Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 45: Zwischenfall ------------------------ „Augustin, warte auf mich!“, rief François, aber sein neuer Freund beschleunigte nur noch mehr seinen Schritt und verschwand schnell zwischen den Menschen. Warum lief er vor ihm weg? Oder hatte er ihn nicht gehört? „Augustin!“ François zwängte sich durch jeden, der in seinem Weg war. Er musste ihn einholen! Er durfte ihn auf gar keinen Fall aus den Augen verlieren! Zu seinem Leidwesen aber geschah genau das und er sah den dunkelblonden Schopf von Augustin nicht mehr. Panik überkam ihn. Was wenn Augustin sich verlaufen hätte und sie beide nicht mehr zurück zu der Kutsche finden würden?   François lief auf eine freie Fläche und stieß unverhofft mit zwei jungen Männern, die schätzungsweise zwischen sechzehn und neunzehn Jahre alt waren, zusammen. Er wollte sich entschuldigen und weiter laufen, als einer von ihnen ihn grob packte und zu sich näher heranzog. „Wen haben wir denn da... Georges, schau! Das ist doch die Missgeburt aus unserem Dorf!“   Der zweite Knabe, der Georges genannt wurde, packte ihn an Haaren und zog ihn heftig daran, um sein Gesicht näher zu betrachten. „Du hast recht, Bruder! Komm, Armand, lass uns ihm eine Lektion erteilen!“   François erschrak. Was wollten die zwei von ihm? Er musste doch Augustin finden! „Lasst mich los!“ Er versuchte sich zu befreien und spürte eine starke Faust in seiner Magengrube. François schnappte heftig nach Luft. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, ihm wurde übel und ein tiefer Schmerz breitete sich in seinem Körper aus. Warum half ihm niemand?   Die Passanten sahen zu ihm nicht einmal hin und gingen desinteressiert ihre eigenen Wege. Nicht einmal dann schenkte ihm jemand Beachtung, als die zwei Brüder ihn in eine Seitengasse verschleppten und ihn dort wie einen Sack zu Boden warfen. François krümme sich auf den harten Pflastersteinen und stöhnte vor Schmerzen. „Wer... wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?!“   „Du kennst uns also nicht mehr?“ Armand tauschte einen Blick mit seinem Bruder aus. „Hast du gehört? Er hat uns schon nach drei Jahren vergessen!“   „Und schau, was für feine Kleidung er trägt!“, knurrte Georges abfällig in Richtung des Jungen und das Gesicht seines Bruders verfinsterte sich noch mehr.   „Nein, ich weiß wirklich nicht, wer ihr seid!“ François rappelte sich mühsam auf die Beine hoch. „Ihr verwechselt mich bestimmt mit jemanden!“   Armand krempelte seine Ärmel hoch und kam bedrohlich nah an ihn heran. „Das ist also der Dank dafür, dass unser Dorf dich durchgefüttert hat?“, spie er verächtlich aus und wollte ihn am Kragen packen, aber François wich ihm geschickt aus. Jedoch weit kam er nicht. Georges griff nach ihm von hinten und schleuderte ihn gegen eine kahle Wand. François unterdrückte einen Schmerzenslaut und glitt nach unten. Armand fing ihn aber ab und zog ihn am Hals in die Höhe. „Ich habe schon immer gesagt, unsere Eltern hätten ihn lieber im Fluss ersäuft!“   François schnappte nach Luft. Warum glaubten die zwei ihm nicht?! „Papa, Mama, helft mir...“, röchelte er, aber wurde nicht einmal gehört.   Georges grinste hämisch und boshaft. „Das können wir vielleicht nachholen? Die Seine fließt hier überall.“   „Keine schlechte Idee, Bruderherz...“ Armand holte mit der freien Hand aus und wollte den Jungen mit einem Hieb bewusstlos schlagen, als eine kleine Gestalt in der Gasse auftauchte und dessen helle Stimme hallte laut bis zu ihnen: „Lasst ihn sofort in Ruhe!“, rief jemand hinter ihrem Rücken.   „Augustin...“, murmelte François fast erstickt und wurde abrupt losgelassen.   Die zwei Brüder drehten sich um und ihre Augen wurden größer. „Es gibt dich zwei mal?“ fragte Georges.   „Vielleicht haben wir doch den Falschen erwischt?“, vermutete Armand und überlegte etwas. „Oder warte! Kann es sein, dass der andere...“ Er zeigte auf Francois. „... der Erste, der Ältere der beiden ist, die diese blonde Hure in Hosen...“   „Ihr habt mein Leben zerstört!“ Augustin hinderte ihn, zu Ende zu sprechen, zog sein Holzschwert und stürzte mit einem Schrei auf ihn los. Niemand beleidigte seine Eltern und vor allem nicht seine Mutter!   Armand wollte ihn abwehren und zurückschlagen, aber Augustin schlüpfte flink unter seinem Arm, machte eine Drehung und verdeckte François schützend mit seinem Rücken. Sein Zwillingsbruder lehnte sich etwas erleichtert gegen die Wand und holte mehrmals die Luft, um wieder atmen zu können. François war froh, dass Augustin sich nicht verlaufen hatte und jetzt bei ihm war. Zu zweit würden sie sicherlich besser dieses Missverständnis aufklären können, denn wie es aussah, kannte Augustin die beide Männer. „Augustin, kennst du sie?“   Augustin nickte, aber ließ keinen der Brüder aus den Augen. „Sie haben mich meiner Familie weg genommen!“, knurrte er angriffslustig. Im Dorf hätte er nichts gegen die beiden ausrichten können, weil er dort ein niemand war und nicht kämpfen konnte. Aber in den drei Jahren bei Graf de Girodel hatte er vieles gelernt und war kein schwacher, wehrloser und schutzloser Junge mehr!   „Wie bitte?!“ Armand baute sich wütend vor den beiden Knaben auf. „Wir haben dir das Leben gerettet!“   „Was können wir schon dafür, dass du nicht sterben wolltest!“, fügte Georges hinzu und ahmte seinem älteren Bruder in Haltung nach.   Sterben... Nein! Für alles, was die zwei Brüder ihm angetan hatten, sollten sie eher sterben! Wegen ihnen und diesem verdammten Dorf kannten seine Eltern ihren Sohn nicht und wollten ihn aussetzen! In Augustin stieg unablässige Wut hoch und er griff erneut an. Armand hatte seine Wendigkeit unterschätzt und fluchte fürchterlich, als Augustin ihm erneut unter den Arm geschlüpft war.   „Du verdammter Hurensohn!“, knurrte Georges und verübte einen Hinterhalt.   Augustin seinerseits war zu sehr auf Armand fixiert, dass er dessen Bruder außer Acht gelassen hatte. Und das war sein unbedachter Fehler.   „Pass auf, hinter dir!“, rief François, aber es war zu spät. Georges riss Augustin das Holzschwert aus der Hand und schlug ihn gegen den Kopf. Augustin taumelte und wurde von Armand aufgefangen. Er wehrte sich gegen die Faustschläge, die auf ihn von allen Seiten prasselten, aber es nützte nicht viel. Während Georges ihn festhielt, schlug Armand auf ihn erbarmungslos ein. Augustin kam es so vor, als wäre er wieder in dem verdammten Dorf. Aber der Gestank von der Gasse nach Unrat erinnerte ihn daran, wo er wirklich war. Deshalb gab er sich nicht so leicht geschlagen. Seine Beine waren frei und mit Fußtritten gegen das Schienbein von Armand schaffte er es, ihn ein wenig auf die Distanz zu halten.   François bekam plötzlich Kopfschmerzen und auch die Wut stieg in ihm. Sein Freund war in Gefahr und er musste ihm helfen! Er zog sein Holzschwert und schlug auf Georges ein, damit dieser Augustin losließ. Der Schlag funktionierte. Georges ließ von Augustin in der Tat ab und drehte sich um. „Du kleiner Bastard!“   François, allen körperlichen Schmerzen zum Trotz, wich ihm aus und stieß mit einem hochgewachsenen Mann zusammen. Der Mann schob ihn schützend hinter sich, packte Georges am Kragen und schleuderte ihn gegen die Wand. Noch bevor Georges es realisieren konnte, wer das war, spürte er die Spitze des Degens an seiner Kehle. „Sofort aufhören!“, befahl der hochgewachsener Mann in Richtung von Armand, der auf Augustin weiterschlug. „Sonst steche ihn ab!“   „Papa!“, rief François erleichtert und spürte Hände von Rosalie, die ihn sogleich an sich zogen.   „Lass den Jungen in Ruhe!“, befahl André, als Armand aufgehört hatte auf Augustin einzuschlagen. Aus Angst vor dem Degen ließ Armand von seinem Opfer ab und André entfernte seine Klinge von der Kehle von Georges. „Jetzt verschwindet, alle beide!“   Die zwei Brüder wirkten ein wenig unschlüssig, warfen einen vernichtenden Blick auf Augustin und rannten davon. André ging vor dem Jungen in die Hocke und stützte ihn. „Es ist vorbei, du bist in Sicherheit. Sie sind weg.“ Oh, Gott, wie sah der Junge aus! Schwellungen und Blutergüsse verzierten seinen Hals und sein Gesicht!   „Er muss zum Arzt!“ Rosalie schlug sich die Hand vor dem Mund und eilte zusammen mit François zu Augustin.   Augustin schüttelte mit Kopf und versuchte wacker auf den Beinen zu stehen. „Keinen Arzt.“   André spürte jedoch, wie geschwächt er war und gab ihm mehr Stütze. „Was ist überhaupt passiert?“ Er sah zu seinem Sohn und betrachtete ihn vom Kopf bis Fuß. Im Gegensatz zu Augustin schien François in besserer Verfassung zu sein. „Geht es dir gut?“, erkundigte er sich trotzdem.   François bejahte mit einem Nicken. Bis auf ein paar Prellungen und schmerzenden Rippen ging es ihm in der Tat viel besser als seinem Freund. „Augustin kam mir zu Hilfe.“, sagte er und erzählte kurz die Geschichte, wie es dazu kam.   „Gut, dass wir hier vorbeigekommen sind und eure Stimmen gehört haben.“ Rosalie wollte sich die Schwellungen von Augustin näher ansehen, um sie zu behandeln, aber der Junge wandte seinen Kopf von ihr ab.   „Sie haben mich meinen Eltern weggenommen… wiederholte Augustin ein wenig verstört und allen Schmerzen zum Trotz warf er sich André um den Hals. „Bitte lasst mich nicht mehr zurück!“   André traf das völlig unvorbereitet. Dennoch schloss er ihn sachte in seine Arme. „Schsch... Wir lassen dich nicht zurück.“ Der arme Junge... Er spürte seinen schmalen Körper, sein Zittern und Schuldgefühle stiegen in ihm hoch. Er hätte früher hier sein sollen!   Augustin hob seinen Kopf. Er weinte nicht, denn er war ein großer und tapferer Junge. „Versprochen?“, flüsterte er mit heiserer Stimme.   „Ehrenwort. Jetzt gehen wir aber zurück zu der Kutsche.“ André erhob sich mit Augustin und trug ihn den ganzen Weg auf seinen Armen. Augustin protestierte nicht einmal. Es fühlte sich so warm und schön an! „Papa...“, formten seine Lippen tonlos und er schmiegte sich noch mehr in die starken Arme seines Vaters.   An der Kutsche machte Rosalie ihr Taschentuch im Trog für Pferde nass und kühlte die Schwellung von Augustin.   Ein weißes Pferd hielt bei ihnen an und der weibliche Kommandant des königlichen Garderegiments stieg elegant aus dem Sattel. Als sie Augustin sah, zog sie erschrocken die Luft ein. „Was ist denn hier passiert?“   „Eine Schlägerei mit zwei ausgewachsenen Knaben, die Augustin anscheinend von früher kannten.“, erklärte André.   „Sie haben mich meinen Eltern weggenommen...“, murmelte Augustin und schaute seine Mutter an.   „Das wiederholt er jetzt die ganze Zeit.“, erklärte André und Rosalie fügte gleich hinzu: „Er hat auch eine Platzwunde am Kopf abbekommen.“   „Wie ist es überhaupt zu der Schlägerei gekommen?“, erkundigte sich Oscar, beugte sich zu Augustin vor und beschaute sein angeschwollenes Gesicht.   François öffnete den Mund, um zu erzählen, als Augustin sagte: „Es ist meine Schuld. Ich habe... ich wollte...“ Er schluckte hart und warf sich plötzlich Oscar um den Hals: „Verzeiht... ich werde es nie wieder tun!“   „Was hast du getan?“, fragte Oscar perplex und legte um ihn zaghaft ihre Arme. Armer Junge... Und wieso fühlte sie sich wieder schuldig? Sein Körperbau war genauso schmal und zierlich wie bei François... Woher kamen nur schon wieder dieser Schmerz und Reue in ihr?   „Ich habe François alleine gelassen... bitte, verzeiht mir...“ Augustin drückte sich noch mehr an seine Mutter und spürte ihre Arme um seinen Körper. Sein Herz beschleunigte den Schlag. So fühlte sich das also an! Die ähnliche Wärme und Geborgenheit wie bei seinem Vater hüllten ihn ein wie in eine weiche und schützende Decke.   „Das hat er nicht, Mama.“, meinte François im Hintergrund. „Ich war nur langsamer als er, als wir über den Markt gelaufen sind. Ich habe ihn verloren und dann kamen diese zwei Knaben. Sie haben mich in die Gasse geschleppt, aber Augustin fand mich dort und hat mir geholfen.“   Oscar konnte das alles kaum noch glauben. „Das hast du gut gemacht, Augustin.“, lobte sie ihn und versuchte den entstandenen Kloß im Hals runter zu schlucken.   Augustin schob sich etwas von ihr und schaute ihr treuherzig in die Augen. „Ihr verzeiht mir?“   „Aber natürlich. Ich bin dir sogar dankbar für deinen Mut und deine Tapferkeit.“ Oscar strich ihm durch die dunkelblonden Locken und richtete sich mit einem bedrückten Gefühl auf. „Lasst uns jetzt aber zum Anwesen meiner Eltern fahren und dann erzählst du über deine Eltern und warum man dich ihnen weggenommen hat. Vielleicht können wir dir helfen, sie wiederzufinden?“   Augustin erschrak. Das durfte er doch gar nicht, sonst würde ihn sein Großvater in das böse Dorf zurückschicken! „Ich weiß nichts über sie.“, redete er sich leicht stotternd aus.   Oscar kam es so vor, als wäre der Junge nichts ganz ehrlich oder er fürchtete sich vor etwas. „Aber du sagtest doch gerade, dass du ihnen weggenommen wurdest.“   Augustin mochte keine Lügen, aber um bei seiner Familie bleiben zu können, musste er es tun. „Ja, aber ich war sehr klein und hab davon nur gehört...“   „Oscar, ich vermute, er kann sich nicht mehr an sie erinnern.“, meinte André und Oscar nickte ihm einvernehmlich zu. „Das wird es wohl sein.“ Sie ging zu ihrem Pferd und stieg in den Sattel.   Augustin nutzte das sogleich aus. „Darf ich mit?“ Er zeigte auf das weiße Pferd.   „Also gut, steig auf.“ Oscar hievte ihn vor sich und wartete, bis alle in der Kutsche und André auf dem Kutschbock waren. Im Grunde genommen war er doch kein schlechter Junge.   Augustin fühlte sich so glücklich wie niemals zuvor. Endlich hatte er seine Eltern gefunden! Zwar durfte er es ihnen nicht sagen, dass er ihr Sohn war, aber dafür war er bei ihnen und sie würden ihn nirgendwo zurücklassen!   „Und hast du die Königin überreden können, nach Versailles zurückzukehren?“, fragte André auf der Heimfahrt vom Kutschbock.   „Nein.“ Oscar schüttelte bedauernd mit dem Kopf und hielt Augustin mit einer Hand noch fester an sich. „Seit sie Mutter geworden ist, wirkt sie viel schöner als früher. Ich habe das Gefühl, dass sie gerade die glücklichste Zeit ihres Lebens verbringt und das gönne ich ihr. Deshalb habe ich beschlossen, ihr meinen Rat erst später zu geben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)