Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 32: Jean ---------------- Graf de Girodel betrat die Gaststube, die er nur schwach in Erinnerung hatte. Umso mehr erinnerte er sich aber an die Frau des Wirtes und was sie zusammen mit einer Hebamme, deren Namen er auch nicht mehr wusste, vor sechs Jahren getan hatte. Sie hatte ein unverzeihliches Verbrechen begangen und würde sich jetzt dafür verantworten müssen. Denn der Junge, den er im Stall gesehen hatte, gehörte nicht hier her. Man hatte ihn Jean genannt – der Name, den François nach seiner Geburt bekommen hatte und es war seine, Graf de Girodels, Idee, dem Erstgeborenen von Lay Oscar diesen Namen zu geben. Victor glaubte an keinen Zufall mehr. Jean musste der totgeglaubte Zwillingsbruder von François und der zweite Sohn von Lady Oscar und André sein. Anders würden sich die Ähnlichkeiten nicht erklären, die der Junge mit den drei aufwies. Allerdings wusste niemand von seiner Existenz – bis auf ihn, Victor, und die Einwohner von diesem verdammten Dorf! Deshalb hatte er keinen Sarg bei der Taufe von François in der Kirche gesehen, erinnerte sich Victor und wünschte sich, er hätte damals mehr über das angeblich sterbende Kind in Erfahrung gebracht. Der Junge im Stall war ein lebendiger Beweis dessen, dass er auf niederträchtige Weise seiner Familie entrissen wurde. Aber warum nur? Und was hatte dieser halbwüchsige Bursche gesagt? Jean war ein niemand, gehörte zu niemanden und hatte keine Eltern?   Falsch! Jean war der zweitgeborene Sohn von Oscar François de Jarjayes und André Grandier! Victor verdrängte krampfhaft den Zorn und die Schuldgefühle in sich. Er hätte nie gedacht, dass er jemals in dieses Dorf zurückkehren würde. Aber damals wusste er nicht, dass er belogen und betrogen wurde. Wie leichtgläubig er doch war! Er hätte dieses Verbrechern nicht glauben und schon damals etwas unternehmen sollen! Vielleicht war es aber noch nicht zu spät, den Fehler zu korrigieren? Das würde sich zeigen, wenn er mit der Frau des Wirtes gesprochen hatte. Auf jeden Fall würde er den Jungen zu sich nehmen und nicht zulassen, dass er hier als Prügelknabe diente.   Das Mädchen mit den schwarzen Zöpfen, das er im Stall nach dem Zusammenstoß vor dem Fall bewahrt hatte, flehte aufgeregt die Frau des Wirtes an, die an der Theke die gewaschene Bierkrüge mit einem Tuch trocknete. „Aber Tante Adaliz! Armand und Georges tun Jean weh!“   „Tut mir leid Schätzchen, ich kann nicht helfen.“, erwiderte Adaliz mit einem entnervten Seufzer. „Mein Mann hilft deinem Vater auf dem Feld und ich habe hier viel zu tun.“ Damit ihre Nichte nicht weiter nachfragte, begrüßte sie den Gast, der gerade mit gemäßigten Schritten die Gaststube überquerte. „Guten Tag, Monsieur. Was wünscht Ihr? Ein kühles Bier und ein kräftige Mahlzeit? Wir haben im Angebot...“   „Nichts dergleichen!“, unterbrach Girodel sie schroff und blieb direkt vor ihr stehen. Sein Blick durchbohrte sie wie eine scharfe Klinge und sein Tonfall war sehr unfreundlich. „Ich will die Wahrheit über den Jungen Jean aus diesem Dorf wissen!“   Anna flüchtete erschrocken hinter die Theke und beobachtete den Mann, mit dem sie zusammengestoßen war, mäuschenstill. Was wollte er von ihrem Freund Jean? Warum schaute er so böse aus und machte ihr Angst? Ihre Tante Adaliz dagegen starrte den noblen Offizier perplex an, ohne ihre Nichte zu beachten. Der Mann kam ihr sehr bekannt vor, aber sie konnte ihn nirgends zuordnen. Es gab so viele Reisende, die hier im Gasthof einkehrten und deren Gesichter sie nicht merkte. Allerdings war dieser hier der erste, der nach Jean fragte. Sie zuckte dennoch gleichgültig mit den Schultern. „Jean hat keine Eltern und gehört zu niemanden.“   Wie dreist... Victor konnte kaum an sich halten, um diese verlogene Frau nicht zu packen, zu rütteln und anzubrüllen. „Ihr habt mich damals also doch belogen!“   „Ich verstehe nicht, Monsieur...“ Adaliz stellte den abgetrockneten Bierkrug auf die Theke ab und da packte der Gast sie bei den Armen. „Was erlaubt Ihr Euch!“, wollte sie protestieren, aber kein Ton kam ihr über die Lippen. In seinen Augen wütete der Zorn und jagte ihr eiskalten Schauer über den ganzen Körper. Diesen Blick hatte sie schon Mal gesehen. Es war im Winter geschehen und ein Mann hatte sie in seinem eisernen Griff fast zu Tode erschreckt. Das war derselbe Mann, erkannte sie und ihr blieb fast das Herz stehen. Die Vergangenheit holte sie ein wie ein einschlagender Blitz und drohte mit einem heftigen Gewittersturm. Die Stunde war also gekommen, um für die Sünde zu bezahlen, die sie ausversehen begangen hatte... Aber das war doch so eindeutig! Es hatte keinen Zweifel damals gegeben und doch wurde alles anders...   Victor sah deutlich, dass er der Frau Angst machte, aber das war ihm egal. Wenn sie sich nicht an ihn erinnerte, dann würde er ihr auf die Sprünge helfen. „Vor sechs Jahren brachte hier eine Frau in Männerkleidern Zwillinge zur Welt, von denen eines gestorben war. Das habt Ihr mir damals gesagt, als ich Euch zur Rede gestellt habe, aber das war gelogen! Ihr habt Lady Oscar das zweite Kind weggenommen! Für welchen Zweck? Was hattet Ihr mit ihm vor? Antwortet mit der Wahrheit und Gnade Euch Gott, wenn Ihr mir etwas verschweigt!“   Jetzt erinnerte sich Adaliz an den Rest der Geschehnisse. Das besagte zweite Kind von der Frau in Männerkleidern hatte das gesamte Dorf mehrere Tage auf Trab gehalten und starb einfach nicht. Aber ihn umzubringen oder dem Schicksal zu überlassen, wollte auch niemand. Immerhin war das ein lebendiges Wesen, ein unschuldiges Kind und noch mehr Sünden auf sich auferlegen wollte Adeliz und damalige Hebamme auch nicht. „Nein, Monsieur, das zweite Kind war wirklich dem Tode nahe...“, versuchte Adaliz bangen Herzens zu erklären, aber wurde überhört.   „Das soll ich Euch glauben?“ Victor verstärkte seinen Griff und rüttelte heftig die Frau, die er am Schicksal von Jean für verantwortlich hielt. „Wisst Ihr, was Ihr angerichtet habt? Lady Oscar weiß immer noch nichts von ihrem zweiten Sohn, nicht einmal, dass er existiert!“   „Oscar also?“, hörte Victor eine eisige Stimme hinter seinem Rücken und innerlich schlug er Purzelbäume. Zu glauben, dass er sich verhört hatte, war genauso töricht wie zu hoffen, dass niemand hinter ihm stand. War er etwa verfolgt worden? Der Mann hinter ihm wartete nicht auf die Antwort und erhöhte seinen Ton. „Ich glaube, Ihr seid nicht nur meiner Tochter, sondern auch mir eine Erklärung schuldig. Findet Ihr nicht, Graf de Girodel?“   Victor ließ auf der Stelle die Frau los und drehte sich erschrocken um. Es hatte keinen Zweck mehr, den Mann zu ignorieren. „General de Jarjayes...“, murmelte er kleinlaut und bemerkte Jean an dessen Seite, was ihm das Herz noch schwerer machte. Der Junge aus dem Stall sah ihn mit seinen großen, blaugrünen Augen an und zog seine schmalen Lippen zu einem Strich.   „Antwortet und verschweigt mir nichts, wenn Euch Euer Leben lieb ist!“ General de Jarjayes schob Jean vor sich und hielt ihn bei den Schultern. Es war also doch eine gute Idee, den Grafen zu verfolgen! Der Junge, der François und besonders Oscar ähnlich sah, verbarg offensichtlich mehr Geheimnisse, als er vorher angenommen hatte. Denn Girodel hätte ganz sicher nicht so überstürzt sein Anwesen verlassen, wenn das unwichtig gewesen wäre. Er schielte zu der Frau des Wirtes. „Ihr solltet auch nichts verschweigen!“   Jean biss sich auf die Unterlippe. Die Finger des Mannes bohrten sich tief in seine knochige Schulter und verursachten Schmerzen. Aber daran war er schon gewöhnt. Sein Leben bestand nur aus Schmerz und Leid. Vielleicht wollte einer dieser Offiziere ihn davon befreien? Denn warum sonst waren sie hier und wollten etwas von ihm?   „Sprecht!“, verlangte der General mit Nachdruck und fasste Jean noch kräftiger bei den Schultern, dass diesem ein unterdrückter Schmerzenslaut entwich.   Girodel konnte nichts mehr sagen. Alles schien vor seinen Augen abzustürzen. Es war ein Fehler, General de Jarjayes zu besuchen, aber andererseits hätte er dann nichts von Jean erfahren. Warum nur musste der General ihn unbedingt verfolgen? Er wollte Lady Oscar auf keinen Fall verraten – er hatte ihr ja geschworen, ihr Geheimnis für sich zu behalten!   Adaliz allerdings hatte so eine Schwur nicht abgegeben und begann mit zittriger Stimme zu erzählen: „Im Januar vor sechs Jahren kamen zwei Männer und eine Frau in Männerkleidern zu uns. Die Frau hatte einen großen Bauch, ihre Kleidung war unten nass und uns wurde gesagt, sie sei schwanger. Ich half ihr in ein Zimmer und während nach unserer Hebamme aus dem Dorf gerufen wurde, verlangte sie nach ihrem Mann...“   „Ihrem Mann?“, unterbrach Reynier sie fassungslos. Die Offenbarung der Wahrheit über die Schwangerschaft seiner Tochter trieb ihn schon zur Weißglut. Aber die Tatsache, dass sie noch mehr Geheimnisse verbarg, machte es nur noch schlimmer. Wer war dieser Mann, der seine Tochter nicht nur geschwängert, sondern auch noch die Dreistigkeit besaß, sie heimlich zu ehelichen? Und Oscar hatte das auch noch zugelassen? Wozu hatte er sie überhaupt zu einem Soldaten erzogen, wenn sie ihren weiblichen Gefühlen nachgab? Der General warf einen mörderischen Blick auf Girodel. „Oscar hat ohne mein Wissen und ohne Erlaubnis des Königs geheiratet?“   Victor wünschte derweilen, es wäre alles nur ein böser Traum. Offensichtlich glaubte der General, dass er der Mann war, der Lady Oscar geschwängert hatte. Wenn er das wirklich getan hätte, dann würde er Lady Oscar nicht heimlich heiraten, sondern offiziell um sie werben und um ihre Hand bei ihrem Vater bitten. „Lady Oscar und André haben nicht geheiratet.“, sagte Girodel leise. Es machte jetzt keinen Sinn mehr zu schweigen. General de Jarjayes würde so oder so den Rest der Wahrheit erfahren und höchstwahrscheinlich in die Normandie aufbrechen, um seine Tochter und ihren Liebhaber zu töten. Was würde dann aus François und Jean werden? Wie würde der General mit ihnen verfahren? Victor wollte sich das nicht einmal vorstellen. Aber auf jeden Fall würde er es nicht zulassen, dass seinem Patenkind, dessen Zwillingsbruder und Lady Oscar ein Leid zugefügt würde. Auch wenn er sich dabei gegen den General höchstpersönlich stellen sollte.   Reynier platzte innerlich vor Wut. Oscar und André hatten ihn hintergangen! Er würde alle beide töten! Girodel würde für sein beispielloses Schweigen auch eine Strafe erhalten und seines Ranges und Titels entzogen werden. Anders ging es nicht, um die Schande der Familie der de Jarjayes zu bereinigen. Aber jetzt galt es, erst einmal zu Ende zu hören. „Erzählt weiter!“, verlangte er von der Frau und versuchte seinen Zorn unter Kontrolle zu halten.   Adaliz wünschte sich auch, dass der Boden möge sich auftun und sie für die Sünde, die sie vor sechs Jahren begangen hatte, verschlucken. Zu ihrem Leidwesen stand sie noch immer da und musste sich dafür verantworten. „Ich habe den jungen Mann zu ihr vorgelassen und sie brachte einen Sohn zur Welt.“, erzählte sie bangen Herzens und nervös. Dabei schaute sie auf Jean. „Dann kam der zweite Junge zur Welt, aber er hatte kaum geatmet. Die Hebamme meinte, er würde keine zwei Stunden leben und ich soll ihn deshalb wegbringen, bevor seine Eltern überhaupt von ihm etwas merkten...“   Jean gefiel ihr Blick nicht und ihre Worte verursachten ein eigenartiges Gefühl in ihm. Von wem sprach sie? Wessen Eltern meinte sie? Und wieso krallten sich die Finger des Generals noch mehr in seine Schulter? „Bitte hört auf...“, flüsterte er erstickt, aber wurde nicht wahrgenommen.   Der noble Offizier, der zuvor als erster im Stall aufgetaucht war, warf einen vernichtenden Blick auf die Frau des Wirtes und Jean sah zu, wie die Hände des Offiziers sich krampfhaft zu Fäusten formten. „Ihr habt mich angelogen, als ich Euch mit dem Kind verfolgt habe!“, knurrte er wie ein bissiger Hund. Jean verstand das nicht. Was ging hier vor?   „Nein, Monsieur, ich schwöre bei Gott, der Junge hat kaum geatmet!“, widersprach Adeliz. „Niemand hatte damit gerechnet, dass er überlebt!“   Dem noblen Offizier riss der Geduldsfaden. „Dass Ihr ihn behalten habt, ohne dem Wissen seiner Mutter, ist schon ein großes Verbrechen und Ihr werdet Euch dafür vor dem königlichen Gericht verantworten müssen!“   „Schweigt, Girodel!“, schnitt ihm der General das Wort ab. Wenn der königliche Hof davon erführe, dann würde der Skandal unvermeidbar sein und das wollte Reynier auf kein Fall zulassen. „Weder der königliche Gerichtshof, noch meine Tochter, wird davon erfahren, was jetzt hier passiert! Vergesst nicht, wessen Ruf auf dem Spiel steht! Oder wollt Ihr, dass wegen dem Fehlverhalten meiner Tochter wir alle in Ungnade fallen?“   „Nein, General.“ Victor sah das ein. Der General hatte Recht. Lady Oscar würde die erste sein, die darunter leiden würde. Zumal sie nichts von ihrem zweiten Sohn wusste. Nicht einmal, dass sie überhaupt einen hatte. Apropos, der zweite Sohn... „Aber was ist mit dem Jungen?“, wandte Giordel ein und schaute auf Jean.   Der General überlegte. Der Junge, den er die ganze Zeit fest hielt, war also der zweite Sohn von Oscar und der Zwillingsbruder von François. Obwohl der Zorn und die Wut auf seine Tochter weiterhin in ihm brodelten, versuchte er einen klaren Kopf zu bewahren. Soweit er es verstanden hatte, wusste Oscar nichts von ihrem zweiten Sohn. Vielleicht würde es besser sein, wenn es auch so dabei bliebe? „Nun, um ihn werdet Ihr Euch kümmern, Graf de Girodel.“, meinte er und schob den Jungen zu ihm.   Jean machte gezwungenermaßen einen Schritt nach vorn. Dabei wurde seine Schulter losgelassen und er fühlte sich diesbezüglich leichter. Gleichzeitig aber schaute er irritiert von dem jüngeren Offizier zu dem älteren. Welchen Jungen meinten sie? Und um wen sollte dieser Graf de Girodel sich kümmern?   Girodel glaubte, sich verhört zu haben. „Wie bitte?“ Er sollte sich um Jean kümmern? Was würde dann aber mit Lady Oscar geschehen? Und François? Was würde der General mit ihnen tun? Das waren die einzigen Fragen, die Victor gerade am meisten beschäftigten.   „Wir nehmen ihn mit.“, entschied sich der General und erklärte das dem Grafen mit einer List. „Da ich sein Großvater bin, habe ich das Recht dazu und er wird bei Euch eine angemessene Erziehung bekommen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)