Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 38: Ausgesetzt ---------------------- Der Morgen graute, die Sonne stieg höher und es verhieß wieder, dass es ein heißer Tag werden würde. Sophie war gerade in die Küche angekommen, als eine aufgebrachte Rosalie in das Haus und dann zu ihr rannte. „Madame Glacé, kommt schnell!“   Sophie wunderte sich und wäre vielleicht nicht mitgekommen, wenn die junge Frau nicht so zerstreut ausgesehen hätte. „Was ist denn passiert?“   „Bitte kommt mit mir und dann seht selbst!“ Rosalie schürzte sogleich ihre Röcke wieder und eilte der Haushälterin voraus.   Sophie folgte ihr bis zum Stall und bemerkte schon auf dem Weg dorthin, wie die Bediensteten sich um einen Korb versammelt hatten. Eines der Dienstmädchen beugte sich darüber und holte ein Bündel daraus. Sophie weiteten sich fassungslos die Augen und sie erinnerte sich an ein ähnliches Bündel, welches Lady Oscar mit André und Graf de Girodel hierher vor sieben Jahren gebracht hatten. Jetzt war jedoch keiner der drei hier anwesend. Der Korb stand ganz alleine, als hätte ihn jemand hier abgestellt und bescherte Ratlosigkeit bei allen, die sich vor dem Stall versammelt hatten. „Was ist denn passiert?“, wiederholte Sophie die Frage, die sie zuvor an Rosalie gestellt hatte und das Bündel begann zu wimmern.   „Wir haben es gerade gefunden.“, erklärte ein Stallknecht, während das Wimmern ins Weinen überging. „Als ich den Stall betreten wollte, stand der Korb schon direkt vor den Türen. Ich bin natürlich ins Haus gelaufen, um Euch Bescheid zu sagen, Madame Glacé, aber traf stattdessen auf Mademoiselle Rosalie und habe es ihr gezeigt.“   „Als ich ankam, hatten sich schon die anderen um den Korb versammelt.“, sprach Rosalie für den Stallknecht weiter. „Ich habe dann unverzüglich Euch geholt.“   Also war das Kind ausgesetzt und der Verantwortliche dafür befand sich nicht unter ihnen, begriff Sophie erschrocken. „Ach du meine Güte, noch ein Findelkind!“ Sophie schaute entsetzt auf das weinende Bündeln und die Erinnerungen an den Tag, an dem François auf das Anwesen de Jarjayes gebracht wurde, gingen ihr durch den Kopf. Jetzt befand sich der Junge allerdings noch im Bett und wenn nicht, dann war er gerade bei der Morgenwäsche oder bereits in der Küche und wartete entweder auf sie oder Rosalie. Er fühlte sich ja bereits wie ein großer Junge und bedurfte deshalb kein Kindermädchen mehr, das ständig auf ihn aufpasste. Wenn er Hilfe brauchte, dann kam er von alleine und sagte das.   „Was machen wir jetzt?“, fragte Rosalie etwas lauter, denn das Kind übertönte mit seinem Geschrei ihre Stimme. „Lady Oscar, General de Jarjayes und seine Gemahlin sind doch alle außer Haus!“ Und wann sie auf das Anwesen kommen würden, war auch ungewiss.   Auch Sophie erhöhte ihre Stimme, damit alle Herumstehenden sie verstehen konnten. „Erst einmal das Kind beruhigen!“   „Es hat bestimmt Hunger.“, meinte das Dienstmädchen Marie und wiegte das weinende Bündel in ihren Armen. „Ich kann ihm meine Brust geben. Mein kleiner Sohn ist zwar schon ein Jahr alt, aber ich habe noch genug Milch.“   „Ja, tue das.“, ordnete Sophie und Marie verschwand um die Ecke des Stallgebäudes.   Die Ohren fühlten sich etwas besser, als das ohrenbetäubende Gebrüll des Kindes in wenigen Augenblicken verstummte. Rosalie hob den Korb vom Boden und entdeckte auf dem Kissen einen Zettel. „Madame Glacé, schaut!“ Sie nahm den Zettel an sich und las nur ein einziges Wort, das groß und mit schiefen Linien darauf geschrieben stand: „Marguerite. Das wird wohl der Name des Kindes sein.“, vermutete die junge Frau und legte den Zettel wieder auf das Kissen zurück.   „Das heißt, dass das Kind ein Mädchen ist.“, schlussfolgerte Sophie und schaute streng die Bediensteten an. „Ist jemandem etwas aufgefallen?“   Alle schüttelten die Köpfe. „Nein, Madame.“   „Hmpf.“ Sophie überlegte. Das Kind durfte nicht hier bleiben, aber ebenso würde es hier niemand übers Herz bringen, die Kleine irgendwo anders auszusetzen. Es blieb nur eine Möglichkeit. „Wir warten, bis jemand von den Hausherren zurück ist und bis dahin bleibt sie hier.“   Marie kam bald zurück und bekam die letzten Worte mit. Sie seufzte, als sie das Findelkind zurück in den Korb legte. „Dann hoffen wir, dass es nicht der General sein wird, der als erster hierher kommt.“   Sophie nickte ihr einvernehmlich zu. General de Jarjayes würde das Mädchen sofort ins Waisenhaus schicken wollen, weil es niemanden gehörte. Bei François hatte er womöglich deshalb zugestimmt, weil Lady Oscar ihn gefunden hatte und weil das noch zusätzlich die Anordnung des Königs war. „Also gut, jeder geht jetzt zurück an die Arbeit.“, ordnete die Haushälterin die herumstehenden Bediensteten an und wandte sich an Marie und Rosalie. „Ihr beide nimmt die Kleine und bringt sie in die Küche. Sie wird immer in unserer Nähe bleiben.“   „Jawohl, Madame Glacé.“ Die Bediensteten zerstreuten sich. Marie nahm den Korb mit Marguerite an sich und ging mit Rosalie und Sophie ins Haus zurück. Niemand von ihnen bemerkte, dass sie aus einem dichten Gebüsch hinter den Eisentoren des Anwesens beobachtet wurden.   Oscar atmete erleichtert auf. Es war noch alles gut gegangen und trotzdem schmerzte ihr mütterliches Herz, weil sie schon wieder ihr Kind in die Hände anderer Menschen gab und es genau wie François verleugnete. André hielt ihre Hand und spürte, wie die Anspannung bei ihr nachließ. „Lass uns gehen.“, flüsterte Oscar kaum hörbar und ließ seine Hand los, um aus dem Gebüsch in das nächste zu schleichen und um auf diese Weise unentdeckt zu bleiben.   André folgte ihr wortlos bis in den Wald, wo sie ihre Pferde versteckt hatten. Rasch stiegen sie in die Sattel und kehrten zu dem Jagdhaus am See zurück, wo sie bereits seit zwei Tagen nächtigten. „Das hat schon einmal gut geklappt.“, sagte André auf dem Weg.   „Ja“, bestätigte Oscar wehmütig. „Wir warten bis zum Mittag und dann brechen wir auf. Bis dahin ist sie bei Sophie, Rosalie und Marie in guten Händen.“   „Das stimmt. Sie werden sich um unsere kleine Marguerite gut kümmern.“ Obwohl André ein gutes Gefühl bezüglich seiner Tochter hatte, bekam er zusätzlich ein gewisses Bedenken und das äußerte er seiner Geliebten. „Hoffentlich werden wir vor deinem Vater da sein.“   Oscar verstand und gab ihm recht. Wenn ihr Vater vor ihnen nachhause kommen und Marguerite sehen würde, dann würde er sie nicht im Haus dulden wollen. Schon alleine weil sie ein Mädchen war und ausgesetzt wurde. Aber es gab Hoffnung und Oscar versuchte damit ihren Geliebten zu beruhigen. „So schnell wird mein Vater nicht auf sein Anwesen kommen, weil er meistens um diese Zeit die Aufträge des Königs in Versailles ausführt.“   Oscar sollte mit ihrer Aussage recht behalten. Als sie kurz nach dem Mittag mit André auf das elterliche Anwesen heimkehrte und vom Pferd abstieg, wurde sie sogleich von dem Stallmeister angesprochen. „Willkommen zurück, Lady Oscar. Gut, dass Ihr da seid.“   Oscar gab die Zügel ihres Pferdes an André, der bereits auch abgestiegen war. Sie behielt den kühlen Gesichtsausdruck und verdrängte gekonnt ihre mütterlichen Gefühle, die in ihr wieder hochstiegen, sobald sie an ihre Tochter dachte. „Ist etwas passiert?“   „Heute Morgen wurde ein Kind direkt vor unseren Türen gefunden.“ Der Stallmeister zeigte auf den Platz, wo der Korb vor wenigen Stunden gestanden hatte.   Oscar folgte nicht seinem Blick und zwang sich zu einer fragenden Miene. „Ein Kind?“ Schon alleine bei der Frage hasste sie sich selbst. Ihr schlechtes Gewissen quälte sie, aber es musste so sein, wenn sie Marguerite behalten und ihr großes Geheimnis bewahren wollte.   „Jawohl, Lady Oscar.“, erzählte der Stallmeister weiter, ohne etwas von ihrem aufgewühlten Gemüt zu bemerken. „Das Kind war ein Mädchen – höchstens ein oder zwei Wochen alt und es lag in einem Korb, direkt hier, vor dem Stall. Madame Glacé und Mademoiselle Rosalie haben sich dem Kind angenommen und unsere Marie stillt es, wenn es weint.“   Oscar versuchte krampfhaft Ruhe zu bewahren und nicht sofort in das Haus zu stürmen. „Ich werde das regeln.“, sagte sie so beherrscht wie möglich und schaute zu ihrem Geliebten. „André, du versorgst unsere Pferde und kommst nachher zu mir.“   „In Ordnung, Oscar.“ André wäre am liebsten mit ihr gegangen, aber das gehörte zu ihrer Tarnung und er führte deshalb die Pferde in den Stall.   Oscar kam ins Haus und nahm gleich den Weg in die Küche. Auf dem massiven Tisch, wo die Küchenmädchen das Gemüse putzten oder einen Teig zubereiteten, stand ein Korb. François kniete auf der Bank und spielte mit den kleinen Fäusten, die aus dem Korb in der Luft wedelten. Der Rest des Kindes sah man aus der Entfernung von der Türschwelle noch nicht. Mein Sonnenschein, das ist deine kleine Schwester, dachte Oscar bei sich mit einem schmerzlichen Stich in ihrem Brustkorb und in dem Moment sah ihr Sohn zu ihr. „Mama ist da!“, rief François mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, sprang sogleich von der Bank, und eilte zu ihr.   „Gott sei Dank, Ihr seid wieder da, Lady Oscar!“ Sophie wischte das Mehl von ihren Händen an der Schürze ab und kam ihr ebenfalls entgegen.   François schlang kurz seine Arme um die Hüfte seiner Mutter und schaute zu ihr auf. Endlich war sie wieder da! Er hat sie so sehr vermisst! Sie und seinen Vater. Aber wo war er? François sah ihn nämlich nicht. „Ist Papa auch zurückgekehrt?“   „Ja, er ist im Stall und sattelt die Pferde ab. Geh zu ihm und begrüß ihn.“ Oscar strich ihm noch durch die hellbraunen Locken und der Junge sauste schon aus der Küche.   „Ihr habt das sicherlich schon gehört.“, begann Sophie, als François fort war und zeigte mit ihrem Kinn auf den Korb mit dem Kind.   Oscar bejahte mit einem Nicken und ging langsamen Schrittes zum Tisch, wobei sie gerne gerannt wäre. Aber niemand durfte ja etwas mitbekommen und einen Verdacht schöpfen. Wie schwer es auch war, würde sie genauso ihre mütterlichen Gefühle und ihr leidendes Herz im Keim ersticken müssen, wie bei François vor sieben Jahren. „Unser Stallmeister hat mir das schon erzählt.“ Sie schaute auf das Kind und verdrängte den Drang, ihre Tochter aus dem Korb zu nehmen. Es wird irgendwann vergehen, redete sie sich ein, so wie es bei François mit den Jahren vergangen war.   „Was gedenkt Ihr zu tun, Lady Oscar?“, fragte Rosalie und sah selbst in den Korb. „Sie ist noch so klein...“   „Nun...“ Oscar durfte nicht voreilig entscheiden, sonst würde es auffallen. Sie tat so, als dachte sie nach, aber innerlich suchte sie nach passenden Worten und ihr Herz zerbarst dabei noch mehr. Sie schluckte einen dicken Kloß herunter, zwang ihre Hände nicht zu Fäusten zu ballen und ihrer Stimme einen neutralen Ton zu verleihen. „Ich werde es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können, wenn ich sie aussetzen oder ins Waisenhaus bringen lasse. Deshalb bleibt sie hier. Vielleicht wird ihre Mutter zurückkehren und sie abholen.“   „Ihr habt recht, Lady Oscar.“, wusste Marie zu sagen. „Denn viele Mütter aus armen Verhältnissen können ihre Kinder nicht ernähren und setzen sie deshalb vor den Türen reicherer Häuser aus. Aber später, wenn es ihnen besser geht, zeigen sie Reue und kommen zurück.“   „Wo hast du denn das gehört?“, fragte Sophie, aber gab ihr sogleich recht. Das war fast das gleiche wie bei François. Eine arme Familie, die womöglich reichlich mit Kindern gesegnet war, aber keines von ihnen ernähren konnte, sah keinen anderen Ausweg, als ihr jüngstes Kind abzugeben oder auszusetzen.   „Dort wo ich herkomme, habe ich schon das eine oder andere Mal solch einen Fall in der Nachbarschaft erlebt.“, meinte Marie und Rosalie biss sich bei diesem Gespräch auf die Lippe. Ihre leibliche Mutter hatte sie auch ausgesetzt und gehörte nicht gerade zu den Ärmsten der Armen.   Oscar merkte ihren leicht betrübten Gesichtsausdruck und richtete an sie das Wort. „Rosalie, du wirst dich um die Kleine kümmern und ich werde schauen, ob ich eine Amme finde.“   „Das ist nicht nötig, Lady Oscar.“, meldete sich Marie. „Ich habe noch genug Milch und kann sie stillen.“   „Dann ist alles geklärt. Solange du sie stillst, wird sie bei dir im Zimmer wohnen.“ Oscar warf noch einen letzten Blick auf ihre Tochter und kehrte ihr den Rücken, bevor der innerliche Schmerz überhand nahm und sie noch verraten konnte. „Ich gehe mich jetzt umziehen und André, wenn er aus dem Stall zurückkommt, soll mir einen Tee in den Salon bringen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)