Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 6: Auftrag ------------------ Nacht, silberner Schein des Mondes, die vertraute Umgebung in ihrem Zimmer auf dem elterlichen Anwesen und natürlich die Anwesenheit ihres Geliebten. Aber weder an die Liebe noch an einer Umarmung war zu denken. Beide standen nebeneinander auf dem Balkon und ihre Gemüter waren angespannt. André sagte genau das, was auch in ihr vorging. „Ich mache mir Sorgen. Wie soll es weitergehen? Der Gesundheitszustand seiner Majestät ist ernst.“   Oscar stimmte ihm mit einem stummen Nicken zu. Der König war vor wenigen Tagen bei der Jagd vom Pferd gestürzt und plagte über heftige Kopfschmerzen. Ja, die Lage war ernst und am Hofe von Versailles bereitete man sich schon auf das Schlimmste vor. Zu recht. Am nächsten Tag, während Oscar und André das Anwesen der de Jarjayes auf ihren Pferden verließen, preschte ihnen Graf de Girodel entgegen und berichtete mit Schreckensmiene, dass der König in der Nacht die Pocken bekommen hatte. Ab fortan durfte ihn niemand mehr außer den Ärzten am Krankenbett besuchen. Vor allem der Thronfolger und die Kronprinzessin nicht. Die Ansteckungsgefahr war zu groß und man wollte ja nicht nach dem König, wenn dieser sterben sollte, auch gleich dessen Nachfolger verlieren. Wer würde dann über Frankreich regieren? Die Zukunft des Landes wäre dann sicherlich ungewiss.   Viele der Höflinge versammelten sich in vereinzelten Grüppchen und berieten sich darüber, ihre Loyalität bereits dem Enkel des Königs und dessen Nachfolge auf dem Thron zu geben. Oscar rastete beinahe vor Wut aus. Anstelle für die Gesundheit des Königs zu beten, auch wenn das hoffnungslos schien, machten sie schon darüber Pläne, wie sie ihre Macht festigen konnten! Wenn André nicht an ihrer Seite wäre, dann hätte sie dem einen oder anderen das Maul gestopft. Aber so beherrschte sie sich krampfhaft und schluckte ihre Wut herunter.   Am 10. Mai 1774 machte der König seine letzten Atemzüge und als sein Tod bekannt wurde, erstürmte der gesamte Hofstaat die Gemächer von Marie Antoinette und ihrem Gemahl Ludwig, um das neue Königspaar zu huldigen. Oscar konnte kaum an sich halten und geriet in Weißglut. „Der König ist tot, lang lebe der König? Wir haben dem Verstorbenen noch nicht mal die letzte Ehre erwiesen und schon feiern sie den nächsten!“ Das war doch kaum zu fassen! Was erlaubten sich diese selbstsüchtigen und verkommenen Günstlinge?!   Graf Victor Clement de Girodel, der neben ihr stand und dem ganzen Spektakel zuschaute, sagte: „Das ist ein selbstsüchtiges Pack, aber das ist eine weitverbreitete Schwäche unter den Menschen. Ein Tag vergeht und der neue kommt. Was heute blüht, wird morgen verwelken. Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns an der Sonne des heutigen Tages zu wärmen.“ Er entriss den Blick von dem heuchelnden Hofstaat, dessen Ansturm auf die Gemächer des zukünftigen Königspaares nicht aufhörte, und warf einen Blick zu Oscar. Ihr Gesicht überzog sich bereits mit rötlicher Farbe des Zornes und es kam ihm so vor, dass ihre himmelblauen Augen Blitze in Richtung der Menschenmenge schleuderten. Er seufzte in sich hinein. Vor etwa zwei Wochen, nach dem Unfall der Kronprinzessin und dem Vorfall mit dem durchgegangenen Pferd, hatte er sich große Sorgen um sie gemacht. Als sie dann wieder in Versailles war, hatte er sich zwar über ihre Wiederkehr gefreut, aber seine Sorge und Kummer vergingen dadurch nicht. Denn Lady Oscar schien aufgeblüht zu sein und wenn sie im Verborgenen mit André Küsse austauschte, kam sie ihm noch weiblicher, reifer und schöner vor. Bei dem Gedanken, dass sie und André in den Tagen ihrer Genesung auf dem Anwesen der de Jarjayes womöglich ihre Liebe in vollen Zügen ausgekostet hatten, drehte ihm den Magen beinahe um. Eifersucht war eine grässliche Sache, die ihn nicht nur quälte und nachts schlechte Träume bescherte, sondern trieb in ihm auch die Mordlust. Wie oft hatte er sich bereits vorgestellt, André zu beseitigen und es als Unfall aussehen zu lassen? Sehr oft. Jedes Mal, nachdem André die Gemächer von Lady Oscar verlassen hatte und glückselig vor sich hin lächelte, überkam ihm der Drang seinen Dolch zu zücken und ihn hinterhältig niederzustechen! Aber das konnte er zu seinem Leidwesen nicht, weil er begriff, dass Lady Oscar ihren Gefährten ernsthaft liebte und würde jeden zur Rechenschaft ziehen, der André etwas antun würde. Victor erinnerte sich noch genau, wie sie sogar dem König die Stirn geboten hatte, als dieser André für den Unfall der Kronprinzessin beschuldigte und ihn hinrichten lassen wollte. Nun war dieser König gerade gestorben, aber es würde sicherlich nichts an der Liebe zwischen Lady Oscar und André ändern. Somit würde sich auch an seinem Liebeskummer und düsteren Eifersucht nichts ändern. Jedoch alles stillschweigend zu ertragen und sein Herz zu quälen, würde er nicht länger mitmachen. Im Gegensatz zu André, war er ein Graf, besaß Rang und Titel, und hatte Lady Oscar mehr zu bieten! Vielleicht sollte er mit General de Jarjayes und dem neuen König über sie sprechen und anfragen, ob er sie heiraten durfte? Das wäre eine sehr gute Idee und er würde dann ihr anstelle von André die Liebe schenken können! Allerdings nicht jetzt, wo in Versailles gerade Trubel herrschte und sicherlich bald die Vorbereitungen zu der Krönung des neuen Königspaares beginnen würden. Victor schwor sich, noch ein wenig abzuwarten und nach der Krönung seine Idee in die Tat umzusetzen.   In derselben Nacht wurde der verstorbene König beigesetzt. Aufgrund der Ansteckungsgefahr von Pocken wurde er nur von Soldaten zu letzter Ruhe gebettet und ab den nächsten Tag schien man ihn vergessen zu haben, denn die Menschen bejubelten bereits eifrig das neue Königspaar.   Die Krönung des neuen Königs wurde auf 11. Juni 1775 in Reims festgelegt und Oscar bekam bis dahin einen Auftrag: Sie sollte zusammen mit ihrem Untergebenen, Graf de Girodel und ihrem Gefährten André die wichtigsten Städte Frankreichs bereisen. General de Jarjayes, der mit seiner Tochter, Graf de Girodel und André ebenfalls im Audienzsaal seiner Majestät anwesend war, glühte vor Stolz, während Ludwig XVI seinen Satz beendete: „Ich würde begrüßen, wenn Ihr mir nach Eurer Rückkehr über die Lage Frankreichs berichten könnt.“   „Zu Befehl, Euer Majestät.“ Oscar verneigte sich tief. Ihr Kopf arbeitete jedoch. Sie sollte Frankreich bereisen? Aber warum ausgerechnet sie? Die neue Königin brauchte sie doch gerade jetzt am meisten! Dennoch, entgegen ihren sausenden Gedanken erwiderte sie beherrscht: „Wann sollen wir aufbrechen?“   „Das überlasse ich Euch, Lady Oscar. Mir ist nur wichtig, dass Ihr und Eure Gefolgsmänner bis zu meiner Krönung zurück seid.“, meinte der neue König und entließ Oscar zusammen mit André, ihrem Untergebenen Graf de Girodel und ihrem Vater aus dem Saal.   „Das ist ein sehr großer Auftrag und ich bin mir sicher, du wirst es mit Bravour meistern, Oscar.“, schwärmte der General und klopfte beglückwünschend seiner Tochter auf die Schulter. „Aber komme erst einmal in mein Kontor und schau dir die Landeskarte an, die wirst du auf dem Weg brauchen.“ Reynier warf einem Blick zurück. „Das gilt auch für euch, Graf de Girodel und André.“   „Jawohl, General.“, sagten beide im Chor und während André etwas verlegen seinen Blick senkte, schaute Girodel ihn von der Seite an. Victor konnte sich noch immer nicht damit abfinden, dass dieser einfacher Bursche, ohne Rang und Titel, Lady Oscars Herz erobern haben sollte. Bedauerlicherweise konnte er zurzeit nichts gegen ihn unternehmen, außer Zeuge deren Liebeleien irgendwo im Garten von Versailles und bei abendlicher Dunkelheit zu sein. Das schmerzte ihm jedes Mal tief im Herzen, aber bald würde er nicht mehr leiden brauchen. Nächstes Jahr würde er um Lady Oscar werben und den Nebenbuhlern verdrängen. Er würde Andrés Platz einnehmen und selber Lady Oscar anstatt André jede Nacht küssen, ihren Körper berühren und sie lieben. Ach, wenn es schon soweit wäre ...   „Graf de Girodel, habt Ihr verstanden?“ Die eisige Stimme von Lady Oscar drang an sein Gehör wie aus der Ferne und holte ihn in die Realität zurück. „Verzeiht, Kapitän.“, murmelte er ein wenig verdattert und gab Oscar damit zu verstehen, dass er nichts von der Unterhaltung zwischen ihr und ihrem Vater verstanden hatte.   Es gefiel Oscar nicht, wie Girodel ihren Geliebten von der Seite angestarrt hatte. Ahnte er etwas? Aber das wäre unmöglich, denn André und sie waren stets darauf bedacht, von niemanden gesehen zu werden. Auf jeden Fall würde sie ihren Untergebenen auf der Reise durch Frankreich beobachten müssen. „Wir werden zum ersten Juni aufbrechen und bis dahin haben wir genug Zeit, um alles Nötige für die Reise vorzubereiten.“, wiederholte sie und schaute Girodel noch strenger an.   Victor konnte ihrem messerscharfen Blick nicht lange standhalten und senkte sein Haupt. „Jawohl, Kapitän.“ Dabei dachte er an ihre andere Tonlage, die viel sanfter und lieblicher klang. Zwar hatte sie das nur zu André in ihrer verborgenen Zweisamkeit gesprochen, aber Victor stellte sich vor, dass ihre Liebesworte für ihn galten.   Oscar schaute wieder nach vorn und sprach mit ihrem Vater. „Wir werden bestimmt nicht in ein oder zwei Monaten zurückkommen können.“ Natürlich behielt sie das seltsame Verhalten von Graf de Girodel im Hinterkopf. André und sie würden wohl auf der Reise durch Frankreich noch achtsamer sein müssen und sich nur dann lieben, wenn das Verlangen nach Liebe nicht auszuhalten sein würde.   „Das macht nichts.“, hörte Oscar ihren Vater auf ihre Feststellung sagen und schenkte ihm ihre Aufmerksamkeit. „Je gründlicher du vorgehst, desto besseren Eindruck wirst du machen und vielleicht wird man dich danach sogar befördern.“, beendete der General mit Inbrunst und stolz geschwellter Brust.   Sie erreichten langsam seine Privatgemächer, die er hier in Versailles bewohnte und dort, auf einem Salontisch, legte er eine Landeskarte von Frankreich hin. Es gab insgesamt 39 Provinzen in Frankreich und Reynier zeigte Oscar und ihren Gefolgsmännern die Route, wie sie am besten reisen sollten:   Von Paris aus nach Rouen in der Normandie, danach Rennes in der Bretagne, Le Mans in der Grafschaft Maine, Orléans in dem Orléanais, Tours in der Touraine, Angers in Anjou, Poiteres in dem Poitou, La Rochelle in dem Aunis, Saintes in der Saintonge, Angouleme in dem Angoumois, Bordeaux in der Aquitaine, Pau in dem Béarn, Toulouse in dem Languedoc, Foix in der Grafschaft Foix, Perpignan in Roussillon, Avignon in der Grafschaft Venaissin, Aix-en-Provence in der Provence, Nizza in der Grafschaft Nizza, Ajaccio auf der Mittelmeerinsel Korsika, Grenoble in der Dauphiné, Chambéry in Savoyen, Lyon in dem Lyonnais, Clermont-Ferrand im Herzogtum Auvergne, Limoges in dem Limousin, Guéret in der Marche, Bourges in dem Berry, Moulins in dem Bourbonnais, Nevers in dem Nivernais, Dijon in dem Burgund, Besancon in der Franche-Comté, Montbéliard in der Grafschaft Mömpelgard, Mülhausen im Elsass (Teil der Schweiz, der alten Eidgenossenschaft), Straßburg im Elsass, Nancy im Lothringen, Troyes in der Champagne, Lille in Flandern, Arras in dem Artois und Amiens in der Picardie. 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