Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 31: Schöner Traum ------------------------- Das azurblaue Meer und die kreischenden Möwen in der Luft. Er war noch nie am Meer gewesen, aber hatte von den Reisenden, die in dem Gasthaus seines Dorfes eine Rast machten und davon erzählten, oft gehört. Und manchmal träumte er sogar von den schäumenden Wellen und das Glitzern auf der Oberfläche, wenn die Sonne darauf schien. Jetzt lag das Meer ruhig. Die schäumenden Wellen schlugen gegen die Beine zweier Pferde, die um die Wette ritten und das Wasser spritzte unter den Hufen in alle Richtungen. Vereinzelte Tropfen trafen sein Gesicht und er lachte. Es war ein schönes Gefühl, glücklich zu sein. Er ritt auf einem weißen Pferd die Küste entlang und streckte sein Gesicht dem salzigen Wind entgegen. Jemand saß hinter ihm und hielt ihn mit einem Arm fest, damit er nicht runter fiel. Das war ein unbeschreiblich herrliches und prickelndes Gefühl nach Freiheit, Sicherheit und Geborgenheit. Er drehte seinen Kopf und schaute zu demjenigen auf. „Schneller, Mama!“ Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, es war verschwommen. Aber er bildete sich ein, seine Mutter wäre schön. Sie lächelte, zumindest glaubte er das und sagte etwas, was er nicht verstand. Anstelle schneller zu werden, wurde das Pferd langsamer und als es stehen blieb, holte sie das zweite, braune Pferd ein. Er wurde von den Händen seiner Mutter sachte aus dem Sattel gehoben und in die Hände eines Mannes gegeben. „Papa!“, rief er zu ihm und lachte glückselig, als der Mann ihn in seine Arme nahm und ihn rittlings vor sich hinsetzte. Sein Vater hielt ihn mit einem Arm genauso fest wie seine Mutter zuvor und mit der freien Hand wendete er sein Pferd und ließ ihn im gemächlichen Trab laufen.   Ein heftiger Stoß in seine Rippen zerstörte den schönen Traum blitzartig. Geruch nach Heu und Pferdeexkrementen drang in seine Nase, während er unsanft geweckt wurde. Eigentlich sollte er den Stall ausmisten, aber bei dieser Sommerhitze wurde er schläfrig und hatte sich nur für kurz auf einen Haufen Heu hingelegt. Jetzt bezahlte er dafür. Er schnappte nach Luft und bekam noch mehrere Fußtritte in seine Mitte, die ihn endgültig in die bittere, freudlose und trostlose Realität beförderten. Er verkniff sich einen Schmerzenslaut und bedeckte nur sein Gesicht mit beiden Händen, damit wenigstes dieser Teil seines Körpers von den Schlägen verschont blieb.   „Steh auf, du Missgeburt und mach dich wieder an die Arbeit!“, spie der Älteste der beiden Knaben und verpasste ihm noch einen Tritt in die Magengrube. Sein Name war Armand und mit seinen fast sechzehn Jahren war er der älteste Sohn von dem Besitzer des Gasthofes, zu dem auch dieser Stall gehörte.   Der vierzehnjährige Bruder von Armand packte ihn grob am Arm und zog ihn wieder auf die Beine. Sein Name war Georges. „Ich frage mich noch immer, warum unsere Tante ihn durchfüttert, unsere Eltern ihn bei uns arbeiten lassen und unsere Heilkundige ihn großzieht! Sie hätten ihn lieber sterben lassen sollen, solange sie noch die Gelegenheit dazu hatten!“   „Jean, bist du hier?“ Ein sechsjähriges Mädchen mit schwarzen Zöpfen und eisblauen Augen stand am Eingang des Stalles und hielt ein Brötchen in der Hand.   Wo sollte er sonst noch sein? Es gab nur drei Orte, wo er sich aufhalten durfte: dieser Stall, die Kirche und das Haus, wo er aufwuchs. Jean sah das Mädchen nur stumm an. Sie war nur zwei Tage älter als er und gehörte zu den wenigen in diesem verdammten Dorf, die ihm einen Namen gaben und auch nett zu ihm waren. Georges ließ ihn nicht aus seinem Griff los und er spürte, wie dessen Finger sich fester um seinen Arm fassten. „Was willst du von ihm, Anna?“, fragte er streng das Mädchen.   Anna blieb am Eingang stehen und schaute mitleidig zu dem Jungen, der mit ihr zusammen aufwuchs. Er war wie ein Bruder für sie und sie mochte ihn. „Mutter sagte, ich soll ihm etwas zum Essen bringen.“, sagte sie und zeigte auf das Brötchen in ihren Händen.   Armand kam auf sie zu. „Dann gib es mir, Cousine, und ich gebe es ihm!“, befahl er und streckte seine Hand aus, um ihr das Brötchen zu entnehmen.   Anna machte sogleich einen Schritt von ihm zurück. „Nein, nicht du! Ich soll es ihm geben!“ Sie wusste, dass Armand ihrem Freund Jean nichts geben und es selbst aufessen würde.   Ihr ältester Cousin wusste jedoch genau, wie er das bekommen konnte, was er wollte. Kaum dass sich Anna versah, ergriff er ihren Arm und mit der freien Hand drückte er sie am Nacken fest. Anna schrie vor Schmerzen und ließ das Brötchen fallen. „So ist es brav, Cousine.“ Armand lachte boshaft und warf sie zu Boden. Bis Anna sich auf die Beine hochrappelte, schnappte er sich das Brötchen, entfernte die Strohhalme und teilte es in zwei Hälften auf, während er zurück zu seinem Bruder ging. „Hier Georges, wir haben uns das jetzt verdient.“   „Das auf jeden Fall!“ Georges ließ Jean los und nahm die gereichte Hälfte des Brötchens an sich. „Danke, Bruder.“   Jean sah mit hilfloser Wut zu, wie sein Essen verspeist wurde. Er hatte schon seit gestern Abend nichts mehr gegessen und zur Bestätigung knurrte ihm sogleich der Magen. Das war ungerecht! Warum waren sie so gemein zu ihm? Er hatte ihnen doch nichts getan! Und auch Anne nicht! Sie hatte die grobe Behandlung nicht verdient, denn sie war ein nettes Mädchen und behandelte ihn wenigstens wie einen Menschen. Das Blut floss erhitzt durch seine Adern, seine Hände ballten sich zu Fäusten und seine Augen brannten vor anlaufenden Tränen. Aber er weinte nicht. Er war ein Junge und würde niemals seine Schwäche zeigen. Besonders nicht vor diesen zwei Brüdern, die ihn tagtäglich schlugen, nur weil er ein niemand war. Irgendwann würden sie für alles bezahlen, was sie ihm angetan haben! Das schwor sich Jean und hörte die Stimme von Anne nur mit halbem Ohr. „Ihr seid gemein! Ich werde das alles meinen und euren Eltern erzählen!“, schrie sie ihre beiden Cousins an, drehte sich um und stieß unerwartet mit einem Mann zusammen.   „Vorsicht, nicht hinfallen!“ Der Mann, in der hochrangigen Uniform eines Offiziers, fing sie ab und bewahrte sie vor dem Fall. Hinter ihm schnaubte leise sein Pferd und wackelte mit seiner grauen Mähne. Der noble Mann reagierte nicht darauf. Sobald Anna sicher auf den Beinen stand, ließ er von ihr ab und starrte auf die drei Knaben.   „Danke.“, sagte Anna und sauste aus dem Stall, um die Eltern ihrer Cousins ausfindig zu machen.   Armand schluckte den letzten Bissen schnell herunter und kam dem Mann entgegen. Das war ganz sicher ein Reisender und es war seine Aufgabe, sich um dessen Pferd zu kümmern. Sein Bruder folgte ihm und beide vergaßen Jean. Die Belange des Gastes standen an allererster Stelle und Armand nahm das graue Pferd bei den Zügeln. „Willkommen bei uns, Monsieur. Was können wir für Euch und für Euer Pferd tun?“   „Nichts.“, sagte der Mann und ging auf Jean zu. „Wie heißt du und wer sind deine Eltern?“, fragte er und blieb direkt vor ihm stehen.   Jean schluckte hart, aber er hatte keine Angst. Es war nur das erste Mal, dass ein Reisender ihn beachtete und ihn dazu noch ansprach. Was sollte er ihm nur sagen? Er war doch ein niemand und hatte ebenso keine Eltern. Der Mann vor ihm war groß und schlank, aber es war nicht der Mann aus seinem schönen Traum und den er „Papa“ genannt hatte. Sein Vater sah ganz anders aus. Er wusste zwar nicht mehr wie, aber er spürte ganz genau, dass der Reisender jemand anders war. Er trug schwarze Stiefel, eine weiße Hose und eine hellblaue Uniform. Sein Haar lag ihm in Wellen über den Schultern und die Farbe seiner Augen glich einem Türkis.   „Was ist, kannst du etwa nicht sprechen?“, stellte der noble Reisender die nächste Frage und als Jean sein Mund öffnete, hörte er schon Armand sagen: „Er ist ein niemand, Monsieur und gehört auch zu niemanden.“   Der Offizier warf einen scharfen Blick zu ihm. „Hab ich dich das gefragt?“   „Nein, Monsieur.“, murmelte Armand geknickt und tauschte mit seinem Bruder fragende Blicke. Das war der erste Reisende in all den Jahren, der sich für Jean interessierte und nebenbei kam er ihnen bekannt vor. Die Brüder wussten nur nicht mehr, wann und wo sie diesen Mann schon mal gesehen hatten.   „Gut.“, meinte der Offizier streng und ordnete die beiden im befehlenden Ton an. „Dann kümmert euch um mein Pferd. Absatteln braucht ihr ihn nicht, ich bleibe hier nicht lange. Schaut, ob seine Hufeisen in Ordnung sind und stellt ihn zum Trog mit Wasser. Heu braucht ihr ihm nicht zu geben, Wasser reicht für ihn vollkommen. Verstanden?“   „Ja, Monsieur.“ Armand befolgte mit seinem Bruder, was ihnen gesagt wurde. Besser gesagt, was ihnen befohlen wurde. Der Reisende missfiel allen beiden, aber er war eben ein Gast und sie mussten wohl oder übel sich um seine Belange kümmern. Denn die Gäste brachten ja Geld in die Gaststube und für die Versorgung ihrer Pferde ein. Wenn sie nichts tun würden, dann würden die Gäste nichts bezahlen wollen und das wäre nicht gerade gut für ihr Geschäft. Also lieber den Mund halten und ihre Aufgabe ordnungsgemäß verrichten. Jean würde ja nicht weglaufen und wenn der Reisende weg ist, dann gehörte der Knabe wieder ihnen und sie würden ihm schon eine Lektion erteilen, die er niemals vergessen würde.   Der Offizier beachtete die zwei nicht mehr und widmete sich wieder Jean. Sein Blick wurde etwas weicher und auch seinen Ton milderte er. „Also, Junge, wie heißt du und wer sind deine Eltern?“   Diesmal bekam er eine Antwort. „Jean... und ich habe keine Eltern.“   Die Augen des Mannes weiteten sich. „Jean? Und du hast keine Eltern?“, wiederholte er verwundert und als der Junge zustimmend nickte, klappte sich bei ihm der Mund auf. Sein Gesichtsausdruck wirkte auf einmal blass und als hätte er ein Geist gesehen, machte er einen Schritt von dem Jungen zurück. Dann schüttelte er fassungslos mit dem Kopf und wandte sich zum Gehen ab.   „Wartet, Monsieur!“, hielt Jean ihn auf, kaum dass er den Stall verließ. In ihm strömten so viele Fragen, die dieser Mann ihm vielleicht beantworten konnte. Er war der erste und der einzige Reisende, der ihn überhaupt wahrgenommen hatte.   Der Offizier blieb zwar stehen, aber drehte sich nicht um. „Du wartest hier auf mich und verlässt den Stall nicht!“, befahl er und marschierte eilends in die Gaststube.   Auf ihn im Stall warten? Aber das ging nicht. Er hatte doch so viele Fragen! Und was ist, wenn der Mann ihn vergisst? Dann würden seine Fragen niemals beantwortet! Nein, das dürfte nicht passieren! Jean machte einen Ruck, wollte dem Offizier nachlaufen, aber wurde unerwartet an den Haaren gepackt und zurück in den Stall geschleudert. „Wo willst du denn hin?“, spie Georges abfällig und trat nach ihm ein Mal. „Miste den Stall aus, sonst kannst du was erleben!“ Mit dem Wissen, dass der noble Reisende bald zurückkommen würde, schlug er nicht weiter und kehrte zu seinem Bruder zurück. Er füllte den Trog mit Wasser auf, während Armand die Hufe des Pferdes überprüfte und sie vorsichtshalber vom Dreck säuberte.   Jean nahm widerwillig den Besen wieder an sich, neben dem er vorhin auf einem Haufen Heu eingeschlafen war und machte sich zurück an die Arbeit. Sein Blick schweifte zwischendurch auf das graue Pferd des Offiziers und kurz nachdem er angefangen hatte, erklangen draußen die Hufschläge eines Pferdes. Ein Augenblick später betrat ein Mann den Stall. Diesen hatte Jean vor zwei Tagen gesehen. Ebenso Armand und Georges. Armand überließ die Versorgung des grauen Pferdes seinem jüngeren Bruder und ging dem Gast entgegen, um dessen Pferd zu nehmen. „Ihr seid es wieder, Monsieur.“ Das war eine Feststellung. Armand nahm das Pferd bei den Zügeln und tätschelte ihm den Hals. „Herzlich willkommen bei uns. Hat Euer Pferd erneut das Hufeisen verloren?“   „Nein. Aber überprüfen könnt ihr es trotzdem.“, knurrte der Mann wütend, der auch ein Offizier war, aber viel höher im Rang und Titel. „Gebt ihm nur Wasser! Füttern und absatteln braucht ihr ihn nicht. Ich beabsichtige dann gleich zu gehen.“, befahl er den Brüdern, schaute auf das graue Pferd des anderen Offiziers, zog seine Augenbrauen streng zusammen und durchbohrte anschließend Jean mit einem eisigen Blick. „Du kommst auf der Stelle mit mir mit!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)