ihr und erreichte mit ihnen das Zimmer. Dort wurde Oscar aufs Bett vorsichtig abgesetzt und die Frau des Wirtes scheuchte André und Girodel sogleich hinaus, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. „Männer haben bei einer Geburt nichts zu suchen.“, erklärte sie und half Oscar schon den Mantel und die Stiefel auszuziehen.   Dann war es also mit dem Kind soweit, begriffen André und Victor und verließen ungewollt das Zimmer. Vor allem André wollte bei Oscar bleiben, aber konnte nichts ändern. Hoffentlich würde Oscar nicht so sehr leiden, betete er insgeheim. Vom Hören wusste André bereits, wie schmerzhaft eine Geburt für die werdenden Mütter war und manches Mal gab es sogar Todesfälle. André versuchte den grässlichen Gedanken zu verdrängen. Seine Oscar durfte nicht sterben! Sie und ihr gemeinsames Kind mussten leben!   Girodel beobachtete ihn genau und seine ruhige Haltung missfiel ihm. Wie konnte ausgerechnet er, der Vater des Kindes, so ruhig bleiben, während Lady Oscar gerade eine Tortur durchmachte? Victor hielt nicht länger aus und packte André unvermittelt am Kragen. „Wenn Lady Oscar etwas passiert, dann werde ich dich dafür verantwortlich machen und dich vors Gericht stellen!“   Wie? André starrte ihn irritiert an. Er hatte ihn zwar deutlich gehört, aber nicht so richtig verstanden. Denn sein ganzes Denken galt nur Oscar und dem ungeborenen Wesen. Was wollte der Graf von ihm, besagte sein überraschter Gesichtsausdruck. Und wieso war er so aufgebracht? André wollte gerade etwas erwidern, als die Tür des Zimmers, wo Oscar in den Wehen lag, sich öffnete und Adaliz kurzzeitig rauskam. „Wer von Euch ist André?“, fragte sie und Girodel ließ André los.   „Das bin ich.“, stotterte André und wappnete sich auf eine schlimme Nachricht. Bitte sag nicht, dass mit Oscar oder unserem Kind etwas passiert ist, flehte er in Gedanken und seine Sehnen spannten sich am ganzen Körper an. Auch Girodel hatte den gleichen Gedanken und schielte zu André – bereit, seine Warnung in die Tat umzusetzen.   Adaliz aber winkte André zu sich. „Kommt schnell herein, Eure Frau wünscht, dass Ihr während der Geburt bei ihr seid.“   André hörte die Frau des Wirtes nicht einmal zu Ende und hastete sofort ins Zimmer. Oscar lag nur im Hemd, das von ihren aufgestellten Beinen bis zum fassrunden Bauch hochgeschoben war, und stöhnte seinen Namen heraus. André schaute nicht auf ihre Blöße und eilte sofort zu ihr an das Kopfende des Bettes. „Ich bin hier, Liebste.“ Fürsorglich nahm er ihre Hand und kniete zu ihr.   „Gott sei Dank.“ Oscar schaute ihn an und allen Schmerzen zum Trotz lächelte sie zu ihm. Der sanfte Blick seiner grünen Augen beruhigte sie, seine haltende Hand gab ihr die Kraft und Beistand, die Geburt ohne Angst zu überstehen. Ja, mit ihm würde sie das schaffen. „Ich liebe dich.“, flüsterte sie und in dem Moment kam eine ältere Frau ins Zimmer.   „Das ist Melisende.“, sagte Adaliz und bevor die Hebamme sich über die Anwesenheit von André sich wunderte, klärte Adaliz sie auf. „Dieser Monsieur ist der Vater des Kindes und Madame wünschte seine Gegenwart so sehr, dass ich nachgegeben habe. Ich habe bereits erfahren, dass es ihr erstes Kind ist und aus dem Grund dem Monsieur erlaubt, bei ihr zu sein.“   Die Hebamme sagte nichts und grüßte das Paar mit einem freundlichen Nicken. Aber sie merkte an denen zärtlichen Blicken sofort, dass die zwei sich sehr liebten und übernahm sogleich fachmännisch ihr Werk. Sie untersuchte Oscars Bauch mit sanften Händen und erklärte dabei der werdenden Mutter, was sie während Geburt tun sollte und wann sie pressen musste. Dann verschwand sie zwischen ihren Schenkeln und Oscar tat alles, was Melisende zu ihr sagte. Adaliz währenddessen bereitete alles Nötige vor: Warmes Wasser mit bestimmten, eingetrockneten Kräutern, Tücher zum Abtrocknen und Lacken zum Einwickeln.   André flüsterte seiner Oscar immer wieder Liebesworte zu, hielt fest ihre Hand und mit der anderen strich er ihre blonden Locken von der verschwitzten Stirn. Damit beruhigte er nicht nur sie, sondern auch sich selbst. „Ich liebe dich … Es wird alles gut... Du hast es gleich geschafft ...“ Das waren die meisten Worten, die Oscar von ihm hörte, während sie auf ein Zeichen der Hebamme presste und dabei einen Schmerzenslaut unterdrückte.   „Das Kind ist fast da, ich sehe schon den Kopf!“, rief schon bald die Hebamme und es dauerte nicht mehr lange, bis das Kind ganz draußen war. „Es ist ein Junge!“, gratulierte Melisende und das Neugeborene begrüßte die Welt mit lauthalsigem Geschrei. Adaliz säuberte es schnell und legte ihn an die Brust der Mutter. Sofort wurde es still und Oscar und André betrachteten ihn fasziniert und ungläubig zugleich.   Oscar hielt vorsichtig das kleine Wesen an sich, damit er nicht runterfiel und vergaß dabei alle Schmerzen, die sie während der Geburt durchstanden hatte. Da war plötzlich ein Kind, das durch die Liebe zwischen ihr und ihrem André entstanden war und das sie neun Monate lang unter ihrem Herzen getragen hatte. „Er ist so winzig.“, murmelte sie hingerissen und von der Geburt erschöpft.   „Ja, das stimmt.“, André war nicht minder angetan von seinem Sohn wie seine Geliebte. Das war also das Ergebnis seiner Zeugung. Vorsichtig strich er an dem kleinen Köpfchen des Kindes und in dem Moment spannte sich Oscar wieder an. „Was ist das?“, zischte sie und André musste das Kind halten, weil es vom Oscars angespannten Körper zu rutschen drohte.   „Das ist die Nachgeburt.“, meinte die Hebamme, die noch immer zwischen ihren Schenkeln saß. „Ihr müsst noch einmal pressen, Madame.“   Oscar tat es. Es war nicht mehr so schmerzhaft wie beim Kind und sie entspannte sich in wenigen Augenblicken wieder, als die Nachgeburt nachließ. Sie schaute ihren Geliebten an, hielt ihr Kind wieder behutsam an der Brust und ihr traten beinahe Freudentränen in die Augen. Als hätte sie ihren André angesteckt, glänzten auch seine Wimpern feucht. „Du hast es überstanden, Oscar, meine Liebe.“ Er neigte sich sogleich zu ihr und berührte zärtlich ihre Lippen mit den seinen.   „Wir haben es geschafft.“, korrigierte ihn Oscar und empfing seinen sanften Kuss mit all ihrer Liebe und Zuneigung.   Die Hebamme befand sich noch immer zwischen Oscars Schenkeln und betrachtete äußerst besorgt ein blasses und kaum atmendes Bündel in ihren Armen. Das war keine Nachgeburt, sondern ein zweiter Junge. Adaliz kniete sich zu ihr und auch in ihrem Gesicht stand die gleiche Besorgnis geschrieben. „Es wird nicht lange leben. Höchstens ein oder zwei Stunden, bis sein Herz aufhört zu schlagen.“, meinte Melisende sehr leise.   Adaliz nickte zustimmend, dass sie verstanden hatte und warf einen Blick auf das Paar. Oscar und André begutachteten jetzt glückselig ihren Sohn und sprachen miteinander im flüsternden Ton. Dabei lächelten sie und schenkten sich gegenseitig kleine Küsse. „Dann sollten wir ihr es nicht sagen.“, schlug Adaliz kaum hörbar vor und schaute wieder die Hebamme an. „Sie hat doch schon ein gesundes Kind zur Welt gebracht und der Verlust des anderen wird sie bestimmt hart treffen. Das könnte ihrem geschwächten Körper schaden, stärkere Blutungen auslösen und im schlimmsten Fall würde sie Fieber bekommen. Kindbettfieber ist sehr gefährlich und könnte zum Tode führen.“   Melisende stimmte ihr zu. Für das Wohl der Mutter würde es wohl besser sein, wenn sie von ihrem zweiten Kind, das sowieso stirbt, nie erfahren würde. „Bring mir eine Wolldecke und schaff ihn zu deiner Cousine. Vielleicht wird er noch etwas trinken, bevor er für immer entschläft.“   „In Ordnung.“ Adaliz erhob sich, holte schnell eine Decke aus Schafsfell, wickelte darin das sterbende Bündel und verließ eilends das Zimmer. Melisende bekreuzigte sich für die arme Seele und warf einen Blick auf das Paar. Sie sprachen noch immer miteinander, liebkosten sich gegenseitig mit ihren Blicken, bewunderten liebevoll ihren Sohn und schienen nichts bemerkt zu haben. Die Hebamme bat noch stumm Gott um Vergebung für die Sünde und sagte dann etwas lauter zu der jungen Mutter: „Ihr müsst noch einmal leicht pressen, Madame. Die Nachgeburt ist noch nicht vorbei.“   Oscar tat es und erneut hielt André das Kind. Jetzt kam wirklich die Nachgeburt und Melisende begutachtete den Mutterkuchen. Es war alles in Ordnung und sie wickelte ihn in anderes Laken, um ihn später zu entsorgen. Dann erhob sie sich, schaute die kleine Familie gerührt an und kam an die andere Seite des schmalen Bettes. „Wie fühlt Ihr Euch?“, erkundigte sie sich und erntete sogleich die Aufmerksamkeit der beiden.   „Danke, ich fühle mich bestens.“ Oscar schenkte ihr ein Lächeln und ihr Blick wanderte sogleich zurück auf ihren Geliebten. „André, du weißt, wo mein Geldbeutel ist?“   „Ja, natürlich.“ André verstand und holte es. „Wie viel soll ich geben?“   „Gib ein Goldstück der Hebamme und ein Goldstück der Frau des Wirtes.“, entschied Oscar und überlegte, ob sie nicht doch etwas mehr geben sollte. Immerhin hatten die beiden Frauen ihr sehr geholfen und ihr Bestes getan, damit sie die Geburt unbeschadet überstand und dass sie ihr Kind ohne Komplikationen auf die Welt gebracht hatte.   „In Ordnung, Oscar.“ André bezahlte die Hebamme und Oscar beschloss, ihr später mehr Geld zu geben.   Melisende nahm das Goldstück mit einem schlechten Gewissen entgegen, aber lächelte trotzdem dankbar. Sie zeigte Oscar, wie sie das Kind richtig an der Brust hielt und ihm die Milch gab. Beinahe gierig saugte der Kleine an der Brust und Oscar hätte fast gelacht, weil es kitzelte. André war bei dem Bild von Oscar und wie sie ihren gemeinsamen Sohn stillte, noch mehr in sie verliebt. Zusammen mit ihr beobachtete er fasziniert, wie der Kleine an der Brust saugte und dabei schmatzende Geräusche verursachte. „Er ist wundervoll.“, schwärmte André und streichelte ihm vorsichtig an der Wange, ohne ihn dabei beim Trinken zu stören. Oscar gab ihm recht. Der kleine Junge in ihrem Arm war das wundervollste Geschöpf, das sie jemals gesehen hatte. Sie schwor sich, ihn zu beschützen und niemals zulassen, dass weder ihm noch ihrem André jemals ein Leid zugefügt würde. Kapitel 12: Entscheidung ------------------------ Wie ein ruheloses Tier lief Girodel durch die Gaststube hin und her und biss sich die Unterlippe blutig. Seit André zu Oscar ins Zimmer gerufen wurde, vergingen fast zwei Stunden, ohne dass Victor einen Laut hinter der geschlossenen Tür hörte und das trieb ihn beinahe in den Wahnsinn. Was geschah dort? Ging es Lady Oscar gut? Gab es Schwierigkeiten?   Ein frostiger Luftzug wehte in die warme Stube herein, als die Tür im Gasthof geöffnet wurde und der Wirt mit all ihrem Gepäck reinkam. „Die Pferde sind abgesattelt und versorgt, Monsieur.“, teilte er ihm mit und stellte seine Last in einer Ecke ab. „Wünscht Ihr Eure Zimmer jetzt schon zu beziehen?“   „Nein, danke, später.“, murrte Victor unwirsch. Er hatte jetzt ganz andere Sorgen, als ein Zimmer zu beziehen! Dennoch wollte er nicht unhöflich sein. „Ihr könnt aber trotzdem ein Zimmer für mich vorbereiten und meine Sachen dorthin bringen.“ Er machte schnell sein Gepäck ausfindig und gab es dem Wirt. „Der Rest gehört Lady Oscar und André.“, fügte er hinzu und der Wirt verstand. Also gehörten die restlichen Sachen der Wöchnerin und dem anderen jungen Mann, den er nicht mehr in seiner Gaststube sah. Wahrscheinlich war der junge Mann der Vater des Kindes und befand sich bei seiner Frau. Eine andere Erklärung fand der Wirt nicht und brachte die Sachen des Grafen in ein freies Zimmer. Um das andere Gepäck würde sich Adaliz kümmern, nachdem die Schwangere ihr Kind zur Welt gebracht hatte. Kaum dass er in dem Korridor mit den Gästezimmern verschwand, hörte Victor ein Schrei des Neugeborenen und sein Herz machte einen Satz. Endlich! Er eilte sofort an die Tür, aber wagte nicht anzuklopfen. Lady Oscar würde jetzt bestimmt nicht in der Verfassung sein, ihn sehen zu wollen. Also wartete er, bis eine der Frauen aus dem Zimmer kam und ihm mitteilte, dass er seine Vorgesetzte besuchen durfte.   Das laute Gebrüll des Kindes hinter der Tür verstummte und wenige Augenblicke später kam die Frau des Wirtes aus dem Zimmer. In ihren Armen trug sie ein eingewickeltes Bündel aus Fell eines Schafes und schlängelte sich an den Grafen vorbei, als wollte sie etwas verbergen. Girodel bekam ein mulmiges Gefühl und holte die Frau ein. „Was ist passiert? Wie geht es Lady Oscar?“   Adaliz zuckte zusammen – sie hatte nicht erwartet, aufgehalten zu werden. „Madame Oscar und ihrem Sohn geht es gut.“ Sie schob sich an ihm vorbei, drückte das Bündel fester an sich und lief weg.   Girodel hörte noch das Bündel wimmern, bevor Adaliz in der Gaststube verschwand und stutzte. Was war in dem Bündel? Doch nicht etwa das Kind von Lady Oscar? Aber die Frau hatte doch eben gesagt, dass es ihr und ihrem Sohn gut ging! Eine schlimme Vorahnung bewog ihn dazu, die Tür Spaltbreit zu öffnen und ins Zimmer reinzuschauen. Lady Oscar saß auf dem Bett unter der Decke und stillte das neugeborene Wesen, während die Hebamme die blutigen Spuren nach der Geburt wegräumte. André saß auf der Bettkante neben seiner Oscar und überhäufte sie mit Liebesworten. Ein sinnliches Bild von einer kleinen und glücklichen Familie, die weder Sorgen noch Kummer hatte.   Victor hatte genug gesehen und machte sofort die Tür zu. Es stimmte, Lady Oscar ging es gut und ihrem Kind anscheinend auch. Aber was war verdammt noch mal in dem Bündel?! Und warum hatte es gewimmert wie ein kleines Kind?! Girodel ließ diese Frage nicht in Ruhe und er verließ augenblicklich das Wirtshaus. Die frostige Kälte umhüllte ihn sofort, aber darauf achtete er nicht. Mit Argusaugen schaute er sich um und entdeckte sogleich die Frau des Wirtes, die zusammen mit dem Bündel in ein etwas entferntes Haus reinging. Gut, dass es noch heller Tag war und es nicht so viele Häuser in diesem Dorf gab, sonst hätte er sie womöglich verloren. Victor stieß eine Frostwolke von sich, rieb seine Hände ein wenig warm und setzte seine Füße in Bewegung.   Adaliz brachte das sterbende Kind zu ihrer Cousine, die vor wenigen Tagen eine Tochter zur Welt gebracht hatte und nun das blasse Wesen an ihre Brust legte. Adaliz hatte ihr die Situation erklärt und ihre Cousine hatte sich aus Mitleid der armen Seele angenommen. Obwohl der kleine Junge so schwach war und an der Schwelle des Todes schwebte, saugte er die Milch beinahe gierig. „Ich lasse ihn jetzt bei dir und gehe mich weiter um die junge Mutter kümmern.“ Adaliz verließ ihre Cousine und kaum dass sie das Wirtshaus erreichte, wurde sie grob gepackt und um die eigene Achse herumgewirbelt. Erschrocken starrte sie in das erzürnte Gesicht des Grafen, der sie vor kurzem nach dem Befinden der jungen Mutter gefragt hatte und schluckte mit bangen Herzen. Was wollte er von ihr?   Victor kam die Frau wie ein scheues Reh vor, das bei der Jagd in die Enge getrieben wurde. Aber das war ihm egal. „Was war in dem Bündel?!“, verlangte er zwar leise, aber mit unüberhörbarer Drohung in der Stimme, zu wissen. „Wehe Ihr lügt mich an! Die Frau, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte, ist Kapitän des königlichen Garderegiments! Ich kann Euch somit verhaften und an den königlichen Gerichtshof übergeben! Also raus mit der Wahrheit! War das ein Kind? Hat Lady Oscar zwei Kinder auf die Welt gebracht?“   Kapitän des königlichen Garderegiments? Adaliz erbleichte und riss ihre Augen auf. Dass die junge Mutter eine Adlige war, hatte sie es schon erkannt, aber dass sie auch in Versailles eine wichtige Persönlichkeit war, hätte sie nicht gedacht. „Monsieur, habt bitte Erbarmen...“, wisperte Adaliz. „Sie weiß nichts von dem zweiten Kind, das schwöre ich Euch!“   Sie und diese Hebamme raubten Lady Oscar das Kind und er sollte noch Erbarmen mit ihnen haben? Was war das für ein Pack?! Victor verzog abfällig das Gesicht. „Ihr werdet das Kind sofort holen und es Lady Oscar zurück bringen! Warum habt Ihr es ihr überhaupt weggenommen?!“   „Weil es nur ein paar Stunden leben wird!“, platzte es aus Adaliz verzweifelt. „Sie war so glücklich … Sie und ihr Mann, dass sie nichts mitbekommen haben.“   „Und das soll ich Euch glauben?“, schnaubte Victor und sein eiserner Griff um Adalizes Arm verstärkte sich.   Adaliz unterdrückte einen Schmerzenslaut. „Wenn Ihr mir nicht glaubt, dann geht zu meiner Cousine und überzeugt Euch selbst, Monsieur! Das Kind ist jetzt schon womöglich tot und wenn seine Mutter von ihm erfährt, dann bekommt sie starke Blutungen und kann am Kindbettfieber sterben!“   Girodel stieß Adaliz von sich, als hätte er sich gerade verbrannt. Lady Oscar könnte sterben? Hatte die Frau des Wirtes womöglich doch nicht gelogen und alles richtig gemacht? Wenn Lady Oscar sterben würde, dann würde er ihren Tod so wenig verkraften wie André. Und was würde dann aus ihrem Erstgeborenen? Victor wollte sich das nicht einmal vorstellen. „Ihr könnt gehen und weiter schweigen!“, zischte er Adaliz bitterböse an und wartete, bis sie im Wirtshaus verschwand. Was sollte er jetzt tun? Mit dem Wissen über das zweite Kind von Lady Oscar und was ihm und ihr angetan wurde, würde er ihr höchstwahrscheinlich nicht mehr reinen Gewissens ins Gesicht sehen können. Girodel ballte eine Hand zur Faust, bis die Knöchel weiß hervortraten und in dem Moment hörte er ein Kind lauthals schreien. Aber nicht aus dem Wirtshaus, sondern von dort, wo Adaliz das sterbende Kind von Lady Oscar hingebracht hatte. War das ihres oder war das ein anderes Kind? Als Antwort bekam er einstimmiges und genauso lautes Schreien eines Neugeborenen. Diesmal kam das aus dem Gasthof und Victor begriff schnell, dass dieses Geschrei des Erstgeborenen von Lady Oscar sein müsste. Denn es verstummte sogleich, wie auch das Andere und es herrschte nun eine frostige Stille um ihn herum. Langsam bewegte er seine Füße, die er kaum noch spürte und betrat die Gaststube.   Der Wirt machte etwas hinter der Theke, was Victor nicht sonderlich interessierte, und zwei Jungen, die am Anfang zu der Hebamme hingeschickt wurden, gingen ihm zur Hand. Girodel marschierte ungeachtet auf sie weiter und klopfte an der Tür von Oscars Zimmer. Obwohl er ein schlechtes Gewissen hatte, musste er sie einfach sehen. Adaliz öffnete ihm die Tür und wollte sie vor Schreck sogleich wieder schließen, aber Victor stellte flink einen Fuß in den Spalt und ließ es gar nicht dazu kommen. „Darf ich Lady Oscar sehen?“, fragte er im wesentlich freundlicheren Ton als vorhin und schmunzelte sogar dabei.   „Ja, er darf eintreten!“, hörte er die altbekannte Stimme seiner Vorgesetzten und Adaliz trat zur Seite, um ihn ins Zimmer rein zu lassen.   In frischen Sachen angezogen, unter einer sauberen Decke und mit dem gesäuberten und in weiche Tücher gewickelten Kind auf dem Arm, saß Oscar im Bett und hieß ihn willkommen. Sie stillte nicht mehr, aber hielt das winzige Händchen behutsam mit ihren Fingern und schaute ernst ihren Untergebenen an. „Wir haben etwas zu besprechen…“, sagte sie gleich sachlich, wobei ihre Stimme ein wenig röchelnd klang. „Wie es aussieht, werden wir für zwei oder drei Tage noch hier bleiben.“   Adaliz, die noch immer an der Tür stand, mied es, den Grafen anzusehen. „Ich werde für Euch und Eure Begleiter etwas kochen.“, teilte sie mit in die Runde und war froh, das Zimmer zu verlassen. Sie würde diesen Grafen also zwei oder drei Tage meiden müssen, bis er mit seinen Begleitern fort war und stattdessen ihren Mann zu ihm schicken.   Melisende merkte, dass mit Adaliz etwas nicht stimmte und runzelte kurzzeitig die Stirn. Sie nahm den Korb mit der schmutzigen Wäsche von der Geburt und verabschiedete sich mit einem gütigen Lächeln von dem jungen Elternpaar. „Ich werde morgen früh kommen und nach Euch schauen. Aber wenn Ihr etwas braucht, dann könnt Ihr Adaliz oder einen ihrer Söhne nach mir schicken lassen. Zusätzlich empfehle ich Euch schon bald eine Amme zu finden, wenn Ihr zuhause seid. Ihr habt nicht genug Milch und deswegen bekommt Euer Sohn öfters als normal Hunger.“   „Danke, das werde ich machen.“ Oscar wartete, bis die Hebamme das Zimmer verließ und schenkte dann die Aufmerksamkeit ihrem Untergebenen. „Wie Ihr seht, ist alles gut gegangen und ich bitte Euch noch einmal um Eure Verschwiegenheit.“   Verschwiegenheit? Dieses Wort behagte Girodel nicht, aber er zauberte trotzdem ein Lächeln. „Lady Oscar, Ihr könnt Euch weiterhin auf mich verlassen und ich versichere Euch erneut meine Treue. Ihr wisst bereits, dass ich Euch sehr schätze und deshalb Euch niemals verraten werde.“   „Dann ist es geklärt.“ Oscar atmete auf und ihre Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. „Wir danken Euch, Graf.“ Sie gab ihren Sohn an André. „Halte du ihn, er wird mir langsam schwer.“   „Gerne.“ André nahm behutsam sein Kind an sich und hielt ihn so ähnlich wie Oscar in der Armbeuge. „Wie wollen wir ihn eigentlich nennen?“, fragte er und ließ es zu, dass der Kleiner sein Finger mit winziger Faust umschloss.   Über einen Namen für ihr Kind hatte Oscar noch nicht nachgedacht. Aber ihr Sohn brauchte unbedingt einen Namen. „Ich weiß es nicht. Wir können ihn doch weder nach mir, noch nach dir oder noch nach meinem Vater benennen.“   „Allerdings.“, seufzte André und musterte das runde Gesichtchen seines Sohnes, als erhoffte er dort einen passenden Namen für ihn zu finden.   „Wie wäre es mit Jean?“, mischte sich Girodel ein. „Dieser Name ist sehr verbreitet und so wird niemand ein Verdacht schöpfen, wer seine Eltern sind, denke ich.“   So unrecht hatte der Graf nicht, gestanden sowohl Oscar so auch André und Oscar sagte das, was auch ihr Geliebter dachte: „Also gut, dann wird er morgen auf den Namen Jean getauft. Wenn ich mich nicht täusche, gibt es eine Kirche in diesem Dorf, oder?“   „Ja, Lady Oscar, es gibt hier eine Kirche und sie befindet sich mitten im Dorf.“ Und hinter dem Haus, wo Euer Zweitgeborener im Sterben liegt..., dachte Girodel und biss sich auf die Zunge, um es nicht laut zu äußern. Stattdessen kam er näher an André heran und warf einen Blick auf das Kind. Seine Augen waren geschlossen, sein winziges Fäustchen umklammerten den viel größeren Finger von André und sein kleiner Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Er lebte und ihm ging es gut, im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder, dessen sehr kurzes Leben womöglich schon erloschen war...   „Geht es Euch gut, Graf?“ Die leicht besorgte Stimme von André riss Girodel wieder in die Wirklichkeit zurück. Etwas in seinem Gesicht schien ihn verraten zu haben, denn auch Oscar schaute ihn fragend an. Victor verdrängte seine düstere Gedanken und schaute vom Kind zu Lady Oscar mit einem verstellten Lächeln. „Mir geht es gut. Ich hatte gerade nur den Wunsch bekommen, der Patenonkel eures Sohnes zu werden. Aber das müsst ihr sicherlich nicht tun, wenn ihr nicht wollt.“   Patenonkel? Wenn Oscar und André wüssten, dass es nur eine Ausrede war, um seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, dann hätten sie sicher ganz anders reagiert. Aber so tauschten sie miteinander verwunderte Blicke aus. „Wir werden darüber nachdenken.“, sagte Oscar schließlich und streckte ihre Arme nach dem Kind aus. „Gib ihn jetzt mir, André.“ Geliebter wollte sie ihn in Anwesenheit von ihrem Untergebenen nicht nennen, aus reiner Höflichkeit.   „Selbstverständlich, Lady Oscar, denkt mit Eurem André solange nach wie Ihr wollt. Die Patenschaft eilt nicht, aber mein Angebot gilt für immer.“ Girodel schmunzelte unwillkürlich bei dem Anblick, wie das Kind vom Vater zurück zur Mutter wanderte, ohne einen Protestlaut von sich zu geben. Der kleine Jean würde später bestimmt André ähneln, wenn er jetzt schon sich alles gefallen ließ, was man mit ihm machte. Wenn er überhaupt bei seinen Eltern aufwachsen würde können, fiel es Victor ein und ihm tat es beinahe leid mit seinen bedächtigen Worten das friedliche Familienbild zu zerstören: „Was gedenkt Ihr jetzt zu tun, Lady Oscar? Ihr könnt doch nicht mit dem Kleinen Nachhause zurückkehren, ohne die Wahrheit über ihn zu offenbaren.“   Tief und schmerzhaft drangen seine Worte in alle beide und ihre Gesichter wirkten schlagartig betrübt. „Uns bleibt wohl keine andere Wahl.“, seufzte Oscar und strich über den hellbraunen Flaum ihres Sohnes am Köpfchen. Diese schreckliche Tatsache hatte sie bisher verdrängt, um das Elternglück mit ihrem André ein wenig zu genießen, aber ihr Untergebener hatte sie gerade aus einem schönen Traum wachgerüttelt. „Ich will weder André, noch unseren Sohn verlassen. Lieber sterbe ich!“, betonte sie den letzten Satz und erschreckte damit nicht nur Girodel.   André setzte sich sogleich zu ihr mit schreckensbleicher Miene und einem leichten Zittern in seiner Stimme. „Sag doch nicht so etwas, Oscar! Wir werden ganz bestimmt eine Lösung finden.“   Girodel kam dabei eine äußerst fragwürdige Idee durch den Kopf geschossen. Das klang zwar auch grausam, aber bestimmt besser, als wenn sie sich von ihrem Kind trennen müssten. „Was, wenn Ihr sagt, dass wir ihn Unterwegs gefunden haben? Es passiert oft, dass die Kinder ausgesetzt werden. So kann er bei euch bleiben, als Adoptivsohn oder als Ziehkind. Niemand wird erfahren, wer seine wahren Eltern sind und ich werde schweigen.“   Wie bitte? Sie sollte ihr Kind verleugnen? Das gefiel Oscar nicht, wohingegen André dem Grafen zuzustimmen schien. „Das ist keine schlechte Idee, Oscar, so können wir alle drei zusammen bleiben. Aber wenn du eine bessere Alternative hast, dann können wir es selbstverständlich nach deinem Wunsch machen.“   Nein, sie hatte keine bessere Alternative und ließ sich die Idee von Girodel deshalb genauer durch den Kopf gehen. Ihren Sohn als Findelkind auszugeben war grausam und glich einem Verrat, nicht nur an sich selbst. André und sie würden ihn verleugnen müssen. Ebenso würden sie alle um sie herum belügen müssen, vor allem ihre Eltern und die Großmutter von André. Oscar hasste Lügen, aber was sollte sie denn tun, um ihr Kind bei sich behalten zu können? Die gleiche Frage galt auch der geheimen Liebe zwischen ihr und André. Sie wollte nichts von dem verlieren und gab aus diesem Grund nach. „Also gut. Hauptsache, er wird behütet und gut versorgt bei uns aufwachsen.“ Oscar zog André unvermittelt zu sich und schenkte ihm einen Kuss auf den Mund. Nur ganz kurz, um ihn sogleich loszulassen. Girodel schmerzte dieser kurzer Lippendruck zwischen Lady Oscar und André, aber er verkniff sich eine Bemerkung und schaute lieber auf das Kind, das noch immer vor sich hin selig schlummerte. Kapitel 13: Lügenspiel ---------------------- Das Stück Eis wurde in einer Schale gebrochen, über eine Kerze geschmolzen und auf die Stirn des Neugeborenen getröpfelt. Die kalten Tropfen schreckten den einen Tag alten Jean auf und er stimmte ein lautes Weinen an. Den Pfarrer der kleinen Dorfkirche störte es aber nicht bei der Taufe und er segnete ihn ungerührt weiter. Oscar wiegte ihn sachte in ihrer Armbeuge und ihr Kind wurde leiser, bis es dann verstummte. Jetzt hallten nur Gebete in dem kalten und uralten Kirchenschiff.   Girodel nutzte das aus und schaute sich flüchtig in dem vom Weihrauch getränkten Raum um. Oder besser gesagt, er schaute nach einem kleinen Sarg oder einer Holzkiste, wo ein Neugeborenes reinpassen konnte. Jedoch fand er nichts außer leeren Holzbänken, einem Beichtstuhl, dem großen Kreuz und einem Podest aus Stein, wo Lady Oscar mit ihrem Sohn auf den Armen und zusammen mit André vor dem Pfarrer stand und die Taufe ihres Sohnes empfingen. Vielleicht wurde die kleine Seele im Stillen der Nacht und irgendwo in ungeweihter Erde beigesetzt?   Victor schüttelte sich. Er wollte nicht mehr an das kleine, wimmernde und sterbende Bündel denken, aber es verfolgte ihn seit gestern wie ein dunkler Schatten und fraß sich erbarmungslos in sein Gewissen. Es würde bestimmt eine Weile dauern, bis es verging. Zumindest hoffte Girodel darauf sehr. Wenigstens konnte er heute Lady Oscar besser ins Gesicht sehen als gestern. Und heute war sie wieder in die alte Rolle des hartherzigen Kapitäns zurückgekehrt. Nichts deutete daraufhin, dass sie gestern ein Kind, oder besser gesagt zwei, entbunden hatte. Nicht einmal verräterische Spuren im Gesicht nach der Geburt oder geschwächte Körperhaltung zeigte sie. Das war nicht gestellt, das wusste Victor – das hatte die mannhafte Erziehung ihres Vaters sie so stark und mutig gemacht. Lady Oscar hatte schon gestern die Geburt gut überstanden und nach einem erholsamen Tag und einer Nacht im Bett sah sie heute noch besser aus. Also ging es ihr wieder gut und ihr fehlte nichts – bis auf ihren Zweitgeborenen, von dessen Existenz sie nicht einmal wusste. Girodel schielte zu der Hebamme und der Frau des Wirtes, die zu der Taufe auch gekommen waren. Sollte er sie nachher über das zweite Kind von Lady Oscar nachfragen? Oder doch lieber nicht? Victor entschied sich für das zweite, denn er wusste schon mehr als es ihm lieb war und noch mehr Wissen würde ihm höchstwahrscheinlich bald Alpträume bereiten.       - - -       Stolz und zeitgleich traurig sah Oscar auf ihren Sohn, während sie ihm im Jagdhaus am vereisten See das letzte Mal die Brust gab. Der Milchstrom wurde immer weniger, der kleine Jean in ihrem Arm hungriger und verlange bereits fast jede Stunde nach Muttermilch. Das war auch der Grund, warum sie schon am nächsten Tag nach der Taufe nach Hause aufbrachen. Oscar seufzte schwer. Körperlich fehlte ihr nichts, sie fühlte sich schon seit gestern wieder bei Kräften, aber um ihr Herz legte sich ein schwerer Stein und erdrückte sie. Sie hatte das beklommene Gefühl, dass sie im Dorf etwas Bedeutsames und Wichtiges gelassen oder vergessen hatte. Aber das konnte doch nicht stimmen! Das Wichtigste und Bedeutsamste hielt sie doch gerade in ihren Armen! Weswegen war dann aber dieser Wunsch, ins Dorf zurückkehren und es durchsuchen zu wollen? Oscar fand darauf keine Erklärung.   Eine vertraute Hand schob sich in ihr Blickfeld und zwei Finger strichen vorsichtig an der Wange des Kindes. „Ich habe mich bei dir noch gar nicht bedankt.“, flüsterte André in die bedrückte Stille und dann war wieder nur das Schmatzen vom zwei Tage alten Jean zu hören.   „Wofür?“ Oscar schaute von ihrem Kind zu ihrem Geliebten und ihre Blicke trafen sich. Diese grünen Augen, in denen noch immer so viel Liebe und Zärtlichkeit zu sehen waren, rührten sie wieder zu tiefst. Aber bald, auf dem Anwesen ihrer Eltern, würde er sie nicht mehr so ansehen können.   „Für unseren Sohn.“ André lächelte matt und verlor sich das letzte Mal in ihren klaren, himmelblauen Augen, denn auf dem Anwesen der de Jarjayes und in Versailles würde er das nicht mehr dürfen. Seit dem Moment, als seine Oscar ihr gemeinsames Kind vor drei Tagen zu Welt gebracht hatte, wich er keine einzige Minute mehr von ihrer Seite. Eigentlich tat er das seit er über ihre Schwangerschaft erfahren hatte, aber das Kind band sie nun noch mehr zusammen.   Jean hörte auf mit dem Trinken und Oscar schob ihre Brust hinter den Schichten von Stoffen ihrer Kleidung zurück. „Eigentlich ist das mehr dein Verdienst, Geliebter und ich muss dir für ihn danken.“ Sie trocknete dem Kleinen die Mundwinkel von den Resten der Milch mit dem Taschentuch und gab ihn an André, um ihr Hemd, Weste, Ausgehjacke und Mantel zu zumachen.   André hielt mit Freude seinen Jungen in den Armen und wartete geduldig, bis seine Geliebte fertig sein würde. „Dann danken wir uns beiden gegenseitig.“   „Allerdings, denn zu so einer Sache gehören immer zwei.“ Oscar machte noch die letzten Knöpfe zu und tauschte mit André einen letzten, innigen Kuss, bevor sie mit ihm das Jagdhaus verließ.   Draußen wartete bei den Pferden Graf de Girodel auf sie. In den letzten Tagen, genauer gesagt seit der kleine Jean auf der Welt war, wirkte er sehr nachdenklich und vor zwei Stunden, kurz vor der Abreise aus dem Dorf, hatte er die Umgebung lange angeschaut. So, als wollte er sich das Dorf einprägen oder hatte nach irgendetwas Ausschau gehalten. Als Oscar ihn gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei, hatte er darauf nur geschmunzelt und gesagt, er würde nicht noch einmal hierher kommen wollen. Nach so einer langen Reise und was er von seinem Kapitän miterlebt hatte, war das verständlich. Oscar dachte nicht mehr daran und stieg galant auf ihr Pferd. Das war ein befreiendes Gefühl, ohne großen Bauch im Sattel wieder reiten zu können und sie schmunzelte dabei unwillkürlich. Sie nahm sogleich ihren Sohn von André an sich, hielt ihn behutsam in einem Arm und in der anderen Hand nahm sie die Zügel. Jean quengelte etwas, aber sobald das Pferd langsam trabte, beruhigte er sich und schlummerte satt und zufrieden in den Armen seiner Mutter. „Ich hoffe, dass der Plan glückt und alle werden glauben, dass er ein Findelkind ist.“, meinte Oscar, als André und Girodel auf ihren Pferden zu ihr aufgeschlossen hatten.   „Ich denke, wenn wir das überzeugend hervorbringen, dann werden alle es glauben.“, erwiderte André und warf einen Blick auf den Grafen. „Vielleicht würde es noch besser sein, wenn Ihr das auch bekräftigt?“   „Selbstverständlich werde ich das bekräftigen.“ Victor sah nicht zu ihm und arbeitete eine glaubwürdige Rede in seinem Kopf aus.       Auf dem Anwesen der de Jarjayes wurden sie so empfangen, als wären sie zehn Jahre nicht zuhause gewesen und man gab langsam die Hoffnung auf, sie jemals wiederzusehen. Besonders Sophie ließ Tränen vor Freude fließen und schnäuzte dabei in ihr Taschentuch. „Oh, willkommen zurück, Lady Oscar, wir haben Euch vermisst.“   Sie befanden sich in der warmen Küche, wo Oscar gleich nach Betreten des Anwesens und mit ihren Begleitern hingegangen war. Um sie herum versammelten sich auch andere Bedienstete und Oscar spürte förmlich die neugierige Blicke auf das Bündel in ihren Armen. Niemand konnte sehen, dass es ein Kind war, bis auf Oscar selbst. Jean war so gut in Wolldecke und Fell eingewickelt, dass nur sein rundes Gesichtchen zum Vorschein kam. Oscar versuchte nicht mehr auf ihren Sohn zu schauen und ihre altbekannte undurchschaubare Miene zu Schau zu tragen. „Sind meine Eltern Zuhause?“, fragte sie ihr einstiges Kindermädchen und Sophie schüttelte verneinend den Kopf. „Sie sind beide in Versailles und es soll ein Bote geschickt werden, wenn Ihr angekommen seid.“   „Ich kann das dann gleich übernehmen und in Versailles unsere Rückkehr melden.“, sagte Girodel und schaute auf das Bündel in den Händen seines Kapitäns.   Oscar verstand. Das Spiel von Lug und Trug hatte soeben begonnen. „Sophie, kannst du nach einer Amme schicken, wir haben hier im Wald ...“ Weiter konnte sie nicht sprechen. Ein dicker Kloß entstand in ihrer Kehle und ein großer Druck in ihrem Brustkorb nahm ihr fast den Atem. Sie reichte ihr Kind der alten Haushälterin.   Sophie warf einen Blick in die Öffnung. Ihre Augen wurden größer und der Mund klappte auf, als sie ein rosiges und pausbäckiges Gesicht eines Neugeborenen darin sah. „Wer ist denn das?“, murmelte sie baff.   Das ist Euer Urenkel, lag es André auf der Zunge, aber auch ihm verschlug es die Sprache. Ein miserables Gefühl nach Verrat am eigenen Kind durchströmte ihn und er schaute zu Oscar, der es nicht besser erging. Sie ließ sich zwar nichts anmerken, aber er spürte, dass dieses Lügenspiel ihr genauso zu schaffen machte wie ihm.   Girodel merkte das an allen beiden und sprang für sie ein. Es behagte ihm zwar auch nicht, zu lügen, aber er hatte bis hierher eine Rede bereits vorbereitet und trug sie nun so glaubwürdig wie möglich vor: „Etwa eine Stunde von hier entfernt ritten wir durch den Wald und hörten den Schrei eines Kindes. Natürlich folgten wir dem Weinen und schon bald wurden wir fündig. Unter einem Baum und in einem Korb, eingewickelt in eben dieses Fell, haben wir das Kind gefunden. Wir hatten ihn dann mitgenommen und seit dem weint er nicht mehr.“   „Oh, wie schrecklich, wer machte denn so etwas?!“ Nicht nur Sophie schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. Auch den anwesenden Bediensteten entfuhr ein Schreckenslaut und einige von ihnen bekreuzigten sich fassungslos. Die alte Haushälterin befreite das kleine Wesen aus dem Fell und nahm ihn fürsorglich an sich. „So ein hübsches Kind.“ Jean quengelte nur kurz, aber sobald er in der Armbeuge bequem lag, schlummerte er selig weiter. Er war ja noch von der Muttermilch satt und die Gespräche waren auch nicht so laut, um ihn beim Schlafen zu stören.   „Er wurde höchstwahrscheinlich von irgendeiner Bauernfamilie, die ihre dutzend Kinder nicht mehr durchfüttern kann, ausgesetzt und dem Schicksal überlassen.“, meinte Girodel im gestellt herablassenden Ton und spürte einen messerscharfen Blick von seinem Kapitän auf sich gerichtet. Auch André sah ihn mit gerunzelter Stirn an und der Graf verstummte. Seine Worte hatten die zwei noch härter getroffen und das begriff auch Victor an deren ermahnten Blicken.   Sophie merkte weder den Blickaustausch zwischen den drei noch niedergeschlagene Gemütsverfassung von ihrem Schützling und ihrem Enkel. „Schande über solche Eltern!“, schimpfte sie und tätschelte das kleine Geschöpf auf ihrem Arm sanft an der Wange. „Aber bei uns bist du gut aufgehoben, mein Kleiner.“   Ja, Schande über solche Rabeneltern, die ihr Kind verleugneten und es wie ein Kuckuck in fremde Hände gaben, anstelle sich selbst um ihn zu sorgen. Oscar fühlte sich noch miserabler, atmete aber gleichzeitig auf. Die Großmutter von André konnten sie überzeugen, ohne dass diese einen Verdacht schöpfte. „Sophie, was ist mit der Amme?“, fand Oscar wieder die Stimme. Ihr mütterlicher Instinkt sagte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ihr Sohn das ganze Anwesen vor Hunger zusammenschreien würde. Ob sie das verkraftete, den kleinen Jean dabei nicht sofort an die Brust zu nehmen, wusste Oscar nicht. Deswegen wäre es für sie lieber, wenn er zu Weinen beginnt, dass eine Amme schon bereit stand und sich um ihn kümmerte.   „Oh, ja, natürlich.“ Die alte Haushälterin warf einen strengen Blick auf die Bediensteten, die in ihrer Nähe standen. „Was ist los mit euch! Habt ihr nicht gehört, was Lady Oscar sagte? Sucht sofort nach einer Amme! Man weiß ja nicht, wann das arme Kind das letzte Mal gegessen hatte!“   Die Bediensteten zerstreuten sich und nicht einmal in einer halben Stunde war eine Amme gefunden. Der Kleine war bis dahin ruhig, aber sobald ihm eine Brust gegeben wurde, erwachte er und saugte daran. Dass es eine fremde Milch war, schien ihn genauso wenig zu stören wie die fremde Arme, die ab nun ihn hielten und herzlich wiegten. Wie bitter… Aber wenigstens würde er in ihrer Nähe aufwachsen und das war ein kleiner Trost für Oscar und André.   Die Amme bezog mit dem Kind ein Zimmer in der Nähe von André. Oscar hatte das so angeordnet, das Kind schweren Herzens auf dem elterlichen Anwesen gelassen und war mit André und Girodel nach Versailles geritten. Sie musste das einfach tun und ihre Ankunft dem Königspaar wieder melden. Danach würde sie um ein paar Tage Urlaub von der Reise bitten und wenn die Majestäten es ihr gestatteten, zusammen mit André und Jean die Zeit verbringen. Kapitel 14: Findelkind ---------------------- Versailles. Vor sieben Monaten waren sie mit dem Auftrag aufgebrochen, die Lage in Frankreich auszukundschaften und nach ihrer Rückkehr zu berichten, wie es den Menschen im Land ging. Aber wie sollten sie einen Bericht erstatten, wenn sie seit Nizza keine Städte mehr erkundet hatten? Oscars Schwangerschaft und die Geburt des Kindes war ihnen viel wichtiger – sodass sie ihrem eigentlichen Auftrag nicht mehr pflichtbewusst nachgegangen waren. Sie hatten sich nur das gemerkt, was ihnen in den Wirtshäusern, in denen sie auf ihrer Reise sich aufhielten, erzählt wurde. Hoffentlich würde das wenige Wissen ausreichen und das Königspaar keine Einzelheiten nachfragen.   Während André sich um die Pferde in den königlichen Ställen kümmerte, ging Oscar mit Girodel geradewegs zum königlichen Ehepaar und bat um eine Audienz. Die staunenden und ein wenig verwunderten Gesichter der Höflinge auf dem Weg zu dem Thron im großen Saal ignorierten sie. Außerdem konnten sie sich schon denken, warum sie so merkwürdig angeschaut wurden: Sie trugen noch immer ihre Zivilkleidung, was in ihrer Position in Versailles eigentlich unangebracht war. Einzig dem König und der Königin schien deren unangemessene Kleidung nicht zu stören, als sie den Audienzsaal betraten und das Knie vor ihnen beugten. Viele Höflinge versammelten sich ebenfalls im Saal und spitzten neugierig ihre Ohren.   Emilie und der General de Jarjayes, die an der Seite des neuen Königspaares auch anwesend waren, wären am liebsten selbst zu Oscar vorgedrungen und sie bezüglich ihrer Reise ausgefragt. Aber das durften sie nicht, weil die höfische Etikette und Anstand vor den Majestäten dies nicht zuließen. Also würden sie das später machen können, Hauptsache ihr Kind war endlich wieder zurück.   „Erhebt euch, Lady Oscar und Graf de Girodel.“, bat der König und wartete, bis die zwei vor ihm standen. „Wir sind überaus erfreut, Euch gesund und wohlauf nach der Reise wiederzusehen. Jetzt berichtet uns alles was ihr gesehen und erfahren habt.“   „Die Menschen sind voller Hoffnung auf neue Zeiten, Eure Majestät.“, begann Oscar die Eindrücke zu schildern, die sie am Anfang der Reise gesehen hatte. Sie konnte doch nicht sagen, dass der Rest ihr deshalb entgangen war, weil sie die meiste Zeit nur darauf konzentriert war, ihr Kind auszutragen und in irgendeinem namenlosen Dorf zur Welt zu bringen. Bei dem Gedanken an Jean zog sich ihr mütterliches Herz wehmütig zusammen. „Jedoch ist Frankreich weiterhin nicht sehr wohlhabend und deswegen hoffen viele Menschen sehr, dass mit Euch und Eurer Königin alles besser wird.“, beendete sie und versuchte krampfhaft ihre Mutterinstinkte zu verdrängen. Sie würde gleich um Urlaub für ein paar Tage bitten und dann würde sie ihn wiedersehen.   „Ich kann Lady Oscar nur zustimmen, Eure Majestäten.“ Girodel warf einen kurzen Blick zu ihr und spürte förmlich, dass ihr die Trennung von Jean zu schaffen machte. Wobei sie vor den Augen von allen Anwesenden ihre gewöhnliche Haltung eines undurchschaubaren Soldaten trug, ahnte er, dass sie im Inneren an ihren Sohn dachte und ihn vermisste. „Die Armut an manchen Orten in Frankreich treibt einige Menschen sogar dazu, eigene Kinder auszusetzen. Als Beweis haben wir auf dem Heimweg ein Neugeborenes mutterseelenallein im Wald gefunden und ihn natürlich mitgenommen. Jetzt befindet es sich auf dem Anwesen der de Jarjayes und wird von Bediensteten des Hauses versorgt.“, ergänzte er genauer und schaute stur das Königspaar wieder an. Erneut hatte er Lady Oscar empfindlich getroffen und wusste, dass er später von ihr einiges zu hören bekommen würde. Aber das hatte er für sie getan und würde das auch erklären. Nur nicht jetzt, wo das Königspaar und alle anderen Höflinge ihn mit fassungslosen Gesichtern anstarrten. Auch Oscar, bei der zusätzlich auch der Zorn in den Augen aufflammte. Warum machte Girodel das? Jetzt wusste auch ganz Versailles von dem kleinen Jean und das missfiel ihr sehr. Wenn sie hier rauskamen, dann würde Girodel sich vor ihr verantworten müssen! Es war ihr schon schwer genug ums Herz und jetzt fügte ihr Untergebener noch eine Wunde dazu! Was ging nur in seinem Kopf vor?   „Das ist doch schrecklich!“, hörte Oscar die entsetzte Stimme von Marie Antoinette, schluckte ihren Ärger über Girodel herunter und richtete ihr Augenmerk wieder auf das Königspaar. Die Augen der Königin waren weit aufgerissen und eine Hand bedeckte leicht ihren Mund. „Gut, dass Ihr in der Nähe wart und das kleine Kind gefunden habt!“   „Dem stimme ich zu.“, äußerte sich auch Ludwig zu der Neuigkeit des Grafen de Girodel. „Ein Kind ist ein Geschenk Gottes und ihn auszusetzen zählt zu einer großen Sünde. Da Ihr ihn gefunden habt, Lady Oscar, seid Ihr ab nun für ihn verantwortlich.“   „Jawohl, Eure Majestät.“ Oscar wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Aber der letzte Satz seiner Majestät munterte sie auf jeden Fall auf: „Er wird ab nun an bei uns wohnen und bekommt auch eine gute Erziehung. Es wird ihm an nichts mangeln und ich werde höchstpersönlich für sein Wohl sorgen.“, beendete Oscar selbstsicher.   „So sei es, Lady Oscar.“ Der König wollte sich schon bei dem Kapitän des königlichen Garderegiments bedanken und ihn zusammen mit Graf de Girodel entlassen, als General de Jarjayes vortrat und sich vor seiner Majestät verneigte. „Entschuldigt, wenn ich mich einmische, Eure Majestät, aber ich würde gerne mir das Kind anschauen, das meine Tochter gefunden hat.“ Und dann entscheiden, ob es in seinem Haus überhaupt bleiben würde, dachte sich Reynier, aber verkniff sich vor dem Königspaar dies zu sagen. Als Oberhaupt der Familie de Jarjayes hatte er natürlich das Sagen und das verstand auch Ludwig. „Natürlich, General de Jarjayes. Ihr könnt auch Eure Frau mitnehmen. Ich denke, Madame Emilie würde das Findelkind auch sehen wollen.“, beendete der König und entließ die gesamte Familie de Jarjayes für heute. Zusätzlich beurlaubte er Kapitän Oscar und Graf de Girodel, ohne dass sie darum bitten brauchten, für zwei Tage, damit sie sich von der bestimmt anstrengenden und langen Reise erholen konnten.       Das Anwesen der de Jarjayes. Der kleine Jean öffnete nur ganz kurz seine Äuglein, um sie aber gleich zu schließen und weiter zu schlafen. Hatte er etwa die viele Menschen um seine Wiege gespürt und wollte sie auf diese Weise begrüßen? Konnte er überhaupt schon etwas spüren oder bemerken, was um ihn herum geschah? Diese Fragen gingen Oscar nur ganz kurz durch den Kopf. Die größte Frage, oder besser gesagt Besorgnis, war, wie ihre Eltern auf das angebliche Findelkind reagieren würden. Jede Sehne in ihrem Körper war angespannt und der Drang, ihr Kind an sich zu nehmen und ihn vor den musternden Augen zu verstecken, wurde immer größer. Aber sie musste es aushalten und ihre Muttergefühle im Keim ersticken. Sonst würden ihre Eltern ihr unangenehme Fragen stellen und bezüglich Jean misstrauisch werden. Das durfte auf kein Fall passieren! Oscar wagte sich nicht einmal zu rühren oder gar ihre Hände zu Fäuste zu ballen. Zusammen mit André und Girodel stand sie nicht allzu nahe bei der Wiege und spürte auch deren Anspannung. Sie hatte ihren Untergebenen noch nicht zur Rede stellen können, aber das würde sie noch tun, sobald eine günstigere Möglichkeit dazu entstand und bis auf André sie keine weiteren Zuhörer in der Nähe haben würden. Jetzt galt es jedoch etwas anderes zu überstehen. Ihr Blick ruhte auf ihren Eltern – darauf wartend, was sie über Jean sagten.   General de Jarjayes sagte lange nichts und inspizierte streng das Findelkind in der Wiege. Wenn es nach ihm ginge, hätte er das Kind sofort ins Waisenhaus wegbringen lassen, aber etwas störte ihn dabei. Vielleicht, weil der König die Verantwortung schon Oscar übergeben hatte und er deshalb dessen Anordnung nicht missachten wollte. Zusätzlich erinnerte der Bengel ihn merkwürdigerweise an Oscar. Aber womöglich bildete er sich das nur ein und als Sophie sagte, dass es ein Junge war, betrachtete er das Wesen genauer: rosige Wangen, ein kleiner Körper, winzige Fäustchen, für kurz geöffnete Augen und hellbraune Härchen auf dem Kopf. Ein Kind wie jedes andere und dazu auch noch aus der niederen Herkunft. Was sollte er mit ihm machen? Ihn ohne Gegenleistung in seinem Hause aufwachsen lassen und ihn umsonst durchfüttern?   „Er ist bestimmt nur wenige Tage alt, so klein wie er ist!“, hörte Reynier die herzerweichende Stimme von seiner Frau und verdrehte die Augen. Es fehlte noch, dass Emilie das Kind aus der Wiege nahm und ihn auch noch bemutterte, als wäre es ihr eigener. Das musste er unterbinden, sonst würde sie ganz rührselig! Allerdings noch bevor er seinen Mund öffnen konnte, fasste seine Frau ihn am Arm und schaute ihn herzzerreißend an. „Reynier, der Junge wird bei uns gut aufgehoben und später sehr nützlich im Haushalt sein, nicht wahr?“ Ähnlich wie bei ihrem Gemahl, erinnerte das elternlose Geschöpf in der Wiege auch Emilie an ihre Tochter Oscar. Warum das so war, wusste sie ebenfalls nicht und schob das einfach auf das niedliche Aussehen des Kindes und weil sie selbst eine sechsfache Mutter war.   Wie sollte Reynier diesen warmherzigen Blicken von ihr nur widerstehen? Seine Frau wusste einfach, wie sie seine harte Schale durchbrechen konnte. „Natürlich wird er das.“, gab er nach und schaute sich nach seiner Tochter um. „Da du ihn gefunden hast, Oscar, soll er ein Teil deines Namens tragen.“, ordnete er an. „Das heißt, er wird François heißen.“   Damit konnte Oscar leben. „In Ordnung, Vater.“, mehr sagte sie nicht und konnte das steigende Glücksgefühl in ihr kaum noch zügeln. Ihr Sohn würde bei ihr bleiben können und sie und André durften seine Zieheltern sein! Das hieß, seine Erziehung lag ganz alleine in ihren und Andrés Händen. Sie würden zwar ihn weiterhin verleugnen müssen, aber Zieheltern waren auch Eltern und hatten das Recht, ihren Schutzbefohlenen wie ein eigenes Kind zu erziehen. Das war ein befreiendes Gefühl und viel mehr als Oscar erhofft hatte. Denn es war alles gut gegangen und nicht einmal ihre Eltern hatten irgendein Verdacht geschöpft.   „Dann ist alles geklärt.“ Der General wunderte sich einerseits ein wenig, dass Oscar ihm nicht widersprach, aber andererseits war er mit ihrer Gehorsamkeit zufrieden. Er wollte keine Debatten mit ihr austragen und kehrte mit seiner Frau deshalb nach Versailles zurück.   Graf de Girodel blieb allerdings noch auf eine Tasse Tee bei Oscar. „Das ist gut gegangen und niemand hat Verdacht geschöpft.“, meinte er, als er in ihrem Salon war und das aromatische Getränk, das André gerade brachte, genoss.   Oscar ergriff gleich die Möglichkeit, ihn zur Rede zu stellen. „Warum habt Ihr vor dem ganzen Hofstaat überhaupt gesagt, dass wir ein Kind gefunden haben?“   „Versteht mich nicht falsch, Lady Oscar, aber früher oder später wäre es bekannt geworden.“, erklärte Girodel und stellte seine ausgetrunkene Tasse auf den Unterteller. „Ich dachte, lieber jetzt sollte jeder davon erfahren, als später. So werdet Ihr wenigen Gerüchten ausgesetzt. Ihr wisst doch, wie intrigant der Hof ist.“   „Ihr habt recht, Graf.“, stimmte André ihm unvermittelt zu. „Jetzt wird es eher geglaubt, dass er ein Findelkind ist, als wenn wir es später offenbaren.“   „Ja, allerdings.“, gab auch Oscar nach genauem Überlegen zu. „Wie dem auch sei. Er ist jetzt hier und niemand wird ihn uns wegnehmen können.“   André wollte dem Grafen noch Tee in die Tasse gießen, aber Victor lehnte es ab. „Ich muss dann sowieso gehen und meine Reisesachen wegbringen.“ Er hatte ja ein Haus in Paris und wollte sich ebenfalls von der Reise erholen wie sein Kapitän. „Aber ich komme gerne wieder und wenn Ihr erlaubt, Lady Oscar, würde ich François öfters besuchen kommen.“   „Natürlich, Graf, könnt Ihr ihn besuchen kommen, wenn Ihr möchtet.“, sagte Oscar und Girodel verabschiedete sich. „Ich danke Euch, Lady Oscar. Ich werde morgen vorbeikommen.“   „Bis morgen, Graf.“, verabschiedete ihn Oscar und blieb mit André dann alleine. Ihr Geliebter begann das Geschirr abzuräumen, als Oscar von ihrem Platz aufstand und ihn davon abhielt. André ließ alles stehen und zog seine Liebste in seine Arme. Endlich hatten sie ein paar Minuten für ihre Zweisamkeit. Oscar schmiegte sich an ihn und genoss die zärtliche Umarmung mit ihm. „Wir werden wohl in Zukunft vorsichtig sein müssen.“, flüsterte sie bedächtig in seine Kleidung: „Noch ein Kind kann unser Geheimnis auffliegen lassen und ich glaube nicht, dass uns bei einem zweiten Mal die Geschichte mit dem Findelkind abgenommen wird.“   Ja, das würde wohl das Beste sein und ihnen würde schon etwas einfallen. Es gab viele Möglichkeiten, die Liebe und Leidenschaft zu genießen, ohne dabei ein Kind zu zeugen. „Du hast natürlich recht, Liebes.“, murmelte André in ihr Haar und hauchte einen kleinen Kuss auf ihren Scheitel. „Ab nun werden wir vorsichtiger sein. Das heißt aber nicht, dass unsere Liebe dadurch erlöschen wird.“   „Ja...“ Oscar schob sich etwas von ihm, ließ sich von seinem sanften Blick bezaubern und erwiderte ihm hingebungsvoll den innigen Kuss, den er ihr sogleich schenkte. Kapitel 15: François -------------------- Juni 1775. Die Krönung von Ludwig XVI in Reims war vorüber. Die Menschen schöpften neue Hoffnung auf bessere Zeiten und bejubelten das neue Königspaar. Wenig später wurden auch die Steuern und die Preise für Lebensmittel gesenkt, was den Menschen noch mehr gute Laune brachte. Nach der Krönungszeremonie und der Feier freute sich Oscar auf ein paar freie Tage, die sie auch bekam. Und noch mehr freute sie sich, zusammen mit ihrem André ihren gemeinsamen Sohn wiederzusehen. In den fünf Monaten nach der Rückkehr von der Reise gewöhnten sie sich daran, ihn nicht so oft zu sehen und als Findelkind zu betrachten. Die ersten Wochen waren am schwierigsten. Ihre Herzen schmerzten und bluteten, aber die Zeit heilte die Wunden. Denn Hauptsache ihrem Sohn ging es gut und er wuchs bei ihnen auf. Oscar hatte sogar angeordnet, dass André die weitere Erziehung des Kindes übernehmen sollte, sobald es älter werden würde. Zum äußeren Schein, versteht sich. In Wirklichkeit jedoch, um ihrem Sohn wenigstens im Verborgenen das Gefühl zu geben, dass er von ihnen geliebt würde und damit er sie wie seine Eltern ansah. Und das schien zu funktionieren.   André fing gleich nach Oscars sogenannter Anordnung an, das angebliche Findelkind an sich zu gewöhnen. In ständiger Begleitung von der Amme nahm er ihn überall mit – in den Stall, wenn er sich um die Pferde kümmerte oder in die Küche, wenn er seiner Großmutter half und das Essen oder einfach den Tee zu Oscar in den Salon brachte. Auch Oscar selbst hielt den Kleinen das eine oder andere Mal auf den Armen und unterstrich damit den Bediensteten und auch für ihre Eltern, dass sie die Verantwortung über ihn sehr ernst nahm. Deswegen wunderte es auch niemanden, wenn Lady Oscar beim Anblick des Kindes lächelte und ihre so oft verhärmten Gesichtszüge weicher wurden. Besonders Sophie erfreute sich daran, weil ihr Schützling nicht wie ein hartherziger Soldat auftrat, sondern ihre weiblichen Gefühle endlich zum Vorschein kamen. Sei es nur bei diesem kleinen Jungen, den sie mit André und Graf de Girodel im Januar gefunden hatte. Sophie wünschte sich sehr, dass Oscar durch das Findelkind einen Sinneswandel in ihrer mannhaften Erziehung bekommen, das Soldatenleben aufgeben und das Leben einer Frau führen würde. Vielleicht deshalb achtete sie sorgsam darauf, dass der Junge sofort zu Lady Oscar gebracht wurde und so viel wie möglich Zeit in ihrer Nähe verbrachte. So ähnlich wie heute. Sobald Lady Oscar aus Versailles zurückkam, suchte sie die Amme auf und schickte sie unverzüglich mit dem Kind in ihre Gemächer.   Oscar fragte sich manchmal, ob ihr einstiges Kindermädchen Gedanken lesen konnte. Denn kurz nach einer Begrüßung eilte Sophie sogleich in das Zimmer der Amme und schickte sie zusammen mit dem Kind zu ihr. So auch heute. Schon wenige Augenblicke später, nachdem Oscar mit André ihr Salon betrat, kam die Amme mit dem Findelkind. Der Junge begann heftig zu zappeln, sobald er seine Zieheltern sah. Das war seine Art anzudeuten, dass er sie begrüßen wollte. Seine Amme ließ ihn auf den Boden und François krabbelte auf allen vier zu ihnen. „Er wird mit jedem Tag schneller.“, sagte die Amme gerührt.   André hob ihn auf die Arme und wirbelte ihn durch die Luft. „Du wirst auch größer und schwerer!“ Er lachte und obwohl er ihn nicht seinen Sohn nennen durfte, war er trotzdem glücklich, ihn auf diese Weise bei sich zu haben. Das Gleiche galt bestimmt auch für Oscar, die neben ihm stand und mit einem heimlichen Glücksgefühl sein Tun beobachtete.   Der Kleine jauchzte, als er in die Höhe gehoben wurde und rief aus lautem Vergnügen: „Pa!“, als er wieder in die Arme seines Ziehvaters versank.   Das war das erste Wort von ihm. Zwar nicht ganz ausgesprochen, aber er verblüffte damit nicht nur André und die Amme. Oscar kam sogar näher an ihn heran. „Was hast du gesagt? Sag es noch einmal!“   François streckte nach ihr seine witzigen Ärmchen aus und seine grünblauen Augen leuchteten entzückend. „Ma!“, rief er dabei und Oscar kamen beinahe die Freudentränen. Krampfhaft versuchte sie ihre Muttergefühle niederzuringen und nahm ihn vorsichtig an sich. „Du nennst uns Papa und Mama?“, fragte sie und konnte das Lächeln aus Stolz und verborgener Freude nicht verbergen, während sie ihr Kind an sich nahm.   Der Junge lachte und zappelte - er wollte wieder auf den Boden. Oscar tat es und er krabbelte zurück zu seiner Amme. Aber als sie sich beugte, um ihn hochzunehmen, nahm er eine andere Richtung und krabbelte den ganzen Salon durch.   Oscar tauschte mit André verwunderte Blicke, verständigte sich stumm mit ihm und meinte dann zu der Amme: „Sag Sophie Bescheid, dass der Tisch gedeckt werden kann und wir passen derzeit auf den Kleinen auf.“   „Wünscht Ihr, dass er auch heute mit Euch speist?“, fragte die Amme bevor sie ging. Seit sie anfing François von der Brust abzugewöhnen und ihm stattdessen abwechselnd zu Brei verarbeitete Mahlzeiten zu geben, wünschte Lady Oscar öfters, dass er zusammen mit ihr und André speiste.   „Natürlich.“, bekräftigte Oscar ihren Wunsch und ordnete sogleich an: „Beim nächsten Mal brauchst du nicht mehr nachfragen, denn es wird ab nun immer so sein, wenn wir auf dem Anwesen sind.“   „Jawohl, Lady Oscar.“ Die Amme verstand. Lady Oscar nahm nun mal die Verantwortung sehr ernst, auch wenn das nur ein Findelkind war.   Als die Amme weg war, schnappte sich André erneut den Jungen, hob ihn auf den Arm und ging zu Oscar. Bei ihm zappelte François ausnahmsweise nicht. André übte auf ihn eine beruhigende Wirkung aus, so ähnlich wie auf Oscar, als er sie zusammen mit ihm umarmte. „Er hat uns wirklich Papa und Mama genannt.“, sagte er und küsste sie flüchtig auf den Mund.   „Wenn er wüsste, dass wir das wirklich sind ...“ Oscar gab nach André ihrem gemeinsamen Sohn einen Kuss auf die Wange, strich ihm durch das lockige, hellbraune Haar und entschwand aus der Umarmung ihrer Geliebten. Die Amme müsste bald wiederkommen und niemand durfte sie in ihrem Familienglück entdecken. Das war bitter und traurig, aber auch besser für sie alle.   André folgte seiner geliebten Oscar bis zum Klavier und blieb dort mit François auf dem Arm stehen. „Irgendwann wird er das erfahren und uns bestimmt verstehen.“   „Das hoffe ich, Geliebter.“ Oscar setzte sich ans Klavier und begann eine sanfte Melodie zu spielen. François klatschte zwei Mal in seine Hände, was gar nicht durch das Klimpern zu hören war und wurde sogleich still, als die Musik höhere Töne einschlug. Er lehnte sich an Andrés Brustkorb und hörte entspannt zu, wie auch sein Vater. Beide liebten den sanften Klang des Klavierspiels, das Oscar jedes Mal spielte, wenn sie auf dem Anwesen war. Ein sinnliches Bild einer Familie, die den Umständen entsprechend ihr Glück nur im Verborgenen miteinander teilen konnte.   Mitten im Spiel kamen die Amme und Sophie in den Salon herein. Sie deckten wortlos den Tisch mit Speisen und lauschten dann auch der Musik, bis Oscar aufhörte. „Danke, Sophie.“, sagte sie, stand auf und ging mit André zum Tisch.   „Jetzt ist er ruhig.“, scherzte André und gab mit Bedauern seinen Sohn an die Amme zurück, um Oscar und für sich den Tee in Tassen einzuschenken.   „Ich hörte, er hat euch Papa und Mama genannt.“, meinte Sophie und tätschelte dem Jungen die Wange. François schüttelte vehement mit Kopf und quengelte, woraufhin seine Amme ihn mit an den Tisch nahm und ihm sein Holzpferd in die Hand drückte. Der Junge ließ sich sofort vom Spielzeug ablenken und spielte damit am Tisch, während die Amme ihm den noch warmen und mit etwas Zucker bestreuten Brei in der kleinen Schale rührte.   „Ja.“, bestätigte Oscar die Aussage von Sophie, während auch sie am Tisch Platz nahm. „Er kann uns weiter so nennen, das macht uns nichts aus.“   Sophie faltete gerührt ihre Hände vor der Brust, als sie das hörte. Wenn das weiter so gehen würde, dann würde Oscar irgendwann sich endlich wie eine Frau verhalten, heiraten und selbst eigene Kinder haben. Dass sie eine gute Mutter sein könnte, sah man doch schon bei ihrem Adoptivsohn. „Natürlich, Ihr habt ihn ja gefunden und seid mit André seine Zieheltern.“   „Ganz recht, Großmutter und er ist noch so klein.“, hörte sie ihren Enkel sagen und zog sogleich ein verärgertes Gesicht in seine Richtung. „Du frecher Bengel sollst vielleicht schon mit der Gedanke spielen, dir selbst eine Braut zu finden und sesshaft zu werden!“, brummte sie, aber wurde nicht einmal ernst genommen.   „Das eilt nicht, Großmutter.“ André winkte ab und setzte sich neben der Amme, die bereits Versuche unternahm, den Kleinen mit Brei zu füttern. François machte zwar den Mund auf, aber sobald er den Löffel spürte und den Brei schmeckte, drehte er den Kopf plötzlich weg und die klebrige Maße verteilte sich auf seine Wange.   „Aber warte nicht so lange, sonnst wird es irgendwann zu spät, mein Junge.“, ermahnte Sophie ihren Enkel, aber auch da wurde sie von ihm überhört.   „Das wird nicht passieren, das verspreche ich Euch, Großmutter.“ André nahm eine Serviette, machte ein kleines Stück in der Fingerschale nass und wusch damit den Mund und die Wangen seines bekleckerten Sohnes ab.   Sophie seufzte entrüstet. Was würde nur aus ihrem Enkel werden? Nun gut, er erfüllte seine Aufgaben pflichtbewusst, aber das war es auch schon. Manchmal kam es ihr so vor, als hätte er sein Leben ganz an der Seite von Oscar verschrieben und deshalb interessierte er sich für nichts anderes mehr, außer ihr Freund zu sein und ihr treu zu folgen. „Wenn du meinst, André. Du bringst nachher das Tablett und das Geschirr wieder in die Küche.“, ordnete sie an und verließ den Salon. Immerhin hatte sie in der Küche zu tun, wie den Küchenmädchen auf die Finger zu schauen und dafür zu sorgen, dass alles nach ihren Anweisungen befolgt wurde.   „Ja, Großmutter, mach ich.“ André merkte nicht einmal, wie sie ging und beschäftigte sich weiter mit François, der nicht mehr essen wollte und sich stattdessen müde die Augen rieb.   „Ich bringe ihn lieber ins Bett.“, sagte die Amme und erhob sich zusammen mit dem Jungen auf dem Arm. Sie schaute zu Oscar und als diese zustimmend nickte, verließ auch sie den Salon und brachte ihn ins Bett.   „Unser Kleiner macht sich gut, das freut mich.“, seufzte Oscar ein wenig bedauernd, dass François nicht mehr bei ihr im Zimmer war. Sie hatte ihn und André während des Essens beobachtet und dabei innerlich vor Stolz geglüht. André war ein sehr guter Vater und bei dem liebevollen Umgang mit ihren gemeinsamen Sohn glaubte sie ihn noch mehr zu lieben.   „Er lernt schnell.“, erwiderte André und lächelte seine Geliebte an.   Oscar verlor sich in seinem sanften Blick und ihr Körper durchströmte eine Sehnsucht nach ihm und seiner Liebe, die sie schon seit vielen Monaten auf der Reise durch Frankreich und nach der Geburt ihres Kindes vernachlässigt hatte. Wenn sie auf dem Anwesen waren, kam André nach ihrem Wunsch zwar nachts zu ihr, aber außer leidenschaftlicher Küsse und Umarmungen geschah zwischen ihnen nichts mehr – aus Vorsicht, kein weiteres Kind zu zeugen. „Wollen wir ein wenig noch durch Paris fahren?“, schlug Oscar unvermittelt vor, um sich von ihren Sehnsüchten und Gelüsten abzulenken. „Es ist doch noch nicht so spät draußen.“, fügte sie hinzu und hörte schon seine Zustimmung. „Natürlich, meine Liebste, warum auch nicht?“ Kapitel 16: Sehnsucht --------------------- Langsam fuhr die Kutsche durch Paris. Die feuerrote Sonne versteckte sich gänzlich hinter dem Horizont und überließ den Platz dem aufgegangenen Mond und den silbernen Sternen. An der Notre Dame de Paris wendete der Kutscher das Gespann und nahm den Weg zum Anwesen der de Jarjayes zurück. Diesen Weg hatte Lady Oscar bestimmt, als sie mit André in die Kutsche gestiegen war. Dass die Kutsche sich jetzt auf dem Heimweg befand, nahm weder Oscar noch André wahr. In der Dunkelheit verborgen und in einer innigen Umarmung vertieft, nutzten sie die Fahrt für eine kleine Liebelei aus.   Das Rattern der Räder und das Hufklappen auf den Pflastersteinen übertönte zusätzlich den entronnen Seufzer der Begierde von Oscar, als André die Innenseite ihres Oberschenkels streichelte und dabei sanfte Küsse an ihrer Schlagader unter dem Ohrläppchen verteilte. Sie weiter am schlanken Hals zu küssen, konnte er nicht. Der hochstehende Kragen ihrer Uniform hinderte ihn daran und er verdrängte krampfhaft den Impuls, seine Liebste jetzt und hier schon auszuziehen und seiner Sehnsucht nach ihr freien Lauf zu lassen. Sei es auch nur oberflächlich, in einer tiefen Umarmung, unter berauschenden Küssen und der Geschicklichkeit seiner Hände, aber die Sehnsucht musste gestillt werden. Sein Körper durchströmte bereits das brennende Verlangen und in seiner Hose wurde es härter und enger. Seine Finger streichelten an ihrem Schritt und sogar durch den dichten Stoff ihrer Hose fühlte er, dass sie feucht war. In seinem Geist drang er bereits in ihre warme Höhle ein, verwöhnte sie mit seinen Bewegungen in ihr und stand kurz davor, dies auch zu verwirklichen. Nur nicht hier in der Kutsche. Auf dem Anwesen ihrer Eltern würde er nach der Ankunft zu ihr ins Zimmer schleichen und in Liebe, Lust und Leidenschaft mit ihr verglühen. Ach, wenn das schon soweit wäre...   Oscar hielt ihre Augen geschlossen, ihren Kopf hatte sie in den Nacken gelegt und ihre Finger spielten mit dem Zopf seiner Haare. Ungestillte und die über längere Zeit verdrängte Sehnsucht nach ihm und seiner Liebe breitete nun ihre Flammen am ganzen Körper aus und brannte auf der Haut unter der Uniform. Ihr Herz schlug zwar noch gleichmäßig, aber ihre Brustwarzen standen schon stramm und hart wie seine Männlichkeit, die sie an ihrem Schenkel und durch den Stoff der Hose spürte. In ihrer Leistengegend loderte bereits auch das kaum auszuhaltende Verlangen und zeichnete sich mit Feuchte zwischen ihren Schenkeln ab, je mehr seine verführerischen Finger an ihrer sensiblen Stelle rieben. Ach, wenn sie schon Zuhause in ihrem Zimmer und auf den weichen Matratzen ihres Bettes wären...       „Halt! Haltet bitte an!“, durchdrang ein markerschütternder Schrei von draußen und riss das Paar auseinander. Die Sehnsucht nach einander verschwand augenblicklich und die lodernden Flammen der Lust und Wonne erloschen in binnen einer Sekunde.   André flüchtete auf die andere Seite der Kutsche, als wäre er gerade wachgerüttelt worden und Oscar lugte aus dem Fenster.„Kutscher anhalten!“, befahl sie laut. Nach der aufgelösten Stimme von draußen zu urteilen, befand sich jemand in Not und Oscar würde es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, denjenigen nicht geholfen zu haben.   Die Kutsche blieb sofort stehen und sie holte ein junges Mädchen ein. Sie trug ein mehrfach geflicktes Kleid, das mal bessere Zeiten gesehen hatte und schaute zu Oscar mit großen, blauen Augen auf. Ihr blondes Haar war mit einer Schleife zu einem Zopf gebunden und vom Alter her war sie nicht älter als fünfzehn oder sechzehn. „Möchtet Ihr mich für eine Nacht kaufen, Monsieur?“, fragte sie kleinlaut und unsicher.   Oscar schaute erst einmal ungläubig drein und brach danach in schallendes Gelächter aus. „Oh, mein Gott, ist das komisch!“ Das Mädchen hatte sie definitiv mit einem Mann verwechselt! Dann hörte sie mit dem Lachen auf. „Da hast du aber Pech gehabt. Weißt du, ich bin nämlich eine Frau, tut mir leid. Also sieh in Zukunft deine Kunden genauer an.“   Das Mädchen fiel auf die Knie, vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte bitter. Oscar tat sie auf einmal leid und sie stieg aus der Kutsche. „Na hör mal, wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, dich verkaufen zu wollen? Du siehst gar nicht so aus.“ Als Antwort bekam sie nur heftiges Schluchzen zu hören und deshalb kniete sie auf einem Knie zu ihr. „Na sag mal, wie heißt du denn eigentlich?“   „Rosalie...“   „Rosalie …“ Die Arme... Oscar wollte auf einmal den Grund wissen, warum so ein junges Mädchen sich schon in diesem zarten Alter verkaufen wollte. „Warum machst du solche Dummheiten, Rosalie?“   „Meine Mutter ist sehr krank und ich finde keine Arbeit mehr.“, wisperte Rosalie in ihre Handfläche verzweifelt. „Ich weiß weder ein noch aus und dann dachte ich eben...“   Oscar bekam ein Druck im Brustkorb. Wie konnte das aber sein? Die Menschen hatten doch vor kurzem das neue Königspaar bejubelt und sich auf neue Zeiten gefreut. Oder hieß das etwa, dass sich noch nichts geändert hatte? Oscar sah kurz zu André und dann zurück zu dem Mädchen. Dabei entfernte sie ihr eine Hand vom Gesicht. „Hör mir zu: Nimm das, auch wenn das nicht lange reicht.“ Sie drückte ihr eine Goldmünze in die Hand und stand auf. Bevor sie in die Kutsche stieg, drehte sie sich noch einmal um. „Wenn du deine Mutter liebst, tue es nie wieder. Hast du verstanden?“ Rosalie nickte, ihre Wangen glänzten von den Tränen und ihre Augen blickten mit gewissem Unglaube und Bewunderung zu ihr auf. Oscar lächelte matt, stieg in die Kutsche und auf dem weiteren Heimweg dachte sie verbittert: So ein junges, hübsches Mädchen muss sich an Männer verkaufen, weil sie nicht weiß, wie sie überleben soll. Ich weiß gar nicht mehr, welches Elend in diesem Land eigentlich herrscht.   „Denkst du auch an das Mädchen?“, fragte André leise und setzte sich wieder zu ihr rüber. Das körperliche Verlangen und die Lust waren zwar dank diesem kleinen Zwischenfall verschwunden, aber nicht die Sehnsucht und der Wunsch, seine Geliebte einfach in Armen zu halten.   Oscar lehnte sich gerne an ihn und schmiegte sich an seiner Brust – ähnlich wie ihr kleiner François heute beim Klavierspiel. „Ja.“, gab sie zu. „Wir hatten auf unserer Reise einige arme Menschen gesehen, aber vor eigener Tür ist mir das irgendwie entgangen...“   „Mache dir deswegen keine Sorgen, Oscar.“ André legte um sie seine Arme und streichelte ihr weiches Haar, das in den letzten Monaten gewachsen war und ihr jetzt bis zum Schulterblatt reichte. „Wir haben doch jetzt einen neuen König und eine neue Königin.“, versuchte er sie zu beruhigen. „Sie werden sicherlich etwas dagegen tun, denn seine Majestät hat uns doch nicht aus Spaß durch Frankreich geschickt.“   „Ich hoffe, dass du recht hast.“ Oscar dachte dabei, dass sie auf eben dieser Reise ihren Sohn zur Welt gebracht hatte. Es war schon etwas Gutes daran, denn wenn nicht auf der Reise, dann wäre ihr kleiner Sonnenschein in Versailles oder auf dem elterlichen Anwesen geboren worden. Das wäre das Ende von der Liebe zwischen ihr und André gewesen. Oscar wollte sich nicht vorstellen, welche Strafe er bekommen hätte. Womöglich wären sie alle drei vor der Tür gesetzt und als Schandfleck der Familie und wegen Treuebruchs zu dem Königshaus aus Versailles verbannt worden. Aber dank dieser Reise durften André und sie ihr Kind behalten, ihn großziehen und seine Zieheltern sein. Niemand wusste, dass er ihr wahrer Sohn war, bis auf Graf de Girodel, aber auf diesen war Verlass. Er schwieg und mochte den Kleinen auch, was seine Loyalität noch mehr unterstrich und Oscar war in dieser Hinsicht beruhigt. Vielleicht sollte sie ihm die Patenschaft über François doch erlauben?   „Oscar, wir sind Zuhause.“ André schob sie sanft von sich und die Kutsche blieb direkt vor den Türen des Hauptgebäudes stehen.   So schnell? Oscar wunderte sich ein wenig. „Ich muss eingeschlafen sein.“ Sie ordnete etwas ihre Uniform und stieg aus der Kutsche. André folgte ihr mit kleinem Abstand ins Innere des Gebäudes und dann ins Zimmer ihres gemeinsamen Sohnes. Auf dem Tisch brannte eine Kerze – für den Fall, falls das Kind weinte und damit die Amme sich um ihn sofort kümmern konnte. Aber jetzt schliefen François selig in der Wiege und die Amme im Bett, das gleich daneben stand. Oscar hauchte einen Kuss auf ihre Finger und drückte sie ihm leicht auf der Wange, ohne ihn dabei zu wecken. Ihre Augen zeigten so viel Liebe und Zärtlichkeit, dass André am liebsten François aus der Wiege genommen, ihn seiner Oscar in die Arme gegeben und sie beide innig umarmt hätte. So ähnlich wie vor einigen Stunden beim Klavierspiel. Aber das durfte er nicht. Die Amme könnte jederzeit aufwachen und würde sich sicherlich darüber wundern. Wie schwer und schmerzlich es auch war, versuchte André genau dies nicht zu tun. Geduldig wartete er, bis Oscar ihren Blick von François entriss und ihm mit einem Nicken andeutete, dass sie gehen wollte. Erst dann rührte sich André, strich sachte seinem Sohn das Haar von der Stirn, ohne weder ihn noch die Amme zu wecken und folgte leise seiner Geliebten aus dem Zimmer.   Anstelle die Treppe zu nehmen und in ihre Gemächer zu gehen, änderte Oscar die Richtung und verschwand hinter der Tür seines Zimmers. André schmunzelte. Er hatte auch Sehnsucht nach ihr und beeilte sich, ihr nachzukommen. „Oscar?“, flüsterte er in die Dunkelheit hinein und nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte.   „Ich bin hier.“, erwidere sie leise und dann spürte er schon ihre Arme um seinen Nacken und wie ihr Körper an den seinen sich lehnte.   Die Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und beide erkannten die Umrisse des anderen, dank des Mondlichts, das durch das Fenster in sein Zimmer einfiel. Ihre Lippen trafen sich – einfühlsam und innig. Es bedurfte keiner Worte mehr um ihre gegenseitige Liebe und Zuneigung zu beschreiben. Sehnsucht, Verlangen und Lust entfachte wieder in ihnen und dem gaben sie sich hin. Im Hause schliefen ja bereits alle und das war wie eine offene Einladung für die zwei.   Die Nacht war die einzige Verbündete und Zeuge ihrer verborgener Liebe und Leidenschaft. Jedes Mal aufs Neue wiederholten sie das Liebesspiel, wenn sie im getrauten Heim ihre dienstfreien Tage verbrachten und jedes Mal war das ein schönes Vergnügen.   Oscars Uniformjacke landete als erstes auf den Boden. Danach folgten Andrés Ausgehjacke, Weste und Schal. „Ich liebe dich.“, erklangen die Liebesworte in die Stille der Nacht von André und wurden von einem leisen: „Ich liebe dich noch mehr.“, von Oscar erwidert.   André vertiefte den Ausschnitt ihres Hemdes, während seine Lippen ihren schlanken Hals liebkosten und dabei das Feuer der Leidenschaft in ihr noch mehr entfachte. Oscar machte kleine Schritte von ihm rückwärts, ohne sich von ihm zu trennen und André folgte ihr, bis das Bett sie stoppte.   Die Stiefel waren als nächstes dran. Zusammen mit den Strümpfen wurden sie schnell ausgezogen und Oscar überraschte ihren André, als sie sich auch ihrer Hose entledigte. Sie tat es heute zum ersten mal seit langem wieder. „Ich will dich wieder ganz spüren.“, flüsterte sie atemlos und André zog sie in seine Arme. Er wollte sie genauso wieder spüren wie noch vor ihrer Schwangerschaft, aber zeitgleich hatte er seine Bedenken. Wie könnte er das machen, ohne ihr dabei ein zweites Kind zu schenken?   Oscars Finger nestelten bereits an seinem Hosenbund. Wie könnte er dem nur widerstehen? Die Antwort kam ihm gleich durch den Kopf geschossen: Gar nicht! Also ließ André es zu, dass seine Hose nach unten hinunterrutschte und er mit seiner Geliebten nur in Hemden vor einander standen. Seine Hände schoben sich unter ihr Hemd und zogen es ihr über ihren Kopf aus. Oscar half ihm sein Hemd auszuziehen und dann fiel sie mit ihm auf die weiche Matratze des Bettes.   Welch eine Wonne, Haut an Haut wieder zu liegen und sich gegenseitig die Wärme der Geborgenheit zu schenken. Oscar unterdrückte ein lautes Keuchen, als Andrés Lippen ihre Brust liebkosten und seine Finger an ihrem behaarten Dreieck streichelten. Seit der Milchstrom versiegt war, wurden ihre bis dahin strafe Brüste wieder kleiner und hatten die gewohnte Form wieder angenommen. Aber das störte André keineswegs. Er liebte sie so wie sie war und nicht nach ihren Körperformen.   Oscar nahm ihre Unterlippe zwischen die Zähne, ihre Finger strichen ihm gleichmäßig durch das Haar und aus ihrer Kehle entrann wollüstiges Gurgeln. Seine Lippen verließen ihre zartrosa Brust und verteilten kleine Küsse an ihren Rippen, an ihrem flachen Bauch, am Beckenknochen und am Venushügel. Seine Finger tauchten in ihre feuchte Höhle und raubten ihr den Verstand. „André...“, keuchte Oscar und bewegte ihr Becken im Takt seiner Finger in ihr. „...lass mich nicht warten...“   „Alles, was du willst, meine Liebste.“, hauchte er in ihre erhitzte Haut und war dann über ihr. Oscar schlang sogleich ihre langen Beine um seine Hüfte und ließ ihm keine André Wahl, außer in sie einzudringen. Es war schön, sich in ihr wieder zu bewegen und zeitgleich kam ihm eine Idee, wie er sie nicht noch einmal schwängern würde können.   Ach, was für ein herrliches Gefühl, ihn wieder in sich zu spüren, sich seinen Bewegungen anzupassen und mit ihm einfach eins sein! Ihre Finger krallten sich in sein Fleisch, ihr Becken bewegte sich schneller, wohingegen André ein wenig zu zögern schien. Aber warum nur? „André...“, stöhnte sie, wollte ihn zur Schnelligkeit antreiben, aber dann hielt sie plötzlich inne – der Höhepunkt kam unerwartet und alle ihre Sehnen spannten sich an.   André hatte nur darauf gewartet und bewegte sich erst dann in ihr schneller, als ihr Körper sich etwas entspannte. Der altbekannte Druck in seiner Männlichkeit signalisierte ihm, dass auch er bald seinen Höhepunkt erreichen würde. Jedoch, noch bevor es dazu kam, schob er sich ruckartig aus seiner Geliebten und ergoss seinen Samen auf den Bettlaken neben ihr. Das war zwar nicht gerade angenehm, aber auf jeden Fall besser, als sie erneut zu schwängern. Der Druck ließ nach, seine Sehnen in der Leistengegend entspannten sich und ein befriedigendes Gefühl breitete sich in ihm aus. André setzte sich auf, schob die Decke über ihre beiden Körper und legte sich rücklings in die Kissen.   Oscar schmiegte sich sofort an seine warmer Brust, hörte wie sein Herz den gleichmäßigen Schlag wieder annahm und streichelte mit ihren Fingern an seiner strafen Haut. Sie hatte es gespürt, dass sein Samen nicht in ihr Schoß gefallen war und verstand den Hintergrund dahinter. Ihr Geliebter hatte also eine Möglichkeit gefunden, wie sie ihre Liebesnächte genießen und dabei kein zweites Kind zeugen konnten. „So können wir es weitermachen.“, murmelte Oscar, hob ihren Kopf und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund. Ihre Haarspitzen streiften an seinem Brustkorb, aber das störte ihn keineswegs.   André schob ihr das Haar hinters Ohr, streichelte mit seinem Daumen an ihrer Wange und bewunderte ihr feines Antlitz im Mondschein. Wie schön und liebreizend sie doch war! Ihre blauen Augen wirkten in der nächtlichen Dunkelheit fast schwarz und doch glaubte er all die Liebe und Zärtlichkeit in ihnen zu sehen. Wie sehr er sie liebte! Sie und ihren gemeinsamen Sohn. Obwohl François unbeabsichtigt entstanden war, aber er war auch ein lebender Beweis der reinen und bedingungslosen Liebe zwischen ihnen. Um keinen Preis der Welt würde er weder ihn noch seine Oscar hergeben. „Ja, meine Liebe, so können wir das weiter machen.“ André zog sachte ihr Gesicht zu sich, schenkte ihr einen zärtlichen Kuss und streichelte ihren Rücken mit seinen Fingern. Ja, so würden sie es immer machen und auf diese Weise ihre Sehnsüchte nacheinander stillen, ohne dabei befürchten zu müssen, ein nächstes Kind erzeugt zu haben. Kapitel 17: Beförderung ----------------------- Ein unerwiderter Kuss zum Abschied hatte immer etwas Herzzerreißendes und Melancholisches an sich. Vielleicht, weil es unbemerkt geschah und der Schläfer es gar nicht mitbekam. Nun, nach so einer leidenschaftlichen und lustvollen Vereinigung wäre es kein Wunder, dass er so müde und erschöpft war. Sie eigentlich auch. Allerdings war es nicht ihr Bett und auch nicht ihr Zimmer. Also musste sie gehen, noch bevor die ersten Bediensteten aufwachen würden. Der erste Hahn hatte bereits gekräht und sie beeilte sich beim Anziehen. Wenigstens Hose und Hemd. Die Uniformjacke und Stiefel würde sie besser in die Hand nehmen und auch so in ihr Zimmer tragen.   Oscar verließ ihren André genauso leise wie die Nacht, die langsam von der Morgendämmerung abgelöst wurde. Das war ein immer wieder passierendes Ritual, seit sie sich liebten und die Nächte miteinander verbrachten. Niemand sollte ja über ihre Liebesbeziehung wissen und in ihnen weiterhin die Freunde seit Kindertagen sehen.   Die Sonne stieg träge am Horizont auf, verjagte die restliche Dunkelheit der Nacht und der nächste Hahn krähte auch schon. André öffnete seine Augen und stellte fest, dass Oscar nicht mehr auf seinem Zimmer war. Es war zwar schade, aber besser für sie beide. Er wusste nicht, wie lange sie schon fort war, aber bestimmt eine oder zwei Stunden. Denn das Morgenlicht hatte sich bereits überall ausgebreitet und er hörte raschelnde Schritte und gedämpfte Stimmen außerhalb der Tür. Die Bediensteten waren also schon wach und gingen ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Das würde er gleich auch tun.   André stieg aus dem Bett, beeilte sich bei der Morgenwäsche, zog frische Sachen an und räumte schnell in seinem Zimmer auf. Danach besuchte er seinen Sohn. Dieser war schon mit seiner Amme fort - André hörte bereits sein helles Lachen aus der Küche. Also ging er dorthin und entdeckte ihn bei Oscar auf dem Schoß. Seine Geliebte trug ihre gewöhnliche Hauskleidung: Hose, Hemd und Weste. François spielte am Tisch mit seinem Holzpferd, während die Amme Äpfel für einen Kuchen schälte. Seine Großmutter bereitete bereits den Kuchenteig zu und runzelte sogleich die Stirn, als sie ihn an der Türschwelle entdeckte. „Endlich bist du aufgestanden! Bedanke dich bei Lady Oscar, dass ich dich nicht mit einem Eimer kalten Wasser geweckt habe! Denn genau das hatte ich vor einer halben Stunde vor!“   „Verzeiht, Großmutter.“ André atmete erleichtert auf, dass ihm dieses unsanfte Aufwecken erspart blieb und ging schnell zum Tisch, um sich mit seinem Sohn zu beschäftigen. „Danke.“, hauchte er dabei zu Oscar und François lachte mit glockenheller Stimme, als er von ihm auf die Arme genommen wurde.   „Beim nächsten Mal werde ich sie nicht mehr davon abhalten können.“, scherzte Oscar, um ihre Gedanken an die Liebesnacht mit ihm zu verdrängen.   „Ganz Recht!“, bekräftigte Sophie von ihrem Platz und warf einen Blick in die Apfelschale. „Der Teig ist soweit fertig. Wie viele Äpfel hast du schon geschält?“, fragte sie die Amme von François und diese zeigte ihr die andere Schale. Dort waren die Äpfel nicht nur geschält, sondern bereits kleingeschnitten. Sophie nickte zufrieden. „Das wird für einen Kuchen vollkommen ausreichen.“ Sie ordnete ein Küchenmädchen an, eine Tasse Rosinen zu holen und schüttelte die geschnittenen Apfelstücke in den dickflüssigen Teig. Ihren Enkel hatte sie schon vergessen und konzentrierte sich vollkommen auf die Zubereitung des Kuchens, der heute für das Frühstück gedacht war.   Oscar hatte derweilen genug ihren Geliebten und ihren Sohn beobachtet und wollte nicht mehr länger untätig die Zeit in der Küche verbringen. „Bis zum Frühstück haben wir noch etwas Zeit. Wollen wir bis dahin eine Runde fechten?“, schlug sie André vor und dieser bejahte selbstverständlich.   Der Garten hinter dem Haus war ein perfekter Platz für ihre Fechtübung und es hatte ihnen schon seit langem nicht mehr so viel Spaß dabei gemacht. Nicht weit von ihnen, auf der Decke unter einem Apfelbaum, beobachteten François und die Amme das Geschehen. Wobei der Junge sich zwischendurch von gefallenen Äpfeln ablenken ließ, zu den Früchten krabbelte und sie auf der Decke zu einem Häufchen stapelte. Die Amme behielt ihn sorgsam im Auge, spielte mit ihm nebenbei und warf zwischendurch auch ein Blick auf die Kampfübung seiner Zieheltern.   Oscar und André waren so sehr in ihren Kampf konzentriert, dass sie davon nichts merkten. Sie vergaßen die Zeit. Energisch wich Oscar Andrés Hieben aus, konterte flink mit einem Gegenangriff und gab ihm keine Möglichkeit, zu verschnaufen. So schlug sie ihm schon bald das Übungsschwert aus der Hand und zwang ihn somit zur Aufgabe. „Ich muss zugeben, du bist besser geworden.“, sagte Oscar und gab ihm seine Waffe zurück. „Ich kriege langsam Bedenken, echte Schwerter zu benutzen.“ Sie wischte sich Schweißtropfen von der Stirn mit ihrem Ärmel und schnaufte ein wenig außer Puste.   „Doch reicht es nicht aus, um dich zu besiegen.“, erwiderte André genauso leicht außer Atem. „Ich bin einfach zu langsam in meinen Reaktionen und längst nicht so beweglich wie du.“ Nun ja, in den Liebesnächten sah das schon etwas anders aus, aber das gehörte jetzt nicht hierher und er verdrängte die schönen Bilder von ihrer Zweisamkeit aus seinem Kopf.   „Oscar!“, erscholl unerwartet die tiefe Stimme des Generals aus einem der oberen Fenster des Hauses. Er war gerade auf das Anwesen angekommen und hatte seiner Tochter etwas Wichtiges mitzuteilen.   Leicht von der Plötzlichkeit erschrocken, folgte Oscar der Stimme mit ihrem Blick. „Was gibt es, Vater?“, rief sie zurück und auf dem Gesicht des Generals zeichnete sich ein breites Lächeln. „Du kannst stolz auf dich sein!“, frohlockte er strahlend. „Ich habe eine sehr gute Nachricht für dich: Du bist ab heute Kommandant, mein Kind!“   Das überraschte Oscar. „Man hat mich befördert?“   „Ich hörte munkeln, dass Marie Antoinetts erstes Begehren als Königin war, den König um deine Beförderung zu bitten!“, erklärte ihr Vater und verschwand wieder im Inneren des Zimmers.   „Dann habe ich ihr das also zu verdanken?“ Oscar konnte noch immer nicht so recht daran glauben. Die Beförderung kam ihr nicht nur überraschend, sondern auch eine Spur zu schnell vor.   „Gratuliere.“ André schmunzelte. Zugegeben war er nicht minder über die Beförderung wie seine Oscar überrascht, aber er freute sich für sie genauso wie ihr Vater.   „Ich werde wohl gleich die Königin aufsuchen müssen, um mich bei ihr zu bedanken.“ Oscar ging zu der Decke, André folgte ihr sogleich. Sie wollte sich von ihm kurz verabschieden, bevor sie nach Versailles aufbrach.   Der kleine François sah seine Zieheltern auf sich zukommen, nahm einen Apfel und reichte ihn Oscar. „Ma!“, rief er dabei und lächelte übers ganze Gesicht.   „Oh, danke dir.“ Oscar nahm den Apfel und biss hinein. „Er ist noch sauer, aber man kann ihn essen.“   „So, so, er nennt dich also Mutter.“ Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Der General tauchte neben ihr unerwartet auf. Dass der Junge sie so nannte, stieß ihm missmutig auf. Seine Tochter hatte zwar die Verantwortung über das Findelkind übernommen und war demzufolge seine Ziehmutter, aber sie sollte deshalb nicht gleich ihre Erziehung als Mann vergessen.   „Ja, Vater.“, bestätigte Oscar im sachlichen Ton und versuchte nur ihren Vater anzusehen, um ihre Schwäche für den Kleinen nicht zu zeigen.   François nahm derweilen einen anderen Apfel und streckte ihn André entgegen. „Pa!“, rief er wieder fröhlich und seine Augen glänzten wie kleine Edelsteine bei einem Lichteinfall.   André sah unsicher zum General und dieser zog eine Braue nach oben. „Ein verlockendes Angebot.“, meinte Reynier. „Ich würde es an deiner Stelle nicht ablehnen.“ Bei André war es dem General gleich, wie das Findelkind ihn nannte. André war nur dafür da, um auf seine Tochter aufzupassen und ihr überallhin zu folgen.   „Danke.“ André nahm den Apfel und biss hinein, um nicht viel reden zu müssen. Der strenge Blick des Generals verursachte ihm ein wenig Gänsehaut und er fühlte sich ertappt. Gleichzeitig jedoch wusste er, dass der General nicht einmal ahnte, was für Geheimnisse in seinem Haus passierten und das war gut so. Sonst wäre Oscar schon längst bestraft und zusammen mit ihm und François aus dem Haus verjagt worden.   Reynier beachtete ihn nicht mehr weiter und richtete sein Blick auf François. „Und mir gibst du keinen Apfel?“   Der Junge sah unschlüssig auf den General und steckte sich den Daumen in den Mund. Oscar schmunzelte unwillkürlich. „Ich glaube, er weiß gar nicht, was Ihr von ihm verlangt, Vater.“   „Dann bringe es ihm bei.“, erwiderte Reynier, ohne seinen Blick von François abzuwenden und runzelte gar die Stirn. „Du hast ihn schließlich gefunden und es liegt in deiner Verantwortung, was aus ihm wird. Schließe ihn aber nicht so sehr ins Herz. Du bist in erster Linie ein Soldat und ich habe dich nicht für das Leben einer Frau erzogen. Denke daran.“ Jetzt schaute er zu ihr und stellte nicht zum ersten Mal eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Findelkind und seiner Tochter fest. Aber vielleicht bildete er sich das schon wieder ein, weil Oscar für François die Ziehmutter spielte? Wäre solches überhaupt möglich?   „Gewiss, Vater.“, meinte Oscar mit fester Stimme und strafte ihre Haltung kerzengerade.   Der General nickte in ihre Richtung. „Gut.“, mehr sagte er nicht, drehte sich um und marschierte wieder ins Haus.   Oscar und André sahen ihm nach. Es war noch einmal gut gegangen und der General hatte keinen Verdacht geschöpft. Er schien sogar damit einverstanden zu sein, dass François zu ihnen Mutter und Vater sagte. Zusätzlich hatte er es nicht einmal verboten und das musste ein gutes Zeichen sein.   Im Zimmer von Oscar, als sie ihre weiße Uniform anzog, kam André mit einem beladenen Tablett zu ihr. „Ich finde es ungerecht, was dein Vater zu dir gesagt hat. Er hat dich zwar zu einem Soldat erziehen lassen, aber du bist trotzdem eine Frau.“ Er goss schnell den Tee in zwei Tassen ein und legte neben jeder zwei Croissants. Der Apfelkuchen war noch nicht fertig, aber sie sollten wenigstens eine Kleinigkeit zu sich nehmen, bevor sie nach Versailles aufbrachen.   Oscar aß das Croissant, spülte den letzten Bissen mit dem Tee und kam auf die Aussage von ihrem Geliebten zurück. „Mein Vater hat aber recht. Ich darf keine Schwäche zeigen, sonst wird der Schwindel auffliegen und wenn die Wahrheit ans Licht kommt, wird unser Kleiner als erster darunter leiden.“   André beendete auch schnell sein Essen und nahm seine Liebste in die Arme. „Wir lassen das aber nicht zu, Oscar, dass ihm etwas passiert. Wir können weiter so wie bisher machen und ihm im Verborgenen unsere Liebe schenken. Sodass niemand davon etwas merken würde. Ich weiß, es ist nicht leicht, aber gemeinsam sind wir stärker.“   „Ach, André, wenn ich dich nicht hätte ...“ Oscar stellte sich auf Zehenspitzen und zog sich zu ihm.   „Ich liebe dich.“, flüsterte André und küsste sie innig.   „Ich liebe dich auch.“ Oscar erwiderte ihm den Kuss liebevoll zurück und als sie ihre Lippen kurz darauf trennten, brachen sie gemeinsam nach Versailles auf. Kapitel 18: Kommandant ---------------------- „Ich würde mich freuen, wenn Ihr öfters mit mir zusammen sein könntet. In Eurer Position als Kommandant lässt sich das sicher einrichten.“ In ihrer ganzen Würde, Schönheit und Anmut stand die Königin vor der niederknienden Oscar und entließ nebenbei ihre Hofdamen mit einem Wink ihrer feinen Hand aus ihren Gemächern.   „Jawohl.“, hörte sie Oscar wie auf Befehl sagen und Marie Antoinettes Mundwinkel zogen sich dabei nach oben. Das, was sie ihr mitzuteilen hatte, würde Oscar sicherlich sehr glücklich machen. „Ich habe selbstverständlich dafür gesorgt, dass Euer Sold verdoppelt wird, Oscar.“   Ihren Sold verdoppeln? Das erschreckte Oscar etwas. Es gab Menschen, die in bitterer Armut lebten und kaum zu Essen hatten. Diese Menschen würden mehr das Geld brauchen. Die arme Rosalie, kam Oscar in den Sinn, der sie gestern in Paris begegnet war. Warum musste es nur so sein? Das war ungerecht. Oscar fühlte sich dabei unwohl in eigener Haut. „Verzeiht mir, Eure Majestät, ich weiß Eure Großzügigkeit durchaus zu schätzen, aber ich kann das nicht annehmen.“ Sie hob den Blick von dem blank polierten Marmorboden und schaute der Königin direkt in ihr fein gepudertes Gesicht. „Majestät, Frankreich ist im Moment nicht sehr wohlhabend. Viele Menschen hungern in diesem Land und deshalb bitte ich meinen Sold so zu belassen, wie er ist. Anderenfalls sehe ich mich außerstande, die Beförderung anzunehmen.“   „Aber Oscar.“ Die Königin starrte sie ungläubig an. Oscar war die erste und würde womöglich die einzige sein, die so etwas ablehnte. Aber warum nur? Jeder anderer Günstling wäre überglücklich darüber gewesen und hätte ihr geschmeichelt. Oscar jedoch lehnte es ohne zu zögern ab. Was bewog sie dazu? Marie Antoinette hätte gerne die Beweggründe erfahren, aber sie ahnte, dass ihre Freundin ihr höchstwahrscheinlich nichts verraten würde. Vielleicht deshalb gab sie nach. „Ich verstehe sehr gut, was Euch bewegt.“ Das stimmte zwar nicht ganz, aber sie fand gleich eine Alternative für die Ablehnung. „Aber Ihr müsst mir versprechen, dass Ihr, wenn Ihr einen Wunsch habt, diesen mir auch mitteilen werdet, Oscar. Wenn Ihr zum Beispiel einen höheren Posten oder ein Schloss haben wolltet. Ich kann Euch jetzt jeden Wunsch erfüllen!“   Das klang zwar verlockend, aber auch das wollte Oscar nicht haben. Sie war glücklich mit dem, was sie bereits hatte. Nun gut, sie musste dafür die Menschen um sich herum belügen, aber das tat sie aus Liebe und zum Wohle ihres André und des kleinen François. Oscar schob ungewollt die Gedanken an die beide bei Seite und sprach weiter mit fester Stimme zu der Königin. „Majestät, wenn ich überhaupt einen Wunsch habe, dann den, dass Ihr eine großmütige Königin seid und alles tut, um Euren Volk Wohlstand und Frieden zu bringen.“   „Das werde ich, Oscar.“, versprach Marie Antoinette und ihr fiel etwas anderes ein. „Sagt, wie geht es Eurem Findelkind?“   Oscar konnte sich dabei das Lächeln nicht verkneifen. „Ihm geht es gut, er wächst und erfreut den gesamten Haushalt.“   Das Lächeln der Königin dagegen verschwand. „Ich wünschte, ich würde auch ein Kind haben.“, seufzte sie bedauernd. Schon seit fünf Jahren war sie mit Ludwig XVI verheiratet und war noch immer nicht von ihm schwanger geworden.   „Das werdet Ihr, Majestät, Ihr seid noch so jung.“, versuchte Oscar sie aufzumuntern und das schien zu funktionieren. Zumindest lächelte die Königin wieder. „Ihr habt sicherlich recht, Lady Oscar, ich danke Euch.“ Marie Antoinette entließ sie sogleich. „Geht nach Hause und probiert Eure neue Uniform an, die Euch gleich herausgegeben wird.“   Das tat Oscar auch. Sie holte ihre neue Uniform ab und zog sich auf dem elterlichen Anwesen um. Dabei betrachtete sie sich im Spiegel in ihrem Schlafzimmer und hörte in ihrem Salon das Quengeln ihres Sohnes und die Stimmen von dessen Amme und ihrem André. Sie rätselten, wie Oscar in ihrer neuen Uniform aussehen mochte und zu ihnen gesellte sich auch noch Sophie dazu. Oscar schmunzelte, ordnete den Kragen und die Ärmel ihrer roten Uniform und verließ ihr Schlafzimmer. Sofort wurde es in ihrem Salon still und alle schienen erstarrt zu sein. Sogar François machte große Augen und schob sich einen Daumen in den Mund. Sophie kam als erste aus dem Staunen heraus und faltete angetan sich die Hände vor der Brust. „Oh, Lady Oscar, Ihr seht so elegant aus! Ich finde, als Kommandant macht Ihr Euch prachtvoll! Selbst als Frau bin einfach fasziniert von Euch!“   „Dann bleibt uns zu hoffen, dass Ihr Euch nicht bis über beide Ohren in Oscar verliebt.“, scherzte André, der nun seine Stimme auch fand.   „Du frecher Lausebengel, du nimmst mich schon wieder auf den Arm!“, schimpfte Sophie verärgert und drohte mit ihrem Zeigefinger in der Luft. „Du sollst lieber endlich heiraten und eine Familie gründen!“   „Verzeiht mir, aber ich habe nur die Wahrheit gesagt.“ Innerlich verdrehte André die Augen. Nicht schon wieder dieses Thema! Zum Glück sagte seine Großmutter nichts weiter, weil die Tür im Salon aufging und einer der Bediensteten kam herein. „Verzeiht die Störung, Kommandant.“, wandte er sich sogleich an Oscar. „Soeben fuhr eine Kutsche mit vielen Präsenten von der Königin in den Hof vor, mit denen man Euch zu Eurer Beförderung gratulieren möchte.“   Wie bitte? Warum machte die Königin das? Oscar wusste zwar, dass Marie Antoinette dies aus Freundlichkeit machte, aber es behagte ihr trotzdem nicht. Oscar seufzte entrüstet. Sie hatte heute der Königin doch deutlich zum Ausdruck gegeben, dass sie nichts wollte. Oder hatte sie das nicht verstanden? „Ich fürchte, ich kann sie nicht annehmen.“, beschied Oscar und ordnete den Bediensteten sogleich an. „Schreib bitte ein paar Zeilen und schick dann die Kutsche fort.“   „Wie Ihr befielt, Madame.“ Der Bedienstete verneigte sich und ging.   „Lady Oscar, was ist denn in Euch gefahren?“, empörte sich Sophie. „Wie könnt Ihr nur es wagen, die Geschenke der Königin abzuweisen?!“   „Glaube mir, ich weiß was ich tue, es ist das beste für Ihre Majestät.“ Oscar ging ans Fenster. Draußen versammelten sich am Himmel dunkle Gewitterwolken und der erste Blitz zuckte auch schon, gefolgt von dem Donnergrollen. Die Regentropfen fielen auf die Glasscheiben, hinter denen Oscar stand und Sophie ihre Beweggründe erklärte: „Marie Antoinette geht sehr offen mit ihren Gefühlen um und zeigt ihre Zuneigung gegenüber ihren Günstlingen ohne den geringsten Versuch, sie zu verbergen. Aber all das Geld, das die Königin ausgibt, stammt von den Steuern der einfachen Menschen und ich habe große Angst um Marie Antoinettes Glaubwürdigkeit. Ich frage mich die ganze Zeit, wie das Volk über die neue Königin denkt.“   „Ich glaube, du übertreibst jetzt etwas. Was ist los mit dir?“, wand André hinter ihr ein. „Das Volk liebt seinen König und es liebt auch Marie Antoinette.“   „Hoffentlich hast du recht, mit deiner Einschätzung, André.“ Oscar zweifelte daran und spürte deutlich, dass die Hoffnung vergebens sein würde - das bestätigte sich wenige Wochen später. In Versailles fing die Königin an, ihre Audienzen abzusagen und empfing nicht mehr als zehn Mann pro Tag. Den schwedischen Grafen, Hans Axel von Fersen dagegen jederzeit und es entstand bald Unmut unter den Höflingen, was auch verständlich war. Oscar sah keine andere Möglichkeit, als dem Grafen einen Besuch abzustatten. Sie wollte damit nur, dass die Ruhe wieder am Hofe einkehrte und die Königin wieder ihre Audienzen empfing.   Graf von Fersen war sichtlich über den unerwarteten Besuch von Oscar überrascht, aber hieß sie dennoch willkommen. Mittlerweile schätzte er sie als Freund und guter Berater ihrer Majestät. Nach der formellen Begrüßung kam Oscar gleich zur Sache. „Ich bin gekommen, um Euch einen guten Rat zu geben, Graf von Fersen.“   „Ich verstehe und ich ahne schon worum es geht.“ Es würde bestimmt um die Königin gehen. Ein anderer Grund ihres Besuches fiel dem Grafen nicht ein. „Nimmt bitte Platz.“, lud er sie zum Tisch ein und wartete, bis sie Platz nahm.   Oscar folgte seiner Einladung und kaum dass sie sich auf den Stuhl hinsetzte, führte sie das Gespräch ohne Umschweife weiter. „Schön, dass Ihr wisst, weshalb ich hier bin, das macht es einfacher. Ich möchte Euch den Rat geben, Frankreich auf der Stelle zu verlassen und nach Schweden zurückzukehren.“   Wie bitte? Er sollte Frankreich verlassen? Er war Oscar dankbar für ihre Direktheit, aber sie verlangte zu viel von ihm. Graf von Fersen ging an das geöffnete Fenster und kehrte Oscar den Rücken. „Ich nehme an, es hat mit der Königin zu tun, nicht wahr? Wird schon so viel Schlechtes über sie erzählt, dass selbst Ihr darauf hereinfallt?“   „Nein, das noch nicht. Zumindest ist mir nichts Derartiges bisher zu Ohren gekommen.“ Oscar verstummte kurz und fügte dann hinzu: „Obwohl, hinter Eurem Rücken wird schon so manches getuschelt.“ Vielleicht würde ihm das zum Denken geben?   „So etwas habe ich schon kommen sehen.“ Graf von Fersen schien aber nicht einmal darüber nachzudenken, was er da sagte. „Aber die Königin interessiert sich nun mal für mich. Jeder, der uns zusammen sieht, bemerkt natürlich sofort, dass sie mir wohlgesonnen ist.“   Das war doch nicht sein ernst, oder? Oscar verlor langsam die Geduld mit ihm. „Das war früher auch schon der Fall. Aber es spielt keine Rolle, denn sie war damals eine Prinzessin und genoss gewisse Freiheiten. Doch das ist Vergangenheit! Sie ist keine Prinzessin mehr, sie ist jetzt die Königin von Frankreich!“, betonte sie und obwohl es ihr einerseits schwer fiel, diese Forderung zu stellen, behielt sie ihren scharfen Ton. „Deshalb glaube ich, es wäre besser, wenn Ihr in Euer Land für eine Weile zurückkehrt. In Anbetracht dessen, was schon bisher passiert ist, möchte ich Euch darauf hinweisen, in welcher Gefahr Ihr Euch befindet.“   Er und in Gefahr? Anscheinend hatte er das übersehen. Aber wie konnte er das bemerken, wenn er nur Marie Antoinette im Auge hatte? Also gut, dann würde er dem Rat von Oscar befolgen. „Ich verstehe und zwar sehr gut. Ich hatte sowieso vor, Frankreich zu verlassen.“ Graf von Fersen kehrte zum Tisch zurück und setzte sich gegenüber von Oscar. „Ich werde in Schweden bleiben, bis man mich am Hofe vergessen hat. Obwohl es wahr ist, ich bin von der Schönheit der Königin hingerissen, ich kann dieser Frau einfach nicht widerstehen.“, gestand er und tat Oscar beinahe leid. Es war für ihn bestimmt nicht leicht, einen geliebten Menschen zu verlassen, aber es würde besser sein für alle.   „Ich bin froh, dass Ihr meinen Rat annehmt.“ Oscar erhob sich. Es hielt sie jetzt nichts mehr bei ihm. „Ich danke Euch, dass Ihr mich angehört habt, lebt wohl.“   Graf von Fersen wollte aber noch eine Sache von ihr wissen, bevor sie ging. „Wartet, Oscar.“, hielt er sie auf, kaum dass sie die Tür erreichte. „Sagt ehrlich, seid Ihr manchmal nicht einsam? Wollt Ihr wirklich den Rest Eures Lebens verbringen, Männerkleider zu tragen, obwohl Ihr eine Frau seid, ist das das was Ihr wollt?“   Oscar blieb zwar an der Tür stehen, aber drehte sich nicht um. Seine Frage hatte ihre weiblichen Gefühle, die sie stets gekonnt verdrängte, aufgeweckt und sie musste ungewollt an ihre verbotene Liebe zu André und ihren gemeinsamen Sohn denken. Warum wollte der Graf das unbedingt wissen? Was wollte er damit bezwecken? Oscar schluckte, um ihrer Stimme den festen Klang zu verleihen „Ich habe mich nie unwohl oder einsam gefühlt. Solange ich denken kann, wurde ich wie ein Mann erzogen. Mit einem Ziel: eines Tages die Nachfolge meines Vaters anzutreten - die Nachfolge des Generals Jarjayes.“   Graf von Fersen verstand. Oscar war so sehr in ihrer mannhaften Erziehung verankert, dass sie niemals solche Gefühle nach Liebe oder Zuneigung empfinden würde. Eigentlich schade, aber das war ihr Leben und ihre Bestimmung. „Glaubt mir, Oscar, irgendwann sehen wir uns wieder. Ich werde kommen, ganz bestimmt.“, verabschiedete der Graf sie und Oscar verließ seine Wohnung.   Als die Kutsche, mit der sie hierher gekommen war, ins Rollen setzte, dachte sie ein wenig schwermütig bei sich: Es ist zum Besten der Königin und damit zum Besten Frankreichs. Bitte vergibt mir Graf von Fersen. Gut, dass ihr André mitgekommen war. Dankbar lehnte sie sich an seiner Brust und schmiegte sich an ihn, als er um sie seine Arme legte. Nein, sie war nicht einsam, sie hatte ihren geliebten André und ihren gemeinsamen Sohn, die ihr das Leben verschönerten. Aber ja, die Männerkleider würde sie ihr ganzes Leben tragen, denn das war ihre Bestimmung und sie würde das auch niemals aufgeben.   Die Kutsche blieb auf einem Marktplatz unerwartet stehen und André flüchtete auf die andere Seite. Beide schauten aus dem Fenster und mit Entsetzen im Gesicht wurden sie Zeuge, wie Herzog de Germain einen kleinen Jungen mitten auf der Straße erschoss. Der Grund war, dass der Junger aus Hunger bei dem Herzog das Geld gestohlen hatte. Verächtlich lachend stieg de Germain in seine Kutsche und fuhr fort.   „Dieses Untier!“, knurrte Oscar außer sich vor Wut und wollte aussteigen, aber André hielt sie auf und rief zu dem Kutscher, er sollte weiter fahren. Denn Herzog de Germain war einer der mächtigsten Menschen im Land und nicht einmal der König konnte ihm etwas anhaben.   Zuhause ließ Oscar ihren Sohn nicht aus den Armen und drückte ihn fest an sich. Ihre Wimpern glänzten feucht, in ihrem Gesicht stand blanke Wut und Entsetzen geschrieben. „Verflucht sei der Herzog!“, spie sie heiser, drückte den kleinen Körper noch fester und vernahm ein ersticktes Quieken von François. Gleich darauf sah sie André vor sich und spürte seine Hände, die versuchten ihr das Kind zu nehmen. „Oscar, lass ihn los, du erdrückst ihn noch!“, beschwor er dabei und Oscar begriff. Sie lockerte auf der Stelle ihre Arme und François quiekte nicht mehr. Er lächelte zwar nicht und war ein wenig verwirrt, aber er schaute sie mit seinen klaren, grünblauen Augen an. Was hatte sie nur getan? Sie wollte ihm keineswegs weh tun. „Es tut mir leid.“ Zutiefst darüber erschrocken, zu was sie in ihrer Wut fähig war, gab sie ihren Sohn an seine Amme zurück. „Ich werde mich zurückziehen und will für heute nicht mehr gestört werden.“, ordnete sie an.   Die Amme des Kleinen war verwundert und gleichzeitig von Lady Oscar noch mehr angetan. Diese Frau besaß so ein gutes Herz, dass sie sogar das Findelkind wie ihr eigenes behandelte. „Wie Ihr es wünscht, Lady Oscar.“ Die Amme nahm François an sich und ging.   André blieb noch bei Oscar und nahm sie in seine Arme, um sie zu beruhigen. Normalerweise hätte sie sich in ihrer aufgewühlten Verfassung gesträubt, aber stattdessen klammerte sie sich an ihn. „Es tut mir so leid, André, das wollte ich wirklich nicht … ich wollte ihm nicht weh tun ...“ Sie schluchzte in seine Kleider und zerriss ihm das Herz. Er verstand sie wie kein anderer. Oscar war wütend auf den niederträchtigen Herzog de Germain und hatte zusätzlich ihre Muttergefühle zugelassen. Das ergab eine gefährliche Mischung und hatte demzufolge zu so einem Gefühlsausbruch geführt, dass sie deswegen ihren Sohn beinahe erdrückt hätte. Oscar konnte nichts dafür und André versuchte ihr dies zu beweisen. „François geht es gut, Liebste, das hast du doch selbst gesehen.“   Ja, das hatte sie gesehen. Aber wenn André sie nicht aufgehalten hätte, dann hätte sie ihn erdrückt und ihr kleiner Sonnenschein wäre dann nicht mehr da … Was war sie nur für eine schreckliche Mutter? Wegen der Wut auf den Herzog, der feige einen kleinen Jungen erschossen hatte, hätte sie beinahe ihr eigenes Kind umgebracht. Oscar hasste in dem Moment sich selbst, weil sie anscheinend ihre Gefühle nicht kontrollieren konnte. „Bleibe heute Nacht bei mir, Geliebter.“, bat sie kaum hörbar.   „Natürlich, meine Liebe.“ Besser gesagt, sie hätte ihn nicht darum bitten brauchen. Er wäre auch so zu ihr gekommen und hätte sie die ganze Nacht in seinen Armen gehalten. Denn gerade heute brauchte sie seinen Trost und Beistand am meisten.   Oscar derweilen beruhigte sich langsam in seinen Armen und schwor sich, Herzog de Germain irgendwann herauszufordern. Egal wie mächtig dieses Ungeheuer war, aber die Tötung eines kleinen Kindes war noch ein schlimmeres Verbrechen als das Stehlen und das durfte auf gar keinen Fall ungestraft bleiben! Kapitel 19: Erste Schritte -------------------------- Strenger Geruch nach Schießpulver breitete sich schwach in der Luft aus, als Oscar ihre Pistole abfeuerte. Ein Schuss donnerte und hinterließ ein Loch in der Spielkarte, die auf 50 Metern Entfernung und auf einem Gestell befestigt war. Morgen sollte das Duell mit dem Herzog, der vor zwei Monaten einen kleinen Jungen in Paris erschossen hatte, stattfinden. Ja, sie hatte es heute früh geschafft, ihn herauszufordern und nun trainierte sie dafür. Sie putzte den abgefeuerten Lauf der Pistole, lud sie erneut mit Schießpulver auf, zielte konzentriert auf die andere Spielkarte und schoss.   „Ein ausgezeichneter Schuss, mein Kind!“, lobte der General sie, der sie zusammen mit André und Graf de Girodel dabei aus geringen Entfernung beobachtete.   Während Reynier stolz auf seine Tochter war und sie freudig anfeuerte, machten André und Girodel sich Sorgen. „Wieso versucht Ihr das Duell zwischen den beiden nicht zu verhindern?“, fragte André.   Der General sah ihn nicht einmal an und strahlte noch mehr über das ganze Gesicht, als Oscar die nächste Spielkarte in der Mitte traf. „Ich habe ihr beigebracht, wie man richtig schießt und den Degen führt.“, erklärte er dem jungen Mann überzeugend. „Ich weiß, dass sie das Duell gewinnt. Ich selbst habe sie zu einem Soldaten gemacht.“   „Ich verstehe nicht, warum sie ausgerechnet die Pistole wählen musste?“, meinte Graf de Girodel von der anderen Seite, der nicht minder besorgt klang wie André. „Sie als Herausforderin hatte doch die Wahl, die Waffen zu bestimmen.“   „Das zeigt uns doch nur ihren guten Charakter.“, schlussfolgerte André gleich darauf. „Sie hatte es sich noch nie leicht gemacht. Und im Fechten hätte er nie die geringste Chance.“   Victor gab ihm in dieser Hinsicht recht. Wenn Lady Oscar sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann dann setzte sie es stur durch. Allerdings beruhigte ihn das keineswegs. „Ich habe gehört, dass im vergangenen Jahr der Herzog beim Wettschießen den zweiten Platz belegt haben soll.“   General de Jarjayes zog seine Augenbrauen streng zusammen. Seine Tochter schien mehr ein Mann zu sein als die zwei jungen Männer neben ihm. „Ich glaube nicht, dass wir irgendein Grund zur Sorge haben.“, brummte er.   „Aber beim Duell hat jeder nur einen Schuss.“, erwähnte Girodel bedächtig. „Wenn Lady Oscar ihr Ziel verfehlt, dann...“ Er konnte nicht zu Ende aussprechen. Schon alleine bei der Gedanke, dass Lady Oscar verletzt oder gar getötet werden könnte, verursachte ihm ein flaues Gefühl im Magen. Ja, er liebte sie noch immer, aber diese Liebe hatte er schon längst im tiefsten Winkel seines Herzens vergraben. Dennoch hinderte es ihn nicht daran, sie und den kleinen François ab und zu mal zu besuchen. Und letzten Monat wurde er sogar dessen Patenonkel. Was würde dann aus dem Kind, wenn Lady Oscar verlieren sollte? Diese Frage beschäftigte ihn am meisten. Denn der Junge blieb nur deshalb auf dem Anwesen der de Jarjayes, weil der König die Verantwortung über ihn Lady Oscar übergeben hatte. Victor glaubte nicht daran, dass General de Jarjayes ihn auf seinem Anwesen dulden würde, wenn Lady Oscar nicht mehr da sein sollte. Würde aber André das zulassen? Wenn ja, dann wie? Victor warf einen flüchtigen Blick auf ihn und beschloss bei einer guten Gelegenheit ein Wörtchen mit ihm und mit Lady Oscar zu wechseln. Selbstverständlich ohne Zeugen und wenn der General nicht dabei sein würde.   André spürte dessen Blick auf sich nicht. Sein Augenmerk war mit einem mulmigen Gefühl nur auf Oscar gerichtet und er beendete an der Stelle von Graf de Girodel den nicht zu Ende ausgesprochenen Satz. „Und der Herzog ist sehr verschlagen – er könnte es mit schmutzigen Tricks versuchen.“   Dem General wurde die Sorge der beiden zu viel. „Nun, dafür gibt es ja die Sekundanten, um so etwas von vornherein auszuschließen. Also macht euch keine Sorgen.“ Er ging entnervt wieder ins Haus, nachdem Oscar den letzten Schuss gemacht hatte. Sie putzte das letzte Mal den Lauf der Pistole und legte sie dann sorgsam in die Waffenkiste, die in der Nähe von ihr auf einem kleinen Tischlein stand.   Girodel und André nutzten das aus und kamen zu ihr. „Lady Oscar, erlaubt mir eine Bemerkung.“, erbat sogleich Victor, als er mit André direkt vor ihr stehen blieb.   „Die wäre, Girodel?“ Oscar schloss den Deckel der Kiste zu und schaute zu ihm. Die leichte Sorge in seiner Stimme gefiel ihr nicht.   „Seid bitte morgen vorsichtig.“, warnte Victor. „Dem Herzog kann man nicht trauen.“   „Oder ihm alles zutrauen.“ fügte André bedächtig hinzu.   Oscar wechselte zwischen den Beiden einen Blick. Dass André umsorgt war, konnte sie nachvollziehen. Aber Girodel? Er war doch ihr treuer Untergebener, auf den sie sich verlassen konnte und der das strengste Geheimnis hütete. „Graf de Girodel, Ihr seid morgen mein Sekundant.“, sagte sie trocken und marschierte mit kerzengerader Haltung ins Haus und dann zu ihrem Sohn.   „Jawohl, Lady Oscar.“ Graf de Girodel sah ihr nach und seufzte dann entrüstet. „Ich verstehe nicht, warum sie den Herzog überhaupt herausgefordert hatte?“   „Nun ja, der Herzog hatte in Paris einen kleinen Jungen erschossen.“, erklärte André.   Das hatte Girodel auch schon gehört. Es hieß, der Herzog de Germain wurde in Paris von einem kleinen Jungen bestohlen und dass er den Täter eigenhändig bestraft hatte. Er posaunte seine Tat am Hofe von Versailles, als wäre er ein Held und rühmte sich auch noch damit. Das war genau das, was Oscar in Rage getrieben hatte und weshalb sie ihn auf der Stelle herausgefordert hatte, erinnerte sich Girodel und ihm wurde einiges klar. „Bestimmt hatte sie dabei an François gedacht.“, vermutete Girodel und André nickte zustimmend. „Das wäre nicht ausgeschlossen, Graf.“   „Ich wünschte, sie würde jetzt an ihn denken.“ Girodel fand nun endlich die Gelegenheit, über seine vorherigen Bedenken zu sprechen. Es war zwar schade, dass Lady Oscar nicht mehr anwesend war, aber dafür stand André noch immer neben ihm. „Denn was nützt es dem Jungen, wenn sie verliert?“, fragte Victor und schielte zu ihm, um seine Reaktion zu sehen.   Auch wenn André es nicht zeigte, traf ihn die Frage des Grafen hart. „Ich werde das nicht zulassen.“, murmelte er.   Girodel hob überrascht seine Augenbraue in die Höhe. „Sosehr liebst du sie?“   „Ja.“, sagte André entschlossen.   Dass André Lady Oscar liebte, wusste Victor eigentlich schon seit langem, aber wie stark er das tat, war für ihn ungewiss. Nun, das konnte er gleich herausfinden. „Also wirst du dich sogar zwischen die Duellanten werfen, wenn es darauf ankommt und für Lady Oscar sterben?“   „Ja.“ Auch das kam André selbstsicher von den Lippen. Insgeheim jedoch fragte er sich, warum Graf de Girodel das alles von ihm wissen wollte. Nun gut, es gefiel ihm auch nicht, dass Oscar sich morgen mit dem Herzog duellierte und er sorgte sich sehr um sie, aber war das auch der Grund für Girodels Fragen? Was wollte er damit bezwecken?   „Gut, dann werde ich nach deinem Tod sie zur Frau nehmen und François wird mich statt an deiner Stelle Vater nennen.“ Girodel wirkte fast selbstgefällig, als er das sagte. „Ich bin immerhin sein Patenonkel und genauso entstamme ich einem Adelsgeschlecht wie Lady Oscar. Willst du das?“   „Wie bitte?“ Graf de Girodel würde seine Oscar zur Frau nehmen und François würde den Grafen als Vater sehen, wenn er stirbt? André gefiel das ganz und gar nicht. Schon alleine die Vorstellung daran, verursachte in ihm schmerzliche Stiche und trieb in ihm Eifersucht.   Girodel erkannte sein Unbehagen und wenn es nicht um das Leben von Lady Oscar ginge, dann hätte er André gerne ein bisschen mehr geärgert. Aber so blieb er ernst und bezog seinen Vorwurf nicht nur auf André. „Ihr beide seid verrückt und denkt nicht an euren Jungen. Was glaubt ihr, was aus ihm wird, wenn du oder Lady Oscar oder gar ihr beide sterbt? Dann wird aus ihm wirklich ein Findelkind.“ Girodel setzte seine Füße in Bewegung. „Ich verabschiede mich noch von ihm und wir sehen uns morgen.“   „Graf de Girodel, André, kommt doch schnell!“, rief Sophie unerwartet aus dem Fenster des Anwesens und strahlte über das ganze Gesicht.   André eilte ohne weitere Worte ins Haus und dann zu Oscar in den Salon. Girodel dagegen hob seinen Kopf. „Was ist denn passiert?“, fragte er die alte Haushälterin und bekam eine überaus freudige Antwort von ihr: „Unser Findelkind macht seine ersten Schritte!“   Nun lief auch Girodel ins Haus und dann André nach, in die Gemächer von Lady Oscar. In ihrem Salon tapste der Kleine auf wackeligen Beinchen von Oscar zu der Amme. Als sie sich zu ihm beugte, entschwand er ihren Armen und wechselte die Richtung zu seinem Vater, als dieser in Oscars Salon hereinplatzte. André ging in die Hocke und streckte seine Arme, in die der Kleiner geradewegs lief. „Du kannst schon laufen, sehr gut!“ Was für ein herrliches Gefühl, ihn bei seinen ersten Schritten gesehen zu haben! Er vergaß kurzfristig sogar das morgige Duell zwischen Oscar und dem Herzog, hob François auf den Arm, aber der Kleine zappelte. „Ist gut, ich lasse dich weiterlaufen.“ André setzte ihn wieder ab und der Junge tapste zu Girodel, der gerade hinter André ankam. Er kannte ihn mittlerweile durch seine Besuche auch und wollte ihn auf diese Weise begrüßen.   Victor schmunzelte und musste zugeben, dass er den Jungen bereits ins Herz geschlossen hatte. François war nicht nur ein hübscher und braver Junge, sondern er war ein Sohn von Lady Oscar. Wenn André sich in der Tat morgen zwischen die Duellanten werfen sollte und dabei stirbt, dann würde er, Graf Victor Clement de Girodel, den kleinen François adoptieren. Ebenso würde er Lady Oscar beistehen und wenn sie die Trauer um André überwand, sie dann heiraten. Ja, kein so abwegiger Gedanke… Victor fing François ab, als dieser ihn erreichte und drehte ihn in Richtung von Oscar. „Das machst du gut und jetzt ab in die neue Runde.“   François dagegen lief zu seiner Amme zurück und plumpste erschöpft vor ihren Füßen. Dabei lachte er und streckte seine Arme zu ihr – er wollte hochgehoben werden. Die Amme erfüllte ihm den Wunsch und hob ihn auf ihre Arme. „Wollen wir schauen, wie weit das Abendessen ist?“, fragte sie ihn und der Junge bejahte mit einem heftigen Nicken.   Victor kam noch einmal zu ihm und nahm sein Händchen. „Sei brav, junger Mann und wir sehen uns irgendwann wieder.“   François verstand zwar den Sinn der Worte nicht, aber nickte wieder und seine Amme trug ihn dann aus den Gemächern.   „Ihr bleibt nicht zum Abendessen, Graf de Girodel?“, meinte Oscar, als die Amme und François weg waren. „Denn es wird bald gedeckt.“   „Danke Lady Oscar, aber ein anderes Mal. Ich begebe mich nach Hause. Morgen ist ein wichtiger Tag und ich möchte ausgeschlafen sein.“   „Wie Ihr wünscht, Graf.“   „Dann bis morgen.“, verabschiedete sich Girodel und ging. Unterwegs überdachte er die Unterhaltung mit André und hoffte inständig, dass Lady Oscar morgen das Duell gewinnen und ihr nichts passieren würde. Kapitel 20: Versprochen? ------------------------ Der Himmel wurde immer dunkler, nachdem die Sonne unterging. Die silbernen Sterne zeigten sich einer nach dem anderen und leuchteten wie kleine weiße Punkte auf einem nachtschwarzen Stoff. Auch der Mond war schon längst aufgegangen und warf kaum Licht auf die Erde. Oscars Augen waren jedoch an die Dunkelheit gewöhnt. Sie lag im Gras, unweit von dem Anwesen, hatte ihre Arme hinter dem Kopf geschoben und starrte reglos in den Himmel. Nur noch acht oder neun Stunden und dann würde sie sich mit dem Herzog de Germain duellieren. Dafür hatte sie heute auch im Schießen trainiert und ihr Können perfektioniert. Eigentlich sollte sie schlafen, um in Form zu sein und sich nicht von ihrem Gegner töten zu lassen. Aber das konnte sie nicht. Nachdem sie François dabei beobachtet hatte, wie er von der Amme ins Bett gebracht wurde, konnte sie kein Auge mehr zu drücken. Deshalb war sie in den Garten gegangen und hatte sich in das Gras gelegt. Die nächtliche Luft sollte ihr den klaren Kopf verschaffen und Müdigkeit bescheren.   Es war nicht so, dass sie sich keine Gedanken um ihren Sohn machte. Im Gegenteil. Die Gedanken an ihn und was aus ihm werden sollte, falls sie das morgige Duell mit dem Herzog verlor, kreisten schon den ganzen Tag in ihrem Kopf. Heute hatte François seine ersten Schritte gemacht und den ganzen Haushalt damit erfreut. Ihr kleiner Sonnenschein, ihre Freude, ihr Ein und Alles … Sein glockenhelles Lachen, als er fiel und wieder aufstand, seine leuchtenden Augen und sein unbeschwertes Wesen würde sie für immer in Erinnerung behalten. Ebenso die Liebe zu André würde sie in ihrem Herzen, bis zum letzten Moment, bis zum letzten Atemzug tragen. Aber was waren das für Gedanken? Sie musste morgen das Duell gewinnen – für die beiden und für den erschossenen Jungen in Paris! Es dürfte nicht sein, dass der Herzog einen Richter spielte und sich alles erlaubte, ohne für seine abscheulichen Taten bestraft zu werden! Egal wie mächtig er war, aber sie konnte ihn trotzdem nicht ungeschoren davonkommen lassen! Wo blieb dann Gerechtigkeit?   Oscar hörte raschelnde Schritte, aber bewegte sich nicht. Sie wusste wer das war. Nur ihr Geliebter suchte sie zu dieser späten Stunde immer auf. Die Schritte hörten direkt neben ihr auf. André blieb stehen und setzte sich dann auf die grasbewachsene Erde zu ihr. „Unser Kleiner schläft tief und fest.“, sagte er dabei. In seinem Kopf kreiste noch immer der kurze Wortwechsel zwischen ihm und Graf de Girodel. Die Vorstellung daran, seine über alles geliebte Oscar in dessen Armen zu sehen und wie sein Sohn den Grafen Vater nannte, zerschnitt ihm das Herz in kleine Stücke mit einem unsichtbaren Messer. Aber was konnte er tun, um das zu verhindern? Etwa mit ansehen, wie Oscar von der Kugel des Herzogs starb? Das würde er nicht aushalten. Eher würde er sich in den Tod stürzen und seiner Liebsten das Leben retten! Aber wenn er stirbt, dann würde genau das geschehen, was Graf de Girodel ihm gesagt hatte … Verdammt! Warum war das alles so kompliziert?   „Kein Wunder, er war ja so erschöpft, weil er die ganze Zeit versucht hatte seine ersten Schritte zu perfektionieren.“, hörte er Oscar flüstern und kehrte aus seinen trübsinnigen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Sie bezog das auf seine Aussage wegen François.   „Ja, das stimmt.“ André kam langsam auf das eigentliche Thema. Er musste etwas tun, damit weder Oscar noch er beim morgigen Duell ums Leben kamen. Leider fiel ihm nichts ein. „Und was ist mit dir? Kannst du etwa nicht schlafen?“   Das leichte Zittern seiner Stimme verriet ihn und obwohl Oscar nichts von seinen trübsinnigen Gedanken wusste, ahnte sie jedoch, was ihn beschäftigte. „Mach dir meinetwegen keine Sorgen.“   „Wieso Sorgen?“, konterte André nicht ganz ehrlich. „Ich bin sicher, dass du gewinnst. Schon alleine wegen unserem Kleinen.“ Und damit dich Graf de Girodel niemals bekommt, fügte er noch in Gedanken hinzu.   „Ich sehe da auch kein Problem.“ Oscar spürte, dass ihr Geliebter sich selbst etwas vorgaukelte, um seine eigentlichen Empfindungen vor ihr zu verbergen. Das konnte sie ihm nicht verbieten, aber gleichzeitig machte er es damit ihr selbst nicht leichter. Ach, André… Wie konnte sie ihn davon überzeugen, dass mit ihr nichts geschehen würde? Nun gut, bei so einem Duell war immer ein Risiko dabei und es gab nur einen Gewinner. Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen, um am Leben zu bleiben und weder André unglücklich zu machen noch ihren Sohn ohne Mutter zu lassen. Zumal sie das strengste Geheimnis mit ins Grab nehmen würde und das wäre eine Sünde.   „Trotzdem wäre es besser, wenn du schlafen gehen würdest.“, meinte André, aber bekam keine Antwort von ihr. Leicht bedrückte Stille legte sich zwischen ihnen und zog sich in die Länge. Sekunden wurden zu einer unangenehmer Ewigkeit und wurden unerträglich. Oscar schien mit diesem Thema abgeschlossen zu haben und unterstrich das mit ihrer eisigen Schweigsamkeit. André hielt das nicht länger aus. Wenn sie nicht mehr darüber sprechen wollte, dann musste er ein anderes Thema finden! Aber welches? Seine Augen schauten in der von Mond und Sternen schwach beleuchteten Umgebung und hielten auf die schwarze Kontur eines Baumes an. Dabei musste André unwillkürlich schmunzeln, als ihm gleich Bilder aus seiner und Oscars Kindheit in den Sinn kamen. „Weißt du noch, als du sieben warst, hattest du unter der alten Eiche dort einen Schatz vergraben.“, begann er und zeigte dabei mit seinem Finger auf den genannten Baum. „Du warst ziemlich stolz auf das Versteck.“   Wieso sprach er auf einmal davon? „Nein, das weiß ich nicht mehr.“ Oscar schloss ihre Augen und sah ähnliche Bilder aus ihrer gemeinsamen Kindheit wie André.   „Es waren ein runder Kreisel aus Blei und ein rotes Messer.“ André senkte seinen Arm und schaute zu ihr. „Ob sie noch da sind?“   „Ich erinnere mich nicht.“ Eigentlich schon. Sie erinnerte sich klar und deutlich daran, wie sie mit André unter der Eiche eine kleine Holzkiste vergraben hatten. Und das waren nicht nur ein Kreisel aus Blei und ein rotes Messer, erinnerte sie sich. Es gab noch eine dritte Sache, die André aber selbst vergessen zu haben schien. Nun ja, sie waren jetzt zwanzig und einundzwanzig Jahre alt und da konnte man schon in der längst vergangenen Zeit das eine oder das andere vergessen. Aber wieso war sie selbst nicht ehrlich mit ihrem Geliebten? Um die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich lieber auf das morgige Duell zu konzentrieren, kam ihr sogleich die Antwort durch den Kopf.   André seufzte schwer. Die Ablenkung nützte nichts. Die Sorgen um Oscar und dem morgigen Duell hingen wie ein schwerer Stein in seinem Herzen. Also kehrte er wieder auf das ursprüngliche Thema zurück. „Am besten, wir verschwinden morgen durch die Hintertür, damit meine Großmutter von alldem nichts mitkriegt.“   „Girodel ist morgen mein Sekundant, du musst also nicht mitkommen.“ Mit anderen Worten, er sollte bei François bleiben und sich um ihn kümmern, falls etwas bei dem Duell schief laufen sollte.   Girodel… Warum musste Oscar ihn an diesen Grafen erinnern? Und wie kam sie darauf, dass er nicht mitkommen musste? Sollte er etwa auf dem Anwesen bleiben und auf eine schlimme oder gute Nachricht warten? Das würde er doch nicht aushalten! „Ich werde dich trotzdem begleiten.“, beschloss André und in dem Moment saß Oscar auf. Sie drehte sich zu ihm und ihre Blicke trafen sich. „André...“, brachte sie tonlos von sich und legte ihm ihre kühle Hand auf der Wange.   Obwohl es dunkel war, glaubte er so etwas wie Furcht in ihren Augen zu lesen. „Hast du etwa doch Angst vor morgen?“, fragte André vorsichtig.   „Angst? Aber nein...“ Oscar entfernte ihre Hand von seiner Wange, drehte sich um und zog ihre Knie an sich. Sie schaute auf das Gebäude ihres Elternhauses und sprach mit etwas belegter Stimme weiter. „Doch, natürlich habe ich Angst, aber nicht so sehr vor meinem Gegner. Ich habe mehr Angst in eine Situation zu geraten, wo es um etwas sehr Wichtiges geht – nämlich die Würde des Menschen. Der Herzog ist ein bösartiger Mann, für ihn sind Schwache und Arme ohne Bedeutung. Er verachtet sie. Wenn wir so einem erlauben sich zu benehmen wie er will, schadet es allen Adligen und das wirft auch Schatten auf die königliche Familie. Deshalb muss ich etwas unternehmen. Doch es fällt mir nicht leicht, jemanden zu töten, auch wenn er ein schlechter Mensch ist.“ Oscar verstummte und wieder legte sich eine schwere Stille zwischen ihnen. André schluckte hart. Was sollte er denn sonst sagen? Sie hatte ihm gerade die Hintergründe des Duells offenbart und er konnte sie deshalb mehr verstehen. Jedoch leichter ums Herz wurde ihm dabei nicht. Er rückte sich zu ihr näher und zog sie in seine Arme. Oscar schmiegte sich an ihn und fühlte sich ein wenig getröstet. „Falls ich das Duell morgen nicht überleben sollte, kannst du den Schatz, der sich unter der alten Eiche befindet, behalten.“, murmelte sie in seine Weste. „Ich vererbe ihn dir und unserem Kleinen. Einen Kreisel aus Blei, ein rotes Messer und einen Zinnsoldaten.“   Was sollte das, fragte sich André. Das klang, als würde sie sich verabschieden wollen! Nein, das konnte sie ihm nicht antun! Nicht ihm und nicht François! André drückte den zartgliedrigen Körper seiner Geliebten noch fester an sich. „Du willst dich also auf diese Art von uns verabschieden? Wenn ja, dann tue das bitte nicht. Was wird dann aus François und mir? Oscar, Liebste, wir wollen dich nicht verlieren!“   Oscar biss sich auf die Unterlippe. Ihren Geliebten derart verzweifelt zu hören, tat ihr selbst weh. „Das werdet ihr nicht, versprochen.“, sagte sie so überzeugend wie möglich und schob sich von ihm, um in sein Gesicht zu sehen.   „Versprochen?“, formten seine Lippen und ein Hoffnungsschimmer glomm in seinen Augen. Auch wenn er noch Zweifel hatte, wollte er sich doch an ihrem Versprechen festhalten.   Oscar sah dieses Leuchten in der Dunkelheit der Nacht nicht, aber sie hörte an seiner Stimme, dass er nicht mehr so verzweifelt klang. „André, ich schwöre es dir sogar hoch und heilig!“, bekräftigte sie und stieg rittlings auf seinen Schoß. Ihre Arme legte sie ihm sogleich um den Nacken und sie schenkte ihm einen innigen Kuss, dem er nicht widerstehen konnte.   André hielt ihren Körper, streichelte ihren Rücken, spürte die Weichheit ihrer Haare und entfachte das Feuer der Leidenschaft. Der Kuss wurde wilder, hemmungsloser und die Sehnsucht nach Vereinigung stärker. Keuchend ließ er ihre Lippen frei und küsste sie am Hals, unter dem Ohr. „Ich will dich ...“, hauchte er an ihrer Haut. „Meine Liebe, lass uns ins Bett gehen ...“   Oscar warf ihren Kopf in den Nacken und genoss seine Küsse. „Ja, mein Geliebter, lass uns ins Bett gehen und uns lieben ...“ Damit sie morgen Kraft finden würde, das Duell zu überstehen und zu ihren Lieben wohlbehalten zurückzukehren. Kapitel 21: Hausarrest ---------------------- Ein lauter Schuss am frühen Morgen an einem verlassenen Kloster zerriss die Luft, als Herzog de Germain seine Pistole abfeuerte. Zu seinem Bedauern hatte er verfehlt. Oscar stand unverletzt da und richtete ihre Pistole in seine Richtung. Jetzt war sie dran. Konzentriert zielte sie auf die Hand des Herzogs, mit der er den kleinen Jungen in Paris erschossen hatte, und drückte ab. Der Herzog schrie, Blut lief an seinen Fingern herab und tropfte auf die Erde. „Das war Betrug!“, rief er und sein Sekundant verband ihm sofort die Hand mit einem Tuch, um die Blutung zu stoppen. Die Wunde sah schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit war.   Oscar sagte nichts und zeigte auch keine Emotionen. Innerlich jedoch breitete sich eine Erleichterung in ihr aus. Sie hatte es geschafft, der Herzog war für den Mord an den kleinen Jungen in Paris bestraft und sie selbst trug nicht einmal einen Kratzer! Die gestrige Unterhaltung mit ihrem Geliebten und die verbrachte Stunde der Liebe und Leidenschaft mit ihm hatte ihr also geholfen und ihr die nötige Kraft gegeben, dieses Duell unbeschadet zu überstehen. Jetzt konnte sie guten Gewissens nach Hause zurückkehren. André und Girodel kamen auch schon zu ihr angerannt und fragten beinahe im Chor, wie es ihr ging. „Mir ist nichts passiert.“, sagte sie knapp und horchte sogleich auf.   Hufschläge der Pferde und das Rattern der Räder einer nahenden Kutsche ließen alle betroffen verstummen. Die Kutsche, mit einer französischen Lilie als Wappen, hielt an und die Königin höchstpersönlich stieg daraus. In ihrem feinen und gepuderten Antlitz stand blankes Entsetzen geschrieben. Natürlich wusste sie nichts von diesem Duell, aber hatte es anscheinend vor kurzem erfahren und war unverzüglich hierher geeilt. „Oscar, Ihr habt Euch unehrenhaft verhalten. Hiermit verhänge ich über Euch drei Monate Hausarrest.“ Und an den Herzog sagte sie: „Und Ihr, Herzog, findet Ihr Euer Verhalten etwa eines Adligen angemessen?“ Sie erwartete keine Antwort darauf, drehte sich um, stieg in die Kutsche zurück und fuhr fort.   Während sich die Diener um den Herzog kümmerten, stieg Oscar mit ihren Begleitern auf die Pferde und ritt mit ihnen zurück, zu dem elterlichen Anwesen. „Sieht ihr, ich sagte doch, dass mir nichts geschieht.“, sprach Oscar auf dem Heimweg.   „Daran hat niemand gezweifelt.“, meinte Girodel. Er war froh, dass Lady Oscar nichts geschehen war und schmunzelte sogar dabei. Nun gut, die drei Monate Hausarrest, die die Königin für sie verhängt hatte, bedauerte er schon ein wenig, aber es gab ja dienstfreie Tage, an denen er sie besuchen würde können.   „Ach nein? Wer hatte denn gestern so viele Sorgen?“ Oscar schielte zu ihm.   Das stimmt, er hatte gestern Sorgen um sie, aber… „Sorgen zu haben ist nicht das Gleiche wie Zweifel.“, ergänzte er und Oscar schaute wieder nach vorn. „Wenn Ihr meint, Girodel.“, erwiderte sie knapp und beschleunigte ihr Pferd.   André hatte die kurze Unterhaltung zwischen den beiden beobachtet und ihm fiel mehrfach ein Stein vom Herzen. Erstens, weil seiner Oscar nichts geschehen war und zweitens, brauchte er sich keine Sorgen mehr machen, dass Graf de Girodel sie und François ihm jemals wegnehmen würde. Zusammen mit ihm folgte er Oscar und nicht weit vom Anwesen der de Jarjayes verabschiedete sich Girodel und ritt nach Versailles zurück.   Auf dem Anwesen überlegte Oscar, wie sie ihren Hausarrest gestalten sollte. Einfach zuhause die drei Monate zu verbringen, wäre zu langweilig. Sie war es nicht gewohnt, tatenlos herumzusitzen. Obwohl sie dafür mehr Zeit für ihren Sohn und für ihren Geliebten haben würde, fühlte sie sich trotzdem in dem Haus etwas eingeengt. Vielleicht hatte André eine Idee?   Oscar kehrte zurück in den Stall, aber dort war er nicht mehr anwesend. Ebenso auf seinem Zimmer war er nicht aufzufinden. Ihren kleinen François fand sie auch nirgendwo. Also befand sich ihr Sohn schon bei André, schlussfolgerte Oscar. Und es gab noch zwei Orte, wo die beiden am meisten vermutet werden konnten und wo sie noch nicht nachgeschaut hatte: die Küche und der Garten. Sie wählte den Garten und kaum erreicht sie die Hintertür, als aus der Küche Sophies verärgerte Stimme zu hören war: „Du elender Feigling! Die ganze Zeit bist du bei ihr und lässt es zu, dass sie sich duelliert? Ich möchte mal wissen, was du dir dabei gedacht hast!“   Oscar änderte unverzüglich die Richtung und kam in die Küche. Ihre Augen weiteten sich. Sophie jagte ihrem Enkel mit einem großen Holzlöffel hinterher und zog ihm damit ein paar über, als sie ihn fasste. Also wusste die alte Frau bereits über das Duell und ebenso über den Hausarrest, verstand Oscar. Außer den beiden befand sich zurzeit niemand mehr in der Küche. Dann war François mit der Amme höchstwahrscheinlich im Garten spazieren. Das würde sie gleich auch machen. Aber zuerst musste sie André aus den Fängen seiner Großmutter befreien. Oscar räusperte sich in die Faust, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das funktionierte und zwei Augenpaare schauten sofort zu ihr. „Vergib ihm Sophie, es war ja nicht seine Schuld.“, sagte sie von der Türschwelle zur Verteidigung ihres Geliebten.   Die alte Frau besänftigte das jedoch nicht. Ihr rundes Gesicht wirkte noch verärgerter. „Natürlich war das seine Schuld!“, schimpfte sie. „Es war seine Aufgabe, das Duell zu verhindern. Jetzt habt Ihr drei Monate Hausarrest.“   Als würde André dabei eine Chance haben… Die ständigen Sorgen um sie von Sophie waren noch ein Grund mehr, weshalb sie ihren Hausarrest nicht auf dem elterlichen Anwesen verbringen wollte. Oscar erinnerte sich noch genau an den einen Winter, wo sie eine Erkältung bekam und Sophie sich so aufgeführt hatte, als wäre das eine todbringende Krankheit gewesen. Das war vielleicht von der alten Haushälterin gutgemeint, aber ihre übertriebene Fürsorge mochte Oscar schon immer nicht und ihr kam sogleich eine Idee, wie sie ihr auch während des Hausarrestes entkommen könnte. „Sophie, sei so freundlich und packe lieber meine Sachen, ich will verreisen.“   Sophie bekam sogleich einen Schreck und starrte sie an, als wäre ihr ein Horn gewachsen. „Ihr wollt verreisen?“   Oscar hatte schon geahnt, dass ihr einstiges Kindermädchen dagegen sein würde. Aber sie hatte sich soeben entschieden und würde ihr Vorhaben in die Tat umsetzen – da konnte Sophie protestieren wie sie wollte. Oscar schmunzelte sogar. „Ja, richtig, ich will verreisen. Es ist doch eine gute Gelegenheit, wieder einmal nach unserem Landgut in Arras zu sehen.“   Der große Holzlöffel fiel Sophie aus der Hand und schlug auf dem Boden auf, was sie kaum bemerkte. Noch mehr Sorgen und Missfallen standen ihr förmlich im Gesicht geschrieben. „Das dürft Ihr auf kein Fall tun! Euer Vater ist in militärischen Angelegenheiten für mehrere Tage unterwegs und was passiert, wenn jemand von Eurer Abwesenheit erfährt?!“   „Das ist mir egal.“ Oscar zuckte mit ihren Schultern und erfand sogleich eine Ausrede für den Fall, dass jemand doch in ihrer Abwesenheit sie aufsuchen wollen würde. „Wenn jemand nach mir fragt, sag einfach, ich bin vor Traurigkeit krank geworden und liege mit Fieber im Bett.“   Wie bitte? Sie sollte auch noch lügen? „Nein, Lady Oscar, das kann ich nicht!“, empörte sich Sophie.   „Doch das kannst du.“, konterte Oscar bestimmend und schaute zu ihrem Geliebten. „André, wir werden morgen sehr früh aufbrechen. Unser Ziel liegt weit entfernt und ich möchte es morgen noch erreichen.“ Dann verließ sie auf der Stelle die Küche und ging in den Garten, wo sie die Amme mit François vermutete. Ihre Vermutung bestätigte sich. Kaum das sie nach draußen rauskam, sah sie die zwei nicht weit entfernt bei den verblühten Rosensträuchern spazieren. Mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht setzte Oscar ihre Füße in Bewegung. Nach wenigen Schritten vernahm sie eilende Schritte hinter sich und eine ihr sehr bekannte Stimme. „Ist das dein Ernst?“, fragte André als er sie einholte. Im Gegensatz zu seiner Großmutter klang er wenigstens nicht so besorgt. Eher etwas überrascht und er wollte sie auch nicht umstimmen.   Oscar nickte bestätigend. „Ja, das ist mein voller Ernst und ich überlege mir, auch François mitzunehmen.“   Zu dritt in Arras und wie eine kleine Familie zu sein, war eine sehr schöne Vorstellung, wenn da nicht ein Hindernis wäre… „Aber wird es nicht auffallen?“, wandte André bedächtig ein. „Dazu ist er noch zu klein, für eine lange Reise.“   Oscar überlegte und erinnerte sich dabei, wie es auf der großen Reise war, die sie mit André und Girodel letztes Jahr im Auftrag des Königs gemacht hatte. François war nur die letzte Etappe der Reise mit dabei gewesen und Oscar konnte von daher nicht sagen, ob es für ihn anstrengend war. Das Dorf, in dem François geboren wurde, war nur zwei Stunden entfernt. Nach Arras würden sie dagegen den ganzen Tag brauchen und François war fast acht Monate alt. Es würden viele Pausen eingelegt werden und sie würden sehr langsam vorankommen. Zumal sie wegen der Amme auch eine Kutsche mitnehmen müssten. Das hieße auch, dass sie erst am nächsten Tag Arras erreichen würden. Das war eigentlich nicht das Problem. Es lag an dem Hausarrest und obwohl Oscar gerne verreiste, wollte sie doch nicht groß auffallen und noch rechtzeitig zurück sein. Sie seufzte. „Womöglich hast du recht, André. Dann nehmen wir ihn beim nächsten Mal mit.“ Seite an Seite mit André erreichten sie François mit der Amme und spazierten mit ihnen im Garten. Den ganzen Tag verbrachten sie auch mit ihm und am nächsten Morgen, nach dem Abschied, brachen sie zu zweit nach Arras auf. Eigentlich waren sie auf ihrer Durchreise in Arras bereits gewesen, aber nur kurz und hatten keine Möglichkeit dort länger zu bleiben. Dazu kam noch, dass Oscar zu dem damaligen Zeitpunkt einen sehr großen Bauch hatte und stand kurz vor der Niederkunft. Jetzt war das alles nicht der Fall. Sie ritten nebeneinander und genossen den Sonnenaufgang.   „Zu streng.“, sagte André irgendwann.   Oscar verstand ihn nicht so recht. „Was meinst du damit?“   „Ich meine deine Bestrafung von gestern nach dem Duell.“, klärte André sie auf. „Ich finde, die Königin hat dich viel zu hart bestraft.“   Oscar wunderte sich, warum er erst jetzt damit kam, aber lehrte ihn auch eines Besseren. „Nein, diesmal irrst du dich, André.“   „Wieso?“   „Eigentlich hätte ich vor dem Duell meinen Posten als Kommandant des königlichen Garderegiments niederlegen müssen. Die Bestrafung durch die Königin empfinde ich als mild. Sie hätte mich auch vom Dienst suspendieren können, aber das hat sie nicht getan. Außerdem hat sie verhindert, dass der Herzog sein Gesicht verliert.“   „Ich verstehe.“ André schien mit ihrer Erklärung aber nicht ganz zufrieden zu sein. Immerhin hatte sie auch noch zusätzlich ihr Leben riskiert. „Und trotz dieser Bedenken hast du dich mit ihm duelliert.“   „Zieh nicht so ein Gesicht, Geliebter, und freue dich lieber auf die freien Tage, die vor uns liegen! Es wird bestimmt schön!“ Natürlich wäre es mit François noch schöner, aber auf dem Anwesen war er auch gut aufgehoben. In wenigen Tagen würden sie wieder bei ihm sein und die restlichen Monate des Hausarrestes mit ihm zusammen verbringen.   Die Freude über die freien Tage in Arras zerplatzte bei Oscar und André gleichermaßen, als sie einer bekannten Bauernfamilie begegneten und in ihren Augen blanken Hass gesehen hatten. Im Gasthof „Zum alten Allas“ trafen sie auf noch ein bekanntes Gesicht und die Unterhaltung mit ihm verdarb ihnen gänzlich die Laune. Besonders bei Oscar. Maximilien de Robespierre bereute es langsam, die Gratulationsrede bei der Krönung des neuen Königs gehalten zu haben und auf Oscars Frage, wieso, erklärte er: „Wir haben alle am Anfang viele Erwartungen in den neuen König gesetzt und glaubten, eine neue Zeit bricht an, aber es hat sich nichts geändert. Alles ist beim Alten geblieben. Das Volk hungert immer noch, die Menschen werden immer ärmer, man nimmt ihnen das letzte Hemd. Ich weiß nicht, ob Ihr es bemerkt habt oder ob das Euch das überhaupt interessiert, aber das Land stirbt. Die Königin soll über ihre Verhältnisse leben und das heißt, dass der König sie einfach gewähren lässt. Sie ist auch verantwortlich für das Tun der Adligen, die das Land einfach unterdrücken.“   Oscar konnte nicht mehr ruhig sitzen, ihr platze der Kragen und sie glühte innerlich vor Wut, weil Robespierre womöglich recht haben konnte. Sie dachte an das arme Mädchen Rosalie und an den kleinen Jungen, der wegen Hunger gestohlen hatte und vom Herzog de Germain eiskalt ermordet wurde. Warum hatte sich noch immer nichts geändert? Wie viel Leid herrschte noch in diesem Land und wann würde das endlich aufhören?   Robespierre fuhr unbeeindruckt von ihrem zornigen Blick fort. „Bitte vergebt mir, falls ich Euch gekränkt haben sollte. Wie konnte ich vergessen, dass Ihr der hohe Offizier seid, der in den treuen Diensten ihrer Majestät steht. Es hat mich gefreut, Euch kennenzulernen.“ Er stand auf, bezahlte die Zeche und an der Tür hielt er noch einmal an. „Ich möchte, dass Ihr Euch noch eines merkt: Ich werde alles daran setzen, um unser sterbendes Land zu retten. Obwohl dieses Land stirbt, gilt jeder Schlag meines Herzens Frankreich. Wir sehen uns bestimmt wieder.“   Oscar wurden noch mehr der Tatsachen bewusst, als jemals zuvor. Die Menschen waren also enttäuscht von dem neuen Königspaar. Wozu hatte sie mit André und Graf de Girodel dann aber die Reise durch Frankreich gemacht und dem König darüber berichtet, wenn keine große Veränderungen in Sicht waren?   Noch entsetzter wurde Oscar jedoch, als der Bauernjunge Gilbert, den sie auf dem Weg hierher mit seinem Vater getroffen hatte, am selben Abend im Fieber lag. Seine Eltern hatten nicht einmal Geld, ihn zum Arzt zu bringen, geschweige denn ihn behandeln zu lassen – alles was sie verdienten und ernteten, ging als Steuer an den königlichen Hof. Das hieße, dass der Junge sterben würde.   Oscar konnte das nicht zulassen und brachte ihn eigenhändig zum Arzt, den sie auch bezahlte. Zusammen mit André und den Eltern des Jungen wachte sie die ganze Nacht über ihn. Am nächsten Tag ging es ihm besser und dank ihrem Einsatz würde er nicht der Krankheit erliegen müssen. Dank ihr würde er leben können. Oscar verließ die Bauernfamilie, stieg auf ihr Pferd und trieb es wie besessen aus Arras. Irgendwo außerhalb der Stadt holte André sie auf seinem Braunen ein. „Was ist los mit dir, Oscar? Halte endlich ein, du reitest noch das Pferd zuschanden!“   Oscar hörte seine Stimme, aber trieb noch mehr ihr Pferd an. „Ich bin nur wütend über mich selbst, weil ich von der Not der Menschen nichts gewusst habe!“   „Du hast recht. Aber der König und die Königin sind doch gutmütige Menschen! Sie werden das Leid des Volkes nicht einfach so ignorieren!“   „Aber das Volk fängt an, sich vom Königspaar abzuwenden! Verstehst du, das ist das, was mir klar geworden ist!“ Oscar trieb ihr Pferd weiter, bis es stolperte und sie abwarf. Unsanft landete sie im Gras und hörte nur Andrés Schreckenslaut, bevor sie bewusstlos wurde. Sie sah all die Bilder, die sie erlebt hatte: Die arme Rosalie, der getötete Junge in Paris, der erkrankte Bauernjunge aus Arras und hörte die Worte von Robespierre wie ein Echo in ihrem Kopf. Erschrocken schlug Oscar die Augen auf und ignorierend ihre schmerzenden Knochen, setzte sich auf. „Wer hat da gesprochen?“, wollte sie wissen und spürte sogleich Andrés Nähe.   Als Oscar vor etwa einer halben Stunde bewusstlos wurde, hatte er sie auf die Arme gehoben und sich mit ihr unter einem Baum niedergelassen. Jetzt, nachdem sie saß, rückte er zu ihr und umarmte sie. „Niemand, glaub mir.“, sagte er in ihr schönes Haar, das ihr von einer leichten Brise des Windes gerade vom Gesicht geweht wurde. „Oder du meinst das Rauschen des Windes?“   Oscar lehnte sich an ihn und schmiegte sich in seine Armen. „Ja, vielleicht war es das. Lass uns wieder nach Hause reiten. Ich will hier nicht länger bleiben, ich will unseren Sohn sehen und ihn in meinen Armen halten.“ Kapitel 22: Emilie de Jarjayes ------------------------------ Sophie freute sich sehr, dass Lady Oscar so schnell heimkehrte. Sie waren nicht einmal drei Tage fort und kamen spät nachts zurück, aber die Haushälterin hatte noch nicht geschlafen, wie auch einige der Bediensteten, die in der Nähe des Zimmers von François herumstanden. Der Kleine weinte schon den ganzen Abend und auch jetzt wollte er sich nicht beruhigen, erfuhren Oscar und André nach ihrer Ankunft. Sogar die Brust von seiner Amme verweigerte er und der Arzt, der ihn heute schon zwei Mal untersucht hatte, wusste auch nicht weiter. Er hatte höchstens eine Vermutung, dass dem Jungen Milchzähne wuchsen und dass er deshalb vor Schmerzen weinte.   Oscar und André rannten unverzüglich in sein Zimmer. „Was ist mit ihm?“, brüllten sie im Chor. André nahm ihn sofort in die Arme, aber François beruhigte sich nicht – er weinte nur etwas leiser, vergrub sein Gesichtchen in die Kleider seines Vaters und klammerte sich an ihn.   „Höchstwahrscheinlich die Milchzähne.“, antwortete die Amme auf die gestellte Frage von den Beiden. „Er ist auch nicht krank. Doktor Lasonne hatte ihn zwei Mal untersucht und ihm Medizin zur Linderung gegeben, aber François beruhigt sich trotzdem nicht.“   Der besagte Doktor bejahte ihre Aussage mit einem Nicken. „Das stimmt. Ich fand nichts Auffälliges und auch keine Anzeichen auf Fieber oder andere Krankheiten.“   In dem Moment wurde das Weinen des Kindes noch leiser, bis nur das Schluchzen zu hören war. Er hat sich in Andrés Armen in den Schlaf geweint. Sein Atem wurde ruhiger, gleichmäßiger und Oscar streichelte ihm sachte durch die hellbraunen Locken, während André ihn in seinen Armen leicht wiegte. „Er ist so erschöpft.“, merkte sie an. „André, bring ihn in die Wiege. Wir lassen ihn jetzt schlafen.“   „In Ordnung.“ André machte das, obwohl er seinen Sohn etwas länger in seinen Armen gehalten hätte.   Die Amme des Kindes folgte ihm selbstverständlich und flüsterte auf dem halben Weg: „Vielleicht hatte er euch zusätzlich vermisst.“   Ihre Vermutung bestätigte auch der Arzt. Lady Oscar und André ersetzten dem Jungen gewissermaßen seine Eltern und deren Wegfahrt nach Arras war womöglich in der Tat der zusätzlicher Auslöser für sein ununterbrochenes Weinen. Wobei in Versailles waren sie manchmal mehrere Wochen im Dienst, erinnerte sich Doktor Lasonne und der Junge hatte sich noch nie so verhalten. Dann müsste es wirklich an den Milchzähnen gelegen haben, die ihm beim Wachsen schmerzten, schlussfolgerte er und sagte das auch Lady Oscar. Er versprach morgen vorbei zu kommen und verabschiedete sich. Nach ihm verließen auch die Bediensteten das Zimmer des Jungen. Oscar und André blieben noch etwas bei ihrem Sohn, um sicher zu gehen, dass er wirklich tief und fest schlief, und gingen dann jeder auf sein Zimmer.   Am nächsten Tag benahm sich der Kleine als wäre nichts passiert. Doktor Lasonne kam wie versprochen und war beruhigt, dass es ihm wieder gut ging. Dafür fühlte sich Madame de Jarjayes schlecht und eines Abends war sie sogar in Versailles zusammengebrochen. Oscar brach unverzüglich zum Hof auf und während André ihre Mutter aus den Gemächern holte, begegnete Oscar draußen zufällig der Königin, die auf einem Ball mit einer Kutsche fuhr. Oscar entschuldigte sich sogleich mit gesenktem Haupt. „Eure Majestät, es tut mir leid. Ich weiß, ich stehe noch immer unter Hausarrest...“   „Gut dass Ihr da seid.“, unterbrach Marie Antoinette sie. „Eure Mutter hatte einen Ohnmachtsanfall, Ihr musst Euch um sie kümmern. Sie würde sich freuen, Euch zu sehen, sie soll sich für eine Weile ausruhen und wir sehen uns dann morgen, Oscar.“   Aber es waren erst zwei Wochen her, dass sie Hausarrest bekommen hatte. Oscar hob äußerst verwundert den Blick auf die Königin. „Ich verstehe nicht...“   Marie Antoinette lächelte und zwinkerte kurz mit einem Auge. „Ich habe Euch vor einem Monat einen Hausarrest auferlegt und nach meinem königlichen Kalender ist diese Frist abgelaufen.“   Jetzt verstand Oscar die versteckte List. Nachdem ihre Mutter zusammengebrochen war, brauchte die Königin ihren Kommandanten der königlichen Garde anscheinend dringend an ihrer Seite. „Majestät, Ihr ahnt gar nicht, wie dankbar ich Euch bin.“ Oscar war ihr wirklich dankbar für die Verkürzung des Hausarrestes. Jetzt brauchte sie nicht mehr untätig zuhause zu sitzen und konnte weiter ihren Pflichten nachgehen. Nun gut, dafür würde sie ihren François nicht mehr jeden Tag sehen können, aber die zwei Wochen hatten ausgereicht und waren schön gewesen, dass sie wieder bereit war, ihren Dienst wieder anzutreten. Zuerst sollte sie aber ihre Mutter sicher auf das Anwesen bringen und dafür sorgen, dass sie sich gut erholen konnte.   Im Hof des Anwesens der de Jarjayes half Oscar ihr aus der Kutsche zu steigen, als sie beide vom urplötzlichen, wilden Geschrei und nahenden Schritten erschreckt wurden. „Dafür werdet Ihr sterben!“, rief die nahende Person und beschleunigte ihren Schritt.   Oscar sah ein Mädchen auf sie zu rennen und bemerkte ein Messer in ihrer Hand. Sie reagierte schnell. Offensichtlich wollte jemand ihre Mutter umbringen und das durfte nicht passieren! Rasch stellte sie sich dem Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen in den Weg und schlug ihr das Messer aus der Hand. Das Mädchen taumelte mit weit aufgerissenen Augen zurück und jetzt konnte Oscar ihr Gesicht genauer ansehen. Sie erkannte sie und war fassungslos. „Rosalie? Aber warum?“   Auch das Mädchen erkannte sie und schaute irritiert zu Madame de Jarjayes. „Aber ich verstehe nicht...“ Wie damals, als sie sich Oscar verkaufen wollte, fiel sie auf die Knie und schluchzte hemmungslos. Später, als die Tränen soweit versiegt waren und Oscar sie auf ihrem Zimmer befragte, erfuhr sie den Grund ihres Angriffs: Rosalies Mutter wurde von der Kutsche einer Adligen überfahren und weil sie sowieso nichts mehr zu verlieren hatte, wollte sie nach Versailles, um sich an der Mörderin zu rächen. Stattdessen kam sie auf das Anwesen der de Jarjayes und hatte die Mutter von der gütigen Frau, die ihr damals so sehr geholfen hatte, mit der Mörderin verwechselt.   „Hat sich die junge Frau beruhigt?“, erkundigte sich Emilie bei dem Frühstück am nächsten Tag.   „Ja, das hat sie. Ich habe versprochen, ihr zu helfen und werde mich um sie dementsprechend kümmern.“ Oscar ließ die Ereignisse von gestern und heute früh in ihrem Kopf kurz passieren: Nach der Befragung hatte sie Rosalie ein Zimmer zugewiesen und sie heute früh Sophie vorgestellt, die gleich die junge Frau unter ihre Fittiche nahm und sie in den ersten Aufgaben als Dienstmädchen angewiesen hatte. Rosalie hatte dankend die neue Stelle auf dem Anwesen der de Jarjayes angenommen und Oscar war mit diesem Ausgang zufrieden.   Emilie de Jarjayes dachte an das Gleiche wie ihre Tochter. „Das arme Mädchen. Es ist bestimmt alles schwer für sie, aber zum Glück hat sie dich getroffen.“, sagte sie dabei und nahm einen Schluck von ihrem aromatischen Tee.   Oscar hob ein wenig verwundert ihre Augenbrauen. „Ihr seid nicht verärgert, dass ich sie aufgenommen habe?“ Immerhin wollte Rosalie sie töten, auch wenn unbeabsichtigt.   „Wieso sollte ich?“ Emilie setzte die Tasse von ihren Lippen ab und ihre Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. „Sie war gestern verzweifelt und hat mich verwechselt. Deswegen hege ich keinen Groll gegen sie, falls du das meinst, Oscar.“   „Ich danke Euch, Mutter.“ Oscar fühlte sich erleichtert. Zugegeben hatte sie schon Bedenken, dass ihre Mutter darauf bestehen würde, Rosalie bestrafen zu lassen oder gar Klage gegen sie am Gerichtshof einzureichen. Aber andererseits, und wenn Oscar sich das genauer überlegte, trug ihre Mutter schon immer ein gutes Herz und war keineswegs bösartig, wie die meisten Intriganten am Hofe von Versailles.   Emilie lächelte ihre Tochter gütig an. Auch wenn Oscar zu einem hartherzigen und emotionslosen Soldaten erzogen wurde, besaß sie dennoch ein weiches und gütiges Herz. Das hatte sie bereits im Januar vor acht Monaten mitbekommen, als Oscar ein elternloses Geschöpf mitbrachte und sich seit dem um ihn kümmerte. Apropos Findelkind… „Sag Oscar, wie geht es deinem Adoptivsohn? Ich habe ihn noch gar nicht gesehen.“, wechselte sie das Thema und merkte ein entzückendes Aufleuchten in dem meist eisigen Blick ihrer Tochter.   „Oh, ihm geht es bestens.“ Oscar schmunzelte sogar und ihr Herz füllte sich mit Wärme, als sie an ihren kleinen Sonnenschein dachte. „François lernt zu laufen.“ Oscar beendete ihr Frühstück und stand von ihrem Platz am Tisch auf. „Aber das könnt Ihr später mit eigenen Augen sehen und Euch selbst davon überzeugen, Mutter. Ich muss jetzt nach Versailles.“   „Ja, Oscar, geh nur. Frage aber bitte noch ihre Majestät, für wie lange sie mich beurlaubt hat.“   „Das mache ich Mutter. Bis später.“   Emilie verabschiedete ihre Tochter und nachdem sie den Tee ausgetrunken hatte, ging sie in die Küche, um Sophie nach dem Findelkind zu fragen. Dort traf sie auch Rosalie, die von Sophie in ihre ersten Aufgaben angewiesen wurde. Die junge Frau half der alten Haushälterin beim Zubereiten des Brotteiges. Francois war auch in der Küche anwesend. Er saß bei seiner Amme am Tisch und spielte mit Besteckt, während seine Aufseherin das Gemüse fürs Mittagessen putzte. Alle unterbrachen sofort ihre Tätigkeiten und verneigten sich zur Begrüßung vor der Hausherrin. „Ihr könnt weiter Euren Aufgaben nachgehen.“, meinte Emilie und ging an den Tisch. Sie blieb direkt neben der jungen Frau von gestern stehen. „Wie fühlst du dich, Rosalie?“   „Danke Madame, ich fühle mich besser.“ Rosalie hörte mit ihrer Tätigkeit auf und senkte schuldbewusst den Blick. „Ich bitte um Verzeihung, dass ich gestern...“   „Ich verzeihe dir.“, ließ Emilie sie nicht weiter sprechen. „Du bist ein sehr nettes Mädchen, das sieht man dir sofort an und meine Oscar irrt sich in Menschen sehr selten.“   „Ich bin Lady Oscar sehr dankbar, was sie für mich getan hat.“ Rosalie hob den Blick und schaute zu François. „Auch für den Jungen, er ist noch so klein...“   „Du kennst also schon seine Geschichte?“ Eigentlich brauchte sie das gar nicht fragen. In diesem Haus gab es praktisch keine Geheimnisse.   Rosalie bestätigte das mit einem Nicken und Sophie erklärte: „Wenn Rosalie schon bei uns arbeiten und wohnen wird, dann kann sie auch über den Jungen wissen. Ein Geheimnis ist es ja nicht.“   „Da hast du recht, Sophie.“ Emilie umrundete den Tisch und kam näher zu dem Kleinen. „Er ist gewachsen und sieht viel kräftiger aus, als Oscar ihn vor einem dreiviertel Jahr zu uns gebracht hatte. Ich hörte, er kann schon laufen?“   „Ja, Madame. Wir müssen bald aufpassen, dass er uns nicht davonläuft.“, scherzte die Amme und Emilie lächelte. François sah zu ihr auf und ahmte das Lächeln nach. Seine grünblauen Augen glänzten und erinnerte Emilie so sehr an André, als dieser mit fünf Jahren von seiner Großmutter auf das Anwesen gebracht wurde. Ja, es war gut und richtig, dass Oscar den kleinen François gerettet hatte und hoffentlich würde aus ihm ein liebenswerter Junge werden. Wobei er das jetzt schon war und bei der Erziehung, die er bei seinen Zieheltern genoss, würde er das sicherlich auch bleiben. Kapitel 23: Attentat -------------------- August 1779   Ein Kuss, so betörend und süß, dass man noch länger darin versenken wollte. Aber das ging leider nicht, denn die Königin hatte Oscar soeben zu sich bestellen lassen.   „Ich verstehe nicht, warum das ausgerechnet mitten in der Nacht sein muss?“, fragte André unbegreiflich und nachdem sich ihre Lippen trennten.   „Das werden wir bald erfahren.“ Oscar, bereits in ihrer rote Uniform, schob sich bedauernd aus seiner Umarmung, verließ mit ihm ihr Zimmer, das Haus und ging zu der Kutsche, die Marie Antoinette zu ihr geschickt hatte. Rosalie wartete bereits auf sie dort. Seit fast vier Jahren wohnte die junge Frau auf dem Anwesen der de Jarjayes und mit Oscars Hilfe hatte sie vor wenigen Tagen auch endlich die Mörderin ihrer Mutter gefunden. Nur konnte sie ihre Rache leider nicht an ihr ausüben, denn das war Madame de Polignac – eine der mächtigsten Frauen am Hofe und enge Vertraute der Königin. Und seit sie von Rosalie wusste, versuchte Madame de Polignac Lady Oscar zu schaden. Wie zum Beispiel heute war in Versailles ein Kronleuchter runter gefallen und hätte Lady Oscar beinahe getroffen, als sie darunter gelaufen war. Dank Andrés schneller Reaktion war ihr zum Glück nichts geschehen. Nun hatte die Königin nach Oscar rufen lassen und sogar eine Kutsche zu ihr geschickt. Rosalie hatte ein ungutes Gefühl und wollte deshalb mitfahren, was Oscar auch gestattete.       Langsam rollte die Kutsche durch den dunklen Wald. Das schwache Licht des Mondes beleuchtete mit silbrigem Hauch die Umgebung und ließ die schwarzen Konturen der Bäume beinahe gespenstisch wirken. Oscar schaute aus dem Fenster und runzelte die Stirn. „André, ich glaube nicht, dass dies der Weg nach Versailles ist. Ich frage mich, wo wir sind.“ Obwohl es draußen dunkel war, erkannte sie dennoch, dass sie einen anderen Weg genommen hatten. Den Weg nach Versailles, den sie meistens nahmen, kannte sie gut genug, um ihn auch im Dunkel erkennen zu können.   „Ich weiß nicht, aber wahrscheinlich hat der Kutscher eine Abkürzung genommen, sonst kann ich mir das nicht erklären.“, vermutete André auf ihre Frage und in dem Moment blieb die Kutsche stehen.   Oscar lehnte sich aus dem Fenster. „Was ist denn hier los? Warum blieben wir stehen?“, rief sie, aber anstelle zu antworten, sprang der Kutscher vom Kutschbock herunter und ergriff die Flucht. Äußerst merkwürdig. Noch seltsamer und unheimlicher wurde es, als fünf dunkle Gestalten zwischen den Bäumen in Erscheinung traten und die Kutsche umkreisten. „Die führen sicher nichts Gutes im Schilde.“, meinte Oscar und André, der auch einen kurzen Blick aus dem Fenster warf, bekräftigte mit: „Das denke ich auch.“   Der Kreis schloss sich, die fünf Männer kamen immer näher und zogen ihre Schwerter. Oscar ließ das nicht lange auf sich beruhen, stieg aus der Kutsche und zog angriffsbereit ihre Klinge blank. „Wer seid ihr? Habt ihr hier etwa auf der Lauer gelegen und gewusst, dass ich, Oscar François de Jarjayes, hier vorbeikomme?“   „Schweigt und kämpft lieber!“, rief einer der Männer und griff sie an. Oscar parierte gekonnt seinen Hieb und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie André ebenfalls mit gezogenem Schwert aus der Kutsche stieg und den gleichen Kampf mit den anderen Banditen ausfocht. Rosalie zog sich dagegen wie ein ängstliches Rehkitz in das Innere der Kutsche. Mit schreckensbleicher Miene beobachtete sie den Kampf und wagte sich nicht zu bewegen. Aber nicht alle kämpften. Einer von den Übeltätern schlich zu der Kutsche und wollte Rosalie töten. Oscar bemerkte den schleichenden Mann, während sie ihren Gegner erledigte. Ohne lange zu überlegen warf sie mit aller Kraft ihre Waffe mit der Spitze in die Richtung des Mannes an der Kutsche. Scharf bohrte sich die Klinge in dessen Rücken und brachte ihm nur den Tod, noch bevor er seine Mordtat an Rosalie verüben konnte.   Oscar wollte gerade aufatmen, als einer der Schurken, den sie nicht bemerkt hatte, ihr in den Schulter stach. Ein gellender Schrei des Entsetzens von Rosalie erfüllte den Wald, als Oscar mit schmerzverzerrtem Gesicht und bäuchlings zu Boden ging. „Oscar!“, hörte sie auch Andrés Schreckenslaut und wie er versuchte seine Gegner loszuwerden, um ihr zu Hilfe zu kommen. Dann vernahm sie eine rollende Kutsche und ihr eine sehr bekannte Stimme: „Oh, mein Gott, Oscar!“ Das klang nach Graf von Fersen, war ihre Gedanke und dann umfing sie die Dunkelheit der Ohnmacht.       Als Oscar wieder aufwachte, brannte die Wunde in ihrer rechten Schulter wie ein Höllenfeuer. Mühsam schlug sie ihre Augen auf und sah sein Gesicht vor sich. Er war also wieder da… „Graf von Fersen, Ihr seid es wirklich...“ Sie versuchte sich mit Hilfe ihres gesunden Armes aufzusetzen. „Mir war so, als hätte ich...“   Graf von Fersen bemerkte ihr vor Schmerz verzogenes Gesicht und versuchte sie zum liegenbleiben zu bewegen. „Nein, Oscar, bleibt doch liegen.“ Es war eine vergebliche Mühe. Oscar saß schon auf und schaute ihn kaum lächelnd an. Er holte ihre Uniformjacke vom Gestell und legte sie ihr um die Schultern.   Oscar konnte kaum glauben, ihn hier wiederzusehen. „Es war doch kein Traum, als ich es zuerst angenommen hatte. Ihr seid wieder zurückgekommen.“   „Ja, es sind vier Jahre her, als wir uns zuletzt gesehen hatten.“ Graf von Fersen richtete sich auf und erwiderte ihr das Lächeln.   „Ich bin Euch Dank schuldig, Ihr habt mir das Leben gerettet.“ Wenn er nicht zufälligerweise an dem Tatort vorbeigefahren wäre, dann wäre sie womöglich tot – umgebracht von einem dieser Schurken, die ganz sicher nur aus diesem Grund ihre Kutsche überfallen hatten. Was wäre dann aus François und André? Oscar wollte sich das nicht einmal vorstellen.   „Ihr braucht mir nicht zu danken, Oscar.“, erwiderte Graf von Fersen wie immer freundlich und nett, aber in seinen Augen lag ein trauriger Ausdruck. „Ich war ohnehin auf dem Weg zu Euch, um Euch meine Aufwartung zu machen.“   Um ihr seine Aufwartung zu machen? Ihr und nicht der Königin? Oscar bekam auf einmal ein eigenartiges Gefühl, welches sie sich nicht erklären konnte. Sein Blick der grauen Augen erinnerte sei an tiefes Wasser und zog sie in seinen Bann. Aber wie war das möglich? Wieso fühlte sie sich so plötzlich zu ihm hingezogen? Lag das an dem Unfall, an der Schwäche durch ihre Verletzung?   Beschämt über sich selbst wollte Oscar ihren Blick von dem Grafen abwenden, aber konnte es nicht. Erst als Rosalie ins Zimmer kam und sie mit einem Knicks grüßte, schaute Oscar von ihm weg. Rosalie brachte eine Vase mit Blumen, stellte sie nach der Begrüßung auf den Kaminsims und kam dann auch ans Bett.   „Kenne ich Euch nicht irgendwoher?“, fragte Graf von Fersen verwundert, als er die junge Frau sich näher ansah.   Rosalie zeigte ihr so typisches, freundliches Lächeln. „Ja, wir sind uns schon einmal in Paris begegnet, Ihr habt mir damals sehr geholfen.“ Sie meinte einen Zwischenfall, der bereits etliche Jahre zurücklag. Zu dem Zeitpunkt war sie Lady Oscar noch nicht begegnet. Nach einem Einkauf war sie beinahe von einer Kutsche überfahren worden, weil sie zu sehr in Gedanken vertieft war und hatte beim Überqueren einer Straße nicht aufgepasst. Der junge Adlige, der gleich auch anhielt, fragte nach ihrem Befinden und als sie ihm versichert hatte, dass es ihr gut ging, war er weitergefahren.   Graf von Fersen dachte gerade auch an diesen Zwischenfall. „Ah, jetzt erinnere ich mich.“, fiel es ihm wieder ein.   „Wie interessant, ihr seid euch also schon einmal begegnet.“ Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Oscar stellte Rosalie dem Grafen vor und von Fersen fragte sie gleich darauf: „Habt Ihr eine Vermutung, wer Euch überfallen haben könnte?“   „Natürlich!“, schoss es aufgebracht aus Rosalies Mund. „Das kann nur eine Person gewesen sein!“ Sie hatte Madame de Polignac in Verdacht.   Den gleichen Verdacht hatte auch Oscar, aber sie verzog streng ihr Gesicht. „Rosalie, ich bitte dich, deine Vermutungen für dich zu behalten!“, ermahnte sie die junge Frau und erklärte dem Grafen im wesentlich milderen Tonfall: „Sicher können wir uns zusammenreimen, wer dafür verantwortlich ist, aber wir haben keinerlei Beweise für unsere Vermutung.“   „Ich verstehe.“ Im Grunde genommen lag es nicht in seiner Hand, nach den Übeltätern zu suchen und sie zur Verantwortung zu ziehen. Dazu kamen die fehlenden Beweise, wie Oscar bereits erwähnt hatte. Also konnte er in diesem Falle auch nichts tun. Aber Hauptsache, er konnte Oscar noch rechtzeitig retten. Jetzt sollte sie sich lieber ausruhen und er würde irgendwann später zu ihr wiederkommen. „Ich werde Euch bestimmt noch einmal besuchen, auf Wiedersehen.“   Er wollte schon gehen? In Oscar stieg Bedauern und der Drang, ihn noch ein wenig aufzuhalten. „Von Fersen, hattet Ihr eigentlich nicht vor, der Königin einen Besuch abzustatten?“ Ihr war nichts Besseres eingefallen, als über die Königin zu fragen. Sie konnte ihm doch nichts über diese eigenartigen Gefühle sagen, die sie gerade zu ihm empfand...   „Ich werde vorerst für fünf oder sechs Tage verreisen und danach auf einem der Bälle Ihre Majestät sehen.“ Graf von Fersen merkte nichts von dem Durcheinander in ihrer Gefühlswelt. Er hatte mit seinen eigenen Gefühlen zu kämpfen, die allerdings einer anderen Frau galten. „Sagt, hat sich Marie Antoinette sehr verändert?“   Oscar glaubte seinen Schmerz und seine Sehnsucht nach der Frau, die er niemals lieben durfte, förmlich in sich selbst zu spüren. Er tat ihr sehr leid und neben dem pochenden Schmerz in ihrer Wunde an der Schulter, entstand ein Druck in ihrem Brustkorb. Nichtsdestotrotz versuchte sie zu lächeln, als sie dem Grafen die Königin beschrieb. „Nein, sie hat sich gar nicht geändert. Die einzige Veränderung, die man an ihr bemerkt, ist, dass sie immer hübscher wird. Sie strahlt in ihrer ganzen Pracht und in ihrer Würde...“ Oscar brach abrupt ab und spitzte aufmerksam ihre Ohren. Ihr Blick wanderte in Richtung des bogenförmigen Eingangs und ihr Herz schlug schneller. Graf von Fersen und Rosalie folgten ihrem Blick. Sie hörten Schritte im Salon und Oscars Mundwinkel zogen sich mehr nach oben, als ein vierjähriger Junge an der Seite von André das Schlafzimmer betrat. „Mama!“, rief der Kleine, ließ die Hand von André los und eilte freudestrahlend zu Oscar auf das Bett.   „Nein, François, warte!“ Rosalie griff rechtzeitig nach ihm und zog ihn zu sich. „Lady Oscar hat eine Verletzung und es tut ihr sehr weh!“   „Lass ihn doch.“ Oscar streckte ihren gesunden Arm nach ihrem Kind aus. „Wenn er vorsichtig ist, wird schon nichts passieren.“   „Ich bin vorsichtig!“ François krabbelte zu ihr aufs Bett und schmiegte sich an ihrer Seite unter dem gereichten Arm.   „Entschuldige, Oscar, ich musste ihn einfach mitnehmen. Sonnst hätte er keine Ruhe gegeben.“, sagte André, der gerade neben Rosalie anhielt.   „Das stimmt.“, bekräftigte Rosalie. „Seit wir zurück sind, ist er wach und wollte nur noch zu Euch. Ich musste mit ihm sogar solange um das Haus spazieren und ihn ablenken, bis Doktor Lasonne Euch untersucht hatte.“   „Ja, und als ich Doktor Lasonne zu der Kutsche geleitet hatte, ist er zu mir gerannt und hatte mir in die Ohren gelegen, dass er zu dir will.“, fügte André hinzu und Oscar streichelte dabei kaum merklich an dem kleinen Körper neben ihr.   „Meine Mama!“, schniefte François an den Kleidern seiner Mutter erschöpft und seine Augenlider wurden schwerer.   „Das ist also Euer Findelkind.“, schlussfolgerte Graf von Fersen, bei Betrachtung des Jungen. „Ich habe über ihn schon vor vier Jahren gehört, aber noch nicht zu Gesicht bekommen.“ Irgendwie hatte er das beklommene Gefühl, dass er fehl am Platz war. „Ich werde dann gehen. Ich wünsche Euch noch gute Besserung, Oscar.“   „Danke, Graf.“ Jetzt, wo sie ihren Sohn neben sich spürte und ihn in ihrem Arm hielt, hatte sie nicht mehr dieses Verlangen, Graf von Fersen länger aufhalten zu wollen. „Auf Wiedersehen.“, verabschiedete ihn Oscar und schaute zu Rosalie. „Kannst du Graf von Fersen bis zu seiner Kutsche geleiten?“   „Natürlich, Lady Oscar.“ Rosalie ging und Graf von Fersen folgte ihr.   Oscar wartete, bis sie mit André und dem Kleinen unter sich war. „War François wirklich so unruhig?“   „Ja, Oscar.“ André setzte sich zu ihr auf die Bettkante und strich dem Jungen an den hellbraunen Locken. „Seine ehemalige Amme sagte, er ist aufgewacht, als wir fortgefahren sind und dann durch das ganze Haus gerannt. Als er dich später bewusstlos und im Blut in meinen Armen gesehen hat, war er erst recht nicht mehr zu bändigen. Wie Rosalie schon sagte, musste sie mit ihm nach draußen gehen, damit Doktor Lasonne dich behandeln und verarzten konnte.“   „Der Arme.“ Oscar schaute auf ihren Sohn in ihrer Armbeuge herab. Er war eingeschlafen. Vier Jahre war er schon alt und entwickelte sich zu einem liebenswerten und hübschen Jungen. Vom Charakter her, war er wie sein Vater – ruhig, besonnen und hörig. Oscar und André liebten ihn mit jedem Tag mehr. Wie schade, dass François sie nicht als richtige Eltern sah. „Was meinst du, ob er das spürt, dass wir wirklich seine...“ Oscar ließ den Satz unvollendet.   André verstand sie trotzdem. „Ich weiß es nicht. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass er das tut.“   „Irgendwann, wenn er groß ist, wird er alles erfahren, das verspreche ich dir.“, schwor Oscar und bei Betrachtung ihres schlafenden Sohnes übermannte sie auch langsam die Müdigkeit.   „Ja, das wird er ganz bestimmt.“ André stimmte ihr zu und merkte, wie sie versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. „Soll ich ihn auf sein Zimmer bringen?“, fragte er, um ihr den nötigen Schlaf zu gönnen.   „Nein, lass ihn heute hier, bei mir schlafen.“ Oscar versuchte nicht nur ein Gähnen zu unterdrücken, sondern auch den Schmerz in ihrer Schulter, während sie sich langsam in die liegende Position brachte.   „In Ordnung.“ André half ihr sofort, sich hinzulegen und entfernte auch die Uniformjacke von ihren Schultern. François bewegte sich, aber wachte nicht auf. André küsste Oscar auf den Mund, bevor er ging. „Gute Nacht, Liebste.“   „Gute Nacht, Geliebter.“ Oscar schloss ihre Augen und obwohl ihre Wunde noch immer schmerzte, schlief sie ziemlich schnell ein.   Kurz nachdem André fort war, traf der General de Jarjayes auf sein Anwesen ein und suchte unverzüglich seine Tochter auf, aber Oscar schlief bereits. Er betrachtete sie und den Jungen im Schlaf. Beide hatten eine gewisse Ähnlichkeit miteinander und Reynier bekam nicht das erste Mal ein mulmiges Gefühl. So, als würde ihm etwas verheimlicht. Aber vielleicht bildete er sich das schon wieder ein. Hauptsache, Oscar war am Leben und nach ihrer Genesung würde sie wieder ihren Dienst antreten können. Somit konnte er getrost nach Versailles zurückkehren und die Majestäten über den besseren Zustand von Oscar unterrichten. Kapitel 24: Treulos ------------------- François schlug seine Äuglein auf, als ihn jemand berührte und sanft rüttelte. Er lag neben seiner Mutter – warm und behütet, aber derjenige, der ihn weckte, wollte anscheinend, dass er aufstand. Er blinzelte durch das helle Licht des Morgens und noch schlaftrunken drehte er sich auf die andere Seite um. Das alternde, runde Gesicht der Großmutter seines Ziehvaters zeigte Zufriedenheit. „Aufstehen François und wecke Lady Oscar nicht.“   Der Junge nickte stumm und legte ein Zeigefinger auf seine Lippen. Sophie schmunzelte. „Ja, hast recht, wir sollen leise sein. Komm, ich helfe dir.“ Sie schob vorsichtig die Decke und Oscars Arm von ihm weg, damit er mehr Platz hatte. François kletterte vom Bett herunter und achtete sorgsam darauf, seine Mutter nicht zu wecken. Sophie nahm ihn bei den Schultern und verließ mit ihm das Schlafzimmer. „Wir decken den Tisch zum Frühstück.“, flüsterte sie und der Junge nickte wieder, dass er sie verstand. Er stieg auf einen der Stühle am Tisch, blieb darauf knien und begann das Geschirr von dem Tablett abzustellen.   „Die Tasse und die Teller lass auf dem Tablett.“, sagte leise Sophie. „Lady Oscar wird heute im Bett frühstücken. Sie ist doch verletzt und darf deshalb nicht aufstehen.“   „Wie lange?“, fragte er kaum hörbar und stellte das Geschirr wieder auf das Tablett zurück.   Sophie bestrich gerade eine Brotscheibe mit Butter und dann mit Erdbeermarmelade. „Nun, solange Doktor Lassone sagt, dass sie wieder aufstehen darf. Aber bis dahin muss sie im Bett bleiben.“ Sophie legte die beschmierte Scheibe Brot auf den Teller und nahm die Teekanne. „Jetzt geh und wasch deine Hände und dein Gesicht. Du weißt, wo alles steht.“   Wortlos stieg der Junge vom Stuhl, ging zu der Kommode im Nebenzimmer und holte Tücher. Eine Schale und ein Krug, bereits gefüllt mit Wasser, standen darauf. Er goss das Wasser in die Schüssel und machte die Morgenwäsche, so wie es ihm beigebracht wurde. Im Salon ging die Tür auf und jemand betrat ihn. Schnell rieb er sich das Gesicht und die Hände trocken und kam zurück in den Salon. Madame de Jarjayes bemerkte ihn, noch bevor sie das Schlafzimmer ihrer Tochter erreichte. „Du bist schon hier?“   „Mama schläft.“, meinte François leise und ging zurück zum Tisch, wo die Hausherrin zum Stehen kam.   „Du bist schon wieder größer geworden.“ Emilie strich zu Begrüßung durch die hellbraunen Locken und schaute ins Schlafzimmer rein. Sophie half Oscar gerade beim Aufsitzen und stopfte ihr das Kissen hinter den Rücken. Emilie vergaß sogleich den Jungen und ging besorgt ans Bett ihrer Tochter. „Oscar, mein Liebling, wie geht es dir? Die Königin hat mich sofort beurlaubt, als wir über den Unfall erfuhren und hat mich nach Hause geschickt, damit ich mich um dich kümmern kann.“   „Danke, Mutter, mir geht es besser als gestern.“ Oscar sah sich um und runzelte die Stirn. „Wo ist François? Er war doch die ganze Nacht bei mir.“   „Hier, Mama!“, rief der Angesprochene aus dem Salon und alle richteten die Blicke zu ihm. Er saß kniend auf dem Stuhl, mit dem Rücken zum Tisch, hielt sich mit einer Hand an der Lehne und mit der anderen winkte er seiner Ziehmutter zu.   „Du kannst ruhig wieder reinkommen. Lady Oscar ist ja wieder wach.“, sagte Sophie, aber der Junge schüttelte mit dem Kopf. „Gespräch der Frauen.“, wandt er ein und alle mussten schmunzeln. „Welch ein anständiger und vornehmer, junger Mann!“, bemerkte Emilie dabei entzückt.   „Er lernt schnell, Madame.“ Sophie nahm den Teller vom Tablett, welches sie auf dem kleinen Tisch in der Nähe des Bettes abgestellt hatte, und hielt es vor Oscar.   „Danke.“ Oscar nahm die Scheibe Brot, die schon beschmiert mit Butter und Marmelade war und biss hinein. Das war ihr gewöhnliches Frühstück jeden Tag und sie wollte nie etwas anderes. Bis auf den Tee, den Sophie bereits in eine Tasse eingoss.   „Guten Morgen die Damen, Madame de Jarjayes.“ André tauchte an der Bogenöffnung zum Schlafzimmer auf und verneigte sich vor der Hausherrin.   „Endlich bist du aufgestanden!“, brummte sogleich Sophie, ging zu ihm und drückte ihm die Tasse mit Tee in die Hände. „Das ist eigentlich deine Aufgabe! Aber nein, muss ich immer alles erledigen, bis der Herr ausgeschlafen hat!“   „Verzeiht, Großmutter.“ André nahm den Unterteller mit der Tasse an sich und begab sich ans Bett. Oscar aß derweilen ihr Brot auf, ohne ihn anzusehen. André nahm ihre abweisende Haltung nicht zu Herzen. Sie machte das bestimmt wegen der Anwesenheit ihrer Mutter und seiner Großmutter.   „Du bist und bleibst ein Nichtsnutz!“, schimpfte seine Großmutter mürrisch hinter ihm.   „Was ist ein Nichtsnutz?“, fragte François aus dem Salon und begriff nicht, warum sie seinen Ziehvater so nannte.   „Ein Nichtsnutz ist der, der nichts macht und immer zu spät kommt.“, erklärte Sophie und ging zu ihm in den Salon.   „Aber Papa macht sich Sorgen um Mama und pflegt die Pferde.“, widersprach der Kleine und André mit Oscar mussten sich ein Grinsen verkneifen. François war ein richtiger Goldschatz, dass er sogar der meist so strengen Haushälterin das Herz einweichen konnte, ohne dabei etwas getan zu haben. Vielleicht lag es daran, weil er noch ein kleines Kind war.   „Ja, das stimmt schon, aber das ist etwas anderes.“ Sophie nahm eine andere Scheibe Brot aus dem Korb, der auf dem Tisch stand, legte eine Scheibe Käse darauf und gab es dem Jungen. „Hier, iss erst einmal etwas, damit du groß und stark wirst.“   Oscar beobachtete ihn die ganze Zeit, während sie nach dem Essen den Tee trank, den André ihr gereicht hatte und hörte mit halben Ohr zu, wie er ihrer Mutter die gestrigen Ereignisse erzählte. Unwillkürlich musste sie an Graf von Fersen denken und in ihrem Brustkorb entstand wieder dieser Druck wie gestern. Warum nur? Was empfand sie für den Grafen aus Schweden? Etwa das Gleiche wie Marie Antoinette? Aber wie war das möglich? Sie liebte doch André! Oder etwa nicht mehr? Oscar konnte diesen Gedanken kaum noch ertragen und schämte sich, dass sie solche Gefühle zu einem anderen Mann überhaupt zuließ. Und das auch noch in Anwesenheit von André! Wie niederträchtig und gemein! Oscar trank schnell ihren Tee aus und unterbrach ihn bei seiner Erzählung. „Du kannst die Tasse wegbringen, André, ich bin satt.“   André stellte die Tasse auf das Tablett zurück auf den kleinen Tisch. „Brauchst du noch etwas, Oscar?“ Das war eine Frage mit versteckter Botschaft, um noch einmal zu ihr zu kommen, wenn niemand mehr außer sie beide in ihrem Zimmer war.   Oscar hatte die versteckte Botschaft verstanden und hätte es mit Freuden angenommen, wenn ihre Gefühle wegen dem Grafen aus Schweden nicht gerade hin und her gerissen wären. „Nein, Danke, ich werde noch ein wenig schlafen.“, sagte sie deshalb und mied noch immer seinen Blick.   „Dann ruhe dich aus, mein Liebling.“ Emilie kam an das Bett und küsste Oscar auf die Stirn, bevor sie sie verließ. „André, du bringst mir Tee in meinen Salon und erzählst mir dort genauer, was gestern passiert war.“, ordnete sie an und ging.   „Jawohl, Madame.“ André nahm das Tablett vom Tisch und schaute kurz zu Oscar. „Ich sage Bescheid, wenn Doktor Lasonne da ist.“ Er schaffte das Tablett in die Küche, ein Dienstmädchen bereitete den Tee zu und André brachte es in den Salon von Madame de Jarjayes, mit einem mulmigen Gefühl, dass mit seiner Oscar etwas nicht stimmte.   In den Gemächern von Oscar half Sophie ihrem Schützling sich wieder hinzulegen und räumte im Salon den Tisch ab. François nutzte das aus und kam noch einmal zu seiner Ziehmutter ans Bett. „Bis später, Mama.“   „Bis später.“ Oscar verabschiedete ihn und als sie alleine blieb, konnte sie ihre Tränen kaum zurückhalten. Nicht nur, weil sie den Jungen nicht als ihren Sohn bezeichnen durfte, sondern wegen André. Seit sie gestern von Fersen wiedergesehen hatte, bekam sie eigenartige Gefühle zu ihm, die sie nicht deuten konnte und das machte ihr zu schaffen. Sie hoffte sehr, dass es nur die Schwäche wegen ihrer Verletzung war und wenn sie wieder gesund sein würde, dann würde alles wieder beim Alten sein. Das war eine törichte Hoffnung...   Oscar verfluchte sich mit jedem Tag mehr dafür, dass sie neben ihrem geliebten André, auch zu einem anderen Mann etwas empfand. Sie wusste zwar nicht, was genau das war, aber sie fühlte sich wie eine gemeine Verräterin gegenüber den zwei Menschen, die sie eigentlich am meisten liebte.   Die Hoffnung, die sie vor zwei Wochen gehegt hatte, war zerplatzt, sobald sie ihren Dienst in Versailles wieder antrat und Graf von Fersen dort antraf. Er wollte auf Wunsch seines Vaters heiraten und hatte das auch der Königin gesagt. Oscar hatte Tränen in den Augen ihrer Majestät bemerkt und stellte von Fersen wenig später zu Rede. „Wieso habt Ihr der Königin davon erzählt?!“, verlangte sie von ihm zu wissen, aber bekam keine Antwort. Sie wurde ungeduldig und gereizt. „Ich habe Euch etwas gefragt, antwortet!“   „Hätte ich ihr denn sagen sollen, dass ich sie liebe? Ihr habt offenbar vergessen, dass sie die Frau des Königs von Frankreich ist.“, schleuderte Graf von Fersen verzweifelt ihr ins Gesicht und schämte sich gleich darauf für seinen Ausbruch. „Ich verstehe mich selbst nicht, wie ich es wagen kann, solche Gefühle für die Königin zu empfinden. Das war der eigentliche Grund, warum ich es ihr vorhin gesagt habe. Ich hatte einfach keine andere Wahl, um endlich wieder klar denken zu können, um mich endlich von Marie Antoinette lösen zu können.“   Seine so offenherzigen Worte bezüglich der Frau, die er niemals lieben durfte, hatten Oscar zu tiefst berührt. Den restlichen Tag dachte sie nur an dieses kurze Gespräch und es zerriss ihr die Seele - so sehr, dass sie Zuhause alleine sein wollen. Zum Glück war François schon im Bett, als sie auf das Anwesen de Jarjayes ankamen, und André musste noch die Pferde von der Kutsche lösen und sie versorgen. Weil sie noch ihren rechten Arm in der Schlinge trug, durfte und konnte sie nicht reiten. Aber sobald der Verband entfernt sein würde, würde sie das tun. Am besten wollte sie weit fortreiten: von hier und von ihren Gefühlen!   Oscar schenkte sich ein Glas Wein in ihrem Schlafzimmer ein und nahm einen großen Schluck. Die Stichwunde an der Schulter war so gut wie verheilt, aber nicht die Wunde, die in ihrem Herzen entstand.   Sie setzte das Glas von ihren Lippen ab und stellte es auf den Tisch. In der roten Flüssigkeit bildete sie sich ein, Graf von Fersen und Marie Antoinette in einer tiefen Umarmung zu sehen. „Was könnten die beiden nur für ein wunderbares Paar abgeben, wenn es ihnen erlaubt wäre, sich zu lieben.“ Dann war die Einbildung weg und sie sah sich selbst in dem Wein. „Aber was ist mit mir nur auf einmal los?“ Sie stand vom Stuhl auf, ging zu ihrem Bett und fiel rücklings auf die Matratze.   Im Salon ging die Tür auf und Oscar saß auf. Schuldgefühle und Gewissensbisse stiegen in ihr hoch, als André zu ihr kam und sich neben sie hinsetzte. „Ich habe alles erledigt. Jetzt kann ich noch ein wenig bei dir bleiben.“   Ja, das wäre schön, aber... „Ich sagte doch, ich will heute alleine sein.“, sagte sie ein wenig schroff und das tat ihr selbst weh.   „Wie du willst.“ Zärtlich legte André ihr seine Hand auf die Wange und wollte ihr ein Kuss schenken, als Oscar ihr Gesicht abwandte und ihren Blick senkte. André stutze, denn sie hatte das noch nie getan. „Was ist los mit dir?“   „Nichts. Meine Schulter schmerzt noch.“, log sie und fühlte sich miserabler als vorhin.   „Verstehe.“ André erhob sich. Ihm kam es so vor, als verheimliche sie etwas vor ihm. „Dann komme ich morgen vorbei. Schlaf schön… Liebes.“   „Danke. Schlaf du auch schön… Geliebter.“ Oscar sah ihn gehen und dabei schrie ihr Herz, sie sollte ihn zurückholen. Er sollte sie in seine starken Arme nehmen und nie mehr loslassen! Warum dann aber hatte sie ihn gerade gehen lassen? Oscar verstand sich selbst nicht mehr und fiel erneut rücklings in die Matratze. Sie bedeckte ihr Gesicht mit der Hand und konnte sich kaum noch ertragen. Sie war nicht nur eine Rabenmutter, sondern auch eine treulose Geliebte. Kapitel 25: Vorahnung --------------------- Oscar dachte, er würde nichts merken, aber sie täuschte sich. André hatte schon an dem Abend bemerkt, dass mit ihr etwas nicht stimmte, als sie sich seines Kusses entzog. Am nächsten Tag mied sie gar seinen Blick und er glaubte langsam nicht mehr daran, dass es an der Wunde an ihrem Schulterblatt lag. Aber er fragte nicht nach. Wozu? Sie würde sowieso nichts sagen und höchstwahrscheinlich wegen seiner Hartnäckigkeit noch wütend werden. André seufzte wehmütig, nahm einen Apfel aus dem Eimer und gab ihn seinem Pferd.   „Jetzt ich! Ich will auch!“ François, der ihm heute auf Schritt und Tritt verfolgte, nahm auch einen Apfel aus dem Eimer und schaute erwartungsvoll seinen Vater an.   „Ja, jetzt du.“ André lächelte verstellt und nahm den Jungen am Handgelenk. „Merke dir, niemals den Apfel festhalten, wenn du ihn dem Pferd gibst, sonst kann er in deine Hand beißen.“   Das würde dann sicherlich auch weh tun, verstand François. „Wie dann?“   André öffnete seine Finger, mit denen er Apfel hielt. „Auf der offener Handfläche.“ Er führte die Hand seines Sohnes näher an das Pferd und das Tier schnappte nach der Frucht, ohne die Finger des Jungen oder gar seine ganze Hand zu berühren. Seine weichen Lippen kitzelten nur kaum merklich an der Haut und François kicherte. Er war begeistert und rannte wieder zu dem Eimer. „Noch mal?“, fragte er seinen Ziehvater mit einem Strahlen im Gesicht.   „Nein, wir gehen in den Garten. Ich will dir etwas zeigen.“ André ging mit ihm aus dem Stall, passierte den Hof und sah einen Reiter, der von einem grauen Pferd abstieg. Die Stallburschen führten das Pferd weg und der Reiter wurde sichtbarer.   „Onkel Victor!“, rief der Junge und winkte dem Mann zu. Er mochte seinen Patenonkel. Onkel Victor, wie er ihn gerne nannte, war stets freundlich zu ihm.   „Was für eine fröhliche Begrüßung. Schön dich zu sehen, junger Mann.“ Girodel strich ihm durch das Haar und bei dem Blick in dessen grünblauen Augen, musste er schmunzeln. François war ein liebenswerter Junge und je älter er wurde, desto mehr ähnelte er André. Es war bemerkenswert, dass niemand noch die Frage gestellt hatte, warum das so war. Aber was ging das ihn an? Er kam hierher nicht wegen André. „Wie geht es Lady Oscar?“, wollte er wissen und schaute zu dem jungen Mann.   André sagte nichts, aber François dagegen schon. „Mama ist sehr traurig.“, meinte er wahrheitsgemäß und verzog betrübt sein Gesicht. So, als ahme er seine Ziehmutter wirklich nach.   Girodel zog stutzig seine Augenbrauen zusammen. Ging es Lady Oscar etwa nicht mehr gut? Weswegen war sie denn traurig? „Ist etwas passiert?“   „Nicht das ich wüsste, Graf.“ André wurde es unbehaglich. Graf de Girodel war zwar ein treuer Untergebener von Oscar und hütete ein strenges Geheimnis, aber er war immer zu neugierig, was Oscar betraf. André erinnerte sich noch genau an das Gespräch zwischen ihm und dem Grafen vor vier Jahren, kurz bevor sich Oscar mit Herzog de Germain duelliert hatte. Graf de Girodel wollte damals Oscar heiraten, falls André sich zwischen den Duellanten werfen und sterben würde. Diese Aussage hatte damals André sehr getroffen und eifersüchtig gemacht. Jetzt war das eine ganz andere Situation. Oscar befand sich nicht in Gefahr, aber sie hatte sich seit dem Attentat und seit Graf von Fersen sie gerettet hatte, sehr verändert. André hatte das Gefühl, als ob sie seine Nähe nicht mehr ertragen konnte. In Versailles war sie oft mit Graf von Fersen unterwegs und hier auf dem elterlichen Anwesen verschloss sie sich auf ihrem Zimmer. André schmerzte ihr Verhalten sehr und trieb nicht nur Eifersucht in ihm, sondern ließ sein Herz qualvoll verbluten. Aber das ging Graf de Girodel nichts an und deshalb fügte er noch hinzu: „Oscar will nur nicht gestört werden.“   „Schade. Ich wollte sie gerade besuchen.“ Graf de Girodel bekam das Gefühl, dass André ihm etwas verschwieg.   „Gibt es wichtige Neuigkeiten aus Versailles?“, fragte André und hoffte sehr, dass Giodel bald gehen würde. Es war ihm schon schwer genug ums Herz wegen Oscar und Graf de Girodel machte es ihm auch nicht gerade leicht – er bescherte ihm mit seiner Anwesenheit und Fragerei noch mehr Unbehagen.   „Nein, es gibt nichts Neues..“, erwiderte Girodel. „Ich wollte nur mit Lady Oscar plaudern und vielleicht mit ihr eine Tasse Tee oder Glas Wein trinken.“ Und vielleicht unterschwellig herausfinden, was eigentlich mit ihr los war. In Versailles hatte er nichts Auffälliges bei ihr beobachten können, aber sie war schon immer eine Meisterin darin, ihre Gefühle gekonnt zu verstecken und nach außen eine Maske der Hartherzigkeit zu tragen. Hier, in ihrem Zuhause, brauchte sie das allerdings nicht tun, denn sonst würde François nichts darüber äußern und auch kein trübes Gesicht ziehen. Und was hatte André gerade gesagt? Sie verschloss sich auf ihrem Zimmer und wollte alleine sein? Das passte auch nicht zu Lady Oscar. Soweit Victor es bei seinen früheren Besuchen mitbekommen hatte, war Lady Oscar stets in Gesellschaft von André und François zu sehen. Etwas musste ganz bestimmt vorgefallen sein und er würde solange nicht gehen, bis er es herausgefunden hatte!   Oscar derweilen war nicht mehr auf ihrem Zimmer. Noch vor der Ankunft ihres Untergebenen aus der königlichen Garde hatte sie sich auf den Turm des Anwesens zurückgezogen und beobachtete desinteressiert, was unten alles vor sich ging. Irgendwann sah sie André, Graf de Girodel und François den Hof passieren und in ihrem Herzen stach es wieder schmerzlich. „Vergib mir, mein André… Ich liebe dich, aber ich muss herausfinden, was für Gefühle das sind, die ich zu Graf von Fersen empfinde… Deshalb kann ich nicht in deiner Nähe sein und deine Liebe genießen… Es tut mir leid, aber das ist besser für uns...“, dachte sie dabei verbittert und konnte sich selbst kaum noch ertragen. Mit halbem Ohr nahm sie wahr, wie jemand zu ihr auf den Turm kam, aber drehte sich nicht um. Sie ahnte, wer das sein könnte und hörte schon Rosalies Stimme: „Lady Oscar, Graf de Girodel ist...“   „Ich weiß, ich habe ihn gesehen.“ Oscar ließ die junge Frau erst gar nicht zu Ende sprechen und hörte schon die nächste Worte von ihr: „Soll ich ihn...“ Aber auch da unterbrach Oscar sie: „Wenn das wichtig ist, ja. Wenn nicht, dann sag ihm, dass mir heute unpässlich ist und dass wir uns in Versailles sehen.“   Rosalie wunderte sich, aber ging und teilte dem Grafen mit, was Lady Oscar zu ihm gesagt hatte. Girodel schmunzelte, obwohl ihm gar nicht danach war und noch mehr den Drang verspürte, etwas über das seltsame Verhalten von Lady Oscar herauszufinden. „Dann werde ich sie nicht weiter stören und bleibe noch etwas bei meinem Patenkind.“ Irgendwann würde sie vielleicht doch herauskommen und ihn in ihr Salon auf eine Tasse Tee oder Glas Wein einladen. „Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang im Garten?“, schlug Victor vor und François nickte zustimmend.   André passte das nicht, aber wegen François stimmte er auch zu und zeigte dem Grafen den Garten. Wenn dieser Spaziergang seinen Sohn glücklich machte, dann sollte er es auch bekommen. Unter einer alten Eiche blieben sie zu dritt stehen und André erzählte über einen Schatz, den er hier mit Oscar einstmalig vergraben hatte. Bis alle drei nahende Schritte vernahmen und François übers ganze Gesicht erstrahlte. „Mama!“, rief er und winkte ihr zu.   Oscar lächelte, aber wurde sogleich ernst. „Graf de Girodel, welch eine Überraschung. Rosalie sagte mir, dass Ihr in den Garten gegangen seid, zusammen mit André und unserem Kleinen.“   „Verzeiht, Lady Oscar, ich wollte Euch mit meinem Besuch keineswegs stören.“ Victor musterte sie unterschwellig und machte dabei eine Entdeckung, die ihm bisher nicht aufgefallen war: Lady Oscar schaute nur ihn an und hatte kein einziges Mal André beachtet – als wäre er nur Luft für sie und stünde gar nicht vor ihr. „Ich wollte nachsehen, wie es Euch geht. In Versailles hatte ich keine Möglichkeit dazu.“, beendete er seinen Satz wie eine Berichterstattung und Oscar äußerte sich gleich nach ihm. „Mir geht es gut, Graf. Ich bin in zwei Tagen wieder am Hofe und dann könnt Ihr mir genauere Details erstatten.“   „Wie Ihr es wünscht, Kommandant.“   „Dann ist es geklärt. Ich wünsche Euch noch einen schönen Nachmittag.“ Oscar, bevor sie wieder ins Haus ging, schenkte François ein Lächeln. „Ich werde jetzt Klavier spielen. Willst du mir Gesellschaft leisten?“   „Ja, Mama!“   „Dann komm mit.“ Oscar, obwohl ihr Herz schmerzte und sie sich selbst kaum ertragen konnte, mied es weiterhin André anzusehen und ging mit François wieder ins Haus.   „Weißt du, André, mit Lady Oscar stimmt in der Tat etwas nicht.“, sagte Girodel direkt. Er hatte genug gesehen und weil er jetzt mit André alleine geblieben war, konnte er genau so gut von ihm herausfinden, warum Lady Oscar sich so merkwürdig verhielt. „Habt Ihr Euch gestritten?“   Gestritten war nicht einmal das richtige Wort. Es war einfach so geschehen, Oscar nahm immer mehr Distanz zu ihm und André wusste keinen Zugang mehr zu ihr. „Wie meint Ihr das, Graf?“, fragte André ausweichend.   „Du und Lady Oscar könnt vielleicht euren Jungen und die anderen täuschen, aber nicht mich.“ Girodel sah zu ihm. „Noch vor dem Attentat auf Lady Oscar habt ihr heimlich Liebesblicke ausgetauscht, die niemand außer mir gesehen hatte, und jetzt würdigte sie dich keines Blickes.“   „Nun ja, es soll nicht auffallen, dass wir...“, versuchte André sich rauszureden, aber Girodel glaubte ihm nicht. „Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber Lady Oscar hat sich verändert und das gefällt mir ganz und gar nicht. Es sieht danach aus, als würde sie Gefühle für einen anderen Mann haben. Womöglich deswegen sieht sie dich nicht an und will alleine sein. Ich werde sie in Versailles unterschwellig beobachten und empfehle dir das gleiche zu tun, wenn du deine Liebe noch retten willst.“ Girodel verabschiedete sich. „Wir sehen uns bestimmt noch.“   André blieb im Garten unter der Eiche und ihm kam es so vor, als wäre sein Herz mit einem unsichtbaren Messer durchgeschnitten. Er wollte es nicht glauben, aber Graf de Girodel konnte womöglich recht haben: Oscar verlor ihr Herz an einen anderen Mann und André ahnte, wer das sein könnte. Kapitel 26: Schlechter Traum ---------------------------- Frühling 1780   Gewitter, Regen und viel Schlamm. Das erste Frühjahrsgewitter hinterließ Unmengen von Pfützen und manchenorts brachen sogar die Flüsse aus den Ufern. Der ganze Bauernhof stand im Wasser und es schien kein durchkommen zu geben. Aber er musste zu den Stallungen, um Pferdeäpfel für den Heizofen für die Stube zu sammeln. Sonst würde er kein Essen bekommen. Das sagten die Menschen, bei denen er arbeitete. Eltern hatte er keine und niemand erzählte ihm etwas von ihnen. Er existierte nur, weil die Frau, bei der er wohnte, ihn aus Barmherzigkeit bei sich aufgenommen hatte. Jemand kam in den Stall, band ein Pferd ab und führte es nach draußen, ohne ihn zu beachten. Das war ein Gast, ein Reisender – wie jeder andere, die hier auf ihrer Durchreise für eine Mahlzeit und einen Krug Bier oder um das schlechte Wetter abzuwarten, einkehrten. Wie gerne wäre er jetzt mit diesem Reisenden auf dem Pferd fortgeritten und hätte den Wind der Freiheit gespürt, aber das konnte und durfte er nicht. Er musste mit seiner Aufgabe fertig werden, solange es noch Tag und die Gaststube nicht allzu voll mit Gästen gefüllt war. Der Reisende von vorhin stieg draußen auf sein Pferd auf und ritt davon. Er ließ den Holzeimer mit den Pferdeäpfeln stehen und kam nach draußen, um dem Reiter betrübt nachzusehen. Der Regen hatte aufgehört und das Gewitter verzog sich langsam. Die großen Pfützen blieben aber und spiegelten seinen mageren Körperbau als eine hässliche Figur in zerrissenen, abgetragenen und mehrfach geflickten Hose und Hemd. Missgeburt nannten ihn die Dorfbewohner, weil er seit seiner Geburt nicht sterben wollte. Er senkte seinen Blick und spürte sogleich jemanden hinter sich. Zwei halbwüchsige Dorfkinder hatten ihn eingekreist und bevor er sich versah, wurde er von beiden Seiten grob gepackt und heftig gestoßen. Die Buben lachten, als er in die schlammige Pfütze landete und traten nach ihm. Es machte ihnen Spaß, ihn zu hänseln, aber das war das erste Mal, das sie ihn derart schlugen. Er konnte sich nicht wehren – er gehörte doch zu niemanden, er war ganz allein und einsam. Erst als ein breitschultrige Mann aus dem Gasthof rauskam und heftig schimpfte, ließen die Burschen von ihm ab und rannten davon. Er blieb jedoch reglos liegen und konnte sich kaum bewegen. Blut tropfte ihm aus der Nase, als er auf die Arme gehoben und in das Haus getragen wurde… Und das Blut war so rot wie das Tuch, das der Mann um seinen Hals trug...   François schrie vor Schmerzen wie am Spieß und rief verstört nach seinen Eltern. Das war das erste Mal, dass er so einen bösen Traum hatte und er die Schmerzen von den Schlägen und Fußtritten spürte, als wäre es Wirklichkeit. So ähnlich wie damals, als er acht Monate alt war. Und das alles, weil er bei dem schlechten Wetter schläfrig wurde und seine Zieheltern ihm aus diesem Grund einen kleinen Mittagsschlaf gegönnt hatten. Aber wo waren sie jetzt? Warum kamen sie nicht? Sie konnten nicht in Versailles sein, nicht jetzt, wo er sie doch so sehr brauchte! „Mama! Papa!“   Wie aufs Stichwort wurde die Tür aufgerissen. André kam als erster in sein Zimmer gestürmt und bekam einen Schreck: Da saß sein Sohn auf dem Bett, weinte bitterlich und blutete aus der Nase. „Papa!“, rief François verzweifelt und streckte schon nach ihm seine Arme aus. Kaum dass sein Ziehvater ihn erreichte, klammerte er sich an ihn und schluchzte ununterbrochen in sein Hemd. „Es tut weh!“   So aufgelöst und ängstlich hatte André sein Kind noch nie erlebt. „Wo tut es dir weh? Was hast du?“ André schob François Kopf von sich, um das Blut mit dem Ärmel seines Hemdes wegzuwischen.   „Es tut überall weh, Papa...“ Der Junge ließ die Behandlung zu, aber klammerte sich weiterhin an ihn. In diesem für ihn verstörten Moment, war es ihm gar nicht bewusst, dass er aus der Nase geblutet hatte.   An der breit geöffneten Tür zeigten sich derweilen Sophie, Rosalie und andere Bedienstete, die ebenso fassungslos und erschrocken von dem Bild des weinenden und aufgelösten François waren. Noch erschreckender aber war das Blut, das André gerade bei ihm wegwischte. Der Junge brauchte unbedingt einen Arzt! „Holt Doktor Lasonne, sofort!“, befahl jemand hinter dem Rücken der Herumstehenden und stürmte sogleich ins Zimmer rein. „Was hat er?“   „Ich weiß es nicht.“, erklärte André, ohne denjenigen anzusehen. Schon alleine ihre Gegenwart verursachte in ihm schmerzliche Stiche. Jedoch war jetzt kein richtiger Zeitpunkt, an zerrissene Gefühle, zerstörte Liebe und ein leidendes Herz zu denken. François brauchte sie jetzt mehr als jemals zuvor. „Er sagt, es tut ihm alles weh. Aber bis auf das Nasenbluten habe ich nichts weiter entdeckt - keine Verletzungen, keine Kratzer oder blaue Flecken.“   „Mama!“ François entriss sich von seinem Ziehvater und klammerte sich an seine Ziehmutter, kaum dass sie sich auf das Bett zu ihm hinsetzte. „Ich habe schlecht geträumt.“   „Was hast du geträumt?“ Oscar nahm ihn auf ihren Schoß und legte tröstend ihre Arme um ihn. Dabei versuchte sie die Nähe von André auszublenden. Das schmerzte ihr selbst sehr, aber es war besser so für sie beide. Und zudem noch ging es in dem Moment nicht um sie und jegliche Gefühle zueinander, sondern um François.   „Ich habe von viel Regen und zwei großen Jungen geträumt.“, erzählte François und schluchzte dabei zwischendurch. „Sie haben mich geschlagen und mir weh getan...“   „Das war nur ein Traum, dir wird hier niemand weh tun.“, sagte André und Oscar bekräftigte es. „Ganz genau, bei uns bist du in Sicherheit.“   „Und wenn sie wiederkommen?“, murmelte François in Oscars Hemd und schmiegte sich schutzsuchend an sie.   „Ach, Junge, das war nur ein Traum.“, sprach Sophie, die näher kam und am Bett stehen blieb. „Was hältst du davon, wenn wir dir eine heiße Schokolade machen?“   „Eine gute Idee.“ Rosalie, die im Gegensatz zu der Haushälterin noch an der Tür stand, drehte sich um und machte sich sogleich auf den Weg. „Ich gehe schon mal in die Küche und bereite sofort die heiße Schokolade zu.“   Oscar bemerkte die anderen Bediensteten an der Tür und wies sie sogleich an. „Ihr könnt wieder zu eurer Arbeit zurückkehren, François hat sich beruhigt.“   Die Bediensteten, bis auf Sophie, gehorchten und verließen das Zimmer. Rosalie kam etwas später mit heißer Schokolade und während der Junge trank, erschien auch der Doktor. Er untersuchte ihn, aber konnte nichts finden. „Der Junge ist gesund.“, teilte er den Anwesenden mit.   „Aber er hat aus der Nase geblutet.“, wandte André verständnislos ein.   „Und ihm tut alles weh, hat er gesagt.“, meinte dazu Oscar.   „Das ist fast wie damals, als er ganz klein war und nicht reden konnte.“, erinnerte sich Sophie an die Zeit, als François acht Monate alt war und grundlos den ganzen Abend geweint hatte.   „Es tut mir nichts mehr weh.“, widersprach der Kleine und alle sahen ihn überrascht an.   Doktor Lasonne schmunzelte. „Seht Ihr, ihm fehlt nichts. Ich vermute, das hängt mit dem bösen Traum und dem schlechten Wetter zusammen. Die Schmerzen kamen ihm nur so vor, ohne dass er sie richtig spürte. Kleine Kinder können das nicht so richtig einschätzen und einen Traum von der Realität auseinanderhalten.“   „Was ist aber mit dem Nasenbluten?“, wand André erneut ein und der Arzt erklärte: „Womöglich hatte er sich während des Schlafens unbewusst gestoßen, das kann schon passieren. Ich würde mir da keine so großen Sorgen machen.“ Doktor Lasonne packte seine Medizinsachen ein. „Ich werde mich verabschieden.“   „Danke, dass Ihr so schnell kommen konntet.“, verabschiedete ihn Oscar und André geleitete ihn hinaus. Als er zurückkam, waren Rosalie und seine Großmutter schon fort. Nur Oscar saß noch immer auf der Kante des Bettes und als er reinkam, stand sie auf und bewegte ihre Füße in seine Richtung, aber schaute an ihm vorbei. „François wird heute bei mir bleiben. Rosalie bringt ihn gerade in mein Zimmer und Sophie bereitet ihm noch mehr heiße Schokolade zu. Ich habe nur auf dich gewartet, um es dir zu sagen.“ Sie ging an ihm vorbei und als sie das Zimmer verlassen hatte, beschleunigte sie ihren Schritt.   André schmerzte das Herz. Seit dem Attentat im August letzten Jahres auf sie, schien sich eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen aufzubauen. Und das alles wegen dem Grafen aus Schweden. Auch Oscar riss sich das Herz entzwei und sie hasste sich dafür, was sie André antat. Kapitel 27: Zu lieben und geliebt zu werden ------------------------------------------- Am nächsten Tag schien wieder die Sonne. Kaum zu glauben, dass es gestern so viel geregnet hatte. François hatte bereits den schlechten Traum vergessen und beobachtete mit seinem Ziehvater am Brunnen im Garten, wie seine Ziehmutter mit einem Grafen focht. Das war nicht sein Patenonkel, Graf de Girodel, sondern ein anderer, dessen Namen er sich nicht merken konnte. Das lag daran, weil dieser Graf hauptsächlich seine Ziehmutter besuchte und wenn er da war, beliebte sie meistens alleine mit ihm zu bleiben. Sein Ziehvater blieb entweder in der Nähe oder ging traurig in den Stall und kümmerte sich um die Pferde. François hatte immer das Gefühl, dass dieser Graf der Auslöser war, warum sein Ziehvater traurig aussah und seine Ziehmutter ihn deshalb mied. Jedoch war es jedes Mal faszinierend zuzusehen, wie sie den Degen führten und sich gegenseitig mit geschickten Hieben abwehrten. Irgendwann einmal würde er genauso fechten können!   Im Gegensatz zu seinem Sohn, betrachtete André das Fechten zwischen Oscar und Graf von Fersen mit besorgten Blicken. Er saß neben François am Rand des Brunnen und aß gedankenverloren einen Apfel. Eifersucht war nur der geringe Anteil von dem, was er noch zusätzlich empfand. Oscar schien sich ganz von ihm abgewendet zu haben und nur ihr gemeinsamer Sohn hielt sie in seiner Nähe. Das war mehr als qualvoll zu ertragen, aber was konnte er schon dagegen tun? Oscar, seine noch immer über alles geliebte Oscar, hatte bereits ihr Herz an den schwedischen Grafen verloren und er konnte das nicht verhindern. Aber warum sagte sie ihm das nicht ins Gesicht, dass sie ihn nicht mehr liebte? Aus Angst, ihm weh zu tun? Aber das tat sie doch schon bereits mit ihrem Schweigen, ihrer abweisenden Haltung und Distanzierung!   Graf von Fersen war heute erneut nach dem heimlichen Treffen mit Marie Antoinette zu ihr gekommen, um sich abzulenken und nicht mehr an die verbotene Liebe zu der Königin zu denken. Das wusste Oscar und gaukelte dem Grafen eine verständnisvolle Freundin vor. Von Fersen dagegen ahnte nichts von ihren Gefühlen zu ihm und vertraute ihr all seinen Kummer und Sorgen an. Was würde wohl passieren, wenn er davon erführe? Würde er Oscars Gefühle erwidern und würde sie dann mit ihm zusammen sein? Oder würde er Oscar nie mehr besuchen?   Egal was passieren würde, Oscar würde den letzten Tropfen der Hoffnung und Liebe zu ihrem einst geliebten André vernichten. Und was würde dann aus François? Es war ein Wunder, dass der Junge nichts mitbekam, was zwischen seinen Eltern passierte. Nun ja, er betrachtete sie als seine Zieheltern und vielleicht war das auch der Grund für seine Unbekümmertheit und Sorglosigkeit. Bis auf diesen bösen Traum und Nasenbluten von gestern, aber das hatte er gut überwunden und vergessen.   André hörte Schritte hinter sich, aber schaute nicht hin. Er wollte kein einziges Detail beim Fechten zwischen Oscar und Graf von Fersen auslassen. Rosalie blieb am Brunnen stehen und wartete, bis Lady Oscar sie bemerkte. Diese hörte sogleich mit dem Fechten auf und kam zu ihr.   „Lady Oscar, der Tee ist angerichtet.“, teilte Rosalie ihr mit.   „Danke Rosalie.“ Oscar schaute direkt von ihr zu dem Jungen. „Du kannst mit ihr gehen.“   François gefiel das nicht so recht, aber er folgte Rosalie wortlos. Wenn seine Mutter ihn fortschickte, dann würde es ein wichtiges Gespräch mit diesem Grafen geben, wo er nicht dabei sein durfte.       In dem großen Treppenhaus, unweit von der Treppe, saß Oscar am Tisch und beobachtete Graf von Fersen, der am Fenster stand und ihr die Gründe seines Besuches erklärte. „Ich wollte nichts Besonderes. Eigentlich nur mit Euch sprechen und mit Euch ein wenig fechten, um in Übung zu bleiben.“, beendete der Graf und schaute zu André, der auf der Treppe saß und wieder einen Apfel aß. „Hey, André, habt Ihr mir nicht gesagt, Ihr könnt mir einen billigen Gasthof in Paris empfehlen?“   André schüttelte nur mit dem Kopf und deutete damit an, dass sein Mund zu voll war, um etwas empfehlen zu können. Oscar war da aber gesprächiger. „Graf von Fersen, wieso wollt Ihr nicht zum Essen bleiben? Ich habe bereits alles herrichten lassen.“   Das ein wenig distanzierte Verhalten zwischen Oscar und André fiel dem Grafen schon auf, aber er machte sich keine Gedanken darüber. „Tut mir leid, Oscar, ein anderes Mal vielleicht.“, lehnte er die Einladung ab und verabschiedete sich. Dann würde er selber nach einem billigen Gasthof suchen und seinen Liebeskummer mit einem oder zwei Krüge Bier ertränken.   Als Oscar mit André alleine blieb, stand sie von ihrem Stuhl auf und ging ans Fenster, um zu sehen, wie Graf von Fersen fortritt. Wie lange würde das noch gehen? Wann würde sie endlich die Antworten auf ihre seltsamen Gefühle zu Graf von Fersen finden? Sie hörte, wie André an den Tisch kam und womöglich sich auf ihren Platz hinsetzte. „Es wird nicht lange dauern, bis unser Graf aus gewissem Gasthof rausgeworfen wird, falls er wirklich vor hat, dort einzukehren.“, begann er, als er tatsächlich den Platz am Tisch nahm, wo Oscar zuvor gesessen hatte. „In Paris kursieren Gerüchte, dass die Königin und ihr schwedischer Liebhaber sich jede Nacht treffen. So ergibt ein Gerücht das andere, bis jeder daran glaubt. Hast du gesehen, wie der Graf gelitten hat? In so einem Zustand hat ihn noch niemand gesehen. Wenn ihm die Liebe so schmerzt, weshalb lässt er sich überhaupt darauf ein? Zu lieben und geliebt zu werden, das sind doch zwei völlig verschiedene Dinge.“   Warum sagte er ihr das? Als hätte sie nicht schon schwer genug mit sich selbst zu tun. „Nein, das stimmt nicht.“, unterbrach Oscar ihn und drehte sich zu ihm um. Nur flüchtig sah sie ihn an, dann senkte sie ihren Blick zur Seite und verschränkte ihre Arme vor sich. Das, was er gerade gesagt hatte, konnte in dem Fall des Grafen stimmen, aber nicht in ihrem. Denn sie liebte André genauso wie er sie und wurde von ihm genauso geliebt wie er von ihr. Nur aber musste sie diese verdammten und hartnäckigen Gefühle loswerden, die sie zu dem Grafen empfand! Aber nur wie? Und was waren das überhaupt für Gefühle? Sie musste das unbedingt herausfinden, sonst konnte sie André ihre Liebe nicht geben, die er verdiente!   Rosalie kam erneut zu ihnen. „Verzeiht, Lady Oscar, aber Graf de Girodel wünscht Euch zu sprechen.“, teilte sie mit und sogleich trat Girodel in Erscheinung. „Seid gegrüßt, Kommandant.“   „Was ist passiert?“, wollte Oscar nach der Begrüßung wissen.   Graf de Girodel überbrachte strammstehend sein Anliegen wie eine Berichtserstattung. „Ihre Majestät, die Königin, wünscht Euch zu sprechen, Lady Oscar.“   Oscar entriss sich unverzüglich von dem Fenster und bewegte schnell ihre Füße. „Ich komme sofort, ich ziehe nur noch meine Uniform an.“   „Als ich auf dem Weg zu euch war, begegnete mir Graf von Fersen und er sah mir genauso niedergeschlagen aus, wie Lady Oscar.“, sagte Girodel und entspannte seine Haltung, nachdem Oscar im oberen Stockwerk verschwunden war. „Ich lasse die Königin wissen, dass Lady Oscar nachkommt.“, verabschiedete er sich und Rosalie geleitete ihn nach draußen zu seinem Pferd. Ein Stalljunge hielt es bei den Zügeln und François wagte das Tier mit großen, begeisterten Augen zu streicheln. Das Pferd ließ das zu und rührte sich nicht einmal vom Fleck. François winkte seinem Patenonkel zu, als er ihn aus dem Haus gehen sah. Graf de Girodel hatte es ihm erlaubt, auf das graue Pferd aufzupassen, solange er Lady Oscar eine Nachricht überbrachte. Victor kam näher und lächelte den Jungen an. „Wenn du groß bist, bekommst du auch ein Pferd.“   „Wirklich?“ François schenkte seinem Patenonkel ein strahlendes Lächeln und Victor strich ihm durch das Haar. Jedes Mal, wenn er auf das Anwesen der de Jarjayes kam, stellte er sich vor, François wäre sein Sohn. Wie bedauerlich, dass dem nicht so war. Genauso bedauerte er schon seit Jahren, dass André ihm zuvor gekommen war und das Herz von Lady Oscar erobert hatte. Jetzt jedoch litt auch André, weil seine Geliebte sich von ihm abwandte und ihr Herz einem anderen Mann schenkte. Das traurigste an dieser Sache war, dass dieser Mann nicht er, Graf Victor de Girodel war, sondern der Liebhaber der Königin. Victor hatte schon genug Lady Oscar in Versailles unterschwellig beobachtet und bitter festgestellt, dass seine unerwiderte Liebe jetzt ganz verloren war. Denn gegen Graf von Fersen konnte er nichts ausrichten. André hätte er noch ausspielen können, weil er zum einfachen Volk gehörte. Von Fersen dagegen gehörte dem Adel an und war ihm somit im Rang und Titel ebenbürtig. Was fand Lady Oscar nur an diesem Grafen? Jeder Mensch am Hofe und sogar außerhalb von Versailles wusste, dass von Fersen eine Liebesaffäre mit der Königin betrieb und trotzdem verlor Lady Oscar an ihn ihr Herz. Was würde dann aus François? War Lady Oscar etwa bereit, durch ihre Zuneigung zu dem schwedischen Grafen, auch die Wahrheit über André und ihren Sohn zu erzählen? Victor wollte nicht daran glauben, dass es zu so etwas kommen würde. Irgendwo im tiefsten Winkel seines Herzens hoffte er, dass es eine vorübergehende Phase der Gefühle von Lady Oscar war und dass sie bald den Grafen von Fersen vergessen würde. Denn François dürfte nichts von dem Zerwürfnis zwischen seinen Eltern merken. Das würde dem Jungen zusetzen und sein sonniges Gemüt verderben. „Ja, wirklich.“, meinte Victor auf die Frage seines Patenkindes und schob schon seinen Fuß in den Steigbügel. Galant stieg er in den Sattel und nahm die Zügel an sich. „Also dann, bis zum nächsten Mal, mein junger Freund.“ Er salutierte im Sattel und als François ihm den Gruß zum Abschied erwiderte, ritt er davon.   François wartete, bis sein Patenonkel aus der Sicht auf seinem prächtigen, grauen Pferd verschwand und ging wieder in Richtung Haus. Er wollte zu seinen Zieheltern und sie fragen, ob er irgendwann auch ein Pferd bekommen durfte. Aber wen konnte er zuerst fragen? Seine Ziehmutter oder seinen Ziehvater?   Diese Entscheidung nahm ihm André ab. Er hatte sich in seinem Zimmer umgezogen und als er rauskam, lief sein Sohn ins Haus rein. „Wohin so eilig, mein Junge?“   François blieb auf der Stelle stehen. Wenn sein Ziehvater schon hier war, dann könnte er bei ihm beginnen. „Ich wünsche mir ein Pferd.“   André musste schmunzeln. Wenigstens sein Sohn war hier noch glücklich und verlor nicht die Freude am Leben. „Wenn du etwas älter bist und das Reiten gelernt hast, dann bekommst du selbstverständlich ein Pferd.“, versprach André ihm und strich ihm über die hellbraunen Locken im Vorbeigehen. „Ich werde jetzt die Pferde satteln. Willst du mir dabei helfen?“   François nickte heftig und strahlte übers ganze Gesicht. Er würde ein eigenes Pferd haben! Zwar wusste er noch nicht, wie lange er darauf würde warten müssen, aber die Vorfreude war schon immer die beste Freude. „Muss Mama wieder nach Versailles?“, fragte er, als er mit seinem Ziehvater draußen in Richtung Stall ging.   André nickte ihm zustimmend zu. „Ja, mein Junge und ich werde sie natürlich begleiten.“   „Kommt ihr bald wieder?“, hakte François nach. Er wollte doch noch mit seinen Zieheltern ausreiten und sie dabei mehr über die Pferde ausfragen. Wenn er schon eins irgendwann bekäme, dann sollte er über sie viel wissen.   „Ich weiß nicht, wann wir zurück sind.“ Besser gesagt, es hing davon ab, was die Königin von Oscar wollte und André ließ nicht das erdrückende Gefühl los, dass es um Graf von Fersen dabei gehen würde...   „Ich werde warten!“, sagte François mit Inbrunst und brachte seinen Ziehvater wieder zum Lächeln.   Obwohl André die Seele wegen Oscar und ihren abgekühlten Gefühlen zu ihm schmerzte, war das unbeschwerte und fröhliche Wesen seines Sohnes wie Balsam für ihn. „Das ist gut, mein Junge, aber warte nicht zu lange. Wenn es draußen dunkel wird und wir noch nicht zurück sind, dann gehst du ins Bett.“   „Mach ich!“, versprach François und erreichte mit seinem Ziehvater den Stall, um ihm beim Satteln zu helfen. Er konnte zwar mit fünf Jahren noch keine schwierigen Aufgaben verrichten, aber Satteldecke und Zaumzeug zu den Pferden zu bringen, war bereits ein Leichtes für ihn. Kapitel 28: Klarheit -------------------- Oscar war schon seit langem nicht mehr zu der Königin bestellt worden. Nun erfuhr sie auch den Grund dafür. Die Königin bat sie um Hilfe und dabei vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Niemand außer ihnen beiden befand sich in den Gemächern ihrer Majestät. „Ihr seid die Einzige, der ich noch vertrauen kann, Oscar. Versteht Ihr? Ihr seid der einzige Mensch, von dem ich weiß, dass er mein Geheimnis bewahren kann. Ich habe sonst niemanden mehr. Um mich herum sind nur Intrigen und vor Neid erfüllter Hass. Reitet zu ihm und richtet ihm aus, dass ich mit Bedauern unsere Verabredung nicht wahrnehmen kann. Ich hatte völlig vergessen, dass der König heute Abend einen hohen Gast erwartet und ich deshalb die ganze Zeit an seiner Seite verbringen muss. Sagt bitte nicht nein, Oscar, sonnst kann ich Euch nie wieder mit reinem Gewissen ins Gesicht sehen.“   Arme Marie Antoinette. Zwischen Pflicht als Königin und der verbotenen Liebe außerhalb der Ehe gefangen, wusste sie weder ein noch aus. Oscar kam zu ihr, fasste ihre Hände und nahm sie sachte vom Gesicht. Sie wusste, von wem die Königin sprach. „Seht mich bitte an, Eure Majestät. Glaubt Ihr allen Ernstes, dass ich Euch jemals die Bitte abschlagen kann?“   „Ihr seid der einzige Mensch, von dem ich weiß, dass er mein Geheimnis bewahren kann. Ich habe sonst niemanden mehr.“, wiederholte die Königin und nachdem Oscar ihr erneut versichert hatte, die Nachricht an Graf von Fersen zu überbringen, verabschiedeten sie sich.   Oscar wäre jetzt am liebsten weit weg von hier. Aber die Königin hatte sie um etwas gebeten und das würde sie erfüllen, ob sie es wollte oder nicht. Sie verließ das Schloss mit vermehrt zerrissenen Gefühlen und einem schweren Druck im Brustkorb. Draußen wartete André bei den Pferden auf sie. Auch wenn er beim niedergeschlagenen Anblick von Oscar ahnte, dass sie jetzt nicht zum Sprechen animiert war, fragte er sie trotzdem. „Was war denn? Wieso musstest du zu ihr, Oscar?“ Er wollte nur für sich bestätigen, ob es wirklich um Graf von Fersen ging oder nicht.   Oscar stieg in den Sattel und ritt an. Weder gab sie ihm eine Antwort, noch wartete sie auf ihn. Das tat ihr selbst im Herzen weh, aber sie musste so schnell wie möglich ihren Auftrag ausführen. Geschwind ritt sie nach Paris zu dem Grafen und André folgte ihr. Obwohl er wusste, dass nichts zwischen Oscar und von Fersen passieren würde, wollte er sie trotzdem keineswegs alleine zu dem Grafen reiten lassen.   An dem Haus des Grafen meldete Oscar aus dem Sattel einem Empfangsdiener ihren Besuch und wartete vor seinem Haus, bis er rauskam. Sie überbrachte ihm die Nachricht von der Königin und fügte am Ende noch hinzu: „...und ich soll Euch von ihr ausrichten, dass sie versuchen wird, wenigstens nachher auf dem Ball zu sein. Das war es.“ Ihr Blick wurde intensiver, eindringlicher und in ihrem Kopf rasten die Gedanken schon wieder wie im Flug. Was war das genau, was sie zu ihm empfand? Liebe? Nein, das musste etwas anderes sein. Denn Liebe empfand sie zu André und das war ein ganz anderes Gefühl. Ein Gefühl nach Freude, Zuneigung und Geborgenheit. Bei Graf von Fersen war es umgekehrt. Sie spürte Leid, Schmerz nach unmöglicher Liebe und das sehr viel davon.   „Ich danke Euch.“, entriss Graf von Fersen sie aus den tiefen Grübeleien. „Wollt Ihr nicht reinkommen, Oscar? Es wird bald regnen.“   „Lebt wohl, Graf.“ Oscar wendete stattdessen ihr Pferd, stieß ihm heftig in die Seiten und galoppierte davon.   „Was hat Oscar auf einmal?“, fragte von Fersen ihren Freund, der gerade das gleiche tun wollte wie sie.   „Nichts, Graf.“ André folgte Oscar unverzüglich und als sie beide das Anwesen der de Jarjayes erreichten, begann es zu regnen.   „Ich werde dann gleich die Kutsche vorfahren.“, sagte André, während sie aus dem Sattel stiegen und die Pferde in den Stall führten.   „Das brauchst du nicht.“ Oscar blieb unvermittelt an einer der Boxen stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Blicke trafen sich – wie schon seit langem nicht mehr. Oscar las in dem Grün der Augen ihres Geliebten denselben Schmerz und Leid wie bei Graf von Fersen und ihr Brustkorb zog sich schmerzlich zusammen. Sie konnte nicht mehr länger in diese Augen, die sie früher mit so viel Liebe und Zärtlichkeit angeschaut hatten, hineinsehen und senkte ihren Blick. „Ich werde heute Abend nämlich nicht auf den Ball gehen. Reite hin und sage, dass ich krank bin und mit Fieber im Bett liege.“   War das ihr ernst? „Das werde ich nicht tun, Oscar.“   Oscar versuchte sich abzulenken, indem sie ihm den Rücken kehrte und begann, ihr weißes Pferd abzusatteln. „Darf ich erfahren, wieso?“   Das fragte sie noch? Sie musste das doch am besten wissen! Aber gut, dann würde er es ihr erklären. „Der Ball heute Abend ist sehr wichtig, denn es kommen einflussreichsten Menschen Frankreichs und deshalb solltest du, Oscar François, als Kommandant des königlichen Garderegiments und sogar als Nachfolge der Familie de Jarjayes, auf gar keinen Fall fehlen.“   Oscar ließ von ihrem Pferd abrupt ab und drehte sich wieder zu ihm um. Dabei zog sie ihre Augenbrauen streng zusammen. „Schon die Vorstellung, dorthin zu gehen, ist mir ein Graus! Ich werde die herabschauende Blicke nicht mehr ertragen, die diese dummen Aristokraten für ihre Majestät, die Königin, übrig haben.“   „Eben und genau deshalb musst du hingehen.“, widersprach André. Das war das längste Gespräch zwischen ihnen seit langem, stellte er nebenbei fest und wünschte sich, Oscar möge sich ihm öffnen. Wenn sie zu dem schwedischen Grafen Gefühle hatte, dann sollte sie es ihm sagen und ihn nicht meiden. Sah sie denn nicht, dass sie damit das Wertvollste zerstörte? Ihre Liebe lag bereits in Brüchen, eine unsichtbare Mauer stand zwischen ihnen und wenn es so weiter gehen würde, dann würde nichts mehr zu retten sein. Aber wie könnte man Oscar das beibringen? „Sie braucht jetzt deine Hilfe.“, sprach er weiter bezüglich der Königin. „Du bist der einzige Mensch, dem sie noch vertrauen kann und ich denke, Graf von Fersen sieht es genauso.“   Graf von Fersen? Wieso musste er ihn unbedingt erwähnen? Oscar konnte nicht mehr. Sie brauchte ihren Geliebten, seine Nähe und seine Liebe. Aber nachdem was sie angerichtet hatte, würde er höchstwahrscheinlich nicht mehr so einfach zu ihr zurückkommen. „Ich will aber diese Rolle nicht spielen.“ Auch Oscar blieb bei dem Thema der Königin. „Diesmal nicht. Die Sache geht nur die beiden an und wer denkt dabei an mich?“   „Du weißt, dass ich an dich denke.“   „André...“ Natürlich wusste sie das, aber sie meinte dabei etwas anderes. „Was erwartest du denn von mir? Soll ich mein Schwert gegen die richten, die sich das Maul über sie zerreißen und denen die Augen auskratzen, die sie schief ansehen?“   André fand diese Vorstellung etwas amüsant und schmunzelte gequält. „Die Idee ist gar nicht so schlecht, probiere es mal.“   Oscar hätte sich am liebsten an ihn angelehnt und sich in seinen starken Armen trösten lassen, aber das schlechte Gewissen ließ das nicht zu. Es war zu viel zwischen ihnen zerbrochen, um es schnell wieder errichten zu können. Es brauchte seine Zeit, aber die Zeit war schon längst verstrichen und es war zu spät, um neu anfangen zu können. Oscar wünschte sich, es wäre nie passiert, sie hätte nie irgendwelche Gefühle zu Graf von Fersen empfunden und zeitgleich kam ihr ein gar nicht so abwegiger Gedanke in den Kopf, wie sie der Königin helfen konnte. Bis der Regen aufhörte, suchte sie für sich eine neue Garderobe aus und zog sie an.   „Mama sieht schön aus!“, schwärmte François und André musste ihm recht geben. „Die Kutsche steht auch bereit.“, sagte er und Oscar nickte. „Dann lass uns aufbrechen.“   In Versailles waren die Hofdamen von ihrer neuen Uniform entzückt und wünschten sich, Lady Oscar würde mit ihnen tanzen. Oscar jedoch hatte nur die Königin in den Augen. „Heute Abend werde ich Euer einziger Tanzpartner sein.“   Marie Antoinette verstand und tanzte die ganze Nacht mit ihr. Auf diese Weise schützte Oscar sie vom weiteren Klatsch und Tratsch. Auf dem Heimweg, am früheren Morgen, schmerzten Oscar die Füße in der Kutsche. Aber das ignorierte sie und versank in Gedanken. Etwas war mit ihr während des Tanzes geschehen und sie versuchte herauszufinden, was das war. Die Kutsche blieb plötzlich stehen und Oscar schaute aus dem Fenster. Vorne stand noch eine Kutsche und neben ihr ein Mann. Oscar war äußerst überrascht. „Graf von Fersen?“ Sie stieg aus und auch André sprang vom Kutschbock und stellte sich an ihre Seite.   „Ich danke Euch, Oscar.“, begann Graf von Fersen eine lange Rede zu halten. „Wenn Ihr in Eurer neuen Uniform nicht erschienen wärt und mit der Königin nicht getanzt hättet, dann wäre ich den ganzen Abend nicht von ihrer Seite gewichen. Denn wenn ich sie sehe, dann wünsche ich mir nur in ihrer Nähe zu sein. Aber genau dann würde man mir meine Gefühle ansehen. Das würde sie mit Sicherheit in einen noch größeren Skandal verwickeln. Es war falsch, noch einmal zu ihr zu gehen, aber es ist nun mal geschehen. Meine Unachtsamkeit ist Grund allein für all den Ärger. Wenn ich Marie Antoinette wirklich lieben würde, dann hätte ich mehr Rücksicht auf ihre Lage nehmen müssen. Ich hätte mich nicht in sie verlieben dürfen. Ich habe ihr damit nur Schmerzen und tiefes Leid zugefügt. Ja, ich weiß, es gibt nur noch eine Möglichkeit, ihr zu helfen. Deswegen werde ich Frankreich verlassen. Ich werde einfach weggehen und je weiter, desto besser, für uns alle. Gebt Acht auf sie, hört Ihr, Oscar?!“ Ohne eine Antwort von ihr abzuwarten, hob von Fersen die Hand zum Gruß, stieg in seine Kutsche und fuhr fort.   Er hatte sich als Hauptmann für den Krieg in Amerika gemeldet, erfuhr Oscar später von André. Auf diese Weise wollte er also die Königin schützen, verstand sie und auf dem elterlichen Anwesen dachte sie darüber nach, wie sie André und seine Liebe wieder zurück gewinnen könnte. Sie stand am Fenster ihres Salons, er saß am Tisch und erzählte ihr seinen Eindruck über Graf von Fersen. „Ein tapferer Mann, das muss man ihm lassen. Willst du nicht hingehen und dich von ihm verabschieden? Sie werden heute noch in Richtung Amerika aufbrechen.“   Oscar sagte nichts, dafür aber François, der mit André am Tisch saß und seine heiße Schokolade trank. „Was ist Amerika?“   „Ein sehr großes Land, das weit weg von hier liegt. Man kann sagen, am anderen Ende der Welt.“, erklärte André und schaute zu Oscar, die ihn anscheinend gar nicht zugehört hatte. Vermisste sie etwa den schwedischen Grafen schon jetzt? André schmerzte diese Vorstellung und er wollte nur noch weg. „Falls du mich suchst, ich bin im Stall, die Pferde müssen neu beschlagen werden.“ Er stand auf und François folgte ihm auf Schritt und Tritt. „Ich komme mit dir mit, Papa! Wo ist das Ende der Welt?“   Oscar hörte die Antwort von André nicht mehr. Sie sah ihn aus dem Fenster mit François wenig später den Hof passieren und konnte sich selbst nicht mehr ertragen. Ihr Herz schmerzte und rief, sie sollte André zurückholen und ihn um Vergebung bitten. Aber würde er ihr verzeihen können? Sie hatte Angst, dass er sie abweisen würde und aus diesem Grund zögerte sie, ihn um Vergebung zu bitten. Aber es war ohnehin schon zu spät dafür und es würde nicht mehr so sein, wie es einmal war. Oder bestand doch noch eine zweite Chance für sie? Wenn sie daran nur glauben könnte...   Unwillkürlich musste Oscar an Marie Antoinette und Graf von Fersen denken. Die beiden taten ihr aufrichtig leid. Das war genau das, was sie beim Tanzen mit Ihrer Majestät verstanden hatte und ihr leuchtete so vieles ein. Nicht die Liebe oder Zuneigung empfand sie zu von Fersen, sondern sie hatte das große Mitgefühl für sein Seelenleid. Er durfte nicht mit der Frau seines Herzens zusammen sein und sie lieben, weil diese mit dem König von Frankreich verheiratet und eine sehr wichtige Persönlichkeit war. So etwas Ähnliches geschah auch mit ihr, Oscar. Weil sie in ihrem Posten als Kommandant der königliche Garde hoch angesehen war, durfte André sie nicht lieben. Umgekehrt durfte sie auch niemanden lieben, weil sie das Leben eines Offiziers führte. Dennoch hatte sie es geschafft, die Liebe im Verborgenen zu halten und sogar ein Kind hatte sie von ihrem geliebten André bekommen, ohne dass ein Mensch jemals davon erfuhr. Bis auf Graf de Girodel und dank seiner Verschwiegenheit wusste niemand etwas davon. Bei der Königin war es jedoch etwas anders. Schon seit ihrer ersten Begegnung mit Graf von Fersen vor etlichen Jahren, wusste jeder wie zugetan die beiden zueinander waren. Marie Antoinette ging noch immer offen mit ihren Gefühlen um und hatte es noch immer nicht gelernt, sie zu verbergen. Deshalb hatte es nicht lange gedauert, bis der Hofklatsch und die Gerüchte über möglichen Affären zwischen der Königin und dem Grafen aus Schweden entstanden waren. Nun, da der Graf nach Amerika aufgebrochen war, würde es hoffentlich besser werden. Oscar seufzte schwer und versuchte nicht mehr daran zu denken. Sie überlegte lieber, was sie tun konnte, um Andrés Herz und seine aufrichtige und bedingungslose Liebe zurück zu gewinnen. Kapitel 29: Vergib mir... ------------------------- Oscar entrann ein schwerer Seufzer, als sie auf leisen Sohlen, mit einer Kerze in der Hand und mitten in der Nacht Andrés Zimmer betrat. Sie hatte zwei Tage verstreichen lassen, bis sie sich dazu überwinden konnte, zu ihm zu kommen. Aus Angst, von ihm abgewiesen zu werden. Ausgerechnet sie, die wie ein Mann erzogen wurde und in eiserner Disziplin geübt war, hatte Angst? Nun, mit ihren weiblichen Gefühlen konnte sie schon immer nicht umgehen. Die Armee anzuführen und Soldaten zu befehligen dagegen umso mehr.   Sie stellte die Kerze auf einer kleinen Kommode ab, setzte sich vorsichtig auf die Kante des Bettes und betrachtete ihren Geliebten, wenn sie ihn überhaupt noch so nennen durfte, im schwachen Kerzenlicht. André lag auf dem Rücken und mit dem Gesicht zu ihr. Wie friedlich und entspannt er aussah... Ein Arm ruhte um seine Mitte, den anderen hatte er unter seinem Kopf geschoben und sein Haar lag wie dunkles Ebenholz auf dem gesamten Kissen ausgebreitet. Der Kragen seines Nachthemdes stand weit auseinander und der tiefe Ausschnitt entblößte seinen Brustkorb.   Zaghaft strich Oscar eine seiner langen Haarsträhnen auf dem Kissen entlang, hielt ihren Atem an und ihr Herz hämmerte dabei schneller. Was hatte sie nur angerichtet? Sie hatte André leiden lassen und dabei fast die Liebe zwischen ihnen zerstört. Das war unentschuldbar und unverzeihlich.   Als hätte André ihre Anwesenheit gespürt und wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, drehte er sich auf die andere Seite um. Das schmerzte und verursachte kleine Stiche in ihrem Brustkorb. Oscar zog hastig ihre Hand zurück und formte sie zu einer losen Faust an ihrer Brust. Nein, André zeigte ihr nicht die kalte Schulter, redete sie sich ein. Er schlief nur und hatte keine Ahnung, dass sie neben ihm saß. Und sie wollte ihn nicht wecken. Aber etwas musste sie tun, wenn sie schon hier war und solange der Mut sie nicht verließ!   Ihre Furcht verdrängend, zog Oscar ihre Hose aus und umrundete das Bett. An ihren nackten Beinen wurde es kühler, je länger sie zögerte und mit sich selbst haderte. Ihr Körper zitterte leicht und ihre Knie wurden weicher, als André seine Augen öffnete.   André glaubte zu träumen – vor seinem Bett stand eine halbnackte Oscar! Er blinzelte, rieb sich die Augen und öffnete sie, aber Oscar stand noch immer da und sie war nur in einem knielangen Hemd gekleidet. Das rüttelte ihn endgültig aus dem Schlaf und er saß überrascht auf. „Oscar, du?“ Mit ihrem Besuch um diese späte Zeit hatte er nie mehr gerechnet und das auch noch mit diesem verführerischen Aussehen. Früher, als sie noch ein Liebespaar waren, ja, aber nicht jetzt, nach ihrem stummen Zerwürfnis. Was wollte sie bei ihm?   „Ja, Geliebter, ich bin es.“, formten ihre Lippen beinahe tonlos. Oscar hatte ihn schon lange nicht mehr so genannt. Das fühlte sich einerseits seltsam an, aber andererseits ließ es ihr Herz höher schlagen. Langsam setzte sie sich zu ihm auf das Bett, aber nicht sehr nahe. Sie wusste nicht, ob er ihre Nähe überhaupt noch ertragen konnte und behielt deshalb eine kleine Distanz zwischen ihnen bei. „Ich muss mit dir reden.“   Mit ihm reden? Ausgerechnet jetzt? Und vor allem vorüber? Darüber, dass sie Graf von Fersen vermisste? Oder wollte sie zu ihm zurückkehren, weil der Graf jetzt nach Amerika abgereist war? André ließ Sekunden verstreichen, die wie eine unerträgliche Ewigkeit vorkam. „Was ist passiert, Oscar? Was bekümmert dich?“, gab er irgendwann nach. Egal wie viel seelisches Leid und Liebesqual sie ihm zufügte, er würde sie nie abweisen können.   „Nichts.“ Das war gelogen. „Ich...“ Oscar schluckte hart, um ihre Stimme zu finden und rang mit sich. Hatte sie André überhaupt noch verdient? Sie sammelte ihren Mut und brachte mit belegter Stimme das heraus, was ihr schon seit Tagen, Wochen und gar Monate zu schaffen machte. „Ich habe einen großen Fehler begangen. Kannst du mir das verzeihen?“   André merkte, dass sie sich schwer tat und hätte sie gerne in die Arme genommen, aber so einfach war das nicht. „Was verzeihen?“   Das wusste er nicht? Aber sie hatte ihm doch immer den betrübten Gesichtsausdruck angesehen, als sie ihn gemieden und abgewiesen hatte! Also musste er es geahnt haben, wegen wem sie ihn nicht sehen konnte! Oder wollte er nur deutliche Worte von ihr hören? Wenn dem so war, dann sollte er es erfahren. Immerhin schuldete sie ihm eine Erklärung. Erneut sammelte Oscar die richtige Worte zusammen und obwohl es ihr schwer fiel, brachte sie trotzdem leise von sich aus: „Dass ich dich abgewiesen habe und dass ich glaubte, etwas für Graf von Fersen zu empfinden.“   Ihre Entschuldigung und Reue waren aufrichtig, das sah André ihr an, aber ihr so leicht zu vergeben, konnte er dennoch nicht. Sie hatte ihn zu lange leiden lassen, ihn gemieden und seine Gefühle zu tief verletzt. „Ist das denn nicht mehr so? Willst du damit sagen, dass du nichts mehr für ihn empfindest?“   Warum quälte er sie? Seine harten Worte verletzten sie und klangen so, als wäre seine Liebe zu ihr gestorben. Oscar wollte nicht daran glauben, dass alles aus und vorbei zwischen ihnen war. Aber andererseits hatte sie auch nichts anderes verdient. „Nein.“, murmelte sie mit belegter Stimme. Ihre Wimpern wurden feucht, ihre Augen glasig und der Wunsch, wegzurennen und alles mit sich selber auszumachen, stieg in ihr hoch. Aber das hieße auch, dass die ganze Mühe umsonst sein würde und das wollte sie vermeiden. Krampfhaft verdrängte sie diesen törichten Wunsch, fasste sich am Kragen ihres Hemdes und versuchte André ins Gesicht zu sehen, ohne ihren Blick von ihm abzuwenden. „Ich versichere dir, dass ich nichts für Graf von Fersen empfinde. Ich hatte großes Mitgefühl mit ihm wegen seiner verbotenen Liebe zu Marie Antoinette. Das ist mir in der Nacht klar geworden, als ich mit der Königin getanzt hatte. André, du bist der einzige Mann in meinem Leben, nur du… Ich liebe dich, nur dich… bitte glaube mir...“   So war das also. Ihre Gefühle hatten ihr einen Streich gespielt, sie zwischen zwei Männern gestellt und ihr weiches Frauenherz gezwungen, für alle beide gleichzeitig etwas zu empfinden, vermutete André. Deshalb hatte sie ihn gemieden und nicht nur ihn, sondern auch sich selbst leiden lassen. Arme Oscar. So niedergeschlagen, aufgelöst und verzweifelt hatte André sie nie gesehen. Nicht einmal damals, nachdem François zur Welt kam und sie ihn als Findelkind ausgeben mussten. Seither waren fast fünf Jahre vergangen und sie hatten sich mit dieser Lüge abgefunden. Denn Hauptsache war, dass ihr Sohn bei ihnen war. Nun saß Oscar direkt vor ihm und bat ihn um Verzeihung für ihr Fehlverhalten. Konnte er ihr vergeben? Sie hatte sich doch entschuldigt, versichert und geschworen, dass sie nur ihn liebte.   André hielt es nicht mehr länger aus, streckte nach ihr seinen Arm aus und berührte ihre Wange. Oscar erschauerte von der Wärme, die seine Handfläche spendete und umfasste seine Finger. André rückte zu ihr und zog ihren Körper unerwartet an sich. „Ich glaube dir.“, flüsterte er in sanftem Ton in ihr weiches Haar. „Ich verzeihe dir, weil ich dich noch immer unheimlich liebe und daran wird sich niemals etwas ändern. Du bist die einzige Frau in meinem Leben und wirst es immer sein. Meine Liebe zu dir wird niemals vergehen. Zu dir und zu unserem Sohn.“   Oscars Körper erzitterte, als sie in sein Hemd schluchzte und sich noch mehr an seine Brust drückte. Er hatte ihr verziehen! Wie schön und erleichternd sich das anfühlte! „Ich danke dir, mein André…“ Sie hob den Kopf und sah in sein Gesicht. Im spärlichen Licht der einen Kerze im Raum schienen seine grünen Augen fast schwarz. Dennoch las sie wieder die Liebe und Zuneigung in ihnen, die sie schon seit langem nicht mehr gesehen hatte. „Du und unser Sohn seid die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ihr seid mein Leben.“   „Das kann ich nur zurückgeben, meine Liebste. Du bist unser Leben und ich liebe euch beide mit jedem Tag mehr.“ André neigte sein Gesicht zu ihrem und küsste ihre weichen Lippen. Oscar erwiderte seinen Kuss gierig, als wäre sie ausgehungert und das stimmte vielleicht auch. Ihre kleine, flinke Zunge umspielte wild die seine und berauschte ihn und sich selbst die Sinne. Sehnsucht und Verlangen nach ihm ließen auch nicht lange auf sich warten und entzündeten das Feuer der Leidenschaft in ihrem Körper. Oscar unterbrach ungewollt den Kuss und schob ihren Geliebten etwas von sich. „Ich möchte diese Nacht mit dir verbringen, Liebster. Lass mich alles wieder gut machen, lass unsere Liebe sprechen und uns nie mehr trennen.“   „Nun, da habe ich keine Einwände.“ André lächelte schelmisch und zog schnell sein Nachthemd aus. Oscar betrachtete außer Atem seinen nackten Oberkörper und seine straffen Muskeln nur kurz. Stürmisch stieg sie auf seinen Schoß, schlang ihre Arme um seinen Nacken und presste ihm ihre Lippen auf den Mund. Ihr Gesäß bewegte sich auch schon auf und ab und erregte ihn noch mehr. Sie wollte ihn sofort in sich spüren, das verstand André. Er wollte sie auch sehr, aber hielt dennoch ihr Becken noch ein wenig von seiner harten Männlichkeit zurück. Seine Hände strichen an ihren Schenkeln, schoben ihr die Enden des Hemdes mehr nach oben und seine Lippen trennten sich von den ihren. Hastig zog er ihr das störende Kleidungsstück über den Kopf und hob etwas ihr Becken an.   Oscar unterdrückte ein befriedigendes Stöhnen, als sie ihn in sich aufnahm und ihren wilden Ritt auf ihm fortsetzte. Ihn wieder in sich zu spüren war ein unbeschreiblich herrliches Gefühl! Wie konnte sie es nur ohne ihn, seiner Liebe und Leidenschaft so lange aushalten?   Die gleiche Frage stellte sich auch André. Wie konnte er ohne sie so lange aushalten?! Ihre schnellen Bewegungen, ihr agiler Körper, ihre kleinen, aber schön geformten Brüste und ihr unterdrücktes Keuchen nach Lust und Wonne brachten ihn beinahe um den Verstand. Er hielt sie fest am Rücken, spielte mit seinen Fingern an ihren rosigen Brustwarzen, verteilte Küsse an ihrem schlanken Hals und mühte sich um die Zurückhaltung. Nur noch etwas Geduld - seine heißbegehrte Oscar würde gleich den Höhepunkt des Gipfels erreichen und ihm den Abschluss überlassen, wenn er dann über ihr war, redete André sich ein und dann passierte es. Oscar hielt inne, ihre Finger krallten sich in das Fleisch seiner Arme und ihre Anspannung trieb sein bestes Stück selbst zum Gipfel der Lust. André handelte unverzüglich. Schnell, aber sanft, legte er seine Geliebte rücklings in die Matratze und vollendete den Liebesakt in wenigen Stößen.       - - -       Am nächsten Morgen wachte Oscar in den Armen ihres geliebten André auf und fühlte sich so glücklich, wie schon seit Langem nicht mehr. André lag auf der Seite neben ihr und schlief noch. Im Zimmer wurde es langsam heller und sie erkannte seine Gesichtszüge. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seine Lippen und erinnerte sie an die leidenschaftlichen Küsse in der Nacht. Ihre stürmische Vereinigung nach der Versöhnung war nur der Anfang. Nach dem ersten Liebesakt folgte der zweite, aber viel sanfter, langsamer und ausgiebiger. Oscar glaubte noch immer seine feinfühligen Finger und liebevolle Küsse an ihrem ganzen Körper zu spüren. Sie hob ihre Hand, streichelte seine Wange und gab ihm einen Kuss, wonach er auch aufwachte. „Guten Morgen, Geliebter. Hast du gut geschlafen?“, fragte sie lächelnd und spürte erneutes Verlangen in ihr aufsteigen.   André erwiderte ihr das Lächeln und verlor sich in ihren himmelblauen Augen. Es war alles doch kein Traum! Die Versöhnung zwischen ihnen und die leidenschaftliche Liebe danach waren wirklich geschehen! Welch eine Freude, sie wieder in seinen Armen zu halten und er wollte sie nie wieder loslassen. Sie gehörte wieder ihm, sie liebte ihn und würde ihn nie mehr verlassen. „Ich habe bestens geschlafen, meine Liebste.“ André schob sie sanft auf den Rücken und war sogleich über ihr. „Wenn du nur wüsstest, wie sehr ich dich liebe.“   „Ich liebe dich sowieso mehr.“ Oscar ließ ihn zwischen ihren Schenkeln und zog sein Gesicht zu ihr nach unten, bevor er ihre Lippen mit einem innigen Kuss versiegelte. Auf einem Arm stützte er sich ab und mit der freien Hand erforschte er ihren lustvollen Körper. Eigentlich sollte Oscar jetzt gehen, bevor die ersten Bediensteten aufwachten, aber das konnte sie nicht und André wollte sie auch nicht gehen lassen. Noch nicht. Viel zu lange hatten sie auf einander verzichtet, um gleich nach ihrer Nacht der Versöhnung aufhören zu können. Dennoch trieb ihr Gewissen beide zur Eile. Immerhin wollten sie nicht erwischt werden.   Von ihrer Brust ließ André seine Finger an ihren Rippen und flachen Bauch tiefer gleiten. Ihre sensible, begehrliche und behaarte Stelle war sehr feucht. Ob von gestern oder seit dem Erwachen wusste André nicht zu sagen. Aber wieso interessierte ihn das überhaupt? Er musste sich beeilen, damit Oscar noch rechtzeitig sein Zimmer verlassen konnte.   Oscar bewegte sich unter ihm und schob ihr Becken ihm entgegen. André verlagerte sein Gewicht auf beide Arme und drang einfühlsam in sie ein, aber beschleunigte sogleich seine Stöße.   Nach diesem kurzen, aber berauschenden Liebesakt, schlüpfte Oscar hastig in ihre Kleider und eilte auf ihr Zimmer, um sich dort bis zum Frühstuck umzuziehen und die Morgenwäsche zu machen. Kapitel 30: Ein freier Tag -------------------------- Sommer 1781   Graf de Girodel stieg auf dem Hof des Anwesens der de Jarjayes aus dem Sattel seines grauen Pferdes und richtete seine Uniform, bevor er in das Hauptgebäude rein ging. Die Sommerhitze machte ihm in der kompakten Uniform zu schaffen und sein langes, gelocktes Haar klebte ihm an den Schläfen und an dem Nacken auf der Haut, aber da musste er durch. Im Inneren des Hauses fühlte er sich auch nicht besser. Stickige Luft hing auch hier schwer. Er machte den Knopf des hochstehenden Kragens auf und atmete ein wenig freier.   Aus der Küche kam die Haushälterin Sophie. Sie trug ein, mit einer Schale frischem Obst, beladenes Tablett und grüßte ihn freundlich, als sie ihn sah. „Oh, Graf de Girodel, Ihr wollt sicherlich zu Lady Oscar?“   Victor begrüßte sie ebenfalls höflich. „Ganz recht, Madame Glace, und natürlich würde ich gerne auch mein Patenkind besuchen.“   Sophies Lächeln verschwand, aber nicht ihre Freundlichkeit. „Ich bedauere es Euch sagen zu müssen, aber Lady Oscar ist vor zwei Tagen in die Normandie gereist.“   „In die Normandie?“ Natürlich wusste Girodel, dass Lady Oscar ein Haus an der Küste besaß und dort oft ihre freien Tage verbrachte. Er war nur überrascht, weil sie ihm gegenüber nichts davon erwähnt hatte.“   „Ja, sie verbringt dort ihren Urlaub.“   Das war natürlich bedauerlich für Victor. Lady Oscar hatte für eine Woche Urlaub bekommen und weil er heute auch dienstfrei hatte, wollte er ihr einen Besuch abstatten. „Ganz alleine?“   „Natürlich nicht, Monsieur.“, erklärte Sophie. „André, Rosalie und François sind mitgekommen.“   „Verstehe.“, seufzte Victor. Natürlich. Wie hätte er nur denken können, dass Lady Oscar alleine abreisen und ihren Urlaub verbringen würde. Vor allem, nachdem sie sich mit André letztes Jahr versöhnt hatte. Seit Graf von Fersen letztes Jahr nach Amerika aufgebrochen war, schien Lady Oscar aufzublühen und auch André sah glücklicher aus. Das hieß, dass sie beide wieder ein Liebespaar waren. Diese Feststellung hatte Girodel einerseits bedrückt, aber andererseits war es besser so. Denn François, obwohl er noch ein kleines Kind war, hatte die stumme Auseinandersetzung seiner Eltern am meisten getroffen. Als er dann wieder glücklicher aussah, erfuhr Girodel von ihm auch den Grund: Seine Eltern sprachen wieder miteinander und lachten wieder wie früher. Girodel hatte sich davon selbst überzeugt, indem er die heimlichen Liebesblicke zwischen den beiden bemerkte.   „General de Jarjayes ist aber von seiner Dienstreise zurückgekehrt und befindet sich auf seinem Kontor.“, meinte Sophie, nachdem sie den ein wenig enttäuschten Gesichtsausdruck des Grafen bemerkte. Damit er nicht umsonst gekommen war, schlug sie ihm vor: „Wenn Ihr möchtet, kann ich ihn von Eurem Besuch unterrichten.“   „Das wäre sehr nett, danke.“ Wenn er schon Lady Oscar oder sein Patenkind nicht antreffen konnte, dann würde ihm wenigstens eine kleine Unterhaltung mit dem General auch nicht schaden. Seinen dienstfreien Tag wollte er ja schon etwas in Gesellschaft verbringen und sich nicht ganz alleine in seiner Wohnung in Paris die Zeit vertreiben. Zumal, da der General von der Dienstreise zurück war, gab es bestimmt etwas zu erzählen. Victor folgte Sophie und hielt ihr sogar die Tür zum Kontor des Generals nach dem Anklopfen auf.   „Danke, Sophie.“, hörte er dessen Stimme, als die Haushälterin das Tablett auf einem Tisch abstellte.   „Ach ja, Graf de Girodel steht gerade vor der Tür und wünscht...“, begann Sophie, aber wurde vom General de Jarjayes unterbrochen. „Dann lass ihn herein.“   „Jawohl.“ Sophie ging und an der Tür sagte sie: „Ihr dürft eintreten, Graf.“   „Danke.“ Girodel kam herein und salutierte, woraufhin Reynier mit der Hand abwinkte. „Erspart Euch das, Graf, wir sind nicht am Hofe. Was führt Euch zu mir?“ Er schenkte Wein, der auf dem Tisch stand, in zwei Gläser ein. In seinem Kopf entstand dabei das Bild eines kleinen Jungen in schäbigen Kleidern, mit mageren Körperbau und der nicht älter als François war. Ein ganz gewöhnliches Bauernkind und doch hatte er etwas an sich, was Reynier nicht vergessen konnte: Der eisige Blick seiner blaugrünen Augen, der einem einen kalten Schauer durch den Körper jagte. Der Junge erinnerte ihn stark an jemanden, aus dem er einen hartherzigen und emotionslosen Soldaten gemacht hatte. Aber dazu später. Graf de Girodel war gerade erst angekommen.   „Nichts besonderes.“, meinte derweilen Victor, lockerte seine Haltung und kam näher. „Ich wollte eigentlich Lady Oscar besuchen, aber kam anscheinend zu spät.“   Reynier war es in all den Jahren, seit François gefunden wurde, dessen Besuche bei seiner Tochter nicht entgangen. Der Graf war jung, etwa an die dreißig Jahre alt, und diente Oscar schon seit zwölf Jahren als Untergebener in der königlichen Garde. Vielleicht empfand er etwas für sie, aber traute es sich nicht zu sagen? Verdenken würde ihm General das selbstverständlich nicht. Oscar war zu einer schönen Frau herangereift und Graf de Girodel wäre nicht der einzige Mann, der sie gerne zu Frau genommen hätte. Allerdings hatte Reynier seine Tochter für das Leben eines Mannes bestimmt und das wusste jedermann am Hofe von Versailles und auch außerhalb. „Lasst uns uns hinsetzen“, lud der General den jungen Grafen ein und reichte ihm ein Glas Wein.   „Danke.“ Girodel nahm gerne die Einladung an, ebenso wie das Glas und setzte sich auf einem der gepolsterten Stühle hin. „Ich hörte, Ihr seid von Eurer Dienstreise zurück?“   „Ja, schon seit gestern und warte auf den nächsten Auftrag des Königs.“ Reynier beliebte es jedoch, stehen zu bleiben. Er hob sein Glas zum Prost und trank einen Schluck. Dabei dachte er wieder an den Bauernjungen mit den durchdringenden blaugrünen Augen. Er hatte kurz geschorenes, lockiges und dreckiges Haar, das vielleicht dunkelblond sein könnte, wenn es gewaschen sein würde. „Es ist schon seltsam ruhig hier, seit das Findelkind nicht mehr auf dem Anwesen ist.“   „Ihr sprecht bestimmt von François?“ Girodel schmunzelte, als er an sein Patenkind dachte. Er musste zugeben, dass er den Jungen vermisste.   „Ja, und ich muss jetzt oft an ihn denken.“ Reynier verstummte kurz, sah den Grafen eindringlich an und fügte hinzu: „Oder besser gesagt an das Kind, das ihm sehr ähnlich sah.“   „Was meint Ihr?“ Girodel sah verwundert drein. Er verstand den General nicht und doch breitete sich ein mulmiges Gefühl in ihm aus.   War das wirklich so, besagte der Blick des Generals. Also gut, dann würde er es ihm erklären. „Auf dem Ritt zurück von meiner Dienstreise, nicht einmal zwei Stunden von meinem Anwesen entfernt, verlor mein Pferd sein Hufeisen. Zum Glück war ich in der Nähe eines Dorfes und während mein Pferd beschlagen wurde, sah ich dort einen kleinen Jungen. Er erinnerte mich sehr an François und war genauso alt wie er.“   „Was sagt Ihr?“ Girodel verschluckte sich beinahe an dem Wein. Was für ein Dorf war das? Doch nicht etwa, wo... Ihm blieb fast das Herz stehen. Bilder der Vergangenheit suchten ihn heim, die er seit der Geburt von François verdrängt hatte. Ein neugeborenes Wesen, das kaum atmete, wurde von der Frau des Wirtes aus dem Gasthof in ein anderes Haus getragen. Er erinnerte sich nicht mehr an ihren Namen, aber dafür an das Geschehene:   „War das ein Kind? Hat Lady Oscar zwei Kinder auf die Welt gebracht?“, hatte er die Frau gefragt und sie hatte ihn angefleht. „Monsieur, habt bitte Erbarmen... Sie weiß nichts von dem zweiten Kind, das schwöre ich Euch!“   Girodel hatte natürlich zu solchen Dieben kein Erbarmen und hatte die Frau sogar grob gepackt. „Ihr werdet das Kind sofort holen und es Lady Oscar zurück bringen! Warum habt Ihr es ihr überhaupt weggenommen?!“, hatte er nach einer Erklärung von der Frau des Wirtes verlangt und auch bekommen. „Weil es nur ein paar Stunden leben wird! Sie war so glücklich… Sie und ihr Mann, dass sie nichts mitbekommen haben.“   General de Jarjayes beobachtete jede Regung des Grafen und merkte sofort, wie dessen Gesicht eine blasse Farbe annahm. Das war äußerst verdächtig. „Wo habt Ihr und Oscar denn das Kind vor sechs Jahren überhaupt gefunden?“, wollte er von dem jungen Mann wissen. Mit anderen Worten, vielleicht hatte François dort seine Wurzeln und das Kind, das er gesehen hatte, war eines seiner Brüder.   Victor überhörte seine Frage. Er nahm nicht einmal wahr, dass der General etwas gesagt hatte. In ihm kreiste noch immer der Tag, an dem Lady Oscar ihren Sohn auf die Welt gebracht hatte. Eigentlich zwei. Aber der andere war doch dem Tode geweiht! Das hatte ihm die Frau des Wirtes versichert und dann hatte er den Schrei eines Neugeborenen gehört, das nicht von François stammte. War er etwa doch angelogen worden? Hatte das zweite Kind von Lady Oscar womöglich doch überlebt? Um die Antworten zu finden musste er unbedingt in dieses Dorf! Victor stellte sein Glas auf dem Tisch ab und erhob sich vom Stuhl... „Ihr entschuldigt mich, General, ich habe vergessen, dass ich heute noch etwas zu erfüllen habe.“   Reynier zog stutzig seine Augenbrauen zusammen, aber sagte nur: „Geht nur, Graf, ich will Euch keineswegs von Euren Pflichten abhalten.“   Girodel salutierte und verschwand blitzschnell aus dem Kontor. General de Jarjayes ging ans Fenster und sah zu, wie wenige Augenblicke später Graf de Girodel auf den Hof rannte, sein Pferd bestieg, das die ganze Zeit von einem Stalljungen an den Zügeln gehalten wurde und eilends durch das Eisentor galoppierte. Wohin nur? Und was hatte es mit dem Jungen auf sich, den er gesehen hatte? Reynier verließ sein Kontor und draußen auf dem Hof verlangte er nach seinem Pferd. Er bekam das miserable Gefühl, das hier etwas vor ihm verheimlicht wurde. Nicht nur vom Graf de Girodel, sondern womöglich auch von Oscar und André. Kapitel 31: Schöner Traum ------------------------- Das azurblaue Meer und die kreischenden Möwen in der Luft. Er war noch nie am Meer gewesen, aber hatte von den Reisenden, die in dem Gasthaus seines Dorfes eine Rast machten und davon erzählten, oft gehört. Und manchmal träumte er sogar von den schäumenden Wellen und das Glitzern auf der Oberfläche, wenn die Sonne darauf schien. Jetzt lag das Meer ruhig. Die schäumenden Wellen schlugen gegen die Beine zweier Pferde, die um die Wette ritten und das Wasser spritzte unter den Hufen in alle Richtungen. Vereinzelte Tropfen trafen sein Gesicht und er lachte. Es war ein schönes Gefühl, glücklich zu sein. Er ritt auf einem weißen Pferd die Küste entlang und streckte sein Gesicht dem salzigen Wind entgegen. Jemand saß hinter ihm und hielt ihn mit einem Arm fest, damit er nicht runter fiel. Das war ein unbeschreiblich herrliches und prickelndes Gefühl nach Freiheit, Sicherheit und Geborgenheit. Er drehte seinen Kopf und schaute zu demjenigen auf. „Schneller, Mama!“ Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, es war verschwommen. Aber er bildete sich ein, seine Mutter wäre schön. Sie lächelte, zumindest glaubte er das und sagte etwas, was er nicht verstand. Anstelle schneller zu werden, wurde das Pferd langsamer und als es stehen blieb, holte sie das zweite, braune Pferd ein. Er wurde von den Händen seiner Mutter sachte aus dem Sattel gehoben und in die Hände eines Mannes gegeben. „Papa!“, rief er zu ihm und lachte glückselig, als der Mann ihn in seine Arme nahm und ihn rittlings vor sich hinsetzte. Sein Vater hielt ihn mit einem Arm genauso fest wie seine Mutter zuvor und mit der freien Hand wendete er sein Pferd und ließ ihn im gemächlichen Trab laufen.   Ein heftiger Stoß in seine Rippen zerstörte den schönen Traum blitzartig. Geruch nach Heu und Pferdeexkrementen drang in seine Nase, während er unsanft geweckt wurde. Eigentlich sollte er den Stall ausmisten, aber bei dieser Sommerhitze wurde er schläfrig und hatte sich nur für kurz auf einen Haufen Heu hingelegt. Jetzt bezahlte er dafür. Er schnappte nach Luft und bekam noch mehrere Fußtritte in seine Mitte, die ihn endgültig in die bittere, freudlose und trostlose Realität beförderten. Er verkniff sich einen Schmerzenslaut und bedeckte nur sein Gesicht mit beiden Händen, damit wenigstes dieser Teil seines Körpers von den Schlägen verschont blieb.   „Steh auf, du Missgeburt und mach dich wieder an die Arbeit!“, spie der Älteste der beiden Knaben und verpasste ihm noch einen Tritt in die Magengrube. Sein Name war Armand und mit seinen fast sechzehn Jahren war er der älteste Sohn von dem Besitzer des Gasthofes, zu dem auch dieser Stall gehörte.   Der vierzehnjährige Bruder von Armand packte ihn grob am Arm und zog ihn wieder auf die Beine. Sein Name war Georges. „Ich frage mich noch immer, warum unsere Tante ihn durchfüttert, unsere Eltern ihn bei uns arbeiten lassen und unsere Heilkundige ihn großzieht! Sie hätten ihn lieber sterben lassen sollen, solange sie noch die Gelegenheit dazu hatten!“   „Jean, bist du hier?“ Ein sechsjähriges Mädchen mit schwarzen Zöpfen und eisblauen Augen stand am Eingang des Stalles und hielt ein Brötchen in der Hand.   Wo sollte er sonst noch sein? Es gab nur drei Orte, wo er sich aufhalten durfte: dieser Stall, die Kirche und das Haus, wo er aufwuchs. Jean sah das Mädchen nur stumm an. Sie war nur zwei Tage älter als er und gehörte zu den wenigen in diesem verdammten Dorf, die ihm einen Namen gaben und auch nett zu ihm waren. Georges ließ ihn nicht aus seinem Griff los und er spürte, wie dessen Finger sich fester um seinen Arm fassten. „Was willst du von ihm, Anna?“, fragte er streng das Mädchen.   Anna blieb am Eingang stehen und schaute mitleidig zu dem Jungen, der mit ihr zusammen aufwuchs. Er war wie ein Bruder für sie und sie mochte ihn. „Mutter sagte, ich soll ihm etwas zum Essen bringen.“, sagte sie und zeigte auf das Brötchen in ihren Händen.   Armand kam auf sie zu. „Dann gib es mir, Cousine, und ich gebe es ihm!“, befahl er und streckte seine Hand aus, um ihr das Brötchen zu entnehmen.   Anna machte sogleich einen Schritt von ihm zurück. „Nein, nicht du! Ich soll es ihm geben!“ Sie wusste, dass Armand ihrem Freund Jean nichts geben und es selbst aufessen würde.   Ihr ältester Cousin wusste jedoch genau, wie er das bekommen konnte, was er wollte. Kaum dass sich Anna versah, ergriff er ihren Arm und mit der freien Hand drückte er sie am Nacken fest. Anna schrie vor Schmerzen und ließ das Brötchen fallen. „So ist es brav, Cousine.“ Armand lachte boshaft und warf sie zu Boden. Bis Anna sich auf die Beine hochrappelte, schnappte er sich das Brötchen, entfernte die Strohhalme und teilte es in zwei Hälften auf, während er zurück zu seinem Bruder ging. „Hier Georges, wir haben uns das jetzt verdient.“   „Das auf jeden Fall!“ Georges ließ Jean los und nahm die gereichte Hälfte des Brötchens an sich. „Danke, Bruder.“   Jean sah mit hilfloser Wut zu, wie sein Essen verspeist wurde. Er hatte schon seit gestern Abend nichts mehr gegessen und zur Bestätigung knurrte ihm sogleich der Magen. Das war ungerecht! Warum waren sie so gemein zu ihm? Er hatte ihnen doch nichts getan! Und auch Anne nicht! Sie hatte die grobe Behandlung nicht verdient, denn sie war ein nettes Mädchen und behandelte ihn wenigstens wie einen Menschen. Das Blut floss erhitzt durch seine Adern, seine Hände ballten sich zu Fäusten und seine Augen brannten vor anlaufenden Tränen. Aber er weinte nicht. Er war ein Junge und würde niemals seine Schwäche zeigen. Besonders nicht vor diesen zwei Brüdern, die ihn tagtäglich schlugen, nur weil er ein niemand war. Irgendwann würden sie für alles bezahlen, was sie ihm angetan haben! Das schwor sich Jean und hörte die Stimme von Anne nur mit halbem Ohr. „Ihr seid gemein! Ich werde das alles meinen und euren Eltern erzählen!“, schrie sie ihre beiden Cousins an, drehte sich um und stieß unerwartet mit einem Mann zusammen.   „Vorsicht, nicht hinfallen!“ Der Mann, in der hochrangigen Uniform eines Offiziers, fing sie ab und bewahrte sie vor dem Fall. Hinter ihm schnaubte leise sein Pferd und wackelte mit seiner grauen Mähne. Der noble Mann reagierte nicht darauf. Sobald Anna sicher auf den Beinen stand, ließ er von ihr ab und starrte auf die drei Knaben.   „Danke.“, sagte Anna und sauste aus dem Stall, um die Eltern ihrer Cousins ausfindig zu machen.   Armand schluckte den letzten Bissen schnell herunter und kam dem Mann entgegen. Das war ganz sicher ein Reisender und es war seine Aufgabe, sich um dessen Pferd zu kümmern. Sein Bruder folgte ihm und beide vergaßen Jean. Die Belange des Gastes standen an allererster Stelle und Armand nahm das graue Pferd bei den Zügeln. „Willkommen bei uns, Monsieur. Was können wir für Euch und für Euer Pferd tun?“   „Nichts.“, sagte der Mann und ging auf Jean zu. „Wie heißt du und wer sind deine Eltern?“, fragte er und blieb direkt vor ihm stehen.   Jean schluckte hart, aber er hatte keine Angst. Es war nur das erste Mal, dass ein Reisender ihn beachtete und ihn dazu noch ansprach. Was sollte er ihm nur sagen? Er war doch ein niemand und hatte ebenso keine Eltern. Der Mann vor ihm war groß und schlank, aber es war nicht der Mann aus seinem schönen Traum und den er „Papa“ genannt hatte. Sein Vater sah ganz anders aus. Er wusste zwar nicht mehr wie, aber er spürte ganz genau, dass der Reisender jemand anders war. Er trug schwarze Stiefel, eine weiße Hose und eine hellblaue Uniform. Sein Haar lag ihm in Wellen über den Schultern und die Farbe seiner Augen glich einem Türkis.   „Was ist, kannst du etwa nicht sprechen?“, stellte der noble Reisender die nächste Frage und als Jean sein Mund öffnete, hörte er schon Armand sagen: „Er ist ein niemand, Monsieur und gehört auch zu niemanden.“   Der Offizier warf einen scharfen Blick zu ihm. „Hab ich dich das gefragt?“   „Nein, Monsieur.“, murmelte Armand geknickt und tauschte mit seinem Bruder fragende Blicke. Das war der erste Reisende in all den Jahren, der sich für Jean interessierte und nebenbei kam er ihnen bekannt vor. Die Brüder wussten nur nicht mehr, wann und wo sie diesen Mann schon mal gesehen hatten.   „Gut.“, meinte der Offizier streng und ordnete die beiden im befehlenden Ton an. „Dann kümmert euch um mein Pferd. Absatteln braucht ihr ihn nicht, ich bleibe hier nicht lange. Schaut, ob seine Hufeisen in Ordnung sind und stellt ihn zum Trog mit Wasser. Heu braucht ihr ihm nicht zu geben, Wasser reicht für ihn vollkommen. Verstanden?“   „Ja, Monsieur.“ Armand befolgte mit seinem Bruder, was ihnen gesagt wurde. Besser gesagt, was ihnen befohlen wurde. Der Reisende missfiel allen beiden, aber er war eben ein Gast und sie mussten wohl oder übel sich um seine Belange kümmern. Denn die Gäste brachten ja Geld in die Gaststube und für die Versorgung ihrer Pferde ein. Wenn sie nichts tun würden, dann würden die Gäste nichts bezahlen wollen und das wäre nicht gerade gut für ihr Geschäft. Also lieber den Mund halten und ihre Aufgabe ordnungsgemäß verrichten. Jean würde ja nicht weglaufen und wenn der Reisende weg ist, dann gehörte der Knabe wieder ihnen und sie würden ihm schon eine Lektion erteilen, die er niemals vergessen würde.   Der Offizier beachtete die zwei nicht mehr und widmete sich wieder Jean. Sein Blick wurde etwas weicher und auch seinen Ton milderte er. „Also, Junge, wie heißt du und wer sind deine Eltern?“   Diesmal bekam er eine Antwort. „Jean... und ich habe keine Eltern.“   Die Augen des Mannes weiteten sich. „Jean? Und du hast keine Eltern?“, wiederholte er verwundert und als der Junge zustimmend nickte, klappte sich bei ihm der Mund auf. Sein Gesichtsausdruck wirkte auf einmal blass und als hätte er ein Geist gesehen, machte er einen Schritt von dem Jungen zurück. Dann schüttelte er fassungslos mit dem Kopf und wandte sich zum Gehen ab.   „Wartet, Monsieur!“, hielt Jean ihn auf, kaum dass er den Stall verließ. In ihm strömten so viele Fragen, die dieser Mann ihm vielleicht beantworten konnte. Er war der erste und der einzige Reisende, der ihn überhaupt wahrgenommen hatte.   Der Offizier blieb zwar stehen, aber drehte sich nicht um. „Du wartest hier auf mich und verlässt den Stall nicht!“, befahl er und marschierte eilends in die Gaststube.   Auf ihn im Stall warten? Aber das ging nicht. Er hatte doch so viele Fragen! Und was ist, wenn der Mann ihn vergisst? Dann würden seine Fragen niemals beantwortet! Nein, das dürfte nicht passieren! Jean machte einen Ruck, wollte dem Offizier nachlaufen, aber wurde unerwartet an den Haaren gepackt und zurück in den Stall geschleudert. „Wo willst du denn hin?“, spie Georges abfällig und trat nach ihm ein Mal. „Miste den Stall aus, sonst kannst du was erleben!“ Mit dem Wissen, dass der noble Reisende bald zurückkommen würde, schlug er nicht weiter und kehrte zu seinem Bruder zurück. Er füllte den Trog mit Wasser auf, während Armand die Hufe des Pferdes überprüfte und sie vorsichtshalber vom Dreck säuberte.   Jean nahm widerwillig den Besen wieder an sich, neben dem er vorhin auf einem Haufen Heu eingeschlafen war und machte sich zurück an die Arbeit. Sein Blick schweifte zwischendurch auf das graue Pferd des Offiziers und kurz nachdem er angefangen hatte, erklangen draußen die Hufschläge eines Pferdes. Ein Augenblick später betrat ein Mann den Stall. Diesen hatte Jean vor zwei Tagen gesehen. Ebenso Armand und Georges. Armand überließ die Versorgung des grauen Pferdes seinem jüngeren Bruder und ging dem Gast entgegen, um dessen Pferd zu nehmen. „Ihr seid es wieder, Monsieur.“ Das war eine Feststellung. Armand nahm das Pferd bei den Zügeln und tätschelte ihm den Hals. „Herzlich willkommen bei uns. Hat Euer Pferd erneut das Hufeisen verloren?“   „Nein. Aber überprüfen könnt ihr es trotzdem.“, knurrte der Mann wütend, der auch ein Offizier war, aber viel höher im Rang und Titel. „Gebt ihm nur Wasser! Füttern und absatteln braucht ihr ihn nicht. Ich beabsichtige dann gleich zu gehen.“, befahl er den Brüdern, schaute auf das graue Pferd des anderen Offiziers, zog seine Augenbrauen streng zusammen und durchbohrte anschließend Jean mit einem eisigen Blick. „Du kommst auf der Stelle mit mir mit!“ Kapitel 32: Jean ---------------- Graf de Girodel betrat die Gaststube, die er nur schwach in Erinnerung hatte. Umso mehr erinnerte er sich aber an die Frau des Wirtes und was sie zusammen mit einer Hebamme, deren Namen er auch nicht mehr wusste, vor sechs Jahren getan hatte. Sie hatte ein unverzeihliches Verbrechen begangen und würde sich jetzt dafür verantworten müssen. Denn der Junge, den er im Stall gesehen hatte, gehörte nicht hier her. Man hatte ihn Jean genannt – der Name, den François nach seiner Geburt bekommen hatte und es war seine, Graf de Girodels, Idee, dem Erstgeborenen von Lay Oscar diesen Namen zu geben. Victor glaubte an keinen Zufall mehr. Jean musste der totgeglaubte Zwillingsbruder von François und der zweite Sohn von Lady Oscar und André sein. Anders würden sich die Ähnlichkeiten nicht erklären, die der Junge mit den drei aufwies. Allerdings wusste niemand von seiner Existenz – bis auf ihn, Victor, und die Einwohner von diesem verdammten Dorf! Deshalb hatte er keinen Sarg bei der Taufe von François in der Kirche gesehen, erinnerte sich Victor und wünschte sich, er hätte damals mehr über das angeblich sterbende Kind in Erfahrung gebracht. Der Junge im Stall war ein lebendiger Beweis dessen, dass er auf niederträchtige Weise seiner Familie entrissen wurde. Aber warum nur? Und was hatte dieser halbwüchsige Bursche gesagt? Jean war ein niemand, gehörte zu niemanden und hatte keine Eltern?   Falsch! Jean war der zweitgeborene Sohn von Oscar François de Jarjayes und André Grandier! Victor verdrängte krampfhaft den Zorn und die Schuldgefühle in sich. Er hätte nie gedacht, dass er jemals in dieses Dorf zurückkehren würde. Aber damals wusste er nicht, dass er belogen und betrogen wurde. Wie leichtgläubig er doch war! Er hätte dieses Verbrechern nicht glauben und schon damals etwas unternehmen sollen! Vielleicht war es aber noch nicht zu spät, den Fehler zu korrigieren? Das würde sich zeigen, wenn er mit der Frau des Wirtes gesprochen hatte. Auf jeden Fall würde er den Jungen zu sich nehmen und nicht zulassen, dass er hier als Prügelknabe diente.   Das Mädchen mit den schwarzen Zöpfen, das er im Stall nach dem Zusammenstoß vor dem Fall bewahrt hatte, flehte aufgeregt die Frau des Wirtes an, die an der Theke die gewaschene Bierkrüge mit einem Tuch trocknete. „Aber Tante Adaliz! Armand und Georges tun Jean weh!“   „Tut mir leid Schätzchen, ich kann nicht helfen.“, erwiderte Adaliz mit einem entnervten Seufzer. „Mein Mann hilft deinem Vater auf dem Feld und ich habe hier viel zu tun.“ Damit ihre Nichte nicht weiter nachfragte, begrüßte sie den Gast, der gerade mit gemäßigten Schritten die Gaststube überquerte. „Guten Tag, Monsieur. Was wünscht Ihr? Ein kühles Bier und ein kräftige Mahlzeit? Wir haben im Angebot...“   „Nichts dergleichen!“, unterbrach Girodel sie schroff und blieb direkt vor ihr stehen. Sein Blick durchbohrte sie wie eine scharfe Klinge und sein Tonfall war sehr unfreundlich. „Ich will die Wahrheit über den Jungen Jean aus diesem Dorf wissen!“   Anna flüchtete erschrocken hinter die Theke und beobachtete den Mann, mit dem sie zusammengestoßen war, mäuschenstill. Was wollte er von ihrem Freund Jean? Warum schaute er so böse aus und machte ihr Angst? Ihre Tante Adaliz dagegen starrte den noblen Offizier perplex an, ohne ihre Nichte zu beachten. Der Mann kam ihr sehr bekannt vor, aber sie konnte ihn nirgends zuordnen. Es gab so viele Reisende, die hier im Gasthof einkehrten und deren Gesichter sie nicht merkte. Allerdings war dieser hier der erste, der nach Jean fragte. Sie zuckte dennoch gleichgültig mit den Schultern. „Jean hat keine Eltern und gehört zu niemanden.“   Wie dreist... Victor konnte kaum an sich halten, um diese verlogene Frau nicht zu packen, zu rütteln und anzubrüllen. „Ihr habt mich damals also doch belogen!“   „Ich verstehe nicht, Monsieur...“ Adaliz stellte den abgetrockneten Bierkrug auf die Theke ab und da packte der Gast sie bei den Armen. „Was erlaubt Ihr Euch!“, wollte sie protestieren, aber kein Ton kam ihr über die Lippen. In seinen Augen wütete der Zorn und jagte ihr eiskalten Schauer über den ganzen Körper. Diesen Blick hatte sie schon Mal gesehen. Es war im Winter geschehen und ein Mann hatte sie in seinem eisernen Griff fast zu Tode erschreckt. Das war derselbe Mann, erkannte sie und ihr blieb fast das Herz stehen. Die Vergangenheit holte sie ein wie ein einschlagender Blitz und drohte mit einem heftigen Gewittersturm. Die Stunde war also gekommen, um für die Sünde zu bezahlen, die sie ausversehen begangen hatte... Aber das war doch so eindeutig! Es hatte keinen Zweifel damals gegeben und doch wurde alles anders...   Victor sah deutlich, dass er der Frau Angst machte, aber das war ihm egal. Wenn sie sich nicht an ihn erinnerte, dann würde er ihr auf die Sprünge helfen. „Vor sechs Jahren brachte hier eine Frau in Männerkleidern Zwillinge zur Welt, von denen eines gestorben war. Das habt Ihr mir damals gesagt, als ich Euch zur Rede gestellt habe, aber das war gelogen! Ihr habt Lady Oscar das zweite Kind weggenommen! Für welchen Zweck? Was hattet Ihr mit ihm vor? Antwortet mit der Wahrheit und Gnade Euch Gott, wenn Ihr mir etwas verschweigt!“   Jetzt erinnerte sich Adaliz an den Rest der Geschehnisse. Das besagte zweite Kind von der Frau in Männerkleidern hatte das gesamte Dorf mehrere Tage auf Trab gehalten und starb einfach nicht. Aber ihn umzubringen oder dem Schicksal zu überlassen, wollte auch niemand. Immerhin war das ein lebendiges Wesen, ein unschuldiges Kind und noch mehr Sünden auf sich auferlegen wollte Adeliz und damalige Hebamme auch nicht. „Nein, Monsieur, das zweite Kind war wirklich dem Tode nahe...“, versuchte Adaliz bangen Herzens zu erklären, aber wurde überhört.   „Das soll ich Euch glauben?“ Victor verstärkte seinen Griff und rüttelte heftig die Frau, die er am Schicksal von Jean für verantwortlich hielt. „Wisst Ihr, was Ihr angerichtet habt? Lady Oscar weiß immer noch nichts von ihrem zweiten Sohn, nicht einmal, dass er existiert!“   „Oscar also?“, hörte Victor eine eisige Stimme hinter seinem Rücken und innerlich schlug er Purzelbäume. Zu glauben, dass er sich verhört hatte, war genauso töricht wie zu hoffen, dass niemand hinter ihm stand. War er etwa verfolgt worden? Der Mann hinter ihm wartete nicht auf die Antwort und erhöhte seinen Ton. „Ich glaube, Ihr seid nicht nur meiner Tochter, sondern auch mir eine Erklärung schuldig. Findet Ihr nicht, Graf de Girodel?“   Victor ließ auf der Stelle die Frau los und drehte sich erschrocken um. Es hatte keinen Zweck mehr, den Mann zu ignorieren. „General de Jarjayes...“, murmelte er kleinlaut und bemerkte Jean an dessen Seite, was ihm das Herz noch schwerer machte. Der Junge aus dem Stall sah ihn mit seinen großen, blaugrünen Augen an und zog seine schmalen Lippen zu einem Strich.   „Antwortet und verschweigt mir nichts, wenn Euch Euer Leben lieb ist!“ General de Jarjayes schob Jean vor sich und hielt ihn bei den Schultern. Es war also doch eine gute Idee, den Grafen zu verfolgen! Der Junge, der François und besonders Oscar ähnlich sah, verbarg offensichtlich mehr Geheimnisse, als er vorher angenommen hatte. Denn Girodel hätte ganz sicher nicht so überstürzt sein Anwesen verlassen, wenn das unwichtig gewesen wäre. Er schielte zu der Frau des Wirtes. „Ihr solltet auch nichts verschweigen!“   Jean biss sich auf die Unterlippe. Die Finger des Mannes bohrten sich tief in seine knochige Schulter und verursachten Schmerzen. Aber daran war er schon gewöhnt. Sein Leben bestand nur aus Schmerz und Leid. Vielleicht wollte einer dieser Offiziere ihn davon befreien? Denn warum sonst waren sie hier und wollten etwas von ihm?   „Sprecht!“, verlangte der General mit Nachdruck und fasste Jean noch kräftiger bei den Schultern, dass diesem ein unterdrückter Schmerzenslaut entwich.   Girodel konnte nichts mehr sagen. Alles schien vor seinen Augen abzustürzen. Es war ein Fehler, General de Jarjayes zu besuchen, aber andererseits hätte er dann nichts von Jean erfahren. Warum nur musste der General ihn unbedingt verfolgen? Er wollte Lady Oscar auf keinen Fall verraten – er hatte ihr ja geschworen, ihr Geheimnis für sich zu behalten!   Adaliz allerdings hatte so eine Schwur nicht abgegeben und begann mit zittriger Stimme zu erzählen: „Im Januar vor sechs Jahren kamen zwei Männer und eine Frau in Männerkleidern zu uns. Die Frau hatte einen großen Bauch, ihre Kleidung war unten nass und uns wurde gesagt, sie sei schwanger. Ich half ihr in ein Zimmer und während nach unserer Hebamme aus dem Dorf gerufen wurde, verlangte sie nach ihrem Mann...“   „Ihrem Mann?“, unterbrach Reynier sie fassungslos. Die Offenbarung der Wahrheit über die Schwangerschaft seiner Tochter trieb ihn schon zur Weißglut. Aber die Tatsache, dass sie noch mehr Geheimnisse verbarg, machte es nur noch schlimmer. Wer war dieser Mann, der seine Tochter nicht nur geschwängert, sondern auch noch die Dreistigkeit besaß, sie heimlich zu ehelichen? Und Oscar hatte das auch noch zugelassen? Wozu hatte er sie überhaupt zu einem Soldaten erzogen, wenn sie ihren weiblichen Gefühlen nachgab? Der General warf einen mörderischen Blick auf Girodel. „Oscar hat ohne mein Wissen und ohne Erlaubnis des Königs geheiratet?“   Victor wünschte derweilen, es wäre alles nur ein böser Traum. Offensichtlich glaubte der General, dass er der Mann war, der Lady Oscar geschwängert hatte. Wenn er das wirklich getan hätte, dann würde er Lady Oscar nicht heimlich heiraten, sondern offiziell um sie werben und um ihre Hand bei ihrem Vater bitten. „Lady Oscar und André haben nicht geheiratet.“, sagte Girodel leise. Es machte jetzt keinen Sinn mehr zu schweigen. General de Jarjayes würde so oder so den Rest der Wahrheit erfahren und höchstwahrscheinlich in die Normandie aufbrechen, um seine Tochter und ihren Liebhaber zu töten. Was würde dann aus François und Jean werden? Wie würde der General mit ihnen verfahren? Victor wollte sich das nicht einmal vorstellen. Aber auf jeden Fall würde er es nicht zulassen, dass seinem Patenkind, dessen Zwillingsbruder und Lady Oscar ein Leid zugefügt würde. Auch wenn er sich dabei gegen den General höchstpersönlich stellen sollte.   Reynier platzte innerlich vor Wut. Oscar und André hatten ihn hintergangen! Er würde alle beide töten! Girodel würde für sein beispielloses Schweigen auch eine Strafe erhalten und seines Ranges und Titels entzogen werden. Anders ging es nicht, um die Schande der Familie der de Jarjayes zu bereinigen. Aber jetzt galt es, erst einmal zu Ende zu hören. „Erzählt weiter!“, verlangte er von der Frau und versuchte seinen Zorn unter Kontrolle zu halten.   Adaliz wünschte sich auch, dass der Boden möge sich auftun und sie für die Sünde, die sie vor sechs Jahren begangen hatte, verschlucken. Zu ihrem Leidwesen stand sie noch immer da und musste sich dafür verantworten. „Ich habe den jungen Mann zu ihr vorgelassen und sie brachte einen Sohn zur Welt.“, erzählte sie bangen Herzens und nervös. Dabei schaute sie auf Jean. „Dann kam der zweite Junge zur Welt, aber er hatte kaum geatmet. Die Hebamme meinte, er würde keine zwei Stunden leben und ich soll ihn deshalb wegbringen, bevor seine Eltern überhaupt von ihm etwas merkten...“   Jean gefiel ihr Blick nicht und ihre Worte verursachten ein eigenartiges Gefühl in ihm. Von wem sprach sie? Wessen Eltern meinte sie? Und wieso krallten sich die Finger des Generals noch mehr in seine Schulter? „Bitte hört auf...“, flüsterte er erstickt, aber wurde nicht wahrgenommen.   Der noble Offizier, der zuvor als erster im Stall aufgetaucht war, warf einen vernichtenden Blick auf die Frau des Wirtes und Jean sah zu, wie die Hände des Offiziers sich krampfhaft zu Fäusten formten. „Ihr habt mich angelogen, als ich Euch mit dem Kind verfolgt habe!“, knurrte er wie ein bissiger Hund. Jean verstand das nicht. Was ging hier vor?   „Nein, Monsieur, ich schwöre bei Gott, der Junge hat kaum geatmet!“, widersprach Adeliz. „Niemand hatte damit gerechnet, dass er überlebt!“   Dem noblen Offizier riss der Geduldsfaden. „Dass Ihr ihn behalten habt, ohne dem Wissen seiner Mutter, ist schon ein großes Verbrechen und Ihr werdet Euch dafür vor dem königlichen Gericht verantworten müssen!“   „Schweigt, Girodel!“, schnitt ihm der General das Wort ab. Wenn der königliche Hof davon erführe, dann würde der Skandal unvermeidbar sein und das wollte Reynier auf kein Fall zulassen. „Weder der königliche Gerichtshof, noch meine Tochter, wird davon erfahren, was jetzt hier passiert! Vergesst nicht, wessen Ruf auf dem Spiel steht! Oder wollt Ihr, dass wegen dem Fehlverhalten meiner Tochter wir alle in Ungnade fallen?“   „Nein, General.“ Victor sah das ein. Der General hatte Recht. Lady Oscar würde die erste sein, die darunter leiden würde. Zumal sie nichts von ihrem zweiten Sohn wusste. Nicht einmal, dass sie überhaupt einen hatte. Apropos, der zweite Sohn... „Aber was ist mit dem Jungen?“, wandte Giordel ein und schaute auf Jean.   Der General überlegte. Der Junge, den er die ganze Zeit fest hielt, war also der zweite Sohn von Oscar und der Zwillingsbruder von François. Obwohl der Zorn und die Wut auf seine Tochter weiterhin in ihm brodelten, versuchte er einen klaren Kopf zu bewahren. Soweit er es verstanden hatte, wusste Oscar nichts von ihrem zweiten Sohn. Vielleicht würde es besser sein, wenn es auch so dabei bliebe? „Nun, um ihn werdet Ihr Euch kümmern, Graf de Girodel.“, meinte er und schob den Jungen zu ihm.   Jean machte gezwungenermaßen einen Schritt nach vorn. Dabei wurde seine Schulter losgelassen und er fühlte sich diesbezüglich leichter. Gleichzeitig aber schaute er irritiert von dem jüngeren Offizier zu dem älteren. Welchen Jungen meinten sie? Und um wen sollte dieser Graf de Girodel sich kümmern?   Girodel glaubte, sich verhört zu haben. „Wie bitte?“ Er sollte sich um Jean kümmern? Was würde dann aber mit Lady Oscar geschehen? Und François? Was würde der General mit ihnen tun? Das waren die einzigen Fragen, die Victor gerade am meisten beschäftigten.   „Wir nehmen ihn mit.“, entschied sich der General und erklärte das dem Grafen mit einer List. „Da ich sein Großvater bin, habe ich das Recht dazu und er wird bei Euch eine angemessene Erziehung bekommen.“ Kapitel 33: In der Normandie ---------------------------- Langsam fuhren seine Finger an dem Stoff ihres Hemdes entlang, vertieften den Ausschnitt, schlüpften in das Innere und massierten ihr sanft die Brust, während seine Lippen ihren schlanken Hals liebkosten. „Ich kann es kaum erwarten, wenn die Nacht hereinbricht...“, murmelte er in ihre Haut.   Sie unterdrückte ein erregtes Keuchen, das ihrer Kehle gerade empor stieg und ihren Mund verlassen wollte. Seine trockene, warme Hand und die Sanftheit seiner Lippen auf ihrer weichen Haut trieb in ihr die Wollust und Verlangen nach ihm. Ja, es wäre schön, wenn jetzt Nacht wäre. Aber dem war nicht so. Das helle Tageslicht, der Geruch nach frischem Heu und das leise Schnauben der Pferde im Stall erinnerten sie daran, dass sie gerade von ihrem Ausritt zurück waren. „Ich kann es auch kaum erwarten, mein André, aber lass uns gehen, sonst sieht uns noch jemand...“   Mit bedauerlichem Seufzer ließ André von ihr ab und widmete sich wieder dem Absatteln der Pferde. Zwar bräuchten sie hier in der Normandie keine große Vorsicht walten lassen, denn Rosalie befand sich im Haus und François war auch schon fort, aber sicher war sicher. Sie wollten keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und später keine unangenehmen Fragen beantworten müssen. Sei es auch nur Rosalie und François. Oscar ordnete ihr Hemd, drückte ihrem André einen Kuss auf den Mund und verließ den Stall. Im Haus nahm sie gleich den Weg in die Küche und musste beim strahlenden Gesichtsausdruck von François schmunzeln. Der Junge erzählte gerade Rosalie euphorisch von dem Ausritt am Meer, von den kreischenden Möwen in der Luft, dem salzigen Wind und die Wassertropfen, die beim Ritt sein Gesicht getroffen hatten. Dann sah er seine Ziehmutter die Küche betreten. „Wo ist Papa?“, fragte er und fasste sich plötzlich an die Schulter. Sein Gesicht verzog sich und ihm kam es so vor, als würde jemand mit den Fingern in seine Schulter fest drücken.   „Er sattelt die Pferde ab und kommt deshalb später nach.“ Oscar runzelte die Stirn. Es schien, als würde François wieder diese Schmerzen haben, die in Wirklichkeit keine waren. „Geht es dir gut?“   „Mir geht es gut, Mama.“ François entfernte seine Hand von der Schulter und stand im nächsten Moment vor Oscar mit einem breiten Lächeln. „Darf ich Papa helfen?“   „Natürlich, geh nur.“ Oscar strich François noch durch das lockige, hellbraune Haar und er sauste dann nach draußen.   Rosalie seufzte, während sie den Tisch mit Tee und Gebäck servierte. „Er ist so ein lieber Junge.“   „Ja, das ist er.“ Oscar setzte sich auf einen der Stühle und ihr Gesichtsausdruck wirkte nachdenklich. „Ich frage mich nur, warum er die Schmerzen erfindet.“   „Hatte er wieder welche?“ Rosalie hatte vorhin das verzogene Gesicht von François auch bemerkt, aber sie meinte eigentlich beim Ausritt. Sie goss den aromatisch duftenden Tee in eine Tasse und stellte sie vor ihrer Schutzpatronin hin.   „Danke.“ Oscar nahm einen Schluck und als sie die Tasse von ihren Lippen absetzte, erzählte sie, was beim Ausritt vorgefallen war. „Als wir auf dem Ritt zurück waren, saß er vor André im Sattel, hatte gelacht und dann plötzlich hatte er sich gekrümmt. Er sagte, es täte ihm an der Seite weh. Aber wenigstens war das nicht so schlimm wie beim letzten Mal. Nach wenigen Sekunden ging es ihm wieder gut und er wollte mit froher Laune weiter reiten.“   „Armer Junge.“ Rosalie entließ erneut einen schweren Seufzer. „Wenn wir nur wüssten, was er hat. Jeden Tag tut ihm etwas weh und dann ist er wieder fröhlich, als wäre nichts passiert.“   „Wenn der Arzt ratlos ist, dann sind wir es erst recht, Rosalie.“ Oscar stand auf. „Ich spiele noch etwas am Klavier auf meinem Zimmer und wenn André mit dem Kleinen wieder da ist, könnt ihr den Tisch zum Abendessen decken.“   „Wird gemacht, Lady Oscar.“ Rosalie räumte das Geschirr wieder weg und bereitete das Abendessen vor.   Oscar spielte Klavier auf ihrem Zimmer, bis André zu ihr kam und sie auf den Scheitel küsste. „Das Essen ist angerichtet.“, meinte er in ihr weiches Haar.   Oscar brach die Musik ab, stand auf und drehte sich zu ihm um. Dabei legte sie ihre Arme um seinen Nacken – er die seine um ihre Hüfte. „Dann sollten wir uns beeilen, sonst wird es kalt und kalt schmeckt es nicht.“   „Da hast du recht.“ André küsste ihre weichen Lippen und ließ sie gleich los. „Noch ein paar Stunden und dann können wir bis morgen unsere Liebe genießen.“   „Ja...“ Oscar leckte sich die Lippen und lächelte schelmisch. „Bei mir oder bei dir?“   André verstand und in seinen Augen trat ein Leuchten der Begierde. „Mal schauen, bei wem unser Kleiner heute übernachten will.“ Das war ja nicht die erste Nacht, die sie hier in der Normandie bereits verbracht hatten.   „Also kommst du zu mir, nachdem er eingeschlafen ist.“, ergänzte Oscar genauer.   André war ein wenig verwundert, aber er lächelte verschmilzt. „Du hast für ihn schon die Entscheidung getroffen?“   „Das weniger. Ich vermute das, weil er gestern bei mir war und er wechselt sich doch gerne jede Nacht ab.“, erklärte Oscar und zog sich auf Zehenspitzen zu ihm.   „Das stimmt allerdings.“ André schenkte ihr einen letzten Kuss voller Hingabe und ging dann mit ihr in die Küche. Hier aßen sie gerne alle zusammen.   Wie Oscar geahnt hatte, wollte François heute bei André übernachten. Während Rosalie das Geschirr abwusch, brachte André den Jungen ins Bett und blieb bis Mitternacht bei ihm. Danach vergewisserte er sich, dass der Kleine schlief, dass Rosalie auch schon auf ihrem Zimmer war und ging zu Oscar. Diese wartete bereits auf ihn sehnsuchtsvoll und nackt in ihrem Bett. „Endlich bist du hier.“ Sie saß auf und hielt ein Stück Laken über ihre Blöße. Nein, sie schämte sich nicht vor ihm, ihr kam es nur etwas frisch vor ohne die Wärme seines Körpers.   André beeilte sich beim Ausziehen. „Entschuldige, Liebste.“ Und kaum dass er zu ihr unter den Laken schlüpfte, begann das Liebesspiel zwischen ihnen. Obwohl sie hier in der Normandie jede Nacht ihren Hunger nach einander stillten und die schönsten Stunden der Leidenschaft verlebten, bekamen sie nicht genug von einander. Nun, sie wollten die Zeit der Liebe ausnutzen und auskosten, ohne ständig befürchten zu müssen, dass sie erwischt werden konnten. Die Eltern von Oscar und die Großmutter von André waren ja nicht hier mit ihnen in der Normandie. Und von Rosalie brauchten sie nichts zu befürchten. Die junge Frau befand sich meistens in der Küche, kümmerte sich um François und den Haushalt und würde niemals ungebeten in Oscars Zimmer kommen. Wenn Oscar sie sprechen wollte, dann kam sie selbst zu ihr und trug ihr ihr Anliegen auf. Also, es könnte nicht besser sein und alle waren glücklich. Sogar François hörte ab dem nächsten Tag auf, sich über erfundene Schmerzen zu beschweren. Auch dafür fanden weder Oscar, noch André und Rosalie eine Erklärung, aber es erfreute sie auf eine gewisse Weise. Denn Hauptsache, es ging ihm gut und er war wieder ihr fröhlicher Sonnenschein.   François war es seinerseits gewohnt, am Morgen aufzuwachen und seine Mutter oder Vater nicht mehr neben sich im Bett vorzufinden. Sie standen sehr früh auf und wollten ihn schlafen lassen, hatten sie ihm erklärt und das verstand er gut. Er stieg aus dem Bett und lief in die Küche, wo Rosalie bereits das Frühstück zubereitete. Wenig später kam Oscar und danach André aus dem Stall. Nach dem Frühstück ritten sie erneut an der Küste entlang aus, dann zeigten sie ihm im Hof des Hauses ihre Fechtkünste und heute war er noch glücklicher als gestern oder vorgestern. Nicht nur, weil er mit ihnen über längere Zeit zusammen war, sondern weil die unerklärlichen Schmerzen nicht mehr kamen. Kapitel 34: General de Jarjayes ------------------------------- Eine hellgraue Wolke und der Geruch nach Tabak verbreiteten sich im Kontor des Generals und Graf de Girodel musste in seine Faust hüsteln. Sofort ordnete er seine Stimmbänder und erzählte weiter. General de Jarjayes saß in seinem gepolsterten Stuhl und rauchte eine Pfeife. Aufmerksam hörte er Girodel über die Entwicklung des Jungen zu, der bei ihm in Paris schon seit einer knappen Woche lebte. Den Namen Jean trug er auch nicht mehr. Weil François bei seiner Geburt genauso genannt wurde, hatte Reynier dessen Zwillingsbruder kurzerhand unbenannt. Jetzt hieß er Augustin und gewöhnte sich an seinen neuen Namen genauso schnell wie an sein neues Leben. „Habt Ihr ihm auch gesagt, wer seine Eltern sind, Graf de Girodel?“, wollte Reynier wissen, als sein Gegenüber mit der Erzählung endete.   „Das mache ich jedes Mal, wenn ich bei ihm bin, General de Jarjayes.“ Victor dachte dabei an François und Lady Oscar. Wie würde er ihnen jemals ins Gesicht sehen können? Vor einer Woche, als er Augustin nach Paris brachte, hatte der General ihm die Schweigepflicht auferlegt. Er durfte niemanden etwas über den Jungen erzählen, sonst würde es Lady Oscar, dem kleinen François und André schlecht ergehen.   „Gut.“, sagte Reynier mit einem zufriedenen Lächeln. „So macht Ihr es weiter.“ Er hatte Girodel vor wenigen Tagen besucht und selbst gesehen, dass es dem Jungen gut ging. Augustin lernte schnell. Besonders im Umgang mit dem Holzschwert machte er Fortschritte. Obwohl er erst sechs Jahre alt war, erwies er sich als geschickt darin und erinnerte den General noch mehr an seine Mutter, als sie genauso alt war wie ihr Zweitgeborener. Oscar wusste nichts von ihm und würde es auch nie erfahren. Reynier hatte bereits Pläne geschmiedet und würde sie in naher Zukunft umsetzen. Dafür brauchte er Girodel und damit alles nach seinem Plan lief, hatte er ihm deshalb die Schweigepflicht vor einer Woche auferlegt. Er wollte damit seine Tochter mit den gleichen Waffen schlagen wie sie ihn. Das hieß, wenn sie die Menschen belügen und täuschen konnte, dann konnte er es noch besser. Also sollte Oscar weiterhin glauben, dass ihr Vater nichts von ihrem Geheimnis wusste und dafür würde er ein anderes Geheimnis hüten, von dessen Existenz sie wiederum keine Ahnung hatte.   Victor zerfraß sich mit Gewissensbissen. Der General mochte vielleicht gewissenlos das Spiel des Truges und der Lüge durchziehen zu können, aber für ihn, den treuen Untergebenen von Lady Oscar, war das eine Qual. Für sie zu schweigen und ihr Geheimnis zu bewahren, war es dagegen viel erträglicher. Aber was würde er schon dagegen tun können? Der General meinte es ernst mit seiner Drohung und er hatte keine andere Wahl, als mitzuspielen. Denn Lady Oscar, obwohl sie einen anderen Mann liebte und von ihm ein, nein zwei Kinder hatte, besaß sie noch immer Platz in seinem Herzen. „Verzeiht die Frage, General, aber wollt Ihr den Jungen wirklich vor dem Kommandanten verschweigen?“, fragte Girodel vorsichtig. Auch wenn er die Antwort kannte, wagte er es trotzdem hin und wieder, diese Frage zu stellen. Und wenn sie über Oscar und Augustin auf dem Anwesen der de Jarjayes miteinander sprachen, nannten sie keinen Namen.   General überlegte etwas. Der junge Graf schien Oscar sehr zu mögen, wenn er eine solche Frage öfters stellte. „Solange der besagte Kommandant selbst mit der Wahrheit nicht ausrückt.“, erwiderte Reynier trocken.   Victor seufzte. „Ich glaube nicht, dass es jemals dazu kommen wird.“   Daran glaubte der General auch – er kannte ja seine Tochter gut genug, aber... „Früher oder später kommt jede Wahrheit ans Licht.“ Der beste Beweis dafür befand sich gerade bei Girodel in der Wohnung in Paris.   An der Tür wurde in dem Moment kurz geklopft und sogleich aufgemacht. Oscar kam herein, ohne eine Erlaubnis zum Betreten des Zimmers abzuwarten. „Vater, wir sind gerade aus der Normandie zurück.“ Dann bemerkte sie Girodel. „Seid gegrüßt, Graf, welche eine Überraschung.“   Nun, mit ihrer Rückkehr hatte sie die zwei Männer so gesehen auch überrascht. Victor wagte nach der Begrüßung Oscar nicht mehr anzusehen und erhob sich von seinem Stuhl. „Ich wollte mich gerade verabschieden. Ihr wisst, die Pflichten warten nicht. Wir sehen uns in Versailles, Lady Oscar.“ Victor schaute lieber zum General. „Mit Eurer Erlaubnis.“   „Geht nur, Graf de Girodel, und vergisst nicht, was wir besprochen haben.“, verabschiedete ihn Reynier mit diesem hinterlistigen Lächeln, das seit einer Woche bei ihm oft zu sehen war.   Girodel senkte seinen Blick, als er an Oscar vorbei eilte und außerhalb des Kontors beschleunigte er seinen Schritt. Oscar schaute ihm ein wenig verwundert nach. „Was ist mit ihm los?“   „Womöglich braucht er auch einen längeren Urlaub.“ Reynier legte seine Pfeife auf den Tisch und inspizierte seine Tochter vom Kopf bis Fuß. Besonders ihren Bauch. Nicht dass er wieder wächst.   Oscar entriss ihren Blick von der geöffneten Tür, hinter der Girodel überstürzt verschwunden war und kam auf ihren Vater zu. „Ist etwas während meiner Abwesenheit in Versailles vorgefallen?“   „Nein, nicht das ich wüsste.“ Äußerlich bewahrte der General Ruhe und einen undurchschaubaren Gesichtsausdruck. Aber innerlich entstand der Drang, seine Tochter zu packen und aus ihr die Wahrheit herauszuprügeln. Aber dank seiner eisernen Disziplin, beherrschte er sich. Wenn er jetzt seinem Zorn freien Lauf lassen würde, dann konnte er alle seine Pläne und Vorhaben vergessen. Also erst einmal richtig durchatmen, seinen Ärger wie eine bittere Medizin herunterschlucken und einen Ahnungslosen vorgaukeln. „Wo ist François?“, wollte er wissen. „Hast du ihn in der Normandie etwa verloren?“   „Natürlich nicht, Vater. Er ist auf dem Heimweg eingeschlafen und Rosalie bringt ihn deshalb ins Bett. Aber wenn Ihr ihn so sehr sehen wollt...“   „Nicht nötig, Oscar, ich werde ihn später noch genug zu Gesicht bekommen.“ Oder besser gesagt, seinen Zwillingsbruder. Das Spiel hatte soeben begonnen. „Ich habe mir nur überlegt, schon bald einen Fechtpartner für den Jungen zu suchen.“ Reynier bemerkte mit gewisser Genugtuung, dass diese Idee seiner Tochter nicht gefallen hatte. Ihr Gesicht verzog sich missfällig und in ihren Augen glomm der Funke des Protestes auf.   Oscar war in der Tat nicht sonderlich angetan von dem Vorhaben ihres Vaters. „Einen Fechtpartner?“, fragte sie vorerst, um ihr Missfallen darüber zu verbergen.   „Ganz recht.“ Reynier zog seine Mundwinkel leicht nach oben. Er dachte dabei an Augustin, aber sprach über François. „Er wird mit ihm lernen, wie man einen Degen führt, Feuerwaffen einsetzt und kämpft.“   „Aber erst doch gerade mal sechs Jahre alt!“, platzte es fassungslos aus Oscar heraus. Das Vorhaben ihres Vaters behagte ihr nicht. Was fiel ihm ein, über ihr Kind zu bestimmen! In ihr brodelte das Blut heiß durch die Adern und sie mühte sich krampfhaft, ihr hitziges Temperament nicht ausbrechen zu lassen. Sonst könnte er ihr die Frage stellen, warum sie denn so sehr um ein Findelkind umsorgt war und sie würde in ihrer Rage womöglich die Wahrheit unbeabsichtigt offenbaren. Wenn das passieren würde, dann würde die Hölle auf Erden losbrechen und das war ganz und gar nicht in ihrem Sinne. Also ihre Wut wie eine der grässlich schmeckenden Heilmittel von Sophie herunterschlucken und ihrem Vater zuhören.   „Also, er ist schon alt genug, um ein Übungsschwert in der Hand zu halten.“, meinte Reynier von ihrem nahenden Ausbruch unbeeindruckt. „Wenn François sich gut macht, kommt er dann nach Versailles und wird unserem Königspaar und dem gesamten Hof vorgestellt. Wir wollen doch, dass aus ihm ein gut erzogener Soldat wird.“   „Ein Soldat?“ Nein, auf gar keinen Fall! Oscar ahnte, worauf ihr Vater hinaus wollte und er bestätigte das auch noch mit: „Ja, Oscar, ein Soldat für die Armee des Königs.“   Oscar formte angespannt ihre Hände zu Fäusten. Sie konnte nicht mehr ihre Gefühle im Griff halten. „Nein, Vater, ich entscheide, was aus ihm wird!“   Natürlich, du bist ja seine Mutter, dachte General bei sich, aber sagte stattdessen im befehlshaberischen Ton: „Und ich entscheide, was in diesem Haus passiert! Wer meine Regeln nicht befolgt, wird entweder hart bestraft oder vor die Tür gesetzt! Das gilt ganz besonders für dich, meine Tochter!“ Wenn es weiter so geht, überlegte Reynier für sich, dann würde Oscar unbewusst ihr Geheimnis verraten können und er würde das Spiel gewinnen. Aber dazu kam es nicht.   Oscar, obwohl sie in Rage war, achtete sorgsam darauf, kein falsches Wort zu sagen, welches die Liebe zu ihrem André und ihrem Sohn verraten konnte. „Aber François ist noch ein Kind!“   „Du warst zwei Jahre alt, als ich dir ein Holzschwert geschenkt habe und du warst sehr stolz auf das Geschenk.“, erinnerte Reynier sie an die Zeit ihrer Erziehung. „Mit vier Jahren hast du einen echten Dolch in der Hand gehalten, ohne dich dabei zu verletzen und mit sechs hast du schon mit einem echten Übungsschwert gekämpft.“   „Weil Ihr immer dabei wart, Vater!“   „In der Tat, das war ich und ich habe dich zu einem hervorragenden Kämpfer ausgebildet. Ohne mich und meiner Erziehung wärst du schon längst verheiratet und mit einem Haufen Kinder von einem unliebsamen Mann beschenkt! Vergiss nicht, wem du deine Freiheit verdankst, Oscar.“ Der General hatte schon genug von dem Gespräch. Seine Tochter war stur, aber er war ihr Vater und ob sie wollte oder nicht, würde sie seinem Befehl Folge leisten müssen. Er erhob sich von seinem Stuhl und kam näher an sie heran. „Ich überlasse die Erziehung von François erst einmal dir. Mach mit ihm, was du für richtig hältst, aber am Ende werde ich es entscheiden.“ Und gewinnen, fügte Reynier in seinen Gedanken hinzu. „Wir sehen uns in Versailles, meine Tochter.“   Der General verließ sein Kontor und Oscar schlug wütend gegen die Tischplatte mit der Faust. Niemand hatte das Recht über ihr Kind zu bestimmen außer ihr und André! Sie hatte François nicht hier auf dem elterlichen Anwesen großziehen lassen, damit ihn später jeder dieser intriganten Höflinge in Versailles zu Gesicht bekam!   „Oscar, ich habe Krach gehört.“ André tauchte besorgt im Kontor auf und in wenigen Schritten war er schon bei ihr. „Was ist passiert?“   „Vater will unseren François jetzt schon zu einem Soldaten ausbilden!“, zischte Oscar ohne jeglichen Versuch, ihre Wut zu verbergen. Aber vor ihrem Geliebten brauchte sie das nicht zu tun – er kannte sie schon in und auswendig. „Ich lasse das aber nicht zu!“, knurrte sie weiter gedämpft. „Ich will, dass er ein ganz normales Leben führt und aus ihm kein kaltherziger Unmensch wie ich wird!“   André verstand ihren Ausbruch und hätte sie gerne in seinen Armen getröstet, aber dafür war es ein falscher Ort und die Tür stand zusätzlich offen. „Ich denke, du machst dir unnötige Sorgen, Oscar.“   „Du weißt nicht, was er zu mir gesagt hat!“, schnaufte Oscar noch immer außer sich vor Wut.   „Nein, das weiß ich nicht.“ André senkte seine Stimme zum Flüstern und berührte sachte die Schulter von seiner Geliebten. „Aber ich weiß, dass aus François niemals ein schlechter Mensch wird, weil er unser Kleiner ist.“   Oscar ließ sich seine versteckte Botschaft durch den Kopf gehen. „Du hast recht, er ist mehr wie du als wie ich.“, sagte sie leise, aber verständlich und schaute zu ihrem Geliebten. „Egal, was mein Vater sagt, wir werden François so erziehen, wie wir es für richtig halten.“   „Ja, Oscar, so machen wir das.“ André verringerte doch noch die Distanz zwischen ihnen, aber nur um seine Geliebte zu necken. „Soll ich heute zu dir kommen?“   Oscar lächelte unwillkürlich bei dieser Frage. „Das wäre äußerst skandalös, André.“   „Wenn es so ist, dann besuchst du mich vielleicht?“ André tat zwar so, als meinte er das aus Spaß und nur um sie zum Lachen zu bringen, aber innerlich hätte er nichts dagegen, mit ihr eine Nacht zu verbringen. Sie müssten nicht gleich miteinander schlafen, es reichte auch aus, in den Armen des anderen einzuschlafen. Hauptsache, Oscar würde sich beruhigen und sich dann besser fühlen.   „Nein, du kannst in mein Zimmer kommen und mir dann ausführlicher berichten, was dich zu mir führt.“ Oscar würde sich ihrerseits jetzt schon gern in seinen Armen trösten lassen, aber das ging nicht und so blieb nur das Lächeln, welches ihre Lippen gerade formten.   „Das werde ich, Oscar, das und noch viel mehr.“, versprach André ihr verschwörerisch und ihre Laune besserte sich. Kapitel 35: Das Fehlen ---------------------- Oktober 1781.   Im Zimmer herrschte finstere Dunkelheit, um besser das Geschehen draußen beobachten zu können. Augustin sah faszinierend aus dem Fenster der Wohnung, wo er schon seit dem Sommer dieses Jahres lebte. Der Himmel leuchtete in verschiedenen Farben auf und viele Menschen tanzten und sangen mitten auf den Straßen. So etwas Herrliches hatte er noch nie erlebt. In dem Dorf, wo er noch vor wenigen Monaten gelebt hatte, gab es nur die farblosen und trostlosen Tage, die immer nach dem gleichen Muster verliefen: Er wurde geschlagen, beschimpft und wie ein Nutzvieh behandelt. Bis auf die gleichaltrige Anna, dem Pfarrer in der Kirche und der Heilkundigen, bei der er gewohnt hatte, war er allen anderen Menschen gleichgültig. Immer und immer wieder hatten sie ihm eingeredet, er sei ein Niemand und sollte eigentlich sterben. Aber er lebte und bei Graf de Girodel begriff er mit der Zeit, warum. Er hatte Eltern und einen Zwillingsbruder, für die er lebte und die er irgendwann sehen würde. Das hatte ihm General de Jajrayes versprochen und er wollte ihm glauben. Wenn die beiden Offiziere nicht in das Dorf gekommen wären, dann hätte er womöglich nie erfahren, dass er Eltern und einen Zwillingsbruder hatte. Wie waren sie? Wo waren sie gerade jetzt? Was machten sie? Und wann würde er sie überhaupt sehen können?   Sein Erzieher, Graf de Girodel, erzählte ihm immer über seine Eltern und den Zwillingsbruder. Er wusste bereits fast alles über sie, prägte sich jedes Wort ein und sehnte sich danach, sie wenigstens ein einziges Mal sehen zu können. Seine Mutter war eine Adlige, wurde wie ein Mann erzogen und diente als Kommandant in der königlichen Garde. Wenn sie auf ihrem weißen Pferd ritt, dann leuchtete ihr Haar so hell wie die Sonne und ihre himmelblauen Augen glänzten wie Saphire. Augustin hatte schon bei seinem Erzieher ein Saphirring gesehen und wusste bereits, dass es ein Edelstein war. Genauso wie ein Smaragd, mit dessen grünen Farbe Graf de Girodel die Augen seines Vaters verglich und den er bei ihm auch schon gesehen hatte. Sein Vater war das genaue Gegenteil von seiner Mutter und gehörte nicht dem Adel an. Und sein Zwillingsbruder François war eine Mischung von den beiden, genauso wie er, Augustin, von dessen Existenz sie nicht einmal ahnten.   Augustin hörte immer begeistert zu, wenn Graf de Girodel über seine Eltern und seinen Zwillingsbruder erzählte. Besonders seine Mutter beschrieb der Graf in den schönsten Tönen und sprach von ihr wie von einem bezaubernden Engel. Sie war aber nicht nur schön, sondern auch mutig und besaß ein sehr gutes Herz. Augustin lächelte, als er sich seine Eltern und seinen Zwillingsbruder anhand der Erzählungen des Grafen vorstellte und in seinen Kinderaugen spiegelten sich die farbenfrohen Lichtpunkte, die den dunklen Nachthimmel ununterbrochen erhellten.   „Das nennt man Feuerwerk.“, sagte sein Erzieher, der direkt hinter ihm am Fenster stand und seine Hände ganz leicht auf seine Schulter legte. Er hatte den Jungen bereits ins Herz geschlossen, denn im Gegensatz zu François, der mehr nach André ging, besaß Augustin mehr Ähnlichkeiten mit Lady Oscar.   „Es sieht sehr schön aus!“, schwärmte Augustin und kletterte auf den Fenstersims, um noch besser sehen zu können.   „In der Tat.“ Girodel half ihm und bot ihm den sicheren Halt, damit er von dem schmalen Fenstersims nicht herunterfiel. „Heute feiern alle Menschen die Geburt des langersehnten Thronfolgers, Prinz Louis Joseph.“   Nur weil ein Prinz geboren wurde, veranstalteten die Menschen so ein schönes Fest und eine Himmelsbeleuchtung? Augustin verstand das nicht. Aber egal. Ihn interessierte sowieso etwas anderes. Oder besser gesagt, jemand anderes. „Feiern meine Eltern auch?“   „Aber natürlich feiern sie auch mit.“, erklärte Victor. „Die Geburt des Prinzen ist ein sehr guter Grund zum Feiern, weil er der zukünftiger König von Frankreich sein wird. Die Menschen haben schon lange darauf gewartet und feiern deshalb. Auch deine Eltern feiern mit und sie sind in der Stadt.“   Der zukünftige König also... Aber auch das war nur ein flüchtiger Gedanke. Augustin schaute auf die von den Laternen beleuchtete Straße, wo viele Menschen singend und mit froher Laune vorbei gingen. „Werde ich meine Eltern sehen können?“   Graf de Girodel überlegte. Lady Oscar und André feierten die Geburt des Thronfolgers zwar in der Stadt, aber sie konnten überall sein. Es war eine magere Hoffnung, dass sie ausgerechnet hier vorbeilaufen würden, aber Victor wollte dem Jungen diese Hoffnung nicht nehmen. „Nun, wenn deine Eltern hier vorbei gehen, dann würdest du sie sehen können.“   Augustin schaute konzentriert auf die Straße und betrachtete jeden, der etwas Rotes an hatte. „Da!“, rief er aufgeregt und zeigte dem Grafen mit seinem Finger auf der Fensterscheibe auf bestimmten Punkt. „Ein weißes Pferd! Und auch ein dunkles Pferd ist dabei!“   Victor folgte dem Finger des Junges mit seinem Blick und entdeckte in der feiernden Menge in der Tat das Pferd von Oscar und auch der braune Hengst von André. Welch ein Zufall. „Siehst du den Offizier in der roten Uniform?“   „Ja.“ Augustin nickte heftig und ihm kam es so vor, als würde sein Herz aus seinem Brustkorb herausspringen wollen.   „Das ist Oscar François de Jarjayes, Kommandant des königlichen Garderegiments.“, meinte Victor und das Gesicht des Jungen erhellte sich. Vergessen war das Feuerwerk und es galten nur noch diese zwei Menschen mit Pferden, die im Fluss der feiernden Menge die Straße passierten. „Meine Mama!“, sagte Augustin zu der Fensterscheibe und lehnte sich an die glatte Oberfläche, als wollte er sie damit aufhalten.   „Genau, das ist deine Mutter.“ Victor schob den Jungen etwas und zeigte auf den Begleiter von Lady Oscar. „Siehst du auch den Mann an ihrer Seite, der das braune Pferd führt?“   „Mein Papa!“, meinte der Kleine und Graf de Girodel bejahte. „Ja, das sind deine Eltern.“   Seine Eltern - so nah und doch so fern. Augustin wollte am liebsten das Fenster öffnen und nach ihnen Rufen: Mama! Papa! Ich bin hier! Leider blieb das nur ein stummer Ruf seines schnell schlagenden Herzens. Aber was war das? Seine Mutter schien ihn gehört zu haben und schaute nach oben. Sie war wirklich schön! Auch wenn Augustin nicht viel von ihrem Gesicht erkennen konnte, war er wie verzaubert von ihr. Sein Vater folge ihrem Blick und da hielt es Augustin nicht länger aus. „Darf ich zu ihnen? Bitte!“   Victor verstand und hätte ihm gerne diesen Wunsch erfüllt, aber er durfte das ohne Erlaubnis des Generals de Jarjayes nicht tun. Wie bedauerlich es auch war, er musste den Jungen enttäuschen. „Nein. Du weißt doch, dein Großvater hat das noch nicht erlaubt und deine Eltern wissen noch nichts von dir.“   Augustin schaute jetzt traurig aus dem Fenster so lange, bis von seinen Eltern nichts mehr zu sehen war. „Ich will sie sehen...“ Er weinte nicht und hatte nicht einmal Tränen in den Augen – er war nur betrübt und bekümmert.   „Irgendwann wirst du sie sehen, das hat dir dein Großvater doch versprochen und er hält sein Versprechen.“, versuchte Graf de Girdel ihn damit aufzumuntern, aber sich sicher war er nicht. Ja, der General de Jarjayes hielt sein Versprechen und würde irgendwann den Jungen zu sich auf das Anwesen holen. Nur aber würden Lady Oscar und André weiterhin nichts davon wissen, dass Augustin genauso ihr Sohn war…   Augustin nickte und sagte nichts mehr. Hier wurde er besser behandelt und trotzdem fühlte er sich einsam. Jetzt, wo er seine Eltern gesehen hatte, sehnte er sich noch mehr nach ihnen, als bei den Erzählungen von Graf de Girodel. Und es gab noch seinen Zwillingsbruder. Augustin wusste, dass François seine Eltern als Zieheltern ansah, weil er in dem Glauben aufwuchs, nach seiner Geburt im Wald gefunden worden zu sein. Aber François konnte sie wenigstens oft sehen und durfte sie Papa und Mama nennen. Wie gerne wäre Augustin jetzt an seiner Stelle gewesen. Nein, er war nicht neidisch, er hatte nur eine große Sehnsucht nach seiner Familie, die ihm kurz nach seiner Geburt genommen wurde und die nicht wusste, dass er überhaupt existierte. Seine Mutter, sein Vater und sein Zwillingsbruder – sie fehlten ihm so sehr, dass es ihm tief in der Brust schmerzte und ein sehr bedrücktes Gefühl verursachte. Er fragte sich, ob sie diese Leere, dass ihnen etwas oder jemand fehlte, auch spürten? Seine Eltern womöglich nicht, denn sie wussten nicht von seiner Existenz! Aber was war mit François?   Graf de Girodel hatte ihm erzählt, dass François oft unerklärliche Schmerzen bekam und von einem Dorf träumte, wo er von zwei Burschen geschlagen wurde. Aber seit Augustin nicht mehr in diesem Dorf lebte, hatten diese Schmerzen bei François aufgehört. Augustin war verwundert und hatte dem Grafen seinerseits über seine Träume erzählt, wo er am Meer mit seinen Eltern ausritt und sehr glücklich war. Graf de Girodel hatte gelächelt und ihm erklärt, dass Zwillinge eine gewisse Bindung zueinander hatten und konnten einige Sachen spüren, die mit dem anderen passierten. Wenn das stimmte, dann müsste Francois jetzt die gleichen Gefühle nach Einsamkeit, Leere und Sehnsucht empfinden wie er, Augustin...       - - -       Der Himmel leuchtete bis tief in die Nacht in verschiedenen Farben auf und dieses atemberaubende Schauspiel konnten die Menschen fast überall sehen. Auf dem Turm des Anwesen de Jarjayes stand François mit Rosalie und beobachtete fasziniert das Feuerwerk, das am ganzen Himmel in verschiedenen Farben erleuchtete. Der langersehnte Thronfolger wurde geboren und zu seinen Ehren eine sehr große Feier veranstaltet, das wusste François und bekam unerwartet ein bedrückendes Gefühl. Nein, das waren keine dieser unerklärlichen Schmerzen, die er noch vor wenigen Monaten empfunden hatte, sondern er fühlte sich auf einmal einsam und leer.   „Gefällt es dir?“, fragte ihn Rosalie auf Bezug des Feuerwerkes.   François verstand, was sie meinte und nickte zustimmend. „Ja, es ist schön! Sehen das Papa und Mama auch?“   „Natürlich sehen sie das.“ Rosalie schmunzelte und merkte nichts von seinem innerlichen Kummer. „Deine Zieheltern sind bestimmt in Versailles und feiern die Geburt des Prinzen dort mit.“   Auch wenn ihm das schöne Schauspiel am Nachthimmel sehr gefiel, entließ François dennoch einen schweren Seufzer. „Ich will zu ihnen.“   „Sie werden ganz bestimmt bald dienstfreie Tage bekommen.“, beruhigte Rosalie ihn und bekam nur ein verstelltes Lächeln als Antwort.   François schaute jetzt dem Feuerwerk lustlos und gedankenverloren zu. Die Traurigkeit und die Einsamkeit in seinem Herzen verbreitet sich im ganzen Körper. Und das war nicht wegen seinen Zieheltern. Er fand es zwar schade, dass sie in diesem Moment nicht bei ihm waren, aber morgen oder übermorgen würde er sie wiedersehen und mit ihnen eine schöne Zeit verbringen. Das war normal so und er war daran gewohnt. Diese herrschende Leere und Sehnsucht in ihm geschah wegen etwas anderem. Oder besser gesagt, wegen jemand anderen, der ganz nah und gleichzeitig so fern von ihm war. François konnte sich das nicht erklären, aber er ahnte, dass es jemanden gab, der mit ihm den gleichen Kummer teilte und sich genauso betrübt fühlte wie er. Kapitel 36: Nacht im Jagdhaus ----------------------------- Endlich brachte die Königin einen männlichen Erben zur Welt! Die Menschen hatten auf den Thronfolger schon lange gewartet und nun gab es Hoffnung für Frankreich. Um zu feiern gingen die Menschen sogar auf die Straßen. Sie sangen und tanzten, während das Feuerwerk den Himmel in verschiedenen Farben erleuchtete. Oscar und André feierten mit und mischten sich unter das selige Volk. Ihre Pferde führten sie hinter sich an den Zügeln und passierten mit froher Stimmung und im Strom der Feiernden Straße für Straße, Brücke für Brücke und Haus für Haus.   „Ich fühle mich beobachtet.“, sagte auf einmal Oscar zu ihrem Geliebten, als sie an einem der Häuser vorbeigingen.   André lachte daraufhin. „Du bist lustig, wir sind umzingelt von lauten feiernden Menschen!“   „Ja, vielleicht hast du recht, das wird es wohl sein.“ Oscar lächelte, trotzdem sie das Gefühl nicht erwehren konnte, beobachtet zu werden und das nicht von den hier anwesenden Menschen. Ihr Brustkorb zog sich erdrückend zusammen und sie bekam noch zusätzlich das Gefühl, als würde jemand nach ihr rufen. Die Stimme eines Kindes sauste in ihrem Kopf durch und klang zu sehr nach François. Dachte ihr kleiner Sonnenschein gerade an sie? Vielleicht beobachtete er in dem Moment das Feuerwerk und wünschte seine Eltern bei sich?   Ja und nein, besagte das Gefühl in Oscar und bewog sie nach oben zu sehen. Die Fenster des Hauses waren unbeleuchtet und doch bildete sie sich ein, dass jemand hinter einem dieser dunklen Fenstern stand und sie anschaute. André folgte ihrem Blick und seine Stirn legte sich in Falten. Als hätte Oscar ihn angesteckt, bekam auch er das unwohle Gefühl, beobachtet zu werden. „Oscar, lass uns weiter gehen.“   Oscar nickte ihm einvernehmlich zu und entriss ihren Blick von den Fenstern des Hauses, das sie langsam hinter sich ließen. „Ja, André, lass uns zu unserem Jagdhaus am See reiten.“   André schaute leicht überrascht zu ihr. „Was willst du dort?“   „Mit dir unsere Liebe feiern.“ Oscar verdrängte das bedrückte Gefühlt und lächelte schelmisch. Sie führte ihr Pferd aus der Menge der feiernden Menschen und abseits der Straße stieg sie in den Sattel.   André verstand und folgte ihr mit einem breiten Grinsen. Auch bei ihm verflog das unwohle Gefühl. Nun, seine Oscar hatte gerade ein sehr verlockendes Angebot gemacht, dem er nicht widerstehen konnte. „Das ist eine gute Idee und ich habe schon Sehnsucht nach dir.“ Galant stieg er in den Sattel und trabte mit Oscar die Pferde an. Aufgrund der vielen Menschen auf den Straßen, konnten sie nicht so schnell reiten und mussten aufpassen, dass ihnen niemand unter die Hufe geriet. Aber als sie aus der Stadt rauskamen, gaben sie ihren vierbeinigen Gefährten die Sporen und ritten sehr schnell zu ihrem altbekannten Jagdhaus am See.   „Hey, warte auf mich!“, rief André seiner Geliebten nach und spornte sein Pferd mehr an. Als Antwort bekam er nur ihr helles Lachen zu hören. Na, warte, dachte er bei sich, ich werde gleich einen anderen Ritt mit dir machen und du wirst anders lachen. Nein, nicht lachen, korrigierte er sich, sondern unter mir stöhnen und mich lächelnd darum bitten, schneller zu werden. Schon alleine der Gedanke über das leidenschaftliche Vergnügen mit seiner Oscar erregte ihn sehr. Nur noch etwas und dann würde er ihr seine Liebe zeigen, ihren Körper liebkosen und mit ihr den Gipfel der Lust besteigen können.   André holte Oscar am Jagdhaus ein und band schnell mit ihr die Pferde in den Unterstand, bevor er mit ihr ins Haus ging und auf seinen lüsternen Vorstellungen Taten folgen ließ. Das Feuerwerk, das in der Ferne den Himmel noch immer erleuchtete, reichte nicht bis hierher. Im Inneren des Hauses war es dunkel und kühl. Aber sie kannten sich hier sehr gut aus, um auch ohne Licht zu wissen, wo die breite Bank stand. Sie tasteten sich bis zu ihr vor und begannen sich auszuziehen. Oscars Uniform war kompliziert und schwer, aber Oscar schaffte mit geschickten Fingern sich ihr auch im Dunkeln schnell zu entledigen. André hatte derweilen seine Oberbekleidung auf der Bank ausgebreitet und zog Oscar in seine Arme.   „Uii, da ist jemand heute ungeduldig!“, neckte Oscar und bekam sogleich seine Lippen auf ihrem Mund zu spüren. „Du glaubst nicht, wie sehr ich dich liebe...“, murmelte er und ihre Neckereien zerstreuten sich in der Dunkelheit. Obwohl sie diese Worte von ihm oft hörte, berauschten sie sie dennoch jedes Mal aufs Neue und entfachten in ihr eine unerträgliche Sehnsucht nach ihm und den unersättlichen Hunger nach seiner Liebe. „Ich liebe dich mehr als du es dir vorstellen kannst...“, stöhnte Oscar und zerrte an seinen Kleidern.   André schmunzelte, als ihre Hände sein Hemd aus der Hose schoben. Jetzt war sie die Ungeduldige, während er sich die Zeit nahm und ihren schlanken Hals mit seinen Lippen liebkoste. Seine Finger vertieften ihren Ausschnitt bis zum Bauchnabel und machten ihr den Hosenbund auf. Oscar drängte ihn auf die Bank und während er sich hinsetzte, half er ihr aus der Hose und den Stiefeln. Dabei streichelte er an ihren schlanken Beinen und wo seine Finger waren, folgten seine Lippen.   Oscar stöhnte erregt und ihre Finger fuhren gierig durch sein Haar, als seine Lippen ihren Venushügel erreichten und darauf kleine Küsse verteilten. Ihr Atem ging flacher, ihre Beine wurden weich und sie konnte kaum noch stehen. Sie wollte ihn auf der Stelle!   André genoss den salzigen Geschmack ihrer Haut, als sein Kopf plötzlich gepackt und sein Körper ruckartig nach hinten geschoben wurde. „Oscar, sei nicht so ungeduldig...“, wollte er sagen, aber sie stieg schon rittlings über ihn und ihr leidenschaftlicher Kuss brachte ihn zum Schweigen. Ihre Finger nestelten sogleich an seinem Hosenbund und förderten seine pralle Männlichkeit nach draußen.   Oscar seufzte erleichtert, als sie ihn in sich aufnahm und begann ihr Becken auf und ab zu bewegen. Seine Hände hielten sie um den Rücken, seine Lippen liebkosten ihre entblößte Brust und ihre Bewegungen wurden dadurch schneller. Ihre Finger krallten sich in sein Haar, ihre Sinne zerstreuten sich in alle Richtungen und aus ihrer Kehle entrann ein lustvolles Keuchen. Was für ein Vergnügen! So, als hätten sie sich schon seit langem nicht mehr vereint. Aber dem war nicht so. Ihre letzte Nacht der Leidenschaft und Liebe lag gerade mal eine Woche zurück.   „Oscar, Liebste...“, keuchte André in ihre Haut. „Lass mich das bitte weiter machen… sonst wirst du wieder schwanger... ich... ich kann mich bald nicht mehr zurückhalten...“   „Ja, gleich...“ Oscar gab ihm recht. Jedoch konnte sie nicht gerade jetzt aufhören und von ihm absteigen, wo sie fast die Spitze der Lust erreicht hatte! Er würde es schon aushalten, redete sie sich ein und in dem Moment kam bei ihr der Höhepunkt. Ihr Körper hielt inne, ihre Muskeln spannten sich an und pressten seine Männlichkeit zusammen.   Nein, nicht jetzt, beschwor André sich selbst und versuchte krampfhaft den unerträglichen Druck in seinem Körper zu halten. Aber zwecklos. Seine Samen schossen wie ein explosiver Vulkan in ihr und es war unmöglich, sich aus seiner Geliebten zu ziehen. Was hatte er nur getan? Warum konnte er sich auf einmal nicht mehr zurück halten? Bisher hatte es doch immer funktioniert! „Es tut mir so leid, Liebste...“, flüsterte er schuldbewusst und zog ihren Körper eng an sich. „Ich habe versucht es zurück zu halten, aber es kam von alleine…“   Oscar schmiegte sich in seinen Armen. Ihr Körper entspannte sich und ihr schneller Atem beruhigte sich. Sie verstand was er meinte, aber gab ihm nicht die Schuld. „Wenn ich schwanger werden sollte, dann wird es nicht alleine deine Schuld sein… Im Grunde genommen bin ich diejenige, die nicht auf dich gehört hat...“   André widersprach ihr nicht und entließ nur einen schweren Seufzer. „Dann hoffen wir, dass wir Glück haben...“   „Wir werden es sehen.“ Kapitel 37: Das Spiel des Schicksals ------------------------------------ März - Juli 1782.   Wie konnte die Königin nur so etwas tun? Diese Frage beschäftigte viele Menschen in und außerhalb von Versailles. Wenige Wochen nach der Geburt des Thronfolgers zog sich Ihre Majestät mit ihren Kindern in das Lustschlösschen Trianon zurück und seitdem hörte fast niemand mehr etwas von ihr. Besuchen durfte sie auch niemand, bis auf die engsten Vertrauten und das waren sehr wenige. Sie vernachlässigte ihre Pflichten als Königin und das missfiel ihren Untertanen sehr.   „Seit einer Weile steigt die Zahl derjenigen, die schlecht von der Königin sprechen. Nachdem sie Tage unterwegs waren, um von Ihr zur Audienz empfangen zu werden, wird es ihnen nicht gestattet zu ihr zu gehen. Einige beschweren sich offen darüber, dass die Königin ihre Pflichten, die sie als Mitglied der königlichen Familien hat, vernachlässigt.“, berichtete André eines Abends, was Oscar eigentlich auch so schon wusste. Denn sie erlebte den Unmut der Höflinge in Versailles tagtäglich und musste schon den einen oder anderen des Schlosses verweisen. Aber sah denn niemand, wenn Marie Antoinette so ungezwungen mit ihren Kindern spielte? Schon seit langem hatte Oscar kein solch glückliches Lächeln bei ihr gesehen.   Oscar spielte auf dem elterlichen Anwesend auf dem Klavier und verglich die Muttergefühle von Marie Antoinette mit ihren eigenen und konnte sich deshalb in ihre Lage gut versetzen. Besonders in ihrem jetzigen Zustand… Anscheinend stellte das Schicksal sie gerne auf die Probe und ließ die Nacht im Jagdhaus vor fünf Monaten mit André nicht ohne Folgen – der wachsende Bauch bestätigte ihr das. Noch war er unter der kompakten Uniform unsichtbar, aber bald würde es nicht mehr so sein.   André stand hinter ihr und legte seine Arme um ihren gerundeten Leib. Er spürte die kleine Bauchwölbung und zerfraß sich mit Gewissensbissen. Warum nur hatte er damals nicht aufgepasst? Oscar war ihm zwar nicht böse, aber er fühlte sich trotzdem schuldig. Denn es war die Frucht von seinem Samen, der jetzt in Oscars Bauch wuchs. Wenn er und Oscar offiziell verheiratet wären und ihre Liebe nicht geheim halten müssten, dann hätte er nichts gegen einen weiteres Kind mit ihr. Jedoch die Umstände waren anders, gefährlicher und würden ihnen beiden das Leben kosten können. Und es gab noch François – der Unschuldigste von ihnen und dessen Leben auf gar keinen Fall aufs Spiel gesetzt werden durfte. André umarmte seine Oscar unbewusst fester an sich und hörte sogleich ihre Stimme, die ihn aus seinen Gedanken riss. „André, lass das sein.“, ermahnte sie ihn und erinnerte ihn daran, dass es für so eine Zweisamkeit noch nicht so spät am Abend war. Rosalie oder Sophie konnten jederzeit reinkommen und den Tisch zum Abendessen decken.   André entfernte sich zwar von ihr, aber ließ die Sache mit der Schwangerschaft nicht auf sich beruhen. „Ich mache mir trotzdem Sorgen. Wie soll es nur weitergehen?“   „Uns wird schon etwas einfallen.“ Oscar sprach das kaum aus, als die Tür im Salon geöffnet wurde. Gut dass André sich bereits zurückgezogen hatte und rechtzeitig am Klavier stand. Um weiterhin nicht aufzufallen, half er sogleich seiner Großmutter beim Tischdecken. Rosalie brachte hinterher François und zu viert speisten sie.       In der Nacht kam André wieder zu Oscar, aber nicht um in der Liebe mit ihr zu versinken, sondern um nach einer Lösung zu suchen. Er streichelte Oscars Bauchwölbung unter ihrem Nachthemd, fühlte die straffe Haut und stellte wieder die Frage, wie sie nun weiter fortfahren sollten.   „Ich werde Ihre Majestät um zwei oder drei Monate Urlaub bitten. Dann fahren wir in die Normandie und bleiben dort, bis das Kind da ist. Etwas anderes fällt mir nicht ein.“, gestand Oscar. Und natürlich, wenn die Königin diesem längeren Urlaub überhaupt zustimmen würde.   „Willst du es dann genauso machen wie bei François?“, fragte André und zog sie mehr an sich.   In seinen Armen fühlte sich Oscar sehr wohl und seine Hand auf ihren Bauch gab ihr die gleiche Sicherheit wie damals, als sie mit François schwanger war. Ihr kleiner Sonnenschein war jetzt sieben Jahre alt und ihn jedes Mal zu sehen, wie glücklich er hier, auf dem Anwesen der de Jarjayes, aufwuchs, erweichte ihr das Herz. Bald würde er einen Bruder oder eine Schwester bekommen, aber würde nichts davon erfahren. Ebenso durften ihre Eltern und Andrés Großmutter nichts von dem zweiten Kind wissen. Was war das für ein verlogenes Leben? Und das alles, um diejenigen zu schützen, die ihr lieb und teuer waren. Oscar schmiegte sich enger in die Arme von ihrem geliebten André und bezüglich seiner Frage entließ sie einen schweren Seufzer. „Ich weiß es noch nicht. Aber auf jeden Fall werden wir nur zu zweit in die Normandie fahren.“       Oscar war es im nächsten Monat tatsächlich gelungen, einen langen Urlaub von der Königin zu bekommen. Marie Antoinette hatte ihr nur wenige Fragen gestellt und sie bis zum ersten August beurlaubt. Ihre Majestät war ohnehin noch nicht bereit, an den Hof von Versailles zurückzukehren und wollte lieber weiter die Zeit mit ihren Kindern verbringen. Hier im Trianon brauchte sie keine großen Dienste von dem Kommandanten der königlichen Garde und aus diesem Grund gab sie Oscar den gewünschten Urlaub.   Graf de Girodel übernahm selbstverständlich das Kommando über das königliche Garderegiment, ohne Verdacht zu schöpfen – wie auch die Eltern von Oscar und die Großmutter von André. Einzig François hatte protestiert, weil er mitkommen wollte und nur die Ausrede, dass es ein gefährlicher Auftrag der Königin war, hatte ihn beruhigt. An ihren kleinen Sonnenschein dachte Oscar auch drei Monate später...       Normandie... Eine rundliche Frau in den mittleren Jahren saß bei der unerträglichen Sommerhitze zwischen Oscars Schenkeln und half mit ihrer Gehilfin dem Kind auf die Welt zu kommen. Ihre Gehilfin, eine etwas jüngere Frau, bereitete derweilen alles Nötige für die Ankunft des Neugeborenen vor. Niemand außer ihnen vier befand sich im Zimmer oder gar im gesamten Haus. Als sie und André in der Normandie vor etwa drei Monaten ankamen, hatten sie nach keinen weiteren Bediensteten gesucht. Nur nach der Hebamme hatten sie Ausschau gehalten und als André im benachbarten Dorf fündig wurde, war sie dann mit ihrer Gehilfin die einzige, die tagtäglich in das Haus kam und sich um die Wöchnerin kümmerte. Um den Haushalt kümmerte sich selbstverständlich André und auch die Gehilfin der Hebamme half ihm. Beide Frauen waren freundlich, nett und verschwiegen. Oscar hatte zu ihnen gleich Vertrauen gefasst und sie für ihre Dienste großzügig entlohnt.   „Noch ein Mal pressen, Madame, ich sehe schon den Kopf!“, sagte die ältere Frau laut und die werdende Mutter tat es. Dabei drückte Oscar die Hand von André. Ihr Geliebter war auch bei dieser Niederkunft dabei und gab ihr die nötige Stütze und Kraft, das alles gut zu überstehen. So ähnlich wie damals, als François auf die Welt kam. Nur diesmal war es kein verschneiter und kalter Januar, sondern ein heißer und sonniger Juli.   „Liebste, du hast es gleich geschafft!“, hörte Oscar die Stimme von André während sie presste und das beruhigte sie. Diese Geburt ging leichter und schneller als bei François.   „Es ist da!“, rief die Hebamme, beschaute das Geschlecht des Kindes und fügte hinzu: „Gratuliere, es ist ein gesundes Mädchen! Jetzt noch ein letztes Mal wegen der Nachgeburt pressen, Madame, und dann habt Ihr es geschafft!“ Sie gab das weinende Kind ihrer Gehilfin und kümmerte sich wieder um die junge Mutter.   Das kleine Mädchen wurde unter Argusaugen von André gesäubert, gewaschen und leicht in das weiche Tuch gewickelt, während Oscar das letzte Mal presste. Er hielt noch immer ihre Hand und beschrieb ihr, was die Gehilfin der Hebamme gerade mit ihrem zweiten Kind machte.   Ja, Oscar hatte es geschafft und ihrem Geliebten ein zweites Kind geschenkt – eine süße Tochter und eine kleine Schwester für François. Schade nur, dass auch dieses Geschöpf ein großes Geheimnis bleiben würde.   Oscar kamen beinahe die Tränen in den Augen, als sie an die Geburt ihres Sohnes und was danach passiert war, dachte. Mit ihrer Tochter würde sie allerdings anders verfahren müssen. Sie als Findelkind auszugeben konnte sie nicht, denn es würde ganz bestimmt auffallen und es bestünde noch mehr die Gefahr, dass die Liebe zwischen ihr und André auffliegen konnte. Wobei mit dieser Gefahr lebten sie schon seit sieben Jahren. Nur hatten sie großes Glück, dass ihnen damals geglaubt wurde. Vielleicht, weil Girodel mit dabei war und die Lüge über ein gefundenes Kind im Wald so glaubhaft überbracht hatte, dass es ihm geglaubt wurde. Jetzt jedoch weilte Girodel in Versailles als Vertretung seiner Vorgesetzten und ahnte nicht im Geringsten, was gerade in der Normandie geschah. Und das war auch gut so. Ihn noch einmal als Mitwisser zu haben, wollte weder Oscar noch André.   Die Gehilfin der Hebamme brachte das neugeborene Mädchen zu der Mutter. André half Oscar noch schnell sich aufzusetzen und dann durfte sie ihr Kind endlich in den Armen halten. Ihre Tochter weinte noch immer, aber verstummte sofort, als sie die mütterliche Brust bekam. Die Hebamme und ihre Gehilfin räumten die blutigen Spuren von der Geburt weg und kamen dann noch einmal an das Bett.   „Ich danke euch beiden von Herzen.“, sagte Oscar und deutete André, den Geldbeutel zu holen.   „Nichts zu danken, Madame.“ Die Hebamme lächelte freundlich. „Mir liegt das Wohl des Kindes und das der Mutter sehr am Herzen. Ihr habt die Geburt gut überstanden und auch Eure Tochter ist gesund und munter.“   André kam mit dem Geldbeutel und bezahlte großzügig die Hebamme und auch die Gehilfin. Die beiden bedankten sich herzlich und versprachen, abends noch einmal vorbei zu kommen. „Natürlich könnt Ihr auch so jederzeit nach mir rufen lassen.“, fügte die Hebamme hinzu und verabschiedete sich. André geleitete die zwei Frauen aus dem Haus und kehrte unverzüglich zu seiner Geliebten zurück. Oscar stillte noch immer ihre gemeinsame Tochter und lächelte ihn an, wobei in ihren Augen eine gewisse Traurigkeit lag. „Wir haben also noch zwei Wochen.“, sagte sie, während André sich zu ihr auf die Kante des Bettes vorsichtig hinsetzte.   André wusste was sie meinte. Noch zwei Wochen bis zum ersten August und dann würde Oscars Urlaub zu Ende sein. Dieser Gedanke schmerzte ihm genauso wie ihr, aber jetzt waren sie noch in der Normandie und sollten lieber die Zeit damit verbringen, das Familienglück zu genießen. André hob seine Hand und strich ganz sachte über den dunklen Flaum seiner Tochter. „Sie ist so schön.“ Obwohl ein schwerer Stein sich in seinem Herzen legte, war er trotzdem hingerissen von dem kleinen Engel in den Armen seiner Geliebten. „Wie wollen wir sie nennen?“, wollte er wissen.   Oscar zuckte mit den Schultern und überließ ihm die Wahl. „Suche du ihr einen Namen aus.“   André überlegte. „Marguerite, wie die Blumen.“   „In Ordnung.“ Oscar war einverstanden und schaute mit einem nachdenklichen Blick auf ihre Tochter. „Meine Milch wird bestimmt wie bei unserem François nicht lange ausreichen und wir werden noch frühzeitiger aufbrechen müssen. Aber ich lasse sie nicht zurück, niemals!“   André war der gleichen Meinung wie sie. Auch er würde sein Kind nicht zurücklassen wollen. Nur aber wie sollten sie diesmal ihr Geheimnis verbergen? Bei François hatten sie dank Graf de Girodel großes Glück gehabt, aber bei Marguerite würde das sicherlich nicht gut funktionieren. Aber was gab es noch für eine Alternative. „Willst du es wie bei unserem François machen?“, fragte er sie deshalb. Vielleicht würde seiner Oscar etwas anderes einfallen, das ihnen weiterhelfen könnte?   Oscar schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, das wird auffallen.“ Dann überlegte sie und ihr kam eine Idee durch den Kopf geschossen. „Oder wir können…“ Sie verstummte und schüttelte erneut den Kopf. „Nein, das ist absurd und unmenschlich...“   „Was hast du, Liebes?“ André kam es so vor, als hätte Oscar eine Idee, die sie aber nicht sagen wollte. Was auch immer das war, er wollte es trotzdem hören.   „Mir kam gerade ein Gedanke, aber das können wir nicht machen.“, meinte Oscar und zog ihre Lippen zu einem schmalen Strich.   „Lass einmal hören und dann entscheiden wir, ob es absurd ist.“ Egal was das für eine Idee oder Gedanke war, André wollte es trotzdem hören.   Oscar schwieg noch etwas nachdenklich, aber dann entschied sie sich doch noch und bewegte ihre Lippen. „Also gut, Geliebter, hör zu...“ Kapitel 38: Ausgesetzt ---------------------- Der Morgen graute, die Sonne stieg höher und es verhieß wieder, dass es ein heißer Tag werden würde. Sophie war gerade in die Küche angekommen, als eine aufgebrachte Rosalie in das Haus und dann zu ihr rannte. „Madame Glacé, kommt schnell!“   Sophie wunderte sich und wäre vielleicht nicht mitgekommen, wenn die junge Frau nicht so zerstreut ausgesehen hätte. „Was ist denn passiert?“   „Bitte kommt mit mir und dann seht selbst!“ Rosalie schürzte sogleich ihre Röcke wieder und eilte der Haushälterin voraus.   Sophie folgte ihr bis zum Stall und bemerkte schon auf dem Weg dorthin, wie die Bediensteten sich um einen Korb versammelt hatten. Eines der Dienstmädchen beugte sich darüber und holte ein Bündel daraus. Sophie weiteten sich fassungslos die Augen und sie erinnerte sich an ein ähnliches Bündel, welches Lady Oscar mit André und Graf de Girodel hierher vor sieben Jahren gebracht hatten. Jetzt war jedoch keiner der drei hier anwesend. Der Korb stand ganz alleine, als hätte ihn jemand hier abgestellt und bescherte Ratlosigkeit bei allen, die sich vor dem Stall versammelt hatten. „Was ist denn passiert?“, wiederholte Sophie die Frage, die sie zuvor an Rosalie gestellt hatte und das Bündel begann zu wimmern.   „Wir haben es gerade gefunden.“, erklärte ein Stallknecht, während das Wimmern ins Weinen überging. „Als ich den Stall betreten wollte, stand der Korb schon direkt vor den Türen. Ich bin natürlich ins Haus gelaufen, um Euch Bescheid zu sagen, Madame Glacé, aber traf stattdessen auf Mademoiselle Rosalie und habe es ihr gezeigt.“   „Als ich ankam, hatten sich schon die anderen um den Korb versammelt.“, sprach Rosalie für den Stallknecht weiter. „Ich habe dann unverzüglich Euch geholt.“   Also war das Kind ausgesetzt und der Verantwortliche dafür befand sich nicht unter ihnen, begriff Sophie erschrocken. „Ach du meine Güte, noch ein Findelkind!“ Sophie schaute entsetzt auf das weinende Bündeln und die Erinnerungen an den Tag, an dem François auf das Anwesen de Jarjayes gebracht wurde, gingen ihr durch den Kopf. Jetzt befand sich der Junge allerdings noch im Bett und wenn nicht, dann war er gerade bei der Morgenwäsche oder bereits in der Küche und wartete entweder auf sie oder Rosalie. Er fühlte sich ja bereits wie ein großer Junge und bedurfte deshalb kein Kindermädchen mehr, das ständig auf ihn aufpasste. Wenn er Hilfe brauchte, dann kam er von alleine und sagte das.   „Was machen wir jetzt?“, fragte Rosalie etwas lauter, denn das Kind übertönte mit seinem Geschrei ihre Stimme. „Lady Oscar, General de Jarjayes und seine Gemahlin sind doch alle außer Haus!“ Und wann sie auf das Anwesen kommen würden, war auch ungewiss.   Auch Sophie erhöhte ihre Stimme, damit alle Herumstehenden sie verstehen konnten. „Erst einmal das Kind beruhigen!“   „Es hat bestimmt Hunger.“, meinte das Dienstmädchen Marie und wiegte das weinende Bündel in ihren Armen. „Ich kann ihm meine Brust geben. Mein kleiner Sohn ist zwar schon ein Jahr alt, aber ich habe noch genug Milch.“   „Ja, tue das.“, ordnete Sophie und Marie verschwand um die Ecke des Stallgebäudes.   Die Ohren fühlten sich etwas besser, als das ohrenbetäubende Gebrüll des Kindes in wenigen Augenblicken verstummte. Rosalie hob den Korb vom Boden und entdeckte auf dem Kissen einen Zettel. „Madame Glacé, schaut!“ Sie nahm den Zettel an sich und las nur ein einziges Wort, das groß und mit schiefen Linien darauf geschrieben stand: „Marguerite. Das wird wohl der Name des Kindes sein.“, vermutete die junge Frau und legte den Zettel wieder auf das Kissen zurück.   „Das heißt, dass das Kind ein Mädchen ist.“, schlussfolgerte Sophie und schaute streng die Bediensteten an. „Ist jemandem etwas aufgefallen?“   Alle schüttelten die Köpfe. „Nein, Madame.“   „Hmpf.“ Sophie überlegte. Das Kind durfte nicht hier bleiben, aber ebenso würde es hier niemand übers Herz bringen, die Kleine irgendwo anders auszusetzen. Es blieb nur eine Möglichkeit. „Wir warten, bis jemand von den Hausherren zurück ist und bis dahin bleibt sie hier.“   Marie kam bald zurück und bekam die letzten Worte mit. Sie seufzte, als sie das Findelkind zurück in den Korb legte. „Dann hoffen wir, dass es nicht der General sein wird, der als erster hierher kommt.“   Sophie nickte ihr einvernehmlich zu. General de Jarjayes würde das Mädchen sofort ins Waisenhaus schicken wollen, weil es niemanden gehörte. Bei François hatte er womöglich deshalb zugestimmt, weil Lady Oscar ihn gefunden hatte und weil das noch zusätzlich die Anordnung des Königs war. „Also gut, jeder geht jetzt zurück an die Arbeit.“, ordnete die Haushälterin die herumstehenden Bediensteten an und wandte sich an Marie und Rosalie. „Ihr beide nimmt die Kleine und bringt sie in die Küche. Sie wird immer in unserer Nähe bleiben.“   „Jawohl, Madame Glacé.“ Die Bediensteten zerstreuten sich. Marie nahm den Korb mit Marguerite an sich und ging mit Rosalie und Sophie ins Haus zurück. Niemand von ihnen bemerkte, dass sie aus einem dichten Gebüsch hinter den Eisentoren des Anwesens beobachtet wurden.   Oscar atmete erleichtert auf. Es war noch alles gut gegangen und trotzdem schmerzte ihr mütterliches Herz, weil sie schon wieder ihr Kind in die Hände anderer Menschen gab und es genau wie François verleugnete. André hielt ihre Hand und spürte, wie die Anspannung bei ihr nachließ. „Lass uns gehen.“, flüsterte Oscar kaum hörbar und ließ seine Hand los, um aus dem Gebüsch in das nächste zu schleichen und um auf diese Weise unentdeckt zu bleiben.   André folgte ihr wortlos bis in den Wald, wo sie ihre Pferde versteckt hatten. Rasch stiegen sie in die Sattel und kehrten zu dem Jagdhaus am See zurück, wo sie bereits seit zwei Tagen nächtigten. „Das hat schon einmal gut geklappt.“, sagte André auf dem Weg.   „Ja“, bestätigte Oscar wehmütig. „Wir warten bis zum Mittag und dann brechen wir auf. Bis dahin ist sie bei Sophie, Rosalie und Marie in guten Händen.“   „Das stimmt. Sie werden sich um unsere kleine Marguerite gut kümmern.“ Obwohl André ein gutes Gefühl bezüglich seiner Tochter hatte, bekam er zusätzlich ein gewisses Bedenken und das äußerte er seiner Geliebten. „Hoffentlich werden wir vor deinem Vater da sein.“   Oscar verstand und gab ihm recht. Wenn ihr Vater vor ihnen nachhause kommen und Marguerite sehen würde, dann würde er sie nicht im Haus dulden wollen. Schon alleine weil sie ein Mädchen war und ausgesetzt wurde. Aber es gab Hoffnung und Oscar versuchte damit ihren Geliebten zu beruhigen. „So schnell wird mein Vater nicht auf sein Anwesen kommen, weil er meistens um diese Zeit die Aufträge des Königs in Versailles ausführt.“   Oscar sollte mit ihrer Aussage recht behalten. Als sie kurz nach dem Mittag mit André auf das elterliche Anwesen heimkehrte und vom Pferd abstieg, wurde sie sogleich von dem Stallmeister angesprochen. „Willkommen zurück, Lady Oscar. Gut, dass Ihr da seid.“   Oscar gab die Zügel ihres Pferdes an André, der bereits auch abgestiegen war. Sie behielt den kühlen Gesichtsausdruck und verdrängte gekonnt ihre mütterlichen Gefühle, die in ihr wieder hochstiegen, sobald sie an ihre Tochter dachte. „Ist etwas passiert?“   „Heute Morgen wurde ein Kind direkt vor unseren Türen gefunden.“ Der Stallmeister zeigte auf den Platz, wo der Korb vor wenigen Stunden gestanden hatte.   Oscar folgte nicht seinem Blick und zwang sich zu einer fragenden Miene. „Ein Kind?“ Schon alleine bei der Frage hasste sie sich selbst. Ihr schlechtes Gewissen quälte sie, aber es musste so sein, wenn sie Marguerite behalten und ihr großes Geheimnis bewahren wollte.   „Jawohl, Lady Oscar.“, erzählte der Stallmeister weiter, ohne etwas von ihrem aufgewühlten Gemüt zu bemerken. „Das Kind war ein Mädchen – höchstens ein oder zwei Wochen alt und es lag in einem Korb, direkt hier, vor dem Stall. Madame Glacé und Mademoiselle Rosalie haben sich dem Kind angenommen und unsere Marie stillt es, wenn es weint.“   Oscar versuchte krampfhaft Ruhe zu bewahren und nicht sofort in das Haus zu stürmen. „Ich werde das regeln.“, sagte sie so beherrscht wie möglich und schaute zu ihrem Geliebten. „André, du versorgst unsere Pferde und kommst nachher zu mir.“   „In Ordnung, Oscar.“ André wäre am liebsten mit ihr gegangen, aber das gehörte zu ihrer Tarnung und er führte deshalb die Pferde in den Stall.   Oscar kam ins Haus und nahm gleich den Weg in die Küche. Auf dem massiven Tisch, wo die Küchenmädchen das Gemüse putzten oder einen Teig zubereiteten, stand ein Korb. François kniete auf der Bank und spielte mit den kleinen Fäusten, die aus dem Korb in der Luft wedelten. Der Rest des Kindes sah man aus der Entfernung von der Türschwelle noch nicht. Mein Sonnenschein, das ist deine kleine Schwester, dachte Oscar bei sich mit einem schmerzlichen Stich in ihrem Brustkorb und in dem Moment sah ihr Sohn zu ihr. „Mama ist da!“, rief François mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, sprang sogleich von der Bank, und eilte zu ihr.   „Gott sei Dank, Ihr seid wieder da, Lady Oscar!“ Sophie wischte das Mehl von ihren Händen an der Schürze ab und kam ihr ebenfalls entgegen.   François schlang kurz seine Arme um die Hüfte seiner Mutter und schaute zu ihr auf. Endlich war sie wieder da! Er hat sie so sehr vermisst! Sie und seinen Vater. Aber wo war er? François sah ihn nämlich nicht. „Ist Papa auch zurückgekehrt?“   „Ja, er ist im Stall und sattelt die Pferde ab. Geh zu ihm und begrüß ihn.“ Oscar strich ihm noch durch die hellbraunen Locken und der Junge sauste schon aus der Küche.   „Ihr habt das sicherlich schon gehört.“, begann Sophie, als François fort war und zeigte mit ihrem Kinn auf den Korb mit dem Kind.   Oscar bejahte mit einem Nicken und ging langsamen Schrittes zum Tisch, wobei sie gerne gerannt wäre. Aber niemand durfte ja etwas mitbekommen und einen Verdacht schöpfen. Wie schwer es auch war, würde sie genauso ihre mütterlichen Gefühle und ihr leidendes Herz im Keim ersticken müssen, wie bei François vor sieben Jahren. „Unser Stallmeister hat mir das schon erzählt.“ Sie schaute auf das Kind und verdrängte den Drang, ihre Tochter aus dem Korb zu nehmen. Es wird irgendwann vergehen, redete sie sich ein, so wie es bei François mit den Jahren vergangen war.   „Was gedenkt Ihr zu tun, Lady Oscar?“, fragte Rosalie und sah selbst in den Korb. „Sie ist noch so klein...“   „Nun...“ Oscar durfte nicht voreilig entscheiden, sonst würde es auffallen. Sie tat so, als dachte sie nach, aber innerlich suchte sie nach passenden Worten und ihr Herz zerbarst dabei noch mehr. Sie schluckte einen dicken Kloß herunter, zwang ihre Hände nicht zu Fäusten zu ballen und ihrer Stimme einen neutralen Ton zu verleihen. „Ich werde es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können, wenn ich sie aussetzen oder ins Waisenhaus bringen lasse. Deshalb bleibt sie hier. Vielleicht wird ihre Mutter zurückkehren und sie abholen.“   „Ihr habt recht, Lady Oscar.“, wusste Marie zu sagen. „Denn viele Mütter aus armen Verhältnissen können ihre Kinder nicht ernähren und setzen sie deshalb vor den Türen reicherer Häuser aus. Aber später, wenn es ihnen besser geht, zeigen sie Reue und kommen zurück.“   „Wo hast du denn das gehört?“, fragte Sophie, aber gab ihr sogleich recht. Das war fast das gleiche wie bei François. Eine arme Familie, die womöglich reichlich mit Kindern gesegnet war, aber keines von ihnen ernähren konnte, sah keinen anderen Ausweg, als ihr jüngstes Kind abzugeben oder auszusetzen.   „Dort wo ich herkomme, habe ich schon das eine oder andere Mal solch einen Fall in der Nachbarschaft erlebt.“, meinte Marie und Rosalie biss sich bei diesem Gespräch auf die Lippe. Ihre leibliche Mutter hatte sie auch ausgesetzt und gehörte nicht gerade zu den Ärmsten der Armen.   Oscar merkte ihren leicht betrübten Gesichtsausdruck und richtete an sie das Wort. „Rosalie, du wirst dich um die Kleine kümmern und ich werde schauen, ob ich eine Amme finde.“   „Das ist nicht nötig, Lady Oscar.“, meldete sich Marie. „Ich habe noch genug Milch und kann sie stillen.“   „Dann ist alles geklärt. Solange du sie stillst, wird sie bei dir im Zimmer wohnen.“ Oscar warf noch einen letzten Blick auf ihre Tochter und kehrte ihr den Rücken, bevor der innerliche Schmerz überhand nahm und sie noch verraten konnte. „Ich gehe mich jetzt umziehen und André, wenn er aus dem Stall zurückkommt, soll mir einen Tee in den Salon bringen.“ Kapitel 39: Verplappert ----------------------- Oscar befand sich zusammen mit André schon seit einer Woche im Dienst am Hofe von Versailles wieder, als General Reynier de Jarjayes auf sein Anwesen zurückkehrte. Er wollte sich nur von seinen Pflichten ein wenig entspannen und seine dienstfreien Tage im getrauten Heim genießen. Dabei merkte er nicht, wie die Bediensteten zu ihm vorsichtig schauten und begab sich wie gewöhnlich in sein Kontor, um ein paar Dokumente zu überprüfen. Diese Dokumente waren zwar nicht wichtig, aber tatenlos wollte er wiederum auch nicht sitzen. Die Haushälterin Sophie kam ihm sogleich hinterher und begrüßte ihn wie immer freundlich. „Willkommen zuhause, Monsieur. Wünscht Ihr gleich zu speisen?“   „Nein, ein Glas Wein wird mir reichen.“ Reynier kam an seinen Tisch und holte die Dokumente aus einer Schublade heraus.   „Das werde ich gleich erledigen.“ Sophie wollte schon gehen, als der General sie kurz aufhielt. „Ich will, dass François das für dich erledigt und mir den Wein bringt.“ Er merkte nicht, dass sie ein wenig nervös war.   „Jawohl, Monsieur.“ Sophie überlegte, ob sie ihn über das ausgesetzte Kind einweihen sollte, aber entschied sich dagegen. Der General war gerade erst heimgekehrt und sollte sich erst einmal ausruhen. Sonst könnte er schlechte Laune bekommen und die kleine Marguerite sofort ins Waisenhaus schicken lassen. Das würde Lady Oscar sicherlich nicht gefallen, denn sie hatte das Mädchen bereits als ihr zweites Ziehkind adoptiert und wollte es genauso behalten wie François vor sieben Jahren. Mehr und mehr bewies sie damit, wie gutherzig sie war und es wäre schön, wenn sie ihre weiblichen Gefühle durch das zweite Findelkind noch mehr zur Geltung bringen würde, anstelle sie durch die hartherzige Disziplin eines Mannes zu verdrängen.   Reynier setzte sich an den Tisch und nahm ein Blatt, ohne richtig darin zu lesen. Seine Gedanken schweiften zu Augustin, den er auf seinem Heimweg in Paris besucht hatte und schmunzelte. Der Junge entwickelte sich prächtig und konnte bereits sehr gut sein Übungsschwert führen. Er war sehr lerneifrig und auch begabt. Seine Entwicklung erfüllte Reynier mit Stolz und erinnerte ihn immer mehr an Oscar in dem Alter. Nicht mehr lange und dann würde er bereit sein für die Aufgabe, die er, sein Großvater, für ihn vorbereitet hatte.   An der Tür wurde bald geklopft, einen Spaltbreit geöffnet und das runde Gesicht der Haushälterin lugte herein. „Monsieur, François ist hier und bringt Euch den Wein.“   Der General zog sogleich sein strenges Gesicht, um die Gedanken an Augustin zu verdrängen. „Lass ihn eintreten.“, sagte er und Sophie ließ den Jungen vor. Er trug eine Schale mit Äpfeln und stellte sie auf den Tisch ab. Sophie folgte ihm mit einem Tablett, worauf eine Flasche Wein und ein Glas standen. Reynier zog eine Augenbraue nach oben. Eigentlich hatte er aufgetragen, dass François den Wein bringen sollte und nicht die Haushälterin. Aber was soll´s, Hauptsache er war hier. „Du kannst gehen, Sophie.“, ordnete er an, als sie das Tablett neben der Schale mit den Äpfeln abgestellt hatte. Sophie nickte und verließ sein Kontor. Reynier öffnete die Flasche und schenkte sich selbst ein. Wenn er schon dabei war, dann konnte er das selbst erledigen. Für François hatte er eine andere Aufgabe. „Such mir einen Apfel aus, mein Junge.“   François wählte ihm wortlos die größte von den gelbroten Früchten und reichte sie ihm. „Das ist der Schönste.“   General stellte die Flasche ab, nahm die Frucht an sich und biss hinein. „Hmmm... der schmeckt gut. Danke mein Junge.“   François grinste breit und errötete etwas. Ein Lob von dem General zu bekommen war etwas ganz Besonderes. Das bedeutete auch, dass er gute Laune hatte und demzufolge durfte man ihm alles Mögliche erzählen, ohne dass er böse oder verstimmt sein würde. „Ich habe eine gefundene Schwester bekommen.“   „Eine gefundene... Was?“ Der General verstand ihn vorerst nicht. „Kannst du dich deutlicher ausdrücken, mein Junge?“   François überlegte, wie er das richtig sagen sollte und ahnte nicht im Geringsten, was er damit anrichten würde. „Ein Mädchen wurde im Korb gefunden und Mama sagte, sie darf bleiben.“   Wie bitte? Was sollte das heißen? Das Gesicht des Generals verfinsterte sich. „Noch ein Findelkind?“ Ein unwohles Gefühl stieg in ihm hoch und er musste unwillkürlich an den Tag denken, an dem er François zum ersten Mal gesehen hatte. Angeblich wurde der Junge auch gefunden, aber die Wahrheit erwies sich viel schlimmer. Oscar! Hatte sie ihn etwa wieder betrogen? Er musste dieses Findelkind unbedingt sehen!   François wurde bei dem zornigen Gesichtsausdruck des Generals unsicher, aber nickte zustimmend. Reynier beachtete ihn nicht mehr weiter und verließ überstürzt das Zimmer. „Sophie!“, brüllte er bereits auf dem Weg zu der Küche.   Die alte Haushälterin kam ihm entgegen. „Ich bin hier, Monsieur.“   „Wann wolltet ihr mir sagen, dass Oscar noch ein Findelkind gebracht hat?!“, schnaufte General außer sich vor Wut.   „Das war nicht Lady Oscar...“ Sophie begriff schnell, dass der General über Marguerite höchstwahrscheinlich von François gerade erfahren hatte. Sie war dem Jungen nicht böse, denn der General hätte von dem Mädchen irgendwann erfahren. „Das Kind wurde vor der Haustür in der Nacht abgestellt. Eure Tochter kam viel später und...“, versuchte sie mit leicht zittriger Stimme zu erklären, aber Reynier ließ sie nicht zu Ende sprechen. „Wo ist der Balg jetzt?!“, schnitt er ihr das Wort ab und bemühte sich, nicht das ganze Haus zusammen zu schreien. Die Haushälterin konnte nichts dafür. Die alleinige Schuld lag bei Oscar. Aber seine Tochter war nicht auf dem Anwesen und deswegen brächte es nichts, wenn er seine Wut an anderen auslassen würde.   Sophie senkte den Kopf. „Folgt mir...“, murmelte sie und ging vor.   Einige der Bediensteten, darunter Rosalie und François, hatten seinen Wutausbruch mitbekommen und fürchteten um das Seelenheil des kleinen Mädchens. Sie versammelten sich in der Nähe und schauten dem General mit besorgten Blicken nach. „Das wollte ich nicht...“, brachte François kleinlaut und mit Schuldgefühlen von sich. Er stand neben Rosalie und biss sich auf die Lippe. Seine Zieheltern würden bestimmt böse auf ihn sein, weil er sich verplappert hatte.   „Was wolltest du nicht?“, fragte Rosalie leicht verwundert.   „Ich habe dem General von Marguerite erzählt...“, offenbarte er ihr leise. „Ich wusste nicht, dass er böse wird... Es tut mir leid...“   „Das ist nicht deine Schuld.“ Rosalie legte tröstend um ihn ihren Arm. „Früher oder später hätten wir ihm es sagen müssen.“   Reynier erreichte mit Sophie das Zimmer der Bediensteten, wo Marguerite beherbergt wurde und wo das Dienstmädchen Marie sie meistens stillte. Jetzt lag das Kind in der Wiege und Marie sang ihr leise ein Lied. Sofort verstummte der Gesang, als General de Jarjayes in das Zimmer hereinstürme. „Willkommen zurück, Monsieur...“, säuselte Marie erschrocken die Begrüßung und trat mit gesenktem Haupt von der Wiege zurück. Sie wurde aber nicht weiter beachtet. Reynier betrachtete das Kind in der Wiege und glühte vor Wut noch mehr als zuvor. Oscar hatte ihn also erneut an der Nase herumgeführt! Seine Haushälterin mochte vielleicht die Wahrheit sagen, wie das Kind gefunden wurde, aber er glaubte nicht mehr daran, dass es von jemandem ausgesetzt wurde! Das war bestimmt Oscars Idee und deshalb war sie drei Monate beurlaubt! Er musste sofort in die Normandie und wenn es stimmen sollte, dass es ihr Kind war, dann Gnade ihr Gott! Kapitel 40: Zwickmühle ---------------------- August 1782   Ein Hieb nach rechts, nach links, abwehren und unter dem großen und wesentlich stärkeren Arm des Angreifers ducken. Augustin beherrschte die Fechtkunst fast perfekt. Nur noch etwas und dann würde er einen echten Degen in der Hand halten dürfen. Sein Erzieher war sehr stolz auf ihn – sein Großvater dagegen eher zufrieden. General de Jarjayes fand immer Mängel in der Haltung und korrigierte ihn mürrisch. Heute jedoch hatte ihn General de Jarjayes noch nicht besucht. Wenn Augustin es sich genauer überlegte, lag der letzte Besuch seines Großvaters fast eine Woche zurück.   „Augustin!“ Die Stimme von Graf de Girodel riss ihn aus den Gedanken und sein Übungsschwert wurde mit einem Mal aus der Hand geschlagen. Er hatte sich nicht verletzt, es hatte ihm nicht einmal weh getan – er war nur abgelenkt und das kostete ihm sein Übungsschwert. „Verzeiht.“, murmelte Augustin und hob seine Waffe vom Boden. „Revanche?“   „Nein, für heute ist es genug.“ Victor konnte sich schon vorstellen, weshalb sein Schutzbefohlener abgelenkt war und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Hast du wieder an deine Eltern und deinen Bruder gedacht?“   Augustin nickte und sah ihn mit schimmernden Augen an. Aber er weinte nicht, denn das galt als Schwäche und gehörte nicht zu seiner Erziehung. „Wann wird Großvater mir erlauben sie zu sehen?“ Dabei dachte er an jenen Abend, an dem er seine Eltern ein einziges Mal sehen konnte, während der Himmel in den bunten Farben des Feuerwerks erleuchtet war.   Wenn es nach Victor ginge, hätte er den Jungen schon längst auf sein Pferd gehievt und höchstpersönlich zu Lady Oscar gebracht. Allerdings, die Drohung von General de Jarjayes, dass er alle büßen lassen würde, hielt ihn davon ab. Er wollte nicht, dass Lady Oscar etwas passierte. Das Gleiche galt für François und nun auch für Augustin und er befolgte aus diesem Grund die Anordnung des Generals gezwungenermaßen. Die beiden Brüder waren ein Teil von Lady Oscar und für ihn wie eigene Söhne, die er nicht hatte. Victor strich sachte durch die dunkelblonden Locken von Augustin und lächelte matt, um ihn zu beruhigen. „Du wirst deine Eltern und deinen Bruder schon bald sehen können, mein Junge. Hab nur noch etwas Geduld.“   Geduld? Wie lange noch sollte er sich gedulden? Seit einem Jahr lebte er bereits hier und hörte immer die gleiche Antwort. Warum nur? Das verstand Augustin nicht und ärgerte sich. Geduld gehörte anscheinend nicht zu seiner Stärke. War das bei François auch so? Er wusste zwar von Graf de Girodel, dass sein Bruder einen ruhigen Charakter hatte, aber das musste nicht gleich bedeuten, dass sie unterschiedlich waren. Sie waren doch Zwillinge und teilten die gleichen Gefühle wie Schmerz, Traurigkeit oder Freude. Augustin hatte schon oft den seltsamen Stimmungswechsel bei sich mitbekommen und dachte dabei an seinen Bruder und was dieser wohl in dem Moment machte.   Ein Empfangsdiener kam in den Salon des Grafen und meldete Besuch. „Monsieur, General de Jarjayes ist gerade eingetroffen und...“ Er sprach nicht einmal zu Ende, als der besagte General mit wütendem Gesichtsausdruck an ihm vorbei marschierte und geradewegs auf Graf de Girodel zu steuerte. „Wir müssen uns unterhalten!“, sagte er nach einem knappen Gruß im barschen Ton.   „Gewiss.“ Girodel gefiel dieser Zorn im Gesicht des Generals und dessen verärgerter Unterton in seiner rauen Stimme nicht. Aber er lud ihn dennoch zum Tisch ein und wappnete sich innerlich auf eine schlimme Nachricht. „Möchtet Ihr ein Glas Wein?“   „Nein, danke.“ Der General setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten am Tisch stand. Sein strenger Blick fixierte eindringlich seinen Enkel. Augustin murmelte so etwas wie „Herzlich willkommen zurück, Großvater“, und rührte sich nicht vom Fleck. Reynier überlegte, ob er ihn fortschicken sollte, aber entschied sich anders. „Ich gratuliere dir, mein Junge. Du hast neben deinem Zwillingsbruder jetzt auch noch eine Schwester.“   „Eine Schwester?“, fragten Girodel und Augustin im Chor.   „Genau.“ General de Jarjayes erhob sich vom Stuhl und baute sich vor Girodel auf. Seine Hände kreuzte er hinter dem Rücken und er formte sie angespannt zu Fäusten. „Deshalb war meine Tochter für drei Monaten beurlaubt!“, knurrte er wie ein bissiger Hund und als wäre der Graf daran schuld. „Wusstet Ihr etwas von ihrer erneuten Schwangerschaft?“   „Nein, ich schwöre es, ich wusste nichts davon!“ Victor musste erst einmal das Gehörte verdauen. Lady Oscar hatte noch ein Kind zur Welt gebracht? Wieso war es ihm aber nicht aufgefallen, dass sie überhaupt schwanger war? „Es hat mich gewundert, dass Lady Oscar so einen langen Urlaub nahm, aber ich habe mir nichts dabei gedacht!“, rechtfertigte er sich wahrheitsgemäß. „Seid Ihr Euch sicher?“   „Ich bin mir mehr als sicher!“ Reynier glaubte ihm. Der besorgte und gleichzeitig erschrockene Gesichtsausdruck des Grafen sprachen schon für ihn. Das hieß also, dass Oscar diesmal es nur mit André durchgezogen hatte, ohne Girodel darin einzuweihen. Der General kehrte dem Grafen den Rücken zu und marschierte im Salon auf und ab. Dabei erzählte er über den angeblichen Fund des Kindes vor seiner eigenen Haustür in der letzten Woche. „...ich komme gerade aus der Normandie. Dort will niemand etwas mitbekommen haben, dass Oscar ein Kind gebar. Aber sie war die ganze Zeit krank und ging nicht aus dem Haus raus, wurde mir gesagt. Dann fuhr sie eines Nachts weg, ohne dass sie jemand sah.“   „Das ist natürlich merkwürdig und sieht Lady Oscar nicht ähnlich.“ Girodel war noch immer ein wenig fassungslos und bangte gleichzeitig um Lady Oscar. Der General würde das sicherlich nicht auf sich ruhen lassen und sich etwas ausdenken, was ihr schaden würde. „Erlaubt mir die Frage, was beabsichtigt Ihr jetzt zu machen?“, fragte er ganz vorsichtig und der General blieb stehen.   Reynier warf ihm einen bösen Blick zu, der einem gefährlichen Habicht vor dem Sturzangriff glich. „Ich begebe mich jetzt zu mir auf das Anwesen und sehe dann weiter! Auf jeden Fall wird Oscar nichts von meinen Erkundungen erfahren und Ihr solltet Eure Zunge auch hüten!“   Wenigstens würde Lady Oscar nicht bestraft oder gar vor der Tür gesetzt werden. Victor atmete in dieser Hinsicht erleichtert auf. „Jawohl, General.“   „Ich habe wirklich eine Schwester?“ mischte sich Augustin ein, sobald eine Sprachpause zwischen den beiden Männern herrschte. Er verstand nicht, warum sein Großvater so verärgert war.   „Ja, du hast jetzt eine Schwester.“ Reynier sah ihn an, als hätte er ihn erst jetzt bemerkt. „In einer Woche komme ich wieder und will deine Fortschritte im Fechten sehen!“ Das glich einem Befehl. Der General verabschiedete sich gleich darauf und ritt geschwind zu seinem Anwesen.       François ging gerade mit seinem Ziehvater in den Stall, um weiter zu lernen, wie die Pferde versorgt wurden, als General de Jarjayes in den Hof einritt und sein Pferd erst vor ihnen zügelte. André hielt sogleich die Zügel und senkte sein Haupt. „Willkommen zurück, General.“   Reynier stieg aus dem Sattel und hätte André am liebsten eigenhändig ausgepeitscht. Allerdings würde er den Grund dafür nennen müssen und das könnte sein Vorhaben mit Augustin gefährden. „Wo ist Oscar?“, fragte er ihn deshalb barsch und mühte sich um Beherrschung.   André jedoch merkte an dem rauen Ton, dass der General missgelaunt war. „Auf ihrem Zimmer.“, sagte er und bekam ein mulmiges Gefühl. Es würde bestimmt um Marguerite gehen. Denn von seiner Grußmutter wusste er, dass der Hausherr von dem Fund des Mädchens nicht erfreut war. Aber was auch immer der General mit Oscar besprechen wollte, ging nur die beiden etwas an. Womöglich würde das ein Gespräch über militärische Angelegenheiten sein, redete André sich ein und versuchte damit das ungute Gefühl zu verdrängen. Er würde später zu Oscar gehen und von ihr alles erfahren. Jetzt jedoch galt es, das Pferd des Generals zu versorgen.   „Gut.“ Reynier kehrte André den Rücken und marschierte ins Haus, als François ihn einholte. „Darf ich mit?“   „Nein, bleib bei deinem Ziehvater und versorge mit ihm mein Pferd!“ Der General ging weiter ohne ihn zu beachten, nahm gleich im Treppenhaus zwei Stufen auf einmal und platzte in Oscars Salon. Seine Tochter überprüfte einige Papiere und trank nebenbei eine Tasse Tee. „Schön dich wiederzusehen, Oscar!“ Er musterte ihre schlanke Figur und fragte sich, wie sie ihre Schwangerschaft überhaupt verbergen konnte.   „Ich freue mich auch Euch zu sehen, Vater.“ Oscar erhob sich vom Stuhl, als er direkt vor ihr stehen blieb und kam gleich zur Sache. „Mir wurde berichtet, dass Ihr über den Vorfall mit dem kleinen Mädchen wisst.“   „Es gibt nichts, was ich nicht weiß, Oscar und ich bin sehr enttäuscht von dir!“, spie der General ihr direkt ins Gesicht und verbarg nicht seinen Zorn darüber.   „Enttäuscht?“ Oscar wappnete sich innerlich auf eine harte Diskussion mit ihrem Vater, aber innerlich versuchte sie Ruhe zu bewahren und zog nur ihre Augenbrauen zusammen. „Aber aus welchem Grund? Nur weil ich es erlaubt habe, dass sie auf dem Anwesen bleibt?“   Nicht nur deswegen, dachte Reynier bei sich und glühte vor Wut, aber meinte stattdessen: „Genau! Ich habe dich nicht dazu erzogen, dass du bei jedem Findelkind weich wirst! Du bist in erster Linie ein Offizier und sollst hartherzig sein!“   „Das stimmt, Vater, und ich bin Euch dankbar, dass Ihr mir die Erziehung eines Mannes zu teil haben ließt. Aber ich bin nun mal eine Frau und...“   „Kein Wort mehr!“ Das reichte! Der General hielt es nicht mehr aus und brachte seiner Tochter mit einer schallenden Ohrfeige zum Schweigen. „Du bringst das Kind fort!“ Er wollte damit erreichen, dass sie mit der Wahrheit herausrückte. Die Wahrheit, auf die er eigentlich schon selbst gekommen war, aber Oscar sollte ja nichts davon wissen. Sonst würde er das mit Augustin offenbaren müssen und das war nicht in seinem Sinne.   Oscar bemühte sich, sich nicht an die brennende Wange nach der Ohrfeige zu fassen und geriet selbst in Rage. „Nein, Vater, Marguerite bleibt hier und ich werde mich um sie kümmern!“   Wie bitte? Seine Tochter wagte es ihm zu widersprechen? Oder waren das die Mutterinstinkte, um ihr Kind zu beschützen? „Du hast ihr schon einen Namen gegeben?“, spie er und die zweite Ohrfeige folgte noch härter als die erste auf die andere Wange.   „Der Name stand auf dem Zettel, der bei ihr im Korb gefunden wurde!“ Oscar schnaufte, ihre Wangen brannten, aber sie behielt ihre Haltung vor ihrem Vater aufrecht. Niemals würde sie ihr Kind verraten und einer Gefahr aussetzen!   Wie, seine Tochter wollte nicht die Wahrheit sagen und stritt lieber mit ihm weiter? Nun, sie war genauso stur und unbeugsam wie er, aber er kannte auch ihre Schwäche. Seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben. „Dann entscheide dich zwischen dieser Marguerite und François!“   Die Worte trafen Oscar noch härter als die Ohrfeigen. „Was wollt Ihr damit sagen, Vater?“   Nun kommen wir zum Geschäft, dachte bei sich Reynier boshaft und sprach genau das aus, was er eigentlich schon seit einer längeren Zeit vorhatte: Nämlich den Willen seiner Tochter zu brechen und sie gehorsam machen. „Wenn ich François nach meinen Regeln erziehen lasse, dann darf das Mädchen bleiben! Aber wenn du stur bleibst, dann werde ich sie höchstpersönlich von hier fortbringen, ohne dass du es bemerkst!“   Nein, das durfte ihr Vater nicht machen! Oscar zerbarst und es schmerzte schon alleine bei dem Gedanken das Herz. „Das lasse ich nicht zu!“   Reynier schmunzelte hinterlistig, als er den schmerzlichen Ausdruck in den Augen seiner Tochter bemerkte. Er hatte es fast geschafft! „Es liegt alles bei dir, Oscar.“   Was sollte sie tun? Wenn sie weiter ihm die Stirn bieten würde, dann würde er seine Worte in die Tat umsetzen und ihr Marguerite wegnehmen. „In Ordnung, Vater, Ihr dürft François zu einem Soldaten erziehen.“ Diese Entscheidung fiel ihr nicht leicht und schmerzte sehr, aber das hatte sie für ihre Kinder getan und damit ihr Geheimnis noch weiter verborgen blieb.   „So ist es brav, meine Tochter, jetzt bin ich wieder stolz auf dich.“ Reynier hatte zwar die Wahrheit aus ihr nicht rausbekommen können, aber dafür hatte er sie wieder in seiner Gewalt. Somit würde Oscar nicht mehr tun und lassen können, was sie wollte. Mit zufriedenem Lächeln auf den Lippen verließ er ihren Salon und machte François im Stall ausfindig. Er versorgte noch immer die Pferde mit André. „François, mein Junge, du bist schon groß genug und wirst deshalb Umgang mit dem Degen und anderen Waffen erlernen. André und Oscar werden deine Lehrer sein, bis ich für dich einen Fechtpartner gefunden habe.“   François strahlte über das ganze Gesicht. Die Vorstellung, einen Gefährten und Fechtpartner zu haben, war einfach schön! „Danke, General!“ Er schaute nach seinem Ziehvater, aber dieser hatte bereits den Stall verlassen.   André eilte unverzüglich zu Oscar, als der General zu seinem Sohn im Stall gesprochen hatte. „Ist es wahr, dass unser Kleiner zu einem Soldaten erzogen wird?“, fragte er besorgt, schloss die Tür hinter sich und war schon in wenigen Schritten bei seiner Liebsten.   In Oscar brodelte noch immer die Wut. „Mein Vater hat mir keine andere Wahl gelassen.“, spie sie verächtlich und erzählte ihm kurz über seine Worte. „Ich war gezwungen nachzugeben, sonst hätte er uns Marguerite weggenommen.“, beendete sie und lehnte sich an die breite Brust ihres Geliebten.   André überkam selbst eine hilflose Wut  auf den General. Allerdings war ihm gleichzeitig bewusst, dass er nichts würde ausrichten können. Denn sonnst würde ihr Liebesgeheimnis auffliegen und besonders ihre Kinder wären dann in Gefahr. Das dürfte aber nicht passieren! André schloss Oscar in seine Arme, wo sie sich etwas beruhigte und fand selbst ein wenig Ruhe. Sie werden schon die Hindernisse überwinden, denn Hauptsache war, dass sie zusammen waren und es für immer bleiben würden. Kapitel 41: Wo komme ich her? ----------------------------- Sommer 1783.   Mit tapsigen Schritten und ein wenig wackelig auf den Beinen, ging Marguerite von ihrer Amme zu ihrer Kinderfrau im rosa Kleid, dann zu ihren Zieheltern und zurück zu der Amme und wurde dafür von allen gelobt. Sie verstand zwar nicht wofür, aber es gefiel ihr und sie machte eine neue Runde.   Der achtjährige François beobachtete sie dabei desinteressiert und versuchte sich abseits zu halten, damit sie nicht zu ihm lief. Er mochte sie schon, aber sie war kein Junge und auch nicht seine Schwester. So ähnlich wie seine Zieheltern nicht seine wahren Eltern waren. Seit General de Jarjayes letztes Jahr anfing ihm merkwürdige Fragen zu stellen, begann er sich damit auch zu beschäftigen.   „Mein Junge, hast du dich eigentlich jemals gefragt, wer deine wirklichen Eltern sind und wo du gefunden wurdest?“, erinnerte sich François an eine dieser Fragen des Generals und fühlte sich wie ein Verräter gegenüber seinen Zieheltern. „Nein, das habe ich mich noch nicht gefragt...“, hatte er dem General wahrheitsgemäß geantwortet und ein unwohles Gefühl bekommen. Der General hatte ihn dabei eigenartig angelächelt und ihm empfohlen: „Wenn du die Antwort wissen willst, dann frage deine Zieheltern – sie hatten dich ja im Wald gefunden.“   François schämte sich danach, weil General de Jarjayes in ihm die Neugier erweckt hatte, über seine Herkunft alles erfahren zu wollen. Dazu kam noch die Angst, seine Zieheltern darüber überhaupt zu fragen. Sie werden ihn danach sicherlich nicht mehr mögen. Aber nur seine Zieheltern kannten doch die Wahrheit, denn sie hatten ihn in einem Wald gefunden. Sie und sein Patenonkel. Graf de Girodel jedoch hatte ihn schon lange nicht mehr besucht, um ihn fragen zu können. François seufzte schwer. Wo genau er gefunden wurde und wer seine wahren Eltern waren, würde er wohl niemals herausfinden. Aber warum nur?   Marguerite plumpste gerade erschöpft vor den Füßen von Rosalie und streckte lächelnd nach ihr ihre Ärmchen aus. Rosalie hob sie natürlich hoch. „Das hast du gut gemacht. Jetzt gehen wir im Garten spazieren und schauen uns die schönen Rosen an.“ Rosalie schaute zu ihrer Schutzpatronin.   „Geht nur, das Wetter ist gerade so schön.“, sagte Oscar und Rosalie mit der Amme Marie und dem Mädchen auf dem Arm, verließen den Salon.   „Willst du nicht mit ihnen mitkommen?“, fragte André seinen Sohn.   François schreckte aus seinen Gedanken hoch und schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, ich bin ein Junge.“   „Dann bleibst du hier und hörst wie ich spiele.“ Oscar ging zu ihrem Klavier. Sie schien von seiner niedergeschlagenen Gemütsverfassung nichts mitzubekommen. Aber dem war nicht so. Schon oft fiel ihr und André seine Nachdenklichkeit und Zurückhaltung auf.   „Besser als mit Mädchen spielen.“, murmelte François und erntete verwunderte Blicke von seinen Zieheltern.   Oscar und André waren nicht nur verwundert, sondern auch besorgt. Ihr Sohn hatte sich in letzter Zeit sehr verändert. Immer mehr versank er in Gedanken, wirkte teilnahmslos und verschlossen. Oscar vergaß das Klavier, kam zu ihm und betastete seine Stirn. Etwas erleichtert stellte sie fest, dass er kein Fieber hatte. Aber die Sorge um ihr Kind verging dadurch trotzdem nicht. „Geht es dir gut?“, wollte sie wissen. Vielleicht hatte er einen Rückfall von diesen unerklärlichen Schmerzen von früher?   „Ich bin nicht krank.“, brummte François und machte einen Schritt von ihr zurück. Aber weit kam er nicht. Sein Ziehvater stand hinter ihm und legte ihm seine Hände auf die Schulter. Somit versperrte er ihm den Fluchtweg im Rücken und François fühlte sich wie ein Übeltäter, der auf frischer Tat ertappt wurde.   „Was ist los mit dir?“, fragte André mit derselben Sorge in der Stimme wie Oscar. „Fehlt dir etwas, mein Junge?“   Oscar hockte sich sogar vor ihm, um auf gleicher Augenhöhe mit ihm zu sein und nahm seine Hände in ihre. „Du weißt doch, du kannst uns alles erzählen und wir werden dir helfen.“   Nein, ihr werdet mir nicht helfen, ihr werdet mich nicht mehr mögen..., kreiste es im Kopf von François und er kaute nervös auf der Unterlippe. Sein Herz schlug schneller, sein Blut floss wärmer durch seine Adern und er schämte sich noch mehr. Er konnte nicht in die schöne Augen seiner Ziehmutter schauen, aber er zwang sich dazu. Sollte er sie wirklich fragen? Was würde aber dann passieren? François bekam Angst vor der Antwort und dennoch... „Wo habt ihr mich gefunden?“, brachte er kaum hörbar von sich und hoffte, seine Zieheltern hatten ihn nicht gehört. Er täuschte sich und das merkte er an den geweiteten Augen seiner Ziehmutter.   Seine Frage überraschte Oscar und André gleichermaßen, dass sie einen seltsamen Blick miteinander tauschten. „Im Wald, das hast du doch schon oft gehört.“, meinte Oscar, um ihn abzulenken. Sie hatte zwar in der Vergangenheit mit ihrem Geliebten darüber gesprochen, dass ihr Sohn früher oder später die Wahrheit erfahren würde, aber nicht in diesem zarten Alter. François war einfach noch zu jung dafür.   Ja, das hatte er schon oft genug gehört, dass er im Wald gefunden wurde. François fühlte sich noch miserabler, aber der Drang nach der Wahrheit in ihm war stärker. Besonders wenn die Stimme des Generals de Jarjayes in seinem Kopf ihn dazu anspornte. „...frag deine Zieheltern, wo du her kommst...“ François schluckte bitter. Wenn er schon angefangen hatte, dann musste er es zu Ende bringen. „Wo genau im Wald?“ Er sammelte seinen Mut zusammen und fügte mit belegter Stimme noch hinzu: „Ich will dorthin!“ Sogleich befürchtete er, seine Zieheltern würden jetzt gehen und ihn verlassen, weil er sie enttäuscht hatte. Aber nichts dergleichen geschah.   Oscar schaute ihn noch immer fassungslos an und rang mit sich. Einerseits hatte ihr Sohn das Recht die Wahrheit zu erfahren, aber andererseits bestand die Gefahr, dass er aufgrund seines jungen Alters es falsch verstehen würde. „Wieso ist das für dich so wichtig?“   Das gleiche wollte auch André wissen. Warum interessierte das seinen Sohn schon jetzt? Wenn er etwas älter wäre und von solchen Sachen besser verstanden hätte, dann würde André es noch nachvollziehen können. „Gefällt es dir etwa nicht mehr bei uns, mein Junge?“   „Doch.“ François war aufgewühlt und konnte seine Gefühle nicht mehr zurück halten. Seine grünblauen Kinderaugen schimmerten glasig, seine Wimpern wurden feucht und sein Körper spannte sich an. Er fühlte sich schuldig und beschämt, aber musste es erfahren, sonst würden die Fragen des Generals de Jarjayes ihn noch mehr quälen. „Ihr seid alle so nett und ich mag euch sehr, aber ihr seid nicht meine Eltern...“ Es war raus, aber leichter fühlte er sich dadurch nicht. Jetzt würden seine Zieheltern ihn nicht mehr mögen! „Ich mag euch wirklich sehr, aber ich will auch wissen, wer meine Eltern sind... Bitte sagt es mir!“ Tränen traten ihm in die Augen und liefen ihm die Wangen herab, die er auch sogleich mit seinem Ärmel wegwischte.   André sah das Gesicht seines Sohnes nicht, aber er hörte die Verzweiflung in dessen Stimme und dass es ihm bitterernst war. „Vielleicht sollen wir es ihm sagen?“, meinte André leise und Oscar nickte ihm einvernehmlich zu. Ihr mütterliches Herz würde es nicht ertragen, ihren Sohn weiter so bekümmert und traurig zu sehen. Sie erhob sich und strich sachte die hellbraune Strähnen von der Stirn ihres Sohnes. „Also gut. Lasst uns einen Ausritt machen.“       François dachte, er würde an den Ort gebracht, wo er gefunden wurde. Stattdessen ritten sie zum See, wo er schon oft war. Die Pferde blieben an einem alten Baum stehen und André stieg als erster aus dem Sattel, um seinen Sohn runter zu nehmen. François war mit Oscar geritten. „Habt ihr mich hier gefunden?“, fragte der Junge und ließ sich von seinem Vater vom Pferd runter nehmen und auf den Boden stellen.   „Nein, hier bist du entstanden.“, sagte André, wartete bis auch Oscar vom Pferd gestiegen war und band dann die Tiere an den Baum.   „Entstanden?“ François verstand die Aussage seines Ziehvaters nicht.   „Dein Vater will sagen, dass du hier...“ Oscar verstummte, als ihr bewusst wurde, wovon sie da sprach. Wie erklärte man das eigentlich einem Kind und dazu dem eigenem? „Komm, wir setzen uns lieber.“, empfahl sie und setzte sich schon selbst in das weiche und sattgrüne Gras. André folgte ihrem Beispiel und François nahm zwischen den beiden Platz. Oscar riss einen Grashalm ab, drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und überlegte, wie sie am besten beginnen sollte. „Du kennst doch sicherlich die Geschichte über unsere Reise durch Frankreich?“   „Natürlich!“, bejahte François und gab sogleich eine Erklärung dazu: „Onkel Viktor erzählt oft, wie ihr viele Orte besucht habt und dass dir einmal schlecht wurde, Mama, als ihr ein Meer überquert habt. Dann, auf der Heimfahrt habt ihr mich gefunden.“   „Das ist richtig. Aber wir haben dich nicht gefunden.“, offenbarte Oscar und starte stur auf die glitzernde Oberfläche des Sees. Ihre Gefühle waren zerrissen und ein schwerer Druck lag auf ihrem Brustkorb. Erinnerung an die Zeit, in der François geboren wurde und an all die Lügen, die sie mit André in all den Jahren erschaffen hatte, erschwerten ihr das Atmen. Es wäre einfacher, weiter zu schweigen und alle zu belügen, aber das hieß auch, ihren Sohn zu verletzen und damit sein Vertrauen verlieren. Das wäre dann noch schlimmer zu ertragen, als die bittere Wahrheit ihm jetzt schon zu offenbaren. Aber würde er das in seinem Alter verstehen? Und wie würde er darauf reagieren?   „Nein?“ Der Junge sah verwirrt von seiner Ziehmutter zu seinem Ziehvater. Was sollte das heißen, sie hatten ihn nicht gefunden?   André war es auch schwer ums Herz, aber er versuchte weiter zu erklären. „Nein, wir haben dich nicht gefunden. Du wurdest am Ende unserer Reise geboren.“   Es wurde noch verwirrender. François verstand gar nichts mehr. „Was heißt das?“   „Das heißt, dass wir wirklich deine Eltern sind.“ Oscar entriss ihren Blick vom See, warf den zerknitterten Grashalm weg und sah zu ihrem Sohn. Die Wahrheit war nun raus, aber besser wurde ihr dadurch nicht. Wie würde ihr kleiner Sonnenschein darauf reagieren? Das war ihr die größte Sorge in diesem Moment.   François schlug die Kinnlade nach unten. Seine Zieheltern waren seine wirklichen Eltern? Oder wollten sie ihn damit beruhigen? Er versuchte die Worte zu begreifen, machte den Mund wieder zu und schluckte hart, um überhaupt etwas sagen zu können. „Ist es wahr?“   „Ja, das ist wahr.“, bekräftigte André und auch ihm war nicht gerade wohl dabei. Was würde sein Sohn tun, da er jetzt die Wahrheit wusste? Würde er die Lüge ihm und Oscar verzeihen können?   François schüttelte fassungslos den Kopf. Seine Zieheltern waren seine Eltern! Aber warum hatten sie ihm das nicht schon früher gesagt? Wollten sie ihn etwa nicht als eigenen Sohn ansehen? War die Liebe und Güte, die sie ihm immer schenkten, nur eine Täuschung, eine Lüge? Was war er für sie in Wirklichkeit? Schmerz entstand in seinem kleinen Brustkorb und ihm kam es so vor, als würde sein Herz in kleine Stücke gerissen. „Aber warum sagen alle, dass ihr mich gefunden habt?“, fragte er mit heiseren Stimme und neue Tränen sammelten sich in seinen Augen.   Oscar und André hätten ihren Sohn am liebsten in die Arme genommen und ihn getröstet, aber sie waren noch nicht fertig mit dem Gespräch. Wie schwer es für sie beide auch war, mussten sie das zu Ende bringen, was sie begonnen hatten. Jetzt kam der komplizierte Teil der Erklärung und damit begann André. Er schluckte ein paar Male, um besser sprechen zu können. „Weil wir das so gesagt haben und alle haben uns geglaubt. Niemand darf wissen, dass du wirklich unser Sohn bist, sonst würden viele schreckliche Dinge geschehen und das wollen wir nicht.“   François erschrak. Hieß das etwa, dass seine Eltern nicht mit Absicht logen? „Was für schreckliche Dinge?“   Oscar fand derweilen ihre Stimme wieder. Ihr Sohn tat ihr leid, aber wenigstens entdeckte sie keinen Hass oder Zorn und Wut in seinem Gesicht. Wenn sie und André ihm alles gut erklärten, dann bestand die Hoffnung, dass er alles verstehen und ihnen verzeihen würde können. „Du kennst bestimmt schon die Ordnung der Gesellschaftsschichten?“   „Ja, das kenne ich.“, meinte François ohne lange zu überlegen und fragte sich, warum seine Mutter das wissen wollte. Was hatte seine Herkunft mit der Ordnung der Gesellschaftsschicht zu tun? Aber er sprach trotzdem das weiter, was er bereits gelernt hatte. „Ganz Oben an der Spitze steht der König, dann kommen der Adel, der Klerus und ganz unten stehen die einfachen Bürgerlichen. Du Mama, bist adlig und du Papa, ein einfacher Bürgerlicher.“   „Richtig und genau aus diesem Grund darf es niemand wissen, dass du unserer Sohn bist.“, sagte Oscar und hoffte sehr, dass er das auch richtig versteht.   „Aber ihr habt doch mir immer gesagt, dass jeder Mensch gleich ist.“, wandte François ein wenig verwirrt ein.   Armer Junge. André versuchte es besser zu erklären. „Das stimmt, weil deine Mutter und ich das so empfinden. Die mächtigen Menschen, wie der König und viele Adlige, sind aber dagegen und wollen diesen Standesunterschied behalten. Deine Mutter ist da anders und ist der gütigste Mensch, den ich kenne und liebe.“   „Dein Vater übertreibt, was mich angeht, aber in allem anderen hat er recht.“, sprach Oscar für André weiter, bevor ihr Sohn die nächste Frage stellen konnte. „Ein Adliger und ein einfacher Bürgerlicher dürfen nicht einander heiraten und einander lieben.“   „Dazu kommt noch, dass deine Mutter wie ein Mann erzogen wurde und darf nicht das Leben einer Frau führen.“, fügte André hinzu. Irgendwie klappte es jetzt besser mit der Erklärung als am Anfang. „Das heißt, sie darf auch keine Kinder haben oder einen Mann lieben, der nicht ihres Standes ist.“   François senkte sein Köpfchen, fuhr mit seiner Hand über die Grashalme neben sich und ließ sich die Erzählungen durch den Kopf gehen. Wenn es diesen Standesunterschied nicht gegeben hätte, dann hätten seine Eltern ihn bestimmt nicht angelogen und nicht behauptet, dass sie ihn im Wald gefunden hatten, vermutete François. Jetzt, wo er die Wahrheit endlich wusste, konnte er nachvollziehen, warum sie das getan hatten und sah von den Grashalmen zu Oscar. „Ich denke, ich verstehe jetzt alles.“ Er lächelte und warf sich ihr unverhofft um den Hals. „Danke Mama, dass ich dein und Papas Sohn bin!“ Dann entriss er sich, bevor Oscar noch reagieren konnte und umarmte André. „Ich habe dich und Mama sehr lieb!“ Ein Gefühl der Geborgenheit durchströmte ihn und er fühlte sich wieder sicher und wohl.   Das gleiche Gefühl der Erleichterung durchströmte auch Oscar und André. Sie hätten nicht gedacht, dass es so gut ausgehen würde. „Wir haben dich auch sehr lieb.“, sagte André angetan und drückte den schmalen Körper seines Sohnes sachte an sich. „Aber das bleibt zwischen uns ein Geheimnis.“   François setzte sich wieder zwischen den beiden und erinnerte sich an den Anfang des Gespräches. „Weil dann schreckliche Dinge passieren würden?“   „Ja, aber das lassen wir nicht zu.“ Oscar strich ihm durch das weiche Haar und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Du bist unser größter Schatz. Du und Marguerite.“   „Marguerite?“ Was hatte sie denn damit zu tun? Gleichzeitig beschlich François eine dumpfe Vorahnung, die seine Mutter auch noch bestätigte. „Genau. Sie ist auch unser Kind, wie du.“, offenbarte Oscar. „Sie ist deine Schwester.“   François dachte an den Tag, an dem Marguerite gefunden wurde. „Dann habt ihr sie vor der Tür gestellt?“   „Wir hatten keine andere Wahl.“, meinte André.   „Wie bei mir?“, hackte François nach. Es war nicht zu fassen! Er hatte nicht nur die Wahrheit über seine Eltern erfahren, sondern auch über Marguerite. Sie war seine Schwester und deshalb also hatten seine Eltern sie genauso adoptiert wie ihn! Ab jetzt würde er Marguerite mit anderen Augen sehen und auf sie achtgeben – immerhin war er jetzt ihr großer Bruder!   „Wie bei dir.“, bejahte André und François kam schon die nächste Frage in den Sinn. „Was ist dann mit Onkel Viktor?“   „Graf de Girodel ist nicht dein wahrer Onkel.“, erklärte Oscar. „Er ist mein Untergebener in der königlichen Garde und ich schätze ihn als Freund, weil er unser Geheimnis gut bewahrt.“   „Verstehe.“, seufzte Francois. Dann war sein Patenonkel so in etwa wie ein Verbündeter seiner Eltern. „Weiß er über Marguerite?“, wollte François wissen. Wenn heute schon der Tag der Wahrheit war, dann warum nicht gleich alles erfahren, was ihn beschäftigte.   Oscar verdrehte die Augen. Ihr Sohn begann nun viel zu viele Fragen zu stellen. Aber wenn er sich dadurch besser fühlen würde, dann sollte er die Antworten bekommen. „Nein, davon wissen nur dein Vater, ich und jetzt du.“   „Verstehe...“ François entließ erneut einen Seufzer. „Ist sie auch hier entstanden?“   „Ähm... ja, sie auch.“, meinte André etwas verlegen.   Das wurde für François noch interessanter. „Wie sind wir denn entstanden?“, wollte er neugierig wissen.   „Um das zu erfahren, musst du ein wenig größer und älter werden.“, klärte Oscar auf und schmunzelte. Das Gespräch war gut ausgegangen und sie war nun erleichtert. „Aber eins können wir dir verraten: Du und deine Schwester, ihr beide seid durch die Liebe zwischen eurem Vater und mir entstanden.“   „Liebe ist schön!“ François grinste alle beide flegelhaft an. „Aber beim nächsten Mal bringt bitte einen Bruder, mit dem ich spielen und fechten kann.“   Oscar und André wurden rot im Gesicht. François hakte auch nicht weiter nach. Er hatte seinen Wunsch geäußert und war sich irgendwie sicher, dass er auch in Erfüllung gehen würde. Kapitel 42: Augustin -------------------- Sein Erzieher hatte ihm einmal gesagt, dass Zwillinge immer spürten, wenn mit dem anderen etwas nicht stimmte oder ihm es schlecht ging. Das wurde Augustin immer bewusster, seit er über François erfahren hatte. Aus heiterem Himmel und ohne dass er es gewollt hätte, wechselte sich seine Laune und seine Gemütsverfassung. Wie zum Beispiel jetzt. Stolz und voller Freude hatte er seinem Großvater die Fortschritte beim Fechten präsentiert. Er wehrte geschickt die Hiebe von Graf de Girodel mit seinem Übungsschwert ab und duckte sich gekonnt unter dessen Klinge. Bis in seiner Kehle urplötzlich ein dicker Kloß entstand und seine Augen vor anlaufenden Tränen brannten. Er versuchte das nicht nach außen zu zeigen, konzentrierte sich auf den Kampf, aber General de Jarjayes merkte das und brach die Fechtübung ab. „Für heute genug. Aus dir wird irgendwann einmal ein guter Kämpfer, aber du musst noch lernen, deine Gefühle zu beherrschen.“   Graf de Girodel bekräftigte das und fügte nicht ohne Stolz hinzu: „Augustin ist durch und durch wie seine Mutter.“   Reynier überhörte das geflissentlich. Augustin dagegen horchte auf. Seine Mutter... Wie gerne hätte er sie näher kennengelernt... „Jawohl.“, sagte er zu seinem Großvater und fuhr sich beschämend über die Augen mit seinem Ärmel. Was fehlte denn seinem Bruder, dass er selbst auf einmal so traurig war, fragte sich Augustin und in dem Moment stieg in ihm ein angenehmes, warmes Gefühl hoch. Wie lange sollte er das alles noch ertragen? „Wann darf ich meine Eltern und meine Geschwister sehen?“, wollte er von seinem Großvater wissen.   General de Jarjayes saß bequem in einem Sessel und rauchte eine Pfeife. Jetzt legte er die Pfeife auf den kleinen Tisch, der daneben stand und runzelte die Stirn. „Wenn du aufhörst nach ihnen zu fragen!“   Augustin glaubte ihm irgendwie nicht mehr. Zu oft hatte ihm sein Großvater Versprechen gegeben, aber es geschah noch immer nichts. „Aber Ihr habt mir das doch versprochen!“ Der Junge wusste selbst nicht, woher er so viel Trotz entwickelte und senkte gleich darauf schuldbewusst den Blick. „Verzeiht mir.“   Der General überlegte und musste Graf de Girodel recht geben. Augustin ähnelte charakterlich immer mehr seiner Mutter. Reynier stand langsam vom Sessel auf. „Du willst sie wirklich sehen?“   Was war das für eine Frage? Augustin bejahte mit einem Nicken. „Bitte, Großvater.“, fügte er noch hinzu, um nicht unfreundlich zu erscheinen.   Der General schaute zu Graf de Girodel. „Lasst die Pferde satteln. Der Junge wird bei Euch reiten.“   Wie? Das kam für Victor unerwartet und traf ihn unvorbereitet. „Ihr wollt ihn jetzt zu Euch auf das Anwesen bringen und Lady Oscar vorstellen?“ Zugegeben er wollte auch, dass Augustin seine Eltern sah, aber nicht, wenn der General etwas damit bezweckte. Was plante er schon wieder, dass es ihn zu so einer plötzlichen Entscheidung führte? Victor dachte eher, General de Jarjayes würde noch einige Jahre abwarten, bis der Junge älter und mehr von solchen Intrigenspielen verstehen würde. Aber anscheinend hatte er sich getäuscht.   „Genau das will ich.“ Die Mundwinkel des Generals zogen sich leicht nach oben, wobei sein Gesicht und sein eisiger Blick die gewohnte Strenge beibehielten. „Ich erfülle ihm nur seinen Wunsch.“   „Danke, Großvater!“ Das Gesicht von Augustin erstrahlte. Endlich ging sein größter Wunsch in Erfüllung!   „Aber unter einer Bedingung, sonst bringe ich dich zurück in dein Dorf und du siehst deine Eltern und deine Geschwister nie wieder!“, fügte General hinzu und das breite Lächeln des Jungen erstarb. Nein, bitte nicht in dieses verdammte Dorf und zu den Menschen, die mir meine Familie genommen und mich wie ein Tier behandelt hatten, flehte er stumm. Bis auf Melisende, die ihn beherbergt hatte und der kleinen Anna, vermisste er dort niemanden. Ganz besonders nicht die Brüder Armand und Georges, die Spaß daran hatten ihn tagtäglich zu verprügeln. Zu seinem Großvater sagte er aus diesem Grund mit festen Stimme: „Ich werde alles tun, was Ihr von mir verlangt.“   Armer Augustin. Er wusste doch gar nicht, was sein Großvater überhaupt von ihm verlangte! „Was für eine Bedingung, General?“, fragte Girodel anstelle des Jungen und versuchte das unwohle Gefühl zu verdrängen, dass in ihm gerade hochstieg. Er hatte es ja geahnt, dass der General nicht ohne Hintergedanken seinem Enkel den Wunsch erfüllte!   Reynier legte eine Hand auf die Schulter des Jungen und durchbohrte ihn mit seinem ernsten Blick. „Ich habe deinem Bruder einen Fechtpartner versprochen und das wirst du sein. Du darfst aber niemanden erzählen, wer deine Eltern sind, wo du herkommst und musst so tun, als kennst du sie nicht. Dafür wirst du mit ihnen zusammen unter einem Dach leben, mit deinem Bruder und deiner Schwester aufwachsen und sie jeden Tag sehen. Zusätzlich wirst du mir berichten, was in meinem Haus in meiner Abwesenheit passiert. Verstanden?“   „Ja, Großvater.“ Augustin hatte auch einen ernsten Gesichtsausdruck. Die Wahrheit zu verbergen klang zwar eigenartig und seltsam, aber das würde er schon schaffen. Hauptsache er durfte endlich seine Eltern und Geschwister sehen und musste nie wieder in das Dorf zurückkehren, das ihm nur Leid beschert hatte! Er konnte doch bereits seine Gefühle gut verbergen und das müsste doch was Gutes sein!   „Gut. Jetzt geh und packe deine Sachen.“ Reynier wartete, bis der Junge aus dem Salon verschwand und schaute zu Girodel. „Ich vertraue auf Eure Verschwiegenheit.“   Die versteckte Drohung in der Stimme hätte der General sich sparen können. „Gewiss, mein Mund ist versiegelt.“ Victor fühlte sich dabei noch miserabler. Augustin tat ihm leid. Wie gerne hätte er ihm diese Bürde erspart! Wenn es schon für ihn, einem erwachsenen Mann, schwer fiel zu schweigen, zu leugnen und dabei lächelnd ins Gesicht von Lady Oscar zu schauen, dann würde es für ein achtjähriges Kind noch schlimmer sein. Möge der Junge die Kraft finden, alles unbeschadet zu überstehen, was auf ihn zukommt, betete Girodel in Gedanken und gleichzeitig verfluchte er den General de Jarjayes.   „Dann ist es geklärt.“, sagte Reynier und war schon auf den Gesichtsausdruck seiner Tochter gespannt, wenn er ihr Augustin vorstellen würde.       - - -       Sie spürten sich, noch bevor sie sich überhaupt sahen. François ritt mit seinen Eltern auf den Hof des Anwesens der de Jarjayes ein und obwohl er sich gerade zu einem der glücklichsten Menschen zählte, stieg ein eigenartiges Gefühl in ihm hoch. Es kam ihm so vor, als würde er sehnlichst erwartet. Vielleicht war sein Großvater wieder auf dem Anwesen? Seit er vor kurzem am See erfahren hatte, dass seine Zieheltern seine wahren Eltern waren und mit ihnen deren Geheimnis teilte, konnte er wenigstens in Gedanken General de Jarjayes als seinen Großvater bezeichnen. Oder kam sein Patenonkel wieder zu Besuch?   François konnte sich das mulmige Gefühl und das vor Aufregung schnell klopfende Herz nicht erklären, aber er ahnte, dass jetzt etwas passieren würde. Dasselbe Gefühl und das gleiche schnell klopfende Herz bekam auch Augustin, während er im Kontor vor seinem Großvater stand und ihm zuhörte, wie er sich verhalten sollte, wenn er seine Eltern und seinen Bruder sah. Graf de Girodel befand sich am Fenster und schaute hinaus. Auch sein Herz beschleunigte den Schlag und ihm traten kleine Schweißperlen auf die Stirn, die er kaum wahrnahm. „Sie sind da.“, sagte er auf einmal und wandte sich vom Fenster ab.   „Hast du dir alles gemerkt?“, fragte Reynier seinen Enkel mit einem Lächeln, das es Augustin unwohl an der Seele wurde.   „Ja.“, antwortete der Junge trotzdem und in dem Moment kam eine alte, rundliche Frau in das Kontor. Die Großmutter seines Vaters kannte Augustin bereits und versuchte krampfhaft die aufsteigende Aufregung in ihm zu verdrängen.   „Lady Oscar ist von ihrem Ausritt zurückgekehrt.“, teilte Sophie mit und fragte sich wiederholt, wer dieser Junge war, den der General vor etwa einer halben Stunde mitgebracht hatte.   „Oscar soll auf der Stelle zusammen mit André und François zu mir kommen.“, befahl Reynier und Sophie ging.   Über den Raum legte sich eine angespannte Stille. Jeder ging seinen Gedanken nach. Graf de Girodel wollte bei diesem bösen Spiel am liebsten nicht dabei sein. Augustin war innerlich aufgeregt und ließ sich die Anordnung seines Großvaters durch den Kopf gehen, um keinen Fehler zu machen. Einzig General de Jarjayes bereitete sich zufrieden darauf vor, was jetzt kommen würde.   Bald hörten sie Schritte außerhalb der Tür und horchten auf. Nicht lange, dann wurde kurz darauf geklopft und nach einem „Herein“ von Reynier betrat Oscar, André und François den Kontor.   „Ihr wolltet mich sprechen, Vater?“ Oscar nickte Girodel als Begrüßung zu und dann fiel ihr Blick auf den Jungen mit dunkelblonden Locken und blaugrünen Augen. Die Ähnlichkeit mit François verblüffte sie. „Wer ist das?“, fragte sie und stockte. Erinnerung an die Geburt von François sauste ihr durch den Kopf und sie fühlte sich plötzlich schuldig. So, als hätte sie diesem Jungen etwas angetan und feige davor geflohen. Aber wie konnte das sein? Sie sah ihn doch zum ersten Mal! Warum dann wollte sie auf einmal ihn in ihre Arme schließen, wie sie es bei François getan hatte? Und dieser intensive, stechende Blick der blaugrünen Augen und die äußerliche Ähnlichkeit mit François... Oscar bekam noch mehr den Drang zu erfahren, wer dieser Junge war!   Auch André durchströmten die gleichen Schuldgefühle und er wollte über diesen Jungen, der Oscar mit seinem Blick beinahe erdolchte, alles wissen. Denn der Junge besaß nicht nur Ähnlichkeit mit François, sondern erinnerte ihn an seine Oscar in diesem Alter.   François betrachtete den gleichaltrigen Jungen, der zwischen seinem Großvater und seinem Patenonkel stand, neugierig. Jedoch das Gefühl, das in ihm gerade herrschte und welches er zuvor verspürt hatte, verstärkte sich. Bilder aus seinen Alpträumen, die er schon längst vergessen hatte, suchten ihn jetzt wieder heim: Ein ärmliches Dorf, Regen, viel Schlamm und zwei halbwüchsige Knaben, die ihn bis zur Unkenntlichkeit verprügelten... François versuchte diese schrecklichen Bilder, die ihm seelischen Schmerz verursachten, aus seinem Kopf zu verdrängen. Er versuchte lieber über diesen Jungen zu rätseln. War er etwa der versprochen Fechtpartner? Das wäre schön, wenn dem so war. Denn innerlich fühlte sich François bereits jetzt zu diesem Jungen hingezogen und mit ihm auf eine Art verbunden, die er sich nicht erklären konnte.   Augustin verspürte die gleichen Gefühle wie François, aber er sah zuerst seine Mutter an. Bei Tageslicht war sie noch schöner als damals am Abend des Feuerwerkes. Ihr kühler Blick schweifte von ihm auf den General. Augustin blieb unbeeindruckt, obwohl er innerlich sehr aufgeregt und leicht verletzt war. Seine Mutter schien von ihm nicht begeistert zu sein und sie erkannte nicht ihren Sohn in ihm. Auch sein Vater, den er gleich nach seiner Mutter ansah, zeigte keine geringste Freude und Zuneigung ihm gegenüber. Die Gesichtsausdrücke seiner Eltern blieben verschlossen und wirkten gleichgültig. Mutter, Vater, ich bin euer Sohn, von dem ihr nichts wisst..., schrie stumm das kleine Herz von Augustin und es schmerzte. Aber kein Ton verließ seine Lippen und er rührte sich nicht vom Fleck. Seine kerzengerade Haltung und sein undurchschaubarer Gesichtsausdruck gab nichts davon Preis, wie zerrissen er sich gerade fühlte. Dann schaute er François an und in den grünblauen, glasigen Augen entdeckte er seinen eigenen Schmerz. Kein Wunder, denn er war sein Spiegelbild, sein Zwillingsbruder, von dessen Existenz weder er noch seine Eltern wussten und jemals wissen würden. Sein Großvater hatte das so angeordnet und sein Wort war Gesetz.   Der General beobachtete jede Regung seiner Tochter, legte beiläufig Augustin eine Hand auf die Schulter und stellte ihn vor. „Das ist der versprochene Fechtpartner und Gefährte für François. Er heißt Augustin und wird ab heute hier leben. Du magst doch so gerne Findelkinder beherbergen, Oscar, nicht wahr?“ Und insgeheim dachte er bei sich: Was du kannst, kann ich noch besser, Oscar. Du hast Schande über die Familie de Jarjayes gebracht, mich belogen und hintergangen! Jetzt sieh zu, wie dein eigener Sohn dich belügt und dir den gleichen Schmerz bereitet, den du mir angetan hast. Das ist meine Strafe für dich, meine Tochter, und ob du willst oder nicht, du wirst das tun was ich dir sage! Aber fühlst du überhaupt, dass Augustin dein Sohn ist? Nein, natürlich nicht. Du weißt doch gar nicht, dass er existiert. So ist das besser für mich und mein Spiel, welches mir große Genugtuung bereitet. Es tut mir leid, Oscar, aber du hast mir mit deinen Lügen keine andere Wahl gelassen und aus diesem Grund wirst du mitspielen.   Ein Findelkind? Oscar wusste nicht, was sie sagen sollte und starte mit André auf Augustin. Das war also der versprochene Fechtpartner für François. Aber woher kam er? Und warum verursachte er in ihnen noch immer Schuldgefühle? Sie kannten ihn doch gar nicht!   François, als er das Wort „Findelkind“ hörte, bewegte langsam seine Füße und je näher er an Augustin kam, desto mehr kam er ihm vertraut vor. Er blieb von Angesicht zu Angesicht vor ihm stehen und schluckte erst einmal, um seine Sprache zu finden. „Du bist auch gefunden worden?“   Augustin nickte wahrheitsgemäß. „Ja, ich bin gefunden worden.“ Das war nicht einmal gelogen. Er hatte nur verheimlicht, dass er in dem Dorf gefunden wurde, wo die beiden das Licht der Welt erblickt hatten.   „Ich denke, ihr werden euch gut verstehen.“, sprach der General zu seinen Enkeln und gaukelte ihnen ein väterliches Lächeln vor. „François, warum zeigst du Augustin nicht schon mal dein Zimmer, das Anwesen und erklärst ihm alles?“   „In Ordnung.“ François machte sich sogleich auf den Weg und winkte Augustin zu sich. „Komm mit.“ Augustin warf nur noch auf seine Eltern einen Blick und folgte seinem Bruder, der vielleicht mal drei Minuten älter war als er.       Oscar wartete, bis ihr Sohn mit diesem neuen Jungen aus dem Kontor weg war und sprach mit gerunzelten Stirn ihren Vater an. „Jetzt erklärt mir bitte, wer dieser Junge ist und woher er kommt.“   Der General schmunzelte listig und dachte kurz bei sich: Dein Sohn, den du noch nicht erkannt hast. Kein Wunder, denn du weißt ja nicht, dass du vor acht Jahren Zwillinge zur Welt gebracht hast. Aber gleich darauf zogen sich seine Lippen zu einem schmalen Strich und er antwortete seiner Tochter ohne jegliche Gefühlsregung. „Wie gesagt, Oscar, ich habe Augustin gefunden und mehr brauchst du nicht zu wissen.“   Wie bitte? Die gefühlskalte Antwort von ihrem Vater brachte Oscars Blut zum kochen. „Doch Vater, wenn dieses Kind schon hier leben, mit François ein Zimmer teilen und sein Spielgefährte und Fechtpartner werden soll, dann will ich alles über ihn wissen!“   Graf de Girodel, der bisher stillschweigend beobachtet hatte und selber mit zerrissenen Gefühlen kämpfte, wagte sich einzumischen. „Lady Oscar.“ Er erfand eine plausible Aussage, um die Stimmung zwischen Vater und Tochter abzumildern. „Euer Vater kann nicht viel über ihn sagen, weil ich ihm den Jungen empfohlen habe.“   „Ihr?“ Damit hatte Oscar nicht gerechnet. Aber das erklärte wenigstens, warum ihr Untergebener hier auch anwesend war.   „Ja, ich, Lady Oscar.“ Victor hasste sich noch mehr für diese erfundene Geschichte, die er seiner Vorgesetzten vortrug: „Augustin ist ein Waisenkind und hat jeden Tag vor meiner Haustür gebettelt. Als ich hörte, dass Euer Vater für mein Patenkind einen Fechtpartner sucht, habe ich den Jungen kurzerhand von der Straße zu mir geholt. Er sagte, er hat niemanden und ich glaubte ihm.“   „Jetzt weißt du es.“, meinte der General nicht ohne Hohn und verabschiedete Oscar aus seinem Kontor. „Also wenn du keine Fragen mehr hast, würde ich mit Graf de Girodel noch ein paar wichtige Sachen besprechen und danach nach Versailles aufbrechen.“   „Ich wünsche Euch einen schönen Abend, Vater.“ Oscar war froh, ihren Vater zu verlassen, denn sonst würde sie mit ihm noch streiten und das wollte sie nicht. Von diesem Augustin würde sie sicherlich mehr erfahren, als von ihm. Mit diesem Gedanken sah sie ihren Untergebenen an. „Wir sehen uns morgen in Versailles, Girodel.“ Dann drehte sie sich um und ging mit André aus dem Kontor ihres Vaters.   „Oscar, hast du das auch gespürt?“, meinte André auf dem Weg durch den Gang. „Ich meine dieser Junge... Obwohl ich mir sicher bin, dass ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, kam er mir trotzdem bekannt vor. Und er sieht unserem Kleinen sehr ähnlich.“   „Ja, das stimmt.“, seufzte Oscar. Ihre Gefühle waren aufgewühlt und ihr Herz schmerzte. „Ich weiß nicht, woher das kommt, aber auch mir kommt er sehr bekannt vor.“ Kapitel 43: Vertrautes Gefühl ----------------------------- Das Innere des Anwesens der de Jarjayes hatte Augustin bei seiner Ankunft nur kurz bewundern können. Jetzt zeigte François ihm sein Zimmer, wo er ab heute auch nächtigen würde. Es war schon seltsam, neben seinem Bruder zu stehen und ihm einen neuen Fechtpartner zu mimen. Aber das würde bestimmt bald vergehen. Sein Großvater hatte zu ihm gesagt, dass er sich in der ersten Zeit womöglich eigenartig fühlen würde, aber er würde sich schon daran gewöhnen. Augustin versuchte daran zu glauben.   „Jetzt zeige ich dir die Küche und stelle dich den anderen vor.“ François machte die Tür seines Zimmers zu und führte ihn in die besagte Küche, um ihn allen dort vorzustellen. „Rosalie, Madame Glacé, darf ich euch meinen Fechtpartner Augustin vorstellen?“   „Wir haben ihn kurz gesehen, aber kommt gerne herein.“ Rosalie saß am Tisch und fütterte ein Mädchen auf ihrem Schoß mit Brei.   „Das sind Madame Glacé, Mademoiselle Rosalie und Marguerite.“, erklärte François. „Marguerite wurde übrigens auch gefunden.“   Wieso erzählte François ihm das? „Sehr angenehm.“, murmelte Augustin in die Runde und betrachtete das kleine Mädchen mit braunem Haar und der blauen Augenfarbe. Das war also seine Schwester, die er noch nicht gesehen hatte. Unwillkürlich musste er dabei an seine einzige Freundin Anna aus dem Dorf denken. Was machte sie gerade? Wie ging es ihr? Und dachte sie auch manchmal an ihn?   „Man könnte meinen, ihr seid Brüder!“, rief Sophie bei Betrachtung der beiden Jungen verzückt. „Ihr seht euch so ähnlich!“ Bis auf das Haar und Augenfarbe sahen sie sich wirklich ähnlich.   Wir sind Brüder, lag es Augustin auf der Zunge, aber er fand stattdessen eine Ausrede: „Mir wurde gesagt, dass jeder Mensch einen Doppelgänger hat.“ Das hatte ihm Graf de Girodel beigebracht zu sagen, falls die Frage nach der Ähnlichkeit zwischen ihm und François gestellt würde.   „Nicht jeder Mensch hat einen Doppelgänger, aber es gibt natürlich Zufälle und Ausnahmen. Das sieht man gerade an euch beiden.“, redete Sophie, während sie die Kräuter für den Gänsebraten aussuchte. „Aber wie dem auch sei. Hast du Hunger, Augustin?“   „Nein, ich habe schon gegessen.“ Augustin wollte nicht mehr länger in der Küche bleiben. Die Großmutter seines Vaters behagte ihm irgendwie nicht. Sie schaute so streng aus.   „Dann zeige ich dir den Garten.“, schlug François vor.   „Genau, geht in den Garten und spielt dort!“, stimmte Sophie zu und die beiden verließen die Küche und dann das Haus durch die Hintertür.   François zeigte seinem neuen Freund gerne den Garten. Wobei das „Freund“ war noch zu schnell gesagt. Er kannte ihn nicht einmal eine halbe Stunde! Nun, vielleicht hätte er anders reagiert, wenn er zu Augustin nicht dieses vertraute Gefühl hätte. Ihm kam es so vor, als würde er ihn schon sein Leben lang kennen. Woher kam das nur?   Der Garten war groß. Bäume und Rosensträucher mit roten und weißen Rosenblüten schmückten die passierbaren Pfade von beiden Seiten und Augustin betrachtete besonders die weißen Rosen sehr interessiert. Bis sie vor einer alten Eiche stehen blieben und er François sprechen hörte: „Hier haben meine Eltern einen Schatz vergraben, als sie kleine Kinder waren.“   Seine Eltern? Augustin warf überrascht den Blick auf seinen Zwillingsbruder. „Deine Eltern?“ Bedeutete das etwa, dass François die Wahrheit über seine Zieheltern wusste? Wenn ja, dann könnte er sich ihm vielleicht auch anvertrauen? Aber würde das nicht seinen Großvater erzürnen?   Die Antworten auf die Fragen erübrigten sich, als François sagte: „Ich darf sie eigentlich nicht so nennen, aber sie haben es mir erlaubt.“   Das verstand Augustin nicht. „Warum haben sie es dir erlaubt?“ Vielleicht würden sie es ihm auch erlauben? So würde es ihm leichter fallen, die Anordnung seines Großvaters zu erfüllen.   „Weil François erst ein paar Tage alt war, als wir ihn gefunden haben.“, meinte eine Männerstimme hinter ihnen und beide Jungen drehten sich um.   François lächelte gleich. „Papa, Mama, ich habe ihm über euren Schatz erzählt, den ihr als Kinder hier vergraben habt.“ Er zeigte dabei auf die heraustretenden, dicken Wurzeln der alten Eiche. Ob dies genau die Stelle war, wusste er natürlich nicht, aber irgendwo hier würde es schon sein.   „Das ist in Ordnung.“ Oscar schaute zu Augustin und schon wieder bekam sie dieses unwohle, beinahe schmerzliche Gefühl, als schulde sie diesem Jungen etwas. Aber warum nur? „Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt. Mein Name ist Oscar François de Jarjayes und das ist André Grandier. Er ist mein Freund, wir sind zusammen aufgewachsen und François ist unser Ziehsohn.“   Ihre himmelblauen Augen schienen Augustin hier draußen noch schöner zu sein, als im Kontor seines Großvaters. Allerdings zeigten sie keine Wärme oder Mutterliebe ihm gegenüber. Kühl und eindringlich durchbohrte ihn ihr Blick, dass es ihm ein wenig fröstelte. François dagegen hatte sie viel liebevoller angeschaut. Nun, sie wusste ja, dass François ihr Sohn war. Von ihrem zweiten Sohn allerdings wusste sie nichts. Das schmerzte Augustin. Jedoch verlor er nicht seine gerade Haltung und festen Ton in seiner Stimme. „Sehr angenehm.“   „Mama wurde wie ein Mann erzogen und ist Kommandant in der königlichen Garde.“, erzählte François euphorisch und strahlte dabei stolz übers ganze Gesicht. „Deshalb trägt sie Männerkleider und Uniform. Du wirst sehen, sie sieht schön darin aus!“   „François!“, ermahnte Oscar ihn. Sie mochte keine Lobpreisungen zu ihrer Person und das auch noch vor einem fremden Jungen, den er nicht einmal kannte. Fremden Jungen? Irgendwie kam es Oscar so vor, als wäre das nicht richtig. Denn ein vertrautes Gefühl herrschte in ihr, seit sie Augustin im Kontor ihres Vaters gesehen hatte.   „Lass ihn doch, er hat doch nichts Schlimmes gesagt.“ André fühlte sich ebenfalls unbehaglich, als er länger auf Augustin schaute. Wer war er wirklich? Wieso kam er ihm so vertraut vor? Und dieses vertraute Gefühl hatte nichts mit der äußeren Ähnlichkeit mit François zu tun. „Und wie gefällt es dir hier?“, fragte er den neuen Spielkamerad seines Sohnes.   Augustin zuckte mit seinen Schultern. „Schön.“ Der Blick der grünen Augen seines Vaters wirkte etwas wärmer. Aber das geschah bestimmt nur, weil er freundlich sein wollte und nicht, weil er ihn gern hatte. Auch diese Erkenntnis schmerzte Augustin und er wäre am liebsten weggelaufen. Jedoch rührte er sich nicht von der Stelle. Denn sein Großvater würde solch ein Verhalten ganz sicher nicht gutheißen und ihn womöglich in das Dorf des Grauens zurückschicken, wo ihn nichts als Leid erwartete. Nein, das durfte nicht passieren und das hieß, weiter schweigen und nichts verraten! Aber was sollte er antworten, wenn er danach gefragt werden würde?   Kaum dass Augustin das gedacht hatte, stellte Oscar ihm genau die Frage, die er eigentlich vermeiden wollte zu beantworten. „Du wurdest also von Graf de Girodel von der Straße geholt und von ihm auf Geheiß meines Vaters erzogen?“   Augustin bejahte mit einem stummen Nicken. Es fiel ihm schwer darauf zu antworten. Besonders wenn ein dicker Kloß in seiner Kehle entstand und sein Mund sich wie ausgetrocknet fühlte.   „Wo hast du früher gelebt?“, wollte Oscar von ihm als nächstes wissen und Augustin suchte schnell nach einer Antwort. Denn auf diese Frage war es unmöglich mit einem Nicken zu beantworten.   „Waisenhaus.“, fiel es ihm wieder ein. Sein Großvater hatte ihm gesagt, dass er so antworten sollte, wenn er nach seiner Herkunft gefragt würde.   Waisenhaus also. Oscar beschlich jedoch der Verdacht, dass der Junge nicht ganz ehrlich war. Aber vielleicht bildete sie sich das nur ein. Denn es war ihr Vater, der das Kind hierher gebracht hatte und sie sollte eigentlich ihm ihr Misstrauen schenken, als dem Jungen. Augustin konnte bestimmt nichts dafür, wenn General Reynier de Jarjayes ihn als Fechtpartner für François auserkoren hatte. Oscar beschaute Augustin von Kopf bis Fuß und als sie ein Holzschwert an seinem Gurt befestigt entdeckte, milderte sie ihren Tonfall. „Und hat dir Graf de Girodel das Fechten beigebracht?“   Hier konnte Augustin wieder zustimmend nicken, ohne eine laute Antwort geben zu müssen.   „Also gut, dann zeig was du kannst.“ Oscar zwinkerte sogleich François zu. „Jetzt kannst du dich beweisen, was wir dir beigebracht haben.“   François trug auch ein Holzschwert, das um seine Hüfte mit einem Gurt befestigt war. Das war ein sehr guter Vorschlag seiner Mutter und er freute sich sehr, sich mit seinem neuen Fechtpartner messen zu können. Auch Augustin war nicht abgeneigt. Denn der Übungskampf würde ihn bestimmt von den unwohlen Gefühlen ablenken, die er gerade oder gar die ganze Zeit wegen seinen Eltern empfand. Er ging etwas mit François weg, holte sein Holzschwert raus und stellte sich auf die Kampfposition. François ließ nicht lange auf sich warten und verübte als erster den Angriff. Augustin parierte geschickt und schlug gleich darauf mit gleichmäßigen Hieben zu. François duckte sich und wich dem Hieb aus. Es dauerte nicht lange, bis die beiden Spaß daran fanden und die Umgebung um sich herum vergaßen.   Oscar und André verfolgten das Fechten der beiden mit Argusaugen und André sagte in kürze genau das, was auch im Kopf von Oscar herging. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber Augustin erinnert mich an dich.“   „So wie François mich an dich erinnert.“, seufzte Oscar und das vertraute Gefühl mit Gewissensbissen gegenüber Augustin verstärkte sich.   Auch André seufzte. „Das ist schon merkwürdig. Wir sehen ihn zum ersten Mal und haben das Gefühl, als kennen wir ihn schon seit langem.“   „Allerdings.“ Woher das kam und warum sie sich so fühlten, würde wohl ein Rätsel bleiben.       Später, als die Nacht hereinbrach und die Kinder bereits schliefen, genoss Oscar die Zweisamkeit in den Armen ihres Geliebten. „Ich hoffe, François und Augustin werden sich gut verstehen.“, sagte sie nach einem langen und berauschenden Kuss.   „Auf jeden Fall scheint er ein netter Junge zu sein.“, meinte André und ließ seine Geliebte aus den Armen frei. Denn Oscar wollte noch eine schöne Melodie für ihn spielen.   „Wir werden sehen.“ Oscar ging zu ihrem Klavier und setzte sich auf den Hocker hin. „Was soll ich heute spielen?“   „Etwas Schnelleres.“ André stellte sich ans Klavier und Oscar begann das zu spielen, was ihr gerade im Kopf schwebte. „Mir fällt ein: Hast du schon gehört, dass England die Unabhängigkeit Amerikas anerkannt hat?“, fragte er.   „Ja, habe ich.“ In Versailles brachten die Boten fast jeden Tag solche Nachrichten aus dem Land, das sich irgendwo am Ende der Welt befand.   André sprach schon weiter: „Die ersten französischen Soldaten sind inzwischen schon nach Paris zurückgekehrt.“   Auch davon hatte Oscar schon gehört. „Das freut mich für die Soldaten und ihren Familien.“   Oscar wirkte etwas desinteressiert. Oder war das nur eine Täuschung? Das konnte man Oscar niemals ansehen und André gab nach. „Ich dachte nur, das könnte dich vielleicht interessieren, aber wenn du schon alles weißt...“   „André, mich lässt der Gedanke nicht los, dass sich in Versailles immer mehr Adligen von Ihrer Majestät abwenden.“, wechselte Oscar das Thema. Immer mehr musste sie die aufmüpfigen Höflinge des Hofes verweisen, weil die Königin noch immer in ihrem Schlösschen Trianon weilte und nicht bereit war, zu ihren königlichen Pflichten zurückzukehren. „Ich werde morgen nach Trianon reiten und die Königin bitten, ihre Audienzen wieder aufzunehmen. Das halte ich für wichtig, sonst wird der Graben zwischen ihr und dem Adel noch tiefer und das hätte dann böse Folgen. Du aber, fahre bitte mit François und Augustin morgen nach Paris zum Schneider. François wächst zu schnell und braucht wieder neue Kleidung. Augustin ist genauso groß wie er und braucht sicherlich auch neue Kleider. Ach ja, und nimm auch Rosalie als Begleitung für die Jungen mit.“   „Das ist eine gute Idee.“ André verstand und massierte seiner Liebsten die Schulter. Sie wirkte ein wenig angespannt. Womöglich durch die Themen über die Königin und den Jungen Namens Augustin, vermutete André. „Lass uns ins Bett gehen.“, schlug er vor und ihm kamen sogleich lüsterne Gedanken in den Kopf.   „Ich habe aber nicht einmal das Lied zur Hälfte gespielt.“ Oscar schmunzelte. Sie wollte André noch etwas ärgern. Denn umso mehr und stärker würde dann die Leidenschaft sein, die sie beide jedes Mal verlebten, als wären sie ausgehungert.   „Willst du etwa zu Ende spielen?“ Die Vorstellung noch länger zu warten, behagte André nicht. Aber wenn seine Oscar die Melodie zu Ende spielen wollte, dann würde er es ihr gewähren.   „Ja, das will ich.“, bestätigte Oscar mit noch breiterem Lächeln und André verdrehte die Augen. Also gut, dann würde er warten müssen, bis das Musikstück zu Ende war und erst danach seine Geliebte verführen. Kapitel 44: Zurück nach Paris ----------------------------- Nach Paris? Augustin erschrak, als Oscar in die Küche kam und es der jungen Frau namens Rosalie mitteilte. Er befand sich zusammen mit François beim Frühstück und der Haferbrei blieb ihm beinahe im Halse stecken. Er zwang sich zu schlucken, um nicht die Menge in seinem Mund zurück in die Schüssel ausspucken zu müssen. Nur mit Mühe gelang es Augustin die herrschende Bange in ihm nicht nach außen zu zeigen. Er hatte doch gestern nichts angestellt und war zu allen freundlich! Auch bei seiner ersten Fechtübung mit François war er vorsichtig mit seinen Hieben. Warum wollte seine Mutter dann, dass er mit François, seinem Vater und dieser Rosalie ausgerechnet nach Paris fuhr? Wollte sie ihn etwa zurück zu Graf de Girodel bringen? Wenn ja, dann würde sein Großvater böse sein und ihn in das verdammte Dorf zurück schicken! Und das nur, weil er seine Pflicht nicht erfüllt hatte. Aber sein Großvater befand sich schon seit gestern nicht mehr auf dem Anwesen und er konnte deswegen nicht zu ihm gehen und ihm sein Bedenken mitteilen.   „...François braucht neue Kleidung für den Winter und vielleicht findet ihr auch für Augustin etwas.“, sprach Oscar ungerührt weiter zu Rosalie und merkte nicht, wie Augustin sein Platz am Tisch verließ und an ihr vorbei schlüpfte. „Und Rosalie, frag Sophie, ob noch etwas in der Stadt gekauft werden soll. André ist im Stall und lässt bereits die Pferde an der Kutsche einspannen …“   Weiter hörte Augustin dem Gespräch nicht zu, rannte aus dem Haus und stürmte in den Hof hinaus. François folgte ihm auf dem Fuß und fühlte sich auf unerklärliche Weise aufgewühlt. So, als hätte Augustin ihn angesteckt. Aber warum war das so? Und woher kam das? „Augustin, warte auf mich!“   Augustin blieb stehen und wartete, bis sein Bruder ihn einholte. „Wo ist der Stall?“, brummte er spitz und atmete sehr schnell.   „Dort drüben.“ François wunderte sich über den spitzen Tonfall, aber zeigte ihm mit dem Finger das besagte Gebäude. „Was willst du dort?“   Augustin sagte nichts und setzte seine Füße wieder in Bewegung. Ungeachtet darauf, ob François ihm folgte oder nicht, eilte er zu den eingespannten Pferden an der Kutsche, die nicht weit von dem Stall draußen standen. Er entdeckte dort seinen Vater, der die Riemen an den Pferden überprüfte und steuerte geradewegs auf ihn zu. Augustin wollte einfach sein Verdacht bestätigt bekommen und verhindern, dass er nach Paris mitfuhr!   André sah die zwei Jungen auf ihn zu kommen, beendete seine Tätigkeit und zwinkerte ihnen lächelnd zu. „Ah, ihr seid auch schon hier. Könnt ihr es kaum abwarten, nach Paris mit zu fahren?“   „Ja, Papa.“ Obwohl François wegen Augustin sich mulmig fühlte, strahlte er dabei trotzdem die Freude aus. Es geschah ja nicht jeden Tag, dass er in die große Stadt mitfahren durfte.   „Nein, ich will nicht nach Paris!“, brummte dagegen Augustin frustrierend, was François nicht verstand und ihm noch unwohler am Herzen wurde.   „Wieso denn nicht?“ André war ein wenig überrascht. Was hatte der Junge auf einmal? „Du brauchst bestimmt auch Kleider.“   „Das glaube ich Euch nicht!“, wandte Augustin trotzig ein. „Ihr wollt mich nur zurück bringen!“   „Wie kommst du darauf?“ André schaute zu François, der ratlos seine Schulter hob und senkte. André runzelte die Stirn und sah zurück auf Augustin. „Niemand will dich zurückbringen. Wer hat dir überhaupt so etwas gesagt?“   „Ich weiß es einfach!“ Augustin schnaufte aufgebracht und wäre am liebsten weggerannt. Aber wohin? Er kannte sich doch hier nicht aus!   Gleichmäßige Schritte entstanden unweit von ihnen und eine Person in der roten Uniform eines Kommandanten kam näher. „Rosalie weiß Bescheid und wird auch gleich eintreffen.“ Oscar blieb zwischen André und den beiden Jungen stehen. Ihr Blick ruhte sanft auf ihrem Geliebten und die leidenschaftliche Nacht mit ihm kreiste noch immer in ihrem Kopf. Das überdeckte sogar den unangenehmen Druck in ihrer Brust wegen Augustin. Jedoch rief sie sich sogleich zur Ordnung. Solche intime Gedanken an die Stunden der Liebe mit ihrem André gehörten nicht hierher.   André lächelte sie sanft an. Auch er dachte an die Liebesnacht mit ihr und es kribbelte angenehm auf seiner Haut. „Dein Pferd ist schon gesattelt.“, sagte er, um die unpassenden Gedanken zu zerstreuen. Es war zwar schade, aber sie waren nicht alleine und heute Abend würde sicherlich wieder die Möglichkeit bestehen, dort weiter zu machen, wo sie gestern aufgehört hatten.   „Gut. Ich werde nach dem Besuch bei Ihrer Majestät im Trianon zu euch stoßen in Paris. Wir treffen uns auf dem großen Marktplatz bei den Pferden.“ Noch ein letztes Mal verlor sich Oscar in den grünen Augen ihres Geliebten und schaute auf die beiden Jungen, um sich von ihnen zu verabschieden. Sie stutzte gleich darauf, als ihr Blick auf Augustin fiel. Seine Haltung war angespannt und in seinem Gesicht stand Zorn geschrieben. „Was ist mit dir los?“, wollte sie von ihm wissen.   „Ach, nichts besonderes, Oscar.“, erklärte André und obwohl ihm selbst der Anblick des Jungen nicht gefiel und ihm noch immer das mulmige Gefühl verursachte, scherzte er. „Augustin hat nur Angst, nach Paris mitzukommen.“   Er und Angst? Da lag sein Vater ganz falsch! Solches Empfinden wurde ihm schon längst genommen und ihm stattdessen beigebracht, tapfer zu sein! Sein Großvater hatte einen großen Wert darauf gelegt, dass aus ihm kein verängstigtes und scheues Rehkitz wurde. Graf de Girodel hatte sein Bestes gegeben und ihm alles gelehrt, was General de Jarjayes von ihm verlangte. „Ich habe keine Angst!“, knurrte Augustin aus diesem Grund noch trotziger.   „Er sagte, wir würden ihn nach Paris zurückbringen und ihn dort lassen wollen.“, fügte François hinzu. Komisch, warum fühlte er sich auch zornig? So, als müsste er der gesamten Welt trotzen und sich verteidigen.   „Dich hat niemand gefragt!“ Augustin stieß François unerwartet zur Seite, kaum dass sich dieser versah und spürte sofort einen eisernen Griff um seinen Arm. Er erschrak zu tiefst und sein Herz hämmerte wild, als sein Blick den von seiner Mutter traf. Die Kälte und Wut darin jagte ihm ein unsichtbares Messer durch den Körper. Augustin erstarrte in ihrem starken Griff wie zu einer Säule und schluckte hart. Jetzt würde sie ihn erst recht nach Paris schicken und ihm bei Graf de Girodel absetzen! Aber was hatte er nur falsch gemacht? Er hätte François nicht anrühren dürfen, wurde ihm in dem Moment klar und er bereute seine Tat. Jedoch würde es ihm bestimmt nichts mehr nützen! Seine Mutter hatte keine warmherzigen Gefühle zu ihm wie zu François. Mutter, ich bin aber auch dein Sohn. Was soll ich tun, damit du mich auch so liebst wie meinen Bruder und meine Schwester, dachte sich Augustin verzweifelt und seine Augen glänzten glasig. Aber die Tränen zeigte er nicht, weil das als Schwäche galt und das war seiner Erziehung zu einem starken Jungen nicht würdig.   „Wage so etwas nicht noch einmal zu tun!“ Oscar, während sie das noch sagte, fühlte schon wieder diesen seltsamen Schmerz in ihrem Brustkorb. Zusätzlich sah sie die Bilder im geistigen Augen wie gestern im Kontor ihres Vaters: Sie hielt François in ihren Armen nach der Geburt und hatte ihn gestillt. Ihr kleiner Sonnenschein trank die Milch und erweckte in ihr Muttergefühle, die voller Stolz und Liebe waren. Jedoch Augustin erweckte in ihr Schuldgefühle, die voller Reue und Bitterkeit waren. Warum nur, fragte sie sich nicht zum ersten Mal und versuchte den entstandenen Klumpen in ihrem Hals runter zu schlucken.   „Mama, lass ihn los, er hat mir nichts getan.“ Die Stimme von François drang wie aus weiter Ferne in ihre Ohren. „Mir geht es gut.“   Oscar entspannte sich, lockerte ihren Griff und entfernte sich von Augustin. Dieser Junge war ein Rätsel und sie hätte gerne gewusst, woher er tatsächlich kam. Aus dem Waisenhaus, erinnerte sie sich an das Gespräch mit ihrem Vater und Graf de Girodel von gestern. Aber davor? Wessen Kind war er?   „Alles in Ordnung?“, fragte André sie ein wenig besorgt und berührte sie sachte am Arm.   „Es geht schon.“, fand Oscar ihre Stimme wieder. Sie klang ein wenig belegt. „Wer weiß, was er in Paris erlebt hat.“ Sie ging zu ihrem Pferd, stieg auf und ritt an. „Also bis später. Wir sehen uns wie abgesprochen am großen Markt bei den Pferden!“ Sie gab ihrem Pferd heftig die Sporen und galoppierte eilends durch die Eisentore des Anwesens der de Jarjayes.       - - -       Während François neugierig aus dem Fenster der Kutsche lugte und alles, woran sie vorbeifuhren, betrachtete, zog sich Augustin zurück und schaute lieber Rosalie an, die den beiden Jungen gegenüber saß. „Paris ist eine schöne Stadt, ich bin hier aufgewachsen.“, meinte sie, als er seinen Blick auf sie richtete. „Du wirst sehen, es wird dir gefallen.“   „Das denke ich nicht.“, sagte Augustin verdutzt. Wieso erzählte sie ihm das, wenn ihn das sowieso nicht interessierte?   Rosalie lächelte. Sie wollte doch nur den Jungen aufmuntern. „In welchem Teil der Stadt bist du eigentlich aufgewachsen?“   Woher sollte er das wissen? Er hatte bei Graf de Girodel gewohnt und bis auf den Hinterhof, wo die Pferde standen, war er so gut wie nie nach draußen auf die Straßen gekommen. „In einem großen Haus.“, redete er sich raus.   „Du meinst bestimmt ein Waisenhaus.“, stellte Rosalie fest, aber bekam darauf keine Antwort. „Ich bin jetzt auch eine Waise, weißt du?“   Augustin zuckte mit den Schultern. Das war ihm gleichgültig. Ihn beschäftigte nur eine Sache, dass er bald ausgesetzt werden würde. Er hatte auf dem Anwesen seines Großvaters versucht, seinen Vater zu überreden, dass er ihn nicht mitnahm, aber war gescheitert.   François, der Rosalies Fragen mitgehört hatte, wandte sich vom Fenster ab und setzte sich wieder ordentlich hin. „Aber davor warst du eine Halbwaise, stimmt es?“   „Ja, das stimmt.“, bestätigte Rosalie und erzählte kurz ihre Geschichte, die bereits fast jeder kannte. „Ich wuchs mit meiner Schwester bei meiner Mutter auf. Mein Vater war kurz nach meiner Geburt verstorben. Dann war meine Schwester von zuhause weggelaufen und meine Mutter wurde von der Kutsche einer Adligen überfahren. So kam ich zu Lady Oscar und sie hat mir sehr geholfen.“   „Mama ist der gütigste Mensch, sagt Papa und das stimmt.“, schwärmte François gleich darauf. „Hast du gesehen, wie schön sie in ihrer roten Uniform aussieht?“   „Ja, sie sieht gut darin aus.“, meinte Augustin und fügte in Gedanken hinzu: Aber sie hat keine Liebe für mich. Weder sie, noch Vater mögen mich...   „Einmal hatte Mama eine weiße Uniform an gehabt und mit der Königin getanzt, stell dir das mal vor!“, beendete François euphorisch und sein Gesicht strahlte vor Freude.   Augustin konnte seine Schwärmereien kaum aushalten. Wie gerne hätte er das auch miterlebt! Zu seinem Glück blieb die Kutsche stehen. André hielt ihnen in wenigen Augenblicken die Tür auf. „Der erste Halt: Schneiderei!“   Der Schneider war zwar nett, aber Augustin ließ die Maße nehmen, es stumm über sich ergehen und war froh, weiter zu fahren. Und wie er von Rosalie erfuhr, bestellte der gesamte Haushalt der de Jarjayes hier seine Kleider – wie die Bediensteten, so auch die Familie der de Jajrjayes. Aber das interessierte ihn nicht im Geringsten. Er wartete nur darauf, dass seine Vermutung sich bestätigte und sie ihn bei Graf de Girodel oder irgendwo aussetzen würden.   Der nächste Halt war ein großer Markt. An dem Platz, wo andere Kutschen und Pferde standen, stiegen sie aus. André mit Rosalie erlaubten ihnen, über den Markt zu laufen, während sie einige Einkäufe erledigten. „Aber verlauft euch nicht!“, empfahl Rosalie ihnen auf dem Weg.   „Wir werden aufpassen!“, versprach François und wollte mit Augustin losgehen, aber dieser lief schon vor. „Warte doch auf mich!“, rief er und verstand nicht, warum sein neuer Freund es so eilig hatte.   Augustin hörte seinen Ruf, aber stürmte weiter zwischen den Menschen hindurch. Er wollte seinen Frust irgendwo auslassen, wo kein Mensch in der Nähe war. Sein Bruder sollte ihm weiterhin folgen. So würde sein Vater nicht ohne ihn zurückfahren können. Ein dumpfes Gefühl entstand unerwartet in ihm und das bewog ihn stehen zu bleiben. „François.“, murmelte er und drehte sich um, aber von seinem Zwillingsbruder war weit und breit nichts zu sehen. Panik überkam ihn. Was, wenn er in Schwierigkeiten war? Denn genau das fühlte er gerade. „François!“, rief er laut, aber außer ein paar unverständlichen Blicken der Menschen erreichte er nicht viel. Wo sollte er nach ihm suchen? Vielleicht bei den Kutschen? Denn genau dort hatte er ihn das letzte Mal gesehen! „François!“ Er lief zurück und verspürte einen unerklärlichen Schmerz in seinem Bauchbereich und an den Rippen. Kapitel 45: Zwischenfall ------------------------ „Augustin, warte auf mich!“, rief François, aber sein neuer Freund beschleunigte nur noch mehr seinen Schritt und verschwand schnell zwischen den Menschen. Warum lief er vor ihm weg? Oder hatte er ihn nicht gehört? „Augustin!“ François zwängte sich durch jeden, der in seinem Weg war. Er musste ihn einholen! Er durfte ihn auf gar keinen Fall aus den Augen verlieren! Zu seinem Leidwesen aber geschah genau das und er sah den dunkelblonden Schopf von Augustin nicht mehr. Panik überkam ihn. Was wenn Augustin sich verlaufen hätte und sie beide nicht mehr zurück zu der Kutsche finden würden?   François lief auf eine freie Fläche und stieß unverhofft mit zwei jungen Männern, die schätzungsweise zwischen sechzehn und neunzehn Jahre alt waren, zusammen. Er wollte sich entschuldigen und weiter laufen, als einer von ihnen ihn grob packte und zu sich näher heranzog. „Wen haben wir denn da... Georges, schau! Das ist doch die Missgeburt aus unserem Dorf!“   Der zweite Knabe, der Georges genannt wurde, packte ihn an Haaren und zog ihn heftig daran, um sein Gesicht näher zu betrachten. „Du hast recht, Bruder! Komm, Armand, lass uns ihm eine Lektion erteilen!“   François erschrak. Was wollten die zwei von ihm? Er musste doch Augustin finden! „Lasst mich los!“ Er versuchte sich zu befreien und spürte eine starke Faust in seiner Magengrube. François schnappte heftig nach Luft. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, ihm wurde übel und ein tiefer Schmerz breitete sich in seinem Körper aus. Warum half ihm niemand?   Die Passanten sahen zu ihm nicht einmal hin und gingen desinteressiert ihre eigenen Wege. Nicht einmal dann schenkte ihm jemand Beachtung, als die zwei Brüder ihn in eine Seitengasse verschleppten und ihn dort wie einen Sack zu Boden warfen. François krümme sich auf den harten Pflastersteinen und stöhnte vor Schmerzen. „Wer... wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?!“   „Du kennst uns also nicht mehr?“ Armand tauschte einen Blick mit seinem Bruder aus. „Hast du gehört? Er hat uns schon nach drei Jahren vergessen!“   „Und schau, was für feine Kleidung er trägt!“, knurrte Georges abfällig in Richtung des Jungen und das Gesicht seines Bruders verfinsterte sich noch mehr.   „Nein, ich weiß wirklich nicht, wer ihr seid!“ François rappelte sich mühsam auf die Beine hoch. „Ihr verwechselt mich bestimmt mit jemanden!“   Armand krempelte seine Ärmel hoch und kam bedrohlich nah an ihn heran. „Das ist also der Dank dafür, dass unser Dorf dich durchgefüttert hat?“, spie er verächtlich aus und wollte ihn am Kragen packen, aber François wich ihm geschickt aus. Jedoch weit kam er nicht. Georges griff nach ihm von hinten und schleuderte ihn gegen eine kahle Wand. François unterdrückte einen Schmerzenslaut und glitt nach unten. Armand fing ihn aber ab und zog ihn am Hals in die Höhe. „Ich habe schon immer gesagt, unsere Eltern hätten ihn lieber im Fluss ersäuft!“   François schnappte nach Luft. Warum glaubten die zwei ihm nicht?! „Papa, Mama, helft mir...“, röchelte er, aber wurde nicht einmal gehört.   Georges grinste hämisch und boshaft. „Das können wir vielleicht nachholen? Die Seine fließt hier überall.“   „Keine schlechte Idee, Bruderherz...“ Armand holte mit der freien Hand aus und wollte den Jungen mit einem Hieb bewusstlos schlagen, als eine kleine Gestalt in der Gasse auftauchte und dessen helle Stimme hallte laut bis zu ihnen: „Lasst ihn sofort in Ruhe!“, rief jemand hinter ihrem Rücken.   „Augustin...“, murmelte François fast erstickt und wurde abrupt losgelassen.   Die zwei Brüder drehten sich um und ihre Augen wurden größer. „Es gibt dich zwei mal?“ fragte Georges.   „Vielleicht haben wir doch den Falschen erwischt?“, vermutete Armand und überlegte etwas. „Oder warte! Kann es sein, dass der andere...“ Er zeigte auf Francois. „... der Erste, der Ältere der beiden ist, die diese blonde Hure in Hosen...“   „Ihr habt mein Leben zerstört!“ Augustin hinderte ihn, zu Ende zu sprechen, zog sein Holzschwert und stürzte mit einem Schrei auf ihn los. Niemand beleidigte seine Eltern und vor allem nicht seine Mutter!   Armand wollte ihn abwehren und zurückschlagen, aber Augustin schlüpfte flink unter seinem Arm, machte eine Drehung und verdeckte François schützend mit seinem Rücken. Sein Zwillingsbruder lehnte sich etwas erleichtert gegen die Wand und holte mehrmals die Luft, um wieder atmen zu können. François war froh, dass Augustin sich nicht verlaufen hatte und jetzt bei ihm war. Zu zweit würden sie sicherlich besser dieses Missverständnis aufklären können, denn wie es aussah, kannte Augustin die beide Männer. „Augustin, kennst du sie?“   Augustin nickte, aber ließ keinen der Brüder aus den Augen. „Sie haben mich meiner Familie weg genommen!“, knurrte er angriffslustig. Im Dorf hätte er nichts gegen die beiden ausrichten können, weil er dort ein niemand war und nicht kämpfen konnte. Aber in den drei Jahren bei Graf de Girodel hatte er vieles gelernt und war kein schwacher, wehrloser und schutzloser Junge mehr!   „Wie bitte?!“ Armand baute sich wütend vor den beiden Knaben auf. „Wir haben dir das Leben gerettet!“   „Was können wir schon dafür, dass du nicht sterben wolltest!“, fügte Georges hinzu und ahmte seinem älteren Bruder in Haltung nach.   Sterben... Nein! Für alles, was die zwei Brüder ihm angetan hatten, sollten sie eher sterben! Wegen ihnen und diesem verdammten Dorf kannten seine Eltern ihren Sohn nicht und wollten ihn aussetzen! In Augustin stieg unablässige Wut hoch und er griff erneut an. Armand hatte seine Wendigkeit unterschätzt und fluchte fürchterlich, als Augustin ihm erneut unter den Arm geschlüpft war.   „Du verdammter Hurensohn!“, knurrte Georges und verübte einen Hinterhalt.   Augustin seinerseits war zu sehr auf Armand fixiert, dass er dessen Bruder außer Acht gelassen hatte. Und das war sein unbedachter Fehler.   „Pass auf, hinter dir!“, rief François, aber es war zu spät. Georges riss Augustin das Holzschwert aus der Hand und schlug ihn gegen den Kopf. Augustin taumelte und wurde von Armand aufgefangen. Er wehrte sich gegen die Faustschläge, die auf ihn von allen Seiten prasselten, aber es nützte nicht viel. Während Georges ihn festhielt, schlug Armand auf ihn erbarmungslos ein. Augustin kam es so vor, als wäre er wieder in dem verdammten Dorf. Aber der Gestank von der Gasse nach Unrat erinnerte ihn daran, wo er wirklich war. Deshalb gab er sich nicht so leicht geschlagen. Seine Beine waren frei und mit Fußtritten gegen das Schienbein von Armand schaffte er es, ihn ein wenig auf die Distanz zu halten.   François bekam plötzlich Kopfschmerzen und auch die Wut stieg in ihm. Sein Freund war in Gefahr und er musste ihm helfen! Er zog sein Holzschwert und schlug auf Georges ein, damit dieser Augustin losließ. Der Schlag funktionierte. Georges ließ von Augustin in der Tat ab und drehte sich um. „Du kleiner Bastard!“   François, allen körperlichen Schmerzen zum Trotz, wich ihm aus und stieß mit einem hochgewachsenen Mann zusammen. Der Mann schob ihn schützend hinter sich, packte Georges am Kragen und schleuderte ihn gegen die Wand. Noch bevor Georges es realisieren konnte, wer das war, spürte er die Spitze des Degens an seiner Kehle. „Sofort aufhören!“, befahl der hochgewachsener Mann in Richtung von Armand, der auf Augustin weiterschlug. „Sonst steche ihn ab!“   „Papa!“, rief François erleichtert und spürte Hände von Rosalie, die ihn sogleich an sich zogen.   „Lass den Jungen in Ruhe!“, befahl André, als Armand aufgehört hatte auf Augustin einzuschlagen. Aus Angst vor dem Degen ließ Armand von seinem Opfer ab und André entfernte seine Klinge von der Kehle von Georges. „Jetzt verschwindet, alle beide!“   Die zwei Brüder wirkten ein wenig unschlüssig, warfen einen vernichtenden Blick auf Augustin und rannten davon. André ging vor dem Jungen in die Hocke und stützte ihn. „Es ist vorbei, du bist in Sicherheit. Sie sind weg.“ Oh, Gott, wie sah der Junge aus! Schwellungen und Blutergüsse verzierten seinen Hals und sein Gesicht!   „Er muss zum Arzt!“ Rosalie schlug sich die Hand vor dem Mund und eilte zusammen mit François zu Augustin.   Augustin schüttelte mit Kopf und versuchte wacker auf den Beinen zu stehen. „Keinen Arzt.“   André spürte jedoch, wie geschwächt er war und gab ihm mehr Stütze. „Was ist überhaupt passiert?“ Er sah zu seinem Sohn und betrachtete ihn vom Kopf bis Fuß. Im Gegensatz zu Augustin schien François in besserer Verfassung zu sein. „Geht es dir gut?“, erkundigte er sich trotzdem.   François bejahte mit einem Nicken. Bis auf ein paar Prellungen und schmerzenden Rippen ging es ihm in der Tat viel besser als seinem Freund. „Augustin kam mir zu Hilfe.“, sagte er und erzählte kurz die Geschichte, wie es dazu kam.   „Gut, dass wir hier vorbeigekommen sind und eure Stimmen gehört haben.“ Rosalie wollte sich die Schwellungen von Augustin näher ansehen, um sie zu behandeln, aber der Junge wandte seinen Kopf von ihr ab.   „Sie haben mich meinen Eltern weggenommen… wiederholte Augustin ein wenig verstört und allen Schmerzen zum Trotz warf er sich André um den Hals. „Bitte lasst mich nicht mehr zurück!“   André traf das völlig unvorbereitet. Dennoch schloss er ihn sachte in seine Arme. „Schsch... Wir lassen dich nicht zurück.“ Der arme Junge... Er spürte seinen schmalen Körper, sein Zittern und Schuldgefühle stiegen in ihm hoch. Er hätte früher hier sein sollen!   Augustin hob seinen Kopf. Er weinte nicht, denn er war ein großer und tapferer Junge. „Versprochen?“, flüsterte er mit heiserer Stimme.   „Ehrenwort. Jetzt gehen wir aber zurück zu der Kutsche.“ André erhob sich mit Augustin und trug ihn den ganzen Weg auf seinen Armen. Augustin protestierte nicht einmal. Es fühlte sich so warm und schön an! „Papa...“, formten seine Lippen tonlos und er schmiegte sich noch mehr in die starken Arme seines Vaters.   An der Kutsche machte Rosalie ihr Taschentuch im Trog für Pferde nass und kühlte die Schwellung von Augustin.   Ein weißes Pferd hielt bei ihnen an und der weibliche Kommandant des königlichen Garderegiments stieg elegant aus dem Sattel. Als sie Augustin sah, zog sie erschrocken die Luft ein. „Was ist denn hier passiert?“   „Eine Schlägerei mit zwei ausgewachsenen Knaben, die Augustin anscheinend von früher kannten.“, erklärte André.   „Sie haben mich meinen Eltern weggenommen...“, murmelte Augustin und schaute seine Mutter an.   „Das wiederholt er jetzt die ganze Zeit.“, erklärte André und Rosalie fügte gleich hinzu: „Er hat auch eine Platzwunde am Kopf abbekommen.“   „Wie ist es überhaupt zu der Schlägerei gekommen?“, erkundigte sich Oscar, beugte sich zu Augustin vor und beschaute sein angeschwollenes Gesicht.   François öffnete den Mund, um zu erzählen, als Augustin sagte: „Es ist meine Schuld. Ich habe... ich wollte...“ Er schluckte hart und warf sich plötzlich Oscar um den Hals: „Verzeiht... ich werde es nie wieder tun!“   „Was hast du getan?“, fragte Oscar perplex und legte um ihn zaghaft ihre Arme. Armer Junge... Und wieso fühlte sie sich wieder schuldig? Sein Körperbau war genauso schmal und zierlich wie bei François... Woher kamen nur schon wieder dieser Schmerz und Reue in ihr?   „Ich habe François alleine gelassen... bitte, verzeiht mir...“ Augustin drückte sich noch mehr an seine Mutter und spürte ihre Arme um seinen Körper. Sein Herz beschleunigte den Schlag. So fühlte sich das also an! Die ähnliche Wärme und Geborgenheit wie bei seinem Vater hüllten ihn ein wie in eine weiche und schützende Decke.   „Das hat er nicht, Mama.“, meinte François im Hintergrund. „Ich war nur langsamer als er, als wir über den Markt gelaufen sind. Ich habe ihn verloren und dann kamen diese zwei Knaben. Sie haben mich in die Gasse geschleppt, aber Augustin fand mich dort und hat mir geholfen.“   Oscar konnte das alles kaum noch glauben. „Das hast du gut gemacht, Augustin.“, lobte sie ihn und versuchte den entstandenen Kloß im Hals runter zu schlucken.   Augustin schob sich etwas von ihr und schaute ihr treuherzig in die Augen. „Ihr verzeiht mir?“   „Aber natürlich. Ich bin dir sogar dankbar für deinen Mut und deine Tapferkeit.“ Oscar strich ihm durch die dunkelblonden Locken und richtete sich mit einem bedrückten Gefühl auf. „Lasst uns jetzt aber zum Anwesen meiner Eltern fahren und dann erzählst du über deine Eltern und warum man dich ihnen weggenommen hat. Vielleicht können wir dir helfen, sie wiederzufinden?“   Augustin erschrak. Das durfte er doch gar nicht, sonst würde ihn sein Großvater in das böse Dorf zurückschicken! „Ich weiß nichts über sie.“, redete er sich leicht stotternd aus.   Oscar kam es so vor, als wäre der Junge nichts ganz ehrlich oder er fürchtete sich vor etwas. „Aber du sagtest doch gerade, dass du ihnen weggenommen wurdest.“   Augustin mochte keine Lügen, aber um bei seiner Familie bleiben zu können, musste er es tun. „Ja, aber ich war sehr klein und hab davon nur gehört...“   „Oscar, ich vermute, er kann sich nicht mehr an sie erinnern.“, meinte André und Oscar nickte ihm einvernehmlich zu. „Das wird es wohl sein.“ Sie ging zu ihrem Pferd und stieg in den Sattel.   Augustin nutzte das sogleich aus. „Darf ich mit?“ Er zeigte auf das weiße Pferd.   „Also gut, steig auf.“ Oscar hievte ihn vor sich und wartete, bis alle in der Kutsche und André auf dem Kutschbock waren. Im Grunde genommen war er doch kein schlechter Junge.   Augustin fühlte sich so glücklich wie niemals zuvor. Endlich hatte er seine Eltern gefunden! Zwar durfte er es ihnen nicht sagen, dass er ihr Sohn war, aber dafür war er bei ihnen und sie würden ihn nirgendwo zurücklassen!   „Und hast du die Königin überreden können, nach Versailles zurückzukehren?“, fragte André auf der Heimfahrt vom Kutschbock.   „Nein.“ Oscar schüttelte bedauernd mit dem Kopf und hielt Augustin mit einer Hand noch fester an sich. „Seit sie Mutter geworden ist, wirkt sie viel schöner als früher. Ich habe das Gefühl, dass sie gerade die glücklichste Zeit ihres Lebens verbringt und das gönne ich ihr. Deshalb habe ich beschlossen, ihr meinen Rat erst später zu geben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)