Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 35: Das Fehlen ---------------------- Oktober 1781.   Im Zimmer herrschte finstere Dunkelheit, um besser das Geschehen draußen beobachten zu können. Augustin sah faszinierend aus dem Fenster der Wohnung, wo er schon seit dem Sommer dieses Jahres lebte. Der Himmel leuchtete in verschiedenen Farben auf und viele Menschen tanzten und sangen mitten auf den Straßen. So etwas Herrliches hatte er noch nie erlebt. In dem Dorf, wo er noch vor wenigen Monaten gelebt hatte, gab es nur die farblosen und trostlosen Tage, die immer nach dem gleichen Muster verliefen: Er wurde geschlagen, beschimpft und wie ein Nutzvieh behandelt. Bis auf die gleichaltrige Anna, dem Pfarrer in der Kirche und der Heilkundigen, bei der er gewohnt hatte, war er allen anderen Menschen gleichgültig. Immer und immer wieder hatten sie ihm eingeredet, er sei ein Niemand und sollte eigentlich sterben. Aber er lebte und bei Graf de Girodel begriff er mit der Zeit, warum. Er hatte Eltern und einen Zwillingsbruder, für die er lebte und die er irgendwann sehen würde. Das hatte ihm General de Jajrayes versprochen und er wollte ihm glauben. Wenn die beiden Offiziere nicht in das Dorf gekommen wären, dann hätte er womöglich nie erfahren, dass er Eltern und einen Zwillingsbruder hatte. Wie waren sie? Wo waren sie gerade jetzt? Was machten sie? Und wann würde er sie überhaupt sehen können?   Sein Erzieher, Graf de Girodel, erzählte ihm immer über seine Eltern und den Zwillingsbruder. Er wusste bereits fast alles über sie, prägte sich jedes Wort ein und sehnte sich danach, sie wenigstens ein einziges Mal sehen zu können. Seine Mutter war eine Adlige, wurde wie ein Mann erzogen und diente als Kommandant in der königlichen Garde. Wenn sie auf ihrem weißen Pferd ritt, dann leuchtete ihr Haar so hell wie die Sonne und ihre himmelblauen Augen glänzten wie Saphire. Augustin hatte schon bei seinem Erzieher ein Saphirring gesehen und wusste bereits, dass es ein Edelstein war. Genauso wie ein Smaragd, mit dessen grünen Farbe Graf de Girodel die Augen seines Vaters verglich und den er bei ihm auch schon gesehen hatte. Sein Vater war das genaue Gegenteil von seiner Mutter und gehörte nicht dem Adel an. Und sein Zwillingsbruder François war eine Mischung von den beiden, genauso wie er, Augustin, von dessen Existenz sie nicht einmal ahnten.   Augustin hörte immer begeistert zu, wenn Graf de Girodel über seine Eltern und seinen Zwillingsbruder erzählte. Besonders seine Mutter beschrieb der Graf in den schönsten Tönen und sprach von ihr wie von einem bezaubernden Engel. Sie war aber nicht nur schön, sondern auch mutig und besaß ein sehr gutes Herz. Augustin lächelte, als er sich seine Eltern und seinen Zwillingsbruder anhand der Erzählungen des Grafen vorstellte und in seinen Kinderaugen spiegelten sich die farbenfrohen Lichtpunkte, die den dunklen Nachthimmel ununterbrochen erhellten.   „Das nennt man Feuerwerk.“, sagte sein Erzieher, der direkt hinter ihm am Fenster stand und seine Hände ganz leicht auf seine Schulter legte. Er hatte den Jungen bereits ins Herz geschlossen, denn im Gegensatz zu François, der mehr nach André ging, besaß Augustin mehr Ähnlichkeiten mit Lady Oscar.   „Es sieht sehr schön aus!“, schwärmte Augustin und kletterte auf den Fenstersims, um noch besser sehen zu können.   „In der Tat.“ Girodel half ihm und bot ihm den sicheren Halt, damit er von dem schmalen Fenstersims nicht herunterfiel. „Heute feiern alle Menschen die Geburt des langersehnten Thronfolgers, Prinz Louis Joseph.“   Nur weil ein Prinz geboren wurde, veranstalteten die Menschen so ein schönes Fest und eine Himmelsbeleuchtung? Augustin verstand das nicht. Aber egal. Ihn interessierte sowieso etwas anderes. Oder besser gesagt, jemand anderes. „Feiern meine Eltern auch?“   „Aber natürlich feiern sie auch mit.“, erklärte Victor. „Die Geburt des Prinzen ist ein sehr guter Grund zum Feiern, weil er der zukünftiger König von Frankreich sein wird. Die Menschen haben schon lange darauf gewartet und feiern deshalb. Auch deine Eltern feiern mit und sie sind in der Stadt.“   Der zukünftige König also... Aber auch das war nur ein flüchtiger Gedanke. Augustin schaute auf die von den Laternen beleuchtete Straße, wo viele Menschen singend und mit froher Laune vorbei gingen. „Werde ich meine Eltern sehen können?“   Graf de Girodel überlegte. Lady Oscar und André feierten die Geburt des Thronfolgers zwar in der Stadt, aber sie konnten überall sein. Es war eine magere Hoffnung, dass sie ausgerechnet hier vorbeilaufen würden, aber Victor wollte dem Jungen diese Hoffnung nicht nehmen. „Nun, wenn deine Eltern hier vorbei gehen, dann würdest du sie sehen können.“   Augustin schaute konzentriert auf die Straße und betrachtete jeden, der etwas Rotes an hatte. „Da!“, rief er aufgeregt und zeigte dem Grafen mit seinem Finger auf der Fensterscheibe auf bestimmten Punkt. „Ein weißes Pferd! Und auch ein dunkles Pferd ist dabei!“   Victor folgte dem Finger des Junges mit seinem Blick und entdeckte in der feiernden Menge in der Tat das Pferd von Oscar und auch der braune Hengst von André. Welch ein Zufall. „Siehst du den Offizier in der roten Uniform?“   „Ja.“ Augustin nickte heftig und ihm kam es so vor, als würde sein Herz aus seinem Brustkorb herausspringen wollen.   „Das ist Oscar François de Jarjayes, Kommandant des königlichen Garderegiments.“, meinte Victor und das Gesicht des Jungen erhellte sich. Vergessen war das Feuerwerk und es galten nur noch diese zwei Menschen mit Pferden, die im Fluss der feiernden Menge die Straße passierten. „Meine Mama!“, sagte Augustin zu der Fensterscheibe und lehnte sich an die glatte Oberfläche, als wollte er sie damit aufhalten.   „Genau, das ist deine Mutter.“ Victor schob den Jungen etwas und zeigte auf den Begleiter von Lady Oscar. „Siehst du auch den Mann an ihrer Seite, der das braune Pferd führt?“   „Mein Papa!“, meinte der Kleine und Graf de Girodel bejahte. „Ja, das sind deine Eltern.“   Seine Eltern - so nah und doch so fern. Augustin wollte am liebsten das Fenster öffnen und nach ihnen Rufen: Mama! Papa! Ich bin hier! Leider blieb das nur ein stummer Ruf seines schnell schlagenden Herzens. Aber was war das? Seine Mutter schien ihn gehört zu haben und schaute nach oben. Sie war wirklich schön! Auch wenn Augustin nicht viel von ihrem Gesicht erkennen konnte, war er wie verzaubert von ihr. Sein Vater folge ihrem Blick und da hielt es Augustin nicht länger aus. „Darf ich zu ihnen? Bitte!“   Victor verstand und hätte ihm gerne diesen Wunsch erfüllt, aber er durfte das ohne Erlaubnis des Generals de Jarjayes nicht tun. Wie bedauerlich es auch war, er musste den Jungen enttäuschen. „Nein. Du weißt doch, dein Großvater hat das noch nicht erlaubt und deine Eltern wissen noch nichts von dir.“   Augustin schaute jetzt traurig aus dem Fenster so lange, bis von seinen Eltern nichts mehr zu sehen war. „Ich will sie sehen...“ Er weinte nicht und hatte nicht einmal Tränen in den Augen – er war nur betrübt und bekümmert.   „Irgendwann wirst du sie sehen, das hat dir dein Großvater doch versprochen und er hält sein Versprechen.“, versuchte Graf de Girdel ihn damit aufzumuntern, aber sich sicher war er nicht. Ja, der General de Jarjayes hielt sein Versprechen und würde irgendwann den Jungen zu sich auf das Anwesen holen. Nur aber würden Lady Oscar und André weiterhin nichts davon wissen, dass Augustin genauso ihr Sohn war…   Augustin nickte und sagte nichts mehr. Hier wurde er besser behandelt und trotzdem fühlte er sich einsam. Jetzt, wo er seine Eltern gesehen hatte, sehnte er sich noch mehr nach ihnen, als bei den Erzählungen von Graf de Girodel. Und es gab noch seinen Zwillingsbruder. Augustin wusste, dass François seine Eltern als Zieheltern ansah, weil er in dem Glauben aufwuchs, nach seiner Geburt im Wald gefunden worden zu sein. Aber François konnte sie wenigstens oft sehen und durfte sie Papa und Mama nennen. Wie gerne wäre Augustin jetzt an seiner Stelle gewesen. Nein, er war nicht neidisch, er hatte nur eine große Sehnsucht nach seiner Familie, die ihm kurz nach seiner Geburt genommen wurde und die nicht wusste, dass er überhaupt existierte. Seine Mutter, sein Vater und sein Zwillingsbruder – sie fehlten ihm so sehr, dass es ihm tief in der Brust schmerzte und ein sehr bedrücktes Gefühl verursachte. Er fragte sich, ob sie diese Leere, dass ihnen etwas oder jemand fehlte, auch spürten? Seine Eltern womöglich nicht, denn sie wussten nicht von seiner Existenz! Aber was war mit François?   Graf de Girodel hatte ihm erzählt, dass François oft unerklärliche Schmerzen bekam und von einem Dorf träumte, wo er von zwei Burschen geschlagen wurde. Aber seit Augustin nicht mehr in diesem Dorf lebte, hatten diese Schmerzen bei François aufgehört. Augustin war verwundert und hatte dem Grafen seinerseits über seine Träume erzählt, wo er am Meer mit seinen Eltern ausritt und sehr glücklich war. Graf de Girodel hatte gelächelt und ihm erklärt, dass Zwillinge eine gewisse Bindung zueinander hatten und konnten einige Sachen spüren, die mit dem anderen passierten. Wenn das stimmte, dann müsste Francois jetzt die gleichen Gefühle nach Einsamkeit, Leere und Sehnsucht empfinden wie er, Augustin...       - - -       Der Himmel leuchtete bis tief in die Nacht in verschiedenen Farben auf und dieses atemberaubende Schauspiel konnten die Menschen fast überall sehen. Auf dem Turm des Anwesen de Jarjayes stand François mit Rosalie und beobachtete fasziniert das Feuerwerk, das am ganzen Himmel in verschiedenen Farben erleuchtete. Der langersehnte Thronfolger wurde geboren und zu seinen Ehren eine sehr große Feier veranstaltet, das wusste François und bekam unerwartet ein bedrückendes Gefühl. Nein, das waren keine dieser unerklärlichen Schmerzen, die er noch vor wenigen Monaten empfunden hatte, sondern er fühlte sich auf einmal einsam und leer.   „Gefällt es dir?“, fragte ihn Rosalie auf Bezug des Feuerwerkes.   François verstand, was sie meinte und nickte zustimmend. „Ja, es ist schön! Sehen das Papa und Mama auch?“   „Natürlich sehen sie das.“ Rosalie schmunzelte und merkte nichts von seinem innerlichen Kummer. „Deine Zieheltern sind bestimmt in Versailles und feiern die Geburt des Prinzen dort mit.“   Auch wenn ihm das schöne Schauspiel am Nachthimmel sehr gefiel, entließ François dennoch einen schweren Seufzer. „Ich will zu ihnen.“   „Sie werden ganz bestimmt bald dienstfreie Tage bekommen.“, beruhigte Rosalie ihn und bekam nur ein verstelltes Lächeln als Antwort.   François schaute jetzt dem Feuerwerk lustlos und gedankenverloren zu. Die Traurigkeit und die Einsamkeit in seinem Herzen verbreitet sich im ganzen Körper. Und das war nicht wegen seinen Zieheltern. Er fand es zwar schade, dass sie in diesem Moment nicht bei ihm waren, aber morgen oder übermorgen würde er sie wiedersehen und mit ihnen eine schöne Zeit verbringen. Das war normal so und er war daran gewohnt. Diese herrschende Leere und Sehnsucht in ihm geschah wegen etwas anderem. Oder besser gesagt, wegen jemand anderen, der ganz nah und gleichzeitig so fern von ihm war. François konnte sich das nicht erklären, aber er ahnte, dass es jemanden gab, der mit ihm den gleichen Kummer teilte und sich genauso betrübt fühlte wie er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)