Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 30: Ein freier Tag -------------------------- Sommer 1781   Graf de Girodel stieg auf dem Hof des Anwesens der de Jarjayes aus dem Sattel seines grauen Pferdes und richtete seine Uniform, bevor er in das Hauptgebäude rein ging. Die Sommerhitze machte ihm in der kompakten Uniform zu schaffen und sein langes, gelocktes Haar klebte ihm an den Schläfen und an dem Nacken auf der Haut, aber da musste er durch. Im Inneren des Hauses fühlte er sich auch nicht besser. Stickige Luft hing auch hier schwer. Er machte den Knopf des hochstehenden Kragens auf und atmete ein wenig freier.   Aus der Küche kam die Haushälterin Sophie. Sie trug ein, mit einer Schale frischem Obst, beladenes Tablett und grüßte ihn freundlich, als sie ihn sah. „Oh, Graf de Girodel, Ihr wollt sicherlich zu Lady Oscar?“   Victor begrüßte sie ebenfalls höflich. „Ganz recht, Madame Glace, und natürlich würde ich gerne auch mein Patenkind besuchen.“   Sophies Lächeln verschwand, aber nicht ihre Freundlichkeit. „Ich bedauere es Euch sagen zu müssen, aber Lady Oscar ist vor zwei Tagen in die Normandie gereist.“   „In die Normandie?“ Natürlich wusste Girodel, dass Lady Oscar ein Haus an der Küste besaß und dort oft ihre freien Tage verbrachte. Er war nur überrascht, weil sie ihm gegenüber nichts davon erwähnt hatte.“   „Ja, sie verbringt dort ihren Urlaub.“   Das war natürlich bedauerlich für Victor. Lady Oscar hatte für eine Woche Urlaub bekommen und weil er heute auch dienstfrei hatte, wollte er ihr einen Besuch abstatten. „Ganz alleine?“   „Natürlich nicht, Monsieur.“, erklärte Sophie. „André, Rosalie und François sind mitgekommen.“   „Verstehe.“, seufzte Victor. Natürlich. Wie hätte er nur denken können, dass Lady Oscar alleine abreisen und ihren Urlaub verbringen würde. Vor allem, nachdem sie sich mit André letztes Jahr versöhnt hatte. Seit Graf von Fersen letztes Jahr nach Amerika aufgebrochen war, schien Lady Oscar aufzublühen und auch André sah glücklicher aus. Das hieß, dass sie beide wieder ein Liebespaar waren. Diese Feststellung hatte Girodel einerseits bedrückt, aber andererseits war es besser so. Denn François, obwohl er noch ein kleines Kind war, hatte die stumme Auseinandersetzung seiner Eltern am meisten getroffen. Als er dann wieder glücklicher aussah, erfuhr Girodel von ihm auch den Grund: Seine Eltern sprachen wieder miteinander und lachten wieder wie früher. Girodel hatte sich davon selbst überzeugt, indem er die heimlichen Liebesblicke zwischen den beiden bemerkte.   „General de Jarjayes ist aber von seiner Dienstreise zurückgekehrt und befindet sich auf seinem Kontor.“, meinte Sophie, nachdem sie den ein wenig enttäuschten Gesichtsausdruck des Grafen bemerkte. Damit er nicht umsonst gekommen war, schlug sie ihm vor: „Wenn Ihr möchtet, kann ich ihn von Eurem Besuch unterrichten.“   „Das wäre sehr nett, danke.“ Wenn er schon Lady Oscar oder sein Patenkind nicht antreffen konnte, dann würde ihm wenigstens eine kleine Unterhaltung mit dem General auch nicht schaden. Seinen dienstfreien Tag wollte er ja schon etwas in Gesellschaft verbringen und sich nicht ganz alleine in seiner Wohnung in Paris die Zeit vertreiben. Zumal, da der General von der Dienstreise zurück war, gab es bestimmt etwas zu erzählen. Victor folgte Sophie und hielt ihr sogar die Tür zum Kontor des Generals nach dem Anklopfen auf.   „Danke, Sophie.“, hörte er dessen Stimme, als die Haushälterin das Tablett auf einem Tisch abstellte.   „Ach ja, Graf de Girodel steht gerade vor der Tür und wünscht...“, begann Sophie, aber wurde vom General de Jarjayes unterbrochen. „Dann lass ihn herein.“   „Jawohl.“ Sophie ging und an der Tür sagte sie: „Ihr dürft eintreten, Graf.“   „Danke.“ Girodel kam herein und salutierte, woraufhin Reynier mit der Hand abwinkte. „Erspart Euch das, Graf, wir sind nicht am Hofe. Was führt Euch zu mir?“ Er schenkte Wein, der auf dem Tisch stand, in zwei Gläser ein. In seinem Kopf entstand dabei das Bild eines kleinen Jungen in schäbigen Kleidern, mit mageren Körperbau und der nicht älter als François war. Ein ganz gewöhnliches Bauernkind und doch hatte er etwas an sich, was Reynier nicht vergessen konnte: Der eisige Blick seiner blaugrünen Augen, der einem einen kalten Schauer durch den Körper jagte. Der Junge erinnerte ihn stark an jemanden, aus dem er einen hartherzigen und emotionslosen Soldaten gemacht hatte. Aber dazu später. Graf de Girodel war gerade erst angekommen.   „Nichts besonderes.“, meinte derweilen Victor, lockerte seine Haltung und kam näher. „Ich wollte eigentlich Lady Oscar besuchen, aber kam anscheinend zu spät.“   Reynier war es in all den Jahren, seit François gefunden wurde, dessen Besuche bei seiner Tochter nicht entgangen. Der Graf war jung, etwa an die dreißig Jahre alt, und diente Oscar schon seit zwölf Jahren als Untergebener in der königlichen Garde. Vielleicht empfand er etwas für sie, aber traute es sich nicht zu sagen? Verdenken würde ihm General das selbstverständlich nicht. Oscar war zu einer schönen Frau herangereift und Graf de Girodel wäre nicht der einzige Mann, der sie gerne zu Frau genommen hätte. Allerdings hatte Reynier seine Tochter für das Leben eines Mannes bestimmt und das wusste jedermann am Hofe von Versailles und auch außerhalb. „Lasst uns uns hinsetzen“, lud der General den jungen Grafen ein und reichte ihm ein Glas Wein.   „Danke.“ Girodel nahm gerne die Einladung an, ebenso wie das Glas und setzte sich auf einem der gepolsterten Stühle hin. „Ich hörte, Ihr seid von Eurer Dienstreise zurück?“   „Ja, schon seit gestern und warte auf den nächsten Auftrag des Königs.“ Reynier beliebte es jedoch, stehen zu bleiben. Er hob sein Glas zum Prost und trank einen Schluck. Dabei dachte er wieder an den Bauernjungen mit den durchdringenden blaugrünen Augen. Er hatte kurz geschorenes, lockiges und dreckiges Haar, das vielleicht dunkelblond sein könnte, wenn es gewaschen sein würde. „Es ist schon seltsam ruhig hier, seit das Findelkind nicht mehr auf dem Anwesen ist.“   „Ihr sprecht bestimmt von François?“ Girodel schmunzelte, als er an sein Patenkind dachte. Er musste zugeben, dass er den Jungen vermisste.   „Ja, und ich muss jetzt oft an ihn denken.“ Reynier verstummte kurz, sah den Grafen eindringlich an und fügte hinzu: „Oder besser gesagt an das Kind, das ihm sehr ähnlich sah.“   „Was meint Ihr?“ Girodel sah verwundert drein. Er verstand den General nicht und doch breitete sich ein mulmiges Gefühl in ihm aus.   War das wirklich so, besagte der Blick des Generals. Also gut, dann würde er es ihm erklären. „Auf dem Ritt zurück von meiner Dienstreise, nicht einmal zwei Stunden von meinem Anwesen entfernt, verlor mein Pferd sein Hufeisen. Zum Glück war ich in der Nähe eines Dorfes und während mein Pferd beschlagen wurde, sah ich dort einen kleinen Jungen. Er erinnerte mich sehr an François und war genauso alt wie er.“   „Was sagt Ihr?“ Girodel verschluckte sich beinahe an dem Wein. Was für ein Dorf war das? Doch nicht etwa, wo... Ihm blieb fast das Herz stehen. Bilder der Vergangenheit suchten ihn heim, die er seit der Geburt von François verdrängt hatte. Ein neugeborenes Wesen, das kaum atmete, wurde von der Frau des Wirtes aus dem Gasthof in ein anderes Haus getragen. Er erinnerte sich nicht mehr an ihren Namen, aber dafür an das Geschehene:   „War das ein Kind? Hat Lady Oscar zwei Kinder auf die Welt gebracht?“, hatte er die Frau gefragt und sie hatte ihn angefleht. „Monsieur, habt bitte Erbarmen... Sie weiß nichts von dem zweiten Kind, das schwöre ich Euch!“   Girodel hatte natürlich zu solchen Dieben kein Erbarmen und hatte die Frau sogar grob gepackt. „Ihr werdet das Kind sofort holen und es Lady Oscar zurück bringen! Warum habt Ihr es ihr überhaupt weggenommen?!“, hatte er nach einer Erklärung von der Frau des Wirtes verlangt und auch bekommen. „Weil es nur ein paar Stunden leben wird! Sie war so glücklich… Sie und ihr Mann, dass sie nichts mitbekommen haben.“   General de Jarjayes beobachtete jede Regung des Grafen und merkte sofort, wie dessen Gesicht eine blasse Farbe annahm. Das war äußerst verdächtig. „Wo habt Ihr und Oscar denn das Kind vor sechs Jahren überhaupt gefunden?“, wollte er von dem jungen Mann wissen. Mit anderen Worten, vielleicht hatte François dort seine Wurzeln und das Kind, das er gesehen hatte, war eines seiner Brüder.   Victor überhörte seine Frage. Er nahm nicht einmal wahr, dass der General etwas gesagt hatte. In ihm kreiste noch immer der Tag, an dem Lady Oscar ihren Sohn auf die Welt gebracht hatte. Eigentlich zwei. Aber der andere war doch dem Tode geweiht! Das hatte ihm die Frau des Wirtes versichert und dann hatte er den Schrei eines Neugeborenen gehört, das nicht von François stammte. War er etwa doch angelogen worden? Hatte das zweite Kind von Lady Oscar womöglich doch überlebt? Um die Antworten zu finden musste er unbedingt in dieses Dorf! Victor stellte sein Glas auf dem Tisch ab und erhob sich vom Stuhl... „Ihr entschuldigt mich, General, ich habe vergessen, dass ich heute noch etwas zu erfüllen habe.“   Reynier zog stutzig seine Augenbrauen zusammen, aber sagte nur: „Geht nur, Graf, ich will Euch keineswegs von Euren Pflichten abhalten.“   Girodel salutierte und verschwand blitzschnell aus dem Kontor. General de Jarjayes ging ans Fenster und sah zu, wie wenige Augenblicke später Graf de Girodel auf den Hof rannte, sein Pferd bestieg, das die ganze Zeit von einem Stalljungen an den Zügeln gehalten wurde und eilends durch das Eisentor galoppierte. Wohin nur? Und was hatte es mit dem Jungen auf sich, den er gesehen hatte? Reynier verließ sein Kontor und draußen auf dem Hof verlangte er nach seinem Pferd. Er bekam das miserable Gefühl, das hier etwas vor ihm verheimlicht wurde. Nicht nur vom Graf de Girodel, sondern womöglich auch von Oscar und André. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)