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Ein Austausch mit Folgen

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich möchte kurz anmerken, dass ich mich bei den Duellregeln jetzt, wie auch später, für eine sehr vereinfachte Form, angelehnt an die erste Staffel des Animes, entschieden habe. Bei haargenauer Ausführung, wäre die Story unnötig aufgebläht, und würde meiner Meinung nach auch die Immersion und den Lesefluss stören. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Mal wird es zu einer Art Austausch zwischen Mei und dem Protagonisten kommen.

Für alle, die rein auf Boys Love spekulieren, ist dieses Kapitel eher wenig angedacht. Es wird eine von zwei Ausnahmen bilden, die essentiell für den späteren Plot sein werden. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich möchte mich an dieser Stelle einmal für die breite Leserschaft bedanken, welche, auch ohne Kommentar, meine Fanfic verfolgt.

Den beiden Usern, die diese Fanfic auf ihre Favoritenliste gesetzt haben, gilt ein besonderer Dank.

Es macht mir wirklich sehr großen Spaß zu schreiben, mich hineinzuleben und ein wenig abgelenkt zu sein, von Studium und privaten Dingen.

Euer reges Interesse, und die Teilnahme an der Entwicklung, bestärken mich immer wieder, meine Gedanken kreisen zu lassen, geistig die Kapitel durchzugehen, und, und, und...

Viel Spaß mit dem nachfolgenden Kapitel! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Mal wieder ein Kapitel, welches sich vorwiegend ums Duellieren dreht.

Ich hoffe, der Gedanke hinter den einzelnen Zügen ist zumindest so nachvollziehbar, wie im Anime. (Was manchmal sehr schwierig ist, ich weiß).

Tut mir Leid, dass es bis zum nächsten Kapitel so lange gedauert hat, aber ich hatte diese Woche an der Uni eine relativ wichtige Prüfung, und nächste Woche noch einmal eine.

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Da du so fleißig kommentierst, liebe Satra0107, genauso wie mir die Statistik verrät, dass viele Leute aktiv auf meine FF zugreifen, und ich bereits einige Kapitel weiter bin, habe ich gedacht, entgegen meines eigentlichen Rhythmus´, das Duell mit Pegasus gleich jetzt zu posten.

Ich wünsche allen Spaß beim Lesen, und möchte auf das Nachwort verweisen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Mal ein sehr dialoglastiges Kapitel, welches durch eine ganze Reihe von Fragen und deren Beantwortung geprägt ist.

Damit ist das Kapitel "Königreich der Duellanten", für die Weihnachtszeit, abgeschlossen.

Trotz fehlender Action hoffe ich, dass euch dieses eher gemäßigte Kapitel, nach den aufregenden Vorläufern, zusagt, und gefällt.

Einen schönen Start in die neue Woche - wobei wir es ja schon Dienstag haben. ;D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Das Duell ist vorbei, und die Heimkehr steht an - nicht ohne einige Überraschungen.

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses eine Kapitel möchte ich Puppenspieler widmen.

Liebe Mei! Auch wenn du aus Yu-Gi-Oh rausgewachsen sein solltest, so hast du mich doch dazu inspiriert. Meine Finger sind über die Tasten geflogen, und unter dem Schreiben ist die Situation entstanden. Als es am Schönsten war, habe ich dann den Schnitt gemacht, und bin wieder in die Gegenwart zurückgekehrt! Danke! <3

Ein großes Dankeschön möchte ich an dieser Stelle auch Saibankan aussprechen: Irgendwann, werde ich mich im Gegenzug fürs Gegenlesen einmal revanchieren und mich durch deine FF auf Englisch kämpfen, versprochen! :D Danke, dass du mir immer ein Feedback gibst, und vor allem ehrliche Kritik. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich habe im Nachwort das beschriebene Bild verlinkt und die Beschreibung bewusst kurz gehalten, da so die Fantasie angeregt wird, und erst gegen Ende eine "Auflösung" angefüg. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bei diesem Kapitel handelt es sich um einen Rückblick aus Kaibas Perspektive, der sich Gedanken über seine eigenen Worte macht, und darüber, wann ihm seine eigene Schöpfung ein Stück weit entglitten ist.

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, das Wichteln ist vorbei, und ich habe wieder mehr Zeit, mich mit dem Schreiben zu beschäftigen.

Dieses Kapitel handelt von einem interessanten Gespräch, das vielleicht sehr große Wellen schlagen könnte. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Mal ein Kapitel abseits vom Protagonisten, in Richtung Joey hin, der sich mit Yugi in der Mall trifft, während David beim Essen mit Joeys Mutter ist.

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein zweites Kapitel aus Joeys Sicht, bzw. ein Stück aus Joeys Vergangenheit.

Viel Spaß beim Lesen. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leute,

Es ist echt getan. Die 200.000 Wörtermarke wurde geknackt. Ich hätte mir nie gedacht, dass die FF so ausufernd werden würde, und auch ein wenig Abseits der Duel Monsters Handlung bieten könnte.

Es war ein Heidenspaß bisher, der aber auch seine Schattenseiten hatte. Schreibblockaden haben mich erfasst, und teilweise zu Monaten voller Untätigkeit gezwungen. Das scheint aber der Vergangenheit anzugehören (hoffentlich auf Dauer).

Ein großes Dankeschön an alle Leser, jenen Leuten, die mir einen Favoriteneintrag dagelassen haben, sowie den Kommentatoren (besonders Satra0107), und meinen Mädels, die mich privat immer wieder aufgebaut und ermutigt haben ;).

Ich hoffe das neue Kapitel gefällt euch, und ihr habt Spaß daran; ich hatte ihn, zweifelsohne.

Einen schönen Start in die neue Woche allen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, das wohl mit Abstand komplizierteste Duell bisher. Ich habe das Deck von Lumis und Umbra bewusst angepasst, da es sich bei Davids Deck um starke Monster handelt, und sie immer mit der Angst leben müssten, dass er den Königlichen Erlass zieht, der sämtliche Fallenkarten blockiert. Ergo war es, in meinen Augen, besser, selbst einige starke Supermonster zu erschaffen, die im Zweikampf die Monster der Anderen ausschalten können.

Der Verständlichkeit halber, habe ich bei den meisten Monstern die Angriffspunkte kurz in einem Satz erwähnt. Der Zauberer der Zeit kostet die Hälfte der Angriffspunkte sämtlicher Monster auf dem Feld, für den jeweiligen Spieler (so war es zumindest im Anime), wenn man beim Zeitroulette verliert.

Gilford Der Blitz ist Joeys mächtigstes Monster. Dessen Spezialeffekt beläuft sich darauf, dass sämtliche Monster zerstört werden (wenn er mittels Opferung von Monstern beschworen wird). Da ich die Regeln an Staffel 1 angelehnt habe (der Einfachheit halber), fällt das Opfern weg.

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, jetzt ist die große Überraschung, die eigentlich keine gewesen ist, raus:

Kaiba hat sich die Götterkarte geschnappt, nach der er noch mehr gelechzt hat, als nach Obelisk. Yugi und Slifer sind ein Team. Damit blieb Obelisk der Peiniger übrig.

An dieser Stelle findet eine Änderung statt, die auch schwer zu übersehen ist...

Ich habe wirklich teilweise mit zitternden Fingern geschrieben, je näher ich diesem Kapitel gekommen bin, da ich es vorher nicht verwenden konnte/durfte, um nicht zu spoilern.

Ich werde mich noch einmal ausführlich bedanken, aber meine gute Fee weiß bereits, wie sehr ich mich gefreut habe. :) Komplett anzeigen

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Ein schicksalhaftes Duell

Mein Name ist David. Ich bin 17 Jahre alt und komme aus Österreich. Gute Noten, und ein großes Interesse an der asiatischen Kultur, haben mich dazu bewogen, ein Austauschjahr in Japan zu absolvieren, genauer gesagt in Domino City. Bei uns boomte das Kartenspiel Duel Monsters, welches ursprünglich aus dem Land der aufgehenden Sonne stammte, genauso wie im Herkunftsland. Ich liebe Duelle, und freute mich darauf, sowohl Japan, als auch die dortigen Gebräuche, Eigenheiten und vor allem Duel Monsters selbst, genauer begutachten zu dürfen. Ich bin 1, 68 m groß, sportlich, besitze dunkelblondes, kurzes Haar und graugrüne Augen. Mein Teint ist eher mit bleich zu beschreiben. Ich bin offen, warmherzig, ehrlich und vor allem neugierig. So war es nur eine Frage der Zeit, bis ich an Yugi und seine Clique, aber auch an Seto Kaiba geraten würde.
 

Ich war also an der Domino High angekommen. Meine blaue Schuluniform hatte ich vorsorglich mehrmals gebügelt und auf ihren korrekten Sitz geprüft. Ich wusste, dass in japanischen Schulen sehr viel Wert auf korrektes und adrettes Auftreten gelegt wurde. Außerdem war und bin ich selbst noch immer sehr akkurat, was mein Äußeres betrifft. So betrat ich, gut gelaunt, fast schon ein wenig euphorisch, mit kurz geschorenen, an den Spitzen hochgelegten Haaren, meine neue Schule. In meiner Heimat hatte ich an unserer Lehreinrichtung bereits vier Jahre Japanisch als Freifach belegt, so war es mir möglich, mich einigermaßen zu verständigen. Die Domino High war deutlich größer und auch belebter als meine eigene Schule. Schnatternde Schülergruppen tummelten sich auf dem Schulhof. Mir schenkte man keine Beachtung. Ich war wohl zu unauffällig. Jedenfalls betrat ich lockeren Schrittes das Schulgebäude, meinen Rucksack geschultert. Nach kurzem Suchen fand ich auch das Sekretariat, wo ich mich anmeldete. Ein gewisser Herr Yamamoto, ich schätzte ihn auf ungefähr 50 Jahre, lächelte mir freundlich entgegen. Sein weißes Hemd spannte am Bauch ein wenig, und die Krawatte wirkte etwas zu eng, als dass sie bequem sein konnte. Nichtsdestotrotz bemühte er sich sehr um mich und war ausgesprochen nett. Nach meiner Anmeldung wurde mir die Klasse 7b zugewiesen und mir ein Stundenplan ausgehändigt. Mit einer kurzen Wegbeschreibung und besten Wünschen für das kommende Jahr, seitens Herrn Yamamoto, machte ich mich auf den Weg zu meiner Klasse. Dort angekommen öffnete ich die Türe und musterte meine neuen Mitschüler.
 

Zirka 20 Mädchen und Jungen lümmelten auf den Tischen herum, quatschten mit ihren Sitznachbarn oder tippten auf ihren Smartphones. Mein Interesse weckte aber eine Gruppe, welche ein Duel Monsters-Spielbrett ausgebreitet hatte, und sich augenscheinlich duellierte. Um zwei Jungen, wobei ich den Kleineren deutlich jünger schätzte als mich, den anderen, etwa gleich alt wie ich, hatte sich eine Traube an Leuten versammelt. Einer von ihnen war schwarzhaarig, mit einem sehr gewagten, zackigen Haarschnitt, tiefgrünen Augen und einem Würfelanhänger im Ohr. Neben ihm stand ein Mädchen mit braunen, kurzen Haaren, blauen Augen, schlanker Figur und einem breiten, warmen Lächeln auf den Lippen. Neben ihr beobachtete ein Schrank von einem Kerl, verglichen mit meiner Wenigkeit zumindest, ebenfalls mit braunen Haaren, einer nach oben gegelten, spitzigen Frisur und verschränkten Armen das Spiel. Zu guter Letzt wurde die Gruppe durch einen weißhaarigen Jungen komplettiert, welcher hinter dem größeren, blonden Teenager stand und ihm irgendwelche Anweisungen zu geben schien.
 

„ Ah halt die Klappe Bakura, ich kann das selbst!“ Der Blonde starrte konzentriert auf das Blatt in seinen Händen und schien angeregt zu überlegen. „Mensch Joey, was ist los? Du hast weder Fallen noch Zauberkarten auf dem Feld, und mein schwarzer Magier ist noch immer im Schutz der Zauberhüte gut versteckt.“ Der kleinere Junge, mit einer waghalsigen Frisur, einem Mischmasch aus blond, pink und schwarz, starrte auf seinen Kontrahenten, den er Joey genannt hatte, und schüttelte den Kopf. Seine zierliche, fast schon kindlich anmutende Figur wurde durch einen verschmitzten, kalkulierenden Blick kompensiert, welcher mich an meiner Einschätzung bezüglich seines Alters zweifeln lies. „So? Dann pass mal auf Yugi...Schwarzer Rotaugendrache im Angriffsmodus. Dazu rüste ich ihn mit den Drachenklauen aus, was seine Angriffspower auf 3.000 Punkte erhöht. Damit ist er stärker als dein Schwarzer Magier. Und jetzt greife ich den ganz rechten Hut an.“ Lächelnd und vor allem neugierig näherte ich mich dem Grüppchen, wobei ich aber noch immer darauf achtete, den notwendigen Abstand zu wahren. Yugi schüttelte nur lächelnd den Kopf: „Damit hast du meine Fallenkarte, Macht des Spiegels aktiviert. Dein Angriff wird auf dein Rotauge umgelenkt, und zerstört ihn. Mein schwarzer Magier verlässt nun den Schutz der Zauberhüte und greift deine Lebenspunkte direkt an. Du hast verloren.“ Ungläubig starrte Joey auf das Spielbrett. Die Gruppe um die beiden Duellanten brach in ein grölendes Gelächter aus. Der große braunhaarige Kerl klopfte Joey auf die Schulter: „Nächstes Mal bestimmt, Joey.“ Das Mädchen lächelte nur, während der schwarzhaarige und der weißhaarige Junge jeweils ein schiefes Grinsen aufgesetzt hatten.
 

Die Türe hinter mir öffnete sich, und ein junger Mann, braunhaarig, schlank, groß und mit einem Blick, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte, betrat die Klasse. In der rechten Hand hielt er eine Schultasche, während die linke sich in seiner Hosentasche befand. Wortlos ging der Fremde an mir vorbei, zu dem Grüppchen, welches offensichtlich zusammengehörte. „Na, Wheeler? Mal wieder verloren? Was war es diesmal? Hast du dir selbst ein Bein gestellt, oder hat Muto dich mit einem seiner Taschenspielertricks ausgebootet?“ Auf den Zügen des Braunhaarigen erschien ein süffisantes Lächeln, und seine Stimme triefte nur so vor Hohn und Spott. „Ah halt du dich da raus, Kaiba. Wer von uns beiden hat es ins Finale geschafft, du oder ich?“ Joey war wutentbrannt aufgesprungen, die restlichen vier Karten noch immer in der rechten Hand haltend. „Wer von uns hat zu meinen Füßen gekauert, wie das Schoßhündchen, welches er ist, hm? Dich zu besiegen ist ungefähr so schwierig, wie einem Kleinkind den Lutscher abzunehmen, wobei…“ Das Grinsen wurde noch ein wenig spitzer und seine Tonlage so abwertend, dass sich in mir alles zusammenzog. „Ich glaube ja, dass ein Kleinkind mehr Wiederstand leistet als du, Wheeler, oder sollte ich dich besser Köter nennen?“ Mit einem hämischen Gesichtsausdruck ließ Kaiba den tobenden Joey hinter sich und spazierte seelenruhig auf seinen Platz. „Irgendwann…“ knurrte Joey, während er sein Deck zusammenraffte. „Mach dir da mal keinen Kopf, Joey. Kaiba ist auch nicht unbesiegbar, außerdem hast du dich heute sehr gut geschlagen.“ Der Schwarzhaarige mit dem Würfelohrring klopfte ihm auf die Schulter und begab sich dann auf seinen Platz, genau wie es der Rest, mit Ausnahme von Yugi, Joey,und dem braunhaarigen Schrank, tat. Zögernd trat ich näher und räusperte mich dezent, was mir die Aufmerksamkeit der Truppe einbrachte.
 

„Hey, entschuldigt bitte, wenn ich mich einmische, aber ich fand den Teil von eurem Duell, welchen ich mitbekommen habe, klasse. Das mit den Zauberhüten war raffiniert, aber auch ein Glücksspiel. Verwegen aber sehr effektiv. Die Idee mit den Drachenklauen war aber nicht schlecht. Ein wenig mehr Glück für das Rotauge, und es hätte den Schwarzen Magier erwischt.“ Die drei Jungs musterten mich eingehend, lächelten dann aber, vor allem Joey. „Jaaaa, Yugi ist eben ein Glückspilz, aber irgendwann schlage ich ihn, oder, Tristan?“ Der braunhaarige Riese neben Joey lachte nur und klopfte ihm auf die Schulter, ehe er sich zu seinem Platz begab. Im Vorbeigehen nickte mir Tristan zu. „Und du bist?“ Yugi lächelte mir freundlich entgegen, während er gemeinsam mit Joey das Spielbrett wegräumte. „Ich? Oh, meine Manieren, entschuldigt. Mein Name ist…“ Just in diesem Moment betrat unser Lehrer den Klassenraum und es wurde schlagartig still. Herr Nakashima, ein gut 60-jähriger, hagerer Mann, mit schütterem, bereits ergrautem Haar, wurde von der Klasse einstimmig begrüßt. Lächelnd bedeutete er mir, zu ihm zu kommen, und so war ich mit vorstellen dran. Die Klasse begrüßte mich ebenso wie den Lehrer, wobei mir auffiel, dass „Kaiba“, wie er von Joey genannt wurde, sich mit profaneren Dingen, wie etwa dem Sortieren seiner Stifte, beschäftigte. Das musste also der CEO der Kaiba Corporation sein. Etwas an ihm faszinierte mich; war es diese kalte, kühle Art, oder seine Selbstsicherheit? Andererseits war mir sein Verhalten gegenüber diesem Joey sehr zuwider. Mir wurde dann der Platz neben Joey zugewiesen, und ich bereitete mich auf die erste Stunde, Japanisch, vor. Relativ schnell merkte ich, dass ich mich mit meinem Nachbarn sehr gut verstand. Er wirkte zwar ein wenig chaotisch, aber insgesamt, machte er einen sehr netten und freundlichen Eindruck auf mich. Im Laufe der Pause wurde ich dann reihum den anderen Leuten vorgestellt. Tea, Yugi, Tristan, Duke und Bakura begrüßten mich freundlich, und wir fokussierten unser Gespräch auf Duel Monsters. „Wahnsinn, du bist also der legendäre Yugi Muto? Du hast im Königreich der Duellanten Maximilian Pegasus besiegt? Und du bist Joey Wheeler, der, der es ins Halbfinale geschafft hat?“ Ich war wirklich ein wenig geplättet. Natürlich hatte ich die Nachrichten verfolgt, aber bei uns war das mit der Übertragung so eine Sache. „Ja, Yugi hat gewonnen, aber ich habe es ihm verdammt schwer gemacht.“ Grinsend boxte Joey dem kleineren Yugi in die Schulter, was dieser mit einem Reiben der getroffenen Stelle kommentierte. „Na da kann ich einpacken. Ich wollte nachher schon einen von euch zu einem kleinen Duell herausfordern.“
 

Joey und Yugi musterten mich neugierig: „Ach ja? Du spielst auch?“ Joey schien mich begeistert mit seinen Blicken zu röntgen. „Ein wenig, ja. In meiner Schulklasse war ich der Beste, und habe meist gewonnen.“ Joey schien in seiner Euphorie bereits etwas erwidern zu wollen, als sich sein Blick verfinsterte. Die Stimmung der ganzen Gruppe war plötzlich im Keller, und ein Blick über meine Schulter erklärte mir auch warum: Hinter mir stand Seto Kaiba, ein abfälliges Lächeln auf den Lippen. „Noch einer, der sich dem Kindergarten anschließen möchte? Die Tatsache, dass du und Wheeler so gut zu harmonieren scheint, lässt Rückschlüsse auf deine Fähigkeiten als Duellant zu. Wahrscheinlich genauso eine blamable Niete wie der Köter.“ In meiner Magengegend regte sich etwas. Bevor ich jedoch antworten konnte, schnaubte Joey nur wutentbrannt. „Ach ja? Wetten, dass er dich mühelos aufs Kreuz legt, Kaiba?“ Bakura, Tristan und Yugi sogen scharf die Luft ein, während Tea die Hand vor die Stirn schlug. „Du scheinst ja großes Vertrauen in den Neuling zu haben, Wheeler. Ich hege aber wenig Hoffnungen, wenn ich daran denke, wie er dich und Muto bei eurem dilettantischen Spiel beobachtet hat.“ Kaibas Nasenflügel blähten sich ein wenig auf, und der Spott in seiner Stimme war unüberhörbar. „Mich mit dir abzugeben, Hündchen, ist mir außerdem zu langweilig. Ich könnte dich mit verbundenen Augen besiegen, andererseits…“
 

Der Blick des CEO der Kaiba Corporation fiel auf mich, und das Grinsen wurde breiter: „Vielleicht sollte ich ihm eine Lektion erteilen, damit du endlich kapierst, Wheeler, wann es an der Zeit ist, brav den Mund zu halten.“ Mir rutschte das Herz in die Hose, und es ging mir vor allem alles viel zu schnell. Ich kannte die Geschichten über Seto Kaiba und mir wurde schwindelig bei dem Gedanken, mich mit ihm duellieren zu müssen. Mein erster Tag würde gleich in einer Katastrophe enden. Andererseits, ich musste mich ja nur verweigern. „Klar zerlegt er dich, Kaiba. Sag uns nur wann und wo!“ Joey hatte seinen Arm um mich gelegt und wedelte mit der rechten Hand, welche zur Faust geballt war, vor Kaibas Gesicht herum. „Mensch Joey, halt die Klappe! Du bringst David nur in Schwierigkeiten, und das an seinem ersten Tag!“ Teas Stimme war streng und energisch. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, und ihr Blick war mehr als giftig. Das schien Joey aber gekonnt zu ignorieren, genauso wie meinen eigenen, flehenden Blick. Die Stimme war mir aus irgendeinem Grund versagt. „Wenn er verliert, dann putze ich dein ganzes Haus, blitzeblank, in einem Dienstmädchenaufzug.“ Ein leises Seufzen hinter mir ließ mich erahnen, dass diese Fehde wohl nicht erst seit heute bestand. „Nein, Wheeler, ich brauche nächste Woche einen Babysitter für Mokuba. Du bist dafür hervorragend geeignet, schlicht und ergreifend ob der Tatsache, dass du und mein Bruder geistig auf einer Ebene seid, wobei ich damit Mokuba wohl Unrecht tue.“ Mir fiel erst jetzt auf, dass uns die gesamte Klasse anstarrte, was mich nur noch mehr erbleichen ließ. „In Ordnung, und wenn er gewinnt…“ Joeys Stimme hatte einen kämpferischen Unterton bekommen. „Das ist unmöglich. Sollte er gewinnen, hast du einen Wunsch frei, Wheeler. Wir treffen uns in fünfzehn Minuten auf dem Schulhof.“
 

Damit wandte sich Kaiba ab und fischte sein Smartphone aus der Hosentasche, während er im Gehen eine Nummer eintippte. „Joey, bist du total irre? Kaiba wird David zerlegen. Sogar Yugi hat Glück gebraucht, um ihn zu besiegen.“ Bakura klang ernst und besorgt, während Tristan Joey an den Schultern packte und ordentlich durchschüttelte. „Haben wir nicht einmal darüber gesprochen, dass man zuerst denkt, und dann spricht?“ Ich seufzte nur leise, bis ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Yugi lächelte mir freundlich entgegen: „Du bist nicht der Erste, und auch nicht der Letzte, der gegen Kaiba verliert. Glaube einfach an dich und mache das Beste draus.“ Ich biss mir auf die Unterlippe: „Ich werde mich zum Gespött der Schule machen. Ich war weder Landes-, noch Regionalmeister. Außerdem geht es hier um etwas. Wenn ich es verbocke, zahlt Joey drauf.“ Eben jener und Tristan lieferten sich gerade ein heftiges Wortgefecht, bevor dieser von seinem größeren Freund erneut durchgeschüttelt wurde: „Keine Angst, Joey ist das gewohnt. Außerdem haben wir den größten Trottel der Schule vor uns.“ Joey wehrte sich nach Kräften, was aber mittlerweile mehr wie eine freundschaftliche Rangelei wirkte. „Absagen ist nicht drin, oder?“ Mein Blick wanderte zu Yugi und Tea, welche beide niedergeschlagen den Kopf schüttelten. „Du kannst natürlich, damit wird dich Kaiba aber ewig piesacken, mehr noch als Joey vielleicht.“ Ich seufzte nur und nickte, während ich in meine Uniform griff und mein Deck hervorzog.
 

Auf dem Schulhof angekommen, hatte sich bereits die halbe Schule versammelt, während Kaiba in einer Traube von Bewunderern und Fans stand. Dieser hatte in der rechten Hand einen silbernen Metallkoffer. Flankiert von Joey und Yugi, mit Tea, Duke und Bakura im Windschatten, stapfte ich mit zitternden Knien auf meinen Kontrahenten zu. Joey hatte sich inzwischen bei mir entschuldigt, und mir versichert, es sei egal, wenn ich verlieren würde (Was hätte er auch sonst sagen sollen?). Vergeblich suchten meine Augen einen Tisch mit Spielbrett. Kaiba öffnete nur seinen Koffer, kam auf mich zu, und hielt mir eine Konstruktion entgegen, welche er als Duel Disk bezeichnete. „Hier, nimm, ich erkläre dir kurz, wie das Ganze funktioniert.“ Seine Stimme war herabsetzend, aber immerhin frei von Spott und Hohn, fürs Erste zumindest. Nachdem er mir sein das virtuelle Duellsystem näher gebracht hatte, ging Kaiba zurück an seinen Platz und unsere Zuschauer traten einige Schritte zurück. Ich tat es dem CEO gleich, schnürte mir die Disk um den Arm, und wartete mit klopfendem Herzen auf den ersten Zug meines Gegners. Als vor mir ein riesiger, muskelbepackter Kampfochse mit seiner Axt erschien, machte ich mir fast in die Hose. Das Ding wirkte so real, als wäre es kein holografisches Abbild. Ich hatte das unangenehme Gefühl, sogar den warmen Atem des Stierwesens zu spüren. „Na was ist? Schon überfordert?“ Da war er wieder, der Spott in Kaibas Stimme. Zögernd sah ich auf mein Blatt. Keines meiner Monster war gut genug, um dem Ochsen derzeit die Stirn zu bieten, also entschied ich mich für eine Verteidigungsstrategie.
 

Nach gut zehn Minuten hatte Kaiba aus seinem Kampfochsen und dem Mystischen Reiter den Tollwütigen Reiter fusioniert, und mich mittels einer „Verteidigung stoppen“ Karte komplett in die Ecke gedrängt. Ich hatte nur mehr ein Viertel meiner Lebenspunkte, während mein Kontrahent nicht einmal attackiert worden ist. Mir erschien das alles so sinnlos, während Kaiba sein Spielchen mit mir spielte, unter Jubelrufen und dem Gelächter seiner Fans. Ich musste mich zusammenreißen um nicht zu heulen. Mein erster Tag in Domino City war schon zum Scheitern verurteilt. „Hey, lass dich nicht unterkriegen!“ Aus dem Hintergrund konnte ich Teas Stimme hören. „Ja genau, Alter, los, du hast noch immer eine Chance!“ Das war Tristan. „Na komm, wir glauben an dich!“ Joey hatte seine Hände an den Mund gelegt, als er mir zurief. Auch Duke und Bakura feuerten mich an. „Glaub an dich, und glaube an das Herz der Karten!“ Yugi klang auf einmal so ernst, und wirkte total anders, irgendwie erwachsen. Da fiel mir auch der pyramidenartige Anhänger an seiner Brust zum ersten Mal wirklich auf. „Du kannst Kaibas Monster schlagen, das weiß ich.“ Yugi hatte die rechte Hand lässig in die Hosentasche geschoben, während er mich anstarrte. Irgendwie machte mir der Haufen hinter mir Mut. „Wird das heute noch was? Ich habe noch etwas zu erledigen…“ Kaibas Stimme zwang mich, wieder nach vorne zu sehen. Plötzlich kamen mir meine Großeltern in den Sinn. Vor meinem geistigen Auge sah ich beide vor mir, ein Lächeln auf den Lippen, während sie mir zunickten. Wie von selbst wanderte meine Hand zu meinem Deck und ich zog die nächste Karte hervor. Endlich hatte ich etwas in der Hand, was Kaibas Monster besiegen konnte. Groteskerweise war es ein Geschenk von eben meinen Großeltern zum siebzehnten Geburtstag gewesen.. Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen platzierte ich meine nächste Karte auf der Duel Disk.
 

Aus einem Lichtkegel, welcher alle Farben zu enthalten schien, materialisierte sich ein schwarz geschupptes Wesen. Die dunklen Hautplatten kämpften sich langsam aus dem wabernden Licht, während Hörner und Krallen sich zu der übrigen Gestalt gesellten. Mit einem ohrenbetäubenden Brüllen erschien eines meiner mächtigsten Monster und schaffte den Übergang aus der virtuellen, in die reale Dimension. Mir kam es so vor, als würde die Erde erzittern, als die Klauen des Drachen den Boden berührten. Mein Schwarzer Rotaugendrache starrte dem Mischwesen aus Stier und Zentaur entgegen, während er die Flügel ausbreitete. Die Fangemeinde Kaibas verstummte allmählich, und für einen kurzen Moment konnte ich Verwunderung in den Zügen meines Gegners erkennen. „Interessant. Wie kommt jemand wie du an so eine seltene Karte? Andererseits hat Wheeler seine auch nachgeworfen bekommen, von daher…“ Der CEO hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte sowohl desinteressiert, als auch abwesend.
 

„Wahnsinn! Und jetzt los, zeige es dem Schmierlappen!“ Joeys euphorische Stimme hinter mir bestärkte mich ein wenig mehr. Gleichzeitig stimmten die Anderen aus der Gruppe in sein Rufen mit ein und feuerten mich an. „Schwarzer Rotaugendrache, Infernofeuersturm!“ Im Maul meines Drachen bildete sich ein riesiger, grellroter Feuerball, welcher von schwarzen Blitzen durchzogen war. Mit einem ohrenbetäubenden Laut spie der Schwarze Rotaugendrache den Energieball dem Tollwütigen Reiter entgegen, welcher sich mit einem Sterbensschrei in Luft auflöste. „Anfängerglück“ war Kaibas Kommentar, wobei er die nächste Karte auf seine Duel Disk packte. „Wilder Kaiser im Verteidigungsmodus.“ Vor mir materialisierte sich der gepanzerte Echsenkrieger, die Hände in Abwehrhaltung erhoben. Meine Wenigkeit, schob die Fallenkarte Angriff annullieren in den Schlitz der Disk und befahl meinem Drachen den Angriff. Der Wilde Kaiser wurde, genauso wie der Tollwütige Reiter, von meinem Rotauge eliminiert. Kaiba lächelte nur abfällig, als er die nächste Karte zog: „Zeit, dieses Spiel zu beenden.“ Mit einem Laut, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, entstieg meine schlimmste Befürchtung den virtuellen Tiefen. Brüllend kamen weiße, glänzende Schuppen zum Vorschein, welche einen Drachenkörper schützten, der mir das Herz wieder in die Hose rutschen ließ. Der legendäre Weiße Drache mit eiskaltem Blick starrte auf mich und mein Rotauge herab. Seine Nüstern blähten sich ein wenig auf, während ich das Gefühl hatte, innerlich geschrumpft zu sein. Nur mit großer Mühe konnte ich dem Drang wiederstehen, die Hände schützend über dem Kopf zusammenzuschlagen. Angst erfasste mich, auch wenn es sich nur um das holografisches Abbild einer gemalten Karte handelte. Ich schloss langsam meine Augen und atmete panisch ein und aus. „Jetzt, meine geliebte Bestie, Attacke! Weißer Lichtblitz!“
 

Ich hörte das Knistern von Energie und den Schrei des Drachens, den Kopf zur Seite gedreht. Mein Rotauge, meine Lieblingskarte, mein ganzes Herzblut, würde gleich ausgelöscht werden, zertreten von seinem großen, mächtigen Bruder. Die Fangemeinde Kaibas jubelte inzwischen wieder. „Deine verdeckte Karte!“ Yugis Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Stimmt, ich hatte ja eine Fallenkarte! „Angriff annullieren!“ Langsam öffnete ich die Augen und sah, wie ein greller, weißer Blitz in einer Art wirbelndem Energiefeld verpuffte. Ich war gerettet, zumindest für diese Runde. „Du zögerst deine Niederlage nur hinaus, Gartenzwerg. Nichts in deinem mickrigen Deck kann es mit meinem Weißen Drachen aufnehmen.“ Kaibas Stimme war noch abfälliger als ohnehin schon. „Hör nicht auf ihn, glaube an dich und deine Karten! Konzentriere dich.“ Da war sie wieder, Yugis ruhige, aber ernste Stimme. Woher wollte er das denn wissen? Er kannte mein Deck gar nicht. Irgendetwas bewog mich dennoch dazu, selbstsicher nach der nächsten Karte zu greifen. Da war wieder dieses Gefühl von vorhin, dieses Mal aber stärker. Vor meinem geistigen Auge erschien die Gruppe hinter mir. Jeder von ihnen bot mir ihre Hand an. Ich atmete tief durch begutachtete meine neue Errungenschaft. Ungläubig starrte ich auf meine frisch gezogene Karte. Ich hatte tatsächlich bekommen, was ich brauchte um zumindest auf Augenhöhe mit Kaiba zu sein.
 

Angespornt durch Yugis Worte, und den Rufen der Clique hinter mir, suchte ich zum ersten Mal seit Beginn des Duells den Blick meines Gegners. Setos eisblaue Augen waren erfüllt von Spott, Überheblichkeit und Kälte. Passend dazu hatte er ein Grinsen aufgesetzt, welches nichts Gutes verhieß. „ Na los, mach deinen Zug, und dann gesellst du dich als neues Hündchen zu deinem Freund Wheeler.“ Wie konnte man nur so engstirnig und abwertend sein? Langsam schob ich meine Karte in die Duel Disk und atmete tief durch: „Mag sein, dass mein Schwarzer Rotaugendrache zu schwach ist, um deinen Weißen Drachen mit eiskaltem Blick auszulöschen, aber er ist stark genug, um es mit ihm aufzunehmen.“ Mein Zeigefinger drückte auf einen Knopf an der Duel Disk und die verdeckte Karte, welche ich soeben ausgespielt hatte, gab ihren Inhalt frei. „Ich versehe meinen Schwarzen Rotaugendrachen mit den Drachen-Klauen, was ihm einen Angriffsbonus von 600 Punkten einbringt. Damit hat er genauso viel wie dein Weißer Drache mit eiskaltem Blick.“ Meine Stimme war erstaunlich ruhig, und ich fühlte ein gewisses Maß an Befriedigung, als mein Rotauge mit zwei riesigen, silbernen Krallen bestückt wurde. Brüllend bäumte sich mein Monster auf und spreizte die Flügel. Seine roten Augen suchten den Blick seines weißen Bruders, wie es meine graugrünen mit denen von Kaiba taten. „Hammer! Spitzenzug!“ Joeys Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung. Endlich wagte ich einen Blick über die Schulter, und ich konnte die ganze Gruppe lächeln sehen, sogar Yugi, welcher mir anerkennend zunickte. Damit lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Duell. Kaiba hatte seine Arme vor der Brust verschränkt und schien sowohl mich, als auch meinen Schwarzen Rotaugendrachen eingehend zu mustern. „Glück. Du hast eine Pattsituation erzielt und freust dich darüber?“ Auf den Zügen des CEOs machte sich ein spöttisches Grinsen breit.
 

„Ich spiele die Zauberkarte Schrumpfen, was dein Monster die Hälfte seiner Angriffspunkte kostet.“ Ungläubig starrte ich auf mein Rotauge, welches vor meinen Augen auf die Hälfte seiner Größe zusammenschrumpfte. „Weiße Lichtblitzattacke.“ Kaibas Stimme war ruhig wie eh und je, während ich im Maul des Weißen Drachen bereits den Lichtball aufblitzen sah, welcher dem Feuerball seines kleinen Bruders so ähnlich war. „Nein. Mein Schwarzer Rotaugendrache. Nein!“ Hilflos streckte ich die rechte Hand in Richtung meines Drachen aus, während dieser im gleißenden Lichtblitz seines weißen Counterparts sein Leben aushauchte. Die Lebenspunkteanzeige auf meiner Duel Disk fiel auf null. Ich hatte verloren. Ungläubig starrte ich auf den leeren Platz vor mir, Sekunden zuvor noch mein Lieblingsmonster gelebt hatte. „Projiziert worden war“ korrigierte ich mich innerlich. Kaiba kam langsam und selbstgefällig auf mich zu, seine rechte Hand ausstreckend. Wortlos zog ich die Duel Disk von meinem Arm und händigte sie ihm aus. „Du hast dich länger gehalten als Wheeler.“ Damit verließ mich der CEO wieder, packte die Duel Disks in den Metallkoffer und stolzierte damit in Richtung einer schwarzen Limousine, welche am Eingang zum Schulhof geparkt hatte.
 

Mir gaben die Knie nach, und es wurde dunkel um mich.

Unfreiwillige Auszeit

Es war finster um mich herum. Dem Gefühl nach zu urteilen lag ich auf einem weichen Bett. Ich war außerdem zugedeckt, wie ich anhand meiner nackten Beine bemerken durfte, welche sich an Stoff schmiegten, als ich sie ein wenig bewegte. „Er kommt zu sich!“ Eine weibliche Stimme riss mich aus meinem dämmrigen Schlaf. Ihrer Tonlage entnahm ich, dass sie sehr aufgeregt war. „Joey, Yugi, Tristan!“ Erneut diese vertraute Stimme – ich hatte sie schon einmal wo gehört. Wo war ich eigentlich? Zu Hause? Nein, das konnte nicht sein, meine Wohnung war unbewohnt, mal abgesehen von mir. Das Rücken von Stühlen bewog mich schlussendlich dazu, meine Augen langsam zu öffnen. Ich brauchte einige Momente, um mich an das grelle Licht der Sonne zu gewöhnen, welche durch ein großes Glasfenster neben mir schien. Vorsichtig versuchte ich, mit der Hand meine Augen einigermaßen vor den Sonnenstrahlen zu schützen und sah mich um. Ein sauberer, fast schon steriler Raum. war wohl gerade mein Domizil. An meiner rechten Hand konnte ich mittlerweile ein unangenehmes Ziehen spüren, welches von einem Katheter kam. Ich war anscheinend in einem Krankenhaus.
 

„Hey, Alter, alles klar?“ Langsam drehte ich den Kopf nach links und blickte in die Gesichter von Yugi, Joey, Tristan und Tea, welche allesamt besorgt und erleichtert zugleich wirkten. „Was ist eigentlich los?“ Mir brummte der Schädel, und als ich versuchte aufzustehen, durchfuhr mich ein stechender Schmerz an der linken Seite meiner Brust. „Nach deinem Duell mit Kaiba hat dich wohl die Aufregung ausgeschaltet. Du bist bewusstlos geworden und hast dir dabei ein paar Schrammen im Gesicht zugezogen und eine Rippe angeknackst, hat zumindest der Arzt gesagt.“ Joeys Stimme hatte einen sehr weichen und schuldbewussten Unterton beigemengt, und ich konnte erkennen, wie er den Blick senkte, und die rehbraunen Augen von seinen Lidern bedeckt wurden. „Es ist meine Schuld. Mir sind die Nerven durchgegangen. Dieser Großkotz hat sich einfach zu oft über mich lustig gemacht…“
 

Fahrig streckte ich meine linke Hand aus und griff nach Joeys Arm, was diesen aus seinen Momenten des Schuldbewusstseins riss. „Schon okay, Joey. Er macht auf mich einen sehr kühlen und strengen Eindruck. Viel zu kontrolliert und selbstsicher. Du wirkst wie das genaue Gegenteil; chaotisch und lebensfroh. Dass es da Reibereien gibt, kann ich mir gut vorstellen. Mach dir mal keinen Kopf, ja? Ich hätte auch einfach Nein sagen können, oder aufgeben, bevor er mich in den Boden gestampft hat.“ Meine Mundwinkel wanderten ein wenig nach oben, bevor ich die Hand wieder zurückzog. Joey starrte kurz auf die Stelle, welche meine Hand umschlossen hatte, nur um dann lächelnd zu nicken. „Geht klar. Du hast dich aber gut geschlagen, das finden übrigens alle.“ Yugi, Tristan und Tea pflichteten ihm nickend bei. „Die ganze Schule spricht von deinem Duell mit Kaiba, und dass du die Herausforderung angenommen hast.“ Tristan grinste schief und boxte mir angedeutet gegen meine Schulter. „Es war eine einzige Blamage. Ich konnte nichts gegen Kaiba ausrichten, und als er dann den Weißen Drachen mit eiskaltem Blick gerufen hat, war mir kurz so, als müsste ich mir in die Hose machen.“
 

Ich wusste nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, den Vieren an meinem Bett vertrauen zu können. „Das ist total normal. Als ich das erste Mal im Königreich der Duellanten Kaibas neues Duellsystem ausprobiert habe, ging es mir genauso.“ Meine rechte Braue wanderte unfreiwillig in die Höhe, während ich Joey musterte. Dann musste ich unfreiwillig grinsen. „Eingenässt?“ Ich erntete schallendes Gelächter und einen gespielt säuerlichen Blick von Joey. „Sag mal, David, darf ich dich was fragen?“ Yugi sah neugierig zu mir herauf. Ich nickte knapp auf seine Frage hin. „Woher hast du denn so eine Karte wie den Schwarzen Rotaugendrachen?“ Da wehte der Wind her, ich verstand. Kaiba hatte eine ähnliche Bemerkung bei unserem Duell gemacht. „Meine Großeltern haben ihn mir zum siebzehnten Geburtstag geschenkt, kurz bevor mein Opa schwer krank wurde.“ Yugi senkte den Blick ein wenig, ehe ich hastig fortfuhr: „Es geht ihm mittlerweile wieder besser, sonst hätte ich nicht am Austauschprogramm teilgenommen. Er hatte einen Schlaganfall und ist seitdem mit der rechten Körperhälfte ein wenig eingeschränkt. Geduld und Übung kurieren ihn aber wieder. Wenn ich nach Hause fahre, ist er sicher wieder top fit.“ Ich musste unwillkürlich lächeln, als das Bild meiner Großeltern vor meinem geistigen Auge erneut erschien. „Du hängst sehr an deinen Großeltern, hm?“ Teas sanfte Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ließ das geistige Bild verpuffen.
 

„Ja, ich liebe sie sehr. Sie sind eigentlich die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Sie haben immer auf mich aufgepasst, als ich klein war, und heute versuche ich das Gleiche zu machen. Beide haben mich dann zu dem Austauschprogramm gedrängt, weil sie gewusst haben, wie sehr ich es mir gewünscht habe.“ Mein Blick wanderte nach links, auf einen kleinen Beistelltisch, wo sich nebst einer Kanne aus Aluminium, einigen Gläsern und einem Tablett mit Essen, ein Kartendeck stapelte. Langsam griff ich danach und zog instinktiv eine einzelne Karte aus dem Deck heraus und drehte sie um. Sanft strich ich mit dem Daumen über das Bild meines Schwarzen Rotaugendrachens. „Mir geht es dabei nicht um die Power der Karte, oder die Seltenheit. Mein Rotauge gehört zu mir, weil er mir von meinen Großeltern geschenkt wurde. Darum hat es auch so wehgetan, ihn sterben zu sehen.“ Mir wurde plötzlich bewusst, wie bescheuert sich meine Geschichte anhören musste. So an einer Karte zu hängen, und dann abzusacken, weil ihr holografisches Abbild zerstört wurde, war doch etwas krank. Als ich in die Augen meiner Besucher blickte, schlug mir aber weder Spott noch Abweisung entgegen, im Gegenteil: Yugi und Joey lächelten mir anerkennend zu, während Tristan und Tea sich an meinem Fußende auf dem Geländer abgestützt hatten.
 

„Das kann ich gut verstehen. Meinem Großvater geht es ähnlich.“ Überrascht blickte ich zu Yugi, welcher vorsichtig nach meiner rechten Hand griff und sie sanft drückte. „Du steckst dein ganzes Herz in den Kampf, das haben wir bemerkt. Du hast an deinen Schwarzen Rotaugendrachen geglaubt und er an dich. Duel Monsters ist weit mehr als nur ein simples Kartenspiel. Wer seine Kreaturen schätzt und gut behandelt, an sich und an sein Deck glaubt, der wird belohnt, glaube mir.“ Yugi ließ meine Hand los und strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie diese aberwitzige Frisur überhaupt halten konnte, war mir ein Rätsel. „Außerdem war ich damals auch am Boden zerstört, als Kaiba mein Rotauge eingestampft hat.“ Joey streckte seine Arme ein wenig, wobei ihm das T-Shirt über den Bauchnabel rutschte, und mir den Blick auf einen angedeuteten Sixpack ermöglichte. „Wo sind eigentlich Duke und Bakura?“ Ich sah fragend in die Runde. „Die holen dir gerade die Hausaufgaben und entschuldigen dich bei den Lehrern.“ Ich bekam Magenschmerzen bei dem Gedanken, welcher Ärger mir blühen würde, wenn ich gleich am ersten Tag schon ausfiel. „Keine Angst, wir haben das alles schon geregelt. Die Ärzte wollen dich bis Mitte nächster Woche hierbehalten. Solange bringen wir dir die Schulunterlagen vorbei und gehen sie gemeinsam mit dir durch. Herr Nakashima wünscht dir gute Besserung.“ Tea schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und drückte sich von meinem Bettgestell hoch. „Leute, das müsst ihr wirklich nicht machen.“ Ich war zugegebenermaßen ein wenig verwirrt. Wir kannten uns noch nicht einmal einen Tag, und doch bemühte sich die Clique rund um Yugi so um mich. War das in Japan usus?
 

„Laber nicht, Alter. Das machen wir gerne für unsere Freunde.“ Tristan tat es Tea gleich und zog sein Smartphone aus der Innentasche des braunen Mantels, welchen er trug. Hatte er gerade Freunde gesagt? Ich schrägte ein wenig den Kopf, als die anderen drei auch plötzlich ihre Handys in der Hand hatten. „Na los, hab dich nicht so! Wir brauchen deine Nummer.“ Joey sah mich auffordernd an, und hielt mir mein eigenes Handy entgegen. Wir tauschten so unsere Nummern aus, und ich bekam außerdem die von Duke und Bakura auch. Kraftlos legte ich mein Smartphone beiseite und drapierte mein Rotauge wieder auf dem Kartendeck. „Dann danke, Leute.“ Zögerlich starrte ich vom Tablett zu der Gruppe. Mein Magen meldete sich lautstark. Meine Arme fühlten sich mit einem Mal unendlich schwer an, außerdem waren nur Stäbchen beigelegt. „Da hat wer Hunger.“ Joey grinste breit und schob das Essenstablett auf meinen Bauch, während Tea und Tristan aus dem Zimmer eilten. „Wo gehen die beiden hin?“ fragte ich und blickte ihnen nach. „Duke und Bakura müssten mit deinen Sachen aufgekreuzt sein. Wir haben um vier ausgemacht.“ Joey zog die Stäbchen auseinander und fuhr damit in eine Schale voll klebrigem, weißen Reis. Ich quittierte seine Handlung mit einem fragenden Gesichtsausdruck. Wollte er mir das Essen vor meiner Nase klauen? Stattdessen schnappte er sich geübt einen Klumpen Reis und hielt ihn mir entgegen.
 

„Die Schwester hat uns gesagt, dass wir nicht länger als eine Stunde bleiben dürfen. Wir sind schon drei hier, und außerdem haben sie uns gesagt, dass du relativ kraftlos sein würdest, wenn du wach wirst.“ Yugi setzte sich an meine Bettkante während ich auf den Klumpen Reis schielte. „Na komm, mach den Mund auf. Der Reis wird nicht besser, wenn du ihn an der Luft trocknen lässt.“ Joey hatte wohl immer einen dummen Spruch auf Lager. Eigentlich war es meine Art, dementsprechend zu kontern, aber mir war gerade weder danach, noch traute ich mir zu, meine Gedanken so weit kreisen zu lassen. Wortlos öffnete ich meinen Mund und bekam den ersten Bissen Reis. Er war angenehm weich und schmeckte überhaupt nicht fade. Als ich den Klumpen hinuntergeschluckt hatte, wartete Joey schon mit dem nächsten vor meiner Futterluke. Schweigend nahm ich mein Abendmahl zu mir, oder wurde besser gesagt gefüttert. Insgeheim war ich froh darüber, dass man mir die Arbeit abnahm, denn ich merkte, wie mir alles ein wenig zu anstrengend wurde. Die angebrochene Rippe schmerzte außerdem schon eine ganze Weile. Als Joey den letzten Rest aus der Schüssel gekratzt hatte, räusperte ich mich: „Duke und Bakura holen meine Sachen, habt ihr gesagt? Woher wisst Ihr überhaupt, wo ich wohne?“ Das war in der Tat ein Aspekt, welcher mich interessierte. „Das war ganz leicht. Nachdem wir dich hierher gebracht haben, haben wir den Zettel mit deiner Adresse in deiner Brieftasche gefunden.“
 

Stimmt, ich hatte mir die Hausnummer und die Straße vorsorglich notiert, falls ich mich verlaufen sollte. Eigentlich war das komplett unnötig, im heutigen, virtuellen Zeitalter, wo jedes Handy Navi und GPS ersetzte, aber ich war teilweise einfach ein wenig altmodisch. „Meinen Wohnungsschlüssel habt ihr demnach auch entwendet?“ Ich lachte leise, was aber bald von meiner angeknacksten Rippe gestraft wurde. „Wir haben einfach deine Tür aufgebrochen. War ganz leicht.“ Duke stand plötzlich im Raum, eine Sporttasche unter dem Arm. Bakuras weißer Haarschopf tauchte neben ihm auf, und Sekunden später hörte ich, wie die Türe zu meinem Zimmer sich schloss und Tea mit Tristan die Gruppe komplettierte. „Ich schicke euch dann die Rechnung zu, ja?“ Meine trockene Antwort wurde von Duke und Bakura mit einem breiten Grinsen kommentiert. Joey füllte mir etwas Tee in ein Glas und hielt es mir an den Mund. Dankbar nippte ich an dem Getränk und leckte mir über die rissigen Lippen, als er das Gefäß von diesen nahm. „Joey? Tut mir Leid, dass ich es verbockt habe, und du jetzt den Babysitter mimen musst.“
 

Ich fühlte mich schuldig. Auch wenn Joey eigentlich selbst an der Misere schuld war, so hatte er doch großes Vertrauen in mich gesetzt. Es hätte natürlich auch sein können, dass er einfach schneller gehandelt als gedacht hatte. „Mach dir du auch mal keinen Kopf, ja? Das ist schon in Ordnung. Ich bin es gewohnt, ab und an auf Mokuba aufzupassen. So komme ich auch mal in den Genuss der neusten Games.“ Joey grinste breit und stellte das Glas auf dem Tischchen neben meinem Bett ab. „Wir müssen jetzt aber los, sonst wird die Stationsschwester noch sauer.“ Irgendwie war ich ein wenig enttäuscht. Ich mochte den Haufen wirklich. „Klar, Leute. Danke, für alles.“ Ich nickte dem Grüppchen zu. „Wir kommen dann morgen wieder, mit den Hausaufgaben.“ Yugi winkte zum Abschied und die Runde trappelte dann nach draußen. Müde schloss ich meine Augen und schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Der erste Tag war somit schon kein kompletter Reinfall gewesen.
 

Die Bande hielt tatsächlich ihr Wort. Pünktlich um halb vier schneiten sie herein, brachten mir die Aufgaben mit, und machten sie mit mir gemeinsam. Nach getaner Arbeit quatschten wir noch eine Weile. Ich lernte dabei, dass Joey wirklich der Chaot war, für den ich ihn anfangs gehalten habe. Tea war eine begnadete Tänzerin, und hoffte, irgendwann nach New York gehen zu können, an eine renommierte Tanzschule. Außerdem konnte sie exzellent backen, wie mir der Schokoladenkuchen, welchen sie am Dienstag mitgebracht hatte, bewies. Tristan zeigte mir einige Fotos von seinem Bike. Ich hörte nur Wörter wie Honda, Hubraum, Kubik und Zylinder. Mein Interesse an solchen technischen Aspekten war zugegebenermaßen begrenzt, ich musste aber eingestehen, dass er auf seinem Motorrad eine ausgezeichnete Figur machte. Ich durfte sogar vorab, mit den anderen, einige Clips begutachten, welche er in seiner Freizeit gedreht hatte. Sprünge über Schanzen und Autoreifen in einer Lagerhalle, Slalomparkours und das Fahren auf dem Hinterrad waren nur einige Übungen, welche er gefilmt hatte. Yugi entpuppte sich als ein sehr ruhiger und vernünftiger Zeitgenosse. Vor allem in Mathe schien er ein Ass zu sein, was mir sehr gelegen kam. Ich hasse Mathe heute noch. Duke erzählte mir von seinem eigens entwickelten Spiel: Dungeon Dice Monster. Es hörte sich ähnlich wie Duel Monsters an, dann aber doch nicht. Duke besaß außerdem einen eigenen Spieleladen, was mich sehr beeindruckte. Er konnte kaum älter sein als ich, und hatte es schon zu etwas gebracht. Bakura wirkte auf mich eher schüchtern. Er hielt sich meist im Hintergrund und war eher in sich gekehrt. Wenn er dann aber doch einmal lachte, so war es ein ansteckendes, glockenhelles Lachen. Es war aber nicht so, dass ich nur genommen hätte. Ich war in Englisch relativ gut, und konnte so mit ihnen gemeinsam lernen und üben. Vor allem Joey schien darüber sehr froh zu sein; Englisch war nämlich laut eigener Aussage „seine Achillesferse“. Das gleiche Spiel wiederholte sich Tag für Tag bis Sonntag.
 

Es war acht Uhr abends und ich tippte gerade in meinem Handy herum. Meine Eltern und Großeltern, genauso wie meine Freunde zu Hause, hatten natürlich Wind bekommen von dem Vorfall und waren alle besorgt um mich gewesen. Alle einmal zu beruhigen, hatte eine Weile gedauert. Dann war da noch Joey, der mir gerade seinen Text in Englisch abfotografiert hatte. Einige seiner Formulierungen muteten schon fast kriminell an. Ich versuchte auszubessern, ohne dabei den Verdacht der Lehrer zu erhärten, Joey hätte heimlich die Aufgabe von jemand anderem lösen lassen. (Frau Fujisa, unsere Englischlehrerin, hatte Joey vorgestern vor der Klasse gefragt, wer ihm denn helfen würde, weil sich sein Englisch bei den Hausaufgaben so deutlich verbessert hätte, in so kurzer Zeit) Gedankenverloren korrigierte ich einige Sätze, strich andere gänzlich heraus, als sich die Türe zu meinem Zimmer öffnete. Leise wurde sie wieder ins Schloss gedrückt. Stille. Ich sah von meinem Handy auf und versuchte um die Ecke zu spähen, welche den Blick auf die Tür unmöglich machte.
 

„Ist da wer?“ Weiterhin Stille. Ich war doch nicht komplett übergeschnappt. Es war bereits zehn Uhr abends, die Besuchszeit vorbei und das Licht in meinem Zimmer aus. Eine Schwester hätte sich gemeldet, oder zumindest das Licht angemacht. Nervös tastete ich nach dem Lichtschalter neben meinem Bett und drückte den Knopf. Die Leselampe an meinem Beistelltisch tauchte den Raum in ein unsympathisches Halbdunkel. Aus dem Schatten trat tatsächlich jemand hervor. Hoch gewachsen und gertenschlank. Die eisblauen Augen musterten mich von oben herab, wortwörtlich, während die Gestalt langsam auf mich zukam. Seto Kaiba trug einen kunstvollen, strahlend weißen Übermantel, ein schwarzes Shirt, enge, schwarze Hosen und hohe Stiefel, welche beinahe kein Geräusch machten. Seine Arme hatte der CEO vor der Brust verschränkt, als er an meinem Bett angekommen war. Der Blick war noch immer wie am Montag beim Duell: Herablassend und kalt. Andererseits hatte sich noch etwas Undefinierbares hinzugesellt. Ich sperrte mein Handy instinktiv und legte es auf meinen Bauch, während ich Kaiba fragend anstarrte. „Wie kommst du überhaupt hier her? Es ist nach zehn, und die Besuchszeit endet um sieben.“
 

Der Firmenchef schrägte den Kopf ein wenig und lächelte dann schmal: „Regeln sind dazu da, um zurechtgebogen zu werden.“ Interessanterweise hörte er sich dieses Mal fast schon ein wenig amüsiert an, wobei das ehrlich klang. „Ah ja? Was führt jemanden wie dich zu mir?“ Das schmale Lächeln auf Kaibas Zügen verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. „Die ganze Schule spricht über dich. Du hättest mir die Stirn geboten und nicht den Schwanz eingekniffen.“ Da war er wieder, dieser abfällige, widerliche Unterton. „Wir beide wissen natürlich, dass das alles nur Gerede ist. Du hattest Glück, egal was Muto und der Kindergarten dir einzutrichtern versuchen.“ Seine Haltung, seine Art wie er sich ausdrückte – ich war mir sicher, dass ein Seto Kaiba es gewohnt war, dass man ihm Folge leistete. „War das dein erstes Duell mit Hologrammen?“ Der Unterton war wieder verschwunden. Ich war zugegebenermaßen ein wenig verwirrt, versuchte aber, es mir nicht anmerken zu lassen. „Ja? Bei uns gibt es so etwas nicht. Wir legen die Karten normalerweise auf das Spielbrett und belassen es bei der Fantasie.“ Das entsprach auch der Wahrheit. Kaiba kommentierte meine Worte mit einem abfälligen Laut. „Mittelalterlich – ein Volk aus Ziegenhirten und Schweinezüchtern eben.“ Wie schnell konnte man eigentlich von einigermaßen erträglich, zu unsympathisch, und wieder zurückwechseln?
 

„Hat es dir gefallen?“ Ich nickte ein wenig und versuchte, seine bissigen Seitenhiebe auszublenden. „Du hast deinen Schwarzen Rotaugendrachen also das erste Mal so gesehen?“ Jetzt klang er wieder interessiert und fast schon sympathisch. „Ja“ war meine knappe Antwort. Was suchte der Kerl eigentlich um zehn Uhr abends hier? Hatte er nicht was Anderes zu tun, als mir seine Überlegenheit reinzudrücken? „Wie war es für dich?“ Ich wollte eigentlich bissig antworten, aber etwas in mir hielt mich davon ab. Stattdessen ließ ich mich zur Wahrheit hinreißen: „Das ist schwer in Worte zu fassen. Meine Lieblingskarte, das Herzstück meines Decks vor mir zu sehen, das war unglaublich. Als er die Flügel gespreizt hat, habe ich mich sicher gefühlt. Seine imposante Gestalt, dann der Laut, wenn er gebrüllt hat. Als er die Monster vernichtet hat, da war kurz das Gefühl von Überlegenheit, von Ruhe und Kraft in mir.“ Kaiba beobachtete mich genau, während ich sprach. Irgendetwas schien ihn brennend zu interessieren. Als er mich eine Weile lang schweigend angestarrt hatte, fuhr ich fort: „Natürlich war er mickrig neben deinem Weißen Drachen mit eiskaltem Blick, aber trotzdem, ich habe irgendwie an mein Rotauge geglaubt. Als er die Drachen-Klauen verpasst bekommen hat, fühlte ich mich plötzlich für einige Sekunden gleichauf mit dir, wie er es mit seinem großen Bruder war.“ Bei meinem letzten Satz zog Kaiba die Brauen in die Höhe. Ich rechnete schon mit einem saudummen Kommentar bezüglich „gleicher Augenhöhe“, wurde dann aber enttäuscht.
 

„Großer Bruder?“ Kaibas Finger trippelten auf seinen Oberarmen herum während er sprach. „Ja. Das mag albern klingen, aber ich glaube ein wenig daran, dass das Rotauge von deinem Weißen Drachen inspiriert wurde. Wie Geschwister. Der große Bruder passt auf den Kleinen auf, bis er voll ausgewachsen ist. Stellt er eine Bedrohung dar, bekämpfen sie sich. Am Ende raufen sich beide aber doch wieder zusammen und stehen Seite an Seite, Rücken an Rücken, nur um dann ihre Kraft zu bündeln.“ Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Kaiba dachte sowieso, ich wäre ein Vollidiot, was machte es da schon, wenn ich ihm meine Gedankengänge offenlegte? Vielleicht würde er dann bald wieder abhauen? „Ist der Schwarze Rotaugendrache das stärkste Monster in deinem Deck?“ Kaibas Blick wanderte zu meinem Kartenstapel am Beistelltisch. „Nein.“ Welches das war, würde ich Kaiba nicht auf die Nase binden. Wortlos, und bevor ich protestieren konnte, griff Kaiba nach meinem Deck und fächerte es auf. „Interessant. Du besitzt einige wirklich seltene Karten. Der Schwarze Rotaugendrache, der Beauftragte der Dämonen…“ Kaiba ging murmelnd mein gesamtes Deck durch. „Aus der Ecke lacht mich ein Schwarzer Magier an.“ Der CEO schrägte den Kopf ein wenig. „Der wirkt aber anders, als der von Muto.“
 

Ich lugte über den Kartenrand und betrachtete die spiegelverkehrte Variante meiner Karte. Das Cover zierte ein Schwarzer Magier mit verschränkten Armen. In der linken Hand hielt er einen grünen Zauberstab, in dessen Fassung eine grünliche Kugel schimmerte. Seine rote Rüstung verdeckte den Großteil seines Körpers, mit Ausnahme der gebräunten Hände, der pupillenlos wirkenden Augen und der weißen Haare, welche sein Gesicht umrandeten. „Mh, das ist wohl eine Sonderedition gewesen.“ Kaiba nickte leicht und schob das Deck wieder zusammen: „Der Rest deiner Karten besteht aber nur aus Müll. Deine Monster sind mies, deine Fallenkarten dürftig und deine Zauberkarten ebenso. Kein Wunder dass du verloren hast.“ In mir stieg ein wenig die Wut hoch. Was wollte der Typ eigentlich? Mich noch mehr beleidigen, als ohnehin schon? „Nur auf ein paar Monster zu hoffen, ist ein gefährliches Glücksspiel, Kleiner.“ Ich musste dem Drang wiederstehen, aufzuspringen und Kaiba ordentlich durchzuschütteln. „Ach ja? Und was ist mit den legendären Weißen Drachen? Deinem Markenzeichen? Dreht sich deine Taktik nicht nur um diese drei Karten?“ Kaiba kommentierte meine Frage mit einem knappen „Nein“, ehe er die Karten zurücklegte. „Ich bin ein Duellant ohne Makel, ohne Fehler und ohne Schwächen. Ich kann auch ohne meine geliebten Weißen Drachen auskommen.“
 

Etwas an seiner Formulierung machte mich stutzig. Mir fiel auf, dass ich ähnlich über meinen Schwarzen Rotaugendrachen dachte. „Jedenfalls ist unser Duell in der örtlichen Presse gelandet. Nicht dass mich das interessieren würde, aber Mokuba hat es mitbekommen.“ Mokuba war der Kleinere der Kaibabrüder, das wusste ich. „Er möchte dich kennenlernen. Außerdem hat Wheeler ihm wohl von dir erzählt und dich angehimmelt.“ Der CEO verdrehte seine Augen ein wenig: „Du hättest mir getrotzt. Vollkommener Schwachsinn, aber Kinder sind leicht zu beeinflussen. Du wirst Mittwoch entlassen?“ Woher wusste er das schon wieder? Ich konnte mir kaum vorstellen, dass einer meiner Freunde Kaiba meinen Entlassungstermin gesteckt hatte. „Ja?“ Mein Blick verfinsterte sich ein wenig. Der Typ meinte auch, er könnte einfach alles und jeden herumschubsen. „In Ordnung. Du wirst um drei Uhr abgeholt. Der Fahrer wird dein Gepäck holen, und dich dann zu uns bringen. Mokuba bleibt in der Regel bis zehn wach. Spiel mit ihm ein wenig und dann wird man dich nach Hause bringen.“
 

Ich schüttelte kurz ungläubig den Kopf. Um drei am Mittwoch würde ich wohin fahren? „Ähm, ich mache was?“ Kaiba zog die Augenbrauen ein wenig nach oben, so als ob ich eine sehr dumme Frage gestellt hätte. „Du wirst dich mit meinem Bruder beschäftigen. Wenn du es gut anstellst, und er dich mag, und es nicht nur eine Laune von ihm ist, hast du gute Chancen, dass du dir dein schmähliches Taschengeld aufbessern kannst.“ Damit drehte sich Kaiba um und verließ, ohne weitere Worte, mein Zimmer. Fassungslos ließ ich mich in das Kissen sinken. Ich musste träumen. Mein vibrierendes Handy, und ein verzweifelter Joey, welcher dringend die Korrektur für morgen brauchte, bestätigten mir, dass dem nicht so war.

Besuch bei reichen Leuten

Mittwochs um drei verließ ich das Krankenhaus. Meine angeknackste Rippe war einigermaßen gut geheilt, und die Schrammen im Gesicht, von denen meine Freunde berichtet hatten, waren auch abgeklungen. Yugi, Joey und Co besuchten mich auch noch die nächsten Tage und lernten mit mir. Von meinem Besuch hatte ich ihnen nichts erzählt. Es war mir einerseits ein wenig unangenehm, vor allem Joey gegenüber, andererseits war ich aber auch neugierig, was mich denn erwarten würde. Die Stationsschwester händigte mir den Entlassungsschein aus, und wünschte mir noch einen schönen Tag, meine Heimreise sei bereits organisiert. Mir lag auf der Zunge zu fragen, woher sie denn das wissen wolle, entschied mich dann aber doch anders. Kaiba hatte wohl wirklich nicht gelogen. Meine Sachen waren auch schon aus meinem Zimmer verschwunden. So verließ ich also das Krankenhaus und tatsächlich, in der Auffahrt zum Gebäude stand eine schwarze Limousine. Vor der hinteren Tür wartete ein Mann mittleren Alters, mit Schnauzbart, Sonnenbrille und klassischer Fahrerkluft. Als ich langsam auf das Auto zuging, öffnete er mir die Türe und bedeutete mir einzusteigen.
 

„Sie sind mein, ähm, Fahrer?“ Es war zwar ein wenig lächerlich zu fragen, ob der Kerl vor mir wirklich zu Kaiba gehörte, wer sonst sollte mir eine Limo vorbeischicken? Dennoch, ich war neu, und nach wie vor vorsichtig. „Ja, Mister Kaiba wünscht, dass ich Sie zum Anwesen bringe.“ Ich nickte leicht und setzte mich in den Wagen. Die Tür wurde von meinem namenlosen Fahrer geschlossen. Der Innenraum war edel, ganz so, wie ich es für Kaiba angemessen hielt. Weiße Lederbezüge schmiegten sich an die dunkle Innenverkleidung aus Mahagoni und Kirschbaum. Im Getränkehalter befand sich ein großer Pappbecher, in dem eine helle, klare Flüssigkeit vor sich hin prickelte. Daneben, auf einem der Sitze, stand eine dunkelbraune Papiertüte, aus der ein vertrauter Duft stieg. Eindeutig Fast Food. Ich blickte nach vorne, und die getönten Scheiben fuhren langsam nach unten. „Mister Kaiba hat mich angewiesen, Ihnen auf dem Hinweg etwas zu Essen zu besorgen. Schnallen Sie sich bitte an.“ Damit fuhr die Scheibe auch schon wieder nach oben, und ich tat, wie mir geheißen. Neugierig schnappte ich mir die Papiertüte und lugte hinein. Genau mein Geschmack: Hühner Nuggets, Chicken Wings, Pommes und Himbeertaschen. Vorsichtig steckte ich den griffbereiten Strohhalm, welcher neben den Becher geklemmt worden war, in den vorgesehen Schlitz und zog ordentlich. Zitronenlimonade. Ich bestellte eigentlich immer so wenn ich Heißhunger hatte. Woher wusste der Fahrer das? Zufall? Wohl kaum. Fürs Erste begnügte ich mich damit, dass mein Hunger gestillt werden konnte, und begann, vorsichtig, das Essen zu verputzen. Eigentlich war das nicht meine Art, aber ich hatte den Krankenhausfraß, nach dem Reis waren einige Gerichte gekommen, welche ich weniger mochte, genug, und außerdem hat mich der Chauffeur ja zum Essen aufgefordert. Nachdenklich starrte ich nach draußen, den Verkehr beobachtend. Ich war gespannt, wie Kaiba wohl leben würde; sicher in einem imposanten Anwesen. Ich sollte mit meiner Vermutung Recht behalten.
 

Gut eine halbe Stunde später durchquerte die Limousine ein gusseisernes Tor, welches sich gleich hinter uns schloss. Eine riesige Grünfläche, wurde nur durch den asphaltierten Weg unterbrochen, welcher zum Anwesen der Kaibas führte. Die Straße war links und rechts von Kirschbäumen flankiert, die im Sommer eine herrliche Pracht entfalten mussten. Das Gelände glich mehr einem Park, welcher von einem Labyrinth an Hecken und Sträuchern durchzogen war. Alleine für das Mähen des Rasens musste eine ganze Legion an Gärtnern herangeschafft werden, davon war ich überzeugt. Die Türe wurde geöffnet und ermöglichte mir, die Kaibavilla aus der Nähe zu begutachten. Schwere Marmorsäulen stützten ein Vordach aus dem gleichen Material. Das Gebäude war riesig. Glatt geschliffene Stufen aus Granit führten zu einer riesigen, doppelflügeligen Tür. Zwei silberne Türklopfer, beide in Form eines Drachenkopfes, ragten aus dem massiven Holz hervor, waren aber wohl mehr zur Zierde, denn für den richtigen Gebrauch gedacht. Die Klingel neben der Tür, welche topmodern wirkte, nebst Kameras, welche auf den Eingang gerichtet waren, ließen mich zumindest annehmen, dass Kaiba mit der Zeit ging. Langsam stieg ich aus der Limousine aus und nahm dabei meinen Müll mit mir. Der Chauffeur bedeutete mir kopfschüttelnd, die Papiertüte und den Becher im Auto zu lassen.
 

„Sicher? Ich meine, ähm, also, ich will keine Umstände machen.“ Mir war die ganze Situation insgesamt sehr unangenehm, zumal ich mir vorstellen konnte, dass Kaiba mit seinem Personal ähnlich freundlich umging, wie mit seinen Mitschülern. „Nein, dafür gibt es Reinigungskräfte. Gehen Sie hinein, man erwartet Sie bereits.“ Ich nickte kurz, bedankte mich, und stieg dann die Treppe empor. Extrem nervös drückte ich auf die Klingel. Die Kameras fixierten mich einige Momente lang, dann, endlich, ertönte ein leises Surren und die Türe sprang, wie von Geisterhand, nach innen auf. Just in dem Moment, in dem ich die riesige Eingangshalle betreten hatte, schloss sich die Türe hinter mir auch schon wieder.
 

Riesige Glasfenster, welche das Licht der Sonne in ein aberwitziges Sammelsurium an Farben brachen, prangten links und rechts in den Wänden. Zwei Topfpalmen standen jeweils auf einer Seite der Treppe, die sich schlussendlich in zwei Richtungen gabelte. Der Boden bestand ebenfalls aus geschliffenem Granit, welcher so dermaßen poliert war, dass ich mein eigenes Spiegelbild erkennen konnte. Einige Türen im Erdgeschoss mochten wer weiß wohin führen. Gerade als ich die Schnitzereien in den Treppengeländern aus schwarzem Holz begutachten wollte, machte jemand mittels Räuspern auf sich aufmerksam. „Mister Kaiba erwartet Sie bereits. Wenn Sie mir folgen mögen?“ Die Frau vor mir war maximal zwei Jahre älter als ich, hatte langes, dunkelblondes Haar, hellblaue Augen und trug einen Dienstbotenaufzug. Sie wirkte ganz süß auf mich, und war wohl auch nicht aus Japan. „Ähm, natürlich.“ Wortlos folgte ich ihr durch ein Wirrwarr an Korridoren und Räumen. Wir kamen dabei auch an der Küche vorbei, in der sich mindestens drei Personen gegenseitig anschrien, bezüglich des Abendessens. Vor einer schmucklosen Tür machten wir halt. „Treten Sie ein. Ich wünsche noch einen schönen Abend.“ Einen angedeuteten Knicks später, und mit einem freundlichen Lächeln meinerseits begleitet, war das Dienstmädchen auch schon verschwunden. Zögernd öffnete ich die Tür und betrat das Zimmer.
 

Entgegen meiner Erwartungen, bot mir der Raum Einblick in die Welt eines jungen Teenagers. Poster von Sportwagen, Duel Monsters und einigen Superhelden sprangen mir sofort ins Auge. Ein riesiges Himmelbett, bezogen mit einer schwarzen Bettdecke, stand links, in einer Ecke des Raumes. Ein geöffneter Kleiderschrank bot mir Blick auf eine Kollektion aus Markenkleidung, bei deren grober Preiseinschätzung mir schwindlig wurde. Ein gigantischer Flachbildfernseher, mit einer Diagonale, welche sicher das Doppelte meiner Körpergröße ausmachte, war zwischen zwei großen Glasfenstern montiert worden. Mittig im Raum befand sich eine Couch, auf welcher ein etwa dreizehnjähriger Junge hockte. Die rabenschwarze Haarmähne fiel ihm ungebändigt über den Rücken. Ich konnte an seinem Seitenprofil eine kurze, gerade Nase, einen etwas dunkleren Teint und eine Halskette erkennen, welche wie die Rückseite einer Duel Monsters Karte aussah. Der Teenager unterhielt sich gerade angeregt mit jemandem, das Smartphone am Ohr, als sein Blick auf mich fiel. „Ich muss Schluss machen, wir sehen uns morgen!“ Der Kleine sprang über die Couch und ging auf mich zu. Er trug einen schwarzen Kapuzenpulli, Jeans und blaue Sneakers. „Hallo! Du musst David sein.“ Lächelnd streckte er mir die Hand entgegen. „Ähm, ja, das bin ich.“ Ich ergriff seine Hand und schüttelte sie. „Ich bin Mokuba, freut mich, dich kennenzulernen.“ Meine Augenbrauen wanderten ein wenig in die Höhe. Das also war Seto Kaibas kleiner Bruder. Interessant. Ich hatte mir Mokuba anders vorgestellt.
 

„Freut mich, Mokuba.“ Ich war ein wenig unschlüssig. Was wollte der Kleine von mir? „Setz dich auf die Couch, ich hole uns inzwischen etwas zu trinken.“ Damit war er auch schon in ein Nebenzimmer verschwunden, und ich konnte das Klirren von Gläsern hören. Ich beschloss, Mokubas Wunsch Folge zu leisten, pflanzte mich auf die Couch und legte meine Hände im Schoß zusammen. Nach kurzer Zeit, in der ich nebst einer brandneuen Spielkonsole mit Topgames, ein Bücherregal und einen Schreibtisch entdecken konnte, kam der junge Kaiba wieder ins Zimmer und hielt mir ein Glas Cola entgegen. Dankend nippte ich an der Cola und beobachtete Mokuba neugierig, wie er das Gleiche tat. „Du hast dich also mit meinem großen Bruder duelliert? Gleich an deinem ersten Tag?“ Ich nickte leicht. „Ja, mehr oder weniger. Sagen wir, es war nicht ganz freiwillig.“ Grinsend stellte der Teenager sein Glas auf einem Tisch vor dem Sofa ab. „Ja, Joey hat mir schon alles davon erzählt. Du scheinst ziemlich gut zu sein. Seto meinte, aus dir könnte etwas werden.“ Beim letzten Satz verschluckte ich mich an der Cola und begann zu husten. „Was?“ Ungläubig starrte ich Mokuba an, welcher nur amüsiert grinste und mir ein Taschentuch aus einer Box auf dem Tisch anbot. Ich schnäuzte mich kräftig und wiederholte meine Frage erneut.
 

„Kaiba hat was gesagt?“ Das war wohl ein Scherz. Ich traute es aber Mokuba aus irgendeinem Grund nicht zu, dass er mich verarschen wollte. „Dass aus dir etwas werden könnte. Nach seinem Besuch im Krankenhaus hat er eine Stunde lang in seinem Arbeitszimmer herumtelefoniert. Unsere Artworkabteilung ist mittlerweile komplett ausgelastet.“ Mokuba nippte wieder an seiner Cola und bot mir eine Schüssel mit Chips an, aus der ich mich freizügig bediente. „Aha? Mit was? Einem fast achtzehnjährigen Europäer, der im Krankenhausbett angegafft wird?“ Mein Gesprächspartner schüttelte nur lachend den Kopf: „Deine Idee mit dem Schwarzen Rotaugendrachen und dem Weißen Drachen mit eiskaltem Blick, du Nase!“ Meine was? Überfordert kratzte ich mich an der Stirn und griff erneut nach ein paar Chips. „Das nächste Kaibaland wird ganz im Zeichen der geschwisterlichen Bande gestaltet werden. Wir haben schon einige Attraktionen vorbereitet und in Auftrag gegeben. Den Großteil werden wohl der Schwarze Rotaugendrache und der Weiße Drache ausmachen, aber es gibt noch einige Überraschungen.“ Ich verstand nur Bahnhof, nickte aber so, als wäre ich mitgekommen. „Hey, sag mal, zockst du gerne?“ Ein eiskalter Themenwechsel. „Ja, ab und an?“ Mokuba grinste begeistert, packte mich an der Hand, und zog mich aus seinem Zimmer. „Dann komm mal mit. Außer Joey spielt keiner mit mir.“
 

Jetzt konnte es nur mehr gefährlich werden. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Wir durchquerten wieder einige Korridore, begegneten Dienstmädchen, Butlern, Kellnern, Köchen und wahrscheinlich sogar Briefmarkenanleckern. Schlussendlich wurde ich in einen schmucklosen, leeren Raum gezogen, welcher, außer einem Holztisch und zwei außerirdisch wirkenden Brillen, nichts enthielt. Mokuba schloss die Türe hinter uns und schob mich dann in Richtung der Brillen. „Bis zum Essen haben wir noch gut eine Stunde. Probieren wir mal Setos neueste Erfindung aus!“ Ich konnte seine Euphorie nicht ganz teilen, wenn ich an das Hologramm des Weißen Drachen dachte. „Hier, schau mal. Du schiebst die Monsterkarte, die du verkörpern möchtest, in den Schlitz da und setzt dann die Brille auf.“ Mokuba zeigte mit seinem Finger auf eine kleine Ausbuchtung am Rand der Brille, welche genau den Maßen einer Duel Monsters Karte entsprach. „Jede Karte?“ Der Kleinere schüttelte den Kopf: „Nein, noch muss sie humanoid sein. Drachen, reine Tiere und abnorme Viecher fallen aus.“ Mokuba zog inzwischen einen Metallkoffer unter dem Tisch hervor, welcher mir im ersten Moment entgangen sein musste, und öffnete ihn. Ich hatte noch nie so viele Karten auf einem einzigen Haufen gesehen.
 

„Kann ich meine eigenen auch benutzen?“ Instinktiv griff ich in meine Hosentasche und zog mein Deck hervor. „Klar. Die Regeln erkläre ich dir gleich. Schieb einfach deine Karte in den Schlitz und setz die Brille auf.“ Mokuba griff gezielt nach einer Karte, schob sie in den Schlitz und setzte sich die Brille auf. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch tat ich das Gleiche, verstaute mein Deck wieder in meiner Hosentasche, und setzte mir die Brille auf. Einige Momente lang war es schwarz, aber dann…

Virtuelle Realität

Ich stand inmitten einer riesigen Arena, welche mich an das Kolosseum in Rom erinnerte. Der Boden war mit Sand bedeckt, und ein riesiges Areal wurde nur durch hohe Steinwände begrenzt, mit einer schier unendlichen Masse an Zuschauern. Diese jubelten und schrien, reckten die Hände in die Höhe, bewarfen sich mit Popcorn oder schütteten dosenweise Limo in sich hinein. Das Ganze wirkte so real, dass ich mich kurz fragte, ob ich mich wirklich in einem Spiel befand. Ich sah auf meine Hände und konnte erkennen, dass sie ungewöhnlich dunkel wirkten. Meine Arme, genauso wie meine Beine, waren von einer roten Rüstung bedeckt, und in der linken Hand hielt ich einen grünen Stab. „Cool, du hast den Schwarzen Magier gewählt! Die Ausgabe kannte ich noch gar nicht!“
 

Mokubas Stimme riss mich kurz aus meiner Faszination. Wo war der Kleine abgeblieben? Mir gegenüber stand ein riesiger, muskelbepackter Kerl in schillernder, silberner Rüstung. Aus seinen Armen ragten zwei Zacken hervor, ebenso wie aus seinem Helm. Das Gesicht meines vermeintlichen Mitbewerbers erinnerte mich stark an Mokuba, welcher der Karte Elementarheld Neos zum Verwechseln ähnlich sah. „Scheint so.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust, genau wie es mein Schwarzer Magier auf dem Cover meiner Karte tat und grinste schief. „Also? Wie läuft das Ganze jetzt ab?“ Mokuba grinste ebenfalls und räusperte sich: „Okay, du darfst dir jetzt aus einer virtuellen Liste an Karten drei aussuchen. Eine davon ist eine Zauberkarte, eine Fallenkarte und die Dritte eine Monsterkarte.“ Vor mir erschien ein Raster an Karten, welches sich von oben nach unten bewegte. Manche davon waren mir vertraut, andere wieder vollkommen fremd. Nachdem ich meine Auswahl getroffen hatte, verschwanden die Karten wieder. „Okay. Wir spielen zuerst einmal auf dem leichtesten Schwierigkeitsgrad. Unsere Avatare, also die Karten, welche wir ausgewählt haben, spielen dabei nur eine kleine Rolle. Vorwiegend geht es jetzt darum, dass wir uns auf die Rübe hauen. Du kommst schon rein. Wer als Erster keinen Lebensbalken mehr hat, der hat verloren.“
 

Ich wollte mich gerade noch ein wenig über die Regeln erkundigen, da stürmte Mokuba schon auf mich zu. Seine beiden Hände hatte er nahe beieinander gelegt, und ein weißer Energieball schien darin zu flimmern. Bevor ich irgendwie reagieren konnte, streckte mein Kontrahent die Hände aus; der Lichtball sauste auf mich zu und traf mich in der Brust. Die Wucht des Angriffs schleuderte mich ein Stück durch die Luft. Mental bereitete ich mich schon darauf vor, auf die Schnauze zu fliegen, als meine Füße elegant den Boden berührten, und mir sicheren Stand verschafften. Ein Blick auf den virtuellen Lebensbalken über mir, zeigte an, dass ich bereits ein wenig Leben verloren hatte. „Wow, das war abgefahren. Du hast gar keinen Fallschaden genommen.“ Ich fixierte Mokuba einen kurzen Moment, bevor ich grinste. „Unfair. Ich weiß ja nicht mal, was ich machen muss.“ Elementarheld Mokuba lachte lautstark und legte die Hände wieder aneinander. „Finde es raus. Joey hat drei Spiele gebraucht, um es zu checken.“ Der nächste Energieball würde mich wieder Lebenskraft kosten, das wollte ich dieses Mal nicht zulassen. Instinktiv streckte ich meine rechte Hand aus und konzentrierte mich. Das war ein Spiel, und da mir ein Controller fehlte, musste es irgendwie anders gehen.
 

Tatsächlich, die Umgebung wurde kurz jeglicher Farben beraubt, war nur mehr ein Mischmasch aus Schwarz und Grau, ehe das Geräusch von splitterndem Glas zu hören war. Mokubas Angriff ging haarscharf an mir vorbei, und er hatte tatsächlich Lebensenergie verloren. „Klasse! Du hast es kapiert. Es ist im Prinzip ganz einfach. Stell dir vor, wie du angreifst oder zauberst, und deine Gedanken werden umgewandelt. Pass aber auf, das Ganze kostet Energie.“ Mir fiel jetzt der zweite, blaue Balken unter der Lebensenergie auf. Meiner war fast leer, der von Mokuba ganz. „Keine Sorge, die Energie füllt sich mit der Zeit wieder auf. Deine Karten kannst du übrigens einsetzen wann du möchtest, aber nur einmal. Du musst auch nur dran denken, wie eben bei deinem Angriff. Irgendwann geht das wie von selbst.“ Damit reckte der Elementarheld Neo-Verschnitt den rechten Arm in den Himmel. Dieser verfinsterte sich, und ein Gewitter zog auf. Donnergrollen und Blitze erfüllten die Umgebung, während der Sand der Arena aufgewirbelt wurde. Ein greller Blitz fuhr auf Mokuba nieder, der Sekunden später ein riesiges Schwert in Händen hielt, dessen Klinge von Blitzen benetzt war. Das musste die Blitzklinge sein. Ich hatte die Karte schon einmal bei einem Freund im Duell gesehen. Mokuba drehte die Waffe über dem Kopf, bevor er damit auf mich zustürmte. Ehe ich mich versah, fuhr mir die Klinge tief in die Schulter und wurde gleich wieder herausgezogen. Es roch nach verbranntem Fleisch, und meine Rüstung war an der getroffenen Stelle gebrochen. Die Wunde sah alles andere als appetitlich aus, Schmerzen verspürte ich aber keine. Das hatte ordentlich Lebensenergie gekostet. „Komm schon, wehre dich, das ist langweilig!“ Mokuba holte beidhändig zum nächsten Schlag aus und ich hob meinen Stab, um das Schwert abzublocken. Das gelang mir auch tatsächlich, aber meine Lebensenergie wurde trotzdem abgezogen.
 

„Ich habe ein Power up benutzt. Du bist schwächer als ich. Damit verlierst du trotzdem Lebensenergie.“ Ich seufzte nur leise und drückte das Schwert von mir. Anstrengend mit einem Teenager zu spielen, aber irgendwie gefiel es mir auch. „Ah, wie Joey. Zeit, dass ich dir in den Hintern trete.“ Mokuba rammte sein Schwert mit beiden Händen in den Boden, während der Energiebalken über seinem Kopf abzunehmen begann. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich wirbelte meinen Stab herum und zielte mit der Spitze auf Mokubas Schläfe. Kurz bevor meine Waffe ihn berührte, stoppte ich plötzlich. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ein Kunai mit Kette hatte sich um mich geschlungen und zog sich immer enger zu. Mokuba grinste breit, die Kette in den Händen haltend. „Reingefallen! Jetzt hab ich dich!“ Ein Ruck an der Kette zwang mich auf die Knie. Zeitgleich erfüllte ein ohrenbetäubendes Brüllen die Arena. Aus den dunklen Gewitterwolken schälte sich langsam ein geflügeltes Wesen, welches ich als Fluch des Drachen identifizierte. „Das war es dann wohl für dich, David!“ Mokuba zog noch stärker am Kunai, während sich der Fluch des Drachen im Sturzflug näherte. Ich zerrte an der Kette, konnte mich aber nicht befreien. Plötzlich ließ der Druck nach und mein Gegner griff nach seinem Schwert.
 

Mit einem Sprung in unmenschliche Höhe, landete er auf dem Kopf seines Drachens, welcher das Maul bereits geöffnet hatte. In dessen Rachen glühte es hellrot auf. Ich drehte den Kopf zur Seite, schloss die Augen und wünschte mir innerlich, ein Schild, eine Rüstung oder irgendetwas zum Schutz zu besitzen. Sekunden später hörte ich das Prasseln von Feuer, den Schrei des Fluchs des Drachen und eine jubelnde Zuschauermenge.
 

„Das gibt es nicht! Du müsstest tot sein!“ Mokuba klang ein wenig enttäuscht. Langsam öffnete ich die Augen und sah mich um. Der Sand unter mir war glatt geworden und ich konnte mein Spiegelbild darin erkennen. Ich glich dem Schwarzen Magier wirklich aufs Haar, mal abgesehen von meinem Gesicht. Ein schwarzes, waberndes Schild umgab mich. Der Kunai war inzwischen von mir abgefallen. „Das muss wohl eine Spezialfähigkeit vom Schwarzen Magier sein. Dein Energiebalken ist ja auch ganz leer, schau!“ Tatsächlich, ein Blick auf meinen Energiebalken bestätigte Mokubas Aussage. Dieser schwebte über mir, während mich sein Drachen feindselig anstarrte.
 

„Egal, dann werfe ich dich eben jetzt aus dem Spiel!“ Mit einer Freude in der Stimme, welche mich fast schon ein wenig gruseln ließ, befahl Mokuba seinem Fluch des Drachen erneut anzugreifen. Ich beschloss, die Beine in die Hand zu nehmen und sprintete davon. Dabei konnte ich das Knistern von Feuer, und einen Mokuba hören, welcher sich lautstark beschwerte, ich solle gefälligst stehen bleiben. Hinter mir regnete es Flammen, und ich suchte verzweifelt nach Deckung. In der Nähe befanden sich einige Steinsäulen – meine Chance auf Ruhe und eine Pause! Mit einem Hechtsprung rollte ich mich in den Schutz der nächsten Säule und presste meinen Rücken schnaufend an den kühlen Stein. Die Schmerzen von den Wunden hatte man wohl weggelassen, aber andere Aspekte wie Ausdauer und Erschöpfung genauestens umgesetzt.
 

„Komm raus jetzt! Sei kein Angsthase!“ Allmählich wurde mir Mokuba ein wenig unsympathisch. Er schien riesige Freude daran zu haben, mich grillen zu wollen. In meiner Nähe blitzte etwas. Langsam streckte ich meine freie Hand danach aus und plötzlich ertönte ein lautes „Pling“. Die Arena erbebte und rund um mich entstand ein heller Lichtkreis. „Supportkarten opfern?“ fragte eine laute, weibliche Stimme. Das musste wohl ein Secret oder so sein. „Ja, ich will meine Supportkarten opfern!“ Mokuba tobte inzwischen, das wäre unfair und überhaupt eine Frechheit, es würde nicht zählen und bedachte mich mit einigen Wörtern, wobei Betrüger das Häufigste war. Meine Gestalt veränderte sich. Mein Stab verformte sich zu einem eleganten Langschwert, während sich die rote Rüstung des Schwarzen Magiers umwandelte. Meinen Rücken zierte ein schwarzer Umhang, und meine Hände waren von einer schweren Plattenrüstung bedeckt. „Ritualbeschwörung abgeschlossen – Dunkler Magier-Ritter im Spiel.“ Wieder die Frauenstimme. Ein Blick auf meine Daten zeigte mir, dass mein Energiebalken voll, und mit weißen Strichen durchzogen war. Jetzt hatte ich wahrscheinlich eine Chance gegen Mokuba.
 

Selbstsicher trat ich aus meinem Versteck hervor. Der Wind des Gewitters peitschte mir samt Regen ins Gesicht. Mein Umhang wehte hinter mir und die Zuschauermenge verstummte kurz, nur um dann in tosenden Jubel auszubrechen. Mokuba starrte mich kurz fassungslos von erhöhter Position an, ehe sich im Maul seines Drachen erneut ein helles Glühen bildete. Ich drehte mein Schwert so, dass es mit der breiten Seite vor meinem Gesicht lag. Der Feuerschwall, welcher mir entgegenschlug, wurde an meiner Klinge gebrochen und regnete links und rechts von mir herab. Meine Lebensenergie war unberührt geblieben. Mokuba stand der Mund offen: „Wahnsinn!“ Das blank polierte Metall meiner Waffe zeigte mir ein Spiegelbild, welches ich gar nicht wiederkannte: Ich wirkte erwachsener, reifer, selbstsicherer. Kurz erschien das Antlitz meines Schwarzen Magiers, welcher mir lächelnd zunickte, und dann wieder meinem Gesicht Platz machte. War das auch ein beabsichtigtes Feature?

Mit einem Mal war mir so, als wüsste ich, was zu tun war. Meine freie, flache Hand wanderte über die Schwertklinge und diese leuchtete hell auf. Zeit, mich bei Mokuba zu revanchieren. Mit einem Satz war ich schon in der Luft und landete auf dem Schädel des Drachenfluchs. Ein gezielter Tritt in die Magengrube beförderte Neo-Mokuba vom Rücken seines Begleiters, ehe ich das Schwert drehte und mit beiden Händen in den Rücken des Drachen rammte. Jaulend und kreischend verlor das Monster an Höhe, während ich die Waffe tiefer in sein Fleisch hineintrieb. Schwarze Blitze zuckten die Klinge entlang und griffen dabei auf den Fluch des Drachen über. Mit einem dumpfen Laut schlitterte das Wesen über den sandigen Arenaboden, ehe es sich auflöste und ich wieder auf meinen eigenen Füßen stand.
 

Mein Blick wanderte zu Mokuba, welcher seine Blitzklinge mit beiden Händen umfasste. „Unmöglich! Ich verliere niemals!“ Damit stürmte er auch schon auf mich zu. Zielsicher hob ich mein Schwert in die Höhe und blockte den Angriff mühelos ab. Blitze tanzten unsere Waffen entlang, während ich mich meinem Gegner entgegendrückte. Das Patt schien zu meinen Gunsten auszugehen. Mokubas Gesichtsausdruck verriet mir, dass er sich dessen ebenfalls bewusst wurde. Die Zuschauer brachen in ein ohrenbetäubendes Jubeln aus, während ich meinen Kontrahenten langsam zu Boden drückte, unsere Klingen noch immer gekreuzt. „Du hast ja nicht mal ein Power up benutzt!“ Mokuba hörte sich fast schon ein wenig verzweifelt an. „Power ups sind nicht alles, wie es scheint.“ Schlagartig verringerte ich den Druck und trat einige Schritte zurück. Ich strich mit meiner freien Hand erneut über die Klinge, welche wieder von schwarzen Blitzen umzüngelt wurde. Mein Energiebalken war noch immer nicht angekratzt.
 

Mokuba rappelte sich inzwischen auf und reckte seine Blitzklinge zum Himmel. Blitze umfingen das Schwert, ehe er es frontal von oben herab auf den Boden sausen ließ. Eine pfeilgerade Linie an Blitzen schoss auf mich zu. Ich tat mit meiner Waffe das Gleiche, und eine ähnliche Reaktion, nur in schwarz, war das Resultat meines Handelns. Als sich die beiden Energiebündel trafen, gab es ein ohrenbetäubendes Donnern. Mokubas Angriff wurde in der Mitte von meinem eigenen Blitzbündel gespalten und schleuderte diesen an die gegenüberliegende Arenawand. Selbstsicher machte ich mich langsam auf den Weg zu meinem Gegner. Mein Energiebalken war noch immer unverändert. Ich streckte meine freie Hand aus und richtete sie auf Mokubas Schwert. Mit einem Ruck ballte ich meine Hand zur Faust, was die Waffe in tausend Teile zerspringen ließ. Die Wolken lösten sich langsam auf, und als ich vor Neo-Mokuba angekommen war, war es inzwischen wieder hell.

„Gibst du auf, Mokuba?“ Dieser starrte mich kurz an und legte dann seine Hände zusammen. „Kampflos nicht!“ In seinen Händen bildete sich wieder eine Energiekugel. Blitzschnell ließ ich meine Klinge durch den Energieball stoßen und rammte meinem Gegner das Schwert in die Brust. Beinahe ohne Widerstand glitt es bis zum Heft in meinen Kontrahenten, welcher mich mit großen Augen anstarrte. „Und der Sieger ist der Dunkle Magier-Ritter!“ Die Frauenstimme hatte sich wieder zu Wort gemeldet. Mokuba ließ den Kopf hängen, während die gesamte Arena von den Rufen der Zuschauer erfüllt war. „Magier-Ritter, Magier-Ritter!“ Ich lächelte breit und war zugegebenermaßen ein wenig Stolz. „Das Essen ist in fünf Minuten fertig. Bitte beeilen sie sich, sonst wird es noch kalt.“ Plötzlich verblasste das Schauspiel um mich herum und ich starrte auf Mokuba, also den echten, den menschlichen Mokuba, hinab. Dieser zog die Brille vom Kopf und packte die Karte wieder in den Metallkoffer. Zögernd nahm ich meine eigene Brille ab und sah zur Tür.
 

Einer der Bediensteten, ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, stand in der Tür, und hatte uns wohl aus dem Spiel geholt. „Ist gut, wir kommen gleich!“ Mokubas Stimme klang, entgegen meiner Vermutung, begeistert. „Irre! Du hast mich ja ganz schön alt aussehen lassen! Jetzt weiß ich, was Joey gemeint hat.“ Ich packte meinen Schwarzen Magier zurück ins Deck und beobachtete den Kleinen aus den Augenwinkeln heraus. Der schien ja förmlich vor Energie und Freude zu platzen. „Du bist mir also nicht böse, weil ich dich geschlagen habe?“ Ein heftiges Kopfschütteln seinerseits bewegte mich dazu, zu lächeln. „Es hat jedenfalls sehr viel Spaß gemacht.“
 

Mokuba grinste breit und nickte dann zur Tür. „Du bist sicher hungrig, oder?“ Zugegebenermaßen knurrte mein Magen, also nickte ich wahrheitsgemäß. Mein kleiner Groupie, so wie er sich den Weg zum Speisesaal hin verhielt, führte mich in einen großen Raum, der mit einer riesigen Tafel bestückt war, an der mindestens dreißig Personen Platz gehabt hätten. Es war aber nur für zwei Leute gedeckt worden. Ebenso standen nur zwei Stühle an der Tafel, wobei Stühle das falsche Wort gewesen wäre: Riesige, thronartige Gebilde, in welchen man gut und gerne schlafen konnte, wenn man wollte. Die Stuhllehne war gigantisch, und mit zwei jeweils, sich zueinander aufbäumenden Weißen Drachen versehen worden. „Imposant“ entkam es mir, während mich Mokuba auf einen Stuhl drängte, und dann den neben mir in Beschlag nahm. „Mh, Seto hat ein Faible für seine Drachen. Bringt das Essen rein!“ Wie aufs Stichwort kam eine Horde an Personen in den Saal, jeder mit einem Tablett, Besteck oder Getränken bewaffnet. Ich entschied mich für frische Zitronenlimonade, ein klare Suppe mit Nudeln, Rindersteak mit Pommes und Kräuterbutter und als Nachtisch Vanillepudding. Mokuba und ich unterhielten uns beim Essen angeregt über das Spiel, und was man noch verbessern könnte.
 

„Vor allem beim Namen sind wir uns noch unschlüssig.“ Ich kratzte gerade die Schüssel mit Pudding aus, als auch schon das Heer an Bediensteten sich bereit machte, abzuräumen. „Mh, wie wäre es mit Virtual Duel Monster Fighters, oder Duel MonstersArena?“ Mein Gesprächspartner nickte nur begeistert, während ich meine Limonade austrank. Ein Blick auf die riesige Standuhr in einer Ecke des Raumes verriet mir, dass es kurz vor zehn war. „Ich habe dir das Gästezimmer neben mir herrichten lassen. Fühl dich wie zu Hause! Morgen wirst du zur Schule gefahren.“ Ich war ein wenig perplex. Mokuba hatte das mit einer Selbstverständlichkeit gesagt, als hätte er damit gerechnet, dass ich bleiben würde. „Das kann ich nicht annehmen, Mokuba. Ich laufe nach Hause.“ Dieser hob nur abwehrend die Hände: „Quatsch! Außerdem bist du mindestens eine Stunde unterwegs, wenn nicht länger! Komm, ich bring dich auf dein Zimmer!“ Irgendwie konnte ich dem Kleinen keinen Wunsch abschlagen. So bedankte ich mich ordentlich beim Personal und wurde wieder an der Hand genommen. „Nächstes Mal duellierst du dich mit Joey! Der ist mittlerweile auch ganz gut geworden. Natürlich weit entfernt von mir, aber immerhin…“ Mokuba plapperte einfach so drauf los, während ich über seine Worte nachdachte. Nächstes Mal. Wir hielten vor einer Tür, welche er aufdrückte.
 

Mir blieb die Luft weg. Das Zimmer war der absolute Wahnsinn. Ein riesiges Himmelbett stand an der Wand, flankiert von zwei Fensterscheiben, ähnlich denen in Mokubas Zimmer. Kleiderschrank, Bücher, Fernseher, Möbel; alles wirkte teuer, riesig, maßangefertigt oder einfach nur verboten edel. Mein Blick fiel auf die Bettwäsche und die Kissen, auf welchen sich jeweils ein Schwarzer Rotaugendrache aufbäumte. „Ah ja, schau, sogar das mit dem Bett haben sie gemacht. Sehr ordentlich. Das Bad ist drüben links. Zahnbürste und Duschzeug liegt bereit, du kannst auch baden wenn du möchtest. PayTV ist drin, und du kannst auch schon vorab die neuesten Kinofilme angucken. Falls der Jugendschutz drin ist, der Code ist eins, vier, sieben, drei, eins. Schlaf gut, ich hole dich morgen um sieben ab, dann frühstücken wir gemeinsam!“ Ich war vollkommen baff. Irgendetwas konnte hier nicht stimmen. Träumte ich? Ein sanfter Druck an meiner Hüfte ließ mich nach unten blicken.
 

Mokuba umarmte mich. Moment Mal, er tat was? „Das war echt cool, David. Ich mag dich!“ Ah ja, das beruhte auf Gegenseitigkeit, wenn ich ehrlich war. Ich entschloss mich dazu, ihn ebenfalls sanft zu drücken. „Ich dich auch, Mokuba.“ Langsam löste er sich von mir und ging dann zur Tür: „Schlafzeug liegt im Badezimmer. Träum was Feines! Wenn was ist, ich bin nebenan!“ Damit fiel die Tür ins Schloss und ich war alleine. Was war hier eigentlich los? Ich war zu müde, und zu vollgefressen, um mir weiter Gedanken zu machen. Das konnte ich schließlich morgen auch noch machen. Gähnend stapfte ich ins Bad, dessen Inventar wahrscheinlich schon die Hälfte einer Eigentumswohnung kosten mochte. Verschlafen sprang ich unter die Dusche (obwohl mich die Badewanne verlockend anlächelte), putzte mir die Zähne und schlüpfte in einen Schlafanzug, der mir erstaunlicherweise exakt passte. Meine Sporttasche war neben das Bett gelegt worden.
 

Achtlos warf ich meine Klamotten über die Tasche und legte mich in die flauschigen Laken. Ich grapschte nach der Fernbedienung und schaltete das Monstrum von Fernseher an. Mit hochgezogenen Augenbrauen wurde mir bewusst, dass der Sender deutscher Natur war. Beim Zappen stellte sich heraus, dass neben den japanischen Kanälen, auch jene aus meiner Heimat empfangen wurden. Ich entschied mich für eine alte, satirische Gerichtsshow, welche ich als Kind mit meinen Großeltern öfters geschaut hatte und schlief dabei lächelnd ein. Insgesamt war es ein schöner Tag gewesen. Merkwürdig, aber schön.

Alltag und Geschäfte

„Aufwachen!“ Ein dumpfer Schmerz in der Magengrube, kombiniert mit Mokubas Stimme, riss mich aus meinem süßen Schlummer. Verschlafen öffnete ich die Augen und starrte in das Gesicht des Teenagers, welcher es sich auf mir bequem gemacht hatte. Mokuba war schon fix fertig angezogen. „Aaah, bist du mir auf den Bauch gesprungen, oder was?“ Eine Frage, die mit einem breiten Grinsen beantwortet wurde. „Joey und Seto wecke ich auch immer so!“ Müde rieb ich mir die Augen und gähnte ein wenig. „Ist Joey eigentlich öfter hier?“ Mokuba nickte leicht: „Ja. Er passt auf mich auf, wenn Seto mal wieder unterwegs ist. Das hat sich so eingebürgert.“ Ich schrägte den Kopf ein wenig: „Trotz der Tatsache, dass sie sich so zu hassen scheinen?“ Das war mir in der Tat suspekt. Joey hatte mir im Krankenhaus von seiner Beziehung zu Kaiba erzählt, und ich hätte lügen müssen, wenn mir dabei ein gutes Wort eingefallen wäre.
 

„Ah, die tun nur so. Insgeheim respektiert Seto Joey. Ein wenig zumindest.“ Schwer vorstellbar. „Zieh dich an, es gibt gleich Frühstück!“ Mokuba hüpfte von mir herunter und stürmte aus dem Gästezimmer. Na wenn er Kaiba auch so weckte, könnte das ein wenig seine Laune in der Schule erklären. Ich kratzte mich ein wenig am Bauch und schwang meine Beine dann aus dem Bett um mich frisch zu machen. Fünfzehn Minuten, und eine ordentliche Dusche später, wurde ich wieder in den Speisesaal geführt. Eigentlich hätte sich die Tischplatte biegen müssen, so viel Essen stand herum. Traditionelles japanisches Frühstück, nebst englischer und heimatlicher Küche. Ich setzte mich wieder auf einen der beiden Stühle, und zog einen Teller heran. Mokuba war bereits am Frühstücken.
 

„Gut geschlafen, David?“ Diese Energie, welche der Kleine verströmte, war fast schon ein wenig abstoßend. „Mh. Das Bett ist ganz angenehm.“ Mein Blick wanderte über die Tafel: „Wo ist eigentlich dein Bruder, Mokuba?“ Meine Frage wurde mit einem Schulterzucken beantwortet. „Wahrscheinlich schon in der Firma. Seto frühstückt selten mit mir.“ Ich nickte nur vage und bestrich meinen gerösteten Vollkorntoast mit Butter und Honig. „Deine Sachen sind schon im Wagen verstaut. Du bist um acht Uhr pünktlich in der Schule, versprochen.“ Mokubas Stimme klang fast ein wenig wehmütig, und sein Blick erinnerte mich an einen kleinen, süßen Hund – der klassische Dackelblick. „Sag mal, David?“ Der Ton gefiel mir überhaupt nicht, er war so lauernd. Er wollte eindeutig etwas von mir. „Hm?“ Ich kaute an meinem Toast und nutzte die Teetasse, um den Blickkontakt zu unterbrechen. „Kommst du die nächsten Tage wieder?“ Anscheinend konnte ich wohl sehr gut mit Kindern, oder zumindest mit Kaibas kleinem Bruder.
 

Ich kratzte mich am frisch rasierten Hals und lächelte dann: „Ich bin schließlich eins zu null vorne, in deinem Game, Mokuba. Es wäre unfair, dir die Möglichkeit der Revanche zu verwehren.“ Sein Gesicht hellte sich schlagartig auf, und Sekunden später hatte ich den kleinen Teenie wieder am Hals, welcher mich drückte. „Klasse!“ Mit Mühe und Not schob ich mein Frühstück beiseite, um größere Schäden an der Tischdecke zu verhindern, und erwiderte die Umarmung sanft. „Kein Ding, Mokuba. Es hat mir gestern auch großen Spaß gemacht.“ Das entsprach sogar der Wahrheit. Obwohl er ein wenig anstrengend war, so hatte ich den kleinen Kaiba irgendwie schon ein wenig ins Herz geschlossen. Als Einzelkind genoss ich es auch ein wenig, dass sich jemand so um mich bemühte, und sich für mich begeisterte. Ob er seinen Bruder wohl gleich behandelte? Nach dem Frühstück brachte mich Mokuba vor die Türe, wir verabschiedeten uns innig (mit einer erneuten Umarmung), und ich wurde tatsächlich zu meiner Schule gebracht. Meine Schultasche war bereits gepackt, nebst einer Jause bestehend aus den Dingen, welche ich mochte. „Ich bringe Ihre Sachen noch in die Wohnung. Ich werde beim Hausverwalter vorstellig, und besorge mir den Generalschlüssel, dann können Sie Ihren eigenen behalten.“ Der Fahrer von gestern schloss die Tür hinter mir, verbeugte sich einmal kurz und fuhr dann davon. Eines musste man Kaiba lassen: Er hatte wirklich alles perfekt durchorganisiert.
 

Plötzlich hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Yugi, Joey und Tristan liefen mir winkend entgegen. „Hey, David! Im Lotto gewonnen, oder was war das?“ Joey boxte mir grinsend gegen die Schulter. „Lange Geschichte, etwas für die Mittagspause. Was haben wir in der ersten Stunde?“ Ich rieb mir verlegen den Nacken. Eigentlich wollte ich meinen Besuch bei Kaiba, gerade Joey gegenüber, geheim halten. „Geschichte. Heute steht die Edo-Zeit auf dem Plan.“ Yugi strich sich lächelnd eine Strähne aus dem Gesicht. „Oh Mann, nicht schon wieder.“ Tristan verdrehte die Augen, was mich in ein Lachen ausbrechen ließ. Die nächsten Stunden bis zur Mittagspause waren relativ ereignislos, mal abgesehen davon, dass Joey mit mir mein Duell zum gefühlt zwanzigsten Mal genauestens analysieren wollte. Als es zur Mittagspause läutete, räumte ich meine Schultasche ein und seufzte innerlich. Jetzt musste ich die Katze wohl aus dem Sack lassen.
 

Auf dem Dach des Schulgebäudes angekommen, öffnete ich meine Tupperbox und zog zwei Speckbrote, eine Cremeschnitte und Müsliriegel hervor, wobei ich letztere mit der Gruppe teilte. Tea war inzwischen zu uns gestoßen. „Der feine Herr lässt es sich heute gut gehen, hm? Zuerst eine Limousine mit Chauffeur, dann Cremeschnitten… hast du eine reiche Freundin aufgegabelt, oder was?“ Joey aß, wie Yugi und der Rest, einen Becher Ramen. „Mh, nein, ich…“ Sollte ich es wirklich sagen? Was wenn mir jemand böse war? Sie schienen alle kein so gutes Verhältnis zu Kaiba zu haben. „Spucks aus.“ Tristan nippte an einem Becher grünen Tees und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Mauer. „Kaiba hat mich im Krankenhaus besucht.“ Stille. Ich wurde von allen einige Sekunden lang angestarrt, bevor dutzende Fragen auf mich niederprasselten.
 

Ich erzählte meinen neuen Freunden also die ganze Geschichte von vorne, und als ich geendet hatte, fiel mir selbst eine Frage ein: „Wo steckt Kaiba eigentlich?“ Der CEO war tatsächlich nicht in der Schule gewesen. „Der kommt immer nur montags und mittwochs. Die restliche Zeit ist er mit dem Leiten der Firma beschäftigt.“ Joey verschlang den letzten Rest Ramen und stellte den leeren Becher neben sich ab. „Komisch. Das ist normalerweise gar nicht Kaibas Art.“ Tea schlürfte aus ihrem Teebecher und tippte sich nachdenklich ans Kinn. Ich zuckte nur hilflos mit den Schultern. „Mokuba möchte, dass ich ihn die nächsten Tage wieder besuchen komme.“ Grinsend zerstrubbelte Joey mir die Haare. „Das kann ich mir vorstellen. Wenn du ihn wirklich geschlagen hast, wird er das nicht auf sich sitzen lassen wollen.“ Danach befassten wir uns mit anderen Themen, wie dem Schulstoff, Rezepten für Kuchen und Pralinen, sowie eine Geschichte von Yugi, wie er einem von Pegasus´ Eliminatoren ohne Angst entgegengetreten ist.
 

Die nächsten Tage verliefen ruhig und ereignislos. Kaiba erschien, wie von Joey prophezeit, die ganze Woche nicht. Mokuba hatte sich auch nicht gemeldet, und so verbrachte ich das Wochenende zu Hause. Joey und Yugi besuchten mich am Samstag. Gemeinsam gingen wir den Spieleladen von Yugis Großvater, Solomon Muto, welcher sich als sehr freundlicher, alter Mann entpuppte. Neugierig begutachtete er mein Deck, und war vor allem von meinem Schwarzen Magier sehr angetan. Yugi zeigte mir seinen eigenen, und wir entschieden uns dafür, ein Duell auszufechten, welches ich haushoch verlor (vielleicht auch wegen Joeys dauernder Zwischenrufe, ich müsse viel aggressiver spielen).
 

Montags beehrte uns Kaiba wirklich mit seiner Anwesenheit. Natürlich war ihm sein Umfeld komplett gleichgültig, wie auch sonst. Wir räumten gerade unsere Schulsachen ein, und ich schulterte meinen Rucksack, als ich Joeys Stimme vernahm: „Was macht Graf Eisklotz denn hier? Auf ein verbales Gefecht aus, oder was beehrt uns mit deiner Anwesenheit?“ Ich seufzte leise. Wie konnte Joey eigentlich auf Mokuba aufpassen, und diesen sogar mögen, wenn er seinen Bruder so abgrundtief hasste? Andererseits, ich mochte Seto Kaiba auch nicht sonderlich, Mokuba bisher jedoch schon.
 

„Wegen dir bin ich auch nicht hier, Wheeler. Meine Zeit ist zu kostbar, um sie mit dir zu vergeuden.“ Joey schnaubte leise und ich konnte eine Ader an seiner Schläfe hervortreten sehen, als ich mich umdrehte. „So, weswegen dann?“ Kaiba nickte in meine Richtung. „Kleiner? Hast du mal einen Augenblick Zeit?“ Er wollte tatsächlich etwas von mir. Wahrscheinlich, dass ich Mokuba nicht erneut besuchen sollte, oder er wollte mir Fahrt und Kost in Rechnung stellen. „Hm? Was gibt es?“ Ich vermied es tunlichst, Kaiba direkt in die Augen zu blicken. Stattdessen fixierte ich die Uhr an der Wand hinter ihm. „Was machst du am Mittwoch um 15:00 Uhr?“ Mittwoch um drei, keine Ahnung?
 

„Bisher nichts, außer nach Hause zu gehen, warum?“ Der CEO hob seine rechte Braue ein wenig, ehe er in seine Uniform griff und eine Visitenkarte hervorzog. „Hier.“ Er drückte mir die Visitenkarte in die Hand, schnappte sich seine Schultasche und ging nach draußen. „Aha. Was soll ich jetzt damit?“ Gemeinsam begutachteten Joey, Yugi, Tristan, Tea und ich die Visitenkarte. Kaibas Firmenlogo zierte das rechte Eck und eine Adresse war darauf vermerkt, nebst Telefonnummer. Kaibas voller Name stand vor der Nummer. „Die Dinger sind ein kleines Vermögen wert.“ Ich blickte zu Tristan, welcher leise gepfiffen hatte. „Das da ist Kaibas private Handynummer. Es gibt genügend Leute, die würden ihre eigene Mutter dafür verkaufen.“ Yugi griff nach der Visitenkarte und drehte sie mitsamt meiner Hand um. „Schau mal, da steht was!“ Ich lugte auf die Rückseite der Karte und tatsächlich, ich solle um drei Uhr bei der Adresse erscheinen.
 

„Soll ich hingehen?“ Mir war ein wenig mulmig zumute. Kaiba verhielt sich so komisch, oder das war völlig normal für ihn. „Klar. Wenn er dir die Karte schon mal gibt. Außerdem, ich glaube ich weiß wo das ist.“ Tea beschrieb mir genau den Weg zum angegeben Ort. „Das müsste ein Aufnahmestudio sein. Die sind ganz groß geworden, weil Kaiba sie gesponsert hat.“ Ein Aufnahmestudio? Wozu? Nachdenklich schob ich die Visitenkarte in meine Hosentasche und verabredete mich dann mit den dreien zu einem Kaffee im örtlichen Einkaufszentrum und einer anschließenden, ausgiebigen Spieletour.
 

Als wir am Mittwoch gemeinsam die Sachen in unsere Schultaschen räumten, starrte ich gedankenverloren auf Kaibas Visitenkarte. Ich hatte mich nach einigem Zögern dazu entschlossen, hinzugehen. Dieser war außerdem heute nicht in der Schule gewesen. „Wenn dir etwas komisch vorkommt, ruf einfach an. Tristan und ich sind gleich da.“ Ich nickte Joey dankbar zu. Es beruhigte mich ein wenig, beide in greifbarer Nähe zu wissen, wobei ich das Wort „gleich“ mit leisen Zweifeln bedachte. Jedenfalls erreichte ich, unter Zuhilfenahme öffentlicher Verkehrsmittel, um zehn vor drei die beschriebene Adresse.
 

Tea hatte mit ihrer Vermutung nicht ganz Unrecht gehabt. Den Werbetafeln und der Leuchtreklame nach zu urteilen, handelte es sich wirklich um ein Aufnahmestudio, welches aber wohl im Fachbereich Computer- und Konsolenspiele spezialisiert hatte. Nebst Ton- und Bildtechnik kümmerte man sich außerdem um Programmierung und Entwicklung von Software und Games. Langsam ging ich zu einer großen Glastür und läutete an der Fernsprechanlage. Eine weibliche Stimme meldete sich: „Ja, bitte?“ Ich verglich noch einmal die Adresse der Visitenkarte, mit der Hausnummer und antwortete dann: „Verzeihung, aber ich habe hier eine Visitenkarte von Herrn Seto Kaiba. Ich wurde um drei Uhr hierher bestellt.“ Einige Momente lang herrschte Stille, ehe ein Surren der Tür mich zum Eintreten aufforderte.
 

Ich wurde von einem alten Mann, um die siebzig Jahre begrüßt, welcher mir freundlich die Hand schüttelte. Neben seiner Kleidung, Anzug, weißem Hemd mit schwarzer Krawatte, kam ich mir in meiner Schuluniform mit Rucksack ein wenig underdressed vor. Herr Takeshita, wie er sich vorgestellt hatte, bedeutete mir, in sein Büro zu folgen. Ich war zugegebenermaßen ein wenig überfordert mit der Gesamtsituation. Warum war ich überhaupt hier? Bevor ich meine Frage aussprechen konnte, waren wir auch schon einem geräumigen Büro mit Beamer, Leinwand, einem großen Schreibtisch, einem Computer mit mehreren Bildschirmen sowie mehreren Aktenschränken angekommen. Freundlich lächelnd bedeutete mir Herr Takeshita, mich zu setzen. Er verschränkte seine Finger ineinander und legte seine Hände auf den Tisch.
 

„Mister Kaiba dürfte auch gleich hier sein.“ Ich schrägte ein wenig den Kopf. „Worum geht es denn, wenn ich fragen darf?“ Bisher hatte ich nicht das Gefühl, dass man mich veralbern wollte, oder dass Kaiba sich irgendwie für das Duell und das Gerede revanchieren wollte. „Ein paar Formalitäten, mehr nicht.“ Aha, Formalitäten. Die Tür ging auf und Kaiba kam herein, mit einer Frau mittleren Alters, welche eine Mappe unter den Arm geklemmt hatte.
 

„Ah, Mister Kaiba. Wir haben gerade von Ihnen gesprochen. Schön Sie zu sehen.“ Herr Takeshita stand auf, verbeugte sich, und wies Kaiba den Stuhl neben mir zu. Der CEO nickte kurz angebunden und setzte sich, samt seiner Begleitung, neben mir auf die freien Plätze. Nun war ich endgültig verwirrt. Kaiba überschlug seine Beine, verschränkte die Arme vor der Brust und nickte Herrn Takeshita auffordernd zu, welcher mehrere Papierbögen unter seinem Schreibtisch hervorzog. Diese waren mit einer Büroklammer zusammengeheftet worden. Lächelnd schob er mir den Stapel zu.
 

„Herr Kaiba möchte Ihnen anbieten, wie auch ich, dass sie sich an der Konsolenportierung von „Duel Monster Arena“ beteiligen.“ Die Konsolenportierung von Duel Monster Arena? Das Spiel, welches ich und Mokuba gespielt haben? „Herr Seto Kaiba, wie auch seine Stellvertretung, Herr Mokuba Kaiba möchten, dass Sie den Schwarzen Magier synchronisieren. Außerdem wäre es uns ganz Recht, wie auch der Firma Kaiba Corporation, wenn wir Ihr Gesicht auf dem Cover des Spiels verwenden dürften. Sie dürfen natürlich auch an der Figur mitentwickeln. Einige Vorschläge bezüglich des Covers haben wir bereits entworfen.“
 

Kaiba nickte der Frau neben sich zu, welche aufstand, die Mappe vor mir öffnete und auf den Tisch legte. Ich blätterte neugierig die Mappe durch, und versuchte zu verarbeiten, was man mir gerade gesagt hatte. Tatsächlich, in dem Folder befanden sich wunderschöne Konzeptzeichnungen vom Schwarzen Magier, welcher in Figur und Gesichtsform mir nachempfunden worden war. „Wir würden Sie natürlich angemessen entlohnen.“ Ich blickte von den Zeichnungen auf. „Entlohnen?“ Herr Takesthita nickte und blickte zu Kaiba, dessen Mundwinkel ein wenig nach oben wanderten.
 

„Du trittst sämtliche Rechte an deiner Figur, den Einstellungen und der Stimme an uns ab, dafür erhältst du fünf Prozent vom Umsatz, in Form einer Eigentumswohnung.“ Ich schob die Mappe beiseite und begutachtete den Papierstapel vor mir. Ein mehrseitiger Vertrag, der Überschrift nach zu urteilen. „Eine kleine Eigentumswohnung für mein Gesicht auf dem Cover und meine Stimme?“ Ich wohnte eigentlich zur Miete in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Meine Eltern kamen für die Kosten auf, und es hörte sich verlockend an, ihnen diese zu ersparen. Außerdem konnte ich sie ja weiterverkaufen, wenn ich wieder nach Hause zurückkehrte.
 

„Wir gehen von einem Umsatz im siebenstelligen Bereich aus. Ihre Eigentumswohnung wäre natürlich dementsprechend. Der Wohnungspreis in Japan explodiert, und Herr Kaiba war der Ansicht, wie auch seine Finanzabteilung, dass Eigentum derzeit die beste mündelsichere Anlage wäre. Da Sie noch nicht volljährig sind, werden wir die Wohnung im Besitz der Kaiba Corporation belassen, und sie Ihnen dann, per Zeitablauf übertragen. Bis dahin erhalten Sie vertraglich ein unbefristetes Nutzungsrecht zugesichert.“
 

Mir wurden die Knie weich. Der Typ hatte gerade etwas von einer sehr großen Zahl und meiner prozentualen Beteiligung gesagt. Ich war zwar mies im Prozentrechnen, aber selbst ich konnte mir grob zusammenreimen, dass es sich wahrscheinlich nicht mehr um eine kleine Wohnung handeln würde. „Wo ist der Haken?“ Misstrauisch wanderte mein Blick von Herrn Takeshita zu Kaiba, welcher ausdruckslos aus dem Fenster starrte.
 

„Es gibt keinen. Sie sind von jeglichen Verlusten vertraglich ausgeschlossen. Bei Unterbleiben der Erwartungen, bezüglich des Umsatzes, werden Sie prozentuell am entstandenen Gewinn beteiligt, in Form einer Leibrente.“ Da musste ein Haken sein. „Das war Mokubas Idee, nicht meine. Ich wollte jemand anderen engagieren.“ Kaibas Stimme war unterkühlt wie immer, und er schien es auch nicht für nötig zu erachten, mich beim Sprechen anzusehen.
 

„Wie sieht das denn zeittechnisch aus? Ich habe ja Schule und so.“ Beiläufig begann ich den Vertrag durchzulesen. „Herr Kaiba hat uns ihren Stundenplan übermittelt. Wir würden mittwochs und bei Bedarf auch an einem Samstag, um jeweils 16:00 Uhr beginnen. Um spätestens 19:00 Uhr ist Schluss.“ Zweifelnd blickte ich zu Herrn Takeshita. Mir erschien das alles immer noch sehr suspekt. „Klausel 32 ermöglicht Ihnen einen jederzeitigen Rücktritt mit Entschädigung, für geleistete Arbeit, sollten Sie unzufrieden sein. Die Kündigung erfolgt ohne weitere Konsequenzen für Sie.“
 

Tatsächlich, Klausel 32 besagte wirklich genau das, was der Mann vor mir gesagt hatte. „Nun, unter diesen Umständen nehme ich an.“ Lächelnd reichte mir Herr Takeshita einen Kugelschreiber, und ich unterschrieb mit meinem Namen. „Sehr gut. Wir schicken Ihnen eine Kopie des Vertrages mit der Post. Suchen Sie sich bitte noch ein Cover aus, dann wären wir fertig für heute.“ Allmählich wunderte mich gar nichts mehr. Entweder wollte mich der liebe Gott reichhaltig beschenken, oder ich hatte gerade meine Seele und mich selbst verkauft.
 

Wortlos zog ich die Mappe wieder heran, und blätterte die Konzeptzeichnungen durch. Bei einem Bild verweilte ich länger und musste unwillkürlich lächeln. Es zeigte Elementarheld Neo, der Mokubas Gesichtszüge hatte, und den Schwarzen Magier-Ritter, mit meinem Seitenprofil. Beide hatten die Klingen gekreuzt, während in kunstvollen Lettern „Virtual Duel Monster Arena“ und darunter „Personalisiere, Kämpfe, Zerstöre“ geschrieben stand.
 

„Ah ja, dieses Bild. Herr Mokuba Kaiba hatte es in die engere Auswahl miteinbezogen.“ Ich strich kurz mit dem Finger über meine eigenen, gemalten Konturen, ehe ich nickte. „Das da fände ich gut.“ Herr Takeshita nickte lächelnd, zog die Mappe weg und notierte sich etwas auf einem augenscheinlichen Schmierzettel. Kaiba stand auf, nickte dem Chef des Aufnahmestudios kurz zu, und verließ mit seiner Begleitung den Raum. „Nun denn, alles Weitere klären wir nächsten Mittwoch. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.“ Ich schüttelte perplex Herrn Takeshitas Hand und wurde von diesem nach draußen geleitet. Mit einem freundlichen Lächeln verabschiedete mich dieser und plötzlich war ich allein. Es war mittlerweile dunkel geworden.

Arbeit und Knistern

Ich fischte mein Smartphone hervor, suchte Joeys Kontakt heraus und rief ihn an. Nach kurzem Läuten ging er auch an sein Handy: „Ja?“ Zögernd räusperte ich mich: „Hey, Joey, David hier. Erinnerst du dich noch an das Angebot von dir und Tristan?“ Kurz herrschte betretenes Schweigen. „Alles in Ordnung?“ Ich nickte nur vage, bis ich kapierte, dass er es schlecht sehen konnte. „Ja, Joey. Alles in Ordnung. Könntest du trotzdem vorbeikommen und mit mir nach Hause gehen? Es ist dunkel, und ich bin mir nicht mehr ganz sicher, wie ich nach Hause komme.“ Ich kam mir entsetzlich dämlich vor. Mir war irgendwie unwohl, und ich wollte jetzt nicht alleine sein.
 

„Klar. Warte einfach, ich bin in gut fünfzehn Minuten da.“ Seufzend schob ich mein Smartphone in die Hosentasche und lehnte mich an die Hausmauer des Aufnahmestudios. Hatte ich gerade wirklich diesen Vertrag unterschrieben? Das war doch irre. Wenn das wirklich alles glatt ging, und ich daran auch noch Spaß haben würde, hätte ich für die nächsten Jahre ausgesorgt. Die Wohnung zu verscherbeln würde ein kleines Vermögen einbringen, und wenn nicht, dann hatte ich ein Feriendomizil in Japan. Aus fünfzehn Minuten wurden zwanzig, aus zwanzig fünfundzwanzig. Mittlerweile waren die Straßenlaternen angegangen. Ich wollte nicht mehr ins Gebäude zurück. Mir war einfach nicht danach. Außerdem tat mir die frische Luft gut. Nach einer halben Stunde erschien Joey endlich im fahlen Licht einer Laterne.
 

„Sorry, dass du so lange warten musstest. Mein Rad hatte eine Platten, und meinen Alten…“ Joey hielt mitten im Satz inne. Ich sah ihn fragend an. „Nichts, ich konnte einfach nicht früher.“ Mit einer wegwerfenden Handbewegung signalisierte mir der blonde Chaot, dass er wohl nicht drüber reden wollte.
 

„Mh“ erwiderte ich und stieß mich von der Mauer ab. „Was war los? Erzähl schon!“ Mein Freund konnte seine Neugierde nur schlecht verbergen. Wir machten uns gemeinsam auf den Weg in Richtung meiner Wohnung. „Kaiba und Mokuba, und der Chef von der Firma da hinten, möchten, dass ich auf dem Cover von Kaibas neuem Game erscheine, und den Schwarzen Magier synchronisiere.“ Joey schrägte den Kopf ein wenig und präsentierte mir seinen offenen Mund. „Wie jetzt? Ohne Scheiß?“ Ich nickte bejahend. „Außerdem darf ich an der Figur mitentwickeln und werde am Umsatz beteiligt.“
 

Gespielt beleidigt schob mein Gesprächspartner die Unterlippe nach vorne: „Mich hat Mokuba gar nicht gefragt, ob ich nicht den Flammenschwertkämpfer synchronisieren möchte. Außerdem, es sieht dem Kotzbrocken nicht ähnlich, dass er jemandem etwas Gutes tut.“ In der Tat, das war auch einer meiner Gedanken. „Naja, also, wenn alles glatt geht, dann bekomme ich eine Eigentumswohnung für das Mitwirken am Projekt. Der Typ hat irgendwas von mündelsicher gesagt, und keine Ahnung was.“ Verlegen rieb ich mir den Nacken. „Und von welcher Summe sprechen wir hier?“ Joey schob seine Hände in die Hosentaschen und beobachtete mich.
 

„Fünf Prozent von einem siebenstelligen Betrag.“ Mein Freund rechnete wohl in Gedanken nach, dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, und riss die Augen auf. „Das ist ja eine Menge Asche. Da muss ein Haken dran sein.“ Ich schob nun meinerseits die Hände in die Hosentaschen: „Das dachte ich auch, Joey. Der Vertrag hat aber eine Kündigungsklausel, welche mir ermöglicht, jederzeit abzubrechen. Ich weiß auch nicht, was Kaiba geritten hat. Mokubas Einfluss?“
 

Joey schüttelte den Kopf: „Nein, das glaube ich nicht. Mokuba mag mich schließlich auch gerne, und ich wurde nicht gefragt.“ Amüsiert wanderten meine Mundwinkel nach oben: „Du hast ihn auch noch nie so vernichtend geschlagen wie ich.“ Mein freches Kommentar wurde mit einer schmerzenden Schulter und einem grinsenden Joey belohnt: „Bloß nicht eingebildet werden, sonst duellieren wir zwei uns mal.“
 

Mittlerweile kam ich mir äußerst dumm vor, dass ich Joey nicht gleich von meinem Aufenthalt bei Mokuba erzählt hatte. Er war mir der Liebste aus der gesamten Clique rund um Yugi, und wir verstanden uns blendend. Auch seine fröhliche, unbeschwerte Art – das mochte ich so an ihm. „Mh, du sprichst mit dem Meister von Virtual Duel Arena. Mein Gesicht prägt den Schwarzen Magier und den Dunklen Magier-Ritter.“
 

Joey gab nur ein leises „Pff“ von sich, und reckte gespielt beleidigt den Kopf in die Höhe. „Ich sehe es schon vor mir – nach Fertigstellung des Games kennst du uns gar nicht mehr, weil du ja soooo berühmt bist.“
 

Sanft, fast schon vorsichtig anmutend, trat ich ihm angedeutet gegen das Schienbein.

„Depp. Das weißt du wohl selbst ganz genau, dass ich so nicht bin!“ Mein Kumpel rieb sich gespielt die getroffene Stelle und grinste noch ein wenig breiter: „Na hör mal, wir kennen uns erst seit gut zwei Wochen.“ Da hatte er natürlich Recht. Andererseits fühlte es sich so an, als würden wir uns ewig kennen. Den restlichen Weg bis zu meiner Wohnung unterhielten wir uns über Duel Monsters und ich wurde mit einer von Joeys zahlreichen Duellgeschichten belohnt. Vor meiner Tür angekommen, zückte ich den Wohnungsschlüssel und sperrte auf. „Komm noch auf einen Sprung mit rein. Limo und Chips sind wohl das Mindeste, dafür, dass du extra wegen mir zu dem Studio gelatscht bist.“
 

Joey folgte mir in meine kleine, aber feine Wohnstätte. Natürlich war es nicht zu vergleichen mit Kaibas Anwesen, oder auch nur mit dem Gästezimmer, aber ich fühlte mich wohl und sicher in meinen eigenen vier Wänden. „Setz dich schon mal auf die Couch. Im Fernsehen läuft glaube ich grade irgendein Anime oder so. Ich bin gleich da.“ Ich schmiss meine Schultasche in die Ecke, schlüpfte aus meinen Schuhen und verschwand in der Küche. Während ich Chips und Orangenlimonade dementsprechend vorbereite, konnte ich Joey beobachten, wie er sich auf mein Sofa pflanzte und nach der Fernbedienung griff. Ich stellte die Schüssel mit Chips und unsere zwei Gläser auf den kleinen Tisch vor der Couch und lehnte mich zurück. Joey zappte sich durch das Programm und hielt bei einer Doku über Nutztiere in der Landwirtschaft an.
 

„Sowas gibst du dir?“ Schmunzelnd knöpfte ich die Jacke meiner Schuluniform auf. „Das nennt man Bildung.“ Mir lag ein schnippischer Kommentar auf der Zunge, welchen ich aber hinunterschluckte. „Stört es dich, wenn ich mich eben kurz umziehe?“ Ein kurzes Kopfschütteln von einem gebannt auf den Fernseher starrenden Joey ließ mich in mein Schlafzimmer verschwinden, wo ich mich umzog. Die Uniform wurde durch ein enges, schwarzes T-Shirt und eine kurze, dunkle Sporthose getauscht. Barfuß verließ ich das Zimmer und zog die Türe hinter mir zu. Joey hob die rechte Braue in die Höhe und pfiff leise, während ich einer genaueren Musterung unterzogen wurde.
 

„Sportlich, der Herr.“ Ich blickte kurz an mir herab und schüttelte lachend den Kopf: „Das ist einfach nur bequem.“ Mit einem Schmunzeln auf den Lippen setzte ich mich neben Joey, und stützte meine Füße an der Tischkante ab. Meinen linken Arm legte ich um die angewinkelten Knie, während die rechte Hand nach den Chips griff. Mein Blick war dabei auf den Fernseher gerichtet, wo gerade einige Ochsen vor einen Pflug gespannt wurden, um ein Reisfeld umzupflügen. Ich zuckte kurz zusammen, als sich meine und Joeys Hand berührten. Wir waren wohl beide zu gebannt der Doku gefolgt, und hatten dabei unsere Griffel in die Chipsschüssel gesteckt. Für einen kurzen Moment breitete sich ein angenehmes Prickeln in meiner Hand aus. So schnell wie das Gefühl gekommen war, war es auch wieder abgeklungen, als Joey sich eine Ladung Chips in den Mund schob. Ich schüttelte leicht den Kopf und nippte an meiner Limonade. Vielleicht hatte ich beim Sport einfach ein wenig übertrieben.
 

„Du hast ja gesagt, du würdest relativ viel Sport machen, oder? Ich meine, man sieht es dir an, aber aus reiner Neugierde, was machst du so? Schi fahren?“ Mein Gesprächspartner hatte den Blick nach wie vor auf den Fernseher gerichtet, während er sprach.
 

„Mh, nein. Ich habe Schi fahren schon als Kind gehasst. Jetzt keine doofen Witze über Alpenbewohner und deren Anbindung an Verkehrsmittel.“ Diese Sprüche hatte ich mir schon zur Genüge anhören müssen. „Hm?“ Joey zerkleinerte geräuschvoll eine weitere Ladung Chips und starrte mich fragend an.
 

„Nicht so wichtig. Ich laufe gerne, trainiere mit der Hantel und mit dem eigenen Körpergewicht. Ich war nie so der Fitnessstudiomensch. Im Winter gehe ich gerne Langlaufen.“ Der Blonde nippte an seiner Limo und grinste dann: „Ah ja, Schi fahren nicht, aber Langlaufen schon?“
 

Ich verdreht die Augen ein wenig: „Da liegen Welten dazwischen. Mein Vater hat das gefördert. Der war mal selbst begnadeter Langläufer. In der Schulmannschaft war ich immer unter den ersten Fünf, und heiß begehrt, wenn es um den Staffelwettbewerb ging.“ Meine Hand wanderte wieder zur Chipsschüssel und bediente sich.
 

„Mh, ich hatte sowas schon ein wenig vermutet. Adern an den Unterarmen und den Waden deuten doch auf regelmäßige Betätigung hin. Ich selbst schwimme sehr gerne und liebe Bodenturnen.“ Da war was. Joey hat mir einmal erzählt, er wäre im Regionalwettbewerb beim Schwimmen Erster geworden.
 

„So siehst du aus. Mal abgesehen davon, dass ich eher glaube, dass du dich mit deinen Prügeleien über Wasser hältst.“ Grinsend zerkaute ich ein paar Chips, während Joey den Fernseher ausschaltete. „Klar. Irgendwer muss ja auf die Zwerge und Frauen der Gruppe, also dich, Yugi, Bakura und Tea, aufpassen.“ Gähnend streckte sich Joey und stand dann auf.
 

„Du kannst auch hier pennen, Joey, ich habe eine Luftmatratze irgendwo rumliegen. Außerdem haben wir morgen nur eine Doppelstunde Geschichte, dann Japanisch, Doppelstunde Englisch und Kunst. Den Großteil der Sachen hast du in deinem Spind gelassen.“ Joey schüttelte den Kopf: „Lass stecken. Ich bin gleich zu Hause.“ Damit schlüpfte er auch schon in seine Turnschuhe und band die Schnürsenkel.
 

„Wo wohnst du eigentlich? Gleich um die Ecke, oder was? Dann könnte ich dich ja mal besuchen kommen.“ Joeys Gesichtsausdruck verhärtete sich für einen Moment, und ich hatte das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben. „Mh, kommen wir sicher mal dazu. Hast du Bock mit mir, Duke und Yugi morgen in die Arcadehalle zu gehen? Sie sollen wohl ein neues Beat em up reinbekommen haben.“ Sollte ich weiter nachbohren? Er hatte rasch das Thema gewechselt, als es um sein Zuhause ging. „Klar. Was treiben Tristan, Tea und Bakura?“ Joey richtete sich auf und schlüpfte in seine blaue Jacke, welche farblich zu seinem weißen Shirt passte.
 

„Tristan hat wohl was mit einem Mädchen am Laufen, Tea konnte sich für die Arcadehalle nie so richtig begeistern und Bakura hat Besuch von seinem Vater. Der ist für einige Tage hier, und muss dann wieder zurück nach England.“
 

Ich nickte leicht: „Okay. Dann bis morgen in der Schule, Joey, und Danke fürs Abholen heute, ja?“ Joey machte nur eine wegwerfende Handbewegung. „Nicht dafür. Gute Nacht. Bis morgen. Du kannst dich in Englisch revanchieren, einverstanden?“
 

Grinsend begleitete ich meinen Kumpel zur Tür, wünschte ihm erneut einen guten Heimweg und schloss hinter ihm ab. Warum hatte er so komisch reagiert, als ich ihn auf sein Zuhause ansprach? Müde streckte ich mich, und fiel dann ins Bett.
 

Die nächsten Tage waren von Schule und Freizeitaktivitäten mit Joey und Co geprägt. Ich war mir unschlüssig, ob ich nicht ihn, oder jemanden aus der Clique, vorzugsweise Yugi oder Tristan, bezüglich seines Zuhauses befragen sollte. Joeys Blick hatte mich ein wenig abgeschreckt. Andererseits, wir waren erst seit 14 Tagen Bekannte, bzw. Freunde. Vielleicht würde er sich ja von selbst öffnen? Die Zeit verging jedenfalls, und als es Mittwoch wurde, packte ich meine Sachen eilig zusammen.
 

„Hummeln im Hintern, oder was ist los? Zu spät für ein Date?“ Tristan beobachtete mich grinsend, während ich meine Utensilien rasch in den Rucksack schmiss. „Heute ist doch mein erster Arbeitstag als Synchronsprecher.“ Insgesamt kam mir die Formulierung „Arbeitstag“ ein wenig übertrieben vor. Ein Synchronsprecher musste eine fundierte Ausbildung durchlaufen und hatte eine markante Stimme. Ich war nur durch Glück und einer Portion Vitamin B in diese Position gehoben worden.
 

„Locker machst du das. Joey ist fast ein wenig eifersüchtig. Er hätte gerne den Flammenschwertkämpfer synchronisiert.“ Ich seufzte leise und senkte den Blick. War er angefressen? Tristan musste meine Gedanken wohl erraten haben, denn ich spürte seine Hand auf meiner Schulter: „Hey, Joey gönnt es dir, genauso wie wir.“ Sanft drückte er zu und ich lächelte unwillkürlich. „Und jetzt hau ab, nicht dass du zu spät kommst!“
 

Eine Stunde später war ich bereits im Gebäude. Eine junge Empfangsdame führte mich an unzähligen Räumen vorbei, bis wir in einen großen, geräumigen Raum kamen. Dieser wurde vom spärlichen Licht einiger Lampen erhellt, welche den Blick auf eine große Glasscheibe preisgaben, hinter der drei Leute saßen. Einer von ihnen war Herr Takeshita, der andere ein grinsender Mokuba und der Dritte ein völlig Unbekannter. Die Empfangsdame verließ mich wieder und ich steuerte auf die Türe zu, welche hinter die Glastür führte.
 

„Bleiben Sie ruhig an Ort und Stelle, und gehen Sie zum Pult in der Mitte des Raumes.“ Der Fremde war wohl der Aufnahmestudioleiter oder keine Ahnung was. Jedenfalls hatte er mir die Anweisung gegeben, der ich auch Folge leistete. „Das Mikrofon können Sie verstellen wie Sie möchten. Wir haben bereits einen Text vorbereitet, welchen Sie bitte gemeinsam mit uns abarbeiten. Auf der Leinwand vor Ihnen wird simultan die dementsprechende Szene abgespielt, damit sie ein Gefühl für die Emotionen bekommen.“
 

Ich nickte kurz und überflog den Text. Es war ein Sammelsurium an heroischen Sprüchen und Dialogteilen. „Gut, dann fangen wir einmal an. Seien Sie ganz ruhig und konzentrieren Sie sich.“ Der vermeintliche Leiter war jedenfalls äußerst freundlich. Es dauerte eine Weile, und ich musste viele Dialogteile mehrmals sprechen, aber man wirkte insgesamt sehr zufrieden mit mir. „Für heute sind wir fertig. Wir fahren dann am nächsten Mittwoch fort.
 

Ich nickte lächelnd und löste mich vom Pult. Das Ganze war ziemlich anstrengend gewesen. Wie das jemand nur den ganzen Tag machen konnte? Spaßig war es auf jeden Fall gewesen. „Spitze, David. Wenn wir in dem Tempo weiterarbeiten, dann sind wir bald fertig.“ Mokubas Stimme überschlug sich fast.
 

„Denkst du?“ Ich zweifelte ein wenig an seiner Einschätzung. „Klar. Nächste Woche wieder, und dann noch ein paar Mal und dann sind wir fertig! Zwischendrin kommst du dann einmal in die Entwicklungsabteilung und bringst noch Vorschläge ein! Außerdem musst du mich diese Woche noch besuchen“ sprudelte es aus meinem kleinen Groupie heraus.
 

„Ähm, okay?“ Mokuba nickte nur eifrig und zog mich an der Hand nach draußen. „Am besten gleich. Ich habe eine Überraschung für dich!“ Ich lächelte ein wenig gequält. Die letzte Überraschung hat mir eigentlich gereicht. Wir erreichten wenig später die Kaibavilla – Mokuba wurde schließlich als Stellvertreter seines großen Bruders ebenfalls von einer Limousine abgeholt.

Stark und schwach

Mokuba führte mich wieder in den Raum den wir das letzte Mal besucht hatten. Dieses Mal war jener jedoch nicht leer, sondern nebst Brillen mit einem mir wohlbekannten Gesicht bestückt. „Joey“ entfuhr es mir mit einem Lächeln. Der blonde Chaot stand tatsächlich im Raum, ein Grinsen auf den Lippen. „Mann, seid Ihr spät.“ Ein wenig verwirrt pendelte mein Blick zwischen Mokuba und meinem Freund hin und her.
 

„Wir haben einige Elemente eingebaut, und eine Art Storymodus. Joey und du sollt das Ganze einmal austesten und dann ein Feedback geben, so als eine Art Betatester.“ Wie alt war Mokuba noch einmal? 13 Jahre? Schwer zu glauben. Sein Verhalten glich manchmal dem eines professionellen Geschäftsmannes, oder zumindest dem, was ich mir darunter vorstellte.
 

„Ähm, okay? Was erwartet uns?“ Sicher wieder der Sprung ins kalte Wasser. „Joey sollte das Szenario schon kennen, für dich wird es noch neu sein. Setzt die Brille auf und los!“ Mokuba schmunzelte und zog dann die Tür hinter sich zu. Joey und ich waren allein. „Wo geht er jetzt hin?“ Fragend starrte ich dem kleinen Kaiba nach.
 

„Er überwacht alles auf einem Monitor.“ Joey zog eine Karte aus einem Stapel neben sich und führte sie in den vorgesehenen Schlitz ein. „Na gut.“ Mit mulmigem Gefühl tat ich es meinem Freund gleich und setzte mir dann gemeinsam mit ihm die Brille auf.
 

Sekunden später befand ich mich in einer völlig neuen Umgebung. Hohe Steinwände umgaben mich. Fackeln in korbförmigen, metallischen Halterungen spendeten ein spärliches Licht und tauchten das neue Szenario in ein unheimliches Halbdunkel. Der Boden war aus einem dunklen Marmor gehauen worden. Hinter mir versperrte ein gigantisches Fallgitter den Weg in eine undurchdringliche Schwärze. Rascheln, das Fiepen von Mäusen, das Tropfen von Wasser auf Stein und beunruhigendes Stöhnen erfüllten den schmalen Gang vor mir. Die Kulisse war beeindruckend.
 

„Yugi hätte den gleichen Avatar gewählt, wobei sein Schwarzer Magier anders aussieht.“ Ich zuckte zusammen. Neben mir stand plötzlich Joey, oder zumindest jemand, der sich Joeys Stimme angeeignet hatte. Die Gestalt in meiner Nähe war ungefähr gleich groß wie mein Freund, aber wirkte ansonsten komplett fremd. Eine schmucklose, blaue Stofftunika mit Hose wurde von einem orangefarbenen Überrock in der Hüftgegend unterbrochen. Zwei Saphire waren in einer gelblichen Metallfassung knapp über den Knien befestigt worden, und warfen das spärliche Licht der Fackeln an diese zurück. Die grauen Überstiefel wurden ebenfalls mittels einer solchen Konstruktion zusammengehalten. Orangene Schulterplatten aus Metall machten den vermeintlichen Mitstreiter noch ein wenig breiter als ohnehin schon. Der Helm, aus dem gleichen Material wie die Schultern, musste irre schwer sein. Zwei Metallzacken traten aus dem Kopfschutz hervor und liefen zum Kinn hin zusammen. Joeys Gesicht und ein Teil seines blonden Haarschopfes lugten unter dem Helm hervor, und ließen mich aufatmen.
 

Sein Avatar schien nur so vor Muskeln zu strotzen, welche sich in der enganliegenden, blauen Stoffrüstung ausgeprägt hatten. Wenn er in der Realität auch so eine Figur hatte, dann war er sicher einer der Mädchenträume der Domino High. Imposanter noch, als Joeys Gestalt, war der Zweihänder, welchen er locker mit der rechten Hand umschlossen hielt. Die orangene Klinge entsprang einem silbernen Griff, dessen Parierstangen die gleiche Form wie die Zacken am Helm aufwiesen. Ein einzelnes Wort in Kanji war in die Klinge geschliffen worden, welches ich im Halbdunkel aber nicht entziffern konnte.
 

„Wenn du der Schwarze Magier bist, dann kommen wir locker durch den Laden.“ Joey schob seine Klinge in eine Schlaufe am Rücken und begann mit der rechten Hand in der Luft herumzuwischen. „Such dir deine drei Karten aus, und dann legen wir los.“ Selbstsicher und bestimmend, so wie er von Yugi bei seinen Duellen beschrieben wurde. So ungefähr stellte ich mir eigentlich auch den Flammenschwertkämpfer vor, eine von Joeys Lieblingskarten. Ich nickte leicht und tat es ihm gleich.
 

Vor meinem Auge erschien das Raster an Karten, aus welchen ich mir drei aussuchte. „Du hast das also schon einmal gemacht, Joey?“ Dieser nickte angedeutet und verschränkte dann die Arme vor der muskulösen Brust: „Wenn du fertig bist, legen wir los. Du gehst vor, Mokuba hat den Schwierigkeitsgrad nach oben gedreht.“
 

Ich kannte diese Art von meinem Freund gar nicht, andererseits, was will man in gut drei Wochen von jemandes Wesenszügen erfahren? Er war nicht unfreundlich oder herrisch, aber doch eindeutig der Anführer unseres Teams. Nach kurzem Zögern setzte ich mich in Bewegung.
 

„Keine Angst, ich bin direkt hinter dir. Das Labyrinth ist sicher mit Fallen gespickt, und ich bin schwächer als du.“ Seine Stimme war sanft, fast schon ein wenig beruhigend, so als hätte er bemerkt, dass ich mich unwohl fühlte. Das war insgesamt sehr konträr zu seinem bisherigen Auftreten.
 

„Woher weißt du, dass wir uns in einem Labyrinth befinden, Joey?“ Unsere Schritte hallten an den Wänden wider, genauso wie unsere Stimmen. Egal wer diese Umgebung designt hatte, ihm war eine gruselige Atmosphäre gelungen. „Weil ich Mokuba kenne, und schon zweimal an einem ähnlichen Ort gewesen bin.“
 

Zugegebenermaßen war ich von dem beifälligen Ton, in dem Joey mir von seinen vermeintlichen Ausflügen erzählte, ein wenig irritiert, andererseits kannte ich nur einen Bruchteil der Erlebnisse der Clique. Ich wollte gerade etwas erwidern, da bedeutete mir Joey mit dem Zeigefinger an den Lippen still zu sein. Angestrengt spähte ich in das Halbdunkel vor mir. Wir verharrten an Ort und Stelle, während Joey sein Schwert aus der Halterung löste und in beide Hände nahm. Ich für meinen Teil konnte nichts Verdächtiges erkennen. Genauso wenig war es mir möglich, etwas Ungewöhnliches zu hören, mal abgesehen von den Umgebungslauten, welche uns die ganze Zeit begleitet hatten.
 

„Was ist los?“ Joey schüttelte hektisch den Kopf und stieß mich plötzlich zur Seite. Ein helles, schrilles Kreischen ließ mich die Hände an meine helmbewehrten Ohren drücken. Was in Gottes Namen war das? „Salamandra!“ Joeys Stimme hallte im Gang wider und durchbrach das Gekreische, welches mir beinahe die Sinne raubte. Eine unnatürliche Hitze durchströmte die Luft, während die Schwertklinge meines Teampartners hell aufleuchtete. Feuer umzüngelte die Spitze der Waffe, und ich hätte wetten können, einen Drachenkopf zu erkennen. Der ganze Gang wurde in helles, gleißendes Licht getaucht.
 

„Und zack!“ Joey ließ die Flammenklinge in Richtung der Mauer niedersausen, wo ich mich kurz zuvor noch befunden hatte. Das Kreischen wurde noch eine Oktave höher, ehe es komplett verstummte. Der Grund dafür wurde mir einige Momente später auch bewusst: Das Schwert des Flammenkriegers hatte sich in ein entfernt humanoides, klauenbewehrtes Etwas gefressen. Der schleimige Körper, welcher aus der Mauer ragte, war in der Mitte gespalten worden. Glühendrote Augen, von undefinierbarer Anzahl, starrten Joey böse entgegen. Die Klauen hatte die Kreatur zum Angriff erhoben. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg in mir in die Nase. Mit einem reißenden, unangenehmen Laut zog Flammenschwertkämpfer-Joey die Klinge aus dem Monster, welches schlaff an der Mauer herabrutschte und am Boden mit einem dumpfen Laut aufschlug.
 

„Duck dich!“ Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte Joey mit der Waffe erneut ausgeholt. Mit beiden Händen ließ er das Schwert einen Halbkreis beschreiben, welcher direkt in meinem Radius lag. Hastig warf ich mich auf den Bauch. Ich konnte die stechende, brennende Hitze der Klinge durch meine Rüstung spüren, als die Waffe knapp über mir auf Widerstand traf. Ein schriller Laut und ein dumpfes Klatschen waren zu hören. Mein Teamkollege wirbelte herum und hielt die Waffe in die Höhe. Stahl prallte auf Stahl, und ich konnte aus meiner liegenden Position eine schmale, blonde Gestalt erkennen, welche in einer leichten Lederrüstung, mit einem schmucklosen Einhänder bewaffnet, seine Klinge mit dem Flammenschwertkämpfer kreuzte.
 

„Flammenschwertangriff!“ Joeys Schwert loderte mit einem Zischen auf, und durchschlug dann den Torso seines Gegners. Der spitzohrige Krieger sank stöhnend zu Boden. Seine Schwertklinge war geschmolzen und tropfte auf den kalten Marmor. Wieder erfüllte der Geruch von verbranntem Fleisch den Raum. Mit einem Klirren fiel der nutzlose Waffengriff aus der Hand des Elfenschwertkämpfers. „Der Nächste. Es ist genug Joey für alle da!“
 

Schnaubend drehte sich der blondhaarige Flammenkrieger um und vernichtete den nächsten Elfenschwertkämpfer mit einem gezielten Angriff. Seufzend kippte der Gegner nach hinten und ließ seine Waffe auf den Boden fallen. „Mensch, Joey…“ Langsam drückte ich mich hoch und atmete tief durch. Für meinen Geschmack war das Ganze ein wenig zu real. Joey ließ nach seinem Massaker das Schwert ein wenig sinken.
 

„Bei drei machst du einen Seitschritt und greifst dann an.“ Was war nur mit dem freundlichen, sonnigen Joey passiert? „Eins, zwei, drei…Kettenbumerang!“ In letzter Sekunde warf ich mich zur Seite und prallte hart mit dem Rücken an die Steinmauer. Ein Kunai mit Kette flog an mir vorbei und umwickelte eine riesige Spinne von gut und gerne zwei Meter Ausmaß. Der orangene Hinterleib war aufgedunsen und die Vorderklauen mit scharfen Spitzen versehen. Zischend wurde der Achtbeiner vom Kettenbumerang umschlungen, dessen Ende Joey mit der rechten Hand festhielt. Langsam zog der vermeintliche Flammenschwertkämpfer seine zur Faust geballte Hand zurück und zwang die Spinne auf die Knie.
 

„Los, das musst du erledigen. Jirai Gumo neutralisiert jegliche Stärkungseffekte. Wenn ich angreife, bin ich zu schwach.“ Joey hatte keine Ahnung was er da verlangte. Ich war panischer Arachnophobiker. Wie gelähmt starrte ich auf die Ausgeburt eines Alptraumes vor mir. Das Zischen, wie sich Jirai Gumo in der Falle wand; ich konnte diesen Anblick nicht ertragen. Zitternd sank ich zu Boden und presste die Augen zusammen. Die Karte mal aufs Feld zu legen war ganz okay, das war ja nur gemalt, aber das Vieh vor mir wirkte so echt, so real. Angst durchzuckte meinen ganzen Körper. Ich war wie gelähmt, das Zischen der virtuellen Spinne in meinen Ohren.
 

„Lange kann ich sie nicht mehr halten. David, was ist los?“ Joey klang angestrengt. Ich wollte hier raus, so schnell wie möglich. Das machte keinen Spaß mehr. Sich mit Mokuba zu duellieren war okay, aber das… „Atme tief durch. Du brauchst nur die linke Hand auszustrecken und Schwarze Magieattacke zu sagen. Vertrau mir! Ich bin da!“ Joeys Stimme mischte sich mit dem Zischen und Kreischen von Jirai Gumo. Salzige Tränen liefen mir die Wangen hinab. Das war einfach zu viel. Wie konnte man diese verdammte Brille rasch abnehmen?
 

„David? Hörst du mich? Es ist okay wenn du Angst hast. Jeder hat Angst vor etwas. Weglaufen ist aber keine Lösung.“ Schreiend in meinem Weinkrampf, presste ich die Hände an die Ohren. Ich wollte, dass die Laute der Spinne aufhörten, das Gurgeln und Zischen, und ihr starrender Blick, welcher mich kurz fixiert hatte, aus meinem Gedächtnis verschwand. „Vertrau mir einfach. Mach was ich dir gesagt habe! Lass mich nicht hängen, wir sind Freunde, oder? Ich halte zu dir und du zu mir. Komm, stellen wir uns gemeinsam der Angst.“
 

Joey glaubte so an mich. Warum? War er mit Yugi, Tristan und Co auch so? Wie konnte er nur so furchtlos ein Monster nach dem anderen umboxen? „Wenn du mir nicht hilfst, verlieren wir, und…“ Der Schrei meines Freundes ließ mich instinktiv die Augen aufreißen. Ich konnte Jirai Gumo erkennen, welche die Vorderbeine um die Kette des Kunais gewickelt hatte. Joey wurde am Boden entlanggeschliffen. Das Schwert glitt ihm aus der linken Hand, welche sich nun um die Kette an seinem Handgelenk legte. Langsam schob er die Beine nach vorne und stemmte sich gegen den Zug seines Gegners.
 

„David, bitte. Wir können sofort abbrechen, aber das ist keine Lösung. Man muss sich seinen Ängsten stellen, glaube mir.“ Panisch blickte ich zwischen Joey und der Arachnide hin und her. Es war so als würde ich durch einen Schleier schauen. Alles war verwaschen und verschwommen. Nur noch wenige Meter und Joey würde virtuelles Spinnenfutter werden. „Du enttäuschst ihn schon wieder. Bisher war er dir ein guter Freund, oder? So dankst du es ihm?“ Da meldete sich eine Stimme in meinem Kopf. Sie war ruhig und tief, leise und tadelnd zugleich. Natürlich hatte die Stimme Recht.
 

Vor meinem geistigen Auge erschien Joey, welcher mir lächelnd den Reis in den Mund eingab, ein Joey welcher mich vom Aufnahmestudio abholte. Der gleiche Joey lümmelte auf meinem Sofa. Unsere Hände berührten sich, als wir gemeinsam in die Chipsschüssel griffen. Das angenehme Knistern, als sich unsere Finger trafen. Dieses Knistern, ich konnte es wieder in meiner Hand fühlen. Es war angenehm, beflügelnd. Beide Eindrücke, Angst und Prickeln, kämpften in mir um die Oberhand. Was war nur los?
 

„Schwarze Magieattacke!“ Mit einem Laut, nicht unähnlich dem von zersplitterndem Glas, zersprang Jirai Gumo in tausend Teile. Der gesamte Körper der Spinne war in Fitzelchen zerrissen worden. Ich starrte auf meine zitternde, rechte Hand, welche flach ausgestreckt vor mir auf den leeren Raum zeigte, wo sich Sekunden zuvor noch das virtuelle Monster befunden hatte. Ächzend drückte sich Joey auf die Beine. Stöhnend schloss ich die Augen und senkte den Kopf. Wie dumm war das eigentlich? Sich vor einem virtuellen Etwas in die Hose zu machen? Ich war eine ausgesuchte Niete. Ich hatte Joey wieder enttäuscht, meinen Freund, der so großes Vertrauen in mich setzte.
 

„Hey David, sieh mich an.“ Ich konnte Joeys Hand auf meiner Schulter spüren, welche diese sanft drückte. Ihn anzusehen war mir peinlich. Ich hatte ihn im Stich gelassen, erneut, und dafür schämte ich mich. Lange, feingliedrige Finger drückten mein Kinn behutsam in die Höhe und bewogen mich, die Augen zu öffnen. Ich blickte einem lächelnden Joey entgegen. In seinen rehbraunen Augen konnte ich das Licht der Fackeln im Gang erkennen. Da war aber noch mehr.
 

„Ich bin verdammt stolz auf dich.“ Wie war das? „Du hast eine Scheißangst vor Spinnen, oder?“ Dieser sanfte Unterton, gepaart mit den weichen Fingern auf meinem Kinn, Joeys Blick und sein, wenn auch nur virtueller, definierter Körper in der Rüstung; ich genoss die Berührung, sein Lächeln, wie er mich ansah. „Das war echt mutig von dir. Ich weiß, welche Überwindung es kostet, sich seinen Ängsten zu stellen. Zu zögern ist nichts, wofür du dich schämen musst. Als ich kleiner war, hatte ich auch tierische Angst vor den Viechern.“
 

Das Lächeln des Blonden wurde noch ein wenig breiter und weicher. Es hatte jedenfalls eine beruhigende Wirkung auf mich: „Ich habe meine Angst überwunden, als ich eine wegmachen musste. Meine kleine Schwester fürchtete sich vor den Dingern auch, mehr noch als ich. Liebe kann einen manchmal ziemlich mutig sein lassen.“ Liebe? Das Wort echote in meinem Kopf wider. „Oder Freundschaft, wie gerade jetzt.“ Joeys Hand wanderte zu meinem freien Arm hinab, an welchem er kurz zog und mir so auf die Beine half. „Hast du dich ein wenig beruhigt?“ Mein Kumpel schenkte mir einen prüfenden Blick.
 

„J-Ja, Joey. Alles in O-Ordnung. Tut, tut mir Leid.“ Ich stotterte ein wenig, was mir wiederrum peinlich war. „Du musst dich nicht entschuldigen.“ Joey ging zu seinem Schwert, schob es in die Schlaufe an seinem Rücken und begutachtete dann den Kunai mit Kette an seinem Handgelenk. „Wow, da habe ich ordentlich was verbraten. Gut, dass Salamandra eine dauerhafte Stärkung ist. Jetzt bleibt dafür mehr an dir hängen. Außer du möchtest aufhören.“ Mein Freund klang einerseits erleichtert und dann doch wieder besorgt. Ich konnte es schwer einordnen.
 

„Nein, gehen wir weiter.“ Hatte ich das wirklich gesagt? Vor gut zwei Minuten wollte ich panisch das Spiel beenden, und jetzt? Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Wollte ich Joey nicht enttäuschen?
 

„Cool. Ich spendiere dir nachher auch einen Milkshake. Komm, lass uns den Typen in den Hintern treten!“ Joeys Grinsen war ansteckend, denn obwohl ich noch immer zitterte wie Espenlaub, hoben sich meine Mundwinkel ein wenig in die Höhe.

Ein Licht am Ende des Tunnels

„Du hast also auch panische Angst vor Spinnen?“ Nach einer kurzen Pause, in der ich mich noch ein wenig mehr beruhigen konnte, waren Joey und ich wieder losmarschiert. „Hatte, und ja.“ Mein Freund nickte bestätigend auf meine Frage. „Wir waren einmal alleine zuhause, als Serenity ganz panisch nach mir gerufen hat. In ihr Zimmer war eine Spinne gekrabbelt und hockte auf ihrem Schreibtisch. Ich selbst hatte auch Riesenschiss vor dem Vieh, aber Serenity, wie sie weinte und schluchzte, und sich an mich drückte…“ Joey schüttelte gedankenverloren den Kopf.
 

„Serenity ist wer?“ Nachdenklich betrachtete ich den blonden Flammenschwertkämpfer, der im Gehen an dem Kettenbumerang an seiner rechten Hand herumnästelte. „Habe ich vorhin doch gesagt? Meine kleine Schwester.“ Hatte er das? Stimmt, da war etwas mit Liebe gewesen.
 

„Du hast eine kleine Schwester? Davon hast du mir gar nichts erzählt.“ Ich dachte, Joey und sein Vater wären alleine. Tristan hatte einmal etwas erwähnt, aber nur flüchtig. „Mh, habe ich. Darum habe ich auch im Königreich der Duellanten gekämpft.“ Gerade als ich weiterfragen wollte, hob Joey alarmiert den Kopf. „Hörst du das auch?“ Ich lauschte angestrengt und konnte nichts hören. Gar nichts.
 

„Nein, es ist ruhig. Zu ruhig.“ Mir war erst jetzt aufgefallen, dass nur wir zwei Geräusche machten. Die anderen Hintergrundgeräusche, wie das stete Tropfen des Wassers oder die fiependen Mäuse und Ratten waren verstummt. „Genau. Das ist ein schlechtes Zeichen.“ Ich konnte erkennen, wie Joey sich in dem schmalen Gang umsah. Wir hatten bisher noch keine Gabelung erreicht; vielleicht hatte er sich mit dem Labyrinth geirrt?
 

„Bisher war das Ganze viel zu einfach. Wenn Kaiba wirklich als Basis sein altes Game als Basis genommen hat, dann…“ Altes Game? Irritiert blickte ich zu Joey hinüber. Was faselte er da? War das alles hier nicht neu programmiert worden? Das würde zumindest erklären, warum Joey sich so gut auszukennen schien.

Der gesamte Komplex um uns herum begann zu vibrieren. Staub rieselte von der Decke, und sowohl Joey als auch ich hatten Mühe, uns auf den Beinen zu halten. Das Schaben von Stein auf Stein ließ mich aufhorchen. Taumelnd blickte ich über die Schulter und konnte erkennen, wie sich hinter uns eine Mauer emporschob. Das gleiche Schauspiel bot sich in Richtung vor mir. „Genau wie im Duell damals! Man versucht uns zu trennen, ganz sicher!“
 

Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte Joey seinen Rücken schon an mich gepresst und sein Schwert in beide Hände genommen. Breitbeinig nahm er eine kämpferische Haltung ein. „Konzentriere dich! Ich bin mir sicher, dass wir gleich angegriffen werden!“ Die Stimme meines Teampartners übertönte die lautstarke Veränderung der räumlichen Gegebenheiten nur schwer. Mir war eher nach Rennen zumute, in die einzige Richtung, welche uns noch geblieben war. Rechts von mir war ein Gang aufgetaucht. „Sicher, dass das eine gute Idee ist Joey? Schau mal, neben uns ist ein Weg erschienen“ brüllte ich meinem Kollegen zu. „Vertrau mir!“ Vertrauen. Wieder verlangte Joey, dass ich ihm einfach folgen sollte.
 

„Tu es. Er hat bisher auf dich aufgepasst oder?“ Erneut die fremde Stimme. Auch dieses Mal hatte sie Recht. Wir zwei waren ein gutes Team. Warum sollte ich also zögern? So spreizte ich meine Beine ein wenig und atmete tief durch, meinen Stab in den Gang vor mir richtend. Die Wände um uns bewegten sich. Wo zuvor noch ein Durchlass war, lachte mir kalter Stein entgegen und umgekehrt. Einzig der Gang vor mir war nach wie vor frei. Das Spiel wiederholte sich noch eine Weile, bis vor Joey und mir jeweils ein Weg in die Schwärze führte. Dann herrschte wieder Stille.
 

„Und jetzt?“ Fragend lugte ich über die Schulter. Joey hatte seine Haltung um keinen Millimeter geändert. „Wenn mich nicht alles täuscht, müsste gleich ein Labyrinthpanzer auftauchen.“ Seine Stimme war so ruhig wie eh und je. Er hatte wohl seine Gefühle entweder besser im Griff als ich, oder war er diese Form der virtuellen Realität einfach gewohnt.
 

Das heißt?“ Meine Wenigkeit richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Lücke im Mauerwerk vor mir. „Dass wir Arbeit bekommen.“ Tatsächlich – in der Ferne war ein metallisches Rattern zu hören? Der Labyrinthpanzer? „Letztes Mal sind wir davongerannt; dieses Mal sind wir aber vorbereitet.“ Joey schien mit sich selbst zu sprechen. Ich wollte gerade etwas erwidern, als vor mir ein grelles, gelbes Licht, wie von Autoscheinwerfern, auftauchte. Mit Mühe konnte ich dem Drang wiederstehen, mir die Hand vors Gesicht zu halten. Tatsächlich, ein blaues, metallisches Gefährt mit rotem Bohrer an der Spitze raste auf mich zu. Ich konnte spüren, wie sich Joeys Rückenmuskulatur anspannte, so dicht standen wir beieinander.
 

Meine linke Hand hatte sich so fest um den Stab des Schwarzen Magiers gepresst, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Das hier war auch nicht anders, als damals mit Mokuba. Außerdem, ich war die mächtigste Karte in meinem Duel Monsters Deck. Was sollte mir schon passieren? Ich drehte den Stab ein wenig und streckte ihn dann aus, in Richtung des Labyrinthpanzers.
 

„Salamandra!“ Joeys Stimme ließ mich innehalten. Mit einem ohrenbetäubenden Laut explodierte hinter mir etwas. Staub und Rauch vernebelten mir die Sicht und zwangen mich zu einem Hustenanfall. Zeitgleich näherte sich der Labyrinthpanzer immer noch unserer Position. Ich versuchte mich ein wenig zu orientieren. Da war es wieder, das Licht. Selbstsicher reckte ich meinen Stab in die Höhe und an der Perle in der Stabfassung knisterten schwarze Blitze. „Schwarze Magieattacke!“ Den Labyrinthpanzer vor mir musste das gleiche Schicksal wie Jirai Gumo ereilt haben. Mit einem klirrenden Laut zersprang etwas und ich gab mich dem nächsten Hustenanfall hin. Das hätten sie sich auch sparen können, virtuelle Realität hin oder her. Ich fragte mich kurz, was wohl passieren würde, wenn man hier drinnen erstickt, als ich realisierte, dass ich Joeys Rücken nicht mehr an mir fühlen konnte. Panisch drehte ich mich um und konnte meinen Freund erkennen, wie er sein Schwert auf den Rücken schnallte.
 

Ich erkannte diesen Joey gar nicht, oder nur schwerlich. Er schien nicht einmal aus dem Konzept geraten zu sein. „Alles dran an dir?“ Keuchend nickte ich, bevor der Flammenschwertkämpfer mich in den Gang hineinzog, aus dem sein Gegner gekommen war.

„W-Warum nicht den a-anderen Gang, Joey?“ Dieser murmelte nur leise etwas und zog mich hinter sich her.
 

Nach kurzer Zeit konnte ich wieder einigermaßen selbst laufen, außerdem war der Rauch abgeklungen. Schweigend folgte ich meinem Freund, welcher vor einem Mauerstück Halt machte. Wir waren in einer Sackgasse angelangt. Ich erwartete, dass Joey und ich wieder kehrt machen würden. Der blondhaarige Schwertkämpfer dachte aber nicht einmal daran. Stattdessen begann er die Wände abzuklopfen. „Joey? Sollten wir nicht umdrehen?“ Mein Freund schüttelte leicht den Kopf auf meine Frage hin. „Zwecklos. Das Labyrinth verändert sich. Es muss hier weitergehen.“ Mir lag auf der Zunge zu fragen, woher Joey denn wusste, dass wir nicht mehr zurück konnten, als ich seiner Vermutung wohl teilweise Recht geben musste.
 

„Schau mal Joey, die Wand neben mir.“ Ich deutete auf die geschliffene Steinmauer neben mir. Hauchdünne Risse waren auf der Oberfläche zu erkennen. Flammenschwertkämpfer-Joey begutachtete die Wand neben mir eingehend. „Stimmt. Dann wollen wir mal.“
 

Mit einem Ruck zog der virtuelle Krieger seine Waffe und umfasste sie mit beiden Händen. Ich konnte wieder diese unangenehme Hitze fühlen, welche sich durch meine Rüstung bohrte. Wie Joey das aus nächster Nähe aushalten konnte war mir ein Rätsel. Ein Flammenwirbel tanzte die Schwertklinge entlang, wie eine riesige, orangerote Schlange, welche sich am Ende selbst in den Schwanz beißt. Mit einer enormen Wucht begann Joey auf die Mauer einzuschlagen. Nach kurzer Zeit zeigte seine Handlung auch schon die erste Wirkung: Das Mauerwerk begann zu bröckeln. Die heiße Klinge fraß sich in das Gestein und zermürbte es ganz langsam. Geschätzte zehn Minuten später hatte Joey einen Durchgang für uns erschaffen.
 

„Du siehst mich beeindruckt, und das kommt bei mir selten vor.“ Woher hatte er gewusst, wo er suchen musste? Wenn ich richtig schlussfolgerte, dann musste sich auch der Durchgang bei jedem neuen Spieldurchlauf an einer anderen Stelle befinden. „Kleinigkeit, komm. Ich wette, Kaiba hat hier irgendwo ein Secret versteckt.“ Vorsichtig stieg ich hinter Joey durch die Öffnung. Das Schaben von Stein auf Stein hinter mir verriet, dass wir gezwungen waren weiterzugehen. Sicherheitshalber drehte ich mich um und tastete die reparierte Wand ab. Die Risse waren verschwunden, genauso wie die Öffnung.
 

„Die Wände haben sich wieder verändert. Da ist jetzt kein Durchkommen mehr. Hilf mir mal lieber.“ Ich blickte zu Joey, welcher vor einer Zellentüre stand. Durch die Gitterstäbe konnte man etwas leuchten sehen. Wortlos hob mein Freund die Waffe wieder über den Kopf und schlug mit voller Wucht auf die Türe – nichts passierte. Das gleiche Spiel wiederholte er mit seiner aufgeheizten Flammenklinge. Mehrere Versuche später gab Joey dann schlussendlich auf. „Keine Chance. Wir brauchen wohl einen Schlüssel.“ Ich meinerseits begutachtete inzwischen die Türe genauer.
 

„Nicht zwangsläufig, Joey. Schau mal.“ Bei meiner Ausführung deutete ich auf die Scharniere. „Das ist zwecklos David. Wenn ich mit meiner Flammenklinge nicht durchkomme, kannst du die Tür erst Recht nicht eintreten.“ Ich kniete mich hin und tastete die Zellentüre ein wenig ab. „Rohe Gewalt ist nicht immer die beste Lösung. Hilf mir mal.“ Prüfend begutachtete ich meinen Stab. Das Material war federleicht und wirkte doch so robust. Ich vermutete ein besonderes Metall oder Ähnliches. Wer würde sich in der virtuellen Welt schon mit solchen Spitzfindigkeiten wie der Zusammensetzung seiner Waffe abgeben?
 

„Schieb dein Schwert mit der breiten Seite durch die untere Öffnung des Gitters.“ Ich tat das Gleiche mit meinem Stab auf der rechten Seite. Joeys Gesicht hellte sich auf und war schließlich von einem breiten Grinsen erfüllt: „Du willst die Tür aushebeln, oder?“ Mein Nicken brachte mir ein anerkennendes Lächeln meines Teampartners ein.
 

„Okay, ich zähle bis drei, dann heben wir das Ding an. Bereit? Eins, zwei, drei!“ Zeitgleich übten wir Druck auf die Enden unserer Waffen aus. Die Hebelwirkung ausnutzend, glitt die Tür tatsächlich aus ihren Angeln. Mit einem lauten Klirren fiel das Stück Metall auf den harten Steinboden. Unsere Mühen wurden tatsächlich belohnt. In der linken Ecke des Raumes glitzerte etwas vor sich her. „Hols dir. Du hast es dir verdient.“ Joey nickte in Richtung des vermeintlichen Secrets.
 

„Nein. Denk mal nach. Du hast wegen mir bereits zwei deiner Supportkarten verbraten. Nimm du es.“ Kurzes, betretenes Schweigen folgte, ehe Joey sich dem Secret näherte und es begutachtete. Eine sich drehende Duel Monsters Karte war von einem silbrigen Glanz umgeben. „Cool, ich darf mir eine Zauberkarte aussuchen.“ Zumindest zu etwas war ich nutze, ging es mir durch den Kopf. „Welche Supportkarten hast du eigentlich ausgewählt?“ Die Frage überrumpelte mich zugegebenermaßen ein wenig.
 

„Hm? Als Zauberkarte die Drachenklauen, als Fallenkarte Angriff annullieren, und als Monsterkarte…“ Ich konnte meinen Satz nicht beenden, da fiel mir Joey schon ins Wort: „Den Schwarzen Rotaugendrachen.“ Diese Schlussfolgerung zog er mit einer solchen Bestimmtheit, dass ich verblüfft den Kopf schüttelte.
 

„Nein? Ich dachte, den würdest du auswählen?“ Der behelmte Kopf schrägte sich ein wenig: „Habe ich auch, aber, was hast du dann gewählt?“ Ich lächelte schmal: „Ich wollte eigentlich dein Rotauge pushen, damit wir ein herausragendes Begleitmonster dabei haben. Ich habe den Beauftragten der Dämonen ausgesucht.“ Joeys Gesicht hellte sich zu meiner Verwirrung auf. „Dann ist die Entscheidung einfach.“ Sein Grinsen war schon fast ein wenig beängstigend.
 

„Ist sie das? Warum?“ Der Flammenschwertkämpfer machte nur eine wegwerfende Handbewegung: „Das siehst du dann später. Gehen wir.“ Wortlos, aber doch neugierig, mit einigen Fragen auf der Zunge, folgte ich Joey den schmalen Gang entlang, bis wir ein grelles Licht erkennen konnte. Endlich – der Ausgang.

Hartes Ende

Ich hatte mich zu früh gefreut. Joey und ich standen in einem großen, kreisrunden Raum. Die Mauern waren aus dunklem Stein geschaffen worden. Ein Meer aus Fackeln erhellte den Bereich, in welchem wir uns befanden. Auch hier war der Marmor, ich nahm zumindest an, dass es sich um Marmor handelte, so geschliffen und poliert worden, dass er das Licht der Flammen zurückwarf. Insgesamt war es schon fast ein wenig unangenehm, direkt in die Helligkeit zu starren. Vor uns hatte man eine riesige, grifflose Tür in den Stein gehauen. Über dem Durchgang in die vermeintliche Freiheit befanden sich drei Schriftzeichen, jeweils kreisrund und in einem perfekten Dreieck zueinander angeordnet.
 

„Was hat das zu bedeuten?“ Ich deutete mit meinem Zeigefinger auf die fremden Worte über der Tür. Trotz aller Anstrengung konnte ich die Zeichen nicht lesen. Ich zweifelte daran, dass es sich überhaupt um japanische Schriftzeichen handelte.
 

„Hoffen wir, dass sie nicht das sind, wofür ich sie halte.“ Joey atmete tief durch und begutachtete den Raum eingehend. Vor der Tür angekommen klopfte er diese vorsichtig ab. Schon bei der ersten Berührung glühten die Schriftzeichen auf. Eine Vielzahl von Stimmen schien gleichzeitig zu sprechen: „Wer will durch das Tor zur Freiheit gehen, der muss Rede und Antwort stehen!“ Joey seufzte leise und kehrte zu mir zurück, die Schriftzeichen genauer begutachtend.
 

„Die Prüfungen sind schwer, doch die Lösungen fair. Seid rechtschaffen und klug, vertraut auf Intelligenz und Mut.“ Ich für meinen Teil war fasziniert und begeistert. Endlich einmal nichts zum Kämpfen!
 

„Wir haben wohl verloren.“ Mein Teamkollege klang ein wenig niedergeschlagen. Als er meinen fragenden Blick bemerkte, präzisierte er seine Feststellung: „Das hat nichts mit Geschicklichkeit zu tun, oder Können. Das sind meist so beknackte Fragen, und vor allem, wenn sie schon in so bescheuerten Reimen gestellt werden.“ Joeys Seufzen hallte in dem großen Raum wider.
 

„Ganz ruhig Joey, versuchen wir es doch einfach, oder? Du hast vorhin gesagt, man soll nicht aufgeben. Außerdem bin ich in solchen Dingen normalerweise nicht schlecht. Im schlimmsten Fall haben wir einfach versagt, aber immerhin mit dem Wissen, es versucht zu haben. Deine Worte.“ Ich musste mir ein Schmunzeln verkneifen, als Joey mir lächelnd zunickte. Ein großartiges Gefühl, ihn auch einmal motivieren zu können.
 

„Also gut, wir stellen uns den Fragen!“ Die Stimme meines Freundes war wieder selbstsicher wie eh und je. Ich stellte mich neben Joey und verschränkte die Arme vor der Brust. Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich erkennen, wie er kurz zu mir herunterblickte. Als ich Augenkontakt herstellen wollte, wandte er sich rasch ab und konzentrierte sich auf die Tür vor uns. Hatte ich wieder etwas Falsches getan?
 

Die Stimmen ließen mich meine Gedanken nicht weiterführen, denn uns wurde bereits die erste Frage gestellt: „In der Gemeinschaft bin ich stark und fest, alleine gibt mir sogar ein schwächliches Kind den Rest. Was bin ich?“
 

Joey maulte bereits nachdem die Worte verklungen waren: „Da geht es schon los. Wer weiß sowas?“ Ich lächelte schmal und sah zu den Zeichen auf. „Du bist das Glied einer Kette, oder?“
 

Einige Augenblicke lang herrschte Stille, dann glühten die fremden Worte wieder auf: „Richtig. Ein Kettenglied alleine ist nutzlos; viele beieinander können selbst die schwersten Lasten halten.“
 

Meine Antwort wurde von einem euphorischen Joey belohnt, welcher mir auf die Schulter klopfte. „Respekt, wirklich. So schnell vor allem. Wir haben wohl echt eine Chance.“
 

Triumphierend nickte ich und wartete auf die zweite Frage.
 

„Wenn man nicht sieht, so sieht man mich. Wenn man aber sieht, so sieht man mich nicht. Was bin ich?“
 

Das war zugegebenermaßen schon ein wenig schwieriger. Meine Oma hat mich als Kind immer mit solchen Rätselreimen unterhalten. Die Lösungen waren oft sehr simpel, und ich hatte schon viele gehört. Der hier kam mir auch bekannt vor, doch die Antwort wollte mir nicht gleich einfallen.
 

„Hast du eine Ahnung?“ Joey sah hilfesuchend zu mir.
 

„Hm, ich glaube die Antwort ist sehr banal. Vielleicht sogar im Raum versteckt?“ Ich ließ meinen Blick schweifen, welcher nichts Ungewöhnliches erkennen konnte, außer die Fackeln und den dunklen Marmor, welcher vom Schein des Feuers erhellt wurde. Feuer. Dunkel. Hell. Natürlich! Die Lösung war in der Tat banal.
 

„Du bist die Finsternis. Ist es so dunkel, dass man nichts sieht, dann sieht man dich. Ist es aber hell, und man kann etwas sehen, so bist du verschwunden!“ Die Zeichen glühten wieder auf.
 

„Geboren aus Liebe, ringe ich diese nieder durch eiserne Hiebe. Ich bin ein schleichendes Gift, welches allzu oft sich mit übermäßiger Leidenschaft vermischt. Die Falschen werden oft Opfer von mir, obwohl die Liebe ist noch reiner als mit dir.“
 

Diesen Reim hatte ich noch nie gehört. Mir schossen dutzende Wörter durch den Kopf, alle unpassend. Gier, Hass, Zorn, Begehren, Rache – keines wollte so richtig passen.
 

„Eine Idee?“ Ich schüttelte auf Joeys Frage hin dezent den Kopf.
 

„Die Wörter die mir einfallen, passen nicht. Wer liebt, der ist nicht gierig. Hass kann aus Liebe geboren werden, aber erscheint normalerweise nicht schleichend. Zorn genauso. Rache ist schnell, in der Regel zumindest.“ Ich tippte mir nachdenklich ans Kinn. Was wurde aus Liebe geboren, aber schleichend, und es erwischt außerdem die Falschen? Was war mit Leidenschaft gemeint? Doch Begehren? Aber Begehren war eigentlich nie ein Zeichen für Reinheit. Unbewusst setzte ich mich in Bewegung und ging den Raum ab. Joey verharrte an Ort und Stelle, den Blick auf mich gerichtet.
 

„Tristans erste Flamme hat diesen Schwachsinn auch immer so gemocht. Einmal hat er versucht, sie mit so einem Reim zu beeindrucken, ist dann aber voll eingefahren damit. Irgendwas mit einem Sarg, oder so, war die Lösung. Der Typ neben ihr hat dann schallend gelacht und Tristan war total eifersüchtig, weil er es auf Anhieb gelöst hat. Sie war total hin und weg von dem Kerl, dachte er zumindest. Dabei wars nur ihr großer Bruder.“ Nach der kleinen Anekdote hielt ich inne und starrte auf die Zeichen. Das war es!
 

„Joey du bist ein Genie! Ich weiß die Lösung jetzt!“ Lachend schlug ich mir mit der flachen Hand gegen die behelmte Stirn. „Na klar, ganz einfach. Eifersucht! Sie wird aus Liebe geboren, denn wer liebt, der ist oftmals eifersüchtig. Sie trifft auch oft die Falschen. Eifersucht kann man als übermäßige Leidenschaft ansehen. Sie manifestiert sich oft auch schleichend.“
 

Wieder glühten die Zeichen auf und Joey reckte siegessicher seine Faust in die Höhe. „Yes! Wir sind durch!“
 

Ich musste unwillkürlich schmunzeln. Unter der rauen Oberfläche des Flammenschwertkämpfers, des Anführers, den Joey mimte, steckte noch immer sein altes, unbeschwertes Ich. Dieses Ich mochte ich so gerne. Er wirkte fast schon ein wenig kindisch.
 

„Ja, Eifersucht hat schon oft nahe Freunde und Verwandte getroffen. Damit steht die letzte Frage an. Beantwortet Ihr diese richtig, so gelangt Ihr zum Ende, sprecht Ihr aber falsch, so füllt Eure Niederlage ganze Bücherbände.
 

Joey ließ seine Hand sinken und schob die Unterlippe vor. „Was soll der Scheiß? Es sind drei Zeichen, und wir haben drei Fragen richtig beantwortet. Lasst uns raus!“ Ich hob amüsiert die Mundwinkel an.
 

„Ich bin schwarz, er ist weiß, beider Rachen ist unendlich heiß. Er liebt mich, ich liebe ihn, beide sind wir ein unschlagbares Team. Rücken an Rücken kämpfen wir, bis am Ende der eine den anderen zerfleischt wie ein Tier. Stark und schwach, Groß und Klein, der Weiße von uns wird der Sieger sein. Wer bin ich?“ Ich seufzte erleichtert. Dieses Rätsel war eigentlich eine bodenlose Frechheit. Ohne Sonderwissen war es unmöglich, die Lösung zu erraten.
 

„Du bist der Schwarze Rotaugendrache!“ Die Zeichen glühten wieder auf.
 

„Das ist falsch! Ich bin ein Bruder! Es war nur ein Gleichnis! Euer Versagen wird nun Euer Ende bedeuten und der Wächter Eure nächste Existenz einläuten!“
 

Der Boden um uns begann zu vibrieren und zu erbeben, kaum dass die Stimmen geendet hatten. Fassungslos starrte ich auf die drei Zeichen, welche sich von der Wand lösten. „Kräfte von Donner, Wasser und Wind, Sanga, Suga und Juga beginnt – der Torwächter erscheint, wird Euch vernichten, und streichen aus jeglichen Geschichten!“
 

Ich schluckte schwer, als die drei Zeichen zu rotieren begannen. Eines war mit gelben Blitzen ummantelt, das Zweite wurde von einer Windhose umfangen und das Dritte in einem Strudel aus Wasser umgeben.
 

„Joey? Was ist das?“ Langsam wich ich zurück, bis ich neben meinem Freund angekommen war.
 

„Der Torwächter. Eines der stärksten Monster in Duel Monsters. Alleine haben wir keine Chance.“ Während Joey sprach, schoben sich die drei Zeichen übereinander und ihre jeweiligen Elemente verbanden sich. Aus einem Zusammenspiel von Donner, Wasser und Wind schälte sich der Torwächter, welcher grimmig auf uns herabstarrte. Seine klauenförmige rechte Hand ballte er kurz zur Faust, nur um dann damit auszuholen. Joey schubste mich zur Seite und umfing den Arm des Monsters mit seinem Kettenbumerang.
 

„Greif ja nicht an. Das Ding ist viel zu star…“ Mit einem Ruck zerbrach der Torwächter die Kette und holte aus. Joey wurde in hohem Bogen durch den Raum geschleudert und landete ein Stück neben mir. Klirrend rutschte sein Schwert über den Marmorboden und stieß an die Wand.
 

„Joey! “ Mit einem Satz war ich bei meinem Freund, welcher lautstark keuchte. Seine Augen wurden größer und ich begriff schnell warum. Hinter mir ertönte ein ohrenbetäubendes Brausen, gefolgt von einem lauten Donnergrollen. Sanga und Juga, die Elemente von Donner und Wind bündelten ihre Kräfte und feuerten einen Donnerball auf uns ab. Joey versuchte mich zur Seite zu schieben, aber ich wehrte mich dagegen. Dieses Mal würde er nicht wegen meiner Dummheit bezahlen müssen. Zumindest jetzt noch nicht.
 

„Angriff annullieren!“ Vor mir erschien ein Energiefeld, bestehend aus roten und weißen Ringen. Dieses absorbierte den Angriff des Torwächters und schickte die Donnerkugel in die nächste Dimension. Kurz reckte sich das Monster ein wenig in die Höhe und schrägte den vermeintlichen Kopf. Dann sprudelte auch schon Wasser aus Sugas Mund und flutete rasch den Raum. Jetzt geriet ich in Panik. Ich war ein miserabler Schwimmer und würde mich nicht lange über Wasser halten können. Außerdem war da Joey, den ich irgendwie auch noch vor dem virtuellen Ertrinken bewahren sollte. Plötzlich konnte ich etwas um meine Hüfte herum fühlen. Ein Blick nach unten verriet mir, dass Joey seinen rechten Arm um mich gelegt hatte. Das Wasser stand uns schon bis zu den Knien.
 

„Keine Angst, ich hab dich. Zeit dem Arsch in den Hintern zu treten!“ Seltsamerweise entspannte ich mich in Joeys Arm. Ich hasste Wasser, mal abgesehen beim Duschen oder zum Trinken. Als kleiner Junge war ich einmal in den nahen Bach gefallen und bin dabei fast ertrunken. Seitdem vermied ich es tunlichst, mich in Gewässern aufzuhalten. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust und schloss die Augen. Wäre die Situation nicht so grotesk gewesen, ich hätte es zweifelsohne genossen. Aber Moment, warum? Das war nicht richtig so, oder?
 

„Wir brauchen was richtig Starkes, um den Torwächter zu besiegen. Ich weiß auch wie, doch dazu brauche ich deine Hilfe, David. Teamwork?“
 

Meine Hilfe? Ich öffnete die Augen wieder und bemerkte, wie Joey uns beide über Wasser hielt. Ich für meinen Teil hatte bereits keinen festen Boden mehr unter den Füßen, und ich bezweifelte, dass es bei Joey anders war. Irgendjemand oder etwas musste das Tor hinter uns geschlossen haben, durch welches wir in den Raum gelangt waren. Wie sonst hätte sich das Wasser aufstauen können?
 

„Hm? Ist der Schwarze Rotaugendrache mit den Drachenklauen denn stark genug, den Torwächter auszuschalten?“ Was war los mit mir? Ich fühlte wieder so ein Prickeln an der Stelle, wo mich Joey berührte. Durch die Rüstung konnte ich seine Finger nicht spüren, aber die Vorstellung alleine reichte aus, um mein Herz schneller klopfen zu lassen. Oder war ich doch allmählich wieder in Panik verfallen?
 

„Nein, ist er nicht. Aber wir haben etwas Stärkeres in der Hand. Ruf deinen Beauftragten der Dämonen und schau zu.“ Joey war vollkommen ruhig. Irgendwie wirkte es sogar so, als ob er sich freuen würde. Komisch. Drehte er jetzt durch? Jedenfalls wollte ich ihm seinen Wunsch erfüllen.
 

„Okay, dann – Beauftragter der Dämonen, erscheine!“ Tatsächlich, nur Sekunden später erschien über uns, schwebend, eine skelettartige, gehörnte Gestalt. Arme, Beine und Brustkorb sowie das Gesicht waren von Muskeln durchzogen worden. Fleisch wie bei einem gewöhnlichen Menschen fehlte aber komplett. Die Finger waren eigentlich Krallen und ein Paar Flügel spreizte sich hinter dem Monster aus.
 

„Genial. Genau wie damals. Schwarzer Rotaugendrache, los!“ Neben dem Beauftragten der Dämonen erschien mein Lieblingsmonster. Beide schwebten über uns, Seite an Seite, den Blick auf den Torwächter gerichtet. Dieser schenkte unseren Begleitern keine Beachtung. Er war wohl zu konzentriert, uns zu ertränken. Warum griff das Ding nicht eigentlich noch einmal an? Hatte er Angst, dass ich noch eine Angriff annullieren Karte besitzen könnte?
 

„Ich spiele jetzt meine Zauberkarte Fusion und kombiniere mein Rotauge mit Davids Beauftragtem der Dämonen um den Schwarzen Totenkopfdrachen zu rufen!“
 

Den was? Ein Wirbel erschien vor uns und sog beide Monster hinein. Vor meinen Augen verschmolzen unsere Kreaturen zu einem einzelnen, riesigen Monster. Die schwarzen Panzerplatten des Rotaugendrachen wurden von den Knochen und dem lilafarbenen Muskelfleisch des Beauftragten der Dämonen durchzogen. Die Hörner wuchsen nach innen und wurden durch gebogene, nach unten verlaufende Spitzen ersetzt. Obwohl er eigentlich abstoßend wirken hätte sollen, mit grünlich grauem Fleisch, einem riesigen, zahnbewehrten Maul und diesen fledermausartigen Schwingen am Rücken, so gefiel mir mein, nein, unser Monster, doch sehr. Er war ein Produkt unseres Teams und erinnerte mich stark an mein Rotauge, wirkte aber mächtiger, imposanter. Im Gegensatz zu Kaibas Weißen Drachen fürchtete ich ihn auch nicht.
 

„Pack deine Drachenklauen drauf und dann ist Ende.“ Joey riss mich aus meinen Gedanken.
 

„Ich setze meine Zauberkarte, Drachenklauen ein um unseren Schwarzen Totenkopfdrachen zu verstärken!“ Schneller als ich denken konnte, hatte ich selbstischer auch schon die Supportkarte genutzt. Mit einem Lächeln auf den Lippen beobachte ich, wie der Schwarze Totenkopfdrache zwei Metallklauen verpasst bekam. Sein mächtiges Brüllen war imposanter und furchteinflößender als das des Schwarzen Rotaugendrachens, aber ich hatte keine Angst. Ich genoss es eigentlich sogar. Das war unser Monster, und es würde den Torwächter in die Knie zwingen. Außerdem vermutete ich, dass der Schwarze Totenkopfdrache stärker war, als mein Schwarzer Magier. Damit konnte ich auf das mächtigste Monster in meinem Deck blicken.
 

„Okay, du musst mir jetzt vertrauen. Mach die Augen zu und hole tief Luft. Schwarzer Totenkopfdrache – Geschmolzener Infernofeuerball!“
 

Bevor ich reagieren konnte, drückte Joey uns unter die Wasseroberfläche. Panisch rang ich nach Luft und umklammerte seinen Arm. Ich begann zu zappeln und mich zu winden. Über uns war ein lautstarker Knall zu hören, welcher sogar das Wasser erschüttern ließ. Noch immer rang ich nach Luft. Meine Lungen füllten sich mit Flüssigkeit und ich hatte das Gefühl zu ertrinken, erneut. Meine Bewegungen wurden schwächer, langsamer. Das war es dann wohl. Wie als Kind, so hoffnungslos. Wobei, das stimmte nicht ganz. Ich ertrank in den Armen meines Freundes, meines besten Freundes. Seltsamerweise musste ich dabei sogar lächeln. Lautlos hauchte ich Joeys Namen ins kühle Nass, welches uns umfing, bevor es schwarz um mich wurde.

Erschöpfung

Ich wurde wieder in einem äußerst weichen und bequemen Bett wach. Als erster Gedanke schoss mir ein neuerlicher Krankenhausaufenthalt durch den Kopf. Was war eigentlich passiert? Ich erinnerte mich noch an das Game, den Torwächter, den Schwarzen Totenkopfdrachen und an Joey, welcher mich fest in seinen Armen hielt. Joey! Schlagartig hockte ich kerzengerade im Bett. Ich war nicht im Krankenhaus, so viel stand schon einmal fest. Außer die Krankenzimmer in Japan hatten sich in gut zwei Wochen schlagartig verändert und ich war Klassenpatient geworden. Das war aber nicht der Fall; ich erkannte das Gästezimmer der Kaibavilla wieder, in dem ich letztes Mal genächtigt hatte. Ich trug sogar den gleichen Schlafanzug wie damals. Wie war ich hierhergekommen? Viel wichtiger war aber die Frage, was mit Joey war. Panisch sah ich mich im Zimmer um. War ihm auch nichts passiert? Wie ging es ihm? Hatte er auch ein Blackout wie ich?

Ich wurde auch schnell fündig. Joey saß neben mir, auf einem Stuhl, die Arme vor der Brust verschränkt. Er döste offensichtlich. Seufzend ließ ich mich wieder ins Bett sinken. Ein Glück.
 

Plötzlich regte sich mein blonder Freund ein wenig und gähnte ausgiebig. Als sein Blick auf mich fiel, wirkte er schlagartig wach: „David! Alles okay bei dir?“ Ich schrägte den Kopf und nickte dann schwach.
 

„Ja, ich denke schon. Was ist denn passiert?“ Joey stand auf und goss mir eine schwarze Flüssigkeit in ein Glas ein, welches neben meinem Bett stand. „Du bist ohnmächtig geworden. Ich habe dich noch nach draußen getragen, also in den Ausgang, dann war das Level vorbei. In der Realität hat es dich dann aber auch irgendwie gefressen. Du bist zusammengeklappt. Der Arzt meinte, das wäre eine Art psychosomatischer Schock gewesen oder so. Die Konfrontation mit Jirai Gumo, dann noch das mit dem Wasser.“
 

Behutsam legte Joey mir seine Finger unter mein Kinn und hob es ein wenig an, damit ich anständig trinken konnte. Gierig befeuchtete ich meinen trockenen Rachen mit kühlem Zitroneneistee. „Sie verschärfen jetzt die Warnhinweise auf den Spielboxen, und werden, bevor die VR in Serie gehen kann, noch einmal die Mechaniken überdenken. Wir haben uns große Sorgen gemacht, Mokuba und ich.“ Langsam setzte mein Freund das halbvolle Glas ab und stellte es auf den Tisch neben uns.
 

„Mh, Joey, es tut mir so leid. Wir konnten nicht einmal die Session ordentlich zu Ende bringen. Ich habe dich schon wieder enttäuscht. Beim Rätsel habe ich voll danebengehauen.“ Schuldbewusst senkte ich meinen Blick. Das nagte tatsächlich an mir. Außerdem noch die Schmach, wie ein Angsthase weggeklappt zu sein. Allmählich würde er wohl die Schnauze gestrichen voll von mir haben. Ich war nicht zuverlässig, überhaupt nicht, im Gegenteil: Bisher hatte ich Joey und Co nur schwer enttäuscht. Die mussten doch sowieso denken, dass ich ein Rad abhatte. Innerhalb von einem Monat zweimal irgendwo zusammenzubrechen, das war ungewöhnlich und vor allem lästig für das Umfeld. Ich war kein alter Mann, im Gegenteil: Eigentlich war ich vital und sportlich. Mir ging es auch gut, meiner Ansicht nach zumindest. So virtuelle Monster konnten mich aber in die Knie zwingen.

Ein lautes Seufzen entsprang meiner Kehle: „Joey? Ich verstehe es, wenn du, Yugi, Tristan, Bakura, Tea und Duke die Schnauze voll habt. Ich mache euch nur Scherereien, vor allem dir.“
 

„David? Schau mich mal an.“ Ich wollte dieser Aufforderung nicht nachkommen. Sein niedergeschlagener Gesichtsausdruck würde mir den Rest geben. Die rehbraunen Augen, die so wunderschön im Glanz der Fackeln anzusehen gewesen waren, durchzogen von Enttäuschung und Abneigung. Mein Kinn wurde erneut behutsam nach oben gedrückt. Joey wirkte tatsächlich enttäuscht und irgendwie auch traurig. Ich versuchte mich beschämt aus seinem Griff zu lösen, was er aber mit sanfter Gewalt zu verhindern wusste.
 

„David, wir kennen dich erst seit gut einem Monat. Du hast dich gleich am ersten Tag mit Seto Kaiba duelliert, und dabei gut abgeschnitten. Du hast Mokubas Herz im Sturm erobert, mir in Englisch geholfen, bist mit uns abgehangen, und so weiter. Wir alle mögen dich so wie du bist, mit allen Ecken und Kanten, von denen wir bisher nur wenige kennen. Die sind uns aber egal, glaube mir. Du warst sehr mutig, als du Jirai Gumo vernichtet hast. Das habe ich dir aber bereits gesagt. Du hast die Rätsel auch ganz einfach gelöst; das letzte war Künstlerpech. Ich hätte nicht einmal eines über die Bühne bringen können, in der dreifachen Zeit.“ Seine Stimme klang irgendwie ein wenig brüchig. Enttäuschung oder Abneigung war aber nicht zu erkennen.
 

„Warum klingst du dann so komisch, Joey?“ Ich schrägte meinen Kopf ein wenig, und endlich ließ er mich los. Sobald seine Hand mein Kinn verließ, vermisste ich schon das Gefühl seiner Finger auf meiner Haut. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mehr mit mir. Oder mit Joey? Mit uns beiden?
 

„Weil in deinen Dickschädel anscheinend nicht hineingeht, dass du ein ganz wunderbarer Freund bist, und wir dich gerne um uns haben. Deine Späße, dein trockener Humor, deine Hilfsbereitschaft. David, wir sind froh, dass du Teil unserer Gruppe bist, wirklich. Alle mögen dich, wir, Mokuba, Yugis Großvater, die Lehrer; denkst du, dass dich alle belügen? Wenn ich ehrlich bin, es verletzt mich, dass du so von uns denkst. Nein, es verletzt uns.“
 

Ich hatte zweifelsohne ein Händchen, wenn es darum ging, das Offensichtliche zu leugnen. „Los, sag etwas, mach etwas! Willst du, dass er verschwindet, traurig und verletzt?“

Wer oder was war diese Stimme? Mein Gewissen konnte es nicht sein, das würde wohl meine eigene, vertraute Tonvibration verwenden. Oder? Zögernd griff ich nach Joeys Hand und legte sie zwischen meine beiden Handinnenflächen. Ich konnte sie natürlich nicht einbetten – er war größer als ich, und hatte auch die größeren Extremitäten verpasst bekommen, aber ich konnte es zumindest versuchen. Warum ich das tat? Im Nachhinein würde ich es mit Instinkt bezeichnen. Joey jedenfalls blickte mich ein wenig verwundert wirkend an.
 

„Joey? Es tut mir leid, dass ich so ein Esel bin. Gerade dir gegenüber. Ich hatte damals Schiss, dir von meinem Besuch bei Mokuba zu erzählen, oder von Kaibas Angebot mit dem Synchronsprechen. Dabei hast du bisher immer zu mir gehalten, genauso wie der Rest. Ihr seid immer ins Krankenhaus gekommen, habt mich besucht, das mit der Schule gedeichselt. Was mache ich? Labere irgendeinen Scheiß, der offensichtlich nicht der Wahrheit entspricht. Ich bin verdammt dankbar, dass ihr meine Freunde seid. Mit dir und Tristan in der Arcadehalle abzuhängen, Tea beim Tanzen anzufeuern, mit Bakura und Yugi über Duel Monsters und Ägypten zu quatschen, oder einfach nur so zu tun, als hätte ich kapiert, wie Dungeon Dice Monsters abläuft, wenn Duke mir die Regeln erklären will; das schätze ich. Ich würde keine Sekunde missen wollen, selbst heute nicht.“
 

Sanft drückte ich Joeys warme Hand, bevor ich fortfuhr: „Ich hatte heute zweimal echt eine Heidenangst. Einmal die Spinne, dann das mit dem Ertrinken. Ich bin als kleiner Junge, mit fünf oder sechs Jahren, beim Spielen in den nahen Bach gefallen. Ich hasse das Gefühl, unter Wasser zu sein. Ich schwimme auch mies. Heute war es aber anders. Als du deinen Arm um mich gelegt hattest, da fühlte ich mich sicher, geborgen. Bis zum Abtauchen war ich ruhig wie nie. Dann war ich erst wirklich panisch. Andererseits fand ich es nicht so schlimm, denn, du warst ja bei mir, und ich vertraue dir ab jetzt auch blind, versprochen?“ Joeys Gesichtszüge wurden so unendlich weich und sanft, als ich mit meiner Ansprache fertig war. Lächelnd drückte er meine rechte Hand, welche unten lag.
 

„Das wollte ich hören, Champ. Ich bin stolz auf dich, wir alle eigentlich. Mokuba übrigens auch; der wollte das Spiel schon eine ganze Weile vorher abbrechen lassen, aus Sorge um dich. Bis vor kurzem war er auch noch hier und hat mit mir gewartet, bis du wach wirst. Morgen solltest du ihn dann vielleicht einmal beim Frühstück ein wenig beruhigen, und ihm klar machen, dass es deine Entscheidung war weiterzumachen.“
 

Ich nickte leicht und lächelte schmal. „Okay, dann halten wir es so. Wer hat mich eigentlich umgezogen?“ Ich mochte es eigentlich nicht, wenn jemand an mir herumfummelte, außer die Person war mir besonders nahe. Dementsprechend beunruhigt war ich ob des Gedankens, dass jemand Wildfremder mich ausgezogen hatte. Meine Sachen hatte man, fein säuberlich gefaltet, auf dem Boden neben meiner Bettseite platziert.
 

„Das war ich, und bevor du fragst: Nein, ich habe nichts unter der Gürtellinie angefasst. Du trägst die gleichen Boxershorts wie vor unserem Testausflug. Der Arzt meinte auch, du solltest dich heute ausruhen. Ich lasse dich alleine, damit du schlafen kannst, okay?“ Joey wollte bereits aufstehen, aber ich hielt ihn unbewusst zurück. Meine Hände waren noch immer um seine gelegt. Fragend starrte mein Freund zuerst auf unsere Hände, dann auf mich. Nach kurzer Zeit schrägte der Größere von uns den Kopf.
 

„Joey? Wäre es okay wenn du heute, also, wenn du heute hierbleiben würdest? Es ist sicher schon spät, und außerdem, ich bekomme das mit der Spinne nicht aus dem Schädel. Wenn ich alleine bin, dann habe ich das Gefühl, irgendwo krabbelt so ein Mistvieh herum, und dann kann ich erst Recht nicht schlafen. Ich weiß, es ist viel verl…“
 

Joeys Zeigefinger versiegelte meine Lippen. Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Was haben wir gerade besprochen? Klar penne ich bei dir. Ich ziehe mich eben um und putze meine Zähne. Mach dich nicht zu breit, ja?“
 

Damit ließ ich Joey los, welcher ins Badezimmer nebenan verschwand. Das mit der Arachnophobie war nur die halbe Wahrheit gewesen. Etwas in mir wollte ihn um sich haben. Wäre es nicht so albern gewesen, und hätte ich bisher schon einmal eine solche Neigung verspürt, wäre der naheliegendste Gedanke gewesen, dass ich mich in Joey verknallt hätte. Das war aber ausgeschlossen. Einerseits gefielen mir Mädchen, andererseits war ich von meinen Eltern streng religiös erzogen worden, mit dem Einfluss meiner Großeltern. Ich war nicht homophob oder so, überhaupt nicht, aber auch sicherlich nicht homosexuell. Etwas stimmte dennoch nicht ganz; die Situation war komisch. Sie in Worte zu fassen war unmöglich.
 

Joey kam aus dem Badezimmer zurück. Bis auf eine kurze, schwarze Trainingshose war er vollkommen nackt. Im Licht des Mondes, welcher durch die Fensterscheiben schimmerte, zeichneten sich die Muskeln seines Oberkörpers ab. Das war das erste Mal, dass ich Joey so sah. Die Adern an seinen Unterarmen und am Bizeps stachen durch seine helle Haut hervor. Zwischen den Brustmuskeln ruhte eine schmale, dünne Halskette mit einem goldenen Anhänger in Form eines Herzens. Joey besaß außerdem einen deutlich ausgeprägteren Sixpack als ich. Seine Waden wiesen ebenfalls diese Adern auf. Insgesamt war er sicherlich als ein verboten hübscher Junge zu beschreiben. Ich bedauerte es ein wenig, dass mir der Blick auf das Ende des V-förmigen, trainierten Beckenbereichs durch die schwarze Trainingshose verwehrt wurde. Hastig schüttelte ich den Kopf und starrte an die Decke. Was für ein Gedanke. Er war ein enger Freund, mehr nicht. Zum Glück schien Joey meine Reaktion nicht bemerkt zu haben, denn er warf sich ohne weiteren Kommentar ins Bett und krabbelte unter die Decke.
 

„Gute Nacht, David, wenn was ist, weck mich, ja? Mokuba wird uns morgen aus den Federn reißen, ganz sicher.“ Damit war der Blondhaarige auch schon weggedöst, oder er konnte sehr gut einen Schlafenden mimen. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Joeys Atem war ging ganz ruhig. Der Anblick meines schlafenden Freundes war wirklich zum Anbeißen. Sein Mund war ein wenig offen und ertappte mich dabei, wie ich unwillkürlich lächeln musste und ein wenig näher an ihn herangerückt war. Würde er wohl wach werden, wenn ich ihn berührte?
 

„Halt den Rand und schlaf endlich.“ Grob riss ich mich am Riemen und hörte auf mein schlechtes Gewissen. Das war sicher meine innere Stimme, denn die kannte ich gut, besser als die andere. Murrend drehte ich Joey meinen Rücken zu und zog die Decke an mein Kinn. Wenn das so weiterging, war ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob ich nicht doch mehr für Joey empfand, als nur Freundschaft. Diesen Gedanken unwirsch verscheuchend, schlief ich erschöpft ein.

Verborgene Talente

Entgegen Joeys Vorhersage wurde ich wach, bevor Mokuba uns wecken konnte. Der Blick auf den digitalen Wecker neben mir verriet, dass es erst sechs Uhr war. Dementsprechend dunkel bzw. dämmrig war es draußen noch. Ich konnte meinen schlafenden Freund dennoch genau begutachten. Im Schlaf hatte er sich wohl von der Decke befreit und ließ mich eingehend seinen Körper mustern. Dieses Mal nicht nur bloß flüchtig und grob. Etwas in mir regte sich bei Joeys Anblick.
 

Ich musste dem Drang wiederstehen ihm eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Er döste so friedlich vor sich hin – ich konnte mich gar nicht genug an diesem Bild sattsehen. Seine sehnige, drahtige Figur, die Brustmuskeln, der Sixpack, die breiten, definierten Schulterblätter. Wäre ich ein Mädchen gewesen, ich hätte alles dafür getan, mit ihm ein Date zu bekommen. Mein Blick wanderte seinen Körper entlang und blieb knapp über dem Hüftbereich stehen. Die Trainingshose war ihm ein wenig verrutscht. Das ausgeprägte, trainierte V von gestern war nun noch deutlicher zu sehen. Wie bedauerlich, dass ich heute auch nicht mehr zu sehen bekam. Ich schüttelte energisch meinen Kopf und versuchte meine Gedanken in eine andere Bahn zu lenken.
 

Meine Augen wanderten zu Joeys Gesicht und verfingen sich in seinen Lippen. Er hatte den Mund wieder nur einen Spalt breit geöffnet. Verärgert biss ich mir auf die Unterlippe. Warum sehnte ich mich plötzlich so danach, ihn zu küssen? Seine weichen, zarten Lippen auf den meinen zu spüren. Leise seufzend ließ ich mich ins Kissen zurücksinken und schloss meine Augen. Das war nicht normal, dessen bin ich mir in diesem Moment bewusst geworden. Das passte eigentlich überhaupt nicht zu mir. Ich wollte Kinder haben, mindestens eins, ein hübsches Mädchen als Freundin, ein großes Haus, einen guten Job, eine Familie. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, das Gleiche mit einem Jungen aufbauen zu wollen. Was würden meine Eltern sagen? Meine Großeltern? Vor allem: Was würde Joey sagen?
 

Langsam öffnete ich wieder die Augen und lugte zu Joey hinüber. Dieser schlief noch immer tief und fest. Er sabberte sogar ein wenig auf seine Schulter. Sanft strich ich mit dem Zeigefinger über den Speichelfaden, welcher sich zwischen seinem Mund und dem Schulterblatt gebildet hatte. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Ich hatte Angst, dass er davon wach werden würde. Mein Brustkorb drohte zu zerspringen. Sollte ich weitermachen? Ihn berühren? Erneut biss ich mir auf die Lippen. Vielleicht würde ich ja aufhören so zu denken, wenn ich mich weiterwagte? Könnte Abneigung entstehen? Ein großes Risiko, doch andererseits machte es mich beinahe wahnsinnig, so neben ihm zu liegen. Mit zitternden Fingern berührte ich Joeys Halsbeuge.
 

Seine Haut war so unendlich weich und zart. Langsam strich ich über sein Kinn, die Wange entlang und entfernte mit einem weichen Lächeln auf den Lippen die störende Haarsträhne aus seinem Gesicht. So friedlich, so unbeschwert wie jetzt wirkte er selten. Auch wenn ich seine chaotische, warmherzige Art mochte, manchmal hatte ich das Gefühl, er würde uns etwas vorspielen, eine Maske tragen. Das hier war aber der echte Joey. Behutsam und vorsichtig legte ich meine Hand an seine Stirn und streichelte mit dem Daumen darüber. Was war nur los mit ihm? Machte ich mir zu viele Sorgen? Einen Kopf, wo keiner nötig war? Ich war bisher nie dazu gekommen, Tristan zu fragen, warum Joey bezüglich seines Zuhauses so abgeblockt hatte. War es das, was ihn so belastete? Streit mit seinem Vater? War die Wohnung so baufällig, dass er sich schämte, Freunde einzuladen? Der Blondhaarige zuckte kurz und räusperte sich, nur um dann ruhig weiterzuschlafen. Ein Glück; mir war gerade das Herz in die Hose gerutscht. Wie sollte ich ihm denn erklären, was ich da machte? Aufhören konnte ich aber auch nicht.
 

Zärtlich strich ich seinen Arm entlang, über den harten, trainierten Bizeps, den definierten Unterarm, bis ich an seiner Hand angelangte. Behutsam drapierte ich meine auf seiner, und musste unwillkürlich lächeln. Es war so ein schönes Gefühl, Joey so nah zu sein. War das Liebe? Wenn einem kurz das Hirn stehen blieb, weil man jemanden berührte? Konnte Liebe denn falsch sein? Vor allem, wenn sie sich so anfühlte?
 

Leise seufzend löste ich meine Hand wieder von der Seinen. An Schlafen war jetzt sowieso nicht mehr zu denken. Im Nachhinein schalt ich mich einen Dummkopf, Joey gebeten zu haben, dass er bei mir schlafen möge. Das raubte mir den letzten Nerv, zumindest jetzt, wo ich einigermaßen ausgeruht war. Mein Blick fiel stattdessen auf ein quadratisches Etwas, welches sich rechts von mir auf dem Nachttisch lag. Bemüht leise griff ich danach. Es war hart und fühlte sich wie ein Heft oder eine Mappe an. Ich zog das Objekt in den Mondschein und erkannte einen gewöhnlichen Ringblock, mit Pappe versehen. Groß war darauf „Joey Wheeler“ zu lesen. Sollte ich einen Blick hineinwagen? Zeichnete Joey? Schrieb er? Tausende Fragen schossen mir durch den Kopf, teilweise vermengt mit den wildesten Thesen. Vielleicht war es sogar sein Tagebuch? Die Neugierde übermannte mich schlussendlich; mit spitzen Fingern blätterte ich durch die einzelnen Seiten.
 

Als Erstes bestaunte ich eine Bleistiftzeichnung, welche mehr als nur exakt ausgearbeitet war. Yugi und Bakura grinsten mir entgegen, jeder so, als wäre er gerade vor mir. Beide hatten sich die Arme um die Schultern gelegt und strahlten um die Wette. Bei mir, der grafisch komplett untalentiert war, erzielte die Zeichnung eine dementsprechende Wirkung.
 

Die nächste Seite zierte Tristan auf seinem Bike, wie er gerade über einige Reifen sprang. Das Motorrad, Tristan in seinem Anzug samt Helm, sogar die Bretter der Schanzen – der Moment war perfekt eingefangen worden. Joey besaß in meinen Augen außerordentliches Talent. Mir war das im Kunstunterricht nie aufgefallen – dort kritzelte mein Freund meist nur lustlos auf seinem Papier herum.
 

Tea beim Tanzen, Duke wie er gerade zwei Würfel warf, dann Kaiba, welcher lächelnd hinter Mokuba stand (zumindest das musste einer reinen Fantasie Joeys entsprungen sein – Kaiba hatte ich noch nie lachen gesehen), das ganze Grüppchen vor einem Weihnachtsbaum; jede einzelne Seite barg eine detaillierte Szene, fein säuberlich ausgearbeitet und trotz fehlender Farben prägte sich das jeweilige Bild perfekt ins Gedächtnis ein. Mir wurde sogar ein Blick auf Joeys kleine Schwester Serenity gewährt.
 

Die Zeichnung offenbarte ein Mädchen von gut 15, höchstens 16 Jahren, mit schulterlangen Haaren und einem zuckersüßen Lächeln. Dem gleichen Lächeln, welches ich so an Joey mochte. Ihre Augen waren halb geschlossen, ich vermutete aber, dass sie die Irisfarbe ihres Bruders geerbt hatte. Insgesamt ein äußerst hübsches und süßes Mädchen. Zuhause hätte ich sie sicherlich zu einem Kaffee eingeladen. Ob sie wohl auch so gut zeichnen konnte wie Joey? Gedankenverloren blätterte ich durch die nächsten Szenerien bis ich an einer angelangte, welche mich vollkommen in den Bann zog.
 

Auf der einen Seite stand Kaiba, in der Schuluniform der Domino High. Er hatte eine Duel Disk am Arm. Dieses selbstsichere, amüsierte Grinsen auf seinen Zügen – auch das hatte Joey perfekt eingefangen. Sein Blick war genauso stechend wie in echt. Vor ihm bäumte sich ein Weißer Drache mit eiskaltem Blick auf. Die Schuppen brachen das Licht der Sonne und warfen es wieder zurück. Die Klauen des Drachen waren gespreizt, wie auch seine Flügel. Im zahnbewehrten Maul wuchs bereits ein weißer Lichtblitz. Ich erinnerte mich an die Szene gut, hatte ich sie doch selbst miterlebt. Mein Augenmerk fiel auf die andere Figur, welche Kaiba gegenüberstand. Sie war kleiner als er, trug aber genau die gleiche Uniform. Zwei Knöpfe waren am Kragen oben geöffnet und entblößten ein Hemd mit einem mir wohlbekannten Logo: Zwei Bögen, welche sich ineinander verschlangen – genau die Shirts, die ich trug.
 

Tatsächlich, Joey hatte mich gezeichnet! Mein grafisches Konterfei hatte ebenfalls eine Duel Disk am Arm. Sogar die Adern an meinem Handrücken waren zu erkennen. Die Uniform flackerte ein wenig im Wind, welcher mir das Haar zerzauste. Die Szene wirkte noch realer als die vorherigen. Er hatte alles an mir eingefangen, das Muster meiner Sneakers, wie ich die Finger krümmte, die eine Haarsträhne, welche ich nie ganz geglättet bekam… Vor meinem gezeichneten Ich türmte sich der Schwarze Rotaugendrache auf. Im Gegensatz zu seinem weißen Kontrahenten schluckten die Schuppenplatten meines Monsters das Sonnenlicht und gaben es nicht mehr her. Beide Drachen waren gleich groß, hatten die gleiche Haltung eingenommen – sogar an das Power Up der Drachenklauen war gedacht worden. Im Maul meines Beschützers blitzte auch ein Energieball. Wahnsinn!
 

Auch die nächste Zeichnung drehte sich um mich. Ich hatte meinen Mund sperrangelweit offen, während mir eine fremde Hand mittels zwei Stäbchen Reis eingab. Die Szene im Krankenhaus. Eingehend begutachtete ich mein Gesicht: Einige Schrammen waren zu erkennen. Mein Haar war unfrisiert und die Spitzen verdeckten das Muttermal auf meiner rechten Stirnhälfte. Hatte ich wirklich so glücklich gewirkt? Auf dem Bild strahlte ich förmlich. Da hatte ich Joey und Co gerade mal einen halben Tag gekannt. Oder war es ein ganzer? Gedankenverloren blätterte ich um.
 

Auf dem Papier prangten Joey und ich, er als Flammenschwertkämpfer, ich als Schwarzer Magier. Wir beide hatten unsere Helme abgenommen; unsere Haare wirkten zerzaust und unordentlich. Auch unsere Waffen fehlten komplett. Stattdessen hielt mich Joey in den Armen. Augenscheinlich schmiegte ich mich an seine Brust. Meine Hände waren auf den seinen drapiert, welche knapp über meinem Bauch ruhten. Ich krümmte meine Finger ein wenig und es wirkte so, als würde ich über Joeys Handrücken streicheln. Mein Freund blickte von oben auf mich herab, sein Kinn auf meinem Hinterkopf gebettet. Er lächelte dabei glücklich, die Augen halb geschlossen. Ich für meinen Teil hatte den Kopf an ihn gedrückt und erwiderte das Lächeln. Unsere Blicke kreuzten sich eindeutig.
 

Über den beiden Figuren war noch etwas zu erkennen. Ich brauchte einige Momente um zu realisieren, was er da gemalt hatte: Zwei Drachen. Einer davon war eindeutig der Schwarze Totenkopfdrache, der andere der Schwarze Rotaugendrache. Beide berührten sich jeweils mit einem Flügel, welche im Zusammenspiel ein Herz bildeten.
 

Ich ertappte mich dabei, wie ich mit den Fingern über das Bild strich. Was war nur los mit mir, mit uns? Warum hatte Joey das gezeichnet? Wir wirkten beide so glücklich, so frei. Gerade er, dieses ehrliche Blitzen in seinen Augen. Langsam wanderte mein Blick zu meinem Freund hinüber, welcher sich zu mir herumgedreht hatte. Seine Wange war auf seinen Händen gebettet und er döste friedlich vor sich hin. Sollte ich ihn wecken? Joey darauf ansprechen? Fühlte er ebenfalls so? Würde er sauer werden, weil ich in seinem Block herumgeschnüffelt hatte? Wäre es nicht besser, zuerst mit Tristan zu sprechen? Der war schließlich sein bester Freund. Oder mit Yugi? Andererseits – wie würden sie reagieren? Hirngespinste? Falsche Hoffnungen? Ich war mir in dem Moment total unsicher. Die Zeichnung war eindeutig, in meinen Augen zumindest. Konnte man so etwas in den falschen Hals bekommen? Warum sagte er nichts? War Joey schüchtern? Das konnte ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen.
 

Leise legte ich den Block wieder an seine vorherige Position und ließ mich ins Bett sinken. Genervt rieb ich mir die Augen. Warum war das alles so kompliziert? Warum fühlte ich so? In der letzten Stunde hatte ich mich eigentlich nur mit Fragen gequält, auf die ich sowieso keine Antwort erhalten würde. Im Stillen entschied ich mich, Tristan einmal beiseite zunehmen. Er war Joeys bester Freund und würde mich sicher beruhigen. Ich mochte Tris gerne. Er war ein wenig ruhiger, organisierter als Joey, aber gerade wenn es ums Zocken ging, stand er seinem blonden Counterpart in nichts nach.
 

Gerade als ich wieder wegdösen wollte, riss jemand unsanft die Tür auf. Ein unangenehmer Druck auf meinem Bauch, in Kombination mit einem schrillen „Aufstehen! Guten Morgen“ ließ mich innerlich aufstöhnen. Mokuba hatte wirklich ein Talent, wenn es um ungünstige Zeitpunkte ging. Joey schien wohl gleich zu denken, denn im Gegensatz zu mir stöhnte er hörbar.
 

„Mann, Mokuba, wie oft habe ich dir gesagt, dass ein Wecker voll und ganz ausreicht. Du musst nicht selbst Radau machen.“ Mit einem breiten Grinsen warf sich der Kleine jeweils über mich und Joey und machte so eine Bewegung schwer bis unmöglich.
 

„Du bist so ein Morgenmuffel Joey! Wie geht es dir David? Alles okay? Hast du gut geschlafen?“
 

Seufzend beantwortete ich jede seiner Fragen. Innerhalb von fünf Minuten waren sowohl Joey als auch ich hellwach. Gemeinsam entledigten wir uns des kleinen Störenfriedes indem wir ihn in die Bettdecke rollten und uns dann grinsend frisch machten. Sollte er sich doch alleine freikämpfen! Minuten später, nach dem Zähne putzen und anziehen, war unser Bett verwaist. Mokuba war wohl schon zum Frühstück gegangen
 

„Na dann wollen wir mal.“ Joey nickte grinsend nach unten. Ich beobachtete ihn, wie er ganz beiläufig, nach seinem Block griff und diesen in seine Schultasche schmiss. „Hast du keinen Hunger, oder was?“ Sollte ich etwas sagen? Nein, oder?
 

„Natürlich, einen Bärenhunger. Beeilen wir uns, bevor Mokuba vor lauter Schmollen alles alleine verputzt.“ Kichernd machten wir uns auf den Weg in Richtung Esszimmer.

Lohnenswerter Einkaufsbummel

Die Tafel war wieder reichhaltig gedeckt worden, wie beim letzten Mal. Drei thronartige Stühle waren aneinandergeschoben worden. Ich schnappte mir einen Vollkorntoast und bestrich ihn mit Honig, während Mokuba und Joey sich eingehend über unsere Session gestern unterhielten. Kaiba war nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich hatte er sich bereits wieder in die Firma zurückgezogen, oder war sonst irgendwie beschäftigt. Mokuba riss mich aus meinen Gedanken.
 

„Hey David? Wie fühlst du dich jetzt eigentlich? Wir haben uns gestern große Sorgen gemacht, als du draußen kollabiert bist. Der Arzt meinte, du hättest zwei Schockerlebnisse hintereinander nur schwerlich verarbeiten können.“
 

Rasch schluckte ich meinen Bissen Toast hinunter und räusperte mich dann. „Jaja, alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen, Mokuba.“ Mir lag eigentlich auf der Zunge, dass er ruhig früher ausschalten hätte können, aber warum sollte ich ihm unnötig Vorwürfe machen? Es war noch einmal alles gut gegangen, und so hatte ich einen Blick auf Joeys Zeichnungen werfen können. Insgesamt war der Abend gestern doch produktiv gewesen. Heute würde ich mir Tristan krallen.
 

„Sicher? Also, wenn du es sagst, okay. Es war aber ganz gut, dass dir das gestern passiert ist, so können wir einige Hinweise anbringen und uns sonst auch überlegen, ob wir nicht doch die eine oder andere Monsterkarte streichen.“
 

Ich nickte abwesend und biss wieder von meinem Toast ab. Wie sollte ich das mit Tristan heute anstellen? Wenn ich ihm wirklich steckte, dass ich in Joeys Sachen herumgewühlt hatte, bestand die reale Chance, dass sein bester Freund durchaus sauer werden könnte. Natürlich bliebe es mir dann aber auch verwehrt, nachzubohren, herauszufinden was mit Joey los war. Er verhielt sich nicht komisch oder unfreundlich, aber doch, irgendwie ein wenig befremdlich. Unseren Augenkontakt hatte er im Game gemieden, dann in der Realität wieder gesucht. Ich war zugegebenermaßen verwirrt.
 

Wir frühstückten fertig, wobei ich die meiste Zeit mit mir selbst beschäftigt war. Dann wurden Joey und ich von Mokuba verabschiedet, welcher uns jeweils umklammerte, als würden wir nie wieder beim ihm vorbeischauen. Wir winkten ihm noch aus der Limousine zu, die uns zur Schule brachte. Unsere Sachen hatte man bereits vorsorglich in den Wagen gebracht. An diesen Service hätte ich mich dauerhaft gewöhnen können. So wurden Joey und ich zur Schule kutschiert und von unseren Freunden aufs Herzlichste begrüßt. Wir unterhielten uns über die Session am vorigen Tag, Duel Monsters, den Ausverkauf in einem Shop in der Nähe (wo Tea unbedingt hin wollte), und sonstige Belanglosigkeiten.
 

Als die Schule gegen 16:00 Uhr zu Ende war, trödelte ich bewusst. Tristan und Joey räumten gerade gemeinsam ihre Sachen unter meinem wachsamen Blick ein, als jemand lautstark mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.
 

„Na? Wo sind wir denn heute geistig?“ Tea strahlte mir entgegen. Ich atmete beruhigt aus. Sie schien wohl nichts bemerkt zu haben. Oder doch? Weibliche Intuition konnte einen äußerst oft entlarven. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass Frauen eine deutlich bessere Beobachtungsgabe als Männer besaßen.
 

„Mh, mal hier, mal dort. Was gibt es?“ Tea schrägte den Kopf ein wenig: „Hast du Lust, mit mir heute shoppen zu gehen? Ich bräuchte noch einen starken Träger, und jemanden, der mich bei der Auswahl berät. Die Jungs sind alle ein wenig, nennen wir es unbrauchbar.“ Darauf hatte ich eigentlich gar keinen Bock. Geistig sah ich mich schon wie ein Packesel beladen hinter Tea herstapfen, mein Gesicht zwischen einem Berg von Tüten und Taschen begraben.
 

„Also, naja, warum nicht?“ Mir war eine Idee gekommen. Die einzige weibliche Person in der Runde hätte sicher Veränderungen an Joey bemerkt. Außerdem hatte Tea in fast jedem Kram ihre Nase stecken. Sie würde meine Neugierde sicherlich auch eher verstehen als Tristan. Zumal, wenn Joey wirklich homosexuell sein sollte, dann würde er wohl eher mit ihr, als mit seinem besten Freund, einem Jungen, darüber sprechen. „Ich räume noch eben meine Sachen ein, dann gehen wir, ja?“ Tea belohnte mich mit einem strahlenden Lächeln.
 

Gut zwei Stunden später war ich wirklich zum Packesel mutiert. Es war aber bei weitem nicht so schlimm wie angenommen. Tea suchte sich ihre Kleidung sorgfältig aus. Nebst zwei Taschen mit Schuhkartons, schleppte ich zwei weitere mit Oberteilen und Hosen hinter ihr her. Wir hatten aber auch für mich etwas gefunden. Ein Kompressionsshirt für den Sportunterricht (mein altes hatte ich beim Training zerfetzt, es war immerhin schon fünf Jahre alt), eine kurze, beige Hose und eine weiße Strickjacke.
 

„Wo ich dich grade so ansehe, hast du eigentlich einen Smoking?“ Teas Frage brachte mich aus dem Konzept. Wozu sollte ich einen Smoking dabei haben? Mein eigener Abschlussball war noch ein Jahr entfernt, und für sonstige feierliche Anlässe besaß ich Lederhose und Hemd, welche ich aber beide nicht mitführte.
 

„Nein, warum?“ Ich schrägte den Kopf und bedachte Tea mit einem fragenden Gesichtsausdruck. Was zum Teufel wollte sie denn von mir? Ihr unheilvolles Grinsen verhieß nichts Gutes.
 

„In gut 14 Tagen ist der Abschlussball der höheren Klassen. Außerdem wirst du zum Weihnachtsball sowieso einen brauchen. Komm mit, keine Widerrede! Ich weiß genau, wo wir etwas für dich bekommen!“
 

Abschlussball, Weihnachtsball? Bitte? Ich wollte gerade antworten, als mich Tea auch schon hinter sich her zog. Mit Mühe konnte ich die gekauften Utensilien bei mir behalten. So energisch war sie das letzte Mal beim Tanzwettbewerb im Einkaufszentrum gewesen. Wir hielten vor einem kleinen Laden, welcher, passenderweise, mit Nadel und Faden an der Reklame versehen worden war. In der Auslage befanden sich Smokings, Kleider, Brautmode und so weiter. Ein lautes Klingeln beim Öffnen der Tür machte unser Eintreten lautstark deutlich.
 

Ein junger Mann, Mitte 30, mit kurzem schwarzem Haar, einem weißen Hemd und dunkler Hose begrüßte uns freudestrahlend. Seiner Art nach zu urteilen schien er Tea bereits zu kennen. Außerdem handelte es sich nicht um einen Japaner, er wirkte eher südländisch, ich hätte auf Italien oder Griechenland getippt. Der dunkle Teint wollte auch nicht so recht in das sonstige Flair der Leute draußen passen.
 

„Chris, das ist David. David, das ist Chris Esposito, der Schneider meines Vertrauens.“ Ich nickte dem Fremden kurz zu und stellte dann vorsichtig die Taschen ab. Erst jetzt fiel mir auf, wie irre schwer die Dinger waren. Chris schüttelte mir lächelnd die Hand und entblößte dabei ein perfektes, weißes Gebiss.
 

„Chris, wir brauchen einen Smoking für David, für den Abschlussball und Weihnachten, du weißt schon.“ Tea untermalte ihren Satz mit einer drehenden Handbewegung. Ich fühlte mich ein wenig wie bei einer Kaffeefahrt, wo man unbedingt etwas kaufen musste.
 

„Ah ja, gut. Habt ihr denn irgendwelche Vorstellungen?“ Chris begutachtete mich eingehend und zog dann ein Maßband aus seiner Hemdstasche hervor. Sorgsam begann er damit, meine Maße zu nehmen.

„Nun, ich eigentlich nicht. Das war schließlich Teas Idee. Vielleicht einfach was Schlichtes? Zum Ausleihen?“ Ich hatte keine Ahnung, was so ein Smoking kostete, nur, dass sie in der Regel schweineteuer waren. Außerdem wollte ich mein monatliches Taschengeld nicht für ein Kleidungsstück ausgeben, das ich höchstens zweimal im Jahr tragen würde. Mein Handy vibrierte, und der Ton verriet mir, dass es sich um Joey handeln musste. Ich hatte ihn mit einem eigenen SMS-Ton bedacht.
 

„Darf ich kurz nachsehen? Ich glaube das ist wichtig. Außerdem entscheidet sowieso Tea.“ Chris nickte mir nur schmunzelnd zu und schenkte seine Aufmerksamkeit dann Tea, welche ihn bereits energisch mit ihren Vorstellungen konfrontierte. Ein Blick auf mein Display verriet mir, dass es sich tatsächlich um eine Nachricht des blonden Chaoten handelte.
 

„Hey David! Alles okay bei dir? Hör mal, in 14 Tagen ist der Abschlussball der Oberstufe. Wir gehen da jedes Jahr hin. Hättest du Bock mitzukommen? Eine weibliche Begleitung ist nicht notwendig, ich, Yugi, Bakura und Duke haben kein Mädel dabei, und bei Tristan glauben wir es erst, wenn wir es sehen. Falls du einen Smoking brauchst, wir können sowas sicher wo ausleihen.“
 

Interessant. War das eigentlich geplant von der Meute, oder nicht? Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ich antwortete: „Ah ja. Darum hat mich Tea also mitgeschliffen. Wir sind gerade in einem Laden für Smokings. Mir graut schon vor dem Anprobieren, noch mehr vor dem Preis. Aber grundsätzlich würde ich gerne hingehen. Wie sieht es denn mit den Karten aus?“
 

Jemand drückte behutsam mein Handy nach oben, was mich aufblicken ließ. Chris schien ein reges Interesse an der Innenseite meiner Smartphonetasche zu haben, welche gerade nach hinten geklappt war. Drinnen steckten mein Personalausweis, meine Kreditkarte, ein Büchereiausweis, meine E-Card und die Visitenkarte von Kaiba. Letztere wurde eingehend begutachtet.
 

„Wo hast du denn die her? Die Dinger sind ein kleines Vermögen wert. Bist du mit Herrn Kaiba auf du und du?“ Ich war fast versucht zu behaupten, dass in diesem Moment die Gier in den Augen des Verkäufers zu sehen war. Die Yenzeichen fehlten nur.
 

„Nicht direkt. Ich bin sowas wie der ähm, Betreuer seines kleinen Bruders, Mokuba. Eigentlich hat er sie mir gegeben, weil ich für sein neues Game als Synchronsprecher arbeite.“ Stille, dann hellte sich das Gesicht von Chris auf.

„Du arbeitest in einem Projekt von Seto Kaiba mit? Im Ernst?“ Ich nickte vage. Worauf wollte er denn hinaus? Im Hintergrund konnte ich Tea erkennen, welche sich ein Lachen verkneifen musste. Was war denn hier los?
 

„Interessant. Ich schlage dir was vor: Du könntest ganz beiläufig erwähnen, wenn du das nächste Mal bei den Kaibas bist, oder mit ihnen zusammenarbeitest, dass du deinen Smoking hier gekauft hast. Dafür lasse ich dir ordentlich beim Preis nach.“ War Kaiba wirklich so berühmt? Vor allem, warum war der Typ so scharf drauf? Dann dämmerte es mir. Das war alles von Tea eingefädelt. Sie wusste das mit der Visitenkarte, und hatte Joey sicher angestiftet, dass er mir genau in dem Moment schrieb. Was für ein ausgefuchstes Luder!
 

„Klar macht er das. Gehen wir schon mal was aussuchen, Chris. Du wartest inzwischen hier, David.“ Mit dem Verkäufer im Schlepptau verschwand Tea im hinteren Bereich des Ladens. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Schlau war sie ja, das musste man ihr lassen.
 

Eine Viertelstunde später kamen beide wieder zurück, beladen mit Sachen, bei deren Preis mir übel wurde. Chris versicherte mir jedes Mal, sie wären absolut leistbar, von exzellenter Qualität, und so weiter. Der wollte sein Zeug unbedingt an den Mann bringen. Ich entschied mich für ein Outfit, welches schon James Bond zu seinen besten Zeiten getragen hatte: Ein weißes Jackett mit weißem Hemd, schwarzer Fliege, einem weißen Gilet, und schwarzen Lackschuhen. Mir gefiel es, obwohl Tea und Chris meinten, ich sollte doch unbedingt ein schwarzes Jackett wählen. Schlussendlich drängte man mir beides auf.
 

Beim Zahlen hielt unser Verkäufer auch sein Wort: Umgerechnet 300 Euro durfte ich für den Fummel blechen, was grob überschlagen, die Hose alleine gekostet hätte. Mit einer breit grinsenden Tea und einem überschwänglichen Chris im Rücken, welcher uns alles Gute wünschte, und mich daran erinnerte, bei Mokuba und Seto unbedingt auf seinen Laden hinzuweisen, verließen wir den Laden. Tea lotste mich in ein kleines Café, in welchem ich mir ein Himbeerfrappé bestellte. Meine weibliche Begleitung entschied sich für einen schlichten Latte macchiato.
 

„Das habt ihr euch aber fein ausgedacht. So günstig bin ich selten zu Kleidung gekommen. Damit spare ich mir nächstes Jahr den Anzugskauf.“
 

Tea nippte grinsend an ihrem Becher. „Frauen und ein Riecher für günstige Mode. Nichts zu danken. Gut, dass Joey mitgespielt hat.“

Ich zog ordentlich am Strohhalm meines Getränks, nur um mich dann zu räuspern. „Du, Tea? Du bist ja mit den Jungs relativ vertraut. Entgegen Joeys SMS, hat er eine Freundin?“ Eigentlich wollte ich ganz anders ins Gespräch einsteigen, doch die Frage war mir über die Lippen gehuscht, bevor ich wirklich darüber nachgedacht hatte.
 

„Nein, hat er nicht. Joey hatte bisher eigentlich noch gar keine Freundin. Yugi und Duke auch nicht. Bakura ist ein kleiner Mädchenschwarm, und Tristan steht auf jemanden aus unserer Klasse. Warum fragst du?“ Jetzt hatte ich die Büchse der Pandora geöffnet. Der lauernde Blick von Tea gefiel mir überhaupt nicht.
 

„Nur so. Ich bin einfach neugierig, ob ich der einzige Typ in der Runde ohne Mädchen bin.“ Am Lügen musste ich noch arbeiten, denn so etwas Fadenscheiniges war leicht zu durchschauen. Hastig zog ich wieder am Strohhalm um Tea nicht direkt ansehen zu müssen.
 

„Ah ja – da kann ich dich dann beruhigen. Sie sind eigentlich alle solo. Am Valentinstag bekommt er zwar oft Schokolade, aber bisher hat er sich nie gebunden, oder überhaupt mal ein Mädchen in die Runde eingebracht.“ Stimmt, der Brauch mit der selbstgemachten Schokolade. Das gab es bei uns gar nicht. „Deswegen fragst du aber nicht, oder?“
 

War ich so leicht zu durchschauen? Sollte ich die Katze aus dem Sack lassen? Tea würde sowieso nachbohren bis mir etwas unverhofft herausrutschen würde. „Naja, ich habe gestern ein wenig in Joeys Zeichenblock gestöbert. Er hat euch gemalt, Kaiba, dann mich.“ Das mit dem „uns“ verkniff ich mir fürs Erste. Teas Reaktion würde mein weiteres Handeln bestimmten.
 

„Lass mich raten – nicht so richtig mit seiner Erlaubnis, hm?“ Ihr Grinsen ließ mich erleichtert aufatmen. Sie verstand meine Neugierde also. Klar, es war schließlich auch Tea. Ich bedachte ihre Frage nur mit einem knappen Nicken und vernichtete nach und nach mein Frappé.
 

„Nun, der Zeichenblock ist eigentlich eine Art Heiligtum. Nicht mal Tristan darf da reinlugen. Mir brennt zwar die Frage auf der Zunge, was genau du denn darin gesehen hast, andererseits kann es sein, dass mir Joey dann den Kopf abreißt. Hat er denn ein Mädchen gezeichnet?“
 

Ah ja, das mit dem Kopf abreißen war ihr anscheinend herzlich egal, oder sie hatte es nur pro forma angemerkt.
 

„Naja, dich und seine kleine Schwester glaube ich. Mehr aber auch nicht. Yugi und Bakura, Duke, Tristan mit seinem Bike, und mich bei meinem Duell mit Kaiba. Wie kommt es eigentlich, dass er so gut zeichnen kann? Im Kunstunterricht merkt man davon eigentlich gar nichts.“
 

Tea stellte ihren Becher ab und legte die Hände übereinander. „Joey zeichnet nur, wenn ihn etwas wirklich beschäftigt. Im Kunstunterricht kann er sich nur schwer für etwas begeistern. Er hat uns ein paar Mal einige Skizzen gezeigt. Für uns zeichnet er schon ab und an, aber meist belanglose Dinge. Also relativ belanglos. Die hinteren Seiten sind tabu, zumal er die Blöcke regelmäßig wechselt.“ Teas Augen blitzten schelmisch. Sie hatte sicherlich auch schon einmal „mit fehlender Erlaubnis“ in Joeys Blöcke gespickt.
 

„Sollte ich ihn vielleicht einmal auf seine Werke ansprechen? Er hatte den Block auf meinem Nachttisch liegen lassen. Ich konnte dann auch nicht mehr schlafen, und…“ Tea ließ mich meinen Satz gar nicht beenden.
 

„Die Neugierde war stärker, hm? Es ist ein heikles Thema. Bei mir ist er einmal komplett ausgerastet. Andererseits, es ist auch ungewöhnlich, dass Joey ihn offen herumliegen lässt.“ Mein Gegenüber tippte sich nachdenklich ans Kinn. „Deute es mal vorsichtig an, dass du den Block gesehen hast? Du musst ihm ja nicht direkt auf die Nase binden, dass du reingeschaut hast, oder?“ Dieses verschlagene Grinsen – Tea hatte es faustdick hinter den Ohren.
 

„Na du bist mir eine, Tea.“ Ich grinste breit, nur um dann wieder ernst zu werden: „Aber noch was anderes. Weißt du, warum Joey so komisch reagiert hat, als ich ihn auf seine Wohnung angesprochen habe?“ Das Grinsen aus Teas Zügen verschwand augenblicklich. Sie begann am Becher herumzuspielen.
 

„Du weißt es aber nicht von mir, okay? Joey sollte dir das eigentlich selbst sagen, aber er schämt sich zu sehr deswegen.“ Nun wurde ich hellhörig. Was war los? Hatte Joey Probleme? War etwas nicht in Ordnung. Hastig nickend versprach ich Tea, meine Klappe zu halten.
 

„Joeys Vater ist ein Alkoholiker. Er ist damit aufgewachsen, laut eigener Aussage belastet es ihn auch nicht mehr, aber wir kennen ihn besser. Du auch. Joey hat gleich gesagt, dass er es nicht ewig vor dir verbergen kann, nachdem ihr miteinander geredet habt.“ Da lag der Hund begraben. Jetzt verstand ich.
 

„Was ist ihm daran peinlich? Ich meine, dafür kann er doch nichts. Außerdem, wo ist seine Mutter?“ Tea schüttelte leicht den Kopf.
 

„Das soll er dir wirklich selbst erklären. Wir sind uns auch nicht ganz sicher, darüber wird Stillschweigen bewahrt. Wir haben einige Vermutungen, aber er öffnet sich niemandem, was das angeht, nicht einmal Tristan.“
 

Hinten rum signalisierte sie mir, dass ich nicht weiter nachbohren sollte. Gut, ich war jetzt ein ganzes Stück schlauer geworden, und stand doch wieder am Anfang.
 

Wir tranken aus und machten uns dann auf den Nachhauseweg. Ich brachte Teas Sachen noch bei ihr vorbei und begab mich dann in meine Wohnung. Auf der Couch fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, Tea zu dem Medaillon um Joeys Hals zu befragen. Sollte ich ihn selbst fragen? Seufzend vergrub ich mein Gesicht in den Händen. Ich dachte eindeutig zu viel nach.

Ein Ball mit Vermutungen

Ich hatte mich schlussendlich dagegen entschieden, Joey nach dem Medaillon zu fragen. Es war doch sehr privat, und ich hatte bereits in seinen Sachen herumgeschnüffelt. Die nächsten Tage verliefen also relativ ereignislos. Ich synchronisierte den Schwarzen Magier weiter, arbeitete auch an den Moves mit, schrieb einige Zeilen selbst. Insgesamt war man mit meiner Tätigkeit sehr zufrieden. Ich wurde auch aktiv in den Testprozess eingebunden. So war ich einer der Ersten, der exklusiv das neueste Game der Kaiba Corporation zocken durfte. Kaiba selbst verhielt sich mir gegenüber, genauso wie dem Rest der Clique rund um Yugi (zu der ich mich nun auch zählte), kühl und distanziert. Mein wachsendes Verhältnis zu Mokuba als dessen „Bruderersatz“, neben Joey, änderte daran auch nichts. So kam es jedenfalls, dass ich, nebst dem Schulstress, beinahe auf den Abschlussball vergessen hätte.
 

„Hey David, du hast nicht vergessen, dass heute Abend der Ball ist, oder?“ Joey riss mich aus meinen Gedanken, welche sich gerade um ihn gedreht hatten. Von meinem nächtlichen „Ausrutscher“ hatte er nichts mitbekommen, dafür war ich weise genug, ihm bisher nichts von meinem Ausflug in seine künstlerische Welt zu erzählen.
 

„Hm, ach das ist heute? Ich habe ja nicht mal eine Karte, ich glaube ich gehe nicht hin.“ Mir war das Ganze einfach ein wenig zu heikel. Wir tranken dabei vielleicht etwas, und wenn ich den kritischen Punkt übersehen würde, konnte ich unter Umständen etwas Dummes anstellen.
 

„Haben wir alles schon. Ich hole dich um sieben bei dir ab. Keine Widerrede.“ Joeys Stimme hatte einen befehlenden Ton angenommen, dem ich lieber nicht widersprach. Seufzend ergab ich mich meinem Schicksal – wenn er unbedingt meinte.
 

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch prüfte ich den Sitz der Fliege. Insgesamt gefiel ich mir in meiner Abendgarderobe außerordentlich gut. Das Sakko lag eng an, war aber nicht unbequem. Ich fühlte mich sportlich, trotz der schicken Kleidung; wie James Bond eben. Das Klingeln an meiner Tür ließ mich von meinem letzten Feinschliff Abstand nehmen. Händeringend öffnete ich Joey, welcher mir entgegengrinste. Er selbst war mit einem feinen, schwarzen Seidenhemd, einer silbernen Krawatte, schwarzen Jeans und Sneakers ausgestattet. In der rechten Hand trug er lässig eine Parka.
 

„Wow, wie siehst du denn aus? Da hat Tea wohl eindeutig untertrieben. Ich komme mir fast schon ein wenig schäbig vor.“
 

Ich rollte mit den Augen und boxte Joey gegen die Schulter, nur um dann in meine Schuhe zu schlüpfen und abzusperren. Den Schlüssel verwahrte ich sorgsam in der Hosentasche und nickte meinem Freund zu. „Steht dir, Joey. Eine Nummer kleiner noch, und du würdest das Hemd beim Bücken zerreißen.“ Ich wusste nicht warum, aber mir war durchaus ein wenig nach Blödeln zumute. Mal abgesehen davon: Joey sollte keines Falls etwas von meiner Unsicherheit bezüglich meiner Gefühle bemerken.
 

„Mh, ich bin wohl seit letztem Jahr noch ein wenig gewachsen, oder so. Tea meinte, es würde mir exzellent stehen. So kämen meine Muckis zur Geltung.“ Joey grinste breit und schlüpfte im Gehen in den Parka. Erst jetzt fiel mir auf, wie kalt es eigentlich draußen war. „Wird dir nicht zu kalt, nur in Sakko und Hemd?“ Ich konnte die Sorge in der Stimme meines Freundes hören. Hastig schüttelte ich den Kopf.
 

„Wenn mir zu kalt ist, erfrierst du. Ich bin schon bei null Grad mit kurzer Hose unterwegs gewesen, mach dir mal keinen Kopf. Wie läuft denn das heute ab?“
 

Joey schob die Hände in die Taschen des Parka und hob seine Schultern an: „Wie ein Ball eben so abläuft. Wir quatschen, tanzen, und so weiter.“
 

Ich nickte leicht und schob meine Hände in die Hosentaschen. Die Zeit bis zur Schule vertrieben wir uns mit einem Gespräch über Duel Monsters. Als Joey erwähnte, dass sein Flammenschwertkämpfer und Yugis Schwarzer Magier immer ein gutes Team gewesen waren, spürte ich einen kleinen Stich in der Brust. War es vielleicht doch nur eine Zeichnung gewesen, um unser gutes Zusammenarbeiten auszudrücken?
 

In der Schule selbst herrschte reges Treiben. Die große Turnhalle war wie ausgetauscht. Eine riesige Mini-Bar mit nichtalkoholischen Getränken, ie Tanzfläche war gut besucht, das Licht gedimmt, und ein DJ legte stimmungsvolle Musik auf. Joey gab seinen Parka an der Garderobe ab, und dann mischten wir uns gemeinsam unter die Menge, unsere Freunde suchend. Nach kurzer Zeit entdeckten wir Tristan, Yugi, Duke und Tea.
 

„Wo habt ihr Bakura gelassen?“ brüllte ich Yugi ins Ohr. Dieser signalisierte mir, mit ihm ein wenig ins Abseits zu gehen. Joey und Tristan waren inzwischen losgezogen, um uns Getränke zu besorgen. Tea hatte Duke genötigt, mit ihr zu tanzen.

„Hier ist es ruhiger. So: Bakura ist krank geworden. Er hat etwas Schlechtes gegessen. Ich soll dich aber lieb von ihm grüßen.“ Yugi lächelte schief. Der Kleine wirkte in seinem dunkelblauen Anzug irgendwie total fremd.
 

„Schade, besuchen wir ihn die Tage mal?“
 

Mein Punkerfreund nickte leicht, bevor er sich räusperte: „Tea hat mir gesprochen, wegen Joey und dir.“ Joey und mir? Ich zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe? Mir gingen einige Kommentare zu Tea durch den Kopf, und keines davon war besonders nett. Hatte sie es Yugi wirklich auf die Nase binden müssen?
 

„Tu nicht so überrascht. Tea ist meine beste Freundin. Jedenfalls, wir wären dir alle ein wenig dankbar, wenn du etwas nachbohren könntest.“ Yugi rieb sich verlegen den Nacken und senkte den Blick ein wenig. Wie bitte? Ich sollte nachbohren? Wozu? Vor allem: Warum hatten sie das nicht längst gemacht?
 

„Yugi? Findest du nicht, dass ich für sowas die falsche Person bin? Du und Tristan, ihr zwei seid seine besten Freunde, nicht ich. Ihr kennt ihn länger, und gerade du bist sicher einfühlsamer als ich. Wie stellt ihr euch das überhaupt vor? Er blockt bei mir auch ab.“
 

Mein Gesprächspartner setzte gerade dazu an, etwas sagen zu wollen, als er innehielt und den Mund wieder schloss. Neben uns war Tristan erschienen, drei Gläser mit sich führend, in denen eine orangene Flüssigkeit schwappte. O-Saft, meiner Vermutung nach.
 

„Sprichst du gerade mit David, Yugi, über unser Thema?“ Tristan hielt mir und Yugi jeweils ein Glas hin, welches wir beide dankend annahmen. Ich entschied mich, sie erst einmal aussprechen zu lassen. Vor allem war ich neugierig, wieso gerade ich mich um ein offensichtliches Geheimnis von Joey kümmern sollte.
 

„Mh, ich bin grade dabei.“ Yugi nippte an seinem Glas. „Vielleicht erklärst du es ihm besser?“
 

Tristan fuhr mit seinem Daumen über den Rand des Glases bevor er mich ansah: „ Joey ist eine exzellenter Schauspieler, wie dir vielleicht bereits aufgefallen ist. Hinter der fröhlichen, freundlichen Fassade hat er etwas vergraben, was langsam an die Oberfläche kommt. Wir vermuten, dass es mit seinem Vater zu tun hat.“
 

Ich schrägte ein wenig den Kopf. Fragend pendelte mein Blick zwischen Yugi und Tristan hin und her. Dass sein Vater ein Alki war, wussten ja alle, und dass er nicht immer so fröhlich sein konnte, das leuchtete mir auch ein. Was war nun los?
 

„Leute, warum lasst ihr die Katze nicht aus dem Sack? Wir sind Freunde, oder? Hört auf herumzudrucksen, das kann ich gar nicht ab.“ Ich nippte an meinem Orangensaft und verschränkte die Arme vor der Brust.
 

Yugi atmete tief durch: „Wir glauben, dass Joey unter Umständen von seinem Vater misshandelt wird, oder zumindest wurde. Hast du dich nie gefragt, warum er nicht über sein Zuhause sprechen möchte? Warum er keine Freundin hatte? Wer hat dich am Öftesten und am Längsten im Krankenhaus besucht?“
 

Die Geschichte mutete ein wenig abstrus an, in meinen Augen. Ihre Vermutungen wirkten sehr haltlos, und ich persönlich glaubte nicht daran, dass Joey misshandelt wurde. Mir waren weder Hämatome noch Verhaltensstörungen bei ihm aufgefallen. Klar, er war zwar ein Chaot, aber insgesamt kam er immer in die Schule, man konnte sich auf ihn verlassen, er machte seine Hausaufgaben und betrieb regelmäßig Sport.
 

„Leute, mal im Ernst: Joey wirkt nicht gerade wie jemand, der misshandelt wird. Er hat zwar eine sehr chaotische Art, aber, ansonsten… Er scheint aktiv Sport zu treiben, die Hausaufgaben sind auch meist einigermaßen gemacht und er kommt regelmäßig in die Schule. Nach unserer Session hat er mit mir im Zimmer geschlafen, da sind mir weder Wundmale noch sonst etwas aufgefallen. Mal abgesehen davon – ihr zwei hattet auch noch nie eine Freundin, genauso wenig wie ich. Dass er niemanden nach Hause einlädt ist mir auch klar; wenn euer Dad ein Alki wäre, würdet ihr uns auch nicht mit Pauken und Trompeten begrüßen, oder?“
 

Meine Gesprächspartner seufzten leise. Tristan zog sein Smartphone aus seinem hellblauen Sakko und entsperrte es. Sein Daumen wischte über das Display, bis er in der Galerie beim gewünschten Objekt angekommen war. Wortlos hielt er mir das Handy hin. Ich stellte den O-Saft auf den kleinen Tisch neben uns und ging die Liste durch. Dabei verschlug es mir den Atem.
 

„Woher habt ihr das?“ Ich sah vom Display zu Tristan und Yugi auf, welche mich mit besorgtem Blick beobachteten. „Das ist gar nicht möglich, mir hätte das auffallen müssen.“ Eilig ging ich die Galerie noch einmal durch und blinzelte mehrmals: Tatsächlich, die Bilder waren noch immer da, und ich träumte wohl auch nicht.
 

„Tea hat einmal in seinen Block gespickt, wie du, das hat sie dir bereits erzählt. Die hinteren Seiten sind komplett tabu, und du bist auch nicht so weit gekommen. Sie hat es abfotografiert und dann mir und Yugi gezeigt. Daraufhin haben wir mit Joey gemeinsam sprechen wollen. Er ist vollkommen ausgerastet. So schlimm hatten wir uns noch nie gestritten. Am nächsten Tag kam er völlig zerknirscht in die Schule und wollte uns beruhigen, er sei einfach beim Joggen unschön gestolpert.“
 

Ich biss mir auf die Lippen. Das war wohl eine mehr als nur fadenscheinige Lüge gewesen. Ich begutachtete die Bilder genauer. Sie zeigten Oberarme, Schulterblätter, Brust und Beinbereich von jemandem, über und über mit Schürfwunden und blauen Flecken übersäht. Der ganze Körper glich einem einzigen Schlachtfeld. Joey musste die Bilder ausgedruckt und in seinen Block geklebt haben. Jedes Bild war fein säuberlich nachgemalt worden. Jene Zeichnungen, welche sich nicht mit den Verletzungen befassten, zeigten Joey, wie er, die Arme um die Knie geschlungen, auf einem Bett hockte. Sein Gesicht, wie er weinte. Ein weiteres zeigte ihn und seine Schwester, wie sie jeweils die Hand zueinander ausstreckten. Beide waren noch Kinder, und wurden jeweils von einer Hand am Arm weggezogen. Ich gab Tristan sein Handy zurück.
 

„Mokuba hat mich vor vierzehn Tagen angerufen. Hast du Joeys Bettseite begutachtet?“ Ich schüttelte den Kopf. Warum auch? Was ging mich Joeys Bettseite an?
 

„Sie war total verschmiert. Joey überdeckt seine blauen Flecken irgendwie, sei es mit irgendwelchen Kosmetika oder sonst was. Ins Bad bist du zuerst reingegangen, oder?“ Diesmal nickte ich. Dann fiel der Groschen – Joey hatte wirklich deutlich länger gebraucht als ich.

„Joey hatte doch gar kein Zeug mit. Tristan ich meine, das wäre ja der blanke Wahnsinn.“
 

Der braunhaarige Riese schob sein Smartphone in die Innentasche seines Sakkos „Ihr habt in einem Anwesen genächtigt, in dem wahrscheinlich sogar eine eigene Person für das Nachfüllen der Klorollen zuständig ist. Die Zimmer sind in einem perfekten Zustand. Im Badezimmer haben sich sicher irgendwelche Schminksachen befunden, falls Kaiba einmal weibliche Gäste unterhalten sollte.“
 

Das klang alles noch immer zu phantastisch, um wahr zu sein. „Sein sonstiges Auftreten? Seine Kleidung ist immer einigermaßen sauber. Er trainiert laut eigener Aussage regelmäßig, was man auch erkennen kann? Er lässt die Schule nicht schleifen.“
 

Yugi nippte an seinem Glas: „Das ist uns auch ein Rätsel, wenn wir ehrlich sind. Dass er gerne trainiert hängt damit zusammen, dass er den Besitzer des Fitnessstudios kennt, und so gratis rein darf. Dann ist er eine Weile von zu Hause weg. Seine Noten sind auch am unteren Durchschnitt, wenn du ehrlich bist, und das liegt nicht dran, dass er übermäßig dumm wäre.“
 

Mal angenommen, sie hatten Recht, warum hatte noch keiner von ihnen etwas unternommen? Ich kannte Joey nicht mal ganz zwei Monate, mit der Clique hatte er viel mehr erlebt als mit mir. Seine besten Freunde präsentierten mir gerade, dass er an massiven Problemen zu nagen hatte – ich raffte es nicht, um ehrlich zu sein.
 

„Gehen wir mal davon aus, dass ihr Recht habt. Was soll ich daran ändern? Joey wird sich mir nicht öffnen, wenn er es bei euch schon nicht getan hat. Wenn er es zugibt, dann passiert was? Er ist noch nicht volljährig, er kann nicht alleine leben, hat keinen Job – es würde nichts ändern.“

Yugi und Tristan exten ihren Saft gleichzeitig. Ein eingespieltes Team waren sie, das musste man ihnen lassen.
 

„Wenn er ihn anzeigt, könnte man unter Umständen erwirken, dass die Volljährigkeit bereits vorher angenommen wird. Er scheint ja wirklich alles selbstständig zu deichseln, mit der Schule, mit dem Haushalt, und so weiter. Daran wird es wohl nicht scheitern.“ Yugi trippelte nervös auf der Stelle herum. „Außerdem – Joey mag dich, er mag dich wirklich sehr. Er hängt furchtbar an dir, das wissen wir. Du hast ihn bisher noch zu nichts gedrängt, wie wir. Dir vertraut er. Glaub uns.“
 

Da war doch noch eindeutig mehr. Ich wollte gerade einhaken, als unser Gesprächsthema neben mir auftauchte. Grinsend legte er mir eine Hand auf die Schulter. „Na, Leute? Wie lange wollt ihr unseren James Bond Junior noch in Beschlag nehmen? Zeit, dass wir tanzen gehen!“
 

Yugi und Tristan lachten, bevor wir gemeinsam auf die Tanzfläche marschierten. Im Vorbeigehen, als Joey abgelenkt mit mir plapperte, warfen mir beide einen ernsten, fast schon flehenden Blick zu. Unwillkürlich nickte ich. Ich hing auch an Joey, und an der Gruppe; außerdem konnte ich so ihre Vermutungen vielleicht entkräften.
 

Den restlichen Abend verbrachten wir mit tanzen und feierten ausgelassen. Ich tat zumindest so – das Gespräch mit Yugi und Tristan geisterte mir noch immer durch den Kopf. Ich war beunruhigt. Was, wenn an ihren Vermutungen wirklich etwas dran war?

Eine Offenbarung

Wir standen draußen – es war bereits dunkel geworden. Joey hatte seinen Parka geholt und war bereits in diesen hineingeschlüpft. Ein kurzes Gespräch über den Ball (Kaiba hatte sich nicht blicken lassen, warum auch?), und einige trockene Kommentare seitens Joey bezüglich des weiblichen Inventars später, machten wir uns auf den Nachhauseweg. Ich und Joey mussten in dieselbe Richtung, während der Rest einen anderen Weg einschlug. Wie sollte ich also Joey das mit seinem Vater herauskitzeln, wenn es denn stimmte?
 

„Wie hat dir der Ball so gefallen?“ Mein Freund hatte die Hände wieder in die Parkataschen geschoben und stapfte neben mir her. Sein Blick wirkte glasig, fast schon ein wenig abwesend. Hatte er Angst, wieder in seine Wohnung, zu seinem Vater zu müssen?
 

„Ganz gut. Ich habe mit Tea ein wenig getanzt, und Tristan den ein oder anderen Tipp gegeben, bezüglich der Mädels. Dir?“ Gedanklich war ich immer noch bei dem Gespräch mit meinen Freunden.

„Auch. Es war dieses Jahr aber weniger los als sonst. Jetzt geht es dann ab in die Federn und morgen einmal ausschlafen.“ Joey klang gerade beim letzten Satz nicht sonderlich überzeugt. Mir kam eine Idee.
 

Die nächsten Minuten, bis wir bei meiner Wohnung ankamen, unterhielten wir uns über den Englischaufsatz, welcher am Montag abzugeben war. Joey bat mich, seinem Text wieder den nötigen Feinschliff zu geben. Insgesamt meinte er, habe er sich deutlich verbessert, seitdem er korrekte Versionen zu lesen bekam. An der Tür angekommen, zog ich die Schlüssel aus meiner Tasche und sperrte auf.
 

„Sag mal Joey, möchtest du heute nicht bei mir übernachten? Es ist schon spät, und außerdem kalt, und so wie es aussieht, hält das Wetter nicht mehr lange. Bei deinem Glück kommst du entweder in den Regen, oder es schneit.“ Ich wusste, dass ich hoch pokerte. Wenn er aber heute hier blieb, würde ich meine Fühler ganz behutsam ausstrecken können.
 

„Mh, ne, ich habe ja nicht mal Sachen hier zum Pennen.“ Joey rieb sich den Nacken und zog dabei den Kragen seines Parkas enger um den Mund.
 

„Ich habe ein paar Shirts in Übergrößen zum Schlafen, da passt dir sicher eines. Außerdem, eine Jogginghose in deiner Größe werde ich wohl auch noch auftreiben können. Komm, gib dir einen Ruck. Wenn du bleibst, könnten wir uns gleich morgen an deinen Aufsatz machen, oder?“ Ich konnte erkennen, wie es in Joeys Hinterkopf ratterte. Er überlegte ernsthaft, mein Angebot anzunehmen. Mit sanfter Gewalt zog ich ihn am Arm in meine Wohnung und schloss hinter uns ab.
 

„Du bleibst hier, basta. Sieh es als kleines Dankeschön für die Scherereien an, die du in letzter Zeit mit mir hattest.“ Die Züge meines blonden Freundes waren schwer zu deuten. Würde er bleiben? Mit angehaltenem Atem wartete ich auf seine Antwort.
 

„Mh, hast Recht. Danke, David.“
 

Erleichtert grinste ich. Das war einfacher als gedacht gewesen. „Ich suche dir inzwischen ein paar Klamotten raus, ja? Wo das Badezimmer ist weißt du – im Gefrierfach müssten noch Fertigpizzen sein, falls du Hunger hast. Fühl dich wie zuhause.“
 

Damit klopfte ich Joey auf die Schulter und verschwand in meinem Zimmer. Ich konnte hören, wie er den Reisverschluss seines Parkas öffnete, der Kühlschrank aufgemacht wurde, und der Fernseher die Titelmelodie eines Animes abspielte. Inzwischen trieb ich in meinem Kleiderschrank ein schwarzes T-Shirt und eine dünne Trainingshose auf, welche ich nach draußen brachte. Joey lümmelte auf der Couch und fummelte gerade an seinem Krawattenknopf herum.
 

„Meine Fresse, diese verdammten Krawatten – welcher Idiot hat die überhaupt erfunden?“ Trotz Zerrens und Reißens konnte er sich nicht befreien. Ich schmunzelte leicht und legte Joeys Sachen auf das Sofa, nur um mich dann vor ihm hinzuhocken.
 

„Nicht so grob, sonst franst du sie nur aus. Lass mich mal.“ Wieder berührten sich unsere Hände, als ich seine Griffel beiseite drückte. Ich konnte erneut dieses Prickeln spüren, welches meine Finger beherrschte. Joey beobachtete mein Tun mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, der nach Lösen des Knotens in ein breites Lächeln umschlug.
 

„Wie hast du das so schnell hinbekommen?“ Der Blonde zog sich die Krawatte vom Hals und drapierte sie neben seinen Schlafsachen.
 

„Alles Übung. Ich ziehe mich nur eben schnell um, ja? Leg deine Sachen auf die Couch, und ich würde dir raten, das Bad vor mir zu okkupieren, denn sonst wirst du lange warten.“
 

Mit einem Grinsen auf den Lippen schnappte Joey sich seine Kleidung und verschwand ins Badezimmer.
 

„In der linken Schublade müssten noch Packungen mit frischen Bürstenköpfen sein. Nimm dir einen und mache den farbigen Ring drauf, dann wissen wir, welcher deiner ist.“
 

Mein Freund klopfte kurz gegen die Tür, zum Zeichen dass er verstanden hatte. Ich besorgte mir inzwischen bequemere Kleidung, in Form eines weißen T-Shirts und kurzen, schwarzen Trainingshosen. Meine Sachen hing ich ordentlich in den Kleiderschrank und ging dann nach draußen. Joey musste kurz aus dem Badezimmer gehuscht sein, seine Sachen lagen nämlich unordentlich auf der Couch. Schmunzelnd faltete ich das Hemd, die Hose und packte seine Krawatte obendrauf. Seine schwarzen Socken stopfte ich ineinander und vervollständigte das Kleiderpaket, indem ich alles auf dem Parka drapierte. Das Prasseln von Wasser ließ mich aufhorchen. Duschte er wirklich? Das war aber gewagt, wenn meine Freunde wirklich Recht hatten: Ich hatte nichts da, um seine vermeintlichen Flecken zu kaschieren.
 

Ich ging zu meiner Küchenzeile und begutachtete das Paket eingehend, welches ich heute noch nicht geöffnet hatte. Die Absender waren meine Großeltern. In dem Pappkarton, der ordentlich verschnürt worden war, befand sich, nebst einem Foto der Beiden mit Grüßen, eine dünne Glasflasche mit geradem Hals. Die klare Flüssigkeit ließ mich lächeln. Das Etikett mit der Aufschrift „Heidelbeere, 2008“ bestätigte meine Vermutung. Die beiden hatten mir tatsächlich Heidelbeerschnaps, oder Schwarzbeerschnaps, wie wir ihn zuhause nannten, geschickt. Mein Großvater hatte einmal einen zu seinem 80ten Geburtstag bekommen. Der Geschmack war exzellent. Außerdem handelte es sich bei Heidelbeerschnaps um den teuersten, mir bekannten, heimischen Alkohol. Die Flasche musste ein kleines Vermögen gekostet haben.“
 

„Was hast du da?“ Joey stand neben mir, und trocknete sich mit einem Handtuch die nassen Haare ab. T-Shirt und Hose passten ihm einigermaßen. Neugierig begutachtete er die Flasche.

„Mh, ein Geschenk von meinen Großeltern. Ist heute mit der Post gekommen. Schnaps aus der Heimat.“ Ich räumte den Karton weg, während mein Freund die Glasflasche fasziniert betrachtete.

„Du trinkst?“ Joey fuhr mit dem Daumen über das Etikett, dann fiel sein Blick auf das Foto. „Sind das deine Großeltern?“
 

Ich nickte und stellte mich neben den Blonden: „Ja, das sind meine Großeltern, und ja, ab und an. Wenn der Schnaps alt ist, und nicht wie Müll gebrannt wurde, dann brennt er normalerweise nicht. Auch im Tee schmeckt er hervorragend.“
 

Ungläubig starrte mich Joey an. “Wie, im Tee?“
 

Mir ging ein Licht auf. In Japan waren die Vorschriften bezüglich des Erwerbs von Alkohol strenger als in Österreich. Joey hatte wahrscheinlich mal an einem Bier genippt, mehr aber auch nicht. Darum war er so fasziniert – Schnaps war etwas Hochprozentiges.
 

„Klar, Schnapstee. Ich trinke den manchmal, wenn ich krank bin, eine Grippe ausgefasst habe, oder so.“
 

Mein Freund starrte auf den Korken der Flasche. Ich konnte die Neugierde in seinen Augen förmlich aufblitzen sehen.
 

Lachend schüttelte ich den Kopf: „Mach auf, wenn du probieren möchtest.“
 

Joey wirkte unschlüssig. Sollte er, oder sollte er nicht? Ich nahm ihm die Entscheidung ab – mit einer Hand griff ich nach der Flasche und besorgte mit der Anderen zwei Gläser aus dem Schrank. Vorsichtig entkorkte ich die Flasche und schnupperte daran. Der Geruch war unverkennbar – Alkohol gemischt mit der fruchtigen Note von Schwarzbeeren. Ich füllte in die beiden Gläser jeweils eine kleine Menge ein und verkorkte den Glasbehälter wieder sorgsam. Grinsend hielt ich Joey sein Glas entgegen.
 

„Keine Sorge, es ist nur ganz wenig – probiere mal.“ Argwöhnisch schaute der Blonde in sein Glas und schwenkte es ein wenig. Schnuppernd sog er den Duft des Schnapses ein. Ich schmunzelte und exte mein Getränk. Er brannte nicht, hatte eine fruchtige Note und doch schmeckte man den Alkohol heraus. Ein Hochgenuss.
 

Joey tat es mir gleich und keuchte dann, nur um sich auf die Brust zu schlagen. Ich lachte lautstark. Für ihn war es sicher trotz allem noch immer unangenehm, obwohl die Menge so klein war. Mein erster Schnaps, Marille, hatte mich auch zu einem Hustenanfall bewogen.
 

„Gratuliere, Mr. Wheeler. Damit sind Sie ein vollwertiger Mann.“ Joey ließ sich von mir auf den Rücken klopfen. Er keuchte noch immer, schien sich aber zu beruhigen.
 

„A-Alter, das Zeug trinkst du? Du hast ja nicht mal gezuckt. Woah. Wie kann man sich sowas nur in den Tee mischen?“
 

„Im Tee wird er verdünnt, und du machst normalerweise ganz wenig rein, aus dem einfachen Grund, dass er warm schneller einfährt. Du wirst rasch betrunken, wenn du nicht aufpasst.“
 

Joey leckte sich über die Lippen und klopfte sich erneut auf die Brust: „Kannst du sowas denn machen, David?“
 

Ich zog die Augenbrauen in die Höhe. „Natürlich? Es ist ganz einfach. Warum?“
 

Mein Freund kratze sich am Kinn: „Machst du uns welchen? Ich meine, ich würde gerne probieren und…“ Er biss sich auf die Lippen. Warum druckste er so herum?
 

„Du weißt schon, dass du das sicher nicht verträgst? Ich will nicht, dass es heißt, ich hätte dich zum Saufen animiert, Joey. Ein Kater ist nichts Wünschenswertes.“ Ich hatte nach meinem ersten Schnaps dankend auf eine weitere Dosis verzichtet.
 

„Mh, wenn du einen trinkst, dann trinke ich auch einen. Außerdem habe ich das dann den anderen voraus. Auswärtige Spirituosen.“ Joey grinste schief und bedachte mich dann mit einem Dackelblick.
 

„Na gut, ich mache uns welchen. Aber beschwere dich nachher nicht bei mir, und wehe du kotzt mir die Bude voll“ seufzte ich und gab mich geschlagen. Ich hielt es zwar für keine gute Idee, aber ich hatte ihn gewarnt. Mein Freund strahlte förmlich und begab sich dann wieder zur Couch. Indessen kippte ich Chips in eine Glasschüssel und machte mich an den Tee. Gut fünfzehn Minuten später war er fertig und hatte Trinktemperatur. Der von Joey war äußerst dünn und hatte, wenn überhaupt, nur den Ansatz des Schnapsgeschmackes. Meiner war schon ein wenig kräftiger, aber immer noch weit von einem ordentlichen Schnapstee entfernt. Die Flasche ließ ich auf der Theke stehen und brachte Joey sein Getränk.
 

„Vorsicht, ist immer noch heiß, und nicht zu schnell trinken.“ Der Blonde schnupperte und nippte dann an der Tasse. Ein leises Schmatzen ließ erkennen, dass er mit der Mischung wohl deutlich zufriedener war, als mit dem puren Alkohol.
 

„Das ist gut. Es schmeckt ein bisschen nach Heidelbeere und ein bisschen nach Alkohol, aber größtenteils nach Tee.“ Ich nickte schmunzelnd, schnappte mir ein paar Chips und trank ebenfalls.

Wir guckten gemeinsam noch einen Film und in der Werbepause entschuldigte ich mich kurz – die Toilette rief. Als ich zurückkam wirkte Joey schon ein wenig beschwipst, hatte aber seinen Tee schon ausgetrunken. Der würde heute gut schlafen.
 

„Zeit fürs Bett, Großer, hm?“ Ich lugte in meine Tasse und kippte den letzten Rest weg. Verwirrt leckte ich über meine Lippen. So stark hatte ich ihn gar nicht in Erinnerung. Schulterzuckend stellte ich die Tasse ab. Wahrscheinlich vertrug ich auch nicht mehr so viel wie früher.
 

„Mr. Wheeler? Ab in die Heia!“ Ich stupste Joey an, welcher angestrengt blinzelte.
 

„Klar, ab ins Bett.“ Müde rieb er sich die Augen und stand auf.
 

„Ich gehe noch eben ins Bad – geh ins Schlafzimmer, ich komme gleich.“ Gesagt getan. Beim Zähneputzen hatte ich selbst Mühe, die Augen offen zu halten. Was war los? Das war ungewöhnlich. Ich fühlte mich fast betrunken. Dabei hatte ich meinen aber auch relativ dünn angemacht. Egal, es war Zeit fürs Bett.
 

In meinem Schlafzimmer bot sich ein interessanter Anblick. Die Matratze für Joey glänze mit gähnender Leere, während mein eigenes Doppelbett bereits besetzt war. Der Blonde hatte sich auf der linken Seite breit gemacht, die Augen halb geschlossen. Der Anblick war unwiderstehlich.
 

„Na, hast du die Betten verwechselt?“ Ich schmunzelte amüsiert.
 

„Mh, gib Ruhe.“ Joey klang verschlafen.
 

Ich merkte selbst, wie mir die Müdigkeit in die Knochen fuhr. Ich legte mich ins Bett neben Joey und machte das Licht aus. Wir hatten schließlich schon einmal nebeneinander genächtigt.
 

„David?“

Ich hmte nur auf Joeys Frage. Eigentlich war ich hundemüde und mir mittlerweile sicher, morgen selbst einen Kater auszufassen.
 

„Bist du müde?“
 

Was war das für eine dumme Frage? Ich hmte erneut, mit einem zustimmenden Unterton.
 

„Sehr müde?“
 

Ich kam mir vor wie in einer Kindergruppe, wo man dauernd gefragt wurde, wann man denn endlich da sei. „Schon, ja. Ich glaube, ich habe ein wenig zu viel erwischt. Keine Angst, ich bin morgen für Englisch noch brauchbar.“ Langsam aber sicher fiel mir auch das Sprechen schwer. Verdammt, was war los? So viel hatte ich wirklich nicht in meinen Tee gemischt.
 

„ Bist du schon mal verliebt gewesen?“
 

Ich seufzte leise. Er war wohl an dem Punkt angelangt, an dem man entweder sentimental oder stocksauer wurde. Joey hatte sich anscheinend für Ersteres entschieden.
 

„Mh, war ich. Zweimal bisher. Mit Schmetterlingen im Bauch, klopfendem Herzen, dem Zeug eben.“ Eigentlich waren es drei Male gewesen, und wahrscheinlich war er auch dabei, aber das zuzugeben war doch sehr gewagt. Außerdem war ich mir selbst noch immer nicht ganz sicher; oder wollte es nicht wahr haben.
 

„Wie hast du es ihnen gezeigt?“
 

Nun war ich doch ein wenig verwundert. Warum zum Teufel stellte man um zwei Uhr morgens solche Fragen? Ich hatte eher damit gerechnet, dass er mich nach meinem ersten Mal fragen würde, oder wie man Bräute klar machte.
 

„Beiden habe ich ein Gedicht geschenkt, der Zweiten außerdem einen Blumenstrauß, und eine Halskette.“
 

„Bereust du es?“
 

Ich schüttelte leicht den Kopf: „Nein, obwohl es beide Male nichts geworden ist. Ich bereue es nur, immer ein wenig gekniffen zu haben, zu spät dagewesen zu sein.“
 

„Wie würdest du es heute machen?“
 

In mir keimte eine leise Vermutung auf. „Bist du denn verliebt, Joey?“
 

Das Licht der Nachttischlampe blendete mich und ich seufzte innerlich. Den Schlaf konnte ich für die nächsten Stunden knicken. Der betretene Blick meines Freundes sprach Bände.
 

„Wer ist die Glückliche? Kenne ich sie?“
 

Mein Freund nickte leicht und zog die Beine an den Körper. Seine Arme schlang er um die Knie und bettete sein Kinn darauf. „Mh, sehr gut sogar, glaube ich.“ Der sonst so selbstsichere Joey wirkte auf einmal ganz klein und schüchtern. Ich setzte mich ein wenig auf und rieb mir die Augen.
 

„Okay, ist es Tea? Oder die heiße Austauschschülerin aus Lyon?“
 

Joey schüttelte auf meine Frage hin nur den Kopf. Irgendwie wirkte er bedrückt.
 

„Hm, eine unserer Lehrerinnen?“
 

„Nein, niemand davon. Ich, soll ich dir die Person zeigen?“
 

Meine Güte, der konnte herumdrucksen. Mir war selbst ein kleiner Stein im Magen gewachsen – andererseits war ich froh, damit konnte ich Joey gedanklich aus meiner vermeintlichen Gefühlswelt streichen. Wenn er eine Freundin hatte, würde ich dieses seltsame Gefühl schon irgendwie loswerden. „Klar.“
 

„Gut, dann schließe die Augen.“
 

Kompliziert war kein Ausdruck. Seufzend tat ich wie mir geheißen. Man konnte auch neben mir ein Bild auf seinem Handy heraussuchen.
 

Mit einem Mal liebkoste etwas ganz zärtlich meinen Mund. Meine Lippen wurden mit dem Geschmack von Alkohol, Chips und Minze benetzt. An meinen Wangen konnte ich Hände spüren, nein Finger, welche mich dort streichelten. War ich eingeschlafen? Hastig öffnete ich die Augen und konnte Joey erkennen, wie er mich küsste. Das Gefühl seiner weichen, zarten Lippen auf den meinen, wie sich unsere Nasenspitzen streiften – ich hatte den Eindruck, mein Herz müsse stehenbleiben. Ich konnte seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren, was mir eine Gänsehaut verschaffte. Ganz langsam löste Joey sich von mir und senkte beschämt seinen Blick.
 

„Ich glaube ich, ich hole meine Sachen und…“ Ich griff mit meiner Hand nach seinem Arm und zog ihn zu mir. Unsere Lippen berührten sich erneut. Einen Moment lang versteifte sich Joey und starrte mich mit großen Augen an, nur um dann in meinen Armen zu erschlaffen. Meine rechte Hand vergrub sich in seinen Haaren, während die linke seinen Nacken kraulte. Ich sog seinen Duft ein, während ich mich ein wenig aufrichtete. Behutsam zog ich ihn auf mich und konnte spüren, wie er seine Arme um meinen Rücken schlang. Mein ganzer Körper zitterte. So intensiv hatte ich mir den Kuss mit Joey nicht vorgestellt. Meine Lippen brannten wie Feuer, verlangten nach mehr, genauso wie mein Geist. Ganz vorsichtig löste ich mich von Joey und sah ihn ernst an. Im nächsten Moment bedauerte ich diese Entscheidung bereits. Es war eine süße Qual, seine Lippen nicht mehr spüren zu dürfen, und doch, das Verlangen, sie wieder zu spüren, ließ mein Herz hüpfen und meinen Puls rasen. Joeys Blick zeigte erneut Beschämung. Hatte ich etwas falsch gemacht? Die Zeichen falsch gedeutet? Konnte man so etwas überhaupt falsch deuten?
 

„Was ist?“ fragte ich vorsichtig.
 

Joey löste sich gänzlich von mir und hockte sich in den Schneidersitz, meinem Blick ausweichend. „Es, ich, es hätte nicht so sein sollen. Du bist betrunken.“
 

Bei der letzten Aussage hob ich irritiert meine Augenbrauen: „Du auch?“
 

Der Blonde schüttelte nur den Kopf: „Nein, bin ich nicht. Ich habe den Tee zwischendrin weggeschüttet, und dir ein wenig mehr beigemischt, als du auf dem Klo gewesen bist.“
 

Er hatte was? Warum? Genau das fragte ich ihn auch. Mein Freund begann an seinen Fingern herumzunästeln: „Ich hatte die Hoffnung, dass du so betrunken bist, dass du ein Blackout hast, oder so. Dann hätte ich dich risikolos fragen können, was du von meinen Gefühlen hältst.“
 

Ich seufzte leise und griff nach Joeys Hand, nur um meine Finger mit seinen zu verweben. Zärtlich strich ich mit dem Daumen über seinen Handrücken. „Depp. Du erklärst mir etwas von Vertrauen, und selbst hast du Schiss? Warum?“
 

Der Blonde sah mich nur entgeistert an. Ich konnte fühlen, wie die Adern an seiner Hand hervortraten: „Hast du mitbekommen was ich gemacht habe? Dich abgefüllt, geküsst?“
 

Ich lachte leise. „Ja, habe ich? Joey? Ist dir auch bewusst, dass ich dich das zweite Mal geküsst habe?“
 

Verwirrt blinzelte Joey nur um dann erleichtert zu seufzen: „Du bist mir also nicht böse?“
 

Ein Kopfschütteln meinerseits ließ ihn sich sichtlich entspannen.
 

„Nein, bin ich nicht. Der Zeitpunkt ist nur ein wenig ungünstig, weil ich noch geradeso die Augen offenhalten kann. Du hättest weniger Alk in meinen Tee mischen sollen. Ein Vorschlag zur Güte – wir schlafen jetzt, und besprechen das Ganze morgen, wenn ich einen einigermaßen klaren Kopf habe, ja?“
 

Ich konnte meinen Freund aufatmen hören. Eilig huschte er unter die Decke und zog mich an sich, was ich mit einem wohligen Laut quittierte. Fürs Erste genoss ich den Moment und schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

Aussprache

Ich wurde erst am späten Vormittag wach. Schlaftrunken griff ich neben mich. Die Bettseite war leer. Wo war Joey? War er abgehauen? War alles nur ein Traum gewesen? Eilig stand ich auf und atmete erleichtert durch, als ich das Klirren von Geschirr in der Küche hören konnte. Leise stöhnend ließ ich mich wieder ins Bett sinken. Mir brummte der Schädel. Das hatte ich meinem Freund zu verdanken. Ich presste die Augen zusammen und massierte mir die Schläfen. In meiner Nachttischschublade befand sich ein Fläschchen mit Pfefferminzöl, welches ich mir an die Stirn schmierte. Davon sollten die Kopfschmerzen verschwinden. Brummend machte ich mich in Richtung Wohnzimmer auf, aus dem es herrlich duftete.
 

Joey stand in der Küche und briet, dem Geruch nach zu urteilen, gerade Spiegeleier mit Speck an. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich hatte einen mittelschweren Kater ausgefasst – fettiges Essen war jetzt genau das, worauf ich Lust hatte. Neben der Mahlzeit war es vor allem der Blonde, welcher meine Aufmerksamkeit verdiente. Er trug noch immer das gleiche T-Shirt und die Trainingshose von gestern. Beim Kochen wirkte er äußerst vertieft. Müde und gähnend nahm ich auf einem der Stühle rund um meinen Esstisch Platz, und stützte meinen linken Fuß an der Sitzkante eines weiteren Sessels ab. Das musste Joey auf den Plan gerufen haben, denn dieser drehte sich um.
 

„Guten Morgen, Schlafmütze!“ Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen drehte er die Speckstreifen in der Pfanne herum. Meine Miene war leicht säuerlich.
 

„Hättest du weniger reingemischt, würde ich nicht mit Kopfschmerzen hier sitzen.“ Es war in der Tat ein wenig unnötig gewesen, aber ich konnte ihm nicht böse sein. Warum auch? Er hatte eindeutig Schiss gehabt, und er war mutig genug gewesen, es zumindest zu versuchen.
 

„Mh, hättest du besser aufgepasst, wäre das auch nicht passiert. Ich musste sichergehen, dass du wirklich total ausfällst. Dafür siehst du noch gut aus. Außerdem mache ich es wieder gut. Versprochen.“ Joey schob mir einen Teller bestehend aus mehreren Speckstreifen, drei Spiegeleiern und geröstetem Brot unter die Nase. Dazu bekam ich noch einen Kuss auf die Wange spendiert.
 

Letzterer entschädigte mich ordentlich. Das Gefühl seiner weichen Lippen auf meiner Haut – mir pochte der Schädel noch ein wenig mehr, aber das war es wert gewesen.

Joey setzte sich auf den Stuhl neben mich und beobachtete mit einem Schmunzeln, wie ich das Frühstück in mich hineinschaufelte. Nach dem Sport, oder wenn ich blau war, konnte mein Appetit ungeahnte Dimensionen annehmen. Sogar O-Saft zauberte Joey aus dem Nichts herbei. Gierig verschlang ich das Essen und spülte es mit ordentlich Saft hinunter.
 

„Nun, deinem Essverhalten nach zu urteilen, hat es dir geschmeckt?“ Das Lächeln meines Freundes war mehr als nur breit. Ihm schien die Tatsache, dass ich wie ein Schwein gefressen hatte, durchaus zu gefallen, oder zumindest zu imponieren.
 

„Mh, ein Lob an den Koch. War wirklich gut. Wo hast du das Zeug überhaupt her? Ich hatte sicher keinen Speck zu Hause.“
 

Joey lachte leise: „Man kann auch einkaufen gehen.“
 

Ich exte das nächste Glas Orangensaft und verkniff mir ein Aufstoßen, nur um dann zu meinem Gesprächspartner zu schauen: „Erhelle mich jetzt aber einmal, ja? Warum hast du nicht früher was gesagt? Vor allem: Wann hast du denn angefangen, dich in mich zu verknallen?“ Bewusst nutzte ich nicht das L-Wort. Wenn Joey wirklich schüchtern war, wollte ich nicht zu schnell an die Sache herangehen.
 

„Mh, ganz ehrlich? Ich weiß es nicht, David. Du warst uns, mir, von Anfang an sympathisch. Wie du mir in Englisch geholfen hast, du mehr oder weniger furchtlos in die Höhle des Löwen zu Kaiba gegangen bist. Keine Ahnung.“ Bei der ganzen Ansprache hatte Joey den Kopf gesenkt.
 

„Ich weiß es eigentlich sehr genau. Als sich unsere Hände damals, als du mich vom Synchronstudio abgeholt hast, in der Chipsschüssel berührt hatten, da spürte ich so ein angenehmes Prickeln in den Fingern. Es war nur ganz flüchtig, aber intensiv. Wie du dich um mich gekümmert hast, sowohl in der Virtuellen Realität als auch draußen; etwas in meinem Kopf scheint dabei Klick gemacht zu haben. Es ist anders als früher. Ich fühle mich, denke ich, sowohl körperlich als auch geistig zu dir hingezogen.“
 

Joey errötete dezent bei meinen Worten. Er nästelte an seinen Fingern herum und vermied weiterhin jeden Blickkontakt mit mir, während er sprach: „Ist es dir nicht peinlich? Ich meine, du scheinst ja auch auf Mädchen zu stehen.“
 

Innerlich musste ich schmunzeln. Er sprach genau das aus, was ich mich insgeheim auch fragte. Es war mir nicht peinlich, auch nicht unangenehm, es war nur ein wenig anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Joey war ein liebenswerter Junge, der sich durch große Hilfsbereitschaft und Loyalität seinen Freunden gegenüber auszeichnete. Wenn er als Freund in einem beziehungstechnischen Sinne nur halb so agierte, dann konnte ich mich glücklich schätzen.
 

„Ich bin ehrlich zu dir: Ich hatte mir nicht unbedingt vorgestellt, hier jemanden für eine feste Bindung kennenzulernen, noch weniger, dass es ein Junge sein würde. Du bist der Erste, bei dem ich so fühle. Ich glaube nicht, dass es falsch sein kann, jemanden zu lieben, wenn es sich so anfühlt. Erinnerst du dich an die Nacht, in der du bei mir geschlafen hast? Nach meinem Zusammenbruch?“
 

Joey nickte vage, die Maserungen des Tisches mit den Fingern nachfahrend. Ich fand sein Verhalten süß. Einerseits wollte er etwas sagen, schien sich andererseits aber auch nicht zu trauen. Meine Erziehung war vom Grundsatz „Ehrlich währt am längsten“ gekennzeichnet. Dementsprechend verhielt ich mich auch – einigermaßen zumindest.

„Da wollte ich dich das erste Mal küssen. Wie du neben mir gelegen bist, oberkörperfrei, das hat mich beinahe um den Verstand gebracht. Du hast ein wenig im Schlaf gesabbert. Ich hätte dir stundenlang zusehen können beim Dösen.“
 

Das Gesicht meines Freundes hellte sich auf. Er war zwar noch mehr errötet, aber schien allmählich zu begreifen, dass ich genauso empfand wie er. Die Farbe im Gesicht stand ihm eigentlich ganz gut.

„Wir kennen uns aber noch nicht mal richtig zwei Monate. Vielleicht irrst du ja über mich? Eine rein körperliche Beziehung möchte ich nicht führen.“
 

„Joey… Das Gleiche könnte ich umgekehrt auch behaupten, oder? Vielleicht bin ich beziehungstechnisch eine brutale Niete? Was, wenn ich einen devoten Partner brauche, oder schnell eifersüchtig bin? Hast du dir darüber schon einmal Gedanken gemacht? Vielleicht streite ich gerne, oder bin untreu?“ Ich konnte beobachten, wie sich Joeys Blick wieder senkte.
 

„Das glaube ich nicht. So hast du dich bisher nicht präsentiert. Selbst wenn, ich würde es hinnehmen, glaube ich, denn ich liebe dich.“ Mit jedem Wort war seine Stimme leiser geworden, bis sie nur mehr ein Flüstern war.
 

Ich musste unwillkürlich lächeln. Er hatte es tatsächlich gesagt: Er liebte mich. Ich war mir mittlerweile sicher, dass ich ihn genauso liebte. Meine Zweifel bezüglich der Reaktion meines Umfeldes schob ich fürs Erste beiseite. Sanft griff ich nach Joeys Hand und zog ihn auf meinen Schoß. Ich legte meine Arme um den Bauch meines Freundes und bettete mein Kinn auf seiner Schulter. Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich beobachten, wie er noch ein wenig mehr errötete.
 

„Joey, niemand ist es wert, dass man alles hinnimmt. Ich habe einmal geglaubt, das perfekte Mädchen gefunden zu haben. Sie war hübsch, hatte eine süße Stimme, war ein wenig naiv, wirkte aber liebevoll und zärtlich. Außerdem war sie die Schwester meiner besten Freundin – ich war mir sicher, die Freundin der Freundinnen gefunden zu haben.“
 

Joey schmiegte sich an mich. Seine Finger streichelten über meine Handrücken während er die Augen schloss. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass er sich voll konzentrierte, dennoch, er schein zuzuhören. So fuhr ich also fort.
 

„Dem war aber nicht so. Sie wollte mich nicht. Am Anfang schob ich es auf mein Aussehen, also begann ich zu trainieren. Dann schob ich es auf meine Art, also verbog ich mich. Das ging so weit, dass ich beinahe krank geworden bin. Kummer und Schmerz haben mich innerlich fast zerrissen. Für meine Liebe habe ich einen hohen Preis bezahlt. Zu meiner besten Freundin ist der Kontakt abgebrochen. Mein ehemaliger Freundeskreis hat sich von mir distanziert. Ohne die Leute an meiner Schule und meine Großeltern wäre ich wahrscheinlich durchgedreht. Es gab Tage, da habe ich gefleht, nicht mehr aufwachen zu müssen. Lange Rede, kurzer Sinn – versprich mir, dass, wenn du dir sicher bist, und wir es versuchen, du dich nicht verbiegst, okay? Ich liebe nämlich den Joey Wheeler, der gerade auf meinem Schoß sitzt, mit allen möglichen Ecken und Kanten.“
 

Damit beugte ich mich ein wenig nach oben und gab Joey einen Kuss auf die Wange. Meine Lippen wanderten nach oben zu seinem Ohr. Die Gänsehaut, welche er dabei bekam, zeugte davon, dass es ihm gefallen musste. Leise hauchte ich ihm zu: „Hast du zugehört? Ich liebe dich, Joey, mit Haut und Haar.“
 

Joey seufzte erleichtert, oder war es erregt? Jedenfalls entspannte er sich in meinen Armen zusehends. Er atmete eindeutig ruhiger. Mir brannten dennoch einige Fragen auf der Zunge, von denen ich zumindest eine stellen musste.
 

„Joey?“ Vorsichtig fuhr ich fort, als er leise brummte. „Wissen die anderen von deiner...Neigung?“ Mit einem Mal schlug mein Freund die Augen auf. Ich hatte wohl zu schnell gefragt, oder zu dämlich. Sein Blick wirkte fast ein wenig panisch. Eilig schüttelte er den Kopf.
 

„Nein, wissen sie nicht, und sollen sie auch nicht. Niemand soll davon erfahren.“
 

Das erstaunte mich ein wenig. Die Reaktion war heftig, in meinen Augen. Ich wollte den schönen Moment aber auch nicht zerstören. So nickte ich nur und strich Joey beruhigend über den Nacken und durch seine Haare.
 

„Okay, dann behalten wir unser Gespräch fürs Erste für uns, oder? Offiziell sind wir gute Freunde. Inoffiziell sehen wir, wie es sich entwickelt, einverstanden?“
 

Die Erleichterung stand meinem Freund ins Gesicht geschrieben. Wortlos nickte er und beruhigte sich wieder. Dass er so schreckhaft war, das erschien mir komplett abwegig. Es wollte gar nicht so richtig zu Joey passen. Die Gedanken verscheuchend, griff ich ihm umständlich unter die Kniekehlen und Achseln, und hob ihn vorsichtig hoch.
 

„He, was wird das?“ Joey klammerte sich lachend an mich, während wir die Couch ansteuerten.
 

„Gönn meinem verkaterten Körper ein wenig Pause und Ruhe, ja? So gern ich dich auch in meiner Nähe habe, mit der Zeit wirst du verdammt schwer.“ Damit lud ich einen amüsierten Joey auf dem Sofa ab, und setzte mich neben ihn. Ich blinzelte mehrmals angestrengt.
 

„Bist du müde?“ Seine Stimme klang schuldbewusst.
 

„Ein wenig, aber es geht schon. Guck ein wenig in den Fernseher, während ich ein kurzes Nickerchen mache. Wir müssen noch deinen Englischaufsatz ausarbeiten, oder?“ Ich gähnte ausgiebig und kratzte mich an der Wange. Neben uns lag eine Decke, welche ich mir überwarf. Joey beobachtete mich dabei und machte einen betretenen Eindruck.
 

„Du musst dir keine Vorwürfe machen, alles okay. Ich bin schon mit weit schlimmeren Katern aufgewacht, keine Angst. Ein bisschen Schlaf noch, und dann bin ich wieder fit!“ Meine Worte erzielten nicht die gewünschte Wirkung. Der Blondhaarige schüttelte nur leicht den Kopf.
 

„Das, das ist es nicht…ich.“ Er zögerte, den Satz zu vollenden.
 

„Hm? Was dann?“
 

Ein Blick auf seine Hände, welche unruhig auf seinen Knien herumtrippelten, ließen mich verstehen. Lächelnd legte ich meinen Kopf in seinen Schoß und drehte das Gesicht zum Fernseher hin, in meine Decke eingemummelt. Joey lächelte, eindeutig.
 

Während er durch das Programm zappte, streichelte er mir vorsichtig durch die Haare und über meinen Nacken. Ich schmiegte mich ein wenig mehr an Joey und genoss die Berührungen. Der Kopfschmerz ebbte langsam ab und ich dämmerte weg. So einen lohnenswerten Kater hatte ich noch nie gehabt.

Aufsatz

Verschlafen rieb ich mir die Augen. Der Fernseher lief immer noch. War Joey auch eingenickt? Ein Blick nach oben zeigte mir Gegenteiliges. Mein Freund war in seinen Block vertieft, einen Bleistift in der Hand. Er zeichnete wohl wieder. Beim Anblick des Blockes wurde mir flau im Magen. Joey wusste noch gar nichts von meiner kleinen Spionageaktion.

„Mh, ich hatte eigentlich gehofft, mit einem Kuss geweckt zu werden.“ Gespielt schmollend schob ich meine Unterlippe nach vorne und sah zu meinem vermeintlichen Kopfkissen. Dieses lächelte schief und erfüllte mir meinen Wunsch sogleich. Unsere Lippen berührten sich, ganz flüchtig nur, aber es war genug, um mich vollends wach zu bekommen.
 

„Na, wieder einigermaßen fit?“ Joey widmete sich gleich wieder seiner Arbeit.
 

„Mehr oder weniger. Mir brummt noch immer der Schädel – was machst du da?“ Gespielt neugierig setzte ich mich auf und streifte dabei die Decke ab. Ich gähnte ausgiebig. Joey hielt mir dabei den Block unter die Nase. Die Zeichnung zeigte mich und Mokuba, wie letzterer es sich auf meinem Schoß bequem gemacht hatte. Der junge Teenie strahlte förmlich. Meine Arme waren um seine Brust gelegt und ich lächelte entspannt.
 

„Wie bist du denn auf die Szene gekommen? Außerdem – woher kannst du so gut zeichnen? Was du im Kunstunterricht fabrizierst, das ist weit von dem da entfernt.“ Ich setzte mich neben Joey und schmiegte mich an seine Schulter, das Kunstwerk eingehend begutachtend. Es war wieder perfekt, in meinen Augen zumindest.
 

„Mh, der Kunstunterricht ist auch scheiße. Wir zeichnen dauernd solchen Rotz wie Blumen oder Obst, oder sonstigen Mist. Das hier ist was Anderes. Da mäkelt die Lehrerin nicht dauernd rum. Mokuba hat mir mal erzählt, er hätte von sowas geträumt. Er scheint dich wirklich sehr zu mögen.“
 

Ich schmunzelte amüsiert. Dass Mokuba an mir hing, war mir auch schon aufgefallen, dass er aber auch von mir träumte – interessant.
 

„Du weißt schon, dass das in meinen Augen preisverdächtig ist? Ich habe zwei linke Hände, was Kunst angeht. Zeichnen liegt mir überhaupt nicht. Ich hoffe, Mokuba hat das Kaiba nicht erzählt, sonst habe ich ein handfestes Problem.“
 

Joey legte grinsend seine Zeichenutensilien beiseite und drückte mich mit sanfter Gewalt wieder in seinen Schoß. Dort angekommen, strich er mir über die Stirn und die Haarspitzen. Ich seufzte leise und genoss die Streicheleinheit.
 

„Mh, keine Angst, zwischen Kaiba und Mokuba drängt sich niemand. Die zwei halten immer zusammen, egal was kommt. Du bist nur ein wenig lockerer drauf als Seto. Außerdem hast du mehr Zeit.“
 

„Du auch, oder? Ich meine, von dir scheint er mehr als nur angetan zu sein. Joey hier, Joey da.“ Ganz beiläufig versuchte ich nach dem Zeichenblock zu greifen, wurde dabei aber aufgehalten. Joey schlug mir auf die Finger und schüttelte den Kopf.
 

„Zum Schauen braucht man keine Finger.“ Er grinste noch immer, was aber sehr aufgesetzt wirkte.
 

„Ist ja gut – hast du die Mona Lisa abgepaust, oder was versteckst du da drinnen?“ Joey wurde schlagartig ernst und klappte den Block zu. Eilig zwängte er Papier und Stift in die Sofaritze neben sich, außerhalb meiner Reichweite.
 

„Nichts, was für deine Augen bestimmt wäre – zumindest jetzt noch nicht. Eine Überraschung.“
 

Ich zog die Brauen in die Höhe: „Eine Überraschung? Du weißt, dass du mich damit nur noch neugieriger gemacht hast?“
 

„Weiß ich, darum habe ich es auch so aufgezogen.“ Joey grinste wieder breit und ehrlich, nur um mich dann auf die Stirn zu küssen.
 

Als er sich wieder lösen wollte, schlang ich meine Arme um seinen Hals und zog ihn wieder zu mir hinab. Dieses Mal küsste ich ihn, inniger, leidenschaftlicher als die letzten zaghaften Versuche. Ich knabberte an seiner Unterlippe. Sekunden später öffnete er seinen Mund und verwob unsere Zungen in einem feurigen Tanz. Immer intensiver und heftiger wurde der Kuss. Meine rechte Hand wanderte nach oben, zu Joeys Haaren, und krallte sich in diesen fest. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren, unregelmäßig und warm. Seine Nasenflügel blähten sich auf, genau wie die meinen. Keiner von uns wollte sich lösen; den Moment voll auskosten. Schlussendlich gab ich nach trennte unsere Lippen voneinander.
 

„Wie kommt es eigentlich, dass du so gut küssen kannst? Ich bin nicht dein erster Freund, oder?“ Ich schrägte den Kopf ein wenig und musterte Joey, welcher sich langsam aufrichtete. Sein betretener Blick war Antwort genug. „Und? Wer war der Glückliche?“
 

„Willst du gar nicht wissen.“
 

„Wollen ja, dürfen anscheinend nein. Joey, es ist okay, wenn ich nicht dein erster Freund bin. Egal wer es ist, es stört mich nicht, ganz sicher nicht.“ Ich legte bei meinen Worten die Hand an seine Wange. „Wenn du es erzählen möchtest, wirst du es mir schon sagen, okay? Ich möchte dich zu nichts drängen.“ Seine Stimme, sein Auftreten – von einem Moment auf den anderen wirkte er wieder verletzlich. Mir bereite dieser ständige Wechsel ein wenig Sorgen.
 

Joey nickte schwach und strich dann mit seinen Lippen über meine Fingerspitzen. Jede einzelne wurde mit einem weichen, zarten Kuss bedeckt. Fühlte er sich schuldig? Das Gefühl genießend, so verwöhnt zu werden, wartete ich ab, bis mein Freund mit seinen Liebkosungen fertig war.
 

„Joey? Mal abgesehen davon, dass wir noch deinen Englischaufsatz bearbeiten müssen – möchtest du vielleicht heute noch hierbleiben?“ Ich stellte die Frage bewusst vorsichtig und ließ etwaige Andeutungen auf sein Zuhause aus. Einerseits mochte ich seine Nähe, jetzt mehr noch als ohnehin schon, andererseits wollte ich ihm eine Art Rückzugsort schaffen, wenn die Vermutungen unserer Freunde wirklich stimmen sollten.
 

„Irgendwann muss ich aber auch mal nach Hause, David. Sonst schöpft jemand Verdacht. Außerdem, ich habe nichts zum Anziehen hier, außer deinen zwei geborgten Sachen.“ Ich rollte mit den Augen.
 

„Erde an Joey – ich bin auch ein Kerl? Ich treibe schon noch etwas Kleidung auf. Außerdem kannst du es als Lernbesuch abtun? Wir machen deinen Aufsatz, ziehen uns später noch einen Film rein und gehen dann ins Bett? Dabei denkt sich niemand etwas – alle wissen, dass wir gute Freunde sind. Deinen Vater kannst du ja anrufen und ihm sagen, dass er sich keine Sorgen machen muss.“ Ich hielt die Luft an. Wie würde er jetzt reagieren?
 

Sein Blick verhärtete sich, nur für einen kurzen Moment. Dann schüttelte er lächelnd den Kopf: „Der macht sich schon keine Sorgen. Ist nicht das erste Mal, dass ich länger auswärts bin. Wenn es dich wirklich nicht stört?“
 

Ich boxte Joey lachend gegen die Schulter. „Mh, klar stört es mich – darum biete ich es dir ja an. Außerdem, jetzt wo wir ansatzweise zusammen sind, ist es total unüblich und lästig, wenn du in meiner Nähe bist. Gib´s zu, du hast gehofft, dass ich dich frage, oder?“
 

Ein bestätigendes Nicken und einen flüchtigen Wangenkuss später zog ich mich in die Höhe und streckte mich. „Dann kramst du schon mal einen Zettel hervor, und ich suche dir inzwischen ein paar Sachen für heute.“
 

Gesagt getan stand ich auch schon in meinem Schlafzimmer und durchforstete den Kleiderschrank. Meine Auswahl an Klamotten für Joey war wirklich stark begrenzt – er war größer und breiter als ich. Dennoch, ein weitgeschnittenes, rotes T-Shirt, welches für mich grade noch an der Grenze des Tragbaren war, und eine weite, kurze Trainingshose konnte ich dennoch auftreiben.
 

Zurück im Wohnzimmer saß Joey bereits über einem Blatt Papier gebeugt und seufzte leise. Die Haare an seinem Hinterkopf standen ein wenig ab, so als hätte er sich mehrmals gekratzt. „Na du siehst aber verzweifelt aus – was los? Findest du kein Thema, oder was?“
 

„Was hast du denn geschrieben? Ich mag Aufsätze nicht, schon gar nicht in einer fremden Sprache, und dann noch ohne Themenvorgabe.“ Frustriert warf Joey Stift und Zettel auf den Tisch und ließ sich im Stuhl zurücksinken.
 

„Eine fiktive Geschichte. Es geht um einen jungen Ritter, welcher in die Frau seines Herren verliebt ist. Sie liebt ihn auch, aber nicht so. Beide sind enge Vertraute, und er beschützt sie, wo er nur kann. Schlussendlich bringt sie den ersehnten Erben auf die Welt und bricht ihm damit das Herz, weil es nun kein Zurück mehr gibt. Außerdem ist er anständig erzogen – er hat einen Eid abgelegt. Der Zwiespalt zwischen Moral und Gefühl, Versprechen und Schwäche wird näher beleuchtet.“
 

Joey schrägte den Kopf: „So wie bei König Artus? Lancelot und Artus´ Frau? Wie lange ist das Ding? Kann ich es mal lesen?“
 

Ich nickte lachend: „Klar darfst du ihn lesen. In der Mappe unter der Fernsehzeitschrift, rechts von dir. Zu deiner Frage – ein wenig vielleicht. Lancelot ist eine meiner Lieblingsfiguren, das hast du richtig erkannt. Der Ritter ist auch an ihn angelehnt, aber unterscheidet sich deutlich. Es ist mehr eine Art distanzierte Liebe – er würde sie nie in Gefahr bringen, speziell nicht, den Zorn ihres Mannes auf sie zu lenken.“
 

Der Blonde griff unter die Fernsehzeitung und zog den roten Schnellhefter hervor. Eifrig blätterte er die Mappe durch und begann dann zu lesen. „The tale of Sir Andir“ Ich machte mich inzwischen daran, den Backofen vorzuheizen und zwei Fertigpizzen als Abendessen zu kredenzen.

„Er ist verflucht? Woran leidet er denn?“ Joey drehte sich zu mir herum und setzte sich verkehrt auf den Stuhl. Seine Arme drapierte er dabei auf der Lehne.
 

„Er ist ein Werwolf. Andir kann es nur sehr schwer kontrollieren. Die Bestie kämpft dauernd in seinem Inneren mit ihm.“ Ein Blick auf die digitale Uhr am Ofen zeigte mir, dass wir noch gut zehn Minuten warten mussten.
 

„Er muss sie sehr lieben, wenn er ihr sogar sein eigenes Kind schenken würde. Warum ist er nicht durchgebrannt mit ihr? Sie scheint ihn ja auch zu lieben.“
 

„Weil er einen Eid geschworen hat. Wenn man etwas schwört, oder verspricht, muss man sich auch daran halten. Das ist zumindest mein Grundsatz. Außerdem würde er sie nur unnötig in Gefahr bringen so. Sein Herr ist streng aber gerecht, und er schätzt Andir für seine Fähigkeiten. Es geht ihm eigentlich gut.“
 

Joey schüttelte den Kopf: „Aber er unterdrückt doch dauernd etwas, oder? Ich meine, das mit dem Werwolf, dann noch seine Angebetete in den Armen eines anderen zu sehen…“
 

Ich nickte leicht: „Ja, da magst du Recht haben. Es ist auch schwer, aber er stellt sich selbst zurück, weil er sie abgöttisch liebt. Ihr Kind ist zur Hälfte die Person, für die er bedingungslose Hingabe empfindet – daher muss er den Kleinen auch beschützen. Was sie liebt, liebt auch er.“
 

„Dann müsste er ja auch den Lord lieben, oder?“
 

„Auch da magst du Recht haben. Andir mag ihn auch, aber er ist sich nicht sicher, ob die Heirat richtig war. Das würde er natürlich niemals zugeben, dennoch – ein Teil von ihm hat schon einmal mit dem Gedanken gespielt durchzubrennen, ja.“ Das Piepsen des Backofens signalisierte mir, dass ich unser Abendessen aus dem Rohr holen konnte.
 

„Das ist keine Kurzgeschichte, oder?“ Ich schüttelte auf Joeys Frage hin den Kopf. „Er ist auch nicht Lancelot, er ist du, oder?“ Dieses Mal nickte ich und packte die Pizzen auf zwei große Teller. „Das eine Mädchen, oder?“ Erneut nickte ich. Dass er so schnell kombinieren konnte und so sensibel war erstaunte mich. „War es wirklich so?“
 

„Nein, Joey. Viele Dinge sind natürlich fiktional, der Werwolf, die Dialoge – im richtigen Leben haben wir wenig miteinander gesprochen, ich und sie, am Ende zumindest. Aber der Kern ist wahr, oder war es einmal.“ Bemüht lächelnd stellte ich ihm sein Essen vor die Nase und setzte mich neben ihn. „Schwamm drüber, jetzt habe ich ja dich.“ Damit gab ich ihm einen Schmatzer auf die Wange, was Joey ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
 

„Ich habe eine Idee. Nach dem Essen verziehe ich mich einmal ins Bad und dusche ausgiebig. Währenddessen schreibst du deinen Aufsatz und ich lese drüber, einverstanden?“
 

Joey seufzte leise und schob sich das erste Stück Pizza in den Mund. „Du bist gut, ich weiß nicht mal ein Thema…“
 

„Natürlich weißt du eines. Du könntest doch über ein Team schreiben.“ Lächelnd zerkaute ich ein Stück Salamipizza und beobachtete Joey beim Grübeln.
 

„Team? Fußball oder was?“
 

„Mh, ich dachte eher an den Schwarzen Magier und den Flammenschwertkämpfer, wie sie sich durch ein Labyrinth voller Gefahren kämpfen.“ Mein Vorschlag gefiel Joey wohl– er strahlte über das ganze Gesicht.
 

„Stimmt; genial David! Mache ich gleich nach dem Essen.“ Rasch hatten wir unser Abendmahl verschlungen und ich verkrümelte mich ins Bad. Kurz bevor ich die Tür schloss konnte ich durch den Spalt einen euphorischen Joey beobachten, welcher mir ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. So eifrig hatte ich ihn noch nie gesehen. Der Stift schien geradezu über das Papier zu fliegen und seine Miene war eindeutig verträumt.

Eine Geschichte

Als ich aus der Dusche kam, mit nassen Haaren, konnte ich Joey erkennen, wie dieser den Stift beiseitegelegt hatte. Er begutachtete sein Werk eingehend.
 

„Schon fertig?“ Ich war ein wenig verwundert. In der Zeit hätte nicht einmal ich einen Aufsatz fertiggebracht. Joeys Fähigkeiten in Englisch waren deutlich niedriger als meine – dementsprechend länger hätte es bei ihm dauern müssen.
 

„Nein, ich lese mir gerade noch einmal deine Geschichte durch. Meine Ideen habe ich bereits wieder irgendwo vergraben. Ich kann sie nicht zu Papier bringen. Ist das die Ganze?“ Die rehbraunen Augen meines Freundes ruhten auf mir, erfüllt von Neugier.
 

„Wenn ich ehrlich sein soll: Nein.“ Ich zog mir ein frisches T-Shirt über und schlüpfte in die Trainingshose, welche ich aus dem Bad mitgenommen hatte. „Warum fragst du?“
 

Sein Blick verhieß nichts Gutes und ich seufzte bereits innerlich. Er würde sicherlich nachbohren – wie jeder andere auch. Ihm ging es dabei nicht um die Geschichte hinter Andir, sondern um mich, meine Geschichte. Er würde, wie alle anderen auch, den Kopf schütteln, mich belehren und dann meine Fehler ankreiden.
 

„Wo hast du den Rest?“ Auf diese Frage hin schrägte ich verwundert den Kopf. Ich hatte mit einer ganz anderen Frage gerechnet. So ging ich zu meinem Bücherregal und zog eine blaue Mappe hervor. Diese war mit einigen Stickern versehen – hauptsächlich Figuren aus Computerspielen. Wortlos hielt ich Joey die Mappe hin und setzte mich neben ihn. Dieser öffnete den Ordner auch sogleich und blätterte den Papierstapel grob durch.
 

„Das jetzt zu lesen ist mir zu langwierig. Wie kommt es überhaupt, dass du so viel geschrieben hast? Das müssen mindestens 100 Seiten sein, wenn nicht mehr.“ Ich beantwortete seine Frage mit einem Schulterzucken. Ich hatte ab einem gewissen Grad begonnen, meine Gedanken in einer Geschichte zu verarbeiten. Vieles ist mir dadurch leichter gefallen. Es hat Spaß gemacht und zumindest in dieser fiktionalen Welt, konnte ich selbst entscheiden, was mit meinem Charakter passierte.
 

„Kannst du mir mal einen groben Umriss geben? Also nur über deinen Hauptcharakter?“ Ich nickte und zog die Mappe in die Mitte, so dass wir beide darauf spähen konnten. Langsam blätterte ich zum Deckblatt zurück. „Die Geschichte von Sir Andir Lancley“ prangte in Großbuchstaben auf gelbem Papppapier. Seite 1 war mit einer Zeichnung versehen worden. Eine Bleistiftskizze eines jungen Mannes, Anfang der 20er Jahre. Er trug kurzes Haar, welches links und rechts etwas länger gelassen worden war, sodass ihm einige Strähnen ins Gesicht hingen. Die Farbe war mit dem Bleistift eingeschwärzt worden. Hohe Wangenknochen lugten unter der Haarpracht hervor. Eine gerade Nase fügte sich perfekt ins Bild ein. Die Augen waren halb geschlossen während Andir lächelte.
 

Eine athletische Figur wurde von einer Weste mit Stickereien und Knöpfen im Brustbereich verdeckt. Die Hose war dem Oberteil angepasst. Hohe Schnürstiefel komplettierten das Bild eines jungen Mannes von Stand. Die Hände hatte er in die Hosentasche geschoben.

Stumm blätterte ich auf die nächste Seite um. Diese zeigte einen riesigen, humanoid anmutenden Wolf auf zwei Beinen. Seine Ohren waren angelegt. Die Augen besaßen nur ganz schmale, dünne Pupillen. Der Wolf trug eine pechschwarze Plattenrüstung. An seiner rechten Seite baumelte ein Schwert, während am Rücken ein riesiger, rechteckiger Schild hervorlugte. Das Maul hatte die Bestie ein Stück weit geöffnet. Speichelfäden benetzten ansatzweise die rasiermesserscharfen Zähne im Gebiss des Monsters. Seine Hände waren zu Klauen verformt – die Füße zu Pfoten, welche unter den Ausläufern der Beinschienen ungeschützt hervorlugten.
 

„Bevor du fragst – das hat eine Freundin von mir gemalt. Sie kann gut zeichnen und wollte mir eine Freude machen.“
 

Joey begutachtete die Zeichnungen eingehend, blätterte ab und an nach vorne und wieder zurück, um schlussendlich zu nicken. „Mh, sie hat wirklich Talent. Ist er das? Also Andir?“
 

„Ja, das ist Andir. Er wurde in einem kleinen Walddorf südlich der Hauptstadt des Königs geboren. Seine Eltern sind ein verkrüppelter, pensionierter Offizier der Armee und eine Schankmaid aus der örtlichen Taverne.“ Ich hielt inne, als Joey mich auf seinen Schoß zog. Mein fragender Blick wurde mit einem Kuss in die Halsbeuge quittiert. Seine Hände ruhten auf meinem Bauch. „Erzähl weiter.“
 

„In dem Walddorf hausen Monster. Geister, Untote, Werwölfe, ein Hexenmeister und so weiter. Andir wurde von klein auf gedrillt, in die Armee einzutreten, um seinem Vater nachzufolgen. Dieser war streng und unbarmherzig. Das hat ihn sehr geprägt. Seine Mutter war hingegen liebevoll und zärtlich mit ihrem Sohn. Sie brachte ihm das Lesen bei, gab ihm Gesangsunterricht, ermutigte ihn zum Schreiben – kurzum das Gegenteil seines Vaters.“
 

Joey hörte aufmerksam zu. Sein Blick war sanft und zärtlich. Ich konnte spüren, wie er sein Kinn auf meiner Schulter bettete. „Mh, und wie ist er ein Werwolf geworden?“
 

„Das Dorf hat so eine Art Miliz oder Bürgerwehr. Diese versucht das Dorf einigermaßen zu beschützen. Im Wald wachsen nämlich einige Pflanzen, welche für den Königshof unerlässlich sind. Außerdem gibt es einen Steinbruch in der Nähe – deshalb ist das Ganze auch so verlockend für die Leute. Sonst wären sie sicher längst weggezogen. Jedenfalls hat Andirs Vater ihn in diese Bürgerwehr hineingezwungen. Dort hat er dann einem Kameraden das Leben gerettet und ist dafür von einem Werwolf angefallen worden. Der Dorfalchemist hat ihm dann eine Medizin eingeflößt, die es Andir einigermaßen ermöglicht, sein tierisches Ich zu kontrollieren.“
 

„Dein Vater war demnach streng mit dir, während dich deine Mutter vergöttert hat?“ Joeys Auffassungsgabe war durchaus bemerkenswert, wenn man bedachte, wie er sonst manchmal auf der Leitung stand.
 

„Ja und Nein. Ich kenne meinen wirklichen Vater gar nicht. Dieser hat meine Mutter bereits vor der Geburt verlassen. Mit ungefähr vier Jahren hat meine Mum meinen Stiefvater geheiratet. Der hat sich sehr ambivalent verhalten, als ich noch ein Kind war. Einerseits habe ich viel Liebe erfahren, und wurde oft mit Geschenken überhäuft, dann war er wieder unfassbar grob, fast schon grausam. Meine Mutter war da anders.“ Ich hielt in der Erzählung inne und biss mir auf die Lippen. Sollte ich die Wahrheit wirklich aussprechen?
 

„Inwiefern anders?“ Joey streichelte mir über den Bauch und schmiegte sich an mich. Ich konnte seine Haare an meinem Hals spüren. Er war so nahe, dass ich mein Duschgel, welches er benutzt hatte, riechen konnte.
 

„Meine Mum ist ein Alki, Joey. Einer von der schweren Sorte. Sie stapft manchmal durchaus Haus, zerlegt die Bude, pöbelt alle an, und lügt, dass sich die Balken biegen. Dann ist sie wieder lieb und nett – ich glaube, sie bereut manchmal, was sie so im Suff anstellt, wenn sie wieder klar im Kopf ist.“ Entgegen meiner Erwartungen verkrampfte Joey sich nicht. Auch die Streicheleinheiten hörten nicht auf. Einzig ein sanfter Druck auf meine Bauchgegend signalisierte mir, dass er zugehört hatte.
 

„Ich wollte Andir nicht komplett mir nachbilden. Das hätte mich damals, mit fünfzehn, sechzehn Jahren, auch zu viel Kraft gekostet. Heute kann ich ganz anders darüber sprechen. Ich bin es gewohnt geworden, mit ihr auszukommen.“
 

„Und dein Vater? Was sagt der dazu?“ Joey hob den Kopf und sah mich mit einem neutralen Gesichtsausdruck an.
 

„Wir können alle nichts machen. Ich weiß nicht, wie die Rechtslage hier in Japan ist, aber bei uns zuhause kann man eigentlich nichts unternehmen. Sie möchte sich nicht helfen lassen, und wir wollen sie nicht gänzlich fallen lassen. Gerade meine Oma leidet sehr unter der Situation, weswegen ich versuche, sie abzulenken und zu trösten.“
 

„Mh. Das tut mir leid zu hören. Sowas ist immer schwer, zumal wir alle wissen, wie sehr du an deinen Großeltern hängst. Ich glaube, du bist ihnen eine große Stütze, so wie mir.“ Mit diesen Worten konnte ich seine Lippen in meinem Nacken spüren. Mein ganzer Körper zitterte und ich bekam eine Gänsehaut. Eigentlich war ich immer ein wenig niedergeschlagen, wenn jemand von der Story erfuhr – dieses Mal jedoch erstaunlicherweise nicht.
 

„Halb so schlimm, ich habe mich daran gewöhnt. Außerdem – wie bin ich dir denn eine Stütze?“ Würde er jetzt mit der Sprache rausrücken? Dass sein Vater auch ein Alki war? Einer von der brutalen Sorte? Dass er ihn schlug, sich nicht unter Kontrolle hatte?
 

„Indem du da bist. Es ist anders mit dir, als sich mit Tristan oder Yugi zu unterhalten. Die zwei sind schwer in Ordnung, aber du bist einfach noch nicht so lange dabei. Du kannst etwas objektiver in die Sachen hineinschauen – außerdem liebe ich dich.“ Gerade der letzte Satz ließ mein Herz einen Sprung machen. Wie vier Wörter so schön sein konnten?
 

„Welche Sachen denn, Joey? Ich weiß eigentlich herzlich wenig über dein Umfeld. Du hast eine kleine Schwester, oder?“ Meine Frage wurde mit einem Nicken quittiert.
 

„Ja, Serenity. Sie ist zwei Jahre jünger als wir und einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich würde sie mit meinem Leben beschützen, wenn es notwendig wäre, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie belastet andere nicht gerne und frisst ihren Kummer oft in sich hinein. Mir gegenüber öffnet sie sich aber.“
 

Ich musste lächeln. Joeys Augen hatten ein Glitzern bekommen, eine Mischung aus Sehnsucht und Liebe. „Kann ich gut verstehen. Wenn du nur halb so ein guter Bruder wie Kumpel bist, dann hat sie einen Glücksgriff gemacht.“
 

Joey schob seine Finger in die freien Räume zwischen den Meinen und verwob sie miteinander. „Ich wünschte ich hätte mehr tun können. Im Königreich der Duellanten habe ich für sie gekämpft – um ihr die Augenoperation zu ermöglichen. Der Eingriff war schweineteuer; nur das Preisgeld hat ihr Augenlicht retten können.“
 

Joeys Stimme begann zu bröckeln. Sanft drückte ich seine Hände und lehnte mich zurück, meinen Kopf an seine Brust legend. „Du klingst wehmütig, Joey. Was ist?“
 

„Unsere Eltern haben sich getrennt, als wir noch klein waren. Meine Mutter hat Serenity mitgenommen, während ich bei meinem Vater blieb. Sie lebt jetzt in Amerika und hat dort ihren Lebensmittelpunkt. Wir telefonieren oft, schreiben miteinander, solche Dinge eben. Sowas kann aber nie physischen Kontakt ersetzen.“
 

War es vielleicht das? Sehnsucht nach seiner Schwester? Darum war er manchmal so niedergeschlagen, so abwesend, so komisch? Ich beugte mich nach oben und küsste ihn ganz sanft in seine Halsbeuge hinein. Danach schmiegte ich mich wieder an ihn und schloss die Augen. „Hat die Operation geklappt?“
 

Kurz herrschte Stille. Ich konnte spüren wie Joey sich verkrampfte. „Ja, hat sie. Serenity sieht wieder blendend. Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie mir fehlt. Ich würde sie gerne einmal besuchen, oder umgekehrt.“
 

„Was ist das Problem? Ich meine du bist 17 Jahre, fast volljährig. Du kannst dich in einen Flieger setzen und in die Staaten fliegen? Einen Pass hast du ja wohl, oder?“ Ich öffnete die Augen und konnte erkennen, wie er glasig in Richtung Fernseher starrte.
 

„Meine Mutter will nicht, dass wir uns treffen, genauso wie mein Vater.“ Hastig löste er eine Hand aus unserer Verschränkung, als er bemerkte, wie ich ihn beobachtete. Mit dem Handrücken wischte er über die Augen und murmelte etwas von „im Auge haben“.
 

Sanft löste ich mich aus der Umarmung nur um mich dann verkehrt auf seinen Schoß zu setzen, sodass sich unsere Gesichter beinahe berührten. Beide Hände drapierte ich auf seinen Wagen und schüttelte den Kopf. „Joey, du darfst weinen, Gefühle zeigen, mal schlecht drauf sein. Vor allem mir gegenüber. Ich liebe dich, weil du so bist wie du bist. Du musst deine Regungen nicht unterdrücken.“ Um meine Worte zu unterstreichen küsste ich meinen Freund. Ich spürte, wie Joey sich augenblicklich entspannte. Langsam löste ich mich wieder von ihm, nur um mich an seinen Wangen hochzuküssen, und jene Tränen mit den Lippen aufzufangen, welche sich aus den Augenwinkeln verirrt hatten.
 

„Uns fällt schon etwas ein, versprochen, Joey. Ich bin für dich da, und ich stehe hinter dir, egal was du tust. Du musst vor mir weder Geheimnisse haben, noch irgendwie auf starken Mann machen. Das tut dir nicht gut, und besorgt mich unnötigerweise. Versprichst du mir das?“
 

Eilig nickte Joey und zog einmal geräuschvoll seine Nase nach oben. Dann griff er mir unter die Beine und hob mich in die Höhe.
 

„Ehm, wohin gehen wir, Joey? Nicht, dass ich diese Art der Fortbewegung anprangern möchte.“ Ich konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken, zumal Joey wieder grinste.
 

„Siehst du gleich.“ Damit steuerten wir auch schon mein Schlafzimmer an.

Eine Idee

Ich wurde am späten Vormittag wach. Joey hatte mich ins Bett getragen und wir waren, eng aneinander gekuschelt, eingeschlafen. Sogar jetzt hatte er noch seinen rechten Arm um mich geschlungen. Ich drehte mich vorsichtig um und konnte meinen Freund dabei beobachten, wie er mich anstarrte. Das Lächeln auf seinen Lippen war warm und breit. Unwillkürlich schob ich mich ein wenig nach oben und küsste ihn sanft.
 

„Guten Morgen, Joey – hast du gut geschlafen?“ Ich machte es mir inzwischen an seiner Brust gemütlich und schmiegte mich an den Stoff des T-Shirts, welches er zum Schlafen trug.
 

„Mh, besser als sonst. Das liegt wohl an dir.“
 

„Ich bin normalerweise ein Schwein, wenn es um den Platz geht. Ein Doppelbett reicht für mich alleine schon nicht aus – es wundert mich, dass du nicht hinausgedrängt worden bist. Schläfst du denn sonst schlecht, Joey?“ Ich versuchte bewusst, die letzte Frage sehr beiläufig zu stellen.
 

„Kommt auf die Tagesverfassung an. Ich kann mich außerdem nicht beschweren – du warst brav.“ Damit küsste er mich auf die Stirn und grinste mir entgegen.
 

„Wenn dem wirklich so ist – Joey, könntest du das nächste Mal ein paar Sachen von dir vorbeibringen?“ Meine Frage wurde mit einem schiefen Blick seitens Joey quittiert.
 

„Wie? Warum? Also, Sachen? Du meinst Kleidung?“ Ich nickte bestätigend. In seinem Kopf ratterte es, dessen war ich mir sicher.
 

„Joey, wenn wir jetzt zusammen sind, zumindest inoffiziell, dann heißt das, dass du mich öfter besuchen wirst. Ich habe nicht mehr viele Sachen in deiner Größe. Außerdem hast du hier deine Ruhe. Ich meine, wenn dich mal zuhause was ankotzt oder so. Ich habe mir das früher oft gewünscht – einen Rückzugsort. Keine Angst, ich verwasche nichts.“
 

Einige Momente lang reagierte Joey gar nicht, nur um dann zu nicken, und mich fest an sich zu drücken. „Danke. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“
 

„Muss ich auch nicht – ich liebe dich.“ Damit stahl ich mir einen Kuss und schlängelte mich aus der Umarmung. „Was hältst du davon, wenn du dich schon einmal ins Bad verziehst? Ich mache uns gleich Frühstück und schaue mir dann deinen Aufsatz durch.“
 

Gesagt getan, hatte Joey sich schon ins Badezimmer verkrümelt. Meine Hoffnungen waren erfüllt worden: Er hatte sein Handy liegen lassen. Eilig rutschte ich zu seiner Bettseite hinüber und schnappte mir das Smartphone vom Nachttisch. Ich knipste die Leselampe an und hielt das Display in den Lichtkegel. Der Rest war ein Kinderspiel – Joeys Entsperrungsmuster war deutlich zu erkennen. Einer der Gründe, warum ich mittlerweile nur mehr den Fingerabdruck benutzte. Sekunden später war ich auch schon in seinen Kontakten und suchte eine bestimmte Nummer. Beim Scrollen zog ich mein eigenes Handy hervor und entsperrte es. Ein Blick zur Tür und angestrengtes Lauschen verrieten mir, dass Joey wohl gerade unter der Dusche war.
 

„Na komm schon, wo bist du?“ Zum Glück waren die gängigen Begriffe wie „Schwesterherz“, „Schwesterlein“ und „Schwester“ genauso mit dem Anfangsbuchstaben S versehen wie Serenity. Tatsächlich wurde ich auch fündig – er hatte sie mit „Serenity <3“ eingespeichert, was mich unwillkürlich schmunzeln ließ. Ich speicherte hastig ihren Kontakt ein, schloss Joeys Apps und legte das Smartphone dann wieder an seinen Platz zurück. Danach machte ich mich ans Frühstück.
 

Wir verbrachten noch den Nachmittag miteinander. Joeys Englischaufsatz war in meinen Augen sehr gelungen. Er hatte zwar die üblichen Fehler (vor allem grammatikalischer Natur) aufgewiesen, doch die Nacherzählung der Szene mit den Rätseln war sehr lebhaft. Insgesamt schien er große Freude bei der Arbeit gehabt zu haben. Mein Lob ermutigte ihn noch zusätzlich. Gegen 15:00 packte Joey dann seinen Kram zusammen.
 

„Sicher, dass du schon gehen willst? Du kannst gerne noch länger bleiben.“ Ich beobachtete meinen Freund, wie er in sein Hemd schlüpfte und dieses zuknöpfte.
 

„Noch länger? Na hör mal, es sind schon zwei Tage gewesen, oder?“ Sein Grinsen wirkte ein wenig schief, was ich mit einem Kuss auf die Mundwinkel korrigierte.
 

„Tu nicht so, dir hat es auch gefallen. Mal abgesehen davon, das war dein erster, hochprozentiger Alkohol, den du da konsumiert hast.“ Dieses Mal wurde ich mit einem flüchtigen Kuss belohnt.
 

„Mh, am Lügen muss ich noch arbeiten. Ja, es war wirklich sehr schön. Ich bin froh, dass du ähnlich empfindest, David. Das letzte Mal hatte ich im Königreich der Duellanten bei meinem Duell gegen Yugi so Herzklopfen.“
 

„Nochmal gutgegangen, hm?“ fragte ich lächelnd und schmiegte mich noch ein letztes Mal an meinen Freund, nur um diesem dann die Tür zu öffnen. „Komm gut heim, ja? Schreib mir, wenn du angekommen bist.“
 

„Klar. Bis morgen!“ Damit hob Joey die Hand zum Abschied und weg war er. Ich schloss die Tür hinter ihm und seufzte leise. Er fehlte mir jetzt schon. Ein Blick nach draußen verriet mir, dass das Wetter wahrscheinlich halten würde. Also kramte ich meine Sportsachen heraus, mixte mir einen Isodrink und ging dann laufen. Meine Pulsuhr piepste kurz und verstummte dann. Ich hatte mich eingelaufen. Mit den Kopfhörern im Ohr und der Playlist, welche ich am Smartphone für mein Sportprogramm eingestellt hatte, genoss ich die kühle Luft des Novembers. Der Herbst war meine Lieblingszeit. Gut zwanzig Minuten von meiner Wohnung entfernt befand sich ein großer Park, in dem ich für gewöhnlich meine Runden drehte. Die Bäume hatten sich mittlerweile verfärbt und tauchten die Szenerie in ein farbenfrohes Spektakel, wobei wahrscheinlich nächste Woche bereits alles verwelkt sein würde. Beim Laufen bekam ich immer den Kopf frei. Das war auch dieses Mal so. In der Zeit, in der ich mich sportlich betätigte, war ich ganz ich – ich musste nicht nachdenken, nichts verarbeiten, sondern einfach nur mein Programm durchziehen. Das genoss ich sehr.

Meine Playlist wurde von meinem Handyklingelton unterbrochen. Ein Blick auf das Display zeigte mir Mokuba als Anrufer an. Was wollte denn der, vor allem an einem Sonntag, zum späten Nachmittag hin?
 

„Hey Mokuba! Alles klar bei dir?“
 

„Hi David. Was machst du gerade?“ Diesen Unterton kannte ich von Mokuba. Entweder ihm war langweilig, und er wollte bespaßt werden, oder er brauchte etwas.
 

„Ich bin eigentlich gerade am Laufen im Park. Warum? Ist etwas?“
 

„Ähm, ja, könntest du heute vielleicht noch, also wenn du Zeit hast…“ druckste mein kleiner Freund herum. Ich rollte ein wenig mit den Augen – warum nicht einfach mit der Tür ins Haus fallen?
 

„Raus mit der Sprache, was ist denn?“
 

„Naja, also, ich will das eigentlich nicht am Telefon besprechen. Kannst du in einer Stunde was vorbeikommen? Ich schicke dir auch jemanden, der dich abholt. Und, könntest du vielleicht ein paar Sachen einpacken? Falls es spät wird, damit du bei uns übernachten kannst.“ Ich seufzte leise, nickte dann aber.
 

„Klar, ich beeile mich, okay? Bis später.“ Ich konnte Mokubas erleichtertes Aufatmen hören. Er verabschiedete mich und ich machte mich auf den Rückweg.
 

Gut eine Stunde später stand ich, frisch geduscht, mit Rucksack, vor der Kaibavilla. Meinem Fahrer nickte ich dankend zu und machte mich auf in Richtung Mokubas Zimmer. Den Weg kannte ich mittlerweile. Ich nästelte noch ein wenig an den Bändern meines weißen Hoodies herum und klopfte dann an die Tür. Diese wurde eilig aufgerissen, und ich am Arm hineingezogen.
 

„Hey, nicht so stürmisch. Hast du wen erschossen, oder was ist los?“ fragte ich lachend, während Mokuba die Tür zuknallte. Er musste wirklich etwas Schlimmes ausgefressen haben, wenn er sich so verhielt. Sein Zimmer war gleich wie sonst auch, mit Ausnahme des Schreibtisches, der nicht zugemüllt war mit Heften, Mappen und Büchern. Im Gegenteil: Die Arbeitsfläche wirkte außerordentlich leer.
 

„Ich brauche deine Hilfe“ fing er ohne Umschweife an. Bei diesem Einstieg konnte ich nicht anders als die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen. Meine Hilfe? Wozu?
 

„Du brauchst meine Hilfe, Mokuba? Was hast du denn angestellt, dass dich dein Bruder nicht rausboxen kann?“ Ich stellte meinen Rucksack neben dem Sofa ab, schlüpfte aus den Schuhen und setzte mich auf die Couch, meine Hände zusammengelegt auf den Beinen gebettet.
 

„Seto ist dafür nicht geeignet, und Joey auch nicht. Mir fällt sonst niemand ein, außer dir.“ Gut, damit konnte es sich schon einmal nicht um Duel Monsters handeln. Mokuba pflanzte sich ebenfalls auf das Sofa und nästelte nervös an seiner Halskette in Form einer Duel Monsters Karte herum.
 

„Na, worum geht es denn?“ Ich war zugegebenermaßen neugierig. So kannte ich den kleinen Wirbelwind gar nicht. Normalerweise sprühte Mokuba nur so vor Energie. Heute wirkte er anders, nervös, hibbelig, fast schon ein wenig niedergeschlagen.
 

„Es, also, da gibt es ein Mädchen in meiner Klasse, Sakura. Sie hat nächste Woche Geburtstag, und ich weiß nicht, was ich ihr schenken soll. Ich mag sie, wirklich, also, nicht so wie eine Freundin, nicht nur, sondern…“
 

„Du hast dich verliebt, hm?“ Ich schmunzelte bei meiner Frage, denn Mokuba errötete augenblicklich. Natürlich, da waren Kaiba und Joey, zwei seiner engsten Bezugspersonen, nicht die richtige Wahl. Ersterer war ein Eisklotz, und verspürte, außer für seinen kleinen Bruder, wohl für niemanden Zuneigung, während Joey sich als „jungfräulich“ in Bezug auf Freundinnen präsentiert hatte. Seine Klassenkollegen und Freunde waren auch ein wenig zu jung, und in dem Alter war es einem Teenager eher peinlich, sich über Mädchen mit gleichaltrigen Jungs zu unterhalten. Nach einer kurzen Zeit, in der betretenes Schweigen seitens Mokuba herrschte, goss ich uns etwas Cola in zwei bereitstehende Gläser ein, und hielt meinem kleinen Freund eine hin.
 

„Das ist in dem Alter natürlich schwierig. Du bist nervös, hast Angst, dass du dich zum Affen machst, oder sie dich auslacht. Falls es dich beruhigt – das ändert sich in späteren Jahren auch nicht. Der Sprung ins kalte Wasser ist niemals angenehm.“ Leise lachte ich, ob meiner eigenen Worte, was mir einen giftigen Blick von Mokuba einbrachte. „Ich höre mich schon an wie ein alter Mann.“ Damit stellte ich das Glas beiseite und schob die Finger wieder ineinander. „Wie hast du dir das denn so vorgestellt, Mokuba? Du gehst hin, händigst ihr ein Geschenk aus, und dann?“ Ein ratloses Zucken mit den Schultern seitens des Schwarzhaarigen folgte.
 

„Hm, erzähle mir mal ein bisschen von Sakura, ja? Dann können wir uns gemeinsam ein passendes Geschenk überlegen.“ Ich nippte inzwischen wieder an der Cola, während Mokuba plötzlich seine Stimme wiedergefunden hatte.
 

„Sakura ist so alt wie ich, hat braune Haare, graue Augen, ein Mädchen eben. Sie ist klug, witzig, hübsch, begabt.“ Ich hörte mir schmunzelnd die Lobeshymne auf Mokubas Schwarm an und komplettierte seine Liste mit: „Zusammengefasst also ein zauberhaftes Mädchen.“ Der Kleine glühte förmlich im Gesicht. „Mag sie dich denn auch?“
 

„Naja, also, schon irgendwie.“ Mokuba rieb sich den Nacken, während er fortfuhr: „Sie hat mich auf ihre Geburtstagsfeier nächste Woche eingeladen. Wir übernachten bei ihr, und alle ihre Freundinnen sind auch da. Auch ein paar Junges der Klasse, und deswegen…“ Irgendwie fand ich es fast schon ein wenig niedlich, wie er sich verhielt. Das passte so gar nicht zu ihm.
 

„Schon kapiert, du willst ihr was schenken, und vielleicht ein wenig andeuten, aber nicht zu viel, dass du sie sehr gerne hast. Vor allem willst du vor den Jungs nicht als Weichei dastehen, hm?“ Mokuba nickte heftig auf meine Feststellung hin.
 

„Ich kann mich ungefähr in deine Lage hineinversetzen. Was hältst du davon: Du schreibst mir einmal auf, was Sakura so gerne mag, also nascht, liest, welche Filme sie gerne guckt, und so weiter. Ich bastle dann gemeinsam etwas mit dir, und wir besorgen noch eine Kleinigkeit, die wir schön verpacken.“
 

Mokuba schrägte ungläubig den Kopf: „Basteln? Wozu? Kaufen wir doch einfach irgendwas Teures?“ Warum nur, hatte ich genau mit dieser Aussage gerechnet?
 

„Bei einem Geschenk kommt es auf die Geste, und die Gedanken dahinter an, gerade, wenn man ein Mädchen gerne hat. Sakura freut sich sicher mehr, wenn du selbst Zeit investiert hast, als wenn du ihr nur irgendwelchen teuren Kram hinknallst.“ Das war zwar ein wenig gelogen, in dem Alter hatte man nämlich an kostspieligen Dingen mehr Freude, als in meinem Jahrgang, aber das ließ ich einmal außen vor. Irgendwann würde der Kleine selbst draufkommen.
 

„Gut, dann, machen wir das so, okay?“ seufzte Mokuba resigniert.
 

„Klar. Ich komme morgen nach der Schule noch einmal zu dir, dann kümmern wir uns gleich darum, ja? Jetzt wäre es angebracht, dass ich dich ordentlich vermöble. Zocken wir eine Runde? Hast du schon gegessen?“ Das Gesicht des Schwarzhaarigen hellte sich auf.
 

„Nein, gibt erst in gut einer Stunde was zu Futtern. Außerdem bin ich dir noch eine Revanche vom letzten Mal her schuldig – aber dieses Mal spielen wir was Anderes, ohne virtuelle Realität.“ Zehn Minuten später wurde ich mehrfach von Mokuba in einem sinnlosen Ego-Shooter zerlegt. Beim Spielen war er wieder ganz der Alte. Er beschimpfte mich, bei jedem Kill meinerseits, es wäre gemein, unfair, und überhaupt eine Schweinerei, und freute sich tierisch, wenn er mir den Schädel wegpusten konnte. Später gab es dann Essen (Rumpsteak mit Wedges, Kräuterbutter und frischer Zitronenlimonade) und eine weitere ausgiebige Session, in der ich erneut haushoch verlor, bevor ich mich mit Mokuba in mein Zimmer begab. Dieser löcherte mich bereits zum vierten Mal, welche Infos ich denn unbedingt brauchen würde, um das perfekte Geschenk ausmachen zu können.
 

„Ah Mokuba, was dir so einfällt. Du kennst Sakura besser als ich, und du möchtest ihr eine Freude machen, nicht ich. Setz dich einfach ruhig hin und denke nach. Der Rest ist dann ein Zuckerschlecken.“ Ich ging ins Bad, mit meiner Klette im Schlepptau, und putzte mir die Zähne. Er schnatterte noch gut zwei Minuten, bis er mir eine feste Umarmung schenkte.
 

„Wofür ist die denn? Schlechtes Gewissen, weil du mich so in den Boden gestampft hast, eben?“ Ich spuckte aus, säuberte die Zahnbürste eilig und erwiderte dann die Umarmung. Obwohl Mokuba manchmal äußerst anstrengend war (im Gegensatz zu seinem Bruder aber noch ein Engel), so war mir der Kleine doch sehr ans Herz gewachsen.
 

„Dass du mir hilfst. Seto kann ich da nicht fragen, der hat nur die Arbeit, die Firma und sein nächstes Duell im Kopf. Für Mädchen hat er überhaupt keine Zeit.“ Das war wirklich goldig. „Schon okay, Mokuba, wir sind Freunde, oder? Freunde halten zueinander. Wir stemmen das schon, versprochen.“ Damit packte ich ihn auch schon unter den Kniekehlen und warf den kleinen Schreihals, welcher lautstark protestierte, ins Bett, nur um ihm dann die Decke über den Kopf zu ziehen.
 

„Lass mich raus“ lachte er glockenhell, während ich alle Mühe hatte, meinen kleinen Schützling unter der Decke zu halten. „Das ist die Rache für das Wecken das letzte Mal.“ Wir setzten das Spiel noch eine Weile fort, wobei wir das komplette Bett verwüsteten, bis ich keuchend und lachend, Mokuba auf mir, fast schon in der Matratze lag.
 

„Ich gebe mich geschlagen, du hast gewonnen.“ Grinsend stieg der Kleine von mir herunter, nur um sich dann im Schneidersitz neben mich zu setzen. „David?“ fragte er, mit einem sehr langgezogenen I. Er wollte wieder etwas, eindeutig. „Hm?“ brummte ich schnaubend.
 

„Weißt du, dass ich dich eigentlich sehr gerne habe? Also, wie so einen großen Bruder, fast so wie Seto. Du bist natürlich nicht so wie er, ganz anders, aber doch auch dann wieder wie er.“ Gut, mit Kaiba wollte ich mich nicht vergleichen lassen, andererseits rührte mich seine Aussage sehr.
 

„Ich habe dich auch sehr gerne, Mokuba. Du bist zwar manchmal ein brutaler Quälgeist, aber ansonsten schwer in Ordnung.“ Damit wurde mir wieder ein Kissen auf den Kopf gehauen, und wir lieferten uns eine zweite, heftige Kissenschlacht, bis wir erschöpft in die Matratzen sanken.
 

„Ich glaube, ich kann keinen Zentimeter mehr laufen“ keuchte Klein-Kaiba und hatte die Arme ausgebreitet. Mir erging es ähnlich. „Sind wir schon zwei. Wahnsinn, deine Ausdauer.“
 

„Macht es dir was aus, wenn ich heute bei dir schlafe?“ Er wollte was? Bei mir pennen? Warum? Dann echoten mir seine Worte im Kopf wider: „Bruder, wie Seto, doch nicht. Seto arbeitet, Seto hat die Firma im Kopf…“
 

„Hol deine Sachen, zieh dich um, putz dir die Zähne, und mach dich nachher nicht zu breit, ja?“ Leise jauchzend sprang der Kleine auf und stürzte aus dem Zimmer. Ich sah ihm schmunzelnd nach und zog mich inzwischen um. Mokuba kam zurück, mit einem übergroßen, roten T-Shirt und einer dünnen Jogginghose bekleidet. Meine Wenigkeit trug eine kurze Trainingshose und ein oranges, kurzes Shirt.
 

„Keine Gespräche mehr, ich bin saumüde, und wir müssen außerdem morgen beide in die Schule. Weck mich nicht vor sieben, und sei kein Platzschwein, ja?“ Damit ließ ich mich ins Bett fallen und drehte Mokuba den Rücken zu.
 

„Schon gut“ hörte ich es noch in einem genervten Ton, bevor er mir eine gute Nacht wünschte und das Licht ausmachte. Kurze Zeit später konnte ich spüren, wie jemand seine Arme um meinen Oberarm schlang und sich an diesen klammerte. Schmunzelnd schloss ich die Augen – so musste sich also Joey fühlen, wenn es um Serenity ging.

Ein Geschenk

Entgegen meiner Drohungen hatte Mokuba mich schon um gut sechs Uhr geweckt. Ein genervter Blick auf den digitalen Wecker neben mir verriet zumindest diese Uhrzeit.
 

„Was sollen wir nun also für Sakura machen, David?“ Ich schnaubte verärgert. Warum zum Geier musste man um sechs Uhr morgens so etwas besprechen. Jetzt konnten wir sowieso nichts unternehmen – außerdem stand vorher noch Schule am Plan. Ich rieb mir mit Daumen und Zeigefinger über die Augenlider. „Mokuba, es ist sechs Uhr morgens. Sakura läuft uns schon nicht weg, genauso wenig wie ihr Geschenk.“ Ich gähnte lautstark und blickte nach links. Der schwarze Wirbelwind lag neben mir, und studierte mich eingehend. „Habe ich was im Gesicht, oder was ist los?“
 

„Nein, aber, wie hast du die Muckis hinbekommen?“ Ein Blick nach unten verriet mir, dass ich oberkörperfrei im Bett lag, und mir die Decke nur gut bis zu den Hüften reichte. Ich hatte das T-Shirt in der Nacht ausgezogen; mir war beim Schlafen sowieso immer viel zu heiß. „Training. Beim Sport bekommst du den Kopf frei.“ Mokuba nickte daraufhin verständnisvoll: „Mh, ich weiß. Seto sagt das auch immer.“ Ich schrägte den Kopf ein wenig. Kaiba und Sport?
 

„Welchen Sport betreibt dein Bruder denn?“ Mein Zimmergenosse grinste daraufhin: „Karate, Judo und Schwimmen. Seto ist ein Naturtalent. Er hat schon einige Preise gewonnen.“ Mir lag auf der Zunge, dass man sie ihm wohl eher gegeben hatte, weil er sonst einige Existenzen vernichtet hätte, aber ich beließ es bei einem Nicken. „Ich gehe mal ins Bad, mich frisch machen. Wann gibt es Frühstück? Um halb acht?“ Meine Frage wurde mit einem Nicken beantwortet. Ich schwang mich aus dem Bett, kratzte mich an der Brust, und stapfte dann ins Badezimmer. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich mit einer ausgiebigen Dusche, dem Putzen meiner Zähne, rasieren und Haarstyling. Wieder im Zimmer angekommen, konnte ich Mokuba beobachten, wie er nervös auf seinem Handy herumtippte.
 

„Was los? Ist etwas mit deinem Bruder?“ In der Zwischenzeit schlüpfte ich in meine schwarze Jeans und den weißen Hoodie. Der Teenie schüttelte den Kopf: „Nein, Sakura hat mir geschrieben.“ Es war sechs Uhr fünfundvierzig – welcher halbwegs normale Mensch verschickte um die Uhrzeit Nachrichten? „Und, was schreibt sie?“ Ich beschloss, meinen Rucksack inzwischen einzuräumen.
 

„Ob du auch kommst, ihre große Schwester findet dich heiß. Ich habe ihr ja geschrieben.“ Mir fiel der Rucksack aus den Händen. Bitte was? Ich schüttelte den Kopf und starrte Mokuba entgeistert an: „Du hast was getan?“ Das schelmische Grinsen auf dem Gesicht des Kleinen gefiel mir überhaupt nicht. Wollte der mich verkuppeln, oder was war los? „Mh, Mei geht mit dir in die Klasse. Sie ist ein wenig schüchtern. Darum hat sie Sakura gebeten, dass sie mich fragt, ob ich dich nicht mitnehmen könnte. So ganz unverbindlich.“ Ich schnaubte abfällig. Unverbindlich – aber sonst ging es ihm schon noch gut? „Du hast ja wohl nicht mehr alle Latten am Zaun, Mokuba. Ich habe mit Mei ungefähr fünf Sätze bisher gewechselt, mal abgesehen davon, was erhoffst du dir davon?“
 

Das Grinsen auf Mokubas Zügen wich einer Form der Betretenheit gemischt mit Schuldbewusstsein: „Ich will da nicht alleine sein. Mir ist wohler, wenn du dabei bist, und ein Auge auf mich hast.“ Das war aber noch lange kein Grund, mich zu einem Date zu bewegen, was es zweifelsohne werden würde. Außerdem hatte ich nicht sonderlich Bock darauf, Kinder zu beaufsichtigen, worauf es zweifelsohne hinauslaufen würde. „Warum hast du nicht deinen Bruder mit Mei verabredet?“ fauchte ich genervt, und pfefferte den Rucksack aufs Bett. „Weil sie nicht auf Seto steht. Außerdem hat der sicher keine Zeit, und er ist auch nicht so der gesellige Typ für Partys, außer er muss hin“ war die Antwort Mokubas. Ich hatte gut und gerne Lust zu explodieren.
 

„Aha, und was, wenn meine Freundin sauer wird?“ Erneut dieses breite Grinsen auf den Lippen des kleineren Kaibas. „Ich habe Tristan gefragt, der meinte, du hättest keine. Ah komm schon, gib dir einen Ruck, David, bitte.“ Aus dem Grinsen wurde ein bittender Dackelblick. Tristan würde ich ordentlich den Kopf waschen. Außerdem musste ich Joey die Misere erklären, wenn ich mich wirklich breitschlagen ließ, hinzugehen. „Ah du spinnst doch, Mokuba.“ Er verstärkte seinen Hundeblick noch ein wenig und ich gab mich seufzend geschlagen: „Okay, von mir aus. Sie soll Mei aber noch nichts sagen; ich will nicht Klassenthema Nummer eins heute sein.“
 

Damit schulterte ich den Rucksack und ging nach draußen, ins Esszimmer, wo bereits das Frühstück vorbereitet worden war. Schweigend schmierte ich mir Butter auf meinen gerösteten Vollkorntoast und nippte an meinem Kakao. Mokuba kam gut zehn Minuten später und war auffällig still. Ich brach die unangenehme Stille auch nicht – sollte er nur merken, dass er Mist gebaut hatte. Nach dem Frühstück zogen wir uns fertig an und gingen nach draußen. Eine Limo wartete bereits und brachte mich zur Schule. Auf der Fahrt nästelte Mokuba immer wieder nervös an seiner Jacke herum. Irgendwie tat er mir leid, obwohl ich noch immer extrem sauer war. Kaiba hatte wohl wirklich selten Zeit für solche Probleme, und außerdem war das wohl sein erstes Mal, was das Verliebt sein anging. Ich wäre froh gewesen, wenn mir jemand geholfen hätte, damals. Also seufzte ich innerlich und gab mir einen Ruck.
 

„Mokuba? Ich habe heute um 16:00 Uhr Unterrichtsende. Was hältst du davon, wenn du mich abholst, wir kurz zu meiner Wohnung fahren, ich dort die Schulsachen für morgen hole, und wir dann ein Geschenk für Sakura besorgen?“ Das Gesicht meines kleinen Mitstreiters hellte sich auf. „Wirklich? Bist du nicht mehr sauer?“ So leicht wollte ich es ihm doch nicht machen. „Doch, ich bin noch immer ziemlich angepisst, aber ich habe dir versprochen, dir bei der Sache behilflich zu sein. An meine Versprechen halte ich mich.“ Der Wagen hielt, und ich konnte durch die getönten Scheiben den Schulhof der Domino High erkennen. „Bis später dann, Mokuba.“ Damit öffnete ich die Tür und stieg aus, wurde dann aber an der Hand zurückgehalten.
 

„Hey, David, es, also mir tut es leid, ja? Ich wollte dich nicht drängen oder sowas, aber, ich fände es wirklich cool wenn du dabei wärst. Bitte sei mir nicht mehr böse, ja?“ Ich wusste auch nicht warum, aber der Zorn verrauchte in diesem Moment. Schmunzelnd zerstrubbelte ich die wilde Haarmähne des Kleinen: „Schon okay, vergeben und vergessen. Wir sind schließlich ein Team, oder?“ Ich hielt ihm die Hand zum High-five hin, und wir klatschten uns ab. „Bis später dann, ja?“ Mokuba nickte freudig und zog die Tür zu. Einen Augenblick später fuhr die Limousine auch schon davon. Ich lugte kurz auf mein Handy – ich hatte noch gut fünfzehn Minuten Zeit um mich umzuziehen, und in die Klasse zu gehen.
 

„Zur Abwechslung wieder einmal in einem anständigen Bett geschlafen, was, Kleiner?“ Kaibas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Wo war der denn hergekommen? Er war bereits fix fertig angezogen, und hatte sich lässig seine Aktentasche über den Rücken geworfen. „Muss dir ja wie ein Königreich vorkommen, verglichen mit dem, wo du haust.“ Dieser arrogante, süffisante und herablassende Unterton brachte mich fast zur Weißglut. „Nicht jeder von uns kann mit einem goldenen Löffel im Mund geboren werden“ konterte ich bissig. Setos Lippen kräuselten sich ein wenig: „Nun ja, ich könnte dir nun erklären, dass ich mir diesen Wohlstand hart erarbeitet habe, durch eine Aneinanderreihung von geschickten Schachzügen, aber das würde wohl deinen Intellekt übersteigen.“
 

Wenn er mir im gleichen Ton noch erklärt hätte, ich wäre geistig auf dem Niveau einer Banane, hätte es gepasst. Ich verkniff mir ein Kommentar und setzte mich in Bewegung. Sollte er mir doch den Buckel runterrutschen. „Gut, aber was erwarte ich auch von jemandem, der ein enger Freund von Wheeler ist?“ Kaiba schien großen Spaß daran zu haben, zu sticheln. Er ging jedenfalls locker neben mir her, und mokierte sich grundsätzlich über alles, meine Kleidung, meinen Stil, meine Gangart… Als er bei der Türe angekommen noch immer nicht die Klappe hielt, riss mir der Geduldsfaden
 

„Wenn du doch alles so gut kannst, dann würde ich mir mal Gedanken machen, warum mein kleiner Bruder will, dass ich mit ihm zu seinem ersten Date gehe, und nicht du. Falls du es noch immer nicht gecheckt hast, Kaiba, Mokuba hätte eine ziemliche Freude daran, wenn du mal nicht dauernd in der Firma versauern würdest. Falls du glaubst, ich wäre auf Almosen angewiesen, oder würde gerne in einem ordentlichen Bett nächtigen, welches wahrscheinlich irgendein Stararchitekt aus Kalifornien entworfen hat – nein, da hast du dich geschnitten. Ich muss auch nicht von goldenen Tellern fressen, oder mir zig Briefmarkenanlecker leisten. Ich bin wegen Mokuba bei euch, weil ich den Kleinen mag, und im Gegensatz zu seinem großen Bruder, schere ich mich doch ein wenig um seine Gefühlswelt.“
 

Damit riss ich wütend die Türe auf und stapfte in Richtung meiner Klasse. Zu meinem Erstaunen folgte mir Kaiba nicht. Zurückschauen und so mein Interesse zeigen, ließ mein Stolz nicht zu. Wütend zog ich mich um und betrat, mit einer säuerlichen Miene, die Klasse. Tristan, Joey und Yugi belagerten bereits meinen Platz.
 

„Na wie siehst du denn aus? Schlecht geschlafen?“ Das breite Grinsen von Tristan, kombiniert mit dem Boxen gegen meine Schulter, trug nicht gerade zu einer Stimmungsaufhellung bei. „Mh, Babysitter gewesen. Vielen Dank außerdem für deine großzügige Auskunft gegenüber Mokuba. Ich habe jetzt ein Date mit Mei dieses Wochenende.“ Yugi und Tristan blickten sich gegenseitig an, nur um dann lautstark zu Lachen. Joeys Gesicht war unleserlich, was mir das Herz in die Hose rutschen ließ. „Ehrlich? Hat es geklappt? Mei lässt nämlich normalerweise jeden abblitzen. Sogar Hayato, und der kriegt normalerweise jede rum.“ Sehr dünnes Eis, auf welchem sich Tristan gerade bewegte.
 

„Anscheinend. Das ist nur alibimäßig, um Mokuba aus der Klemme zu helfen. Ich will nichts von ihr.“ Ich vermied den Blick zu Joey, und kramte meine Unterlagen für Englisch heraus. „Hast du keine Augen im Kopf, oder was ist los? Mei ist total hübsch. Ich würde mit einem Grizzly ringen, wenn ich mit ihr ausgehen dürfte.“ Yugi schüttelte daraufhin nur den Kopf: „Mensch, Tristan, wenn David nichts von ihr will, will er nichts von ihr. Außerdem war das eine saublöde Idee.“ Ich seufzte leise und griff nach meinem Handy, Joeys Blick noch immer ausweichend. Hastig tippte ich eine Nachricht.
 

„Es ist nichts, Joey, ganz sicher nicht, ich verspreche es dir. Ich will nur Mokuba ein wenig unter die Arme greifen. Ich trinke was, beobachte den Kleinen, wie er sich mit seiner Flamme anstellt, und verschwinde dann wieder.“ Entgegen meiner Hoffnungen griff er nicht nach dem vibrierenden Handy in seiner Hosentasche. Das Erscheinen unserer Englischlehrerin ließ die Traube um mich herum auf ihre Plätze schwirren. Wo war Kaiba eigentlich abgeblieben? Wahrscheinlich würde er gerade mit Mokuba telefonieren, und ihn ordentlich zusammenfalten. Innerlich schalt ich mich einen Dummkopf – erstens, dass ich Kaiba gegenüber die Beherrschung verloren hatte, und zweitens, dass ich das mit Mei ausgeplaudert hatte. Ein Blick zu dieser hinüber, welche mir ein schüchternes Lächeln schenkte, ließ meine Stimmung auf einen Tiefpunkt sinken. Was hatte ich mir da bloß eingebrockt?
 

Den restlichen Unterrichtstag verbrachte ich mit einem schweigenden Sitznachbarn, der trotz Lesen der Nachricht, kein Wort mit mir wechselte. Als endlich die Glocke schrillte, und wir Schluss hatten, schnappte ich mir Joey und zog ihn aufs Jungsklo. „Meine Güte, Joey, was ist los? Du machst ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.“ Ich wusste, dass diese Feststellung nichts ändern würde.
 

„Was soll schon sein? Nichts ist.“ Er vermied es eindeutig, mir in die Augen zu sehen. Meine Wut auf Mokuba, Tristan und Mei wuchs gerade ins Unermessliche. Am meisten sauer war ich aber auf mich selbst. „Joey, bitte, hör mir kurz zu. Das mit Mei ist nichts, ich verspreche es dir. Es geht nur darum, Mokuba ein wenig unter die Arme zu greifen, nachdem Kaiba ihn so hängen lässt. Wobei das fraglich ist, wie ich mit ihm umgegangen bin, kurz vor der Schule.“ Kaiba war nicht aufgetaucht. Mir schwante Böses. Der letzte Satz riss Joey zumindest aus seiner Lethargie. „Wie, du bist mit Kaiba komisch umgesprungen? Was hast du gesagt?“ Ich zögerte kurz.
 

„Na, dass er sich gefälligst um Mokuba kümmern soll, und ich nicht auf seinen Reichtum angewiesen bin. Ich bin bei ihnen, weil mir Mokuba ans Herz gewachsen ist. Allmählich verstehe ich, wie es dir mit Serenity ergehen muss. Joey, bitte, vertrau mir, ich liebe nur dich.“ Damit stellte ich mich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Zu meiner Verwunderung blockte er nicht ab. Nach kurzer Zeit lösten wir uns, und Joey wirkte um einiges entspannter.
 

„Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist.“ Dabei fuhr er sich verlegen durch die blonde Haarmähne. Ich konnte einen dezenten Hauch von Rot auf seinen Wangen erkennen. „Ich würde sagen, du bist eifersüchtig, hm?“ Damit stupste ich ihm grinsend gegen die Nase. Joey erwiderte das Grinsen: „Scheint wohl so, hm?“ Kurz darauf wurde ich in seine Arme gezogen und innig geküsst. Ich schloss langsam die Augen und genoss das Gefühl, Joey wieder so nahe sein zu dürfen. Einen Spalt breit öffnete ich meine Lippen, um seiner Zunge Einlass zu gewähren. Meine Hände wanderten automatisch nach oben, und schlagen sich um Joeys Nacken. Seine Finger streichelten mir über den Rücken, nur um mich dann fest zu packen und herumzudrehen. Ich konnte eines der Waschbecken im Rücken spüren, während Joey mich zu einem feurigen Zungenkuss herausforderte. Jetzt wagte ich es doch, meine Augen wieder einen Spalt breit zu öffnen. Mein Freund hatte die Seinen geschlossen und lehnte sich voll und ganz in den Kuss hinein.
 

Das plötzliche Vibrieren in meiner Hosentasche ließ uns innehalten. Ich seufzte verärgert. Joey löste sich von mir und nickte auffordernd in Richtung meines Smartphones. Ein Blick auf das Display zeigte „Mokuba.“ „Na los, geh schon ran.“ Joey stellte sich vor einen Spiegel und richtete sich die Haare. Ich folgte seiner Aufforderung und wischte mit dem Daumen über den grünen Button zum Entgegennehmen des Gesprächs.
 

„Hör mal, wo bist du? Wir warten schon über zehn Minuten?“ Mokuba klang nervös und verärgert zeitgleich. Hatte sein Bruder noch gar nicht mit ihm gesprochen? "Hm? Oh ja, stimmt, sorry Mokuba. Ich hatte noch eben was zu erledigen. Ich komme gleich.“ Damit legte ich rasch auf und wandte mich Joey zu. „Wie ich sowas hasse – immer zu den unpassendsten Momenten.“
 

Der Blondhaarige grinste nur und nickte in Richtung der Tür: „Schwirr schon ab.“ Im Vorbeigehen gab ich Joey noch einen Kuss auf die Wange und stürmte dann nach draußen. Tatsächlich – die schwarze Limo wartete vor der Schule. Hastig eilte ich zur Tür und öffnete diese. Mokuba saß dort, das rechte Bein über das Linke gelegt und die Arme vor der Brust verschränkt. „Von Uhr lesen hast du auch nix gehört, oder? Steig endlich ein, wir haben noch was vor!“ Im Stillen gratulierte ich Sakura bereits, wenn sie sich wirklich auf ihn einlassen sollte: Er war eindeutig mehr Mädchen als sie, obwohl ich Mokubas Angebetete noch nicht kannte.
 

„Mach dir mal nicht ins Hemd, ja? Du willst etwas von mir, und nicht ich von dir.“ Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich noch ein wenig, während ich einstieg. „Wo fahren wir jetzt überhaupt hin? Zu meiner Wohnung, noch eben ein paar Sachen holen?“ Meine Frage wurde mit einem Kopfschütteln seitens der kleinen Diva beantwortet. „Aha, und wohin dann?“
 

Ein Augenrollen Mokubas ließ mich schmunzeln: Er engagierte sich zumindest für Sakura. „Wir fahren jetzt ins Einkaufszentrum.“ Beiläufig zog er einen gefalteten Zettel aus der Hosentasche und hielt ihn mir vor die Nase. „Da steht alles drauf, was Sakura mag, nicht mag, gerne macht, und so weiter.“ Ich entfaltete den Schmierzettel und begann ihn durchzulesen. Mokuba hatte eine außerordentlich schöne Schrift, das musste man ihm lassen.
 

„Ihr Lieblingstier ist ein Pinguin, im Ernst?“ prustete ich, während meine Augen über die Liste huschten. „Besser als das von Mei – eine Giraffe“ kam es missmutig von meinem kleinen Weggefährten. Insgesamt war die Liste nicht sonderlich überraschend. Sakura mochte gerne Süßigkeiten, allem voran Schokolade, Erdbeeren, sie trank gerne Pfirsicheistee, ihre Lieblingsfarbe war grün. Mokubas Schwarm zeichnete in der Freizeit, war aufrichtig, ehrlich, hübsch (wobei das dreimal angemerkt worden war), hasste Angeber, Insekten und Mathe. Letzteres konnte ich nur allzu gut verstehen. Damit faltete ich den Zettel und reichte ihn Mokuba wieder zurück. Dieser musste mich die ganze Zeit angestarrt haben, seinem konzentrierten Blick nach zu urteilen. „Kannst du was draus machen?“ Vor ungefähr fünf Minuten wäre er mir noch fast an die Gurgel gegangen, und jetzt klang er wieder brav und flehentlich. Teenager.
 

„Klar, das bekommen wir schon hin. Besorgen wir erstmal das Zeug und sehen dann weiter, ja?“ Mokuba nickte und einige Minuten später waren wir beim örtlichen Einkaufszentrum angekommen. Der kleine Kaiba wies den Fahrer an in der Nähe zu parken und zu warten, bevor wir uns auf den Weg in die Mall machten. Drinnen klapperten wir einige Läden ab, bis wir alles zusammenhatten, was meiner Meinung nach wichtig war. In der gesamten Zeit verhielt sich Mokuba äußerst anhänglich und freundlich, fast schon ein wenig überdreht. Zu meiner Auswahl war keine Kritik gekommen.
 

„Haben wir jetzt alles?“ Ich gab Mokuba den beträchtlichen Rest an Bargeld zurück, mit welchem ich bezahlt hatte. „Mh, ich denke schon. Gehen wir ins Auto zurück, dann erkläre ich dir grob, wie ich mir Sakuras Geschenk vorstelle. Entscheiden musst am Ende aber du, es ist schließlich deine Freundin, nicht meine.“ Damit trotten wir zum Ausgang, wo der Fahrer bereits auf uns wartete. (Mokuba hatte ihn sicher mit dem Handy verständigt) Als der Wagen losrollte, lugte ich gemeinsam mit dem Schwarzhaarigen in die zwei Taschen, welche ich mitgenommen hatte.
 

„Erdbeerschokolade, ein Plüschpinguin, Zeichenstifte, Pinsel, einen Zeichenblock, und eine Karte. Okay, das kapiere ich. Was wollen wir mit dem Rest? Das Körbchen, das Kunstgras und vor allem die Plüschgiraffe?“ Ich schmunzelte amüsiert.
 

„Ohne Geschenk für Mei aufzutauchen kommt auch ein bisschen dämlich. Sie mag grün ja gerne, oder? Wenn wir alles ins Körbchen packen, das mit Kunstgras ausstaffieren, und dann ordentlich mit Geschenkpapier verschleiern, freut sie sich sicher.“ Mokubas Gesicht hellte sich schlagartig auf. „Du bist genial, Wahnsinn!“ Auf seine Euphorie hin schüttelte ich den Kopf: „Nein, die wichtigste Komponente fehlt – die persönliche Note. Ich habe da so ein bis zwei Ideen, wobei ich ein wenig Hilfe brauche. Du solltest dir inzwischen schon einmal Gedanken machen, was du Sakura so sagen möchtest.“
 

Nun blinzelte der Kleine unsicher: „Wie, was ich ihr sagen will?“ Irgendwie drollig – einerseits so unschuldig, und dann doch verliebt. War ich in seinem Alter auch so gewesen? Ich weiß es nicht mehr. „Mh, ich helfe dir auch, keine Angst.“ Wie aufs Stichwort hielt der Wagen vor der Kaibavilla an.

Vorbereitungen

„Meine Sachen? Mokuba? Warum sind wir nicht bei meiner Wohnung vorbeigefahren?“ Ich starrte entsetzt aus dem Fenster. Ich hatte keine Klamotten zum Wechseln dabei, und meine Schulsachen für morgen lagen auch zuhause rum.
 

„Hör auf zu hyperventilieren – wir haben alles was du brauchst bereits ins Gästezimmer bringen lassen. Nachschlüssel und so.“ Damit stürmte Mokuba nach draußen und ließ mich verdutzt in der Limousine sitzen. Wie, Nachschlüssel? Hatte der kleine Giftzwerg tatsächlich einen Schlüssel zu meiner Wohnung? Das wäre dann wohl die Höhe gewesen. Den würde ich mir noch ordentlich kaufen. Fürs Erste beschloss ich aber, die Zeit unseres Chauffeurs nicht länger als nötig in Anspruch zu nehmen. Eilig huschte ich nach draußen, Taschen und Rucksack mit mir führend.
 

Drinnen wartete bereits Mokuba auf mich, welcher an Dienstpersonal und Küche, ohne einen freundlichen Gruß auf den Lippen, in sein Zimmer huschte. Ich folgte ihm, wobei ich doch ab und an zumindest nickte. Drinnen angekommen wurde die Tür ins Schloss geworfen und mir die Taschen abgenommen.
 

„Was soll ich ihr jetzt Persönliches schenken?“ Mokuba stand die Ungeduld ins Gesicht geschrieben. Er war eindeutig nervös. Die Feier war doch erst am Samstag – außerdem, ich hatte ihm versprochen, ihn bei dem Projekt zu unterstützen? Die Sache mit dem Nachschlüssel schob ich einmal beiseite. Stattdessen ging ich zu meinem kleinen Freund, hockte mich vor ihm hin und bettete meine Hände auf seinen Schultern.
 

„Ganz ruhig, Mokuba, wir kriegen das hin, versprochen. Ich habe das schon zwei, dreimal gemacht, und es war bisher zumindest immer soweit ein Erfolg, als dass sich besagte Person darüber sehr gefreut hat. Außerdem bist du hübsch, liebenswert, intelligent und freundlich. Sakura wäre schön blöd, wenn sie sich nicht auf dich einlassen würde.“ Meine Stimme war sanft und leise, aber doch gut hörbar.
 

Meine graugrünen Augen suchten den Kontakt zu Mokubas. Er lächelte, eindeutig. Dann fiel er mir um den Hals und presste sich fest an mich. Zugegebenermaßen – das ganze Szenario überrumpelte mich ein wenig. Nach dem ersten Moment der Verwirrung umarmte ich meinen kleinen Schützling fest. „Schhhh, ist ja gut. Ganz ruhig. Ich bin am Samstag auch in deiner Nähe, versprochen. Wir sind ein Team, oder?“ Damit löste ich mich ein wenig und lächelte ihm aufmunternd entgegen. „Als Team halten wir auch zusammen.“
 

Mokuba nickte daraufhin heftig und wischte sich mit den Ärmeln seines gestreiften Shirts über die Augen. „Klar, wir sind ein Team, du und ich, so wie Seto und ich.“ Einerseits imponierte es mir, dass Mokuba so dachte, andererseits wollte ich nicht unbedingt mit Kaiba auf eine Stufe gestellt werden. Mir zog sich innerlich der Magen zusammen, als ich an heute Morgen dachte.
 

„Machen wir uns mal ans Werk, bis es Essen gibt, oder?“ Wir luden die Taschen vorsichtig auf seinem Schreibtisch aus und ich beschaffte mir einen zweiten Stuhl. Mokuba sortierte inzwischen die Sachen und besorgte Stift und Papier.
 

„Okay, wir haben mehrere Möglichkeiten. Eine formlose Nachricht, die wir der Karte beilegen, ein Gedicht oder einen Liebesbrief. Letzterer ist natürlich außerordentlich direkt und könnte falsch rüberkommen, wenn du mit Sakura bisher nur freundschaftlich angebandelt hast. Gedichte kommen bei den Mädels gut an, weil sie dein Interesse an ihnen signalisieren, und auch zeigen, dass du bereit bist, dir Gedanken über sie zu machen. Die formlose Nachricht ist das Sicherste, aber auch das, in meinen Augen, Unpersönlichste. Es ist ein wenig Mischung aus Gedicht und Liebesbrief – wenn wir den Inhalt schön ausstaffieren, kann auch so ein schlichter Text sehr viel Feingefühl vermitteln.“ Während meiner Vorschläge sortierte ich die Sachen so, wie es mir sinnvoll erschien, und begann damit, das Körbchen mit Kunstgras auszulegen.
 

„Was würdest du machen?“ Mokuba war kleinlaut und verunsichert. Ich musste unwillkürlich schmunzeln. Er schien mir ja wirklich sehr bei dem Thema zu vertrauen.
 

„Nun, ich habe bisher das mit den Gedichten gemacht, was sehr gut angekommen ist. Die Mädchen waren aber auch siebzehn und sechzehn, also ein wenig älter als Sakura. Der Liebesbrief scheidet in deinem Alter aus, weil ich nicht denke, dass Sakura erfassen kann, was du ihr sagen möchtest. Bleiben wir beim Text, hm?“ Inzwischen drapierte ich den Pinguin in der Mitte des Bastkörbchens und schrägte ein wenig den Kopf. Wir hatten uns für ein Modell entschieden, welches unter dem rechten Arm/Flügel etwas tragen konnte. Vorsichtig schob ich die zwei Tafeln Erdbeerschokolade in den Raum zwischen Extremität und Körper des Pinguins.
 

„O-O-Okay, was soll ich denn jetzt schreiben?“ Ein Seitenblick verriet mir, dass der Kleine mit zittrigen Fingern den Stift knapp über dem Papier hielt. So würde er nur den Brief versauen. Wie konnte ich ihn denn beruhigen? Ich überlegte kurz und erinnerte mich an meine Großeltern. Diese hatten mich immer auf den Schoß genommen und mit mir dann so die Hausaufgaben gelöst. Vorsichtig griff ich zu Mokuba hinüber und hob diesen, welcher mich verdutzt anstarrte, auf meine Knie. Mit dem linken Arm hielt ich ihn knapp über dem Bauchnabel fest, während sich meine rechte Hand ganz vorsichtig um die Seine legte, welche den Stift hielt.
 

„Ganz ruhig, okay? Ich bin noch immer da, und wir schreiben das jetzt gemeinsam, einverstanden?“ Entgegen meiner Erwartungen (Mokuba war schließlich durchaus etwas älter als ich damals), wehrte er sich nicht gegen die Behandlung. Gegenteiliges war der Fall: Ich bemerkte, wie er sich langsam entspannte.
 

„Fangen wir einmal mit der Anrede an, hm? Wie wäre es mit: Sakura, erst einmal Alles Gute zum Geburtstag?“ Der kleine Wirbelwind zog den Zettel zu uns herüber und nickte dann, nur um sich mit dem Rücken gegen mich zu lehnen, während er langsam und wie gestochen meine Worte aufschrieb. Um dieses Schriftbild beneidete ich ihn. Mir war die schwarze Haarmähne zwar ein wenig im Weg, aber mit etwas Aufrichten war es möglich, ihn bei seiner Tätigkeit genau zu beobachten.
 

„Gut, und jetzt?“ Mokuba legte seinen Kopf in den Nacken und lugte erwartungsvoll zu mir hoch.
 

„Hm. Ich würde jetzt etwas über eure Freundschaft schreiben. Wie lange ihr euch kennt, und wie wichtig sie dir in dieser Zeit geworden ist.“ Alles in den Mund legen wollte ich ihm nicht. Es wäre zweifelsohne aufgefallen, wenn der Text nicht seinen Stil trug.
 

„Wir kennen uns jetzt schon zwei ganze Jahre. In der Zeit habe ich dich als Freundin bekommen, und freue mich, wenn wir uns treffen. Wir quatschen miteinander, haben fast keine Geheimnisse voreinander und sind sonst auch ein ganz tolles Team.“ Mokuba lugte nach wie vor zu mir hinauf, erwartungsvoll.
 

„Wenn wir das bekommen durch gewonnen ersetzen, und quatschen mit „bereden alles miteinander“ austauschen, hört es sich gut an.“ Der Kleine schrägte daraufhin den Kopf ein wenig: „Wir bereden aber nicht alles miteinander. Das wäre eine glatte Lüge.“
 

„Ein wenig übertreiben ist ganz okay. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du natürlich quatschen lassen – Sakura ist ja deine Freundin.“ Ich spürte, wie Mokubas Hand sich wieder in Bewegung setzte. Ganz vorsichtig ließ ich ihn werkeln, und benutzte meine freigewordene Hand, um mich, ein wenig umständlich, einhändig mit dem Geschenk weiter befasste.
 

„So, fertig. Das wäre auch erledigt. Was jetzt?“ Ein prüfender Blick ließ mir ein wenig die Kinnlade nach unten klappen. Neben meiner Sauklaue wirkte Mokubas Schriftbild wirklich exorbitant schön, fast schon makellos.
 

„Okay, der Part ist jetzt wichtig, denn du sprichst über deine Gefühle. Ich würde so etwa sagen wie: In der Zeit habe ich auch gemerkt, wie sehr ich an dir hänge, Sakura. Du bist immer für mich da, bringst mich zum Lachen, stehst mir bei wenn es mir schlecht geht; das ist ganz Besonders für mich.“ Der Teenie nickte eifrig und schrieb sogleich weiter. Derweil konnte ich mich um die weitere Anordnung kümmern. Die Zeichenstifte schob ich durch die schmalen Löcher des Bastkörbchens, sodass sie den Pinguin in der Mitte zentral umrahmten. Den Pinsel steckte ich ins Kunstgras und lehnte ihn gegen das Plüschtier, dass es so aussah, als würde es diesen festhalten.
 

„Ich möchte jetzt gerne schreiben, dass ich sie sehr hübsch finde, und es mag, wie sie lacht, und ihre Zeichnungen gut finde.“ Allmählich taute er auf. Das war wichtig und erfüllte mich seltsamerweise ein wenig mit Stolz. Blühte er wegen mir so auf?
 

„Okay. Wenn du Sakura siehst, wie wird dir da, an was denkst du?“
 

„Nun, eigentlich, also – an den Schulausflug, wo wir gemeinsam mit den anderen in der Wiese gelegen sind. Unsere Hände haben sich dabei berührt, und es hat so komisch geprickelt.“ Er war beim Sprechen immer leiser geworden, und eine dezente Röte zierte seine farbigen Wangen. Schmunzelnd nickte ich und drückte ihn ganz sanft.
 

„Schon okay, das muss dir nicht peinlich sein. Es ist schön, dass du so von ihr denkst, beziehungsweise so an sie denkst. Ich würde es so formulieren – Wenn ich dich ansehe, dann denke ich an unseren Schulausflug, die Wiese, und unsere Hände, welche sich berührten. Dabei habe ich etwas gespürt, dass mir zuerst komisch vorkam, aber ich glaube jetzt weiß ich, worum es sich handelt. Ich bin wahrscheinlich verknallt. Verknallt in dich, dein Äußeres, dein Wesen. Ich könnte dir stundenlang zuhören, wie du lachst, dich beobachten, wie du zeichnest. Sakura, du bist nicht nur eine gute Freundin, sondern hast auch einen Platz in meinem Herzen eingenommen, eine Lücke gefüllt, welche sich sonst nie geschlossen hätte.“ Jetzt konnte ich merken, wie Mokuba sich auf meinem Schoß versteifte. „Gefällt es dir nicht?“
 

„Doch, es – schon in Ordnung, ich finde es sehr schön.“ Wieder flog der Stift über das Papier und setzte mein gesprochenes Wort in die Tat um. Etwas hatte ihn kurz aus dem Konzept gebracht, und ich war zugegebenermaßen neugierig, was das gewesen sein könnte. Andererseits – Kaiba war sein Bruder, nicht ich. Wenn es ihn wirklich belastete, würde Mokuba schon mit jemandem reden.
 

„Jetzt würde ich noch so etwas hinschreiben, wie: Ich hoffe du fühlst ähnlich, und verstehst, warum ich dir das alles so sage. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke, Sakura. Danke, dass du da bist, danke, dass es dich gibt, und danke, dass du so eine tolle Freundin bist. Ich habe dich sehr, sehr gern, wenn nicht sogar sehr lieb.“ Mir kamen die Worte aus meinen Lippen ein wenig seltsam vor. Ich bemühte mich bewusst, einen etwas kindischeren Stil zu adaptieren, was mir, Mokubas zufriedenem Gesichtsausdruck zu urteilen nach, auch gelangt.
 

Die Grußformel „dein bester Freund Mokuba“ schrieb er sogar selbst hin. Das Körbchen war inzwischen auch fertig. „Wow, ich bin sehr stolz auf dich, und du kannst es auch sein, Mokuba. Das ist wirklich ein schöner Text, und wird Sakura sicher freuen. Wir haben uns nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt, aber doch rübergebracht, dass du sie sehr gerne hast. Das wird glatt gehen, ganz sicher. Jetzt bräuchte ich aber noch ein Bild von Sakura und deine Erlaubnis.“
 

„Wozu?“ Mokuba sah mich neugierig an und legte den Stift beiseite.
 

„Joey kann sehr gut zeichnen. Ich würde ihm gerne ein Bild von Sakura schicken, welches er mit einem von dir nachmalen soll. Falls es dir nicht peinlich ist, natürlich.“
 

Kurz zögerte der kleine Wirbelwind, nickte dann aber schlussendlich und fischte sein Handy und eine kleine Papiertüte aus der Hosentasche, welche eindeutig nicht zu unserem Kauf gehörte. „Was ist denn das, Mokuba?“ Mit spitzen Fingern drehte ich die Papiertüte zu mir herum und starrte ihn fragend an.
 

„Kannst du das dem Pinguin um den Hals hängen? Du lachst auch nicht, versprochen?“ Mokuba tippte auf seinem Smartphone herum, während ich in die Tüte griff und etwas Hartes ertasten konnte. Vorsichtig zog ich das Geschenk hervor und begutachtete das Stück eingehend. Es war ein silbernes Armkettchen, mit einem Anhänger in Form eines Herzens. Die Idee war mehr als süß. War er deswegen so nervös gewesen?
 

„Das ist echt schön, Mokuba, wirklich. Die Idee ist klasse.“ Ich hing dem Pinguin, ganz vorsichtig, das Armkettchen um den Hals und nickte dann zufrieden. „Gefällt es dir so, oder möchtest du noch etwas ändern?“ Mokuba schob sein Handy wieder in die Hosentasche und begutachtete unser gemeinsames Werk eingehend. „Woah, das sieht perfekt aus. Wo geben wir jetzt den Brief hin?“
 

„Lehnt ihn vorne, an die Füße des Pinguins. Ein wenig Cellophan rundet das Ganze gut ab, denke ich. Mein Abteilungsleiter für Kreativität und Grafik hätte es nicht besser machen können.“ Diese Stimme kannte ich nur zu gut, und sie ließ mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen.

Worte mit Wirkung

„Seto!“ Mokuba sprang von meinem Schoß und fiel seinem Bruder direkt in die Arme. Dieser lächelte zur Abwechslung sogar einmal ein wenig, und legte seine Hände um den Kleinen. Auch heute trug der ältere Kaiba den weißen Mantel mit der auffälligen Schnittform, die hohen Stiefel und das schwarze Hemd, nebst schwarzer Hose.
 

„Na, was hast du da Schönes vorbereitet?“ Mit Mokuba in der Umklammerung schob sich der CEO nach vorne und begutachtete eingehend unsere gemeinsame Arbeit. „Das ist für Sakura, du weißt schon, aus meiner Klasse.“ Der Schwarzhaarige löste sich, wenn auch nur widerwillig, von Seto und stellte sich neben das Präsent. „Ich habe mir Hilfe geholt, von einem Fachmann.“ Grinsend nickte er mir zu. Ich fragte mich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis Kaiba explodierte und mich aus dem Haus warf. Nach der Standpauke heute Vormittag wunderte es mich, dass ich noch nicht von der Polizei abgeholt worden war.
 

„Fachmann? Interessant.“ Ich konnte Kaibas eisigen Blick auf mir spüren, welcher sich, Gott sei Dank, wenige Momente später wieder auf das Präsent lenkte. Der Firmenchef stellte sich neben Mokuba, legte eine Hand auf dessen Schulter und senkte seinen Kopf ein wenig. Jetzt würden sie wieder kommen: Verbesserungsvorschläge, Kritik, Anmerkungen und spöttische Beleidigungen.
 

„Es sah von weitem schon beeindruckend aus, aber in der Nähe – ihr habt beide viel Liebe zum Detail bewiesen. Ich frage mich, warum ich den Schwachkopf von Abteilungsleiter überhaupt noch beschäftigte. Demnach ist das Geschenk für Sakura insoweit fertig?“ Mokuba schüttelte den Kopf, rannte zum Tisch und hielt Kaiba den Text hin. Jetzt würde sicherlich eine abfällige Bemerkung folgen. Der CEO las die Nachricht mehrmals durch.
 

„Deine Freundin freut sich sicher, Mokuba.“ Wie bitte? Keine saudumme Meldung? Was war in den gefahren? Stattdessen faltete Kaiba den Zettel sorgsam und lehnte ihn vorsichtig gegen den Pinguin. Danach klatschte er einmal in die Hände und blaffte zur Tür hin: „Na worauf warten Sie noch? Sie werden nicht fürs Rumstehen bezahlt. Packen Sie das Ganze ordentlich ein, und wehe, Sie verändern auch nur ansatzweise etwas an dem Geschenk.“ Seine Stimme war eiskalt und auffordernd. Im Türrahmen erschien eine schlanke Frau mittleren Alters, mit dunkelbraunen, langen Haaren und einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Wie man nach der netten Aufforderung überhaupt kein Gesicht ziehen konnte, war mir ein Rätsel. „Natürlich, Herr Kaiba. Ich werde mich persönlich darum kümmern. Das Geschenk ist spätestens morgen abholbereit.“ Damit ergriff sie, ganz vorsichtig, das Bastkörbchen und trug es, einer Verbeugung uns gegenüber später, nach draußen.
 

„Wer war das, Seto?“ Mokuba lugte neugierig zu seinem Bruder hinauf. Allerdings, diese Frage interessierte mich auch. Sicher eine Angestellte, so wie er sie zusammengefaltet hatte. „Eine der renommiertesten Designerinnen und Dekorspezialistinnen Japans. Ich muss meinen kleinen Bruder schließlich bei seinem ersten Versuch, ein Mädchen zu erobern, auch unterstützen.“ Wie schnell sich ein Gemüt ändern konnte – Wahnsinn. Vor nicht mal einer Minute hatte er die Frau heruntergeputzt, und jetzt ging er mit Mokuba so liebevoll um; dass Kaiba überhaupt zu so einer emotionalen Form der Zuneigung fähig war, erstaunte mich. Der Kleine umarmte seinen Bruder noch einmal innig, nur um dann zu mir zu spähen. „Mist, jetzt haben wir das Bild vergessen!“
 

Ich winkte mit der Hand ab: „Das ist kein Problem – wir müssen überhaupt erst einmal fragen, ob Joey Zeit und Muße hat. Das Bild können wir noch an der Verpackung draußen befestigen. Die Karte haben wir übrigens auch außen vor gelassen. Ein äußerst intelligenter Schachzug – so wirkt es nicht so standardmäßig.“ Ich grinste unvermittelt. Mir war das Ganze ein wenig zu schnell gegangen.
 

„Wheeler soll euch helfen? Wie denn? Sich neben Mokuba stellen, um dem Mädchen zu zeigen, dass man mit 17 Jahren ein größerer Idiot sein kann, als mit 13?“ Wenigstens war sie jetzt wieder da, die abfällige Art und Weise, die mich so zur Weißglut trieb.
 

„Joey kann sehr gut zeichnen, und Sakura malt ebenfalls.“ Ich schluckte den restlichen, bissigen Kommentar hinunter und zog mein Handy hervor. Tatsächlich, Mokuba hatte mir ein Bild von Sakura geschickt. Sie war wirklich süß für ihr Alter – süß im Sinne von niedlich, ein Kind eben.

Ohne auf Kaibas weitere Tiraden über Joeys Unfähigkeit näher einzugehen, schickte ich Joey das Foto samt einer Nachricht: „Hallo Joey! Anbei ein Bild von Mokubas Flamme, Sakura. Sie zeichnet gerne und ich hätte eine Bitte an dich (natürlich nur, wenn du Zeit und Lust hast): Könntest du sie und Mokuba auf ein gemeinsames Bild malen? Deine Talente sind herausragend, und Mokuba wäre auch einverstanden. Vermisse dich bereits! David“ Ich hatte bewusst auf eine intimere Anrede wie „Schatz“ oder „Liebling“ verzichtet, weil ich nicht wusste, wer unter Umständen Joeys Nachrichten noch lesen konnte. Damit schob ich mein Smartphone wieder in die Hosentasche meiner schwarzen Jeans und blickte zu Kaiba und Mokuba.
 

Der Ältere hatte den Arm um den Jüngeren geschlungen, während mich beide anstarrten. Hatte ich was im Gesicht? „Du musst Joey sehr mögen, wenn du so lächelst, wenn du ihm schreibst.“ Ich fühlte mich von Mokubas Worten ertappt. Ahnte zumindest der große Kaiba etwas? Seinem regungslosen Gesichtsausdruck zu urteilen nach nicht. „Wer sagt denn, dass es überhaupt Joey war? Außerdem – er ist hier mein bester Freund. Wenn du anrufst ziehe ich auch kein Gesicht.“ Mit einem überbreiten Grinsen versuchte ich die Situation zu überspielen. Hatte ich wirklich so offenkundig gestrahlt?
 

„Nichtsdestotrotz – der Koch ist mit dem Essen fertig. Wenn du deine privaten Erledigungen abgeschlossen hast, könnten wir nach unten gehen.“ Kaibas Stimme war diesmal frei von Spott und Hohn. Er nickte mir nur kurz zu und ging, Mokuba vor sich her schiebend, nach draußen. Bemühte er sich eigentlich generell so um seinen Bruder? Mein grummelnder Bauch ließ mich fürs Erste diese Frage vergessen. Hastig ging ich den Beiden nach, ins Speisezimmer. Dort waren wieder, wie beim letzten Mal, die thronartigen Stühle aufgestellt worden. Drei Stück waren fein säuberlich so platziert worden, dass an der Spitze der Tafel sich jemand jeweils über einen Nachbarn freuen konnte. Entgegen meiner Erwartungen setzte sich der CEO nicht auf den „Chefsessel“, sondern rechts davon, Mokuba mittig, so blieb für mich die linke Seite übrig.
 

Als Vorspeise kredenzte man uns eine klare Rinderbrühe mit Pfannkuchenstreifen und Schnittlauch. Der Hauptgang bestand aus einem Steak mit Rosmarinkartoffeln, Röstzwiebeln und Kräuterbutter. Zum krönenden Abschluss brachte man uns die beste Kardinalschnitte, die ich je in meinem Leben gegessen hatte. Kurzum waren das alles meine Lieblingsgerichte gewesen.
 

„Hat es dir geschmeckt, David?“ Mokuba hatte sich während des Essens vorwiegend mit seinem Bruder unterhalten, welcher äußerst locker wirkte. Ich schrägte den Kopf ein wenig und nickte dann: „Es war hervorragend. Das waren aber keine typisch japanischen Gerichte.“ Der kleine Kaiba grinste nur und nickte mit dem Kopf zu seinem Bruder: „Bedank dich bei Seto. Der hat das heute veranlasst.“ Ich beobachtete Kaiba, wie er den letzten Rest Kardinalschnitte sorgsam von seinem Teller kratzte. War das eine Geste der Freundlichkeit gewesen? Woher wusste er das alles überhaupt?
 

„Ein Dank ist nicht nötig. Du hast etwas für Mokuba getan, da ist es das Mindeste, dass ich mich erkenntlich zeige. Ich hasse es nämlich, in der Schuld von jemandem zu stehen.“ Während des Sprechens hielt er es zwar nicht für notwendig, von seinem Teller aufzusehen, aber es reichte durchaus, um mich zu verblüffen. „Danke“ kam es zögerlich über meine Lippen. Kaiba schenkte mir keine weitere Beachtung.
 

Mokuba gähnte ausgiebig und streckte sich. „Mann, bin ich müde. Zum Schlafen gehen ist es aber noch eindeutig zu früh. Hast du noch Lust, dich eine Runde virtuell mit mir zu prügeln, David?“ Ich nickte leicht, Kaiba nicht aus den Augen lassend. Was war nur mit ihm los? „Aber nicht länger als eine Stunde, Mokuba. Du hast morgen Schule, und ich mag es eigentlich nicht so gerne, wenn du dauernd vor dem Fernseher hängst.“ Damit stand Kaiba auf, verwuschelte seinem Bruder die Haare und ging nach draußen. Sekunden später wurde ich an der Hand in Mokubas Zimmer gezogen, wo wir uns einige haarsträubende Duelle in einem japanischen Beat’em up lieferten (ich verlor haushoch). Eine Stunde später klopfte es an der Tür.
 

„Mokuba, Zeit schlafen zu gehen. Putz´ dir die Zähne, und dann ab in die Federn. Ich komme nachher noch einmal vorbei, ja?“ Mokuba seufzte genervt, nickte dann aber. Mir fiel er um den Hals und drückte mich fest. „Danke nochmal, ja David? Ich hab dich lieb!“ Damit stürmte er auch schon ins Badezimmer. Der letzte Satz – hatte er das wirklich gesagt? Er hatte mich lieb? Wie lieb? So wie einen großen Bruder?
 

Kaiba stand noch immer im Türrahmen und beobachtete mich. „Du hast außerordentliches Glück, dass Mokuba so an dir hängt. Normalerweise hätte ich dir den Tag zur Hölle gemacht, nach deinen ausfälligen Bemerkungen heute Vormittag. Ein Meeting und ein Telefonat mit Mokuba haben das aber verhindert. Überstrapaziere dein Glück aber nicht, Kleiner. Wir fahren morgen gemeinsam in die Schule – sei also pünktlich und blamiere mich nicht.“ Damit verließ Kaiba das Zimmer.
 

Was war nur mit dieser Familie los? Der eine war anhänglich und drollig, fast schon zum lieb haben, während der andere eine Mischung aus einem Eisklotz und einem Arsch mit lichten Momenten war. Seufzend begab ich mich ins Gästezimmer, wo man mir tatsächlich Schlafanzug und meine Unterwäsche bereitgestellt hatte. Fein säuberlich gefaltet befanden sich außerdem noch ein anthrazitfarbener Hoodie mit weißen Bändern zum Verstellen der Kapuze, eine graue Hose, sowie meine Zahnbürste und einige andere Utensilien für eine Übernachtung auf dem Schreibtisch. Ich wollte gar nicht wissen, wie besagte Person an das Zeug gekommen war. Verwirrt, und mit einem stechenden Kopfschmerz, sprang ich kurz unter die Dusche, nur um mich dann in den Schlafanzug zu werfen und ins Bett zu fallen. Beiläufig schaltete ich den Fernseher ein (es lief ein Zeichentrick aus meiner Heimat, und auch noch auf Deutsch), und lugte auf mein Handy. Joey hatte mir geantwortet.
 

„Hey David! Klar, kann ich machen. Das ist Mokubas Flamme? Ich hatte sie mir deutlich anders vorgestellt. Freitag habt ihr das Bild. Grüß den Kleinen von mir. Schlaf du gut und träum was Feines! Joey – der dich auch vermisst.“ Ich ertappte mich dabei, wie ich gerade beim letzten Satz lächeln musste. Es war wohl wirklich offensichtlich, dass ich zumindest mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Joey hegte. Bis Kaiba das geschnallt hatte, würde aber noch ein wenig Zeit vergehen, hoffte ich zumindest. Beim Fernsehen schlief ich dann ein.

Eine Einladung

Als mein Handywecker um sieben Uhr klingelte, stöhnte ich genervt. Ich war um zwei Uhr durch den Fernseher geweckt worden, und war erst um vier Uhr wieder eingeschlafen. Zumal ich heute nicht zu spät sein durfte – Kaiba konnte man es zutrauen, dass er einen Stehen ließ. Schlaftrunken schälte ich mich aus dem Bett und sprang unter die Dusche. Nach dem Haarstyling und der Mundhygiene schlüpfte ich in meine Sachen, packte die anderen Klamotten in meinen Rucksack und ging mit diesem ins Esszimmer. Dort saß bereits Kaiba, welcher die Beine überschlagen hatte. Sein Gesicht war hinter einer Zeitung versteckt. Sollte ich ihm einen Guten Morgen wünschen?
 

„Setz dich endlich, wir haben nicht ewig Zeit. Außerdem hat Mokuba gemeint, du müsstest dich noch mit dieser Mei unterhalten.“ Ich schrägte ein wenig den Kopf und setzte mich auf den Stuhl neben Kaiba. Wie, mit Mei sprechen? Warum musste Mokuba das seinem Bruder überhaupt auf die Nase binden? Mir war unwohl bei dem Gedanken, dass Kaiba auch glaubte, ich hätte ein Date mit Mei. Schweigend bestrich ich einen Vollkorntoast mit Butter und Honig, und goss mir eine Tasse Kakao ein.
 

„Sie scheint ja ziemlich Gefallen an dir gefunden zu haben. Taylor hat es verzweifelt versucht und ist abgeblitzt. Devlin meinte auch einmal, sie zu einem Kaffee eingeladen zu haben, was ich zwar stark bezweifle, aber lassen wir es einmal so im Raum stehen.“ Kaibas Ton war beiläufig und desinteressiert. Er blätterte seine Zeitung um und nippte aus einer Tasse seinen Kaffee. „Damit wirst du zum Gesprächsthema der Klasse werden – Mei Nakamura hat sich noch nie einen Jungen ausgesucht.“
 

Ich schluckte meinen Bissen hinunter und stöhnte genervt. „Ich stehe aber nicht auf Mei, in keinster Weise. Mein Interesse besteht primär darin, ein Auge auf Mokuba zu haben, mehr nicht. Nach der Geburtstagsfeier fahren wir am nächsten Tag umgehend heim.“ So hatte ich es mir zumindest vorgestellt.
 

„Es gäbe nun mehrere Optionen, die deine etwaige Entscheidung, nicht mit Mei zu verkehren, untermauern könnten. Beispielsweise ein anderes Mädchen, ein heimlicher Schwarm, du bist a- oder homosexuell.“ Kaiba zählte seelenruhig verschiedenste Möglichkeiten auf, warum ich nicht auf Mei stehen würde, während ich mir missmutig meine Tasse Kakao in den Rachen stürzte. Was ging es ihn eigentlich an, mit wem ich „verkehrte“?
 

„Nun, mir ist es eigentlich einerlei. Solange du es nicht mit Mokuba vergeigst, ist alles in bester Ordnung. Nakamuras Spielchen sind sowieso ermüdend – du wirst schon sehen.“ Damit legte der CEO seine Zeitung beiseite und kippte sich den letzten Rest Kaffee hinein. „Übrigens – wir haben am Schwarzen Magier einige Veränderungen vorgenommen. Du solltest dir das Setup in nächster Zeit einmal ansehen.“
 

Ich spülte meinen Toast mit Kakao nach und schluckte lautstark: „Wie, Veränderungen? Warum?“ Kaibas Lippen kräuselten sich ein wenig: „Mokuba war der Ansicht, dass der Schwarze Magier und der Flammenschwertkämpfer gemeinsam fusionieren könnten, weil du und Wheeler anscheinend so ein ausgezeichnetes Team seid.“ Seine Stimme hatte einen beißenden Unterton angenommen. Ich hielt meinen Mund, und machte mich nach dem Frühstück fertig für die Schule.
 

Die Fahrt zur Domino High gestaltete sich als still. Kaiba telefonierte mit irgendjemandem aus der Firma, während ich noch einmal die Vokabeln für Englisch durchging. Entgegen meiner Hoffnung war Mokuba nicht mit uns gekommen. Auf meine Frage hin, wo dieser denn geblieben sei, erklärte mir Kaiba knapp, dass die Schule seines Bruders in der entgegengesetzten Richtung lag. Als der Wagen hielt, nickte der CEO dem Fahrer kurz zu, welcher die Trennscheibe heruntergelassen hatte. Ich bedankte mich und stieg dann ebenfalls aus.
 

Auf dem Schulhof herrschte schon wieder reges Treiben. Kaiba schulterte seine Tasche und ließ mich einfach stehen. Es war wohl wirklich nicht mehr als eine reine Fahrgemeinschaft (auf seine Kosten) gewesen. Irgendwie bedauerte ich es ein wenig, dass er und ich nicht miteinander warm wurden. Schon Mokuba zuliebe sollten wir uns zusammenraufen. Meine Freunde konnte ich nirgendswo erspähen, dafür jemand anderen. Mir wurde bei dem Gekicher der Mädchengruppe rund um Mei schlecht. Stimmt, das stand auch noch aus.
 

„Guten Morgen, David!“ trällerte mir der Chor aus Mädchen einstimmig entgegen. Ich hob die Hand und wollte wortlos weitergehen, als mich jemand am Arm festhielt. Ein Blick nach unten entblößte feine, zierliche Finger. Mei lächelte schüchtern, während uns die gesamte Gruppe angaffte. Von mir aus eröffnete ich kein Gespräch, so nutzte ich die Zeit um das Mädchen eingehend zu mustern.
 

Sie war 16 Jahre alt (das wusste ich, beim Weihnachtsball würde sie 17 werden), hatte langes, dunkelbraunes, seidiges Haar, mandelgrüne Augen, einen hellen Teint und eine niedliche Stubsnase. Ihre Figur war mit schlank zu beschreiben. Über den Kleidungsstil konnte ich nicht viel sagen, trug sie doch in meiner Gegenwart immer die Schuluniform. Insgesamt war Mei sicherlich ein hübsches Mädchen. Mein Interesse lag aber woanders.
 

„Ähm, David? Meine kleine Schwester meinte, du würdest am Samstag mit Mokuba Kaiba zu ihrer Geburtstagsfeier kommen, ist das richtig?“ Ein lautes „Ooooh“ war aus dem Hintergrund zu hören. Irgendwie nervten mich unsere Zuschauer im Hintergrund massiv. Was ging es eigentlich diese Schnattergänse an, wo ich hinging?
 

„Ja, Mei, es ist so geplant. Mokuba hat mich darum gebeten. Warum?“ Die Story mit dem „vermeintlichen“ Date, von der ich bereits wusste, band ich ihnen nicht auf die Nase. Wahrscheinlich wusste der Mei-Fanclub bereits davon.
 

„Okay, denn es wird spät werden, und meine Eltern sind beide auf Geschäftsreise. Ihr könnt ruhig bei uns übernachten. Der Weg zurück ist nämlich weit, und es ist sicher dunkel, bis die Rasselbande ins Bett gehuscht ist.“ Ich verengte die Augen ein wenig auf Meis subtile Andeutungen. Was sollte das werden, wenn es fertig war?
 

„Ähm, soweit ich weiß, schlafe ich bei Mokuba. Wir fahren nach der Feier nach Hause. Sorry Mei, aber danke für das Angebot.“ Ich lächelte entschuldigend und schob bemüht sanft ihre Hand von meinem Arm.
 

„Na gut, aber, deswegen wollte ich eigentlich nicht mit dir sprechen.“ Blitzschnell wurde mein Unterarm umklammert und ich mit einem zuckersüßen Blick bedacht. Was kam jetzt? Ich schrägte den Kopf und sah Mei fragend an.
 

„Es ist bald Weihnachtsball, und wir brauchen normalerweise männliche Begleitung. Tristan Taylor meinte, du wärst in keiner Beziehung, und deshalb wollte ich dich fragen, ob du nicht vielleicht mit mir gehen möchtest?“ Ihr Unterton verriet, dass das keine Frage, sondern eine Aufforderung war. Mei war es wohl gewohnt, dass man nach ihrer Pfeife tanzte. Die Mädchenrunde hinter ihr tuschelte inzwischen angestrengt.
 

„Ich weiß noch nicht einmal Mei, ob ich da überhaupt hingehe. Aber danke für das Angebot.“ Ich bemühte mich um ein sanftes und entschuldigendes Lächeln. Nein, ich hatte keinen Bock, mit Mei hinzugehen.
 

„Oh, dann gehst du wohl lieber mit Joey Wheeler hin, oder?“ Mein aufgesetztes Lächeln gefror augenblicklich. Wie hatte sie das gemeint? Mit Joey hingehen? Ihr zuckersüßes Lächeln wurde noch ein wenig breiter. Wusste sie etwas? Das konnte Ärger bedeuten, und außerdem Joey ziemlich tief in die Misere bringen.
 

„Warum sollte ich lieber mit Joey hingehen, Mei?“ Meine Augenbrauen wanderten nach unten und ich musste mich zusammenreißen, sie nicht ordentlich anzufahren. Vielleicht überreagierte ich auch nur? Das Geschnatter der Mädchen hatte augenblicklich aufgehört.
 

„Na weil er dein bester Freund ist? So ganz unverbindlich. Außerdem hat ihn Makiko schon gefragt, ob er mit ihr zum Ball geht. Es wäre cool, wenn wir zu viert auftauchen.“ Warum hatte Joey sowas getan? War das ein Bluff? Mir gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Vor allem: Was war mit Mei los? Ich wusste noch immer nicht, ob sie von Joey und mir wusste, oder ob das nur ein Zufallstreffer gewesen war. Die Betonung „bester Freund“ bescherte mir nämlich ein flaues Gefühl im Magen.
 

„Hm, ich frage Joey ob er wirklich geht, Mei, einverstanden? Wenn dem so ist, dann können wir uns ja bei der Feier absprechen.“ Damit löste ich sie von mir und stapfte bemüht ruhig in die Schule. Hinter mir konnte ich Gekreische und Gelächter hören. Wem würde ich zuerst den Kopf waschen: Tristan? Joey? Oder beiden zeitgleich?
 

In der Klasse ließ ich mich genervt auf meinen Stuhl fallen. Kaiba schenkte mir ein süffisantes, wissendes Lächeln, während Tristan mich erwartungsvoll ansah. „Wenn du noch einmal versuchst, Mei und mich zu verkuppeln, Tristan, dann springe ich schreiend aus dem Fenster.“ Schnaubend klatschte ich meine Schulunterlagen für Geographie auf den Tisch. Dieser sah mich komplett verständnislos an: „Wie, mit Mei verkuppeln? Hat es geklappt?“ Er strahlte förmlich.
 

„Ja hat es. Ich gehe mit Mei Nakamura auf den Weihnachtsball? Zufrieden, oder möchtest du noch ein Protokoll über das Gespräch?“ Tristan boxte mir gegen die Schulter: „Du alter Hund! Wahnsinn!“ Ich biss mir auf die Lippen und verkniff mir einige, mehr als nur unpassende Kommentare. Mein Blick wanderte zu Joey, welcher seltsamerweise ein großes Interesse am Umschlag seines Heftes besaß. Eigentlich wollte ich ihn nach allen Regeln der Kunst zusammenfalten. Vor zwei Tagen hatte er mir noch eine Szene gemacht, wegen der Sache mit Mei, und dann ging er einfach hinter meinem Rücken mit irgendeinem Mädchen zum Ball. Ich war nicht eifersüchtig, sondern einfach nur enttäuscht, dass er es mir nicht gesagt hatte.
 

„Ah lasst mich einfach alle für heute in Ruhe.“ Damit starrte ich missmutig auf mein Heft, bis Tristan endlich abgezogen war. Joey vermied es weiterhin, mich anzusehen. Inzwischen war Mei im Klassenzimmer aufgetaucht und hatte sich dezent geräuspert: „Alle mal herhören!“ Schlagartig hatte sie die Aufmerksamkeit der Klasse eingeheimst. Welcher Wahnsinn kam jetzt noch? „An die Jungs der Klasse – ich habe mittlerweile jemanden, der mich zum Weihnachtsball begleitet. Ihr könnt euch also eure Anfragen sparen!“ Dabei fuchtelte sie übertrieben mit den Armen und kicherte amüsiert. Unter dem Tisch ballte ich meine Hände zu Fäusten. Ich starrte weiterhin auf meine Sachen, und betete, dass die Stunde bald beginnen möge. Ich hatte mich, mit eifriger Hilfe von Tristan, in einen Schlamassel manövriert, dessen Ende nicht in Sicht war. Was sollte ich also tun? Ich musste zumindest Mei bis zum Samstag ertragen, um zu erfahren, was sie wirklich wusste. Endlich – unser Lehrer betrat den Klassenraum. Damit huschten alle auf ihre Plätze und ich war fürs Erste erlöst. Ich bog die nächsten Stunden irgendwie herunter, neben einem schweigenden Joey und einem Tristan, welcher mir alle fünf Minuten ausführlich zu dieser Meisterleistung gratulierte. Ah, wäre ich doch nie auf Mokubas Flehen eingegangen.
 

Nach Schulende ging ich ins Jungsklo und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Mei war die letzten Stunden belagert worden, wer denn ihre Begleitung sei. Tristan war zumindest klug genug gewesen, dass er den Mund hielt. Yugi, Bakura und Tea hatten sich dieser Vorgangsweise angeschlossen, während Joey dauernd schuldig auf seine Sachen gestarrt hatte. Ich stemmte mich mit den Händen am Waschbeckenrand ab und beobachtete, wie die Wassertropfen von meinem Kinn herabtropften. Wie sollte das weitergehen? Was wusste Mei? Was würde sie mit diesem Wissen anstellen? Sollte ich es Joey sagen?
 

„David?“ Eine leise, zögerliche Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich konnte im Spiegel meinen blonden Freund erkennen, welcher die Hände in die Taschen seiner Uniform geschoben hatte. Sein Gesichtsausdruck war am besten mit leidend zu beschreiben. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er zitterte am ganzen Körper, und ich hätte schwören können, dass er feuchte Augen besaß. „Alles in Ordnung?“
 

„Was denkst du?“ Ich atmete tief durch und drückte mich vom Waschbecken ab. Verloren fuhr ich mir durch die Haare und lehnte mich gegen die weißen Fliesen des Toilettenraumes. „Du hättest es mir zumindest sagen können, Joey.“ Ein verwunderter Blick seitens meines Freundes folgte. „Oder was hast du geglaubt? Dass ich nicht so reagiere wie du bei mir und Mei?“
 

„Nein, das nicht, aber...verstehst du es denn nicht? Ich meine, wenn ich ohne Mädchen auftauche, bzw. Makiko abgelehnt hätte, dann wäre das auch komisch rübergekommen, oder?“ Wäre es nicht. Es gab genügend Leute, die alleine auf den Ball gingen. Das war eine mehr als nur fadenscheinige Ausrede.
 

„Doch, ich verstehe dich, Joey. Sehr gut sogar. Du hast ein Image, oder? Das musst du bewahren?“ Meine Stimme war äußerst ruhig. Auf meine Frage hin nickte Joey erleichtert aus. „Es ist in Ordnung, solange du mir vertraust und umgekehrt, ja? Schließlich muss ich zwangsläufig auch dein Image aufrechterhalten.“ Damit löste ich mich von der Mauer und stellte mich auf die Zehenspitzen, um Joey zu küssen. Meine Hände schlang ich um seinen Nacken, während ich ihn gegen die Wand neben der Eingangstür drückte. Mein Kuss wurde innig erwidert. Joeys Hände legten sich um meinen Rücken und pressten mich fest gegen ihn. Warum ich so reagierte, obwohl ich eigentlich sauer war? Sein Image war ihm wichtig, sein Ruf – und er wusste noch nichts von meiner Vermutung, ob Mei und ihrem Wissen. Das war auch besser so, fürs Erste. Wir lösten unsere Lippen voneinander, nur um uns gegenseitig ein „Ich liebe dich“ entgegenzuhauchen. Unwillkürlich erschien ein Lächeln in Joeys Zügen. Ich war gespannt, wie lange es wohl so bleiben würde.

Hilflos

Joey hatte Wort gehalten – wir hatten ein Bild von Sakura und Mokuba in Händen. Es war ausgesprochen schön gezeichnet. Der kleine Schwarzhaarige strahlte, den Arm um seine vermeintliche Freundin gelegt, welche genauso glücklich schien. Ich musste die Zeichenkünste meines Freundes wirklich loben – sie waren außerordentlich. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich an eine reale Momentaufnahme gedacht. Kaibas Designerin hatte ebenfalls ganze Arbeit geleistet. Das Präsent war elegant verpackt worden. Unter Cellophan, mit blauen Sternen bedruckt, hatte man das Geschenk gut versteckt. Die Folie ließ erahnen, worum es sich handelte, nur um dann die ärgste Neugierde noch mehr anzustacheln. Die Zeichnung hatten Mokuba und ich angeklebt, und mit einem kleinen Namenskärtchen versehen.
 

„Na, bist du bereit?“ Mein kleiner Freund wippte nervös auf dem Sitz der Limousine auf und ab, welche uns zu der Geburtstagsfeier brachte. Ich konnte seine Euphorie leider nicht teilen – mir kreisten immer noch die Worte von Mei im Kopf herum. „Mit Joey Wheeler hingehen“. War das nur Zufall, oder hatte sie diese Formulierung bewusst gewählt?
 

„Hey David? Alles okay?“ Mokuba stubste mich an, was mich aus meinen Gedanken riss. „Hm? Oh ja, klar.“ Ich zwang mich zu einem schiefen Grinsen und zerstrubbelte dem Kleinen die Haare. „Du solltest eigentlich nervös sein, hm?“ Mein Grinsen wurde breit erwidert: „Ach was, wird schon schiefgehen, außerdem bist du ja auch da, oder?“ In der Tat, dennoch hatte ich ein sehr mieses Gefühl bei der Sache.
 

„Hat Sakura wirklich nichts gesagt, wegen einer Kleiderordnung oder so?“ Ich dachte dabei an eine Themenparty mit Kostümen oder so. Mokuba schüttelte den Kopf: „Nein, hat sie nicht. Wir sollen aufkreuzen wie immer.“ Ich nickte leicht und seufzte innerlich. Mir war einfach nicht wohl bei der ganzen Sache. Selbst bei einer Themenparty hätte ich mich wahrscheinlich nicht anders angezogen. Ich trug einen anthrazitfarbenen Hoodie mit weißen Bändern, zum Verstellen der Kapuze, über ein weißes T-Shirt, eine schwarze Jeans und meine schwarzen Sneakers mit dem weißen Streifen auf der jeweiligen Seite. Mokuba hatte sich auch nicht in Schale geworfen: Ein schwarzer Kapuzenpulli, eine Jeans und ebenfalls Sneakers.
 

Als die Limo anhielt, öffnete ich die Türe mit klopfendem Herzen. Ich bereute es bereits jetzt, nicht doch im letzten Moment abgesagt zu haben. Mokuba hüpfte aus dem Wagen, während ich ihm mit meinem Rucksack (samt Schlafsachen für mich und den kleinen Wirbelwind) und dem Präsent ausstieg. Ich hatte ihn auch nicht überzeugen können, nach der Feier zu ihm nach Hause zu fahren. Zum Laufen war die Strecke bei Nacht doch fast zu weit. So musste ich also auch in der Höhle des Löwen nächtigen.
 

Wir überquerten eine gekieste Einfahrt, welche vor einem riesigen Haus endete. Die Fassade bestand aus weißem Holz. Das Treppengeländer, welches zur Haustüre führte, war ebenfalls aus diesem Material gefertigt worden. Insgesamt machte das Haus eher den Eindruck einer kleinen Villa. Das würde zumindest erklären, woher Meis selbstischere Art kam. Mokuba klingelte, und ich schulterte meinen Rucksack. Im Hintergrund konnte ich die Limousine wegfahren hören – damit war ich mehr oder weniger auf mich alleine gestellt.
 

Kurz bevor die Tür aufging, drückte ich Mokuba das Geschenk in die Hand und bettete meine Eigene auf seinem Rücken. Er wirkte mittlerweile doch sichtlich angespannt. „Keine Angst, wird schon, sonst hast du noch immer ein Ass im Ärmel.“ Das zauberte dem Kleinen glatt ein freches Grinsen auf die Lippen, welches auch anhielt, als ein Mädchen in der Tür erschien. Das musste die kleine Sakura sein – sie glich jedenfalls dem Mädchen auf dem Bild, und von Mokubas Foto, bis aufs kleinste Detail.
 

„Moki!“ Damit stürmte sie auf ihn zu, und schlang die Arme um ihn. Dieser erwiderte die Umarmung stürmisch und beide wirkten wie eine verknäulte Masse an Personen, deren Anfang und Ende nicht mehr auszumachen war. „Hey Sakura! Alles Gute zum Geburtstag!“ Bei diesen Worten löste sich das Mädchen von ihm und begutachtete das Geschenk eingehend. „Du spinnst ja, Moki!“ Ich prustete leise, was mir die Aufmerksamkeit des Pärchens bescherte.
 

„Moki? Das ist niedlich!“ Mein Grinsen wurde mit einem Tritt gegen mein Schienbein seitens Mokuba belohnt. „Halt die Klappe!“ Damit wandte er sich auch schon wieder seiner Flamme zu. „Ignorier ihn einfach.“ Sakura lächelte nur und verbeugte sich: „Du musst David sein. Mokuba hat mir schon viel von dir erzählt, genauso wie meine große Schwester. Kommt doch rein – Mei wartet bereits auf dich.“ Hätte sie mir gegen das andere Schienbein getreten, ich wäre froh darüber gewesen. Mei wartete bereits – na toll.
 

Damit betraten wir das Haus, welches genauso eingerichtet war, wie ich es mir gedacht hatte: Überteuert, edel und mit sinnlosem Ramsch vollgestapelt, nur um zu zeigen, dass man Geld wie Heu hatte. Aus dem Nachbarzimmer waren Musik und eine grölende Kinderhorde zu hören. Bravo – das mit dem Babysitten fing jetzt schon an.
 

„Komm, Moki, gehen wir zu den anderen. David? Mei ist oben.“ Damit zog sie ihren Gefährten am Arm (welcher mir noch ein breites Grinsen schenkte) in das vermeintliche Wohnzimmer hinein, während ich im Flur stand und am liebsten mit meinem Schädel die Tür eingeschlagen hätte. Wenn ich Glück hatte, war das damals wirklich nur ein Bluff von Mei geweesen, und ich konnte mich relativ bald in eines der Gästezimmer verkrümeln.
 

Langsam stieg ich die Treppe ins obere Stockwerk hinauf. Ich trödelte bewusst. Wo war Meis Zimmer überhaupt? Diese Frage klärte sich sofort – am Ende des Flurs war ein riesiges Schild angebracht: Mei – mit einem kitschigen Herz als Punkt über dem I. Leise trat ich vor die Tür und klopfte dann lautstark an. Kaum dass ich die Hand zurückgezogen hatte, riss Mei die Tür auf und fiel mir um den Hals.
 

„Hey! Du bist also echt gekommen, Wahnsinn!“ Sie wirkte total überdreht und ihre Stimme überschlug sich fast. Ich ließ die anzügliche Knuddelei über mich ergehen und nickte nur leicht. „Mh, hier bin ich.“ Damit griff ich nach hinten, zu einer Seitentasche meines Rucksacks und zog die Plüschgiraffe hervor, welche ich damals gemeinsam mit Mokuba im Einkaufszentrum besorgt hatte. Wortlos hielt ich sie Mei hin, welche zuerst das Plüschtier, dann mich mit großen Augen anstarrte. „Woher hast du das gewusst?“ Sie zog mich an der Hand in ihr Zimmer (interessanterweise gleich wie Sakura ihren Freund Mokuba) und eröffnete mir damit einen Einblick in ihre Welt.
 

Meis Zimmer war genau das, was ich von einem Mädchen erwartete: Sauber, ordentlich und kitschig. Es war riesig, im Vergleich zu meinem. Ein Doppelbett mit rosa Bettdecke, rosa Tapeten und ein weißer Teppichboden wurden mit einer Couch in einem grässlichen lila, einem riesigen Flatscreen und einigen Postern von irgendwelchen Popstars und Mädchenschwärmen komplettiert. Gratulation – kindisch war gar kein Ausdruck. Das einzig Normale waren wohl die Schränke und der Schreibtisch.
 

„Wirf deine Sachen einfach wohin, ja?“ Sie drapierte mein Geschenk sorgsam neben einigen anderen Stofftieren (einer beachtlichen Sammlung an Teddybären, Giraffen und Kätzchen), und sprang dann wieder auf. Irgendwie hätte ich es gut verstanden, wenn sie keiner zur Freundin haben hätte wollen, nicht umgekehrt.
 

„Na komm, setz dich. Willst du was trinken?“ Ich stellte meinen Rucksack neben die Couch und tat, wie mir geheißen: „Mh, Wasser, wenn du hast.“ Mei schob ihre Unterlippen nach vorne und zog eine Plastikflasche aus einem der unzähligen Schränke hervor. „Ich habe dir extra was aus deiner Heimat besorgt.“ Aus meiner Heimat?
 

Die Flasche zierte die Aufschrift – „Almdudler“. Das war die Kräuterlimonade, welche ich bei meinen Großeltern immer als kleiner Junge hatte trinken dürfen. Wieder ein Zufall?
 

„Ähm, woah, cool. Danke, Mei.“ Ich rieb mir den Nacken und lächelte angespannt. Wie grotesk war diese Situation bitteschön? Vor allem: Was hatte sie vor? Ich beobachtete die Braunhaarige, wie sie die Limo in zwei Gläser füllte und dann auf dem Glastisch vor der Couch abstellte. Dann gesellte sie sich zu mir auf der Couch und sah mich erwartungsvoll an.
 

„Ist etwas? Habe ich etwas im Gesicht?“ Ich griff nach meinem Glas und nippte daran. „Nein, aber ich hatte noch nie so einen exotischen Freund. Auf dem Weihnachtsball werden wir das Traumpaar sein.“ Ich verschluckte mich an meinem Getränk und hatte Mühe, nicht alles durch die Nase auszusondern. Was hatte sie gerade gesagt? Ihr albernes Kichern, welches auf meinen Hustenanfall folgte, ging mir tierisch auf den Geist.
 

„Exotischer Freund? Paar? Mei, wie kommst du darauf, dass wir ein Paar wären?“ Ich wischte mit dem Ärmel meines Pullis über meinen Mund und die Nase. In mir keimte allmählich die Vermutung, dass Mei einerseits eine sehr gute Schauspielerin war, was das naive, schüchterne Mädchen anging, und ich andererseits wahrscheinlich nicht der erste Junge war, den sie so behandelte.
 

„Sind wir nicht? Natürlich sind wir das.“ Damit war sie schon auf meinen Schoß geklettert, und hatte meine Hände um ihren Bauch gelegt. Ich löste die erzwungene Umklammerung sofort und schob sie von mir. „Nein, Mei? Ich kenne dich kaum?“ Gut, die Vermutung hatte sich bestätigt – sie hatte nicht mehr alle Latten am Zaun.
 

Die Braunhaarige ließ sich aber gar nicht beirren, im Gegenteil. Sie grinste nur zuckersüß und schüttelte den Kopf: „Das wirst du schon noch. Ich kenne dich gut genug, und ich weiß von dir mehr als du glaubst.“ Ihre Stimme war nun eiskalt geworden. Ich konnte spüren, wie mir das Herz bis zum Hals schlug. Was meinte sie damit wieder? Angriff oder Verteidigung?
 

„Du kennst mich überhaupt nicht, Mei. Wir leben jeweils am anderen Ende der Welt, und ich bin erst gut zwei, drei Monate hier. Außerdem gilt mein Interesse Mokuba, nicht dir.“ Ich wischte mir noch einmal mit der Faust die letzten Reste Limo von den Mundwinkeln und starrte finster zu meiner Gesprächspartnerin hinab.
 

„ Da irrst du dich, ich kenne dich sehr gut. Zu mir und meinem Ruf passt nur der Junge, der Seto Kaiba die Stirn bietet.“ War sie wirklich so begriffsstutzig, oder tat sie nur so? Sie kaschierte ihre bestimmende, selbstherrliche und herrische Art durch ihr naives, süßes Auftreten. Das war mir klar geworden.
 

„Dann solltest du Yugi fragen, der hat ihn schließlich bereits einmal in einem Duell besiegt.“ Missmutig griff ich wieder nach meinem Glas und nippte daran. Mei in die Augen sehen konnte ich nicht. Mit Mühe brachte ich meine Sätze ohne zitternde Stimme über die Lippen. Mir schwante Böses.
 

„Mh, ich stehe nicht auf kleine Punks. Außerdem läuft der Tea hinterher. Du hingegen, bist anders. Das wissen alle an der Schule, sogar Setos kleiner Bruder. Am Meisten scheint das aber Joey verstanden zu haben, hm?“ Sie grinste süffisant, während ich kreidebleich wurde. Wieder eine Andeutung – das konnte kein Zufall sein.
 

Bemüht ruhig stellte ich das Glas ab und räusperte mich: „Ja, Joey ist mein bester Freund, kann man so sagen.“ Ich entschied mich dafür, fürs Erste auf Dumm zu machen, um zu ergründen, wieviel sie wirklich wusste.
 

„Ach komm schon, David. Das Jungsklo ist nicht der beste Ort, um rumzumachen, hm?“ Sie wickelte dabei eines der Bänder meines Hoodies um ihren Finger. „Du hast zwei Möglichkeiten in meinen Augen, um das Ganze abzukürzen.“
 

Ich schluckte schwer und beobachtete sie bei ihrem kleinen Spiel. Hatte sie vor dem Klo gelauscht? Wirklich? Wusste sie, dass ich und Joey ein Paar waren? Wie sollte ich reagieren? Was würde sie von mir verlangen, dass sie den Mund hielt? Ich konnte fühlen, wie mir der kalte Schweiß auf der Stirn stand.
 

„Entweder, du mimst in der Schule meinen Freund, und auch in deiner Freizeit, oder du machst es nicht.“ Beim letzten Wort zog sie ein wenig an dem Band und zwang mich, sie anzusehen. „Was natürlich bedeuten würde, dass ich dich und deinen Freund auffliegen lasse. Ausflüchte sind sinnlos – Joey Wheeler möchte nicht, dass es an die Öffentlichkeit gerät, dass er mit dem neuen Austauschschüler geht.“
 

Das Miststück war erstaunlich gut informiert. Sie erpresste mich, und sie war in meinen Augen komplett krank. Wozu das alles? Was hatte sie davon? Die Situation war nicht mehr grotesk: Sie war der blanke Wahnsinn.
 

„Warum?“ kam es leise über meine Lippen. Mehr konnte ich nicht sagen. Wie sollte ich es Joey erklären? Wie würde es aussehen, Meis Freund zu mimen? Was hatte sie sich in ihrer kranken Fantasie ausgemalt?
 

„Ich brauche jemanden für den Weihnachtsball, und du bist exotisch und hübsch genug, dass mich die ganze Schule beneiden wird. Über mehr musst du dir nicht Gedanken machen.“ Damit stand sie auf, nahm mich an der Hand und zog mich aus dem Zimmer. „Wir sollten nach unten gehen und die fröhliche Nachricht Mokuba übermitteln, hm? Meine Schwester freut sich sicher auch!“ Im Gehen verwob sie ihre Finger mit den Meinen.
 

Innerlich sträubte ich mich, aber was sollte ich tun? Sie kannte unser Geheimnis, und sie würde es ausplaudern, wenn ich nicht nach ihrer Pfeife tanzte. Selbst ohne Beweise, ich ging nach der Aktion davon aus, dass Mei wahrscheinlich welche hatte, würden die Gerüchte reichen, um Joey in eine missliche Lage zu bringen. Außerdem würde ich ihn dann wahrscheinlich komplett verlieren. So, wenn ich ihm alles erklärte, bestand noch der Hauch einer Chance, dass wir eine Lösung finden konnte. Irgendeine.

Bittere Tränen

Ekel durchzuckte meinen Körper, ausgehend von der Hand, welche Meis umschlossen hielt. Ich wollte mich lösen, wegrennen, oder sie einfach zusammenschreien – konnte und durfte vor allem nicht. Joey hatte mir unmissverständlich klar gemacht, dass niemand von uns wissen durfte. Ich war gezwungen dieses grausame Spiel mitzuspielen. Verzweiflung machte sich in mir breit. Wie weit würde Mei wirklich gehen?
 

Diese riss die Tür auf, und Kinderlärm schlug uns entgegen. Eine Gruppe bestehend aus Jungs und Mädchen hatte sich im Wohnzimmer (meine Vermutung war richtig gewesen), mittig im Raum, im Kreis um eine Flasche gesetzt. Flaschendrehen – typisch. Bei unserem fulminanten Auftritt (so wie Mei die Türe aufgerissen hatte, war es kein Wunder, dass wir die Aufmerksamkeit der Meute bekamen) ruhten schlagartig alle Blicke auf uns.
 

„Ihr habt es also endlich geschafft! Toll! Ich freue mich, Mei!“ Damit sprang Sakura auf und fiel dieser um den Hals. Es wurde immer deutlicher: Mei manipulierte ihr Umfeld geschickt, um zu bekommen, was sie wollte. Ihrer Schwester musste sie entweder etwas vorgegaukelt haben, oder sie steckte mit ihr unter einer Decke. Mei löste endlich ihre Hand von meiner, und ich atmete erleichtert aus.
 

Mokuba kam grinsend auf mich zu und boxte mir gegen die Hüfte. „Das hast du aber schnell geschafft. Da habe ich wohl die richtige Person ausgesucht, um mich anzuleiten.“ Wie Unrecht er doch hatte. Ich wollte ihm aber auch nicht den Abend versauen, zumal, seinem Gesicht nach zu urteilen, es mit Sakura gut klappen musste.
 

„Klar, siehst du doch.“ Mit einem halbherzigen Schmunzeln zerwuschelte ich meinem kleinen Freund die Haare. Dann beugte ich mich nach unten und flüsterte ihm etwas zu: „Vergeig es bloß nicht, beim Küssen später. Ganz vorsichtig und behutsam. Sie hat sicher auch noch niemanden geküsst.“ Damit richtete ich mich wieder auf, und konnte einen dezenten Hauch von Rot auf Mokubas Wangen erkennen.
 

Mei packte mich wieder am Arm und ging nach draußen. Über die Schulter rief sie noch: „Um zwölf macht ihr das Licht aus, und kein Mucks. Mokuba, deine Sachen liegen im Gästezimmer. Gute Nacht.“ Ich konnte die Aufregung in Meis Stimme hören. Warum war sie nervös? Sie hatte doch bereits alles, was sie wollte, oder?
 

Wir stapften zurück zu ihrem Zimmer, in welchem ich unsanft auf die Couch geschubst wurde. Mei schloss die Tür hinter uns ab und grinste unverhohlen. „So, jetzt sind wir ungestört.“ Innerlich sandte ich sämtliche Stoßgebete in den Himmel, es möge doch noch etwas passieren. Irgendetwas, um diese Wahnsinnige von mir abzuhalten. Ein Anruf, ein Klopfen an der Tür oder ein Meteorit, welcher durchs Hausdach schlug.
 

Die Braunhaarige ging auf mich zu, und setzte sich, mit dem Gesicht meinem entgegen, auf meinen Schoß. Sie spreizte dabei die Beine ein wenig und drückte meinen Kopf in die Sofalehne. Bevor ich reagieren konnte, spürte ich schon ihre Lippen auf den Meinen. Sie waren weder warm noch weich, wie die von Joey, im Gegenteil: Ich empfand sie als kalt und gierig. Mein ganzer Körper versteifte sich und ich drückte das Mädchen von mir weg.
 

Mei lächelte nun nicht mehr. In diesem Moment konnte ich wahrscheinlich die echte Mei Nakamura sehen. Sie wirkte ernst, regte keinen Muskel im Gesicht, zuckte nicht einmal. Wie eine Statute blickte sie auf mich herab, nur um dann mit einem fordernden, drohenden Unterton zu sprechen: „Entweder machst du mit, oder morgen weiß die ganze Schule von dir und Joey.“ Damit beugte sie sich wieder nach unten und küsste mich erneut.
 

Ich fühlte mich so hilflos, so machtlos. Was sollte ich tun? Wieder durchzuckte der Ekel meinen Körper, dieses Mal von den Lippen ausgehend. Dieses Mädchen war total verrückt, oder auf irgendeinem wahnsinnigen Rachetrip. Das Schlimmste: Ich musste mitziehen, sonst würde ich alles verlieren – wobei das in Joeys Fall ohnehin schon mit an großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen war. Wie der Löwe und das Lamm, nur dass ich nicht der Löwe war.
 

„Noch einmal, mach endlich mit. “ Mei hatte sich kurz gelöst, nur um mich dann wieder zu küssen. Ihre feuchte, widerwärtige Zunge strich über meine geschlossenen Lippen. Die Hände hatte sie auf meinen Nacken und Hinterkopf gelegt, sich mir entgegenpressend. Meis Blick war bar jeder Wärme und Zärtlichkeit. Er war eiskalt, fordernd und drohend. Noch einmal würde sie mich wohl nicht „bitten“.
 

Ich öffnete meine Lippen einen Spaltbreit. Ihre Zunge verwob sich augenblicklich mit der meinen. Meis Finger in meinen Haaren zogen grob an diesen, während sich die andere Hand vom Nacken auf meine Brust bequemte. Ich wollte schreien, sie wegstoßen, davonlaufen, am besten alles zeitgleich. Sie widerte mich an, genauso wie ich mich selbst. Vor meinem geistigen Auge erschien Joey, welcher lächelte, mir den Reis eingab, mich in den Arm nahm. Dabei tat ich das Einzige, was ich in dieser Situation konnte: Stumm weinen. Salzige Tränen liefen über meine Wange, während ich Meis Aufforderung nachkam, und ihren Kuss erwiderte.
 

Dieses vermeintliche Liebesspiel war grausam. Mei war grausam. Mit einer einzigen Tatsache hatte sie mich in die Knie gezwungen, mich hilfloser gemacht, als ein Kleinkind, welchem man den Lutscher wegnahm. Immer wieder geisterte mir die Frage des Warums durch den Kopf. Was hatte ich ihr getan? Was hatte ihr Joey getan?
 

Meis Lippen lösten sich endlich von meinen, nur um mich auffordernd anzublicken. „Was?“ fragte ich leise und sah zur Seite. Diesen Augen haftete etwas Böses an. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Diese Erpressung, wie sie mich berührte, grob zwang, ihren Wünschen nachzukommen – am liebsten wäre ich gestorben, so hilflos fühlte ich mich.
 

„Los, zieh den Pulli aus, und dein Shirt auch, wenn du eines trägst.“ Wieder folgte ich stumm ihrem Befehl. Mei inspizierte mich kurz, nur um dann mit den Fingern über meine Brust zu streicheln. Ihre Berührungen ließen mich erschaudern, aber nicht vor Erregung sondern vor Abscheu. Ihre Nägel ritzten über meine Haut und hinterließen eine feine Blutspur.
 

„Besser noch als angenommen. Wirklich, da hatte ich einen guten Riecher.“ Ich unterdrückte die nächsten Tränen, als sie meine Hände nahm und an ihrem Rücken, knapp über dem Hintern platzierte. Ein wenig weiter oben konnte ich den Bügel ihres BHs ertasten. Nein, ich würde das nicht machen. Das war zu viel.
 

„Du bist jedenfalls ein Weichei, das steht fest. Aber für meine Zwecke genügst du vollkommen.“ Mei rutschte von meinem Schoß. Ich atmete erleichtert aus und bückte mich nach meinen Sachen. „Nanana, mehr als maximal eine Schlafhose wirst du nicht brauchen. Los, mach dich bettfertig, ich bin müde.“ Ihr Ton war herrisch, gebietend und ließ keine Widerrede zu. Selbst wenn ich widersprochen hätte – es hätte nichts geändert. Ich musste mich fügen, fürs Erste zumindest. So schnappte ich mir meinen Rucksack und verzog mich ins angrenzende Bad. Dort schloss ich die Tür hinter mir ab und rutschte an dieser mit dem Rücken entlang. Mein Gesicht vergrub ich in den Händen und weinte stumm.
 

Wie sollte ich das alles nur durchstehen? Joey würde mich hassen, auch wenn ich es aus Liebe zu ihm tat. Mei hatte mich in ihren schmierigen Klauen und würde mich winselnd zappeln lassen. Nach außen hin musste ich perfekt schauspielern, durfte mir nichts anmerken lassen. Für meine Freunde würde ich der Held sein – der Junge, der Mei Nakamura aufgerissen hatte. Für den Menschen, den ich, nebst meinen Großeltern abgöttisch liebte, würde ich ein Monster sein.
 

Verzweiflung keimte in mir auf. Ich fühlte mich wie damals, mit der Schwester meiner besten Freundin. Sie in den Armen eines anderen zu sehen, zu sehen wie sie geküsst wurde, sich an ihren Freund schmiegte; ich bin dabei innerlich beinahe zerbrochen. Kummer und Schmerz kämpften in mir um die Oberhand und ein Teil von mir hatte sich gewünscht zu sterben. Es gab Momente, in denen hatte ich gehofft in einen ewigen Schlaf fallen zu dürfen. Wie süß erschien mir doch damals die kalte Schwärze des Jenseits?
 

„Bist du es bald? Mokuba war schon da, seine Sachen holen.“ Mei klopfte gegen die Tür und riss mich aus meinen Gedanken. Ich musste stark sein und durfte keine Schwäche zeigen, nicht noch einmal. Diese Genugtuung würde ich ihr nicht lassen. Eilig schlüpfte ich aus meiner Kleidung, putzte mir die Zähne und wischte mir die restlichen Tränen aus den Augen. So einfach würde ich es ihr nicht machen. Nur mit meiner kurzen Trainingshose bekleidet verließ ich das Bad, den Rucksack geschultert. Mei lag bereits im Bett. Die Bettdecke verhüllte ihren Körper, ließ aber ein pinkes Trägertop hervorblitzen. Obwohl sie durchaus ein schönes Mädchen war, widerte mich Mei an. Bemüht ruhig und hocherhobenen Hauptes schritt ich zu der leeren Bettseite, stellte meinen Rucksack ab und legte mich ins Bett.
 

„Mach dich nicht zu breit, weck mich nicht und erdreiste dich nicht zu schnarchen.“ Damit konnte ich Meis Hand auf meiner Brust spüren, was ein unangenehmes Gefühl in meinem Körper entstehen ließ. Ich wurde noch immer nicht ganz schlau aus ihren Handlungen – sie war entweder eine durchgeknallte Psychopathin, oder sie konnte sich nicht entscheiden. Ich entschied mich dazu, zu versuchen, zumindest ein wenig zu schlafen, was mir schlussendlich auch gelang.

Seppuku als Rache

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Zwei Brüder

Es schneite schwach. Mir war bereits nach fünf Minuten kalt, und Mokubas Gewicht machte sich auch bemerkbar, dennoch – ich konnte und wollte nicht zurück. Außerdem war es das Beste für den Kleinen, wenn er weit weg von Sakura war. Mein Atem bildete eine Wolke über unseren Köpfen, während sich Mokuba weiterhin an mich klammerte. Er hatte mittlerweile wieder einigermaßen aufgehört zu weinen, was mich beruhigte. Obwohl es mir selbst wirklich dreckig ging, war ich doch mehr um meinen kleinen Schützling besorgt, als um mich selbst.
 

„Mokuba? Weißt du, dass ich sehr stolz auf dich bin?“ Im fahlen Licht der Laternen, welche unseren Weg erleuchteten, sah ich, wie der Schwarzhaarige zu mir aufblickte und sich vorsichtig mit dem Jackenärmel über die Augen wischte. „Ich hatte damals nicht weinen können, als mir meine erste große Liebe einen Korb verpasste. Ich habe es in mich hineingefressen, war verbittert, zornig und unausstehlich. Mein Umfeld litt sehr unter der Situation, mehr noch als ich vielleicht.“ Reflexartig drückte ich den Kleinen fest an mich und strich ihm über die Schulter. Das hatte einen netten Nebeneffekt: Seine Jacke war gut gefüttert, sowohl innen, als auch außen.
 

„S-Seto meint, man solle seine Gefühle nicht zeigen, weil das eine Schwäche sei, die man ausnützen könnte.“ Mokubas Stimme war brüchig und der Satz abgehackt, aber einigermaßen verständlich. „Ist es nicht, Mokuba. Wer Gefühle zeigt, der verarbeitet sie. Du hast alles richtig gemacht. Jeder zeigt einmal seine Emotionen, sogar dein Bruder.“ Ich zitterte bereits am ganzen Körper, und wir waren erst gut fünfzehn Minuten unterwegs; das Gespräch lenkte mich aber davon etwas ab.
 

„M-Manchmal schon, ja. Vor allem, seitdem du bei uns öfter im Haus bist. Er nimmt mich mittlerweile ab und an in den Arm, setzt sich zu mir ans Bett, und nimmt sich Zeit, egal wie viel Stress er in der Firma hat.“ Auf seine Worte hin musste ich unwillkürlich lächeln. Kaiba hatte sich meine Worte wohl wirklich zu Herzen genommen. „Ich glaube, Mokuba, dass dein großer Bruder eigentlich ein sehr liebenswerter, zärtlicher Mensch sein kann – dir gegenüber zumindest. Außerdem, wenn er mal keine Zeit hat, hast du ja noch einen anderen Bruder, hm?“ Ich schmunzelte ob Mokubas verwirrtem Gesichtsausdruck. „Hör mal, Mokuba. Ich bin siebzehn, und habe keine Geschwister. Vor dir wusste ich gar nicht, wie es ist, jemanden so gern zu haben, lieb zu haben. Obwohl du manchmal ein kleiner Quälgeist bist, so würde ich dich um nichts in der Welt hergeben. Wenn du möchtest, kann ich auch so etwas wie dein großer Bruder sein. Natürlich nicht so wie es Seto ist. Er hat mehr Geld, kennt dich besser, sorgt für dich und ist bestimmt ein toller Bruder, aber ein Zweiter schadet sicher nicht, oder?“
 

Die nächste gefühlte halbe Stunde herrschte Stille. Ich hatte wohl etwas Falsches gesagt, bis Mokuba sich in meinen Armen rührte. „Mh, ich habe dich lieb, David. Ich wäre froh, wenn du mein großer Bruder wärst.“ Seine rechte Hand krallte sich in mein Shirt und der kleine Quälgeist schmiegte sich an meine Brust. Irgendwie erfüllten mich seine Worte mit Stolz, und ließen mich das Bibbern und die Kälte fast vergessen, welche meinen Körper heimsuchten. „Das freut mich, Mokuba. Wenn wir zuhause sind, duschst du heiß und gehst dann ins Bett, ja?“ Mokuba nickte nur und hielt sich weiter an mir fest.
 

Mit meinem Bündel auf den Armen und am Rücken stapfte ich also durch die verschneite Kulisse von Domino City. Die Läden hatten alle bereits geschlossen oder waren am Schließen. Ich spürte meine Finger fast nicht mehr, und auch meine Beine waren taub geworden. Trotz dieser Umstände stapfte ich weiter und lächelte unbewusst. Mokuba war eingeschlafen. Der Kleine war mir tatsächlcih ans Herz gewachsen. Ich liebte ihn wirklich, nicht so wie Joey, oder meine Großeltern, anders aber doch sehr.
 

Als wir endlich das Tor der Kaibavilla erreichten, seufzte ich erleichtert auf. Noch zehn Minuten länger, und ich wäre wahrscheinlich erfroren. Umständlich drückte ich mit dem Ellenbogen gegen den Knopf der Sprechanlage. Ich hoffte, dass noch jemand wach sein würde.
 

„Wer besitzt die Frechheit, zu so später Stunde noch zu stören?“ Kaibas Stimme fauchte mir entgegen. Warum war er bitte noch wach? Hatte er dafür nicht Dienstpersonal. „Ich bin es, mit Mokuba auf dem Arm. Es ist arschkalt – würdest du bitte aufmachen?“ Eine Sekunde später surrte das Tor und schwang nach innen. Ich hechtete die Einfahrt hinauf, wo Kaiba schon auf uns wartete.
 

„Wie siehst du aus? Ist etwas mit Mokuba?“ Die erste Frage war gewohnt giftig, die zweite besorgt. Sein Blick spiegelte Letzteres auch wider. „Sakura hat ihm einen Korb verpasst, daher bin ich mit ihm zurückgekommen. Er schläft gerade, das ist alles.“ Der CEO nickte wortlos und schloss die Tür hinter mir. „Er sollte vielleicht heiß duschen und noch was Warmes trinken.“ Das Bündel in meinen Armen rührte sich dezent. Entgegen meiner Erwartungen wachte er nicht auf, sondern drehte sich nur ein wenig.
 

„Lass ihn schlafen. Bringst du ihn in sein Zimmer hoch?“ Kaibas Stimme war mit einem Mal äußerst freundlich geworden. Ich verstand die Welt nicht mehr – zuerst Mei und jetzt das. Drehten heute alle völlig durch? „Klar. Ich lege ihn ins Bett und würde dann auch hier übernachten, wenn ich darf?“ Auch hier wurde ich enttäuscht: Der Braunhaarige nickte nur und ich meinte fast ein Lächeln auf seinen Lippen erkennen zu können.
 

„Das Gästezimmer ist frei, wobei ich nicht glaube, dass du in deinem eigenen Bett nächtigen wirst.“ Ich blinzelte und sah vom großen zum kleinen Kaiba und wieder zurück. „Du bist nicht eifersüchtig?“ Seto schüttelte leicht den Kopf: „Nein, bin ich nicht. Bilde dir zwar nichts drauf ein, aber Mokuba hat mir von dir erzählt. Wie du dich um ihn gekümmert hast, und dass er dich sehr mag. Das hat mich ein wenig zum…Umdenken bewegt. Ich muss dich nicht in meiner Nähe haben, und als Freunde würde ich uns auch nicht bezeichnen, aber mein kleiner Bruder verbindet uns. Ich habe schon Wheeler in meinem Haus als regelmäßigen Gast akzeptiert, und der ist deutlich nervtötender als du.“
 

„Gut, dann, sehe ich mal zu, dass ich den kleinen Racker ins Bett bringe.“ Kaiba nickte erneut und wandte sich ab. „Ich möchte sowieso morgen mit dir sprechen.“ Damit war er auch schon in den Untiefen der Villa verschwunden.
 

Langsam stieg ich die Treppe hoch und schlich in Mokubas Zimmer. Diesen drapierte ich vorsichtig auf seinem Bett und sah an mir herab. Mein Shirt war klitschnass von geschmolzenem Schnee und Schweiß. Ich zitterte mittlerweile so stark, dass ich nur mit Mühe ein Klappern der Zähne unterdrücken konnte. Wie verlockend mir die Bettdecke erschien, in welche Mokuba sich eingemümmelt hatte.
 

„Was ist? Willst du da Wurzeln schlagen?“ Der kleine Wirbelwind grinste mir frech entgegen. Wann war er wach geworden? „N-N-Nein.“ Ich schlüpfte aus dem Shirt und den Schuhen. Eine Dusche hielt ich nicht für vorteilhaft: Mir war zu kalt, und dann plötzlich heißes Wasser auf der Haut konnte das Brennen nur noch verstärken. Stattdessen kletterte ich ins Bett und kuschelte mich in die Decke. Ein wenig noch, und es würde wärmer werden.
 

Mein kleiner Gefährte kuschelte sich plötzlich an mich. Ich schrägte den Kopf und wurde mit einem Lächeln belohnt. „Dir muss total kalt sein, mir ist warm…“ Irgendwie war das äußerst niedlich und süß von ihm. „Danke.“ Das Brennen auf der Haut ließ nach und ich schlang meine Arme um den kleinen Kaiba.
 

„Schlaf jetzt, es ist schon spät und außerdem wollen wir morgen nicht den ganzen Tag verpennen, oder?“ Mokuba schüttelte den Kopf: „Nein, will ich nicht. Gute Nacht, David. Hab dich lieb!“ Ich lächelte wieder: „Ich dich auch, Mokuba. Wenn du nicht schlafen kannst, mach ruhig den Fernseher an, oder weck mich, ja?“ Mein Angebot wurde von einem leisen, regelmäßigen Atmen beantwortet. Er musste wirklich geschafft sein. Das war gut: Mir war es damals nicht möglich, zu schlafen. In mein Nest aus Decken und Mokuba gekuschelt, schlief ich ein, und vergaß den heutigen Tag – zumindest für einige Stunden.

Revanche

„David! Wach auf!“ Leise stöhnend öffnete ich die Augen und starrte zu einem fixfertig angezogenen Mokuba hinauf, welcher äußerst aufgeregt wirkte. Müde fuhr ich mir durchs Gesicht. „Mensch, hast du eine Ahnung wie müde ich bin? Ich durfte dich und den Rucksack durch die halbe Stadt tragen.“ Genervt setzte ich mich auf. „Was ist überhaupt los?“
 

Mein kleiner Freund zog nur aufgeregt an meinem Arm. „Wir haben ein Problem, Seto möchte dich sprechen. Zieh dich an, sofort!“ Aha, die Kaiba Corp hatte ein Problem. Toll, aber was ging mich das an? „Mokuba? Geschäftliche Probleme von euch interessieren mich eigentlich nicht“ antwortete ich dezent genervt auf die Handlungen des Schwarzhaarigen. Dieser zog nur noch fester an meinem Arm. „Es ist etwas mit Joey!“ Mit einem Mal war ich hellwach.
 

„Wie, mit Joey? Was ist los?“ Im Fragen entwand ich mich aus Mokubas Griff und schlüpfte hastig in meine Sachen, welche noch immer ein wenig nass vom vorigen Tag waren. „Seto soll es dir erzählen, komm jetzt!“ Kaum in den Schuhen, rannte ich Mokuba hinterher, welcher mich in die Eingangshalle der Kaibavilla führte. Dort standen Kaiba, Yugi und Tristan, welche sich angeregt zu unterhalten schienen. Ersterer drehte sich beim Getrappel unserer Schritte um.
 

„Ah ja. Wie ich sehe sind wir vollzählig.“ Seto winkte mich heran und ich blickte in ernste Gesichter. „Leute, was ist los? Wo ist Joey?“ fragte ich mit zitternder Stimme. Ich malte mir die schlimmsten Szenarien aus. Ein Unfall, er sei überfallen worden, solche Dinge eben. „Deine kleine Freundin scheint sich für gestern rächen zu wollen“ antwortete Kaiba mit einer äußerst ruhigen Stimme. Sein Blick wirkte teilnahmslos, nur auf seinen Lippen lag ein kühles, amüsiertes Lächeln. „Wie, meine kleine Freundin? Was? Mei?“ Unsicher starrte ich in die Runde. Was hatte das Gör ausgefressen, vor allem: Was hatte Joey damit zu tun?
 

„Nun, es ist so, also. Ganz ruhig bleiben, David, aber Mei und Joey sind im virtuellen Cyberspace, also einer Art Game, die Kaiba einmal entwickelt hat“ begann Tristan vorsichtig. Jeder, mit Ausnahme von Kaiba, schien meinem Blick auszuweichen. „Und?“ fragte ich ungeduldig. Mir riss allmählich der Geduldsfaden. „Mei möchte, dass du dich ins Spiel einloggst, ansonsten wird sie Joey etwas antun“ fuhr Tristan fort. Ich lachte daraufhin nur abfällig: „Leute, das ist ein Game. Joey soll sich einfach ausloggen, und die Wahnsinnige wird dann von der Polizei in die Irrenanstalt gesteckt?“
 

„Nun, die Kleine hat die Sicherungen herausgenommen und das Spiel ein wenig modifiziert. Wie, weiß ich selbst noch nicht, jedenfalls spürst du, Wheelers Schreien nach zu urteilen, den Schmerz wirklich. Außerdem kann ich als Administrator nicht einloggen. Wenn sie ihn im Spiel umbringt, kann es sein, dass er in der Realität auch stirbt.“ Mir blieb die Luft weg. Nur mit Mühe hielt ich mich auf den Beinen. Kurz wurde mir schwarz vor Augen. Starke Arme fingen mich auf und Momente später lugte ich zu Tristan hinauf.
 

„Joeys Schreie? Was, was meinst du damit?“ Panisch wanderte mein Blick zu Kaiba hinüber, während Tristan mich wieder aufrichtete. „Sagen wir, sie hat uns eine Nachricht zukommen lassen. Du alleine sollst ins Cyberspace kommen, wenn du Wheeler retten möchtest“ erwiderte der CEO mit monotoner Stimme. „Wir arbeiten bereits daran, dass wir sie aus dem Spiel zwingen, aber das dauert. Wenn du bis zu ihrer Position gelangst, kann ich mich dementsprechend revanchieren. Ich werde an deinem Avatar ein Tracerprogramm anbringen, welches ich unter die Signatur einfüge. Damit kann ich dir indirekt helfen und am Ende das Ganze geradebiegen.“ Ich verstand nur Bahnhof. Tracerding, Signatur, was?
 

„Wie wäre es, wenn man einfach den Saft abdreht? Strom ausschalten und so?“ Ich klammerte mich verzweifelt an jede noch so kleine Möglichkeit, wobei meine Hoffnung mit jeder Sekunde mehr zu schwinden begann: Kaiba war durchaus intelligent und hätte sich mit einer so naheliegenden bereits eingehend beschäftigen können. „Das hätte den gleichen Effekt wie ein Ingametod. Wir haben die Behörden bereits verständigt, und sie werden uns unterstützen, aber dennoch wirst du reingehen müssen und Wheeler retten. Wir werden dir aber einen Vorteil verschaffen.“ Der CEO lächelte abfällig und bedeutete uns mit einem Nicken zu folgen.
 

„Ich weiß, das ist viel verlangt, David, aber bitte, versuche Joey zu retten. Wir sind immer bei dir, in Gedanken und mit unserem Herzen.“ Yugi legte mir die Hand auf die Schulter, genauso wie Tristan. Mokuba trottete schweigend neben seinem Bruder her. „Wenn ich versage, dann gehe ich auch drauf, oder?“ fragte ich leise, den Kopf gesenkt. Betretenes Schweigen signalisierte mir, dass ich wohl Recht hatte.
 

Wir kamen in einem futuristisch anmutenden Raum an. Der Boden und die Wände waren mit Aluplatten ausgelegt worden. Ein riesiger Rechner stand in der Ecke, an dem dutzende Bildschirme angeschlossen waren. Es blinkte surrte und piepte aus Richtungen. In der Mitte des Raumes befand sich eine Art Kapsel. Sie war mit einer Glasscheibe ausgestattet, schneeweiß und mit dem Rechner über ein dickes Kabel verbunden. Ich konnte auch einen Schacht erkennen, in welchen man eine Karte stecken musste, wie bei den Brillen, nur waren dort mehr Schlitze vorhanden.
 

„Gut, dann sollen dir Muto und Taylor den Plan erklären, während ich mich um die Einstellungen kümmere.“ Damit setzte sich Kaiba auch schon an den Rechner und begann wild auf der Tastatur herumzutippen. Mokuba folgte ihm und wich meinem Blick aus. Meine Aufmerksamkeit wurde schlagartig auf Yugi gelenkt, welcher sich räusperte.
 

„Also, wir wissen nicht genau, was dich da drinnen erwartet.“ Yugi legte dabei seine Hand auf meine Schulter. Irgendwie wirkte er wieder anders als sonst. Seine Stimme war tiefer und ruhiger geworden, sein Griff härter und in seinen Augen brannte Entschlossenheit in einem Ausmaß, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Unweigerlich musste ich wieder auf das komische, pyramidenartige Puzzle um seinen Hals starren.
 

„Nimm dein Deck hervor und konzentriere dich: Welcher Karte wohnt dein Herz inne?“ Mein Herz? Das war wohl nicht gerade die Zeit, für solche Spielchen, dennoch: Irgendetwas an Yugi bewog mich dazu, seiner Aufforderung nachzukommen. Ich fächerte mein Deck auf und atmete tief durch. Mit geschlossenen Augen zog ich eine einzelne Karte hervor. Ein angenehmes Prickeln durchlief meine Fingerspitzen. „Wie ich es mir gedacht hatte“ lächelte Yugi verschmitzt und nickte mir zu. Ich hielt meinen Schwarzen Magier in Händen. „Ich dachte eigentlich an mein Rotauge.“ Ich drehte die Karte zwischen meinen Händen. Es wirkte fast so, als würde mir der Schwarze Magier zunicken.
 

„Der Schwarze Magier glaubt an dich, wie du an ihn und dein Rotauge. Er wird dich unterstützen und bei dir sein, genauso wie wir alle. Tea und Bakura werden nachkommen. Hör mir zu – wir werden dich jetzt gleich zu einem der mächtigsten Duelmonster verschmelzen, mit der Kraft der Freundschaft. Du steuerst deinen Schwarzen Magier bei, ich meinen Buster Blader und Tristan seine Fusionskarte. Kaiba wird dich ins Spiel bringen und du kämpfst dich zu Joey vor.“ Ich hob meinen Blick und bemerkte, wie mich alle, ausgenommen Kaiba, anstarrten.
 

„Ich weiß es ist seltsam, aber glaube an dich, und das Herz der Karten. Wir glauben auch an dich.“ Tristan lächelte mir entgegen. „Du musst nur zu Joey gelangen, David. Mei überlässt du Kaiba.“ Ich nickte Yugi zu und atmete tief durch. Dann trat ich an die Kapsel heran und schob mein Deck wieder in die Hosentasche. Den Schwarzen Magier behielt ich zwischen den Fingern. Tristan und Yugi folgten mir, jeder eine Karte in der Hand. Mit einem zischenden Laut öffnete sich die Kapsel.
 

„Schiebt die Karten jetzt rein, die Fusionskarte mittig.“ Wir taten wie geheißen und farbiges Licht durchzuckte die Platinen der schwarzen Box, welche den Kartenschacht markierten. Bemüht ruhig stieg ich in die Kapsel und beobachtete die Glasscheibe, wie sie sich über mir schloss. „Wir glauben an dich und sind immer bei dir, vergiss das nicht.“ Mokuba, Yugi und Tristan hoben die Hand und winkten mir, genauso wie Tea und Bakura, welche gerade die Tür hereingestürmt waren, zu. Ich konnte erkennen, wie Mokuba weinte.
 

„Es ist nicht deine Schuld, Mokuba! Wir biegen das schon gerade, glaub an mich!“ Damit wurde mir schwarz vor meinen Augen.

Ein leises Flüstern

Ich befand mich in einem großen, kreisrunden Saal der einzig aus Glas zu bestehen schien. Jeder noch so kleine Winkel war mit Spiegeln bedeckt worden. Mein Spiegelbild starrte mir aus dutzenden Richtungen entgegen. Ich sah…anders aus.
 

Meine Haare waren braun und länger geworden. Strähnen davon hingen mir aus dem Helm heraus, welcher noch die charakteristische Krümmung des Schwarzen Magiers aufwies. Meine Hautfarbe war von weiß zu einer Art graugrün gewechselt. Meine Augenwinkel waren mit einer schwarzen Umrandung versehen und zwei gerade Striche, welche gerade nach unten verliefen, ließen es so wirken, als ob ich weinen würde.
 

Die Rüstung an meinem Körper musste extrem schwer sein. Schwarzblaue Panzerplatten wurden von goldenen Linien und Verzierungen unterbrochen und grenzten jedes einzelne Plattenstück voneinander ab. Grüne, kreisrunde Edelsteine zierten verschiedene Stellen der zweiten, metallenen Haut.
 

In meiner rechten Hand hielt ich einen Stab, der mehr wie eine Hellebarde wirkte, denn sonst etwas. Die scharfe Seite war gewellt geschmiedet worden, und an den Ausläufern mit goldenen Spitzen verziert worden.
 

Ich musste mir eingestehen, dass ich mehr wie ein Krieger, denn wie ein Magier wirkte. Diese Gestalt gefiel mir aber. Mein Gesichtsausdruck spiegelte Entschlossenheit wider. Ich hatte den metallenen Waffenstiel fest umklammert. Aus irgendeinem Grund war ich sicher, dass ich gewinnen würde, egal welche Hindernisse mir Mei auch in den Weg legen mochte.
 

„Mahad.“ Ein leises Flüstern durchzog den Raum. Die Stimme war weich, freundlich und vertraut. Ich hatte sie schon einmal wo gehört, nur wo? „Mahad.“ Erneut wanderte das Wispern, schien von jeder Richtung zu kommen und doch von keiner. Ich sah mich um, konnte aber niemanden erkennen. War das ein Trick?
 

„Wo bist du?“ Meine Stimme wurde gefühlte tausendmal gebrochen und wieder zurückgeworfen. Mein eigenes Echo machte mich beinahe wahnsinnig. Wie konnte es sein, dass die fremde Stimme nicht den gleichen Effekt auslöste? Ich unterdrückte mit Mühe den Drang, mir die Ohren zuzuhalten, was angesichts des Helmes auch ein wenig sinnlos gewesen wäre.
 

„Das Blut Mahads – Fleisch meines Fleisches.“ Ich seufzte laut. Das war doch sinnlos. Wahrscheinlich nur ein billiger Trick von Mei. Ich beschloss, die Stimme vorerst zu ignorieren und einen Weg aus dem prismatischen Gefängnis zu suchen. Ein genaueres Umsehen ließ keinen Ausgang erkennen. Irgendwo musste aber eine Lichtquelle sein, sonst wäre es stockfinster im Raum gewesen. Andererseits befand ich mich in der virtuellen Realität – Naturgesetze mussten hier nicht zwangsläufig gelten.
 

Vorsichtig machte ich einen Schritt. Der spiegelglatte Boden war fest und zeigte doch nur die Decke über mir. Ein Blick nach oben verriet mir, dass es sich dort genau gleich verhielt. Hier musste doch irgendwo eine Tür oder ein Ausgang sein.
 

„Ein Teil des Ganzen, ein Teil von Mahad. Der Spiegel der Seele, ein Teil von mir.“ Ich rollte genervt mit den Augen. Dieses flüsternde Etwas war nicht gerade hilfreich. „Zerbricht einer, zerbrechen alle.“ Sollte ich die Spiegel zerschlagen? War es das, was die Stimme mir mitteilen wollte?
 

Ich stieß einen lauten Schrei aus, der mich dazu zwang, in einer sinnlosen Geste die Hände an meinen Helm zu pressen. Mein Spiegelbild war verschwunden, stattdessen befand sich ein junger Mann, um die zwanzig Jahre, mit braunen Haaren und einem orientalischen Touch, in jedem einzelnen Prisma. Dieses Gesicht, welches unter der weißen Kapuze mit dem goldenen Diadem hervorlugte…
 

„Du hast dich damals schon einmal in meiner Schwertklinge gezeigt!“ Ein Lächeln erschien auf den Zügen des dunkelhäutigen Mannes. Sein Auftreten wirkte so erhaben. Seine Haltung, seine Mimik – selbst beim Lächeln wirkte er ehrfürchtig.
 

„Das hast du richtig erkannt, David. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile.“ Das Flüstern; er war diese Stimme gewesen! „Ich bin kein Wesen dieser Welt, ich existiere außerhalb davon. Du kennst mich nicht, aber ich dich.“

Kaiba hatte wohl einen äußerst seltsamen Humor. Seine eigenen Kreationen verweigerten es, sich als künstliche Intelligenz zu outen. Irgendetwas an dem Fremden ließ mich aber fast an seine Worte glauben. „Wer oder was bist du dann?“
 

Sein Lächeln wurde nur noch breiter und er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin dein Vorfahre, du in einem anderen Leben.“ Nun musste ich ein leises Lachen unterdrücken. Reinkarnation? Das widersprach meiner Erziehung und meinem Glauben.
 

„Wir haben nicht viel Zeit. Dein Freund wird hier festgehalten, und seine Zeit schwindet. Ich kann dir helfen, wenn du mich lässt.“ Ich schrägte den Kopf. Ich sollte Hilfe annehmen, von einem Wildfremden? Was, wenn es doch nur ein Trick von Mei war?
 

„Lass mich dir helfen, mit dir verschmelzen, nur für diesen einen Kampf.“ In mir regte sich etwas. Ich blinzelte angestrengt. Bilder flackerten vor meinem geistigen Auge auf. Ein riesiger Palast inmitten einer Wüste, Steintafeln, ein glitzernder, goldener Ring mit einem Auge, welches von einem Dreieck umspielt wurde.
 

„Was ist mit mir los?“ fragte ich mich selbst und griff mir an den Kopf. Irgendetwas lief hier falsch und mich beschlich das Gefühl, dass das hier nicht Teil des Spiels war. „Du erinnerst dich, oder? An den Palast, an die Spiele der Schatten…“ Was schwafelte der Typ da eigentlich?
 

„Ich habe weder Zeit noch Muße, Mahad, oder was auch immer du bist. Was hast du davon, mir zu helfen? Joey geht dich nichts an, und die letzten 17 Jahre hast du dich auch nicht um deine Reinkarnation gekümmert.“ Sicherlich war es gemein von mir, aber mir lief die Zeit davon. Ich wollte gar nicht wissen, was Mei mit Joey inzwischen anstellte.
 

Der Braunhaarige lächelte nur und schob die Hände in seine weißen Robenärmel. „Das stimmt so nicht, aber wir haben in der Tat keine Zeit uns zu unterhalten. Der Pharao wird dich aufklären. Sollen wir zusammenarbeiten?“ Der Pharao? Was? Mich beschlich das Gefühl, dass ich hier wirklich mit einer Art Geist sprach.
 

„Ich..“ Warum zögerte ich? Meine Antwort sollte eindeutig „Nein“ lauten. Dieses wildfremde Etwas vor mir war…so vertraut. Sein Lächeln zog mich in den Bann. „Ja, wenn du mir hilfst Joey zu retten, kannst du verlangen, was du willst.“ Hatte ich das wirklich gesagt?
 

„Ich verlange nichts von dir.“ Mahad nickte nur und schloss die Augen. Jeder einzelne Spiegel wurde plötzlich gleißend hell nur um mit einem lauten Klirren zu zerbrechen. Rasch bedeckte mich mit der freien Hand meine Augen. Was war hier nur los?
 

Ich spürte ein angenehmes Prickeln, ausgehend von meinem Herzen. Es war so, als ob jemand in meiner Nähe war, auf mich aufpasste, mich beschützte. Ich hatte das Gefühl manchmal beim Beten in der Kirche. War es möglich, dass dieser Geist… Nein, oder doch?
 

„Wir sind nun kurzzeitig eins. Ich übernehme die Kontrolle, bis zu einem gewissen Punkt. Keine Angst – vertraue mir einfach.“ Seltsamerweise beruhigten mich die Worte Mahads in meinem Kopf tatsächlich.
 

Nachdem ich die Hand gesenkt hatte, war ich von einer Horde Elfenschwertkämpfer eingekreist. Jeder einzelne hatte bereits seine Klinge erhoben, oder wartete darauf, dass ihm sein Hintermann Platz machte.
 

Kalter, weißer Marmor prangte dort, wo noch eben die Spiegel gehangen waren. Mahad hatte ganze Arbeit geleistet. Wie sollte ich jetzt jedoch mit diesen Dingern fertig werden? Ein paar konnte ich sicher ausschalten, aber so viele?
 

„Du bist nicht mehr nur der Schwarze Magier, du bist jetzt der Dunkle Paladin. Dein Ka ist mein Ka, und somit auch das des Schwarzen Magiers. Ich denke, wir sollten das Ganze abkürzen.“ Mahad klang so selbstischer, so überzeugt. War ihm bewusst, dass wir einer Horde Gegner gegenüberstanden?
 

Ehe ich mich versah, drückten sich meine Beine von selbst ab und ließen mich in die Höhe gleiten. Ich schwebte über meinen Gegnern, welche sich unter mir versammelten. Meine linke Hand streckte sich aus und ein schwarzer Energieball, durchzogen mit Blitzen, bildete sich in der Innenfläche dieser. Ein kurzes Zucken meiner Extremität schickte den Ball auf die Reise. Zielgenau schlug das Geschoss in der Mitte des Raumes ein und ließ auch Decke und Boden zerbrechen. Glas regnete an mir vorbei, prallte an der Rüstung ab, nur um dann auf dem weißen Steinboden endgültig zu zersplittern.
 

Ein Chor aus Sterbensschreien untermalte das Szenario mit einer gewissen Form von Befremdlichkeit. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, während sich die Elfenschwertkämpfer einfach im Nichts auflösten. Weder Waffen noch Kleidung blieben übrig. War das wirklich ich gewesen?
 

„Natürlich bist du das gewesen. In dir steckt mehr als du glaubst.“ Meine Angst, meine Nervosität, alles verpuffte nach diesem Satz. Mahad hatte Recht: Ich war wirklich dazu fähig gewesen. „Konnte ich das schon immer? Hast du meine Fähigkeiten nur geweckt“ fragte ich die Gedankenstimme in meinem Kopf. „Ja und Nein. Du wächst an deinen Aufgaben. Dein innigster Wunsch, deinen Freund zu retten, hat es mir ermöglicht, direkt mit dir in Kontakt zu treten. Darum bin ich hier und kann mit dir kommunizieren.“
 

Dieses Mal war ich es, der sich langsam zu Boden sinken ließ. Elegant und sanft berührten meine Füße den Untergrund. Der kreisrunde Raum wirkte gänzlich leer ohne das Spiegelkabinett, kalt, kälter noch als vorhin. „Vertraue in dich selbst und deine Fähigkeiten, und keiner Gegner wird dir etwas anhaben können.“
 

Ich nickte gedankenverloren zu mir selbst und sah mich um. Tatsächlich: Eine riesige Steintüre, eingelassen in das aufgespreizte Maul eines Weißen Drachens mit Eiskaltem Blick war erschienen. Zwei saphirblaue Augen starrten auf mich herab und schimmerten unheimlich. Links und rechts von der Tür waren zwei Krallen herausgehauen worden.
 

Langsam trat ich auf den vermeintlichen Ausgang zu. „Was nicht sein soll, soll nicht sein. Du bist unrein, unwürdig weiterzugehen.“ Die Stimme, welche von der Tür her hallte, war weder dunkel noch tief, im Gegenteil – sie war hell und nervtötend. Mei.
 

„Sie spielt mit dir, will dich fernhalten.“ Mahad hatte wahrscheinlich Recht. „Öffne diese Tür Mei.“ Ich war mir sicher, dass sie mich hören könnte. Glockenhelles, süffisantes Lachen prasselte von überall und nirgendwoher auf mich ein. „Sonst noch Wünsche?“
 

Ich starrte auf meine linke Hand, dann auf die Tür. Mein Blick ruhte auf den Saphiren in den Augenhöhlen des Weißen Drachens. Je länger ich darauf starrte, desto intensiver kam mir das Duell mit Kaiba wieder in Erinnerung. Wie furchterregend die Bestie sich vor mir aufgebaut hatte, der Lichtblitz in seinem Maul.
 

Ich wollte zurückweichen, zurückzucken, doch ein sanfter Druck in meinem Rücken hielt mich davon ab. Die Szene wandelte sich: Joey, wie er grinste, seinen Arm um mich geschlungen hatte, wie sich unsere Lippen das erste Mal berührten.
 

Ich schrägte den Kopf ein wenig und meine Züge verhärteten sich. Ich würde nicht davonlaufen, nein, ich würde mich meinen Ängsten stellen. Nichts, nicht einmal der Weiße Drache mit Eiskaltem Blick, würde mich von Joey fernhalten. Ich hatte genug. Genug von Menschen, die über mein Leben bestimmen wollten, genug von Meis Erpressungen, ihrer herablassenden Art.
 

Wortlos streckte ich meinen linken Arm aus. Die flache Hand zeigte auf die Tür, der jeglicher Griff oder Schlüsselloch fehlte. Einzig die Schlitze seitlich des Türrahmens ließen überhaupt erahnen, dass sich vor mir ein Portal, ein Ausgang befand. Instinktiv krümmte ich meine Finger zur Handinnenfläche hin.
 

Mit einem ohrenbetäubenden Laut zerbrach der weiße Marmor vor mir. Risse bildeten sich, nur um dann aufzuspringen. Steine und Geröll flogen an mir vorbei, während ich unbeeindruckt meine ersten Schritte machte. Egal ob Mahad real existierte, nur ein Computerprogramm war, oder die geisterhafte Form eines meiner Vorleben darstellte: Ich fühlte mich sicher, geborgen und vor allem ermutigt – ich würde nicht versagen.

Dunkelheit im Herzen

Hinter dem Portal befand sich ein gigantischer Saal. Schwarzer Stein war auf schwarzen Stein geschlichtet worden, während jemand riesige Fenster aus buntem Glas ins Mauerwerk eingelassen hatte. Fackeln erhellten den Raum und der Mond brach sich im Prisma der einzelnen Scheiben aus gebranntem Sand.
 

Jeder einzelne meiner Schritte hinterließ ein Echo. Mein Schatten bäumte sich neben mir auf, ein stummer Begleiter, welcher immer wieder verschwand, nur um wiederaufzutauchen. Wo war ich hier wieder hineingeraten? Viel wichtiger war aber die Frage: Wo waren Mei und Joey?
 

Ein dunkelroter Teppich führte vom Fußende eines pechschwarzen Throns zu mir. Goldene Stickereien waren an den Rändern des Stoffes eingearbeitet worden. Links und rechts der imposanten Sitzgelegenheit standen zwei Tonkrüge, aus welchen lodernde Flammen züngelten. Die Armlehnen des Throns waren mit zwei Kriegern ausstaffiert worden, welche jeweils ihre Schwerter kreuzten.
 

Ich bemerkte erst bei genauerem Hinsehen, dass ich nicht alleine war. Auf dem Thron saß jemand. Eine Gestalt in pechschwarzer Rüstung. Ein langer, roter Pferdeschwanz ging von der Rückseite des kunstvoll gestalteten Helmes aus. Das Visier des Kriegers war von einer Farbe, welche weder gelb, noch golden noch grün war. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Schild und Schwert waren aus genau dem gleichen Material, mit genau der gleichen Farbkonstellation gefertigt worden. Das rechte Bein des Kriegers ruhte angewinkelt am Fußende des Thrones, während er mir reglos entgegenstarrte.
 

„Das ist der…das ist der Soldat des Schwarzen Lichts, oder?“ Ich schrägte den Kopf und erhielt prompt eine Antwort. „Ja, das ist er. Eine äußerst mächtiges Monster.“ Mahads Stimme in meinem Kopf bestätigte meine Vermutung. „Habe ich…ich überhaupt eine Chance?“ Ich wusste ob der Stärke des Soldaten des Schwarzen Lichts. „Wenn du zweifelst nicht“ war die Antwort meines unsichtbaren Begleiters.
 

Ich starrte in das leer anmutende Visier meines Gegners, musterte den Helm, seine gesamte Erscheinung. Angst kroch aus ihren dunkelsten Winkeln meines Seins hervor. Wenn Joey hier sterben konnte, dann ich auch. Was, wenn ich doch zu schwach war? Der Speer in meiner Hand zitterte; nein, ich war es, der zitterte.
 

„Du musst an dich glauben.“ Ich sah mich um, konnte aber nirgendwo Yugi erkennen, dessen tiefe Stimme mir gerade Mut zusprach. „Du kannst es schaffen, ich weiß es, und du auch! Gib der Dunkelheit und dem Schatten keine Macht über dich.“
 

„Vertraue dem Pharao, David. Er würde dich nicht belügen. Er weiß du kannst es, genauso wie ich. Du bist der Schwarze Magier, der Dunkle Paladin – ihr seid eins, so wie ich es einst gewesen bin. Atme tief durch und höre auf dein Herz.“ Mahads ruhige Stimme echote in meinem Kopf wider. Ich nickte geistesgegenwärtig und schloss die Augen. Bewusst ruhig atmete ich ein und aus.
 

Wärme durchströmte mich. Mir wurde mit einem Mal ganz leicht ums Herz. Um mich herum war es komplett weiß geworden. Ich befand mich im Nichts. Anfang und Ende gab es hier nicht. Nur eine weiße, unendliche Leere. Nach und nach gesellten sich, wie aus dem Nichts, meine Freunde hinzu. Yugi, Tristan, Tea, Mokuba, Bakura, Duke, sogar Kaiba. Hinter ihnen erschien Mahad, welcher die Hände wieder in seinen Robenärmeln versenkt hatte. Meine Eltern, sogar meine Großeltern und meine Freunde aus der Heimat – alle waren hier versammelt. Sie glaubten an mich, das spürte ich, sie gaben mir Kraft.
 

Mit einem Ruck öffnete ich die Augen. Der Soldat des Schwarzen Lichts hatte sich von seinem Thron erhoben und kam langsam auf mich zu. Ich würde nicht versagen. Joey und ich würden diesen Alptraum in einem Stück verlassen und Mei würde zur Verantwortung gezogen werden. Nichts auf dieser Welt konnte uns trennen.
 

„Na dann komm her!“ Ich packte meinen Speer mit beiden Händen und verlagerte meinen Stand ein wenig. Langsam nahm mein Gegner an Fahrt auf und stürmte auf mich zu. Ich drehte die Waffe ein wenig und bereitete mich darauf vor, seinen Angriff abzuwehren.
 

Metall prallte auf Metall. Funken sprühten, als das gebogene Schwert auf meinen Speergriff traf. Die Wucht des Angriffs ließ meine Arme erzittern und einen stechenden Schmerz, von den Fingerspitzen aus, nach oben kriechen. Kaiba hatte Recht gehabt: Ich spürte dieses Mal etwas.
 

Mit einem Ruck drückte ich meinen Gegner zurück und schuf so etwas Abstand. Ich drehte den Speer ein wenig und ließ ihn sinken. Die Waffe glühte grün auf und ich holte, von links unten, diagonal aus. Meine Speerspitze schnitt durch die Luft und ein grünlicher Energieschimmer löste sich von der Klinge. Knisternd traf mein Angriff auf den Soldaten des Schwarzen Lichts, der ihn mit seinem Schild scheinbar mühelos beiseite schlug.

Wieder folgte eine blitzschnelle Attacke, die ich nur mit großer Mühe parieren konnte. Langsam gaben meine Beine nach, und ich wurde auf die Knie gezwungen. Seine Schwertklinge drückte unentwegt auf meine eigene Waffe. Im direkten Kräftemessen war ich eindeutig unterlegen. „Mach schon David, konzentriere dich“ sagte ich zu mir selbst. Irgendwo musste das Ding doch eine Schwachstelle haben.
 

Mein Blick fiel auf die Beinrüstung des Kriegers. Es war einen Versuch wert. Langsam schob ich meinen rechten Fuß zwischen die gespreizten Beine des Soldaten und kam dabei gefährlich nahe mit dem Rücken an einen Punkt, an dem er entweder knacksen oder brechen musste. Als mein Bein weit genug in die offene Lücke meines Gegners gewandert war, zog ich es hastig zurück. Mein Stiefel verhakte sich in der Rüstung des Kriegers und brachte ihn so ins Straucheln.
 

Eilig rutschte ich nach hinten und atmete tief durch. Es schmerzte jetzt schon jeder Knochen in meinem Körper. Auf Dauer würde ich diesen Kampf nicht durchhalten. Mein Gegner hatte sich inzwischen bereits wieder gefangen und ließ mir nicht einmal die Möglichkeit, einen weiteren klaren Gedanken zu fassen.
 

Schwerthiebe prasselten auf mich ein, welche ich mehr schlecht als recht parierte. Immer schneller wurden die Bewegungen meines Kontrahenten, während er mich buchstäblich mit dem Rücken zur Wand drängte. Zaubern war gerade keine Option – er war zu nahe, und ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, was ich so alles konnte. Mahad blieb seltsamerweise auf mein Fragen hin stumm.
 

Lila Flammen umfingen die Schwertklinge meines Gegners, welche plötzlich meinen Stab mühelos entzweischlug. Die Waffe durchdrang meine Abwehr und fraß sich augenblicklich in meine Schulter. Mit einem lauten Schmerzensschrei ließ ich die Waffenhälften fallen. Blut strömte aus der Wunde und mir wurde übel.
 

Ich hatte noch nie solche Schmerzen gespürt. Der kalte Stahl brannte wie Feuer und ich roch den Gestank von verkohltem Fleisch. War es das? Mein Ende? Mit einem schmatzenden Laut zog der Soldat des Schwarzen Lichts die Klinge aus meiner Schulter. Unwillkürlich griff ich mir auf die Wunde und fiel auf die Knie.
 

„Er schafft es schon.“ Meine Augenlider wurden schwer und ich hörte Stimmen. Sie debattierten, über mich, dann Passagen in einer fremden, unverständlichen Sprache. Bilder zogen an mir vorbei. Wüsten, Pyramiden, eine entsetzliche Schlacht. Der Himmel hatte sich verdunkelt und ein Monster aus schwarzem Nichts hatte sich vor mir aufgebäumt. Ich konnte einen dunkelhäutigen, älter wirkenden Yugi erkennen, an seiner Seite ein Mädchen, welches mich stark an das Schwarze Magiermädchen erinnerte. Sie alle trugen seltsame Kleidung, Roben, Mäntel. Soldaten marschierten hinter ihnen her, mit gebogenen Schwertern, Speeren und Holzschilden bewaffnet.
 

An der Spitze des Trosses schwebte jemand. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich den Schwarzen Magier, den, den Yugi besaß. Sein Gesicht wirkte aber seltsam. Ich erkannte Mahad und…mich? Das Bild schien von Sekunde zu Sekunde zu wechseln. Einmal er, einmal ich. Das Szenario verblasste und grelles Licht blendete mich.
 

Der Schein ging von einer dreieckigen, goldenen Pyramide aus, in deren Mitte ein beängstigend anmutendes Auge gefasst worden war. Das Konstrukt hatte man in einen Ring eingelassen, welcher fünf längliche, spitze Anhänger besaß. Zumindest das Auge kannte ich: Yugis Puzzle sah im Kern genau gleich aus.
 

Vor mir konnte ich den Soldaten des Schwarzen Lichts erkennen, welcher seine Klinge zum finalen Gnadenstoß erhoben hatte. Meine Züge verhärteten sich wieder. Wenn ich hier draufgehen musste, dann würde ich ihn auch mitnehmen.
 

Ich presste die Zähne zusammen und ballte meine beiden Hände zu Fäusten. Der Schmerz in meiner Schulter raubte mir beinahe die Sinne. Ich musste mich nur konzentrieren und ihm einen einzigen, tödlichen Schlag versetzen. Schwarze Blitze umspielten meine Hände. Jetzt oder nie.
 

Ich streckte beide Arme aus. Augenblicklich sprangen die Blitze auf meinen Gegner über, welcher einen markerschütternden Schrei ausstieß. Schwert und Schild fielen klirrend zu Boden, während ich mich langsam aufrichtete. Die Energie strömte ungehindert aus meinen Fingern und zwang den Soldaten des Schwarzen Lichts auf die Knie.
 

Krümmend und schreiend warf sich mein Gegner auf dem Steinboden hin und her. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg mir in die Nase. Das Geschrei mutierte zu einem hohen Kreischen und mein Kontrahent wälzte sich zum Teppich hin, wo sich sein Körper unter meinem Angriff immer wieder durchbog.
 

„Hör auf, David, es ist genug.“ Mahads Stimme hatte einen scharfen, fordernden Unterton angenommen. „Ich werde dieses Ding hier endgültig vernichten, bevor ich in meine nächste Existenz übergehe.“ Meine Stimme hörte sich seltsam an, tiefer, fremd. Hatte ich das wirklich gesagt? Warum genoss ich es eigentlich so, diesem virtuellen Wesen solche Schmerzen zuzufügen?
 

„Besinne dich warum du hier bist. Lass nicht die Dunkelheit Macht über dich gewinnen.“ Dunkelheit? Macht? Ja genau, Macht. Ich hatte sie gerade gekostet, und ich genoss es. Niemand würde mehr über mich bestimmen, mich zwingen, sich seinem Willen zu beugen.
 

Wieder erschien der Ring vor meinem Auge und ließ die Schreie meines Gegners leiser und dumpfer werden. „Lass dich nicht manipulieren, David. Der Ring gehört nicht mehr zu mir, auch nicht zu dir. Er ist böse.“ Was hatte dieser seltsame Ring bitte mit… Ich schüttelte den Kopf. Warum war ich wirklich hier? Das Verlangen nach Macht und Stärke, welches mich gerade verzehrte, es wurde von einem anderen Gefühl schwach bekämpft: Liebe.
 

Augenblicklich ebbten die Blitze ab. Der geschundene Körper des Soldaten des Schwarzen Lichts lag vor mir. Teile seiner Rüstung hatten sich aufgelöst und ließen mich auf geschwärzte und gerötete Haut blicken. Der Helm war ihm vom Kopf gerutscht. Ich erkannte diese Züge, so weich und verletzlich. Meine Augen weiteten sich, als mir bewusst wurde, was ich getan hatte.

Göttliches Eingreifen

„J-Joey?“ Tatsächlich, ich konnte sein Gesicht eindeutig erkennen. Blut tropfte ihm aus der Nase und färbte den kalten Steinboden unter ihm rot. Seine blonde Mähne war von roten Strähnen durchzogen und er hatte die Augen geschlossen. Die Wangen zeugten von schweren Verbrennungen. Joeys Zustand war insgesamt mit erbärmlich zu beschreiben. Die linke Hand hatte er sich eindeutig ausgerenkt und ich war mir nicht einmal sicher, ob er noch atmete.
 

„Joey?“ Sein Name hallte erneut durch das finstere Burggemäuer. War er nur bewusstlos, oder tot? Hatte ich ihn getötet? War es meine Hand, die sein Schicksal besiegelt haben sollte? In diesem Moment wurde mir erst bewusst, wie sehr ich Joey liebte.
 

Sein Liebesgeständnis, wie ich mich an ihn gekuschelt hatte, wie er mich mit Reis gefüttert hatte. Das Lachen, wenn ich einen Witz machte. Seine weichen zarten Lippen, die sich mit meinen vermischten. Das Gesicht, das er machte, wenn er nachdachte. Sollte mir das alles genommen worden sein? Warum? Warum war das Schicksal so grausam? Hatte mich Gott verlassen?
 

Tränen rannen mir über die Wangen, während ich mit jedem Schritt, den ich mich näher zu meinem Liebsten schleppte, innerlich ein Stückchen mehr starb. Konnte das nur ein Trugbild sein? Nein, ich spürte es – das da vor mir war Joey, mein Joey. Warum hatte ich nicht mit ihm gesprochen? Vielleicht hätte er nachgegeben, unsere Beziehung öffentlich gemacht?
 

Noch immer rührte er sich nicht. Der Schmerz in meiner Schulter machte mich beinahe wahnsinnig und raubte mir, neben dem Bild meiner Liebe, welche blutüberströmt vor mir lag, die letzte Kraft. Meine Knie schlugen auf dem harten Steinboden auf während ich den Kopf in den Nacken legte und all meine Trauer und meinen Frust hinausschrie.
 

„Wieso? Warum bist du so grausam? Egal wer oder was dafür verantwortlich ist, nimm mich! Hole mich und lasse ihn am Leben. Ich flehe dich an, bitte!“ Die Verzweiflung in meiner Stimme echote tausendfach wider. Mein Flehen wurde jedoch nicht erhört. Keine höhere Entität rührte sich, keine Gottheit hatte Mitleid mit mir. Das Schicksal wollte unsere Plätze nicht vertauschen. Auch Mahad war verstummt.
 

Unter höllischen Schmerzen bewältigte ich, auf Knien rutschend, die letzte Distanz zu Joey. Meine verwundete Schulter ließ meinen Arm nutzlos an der Seite herabbaumeln. Vorsichtig drehte ich den Blonden in der Rüstung auf den Rücken. Meine Tränen tropften in sein Gesicht und vermischten sich dort mit Blut und Ruß. Sanft strich ich Joey mit dem Daumen über die Wange und bettete seinen Kopf in meinem Schoß. „Bitte, komm zurück, Joey. Ich liebe dich. Ich möchte mit dir zusammen sein, glücklich sein, Höhen und Tiefen erleben.“ Verzweifelt schüttelte ich ihn, aber er zeigte keine Reaktion.
 

Nein, das konnte nicht sein. Das war nur ein Spiel. Man musste nur den Stecker ziehen oder auf Neustart drücken und schon wäre wieder alles in Ordnung. Wir würden lachend in der Schule hocken, gemeinsam in der Arcade-Halle zocken, ich ihn bei einem Duell gegen Yugi anfeuern…
 

Meine Augen brannten wie Feuer und ich spürte meinen linken Arm bereits nicht mehr. Der Blutverlust würde mir bald den Rest geben. Wie das Sterben wohl war? Würde ich Joey wiedersehen? Würde er mir böse sein? Sachte beugte ich mich nach unten und legte meine Lippen auf die Seinen. Mein letzter Moment sollte ihm gehören.
 

„Wie ist es, zuzusehen, während das stirbt, was man so liebt, hm?“ Meis Stimme ließ mich langsam aufsehen. Über mir hockte die Verursacherin allen Leids in einem Nichts aus Luft. Sie trug die Kluft des Schwarzen Magiermädchens und grinste mir frech entgegen. Der ironische Unterton war kaum zu überhören.
 

„Warum? Warum Mei, hast du nicht nur mich genommen? Was hat Joey dir getan?“ Ich richtete meinen Blick wieder auf den geschunden Körper meines Liebsten und strich ihm zärtlich durch die Haare. Der letzte Rest Farbe wich ihm langsam aus dem Gesicht. Ich musste hilflos zusehen, wie der letzte Rest an Leben aus ihm heraustropfte.
 

„Du?“ lachte Mei kalt und überdreht. „Hat dir Joey nie erzählt, dass wir mal ein Paar waren? Er mit mir ausgegangen ist? Ich seine große Liebe gewesen bin? Bis du gekommen bist!“ Die Verachtung war kaum zu überhören. „Er war süß, wirklich. Joey hat sich um mich gekümmert, und auch respektiert, dass ich unsere Beziehung nicht öffentlich machen wollte. Meinen Eltern wäre er zu minder gewesen. Ich war sehr glücklich mit ihm, bis du gekommen bist!“
 

Sollte ich noch etwas erwidern? Es war doch sinnlos. Rache in diesem Ausmaß? Wozu? „Verdammt Mei, wenn du ihn wirklich geliebt hast, dann hättest du doch einfach mich entsorgen können? Mich verschwinden lassen? Warum ihn?“
 

Das Mädchen verzog ihr Gesicht zu einer Fratze welche Abscheu und Hass widerspiegelten. „Du hättest ihn sehen sollen. Das Glitzern in seinen Augen, als er mir von dir erzählt hat.“ Mei schnaubte verächtlich: „Seine Gefühle für dich. Er würde dich mögen, er liebe dich sogar. Denkst du, ich lasse mich abservieren? Verliere gegen einen Jungen?“
 

Ich schüttelte nur fassungslos den Kopf: „Mei, das hier ist kein Spiel. Du hast zwei Menschen auf dem Gewissen, ist dir das klar? Einen hast du mal sehr geliebt, deinen Aussagen nach zu urteilen. Das war alles dein Plan, oder? Zuerst, einen Keil zwischen Joey und mich zu treiben, und als das nicht geklappt hat, bist du umgestiegen, auf drastischere Methoden?“
 

„Nein, das war nicht direkt der Plan“ schüttelte Mei den Kopf und sank neben mir und Joey herab. „Es kommt mir aber sehr gelegen. Einzig dein Gejammer und Geweine stört mich noch. Es Kaiba in die Schuhe zu schieben macht das Ganze zusätzlich pikant – offiziell wird es nach einem Unfall mit dem Game aussehen.“
 

Ich bettete meine Hand auf Joeys Brust und versuchte angestrengt die Tränen wegzublinzeln. „Kaiba hat die Behörden bereits verständigt.“ Erneut dieses kalte, markerschütternde Lachen. „Weist es mir mal nach! Ich muss nur noch ein wenig nachhelfen.“ Mei schwebte wieder in luftige Höhen und wirbelte ihren Zauberstab herum.
 

„Damit sind wir quitt, wir drei.“ Ihre Zauberstabspitze wurde in ein grelles, weißes Licht getaucht aus dem sich langsam eine immer größer werdende Form bildete. Die Fackeln im Raum wurden beinahe ausgeblasen und ein kalter Wind zog auf. Ein, zwei, nein, drei Drachen schienen sich aus dem Licht zu schälen. Das ohrenbetäubende Brüllen welches folgte, ließ das Gemäuer erzittern.
 

„Kaibas Lieblingstier soll euch den Gnadenstoß geben! Sieh und staune – der Blauäugige Ultradrache.“ Ich hatte mich getäuscht. Ein einziger, riesiger Weißer Drache mit Eiskaltem Blick hatte sich materialisiert. Drei grimmige Köpfe starrten auf mich und Joey herab. Dieses Wesen war noch furchteinflößender, als der Weiße Drache alleine. Das musste Kaibas mächtigstes Monster sein.
 

Ich fühlte mich so leer. Ich wollte mich nicht einmal mehr verteidigen. Wozu auch? Ich hatte es verbockt, und das gründlich. Mei hatte wohl gewonnen. Hoffentlich waren wir in der Realität nicht entstellt, damit man sich angemessen um unser Begräbnis kümmern konnte. Kraftlos ließ ich meine Stirn auf die von Joey sinken. „Ich liebe dich“ hauchte ich ihm zu, während sich über uns ein greller, weißer Lichtball bildete. In ein paar Sekunden würde ich ihn wiedersehen. Konnte das Sterben dann so schlimm sein? Für uns nicht, aber für die, die wir hinterließen.
 

Meine Großeltern, meine Eltern, unsere Freunde, Joeys kleine Schwester Serenity. Ich war nie dazu gekommen, sie anzurufen. Meinen Plan in die Tat umzusetzen. Hoffentlich würde Joey es verstehen. Mir verzeihen, dass ich in sein Handy gespickt hatte.
 

„Ein wenig dreist, wenn du mich fragst, mein Monster zu beschwören.“ Der Lichtball über uns erlosch und ich konnte das Getrappel von Füßen hinter uns hören. „Was hast du geglaubt, Nakamura? Dass du mich, Seto Kaiba, aus seinem eigenen Spiel aussperren kannst?“
 

Ein Blick nach hinten eröffnete mir Kaiba, Yugi, Tea, Tristan, Bakura, Duke und Mokuba. Jeder von ihnen war angezogen wie in der realen Welt. „Wir werden dir das Handwerk legen!“ Tea reckte die rechte Hand in die Höhe und alle anderen, mit Ausnahme von Kaiba, taten es ihr gleich. „Für unsere Freunde!“ rief der Chor einstimmig.
 

„Wie denn? Ich habe eines der mächtigsten Duel Monsters beschworen. Ihr habt verloren, selbst wenn ihr gemeinsam angreift.“ Mei ließ sich langsam auf den mittleren Kopf des Ultradrachen sinken und streichelte ihm über den Kopf, was dieser mit einem wohligen Knurren quittierte. „Nicht einmal du kannst mich jetzt noch aufhalten, Seto Kaiba.“
 

„Sei dir mal da nicht zu sicher.“ Kaiba hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während die Gruppe hinter ihm zu leuchten begann. Jeder Einzelne wurde in ein dunkelblaues Licht getaucht. Die Erde um uns herum bebte. Krachend stürzte das Gemäuer langsam in sich zusammen. Steine und Schutt prasselten herab.
 

„Sieh und staune, Nakamura. Du stehst einer Macht gegenüber, die selbst den Blauäugigen Ultradrachen in den Schatten stellt. Erzittere vor meinem unbesiegbaren Helden – Obelisk dem Peiniger!“
 

Blauer Staub wurde aufgewirbelt. Die kleinen Partikelchen formten sich langsam zu der Silhouette eines gigantischen Wesens. Krachend brach die Decke über uns entzwei, während ein orkanartiger Wind durch das Gemäuer fegte. Donnergrollen ließ das Mauerwerk erzittern.
 

„Ultradrache, los, Angriff!“ Meis Stimme ging im Tosen des Windes unter. Der Boden brach neben mir und Joey auf. Ein großer Riss durchzog den gesamten Saal und brach ihn schlussendlich auseinander.
 

„Denn niemand legt sich mit unseren Freunden an.“ Yugis tiefe Stimme übertönte das gesamte Szenario. Sein Anhänger am Hals leuchtete hell auf. Er trat aus dem Licht hervor und stellte sich neben Kaiba, die Arme vor der Brust verschränkt.
 

Ein markerschütterndes Kreischen außerhalb der Burg war zu hören. Das Brüllen stellte sogar das des Ultradrachens in den Schatten. Der Himmel verfinsterte sich vollends und ein monströses, schlangenartiges, rotes Etwas, schälte sich aus den blitzenden Wolken.
 

Das Wesen, welches Kaiba als Obelisk den Peiniger vorgestellt hatte, stand nun vor, oder besser gesagt über ihm. Das Gesicht war eine einzige, grinsende Fratze mit roten Augen. In dem kronenartigen Stirnfortsatz schimmerte ein blauer Edelstein. Die Haut des Monsters war steinhart und blau. Überall standen scharfe Spitzen hervor und der Rücken war von einer Art gebrochenen Schildhälften oder rudimentären Flügeln gesäumt.
 

Zu diesem riesigen Krieger, welcher das Gebäude mühelos überragte, gesellte sich aus der Luft ein noch größerer, roter Drache mit zwei Mäulern. Auch in dessen Schädel thronte ein blauer Edelstein. Das nicht endend wollende Gewirr seines Körpers schlängelte sich durch den Raum und bedeckte mich und Joey. Ich konnte ein Brüllen und einen Energieball aufschlagen hören, welcher einen brutalen Windstoß erzeugte. Ich und Joey wurden gegen den vermeintlichen Mittelteil des schlangenähnlichen Drachenwesens gedrückt.
 

„Zeit dich zu bestrafen, Nakamura. Niemand rührt die Freunde meines kleinen Bruders an. Und jetzt, Obelisk, los – vernichte dieses Gör und lasse Rache walten!“ Der Körper des Drachens versperrte mir die Sicht und so konnte ich nicht sehen, was vor sich ging.
 

Ein tiefes Grollen erfüllte die Umgebung und die Luft knisterte. Das Beben der Erde nahm zu und Gesteinsbrocken, genauso wie Schutt und Regen, wurden aufgewirbelt. Uns deckte der Drache mit seinem Körper ab.
 

Eine gigantische Druckwelle und ein blauer Blitz trafen den Ultradrachen. Obelisk der Peiniger versenkte seine Faust in dem Monster samt Mei, welche qualvoll aufschrie. Mit einem lauten Knall, der mich beinahe meiner Sinne beraubte, wurden wir in einen Pilz aus Gewitterwolken getaucht. Blitze umspielten uns und der Drache brüllte lautstark. Ich konnte die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Dann wurde es schwarz und Kaibas Lachen hallte in meinem Kopf wider.

Wieder vereint

Ich war auf einem weichen, sanften Untergrund gebettet. Neben mir lag jemand. Vorsichtig öffnete ich die Augen und erkannte das Gästezimmer der Kaibavilla. Ich musterte die Person neben mir. Man hatte die Nachttischlampen angelassen. Mir fiel ein Stein vom Herzen: Joey lag da, frei von jeglichen Verletzungen und Ähnlichem. Vorsichtig schob ich die Bettdecke ein wenig nach unten und strich ihm über die nackte Schulter. Ich selbst trug nur eine kurze Trainingshose, und vermutete, dass es Joey ähnlich ging.
 

Dieser regte sich tatsächlich unter meiner Berührung. „Joey?“ hauchte ich ihm sanft zu. Flatternd öffneten sich seine Augenlider und ich wurde mit großen Augen angestarrt. „David? Wie?“ Bevor er weiterfragen konnte, legte ich meine Lippen auf die Seinen und küsste ihn zärtlich. Wir beide schlossen fast zeitgleich die Augen und ließen uns einfach fallen. Der ganze Schmerz und Kummer der letzten Stunden schien vergessen. Endlich waren wir wieder vereint.
 

Ich genoss das Gefühl, Joey zu spüren. Nach einiger Zeit lösten wir uns wieder und ich legte meine Arme um seine Brust, ihn an mich heranziehend. „Ich dachte, ich hätte dich endgültig verloren“ kam es leise aus meinem Mund. „Dich vor mir liegen zu sehen, geschunden, das hat mir das Herz gebrochen.“ Ich strich ihm mit den Lippen sanft über die Ohren.
 

„Ich habe dich unnötig in Gefahr gebracht“ flüsterte Joey und verkrampfte sich in meinen Armen. Ich verstand was er meinte. „Schhh, hast du nicht, Joey“ beruhigte ich meinen Freund und schmiegte mich an ihn. „Es hätte nichts geändert, wenn du mir von Mei und dir erzählt hättest“ sagte ich und wartete vergeblich auf eine Antwort. So fuhr ich dann fort: „Ich hoffe du bist mir nicht böse, Joey.“
 

Dieser regte sich schlussendlich und drehte mir sein Gesicht zu. Seine Augen waren glasig und er hielt nur mit Mühe seine Tränen zurück. „Warum sollte ich dir böse sein?“ Ich spürte seine Hand an meiner rechten Wange und lächelte schwach. „Joey? Ich habe dich wahrscheinlich fast getötet, dir unsägliche Schmerzen und Qualen zugefügt.“ Entgegen meiner Erwartungen schüttelte mein Freund den Kopf: „Nein, das habe ich dir. Ich wusste, du wärst stark genug mich zu besiegen. Es war nur schlimm zu sehen, wie ich dir das Schwert in die Schulter geschlagen habe. Diesen Schrei, dein Gesicht dabei…“ Joeys Stimme war brüchig geworden und schlussendlich verstummte er ganz.

„Sie hat dich kontrolliert, oder?“ fragte ich und wurde mit einem wortlosen Nicken abgespeist. „Dann ist es nicht deine Schuld. Hör auf dir Gedanken zu machen, wenn du es nicht verhindern konntest.“ Vorsichtig ließ ich meine rechte Hand nach unten wandern und verwob meine Finger mit denen von Joey. „Wir sind ein Team, ein Paar – wir sind eins. Unsere Liebe übersteht alles.“ Meine Worte zauberten ein schmales Lächeln auf die Lippen meines Freundes.
 

„Darf ich dich etwas fragen?“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Hauchen und ihr schwang Schmerz und Kummer bei. Joeys Lächeln erlosch augenblicklich. Ich nickte und streichelte ihm mit dem Daumen über den Handrücken. „Sie meinte, du hättest mit ihr geschlafen. Stimmt das?“ Er vermied es mir bei der Frage in die Augen zu sehen.
 

„Würdest du mir glauben, dass ich es für dich getan habe?“ Nun war ich es, der seine Stimme senkte. „Sie hat mich erpresst, sie würde unsere Beziehung öffentlich machen. Ich hatte Angst, dich zu verlieren. Es ging alles so schnell. Mein Hass auf sie ist mit jeder Sekunde gewachsen, bis ich ihr genau das gegeben habe, was sie so begehrte.“
 

Ich konnte die Enttäuschung in Joeys Augen erkennen. Ich hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. „Joseph Wheeler“ begann ich, und bettete sein Gesicht zwischen meinen Händen: „Ich liebe nur dich, dich und niemanden sonst. Bitte verzeihe mir diesen einen Fehler. Ich wollte es nicht und habe es nur gekonnt, weil es für dich war.“ Meine Entschuldigung hörte sich ausgesprochen noch dämlicher an als in meinem Kopf. Joey vermied es weiterhin, den Blickkontakt mit mir zu suchen. Ich hasste Mei nur noch mehr.
 

Vorsichtig löste ich mich von Joey und warf die Decke, welche uns beide bedeckte, in Richtung unserer Füße. Ich hatte Recht: Sowohl mein Freund als auch ich waren, abgesehen von einer kurzen, schwarzen Trainingshose, vollkommen nackt.
 

„Was machst du?“ fragte mich Joey verdutzt, während ich begann, mir mein Kleidungsstück vom Körper zu ziehen. „Wenn ich dir schon nicht geben konnte, was ich dir eigentlich schenken wollte, Joey, dann versuche ich wenigstens es jetzt wiedergutzumachen.“ Kurz bevor meine Scham entblößt worden wäre, stoppte mich Joey. Mein fragender Blick wurde mit einem Kopfschütteln beantwortet.
 

„So will ich es aber nicht. Es soll etwas Besonderes sein. Liebe zeigt man nicht dadurch, dass man sich rasch irgendwie hinzugeben versucht. Alles gut.“ Damit lächelte er wieder ein wenig und küsste mich mit seinen warmen, weichen Lippen auf die Stirn.

„Hast du eigentlich Schmerzen Joey?“ fragte ich und begutachtete meinen Liebsten eingehend. Auf den ersten Blick war nichts zu erkennen. Bei genauerem Hinsehen fiel mir jedoch etwas auf: Einige blaue Flecken waren mittlerweile zu erkennen. War ich das gewesen? Nein, denn dann hätte ich auch welche haben müssen.
 

„Ein wenig, nichts Dramatisches“ beantwortete er meine Frage und zog mich in seine Arme. Fürs Erste war es das Beste, die Geschichte so im Raum stehen zu lassen. Er würde sich mir öffnen. Irgendwann. Ganz sicher. Ich schmiegte mich an Joey und blickte nach oben, seine rehbraunen Augen auf mir ruhend.
 

„Für einen kurzen Moment dachte ich, es wäre aus mit uns. Was waren das für Dinger, die Kaiba und Yugi beschworen haben?“ fragte ich und versuchte das Gespräch auf ein Thema zu lenken, in welchem mir Joey bei Weitem überlegen war: Duel Monsters.
 

„Das zu erklären ist kompliziert. Sie sind jedenfalls zwei sehr mächtige, schwer zu kontrollierende Monster.“ Der Glanz in Joeys Augen war unbeschreiblich – er war wieder in seinem Element, freute sich wie ein Kind, dass er mir etwas beibringen konnte. Es freute mich ungemein, meinen Schatz so aufblühen zu sehen. „Mächtiger als mein Schwarzer Totenkopfdrache?“ bohrte ich weiter nach und streichelte ihm über die Arme.
 

„Viel mächtiger“ bestätigte Joey meine Vermutung. „Warum hat man uns eigentlich gemeinsam in ein Bett gelegt? Nicht, dass es mich stören würde, aber das ist ungewöhnlich, selbst für enge Freunde.“ Mein Freund vollführte einen eiskalten Themenwechsel. „Hm? Ich weiß es nicht? Vielleicht…“ Mir war ein ziemlich schlimmer Gedanke gekommen. Hatten sie uns beobachtet? Wusste nun jeder von unserem, oder besser, Joeys Geheimnis? „Sie wissen es also?“ Ich konnte das Herz meines Liebsten förmlich rasen hören, es spüren, wie es sich hämmernd an seinen Brustkorb presste, im Sekundentakt.
 

„Schh, das ist noch nicht gesagt, und selbst wenn: Vor unseren Freunden sollten wir eigentlich keine Geheimnisse haben, Joey.“ Ich drehte mich umständlich in der Umarmung herum und küsste dann seine Halsbeuge. Joeys Körper versteifte sich augenblicklich, nur um dann wieder zu erschlaffen. Langsam glitten meine Lippen nach oben und vermischten sich mit den Seinen. Sanft knabberte ich an seiner Unterlippe und schlang meine Arme um seinen Nacken. Meine Nähe tat ihm gut, genauso war es auch umgekehrt. Zögernd beendete ich den Kuss und stupste ihn zärtlich mit meiner Nasenspitze an. „Du musst dich für nichts schämen. Heute ist es total normal, wenn man sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt. Ein paar schräge Blicke werden wir sicher abbekommen, und in der Schule wird man uns auch ein wenig belagern, aber mit unseren Freunden an der Seite ist das kein Problem.“
 

Der Blondhaarige lächelte tatsächlich, wenn auch nur schmal. „Ich würde gerne deinen Optimismus teilen, David, aber…“ Ich unterbrach ihn, indem ich meinen Zeigefinger auf seine Lippen legte. „Wir machen uns darüber Gedanken, wenn es so weit ist.“ Schmunzelnd ließ ich mich auf Joeys Oberkörper ziehen und bettete meinen Kopf auf seiner Brust. Sekunden später waren wir wieder von der Decke umhüllt, welche ich zuvor abgestreift hatte.
 

„Ich liebe dich“ hauchte ich ihm noch entgegen, bevor mich der Schlaf übermannte. Es war ein anstrengender Tag gewesen, aber ich hatte einige wichtige Erfahrungen gemacht. Unsere Freunde hielten zu uns, und sogar Kaiba hatte ein wenig durchblicken lassen, dass wir nicht komplett außerhalb seiner Interessenssphäre existierten. Das war gut, denn ich brauchte noch etwas von ihm.

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[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Gewissheit

Hastig wischten wir uns über die Münder. Hatten sie mehr als nur den Kuss mitbekommen? Sowohl Joey, als auch mir, stieg die Schamesröte ins Gesicht.
 

„Na hey, wegen uns müsst ihr nicht aufhören“ grinste Tristan und wurde gleich darauf von Tea mit einem Schulterboxer belohnt. „Um es für euch einfacher zu machen: Wir wissen es bereits seit gestern. So wie David reagiert hat, was er gesagt hat, in der VR, da war es naheliegend, dass ihr zwei mehr als nur Freunde seid.“ Yugi lächelte schief und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
 

„Leute, mal im Ernst, könnt ihr nicht wenigsten anklopfen?“ fauchte Joey und schob sich ein wenig hinter mich. „Wir hätten auch absperren können, hm?“ flüsterte ich leise und starrte meinen Freunden entgegen. Jetzt war es raus. Würden jetzt irgendwelche Witze kommen? Jemand etwas von „Unnatürlich“ und „Falsch“ predigen?
 

Ehe ich es mich versah, wurde ich von Mokuba grinsend angesprungen und ins Bett gedrückt. „Das gestern war sooooooo cool, David. Wie ihr gekämpft habt, wie du Mei die Stirn geboten hast! Yugis und Setos Auftritt war natürlich noch cooler, aber du hast dich wirklich gut geschlagen.“ Ich zog die Brauen in die Höhe und hatte Mühe, mich vor dem kleinen Quälgeist zu wehren. Joey hastete inzwischen, mit säuerlicher Miene, ins Bad.
 

„Habt Ihr uns die ganze Zeit beobachtet, oder was?“ fragte ich, und warf Mokuba gekonnt auf die andere Betthälfte, nur um mich auf ihn zu stürzen und in die Matratze zu drücken. „Ja, haben wir. Yugi und Kaiba wären früher gekommen, aber das Signal war noch zu schwach.“ Tristan beobachtete uns schmunzelnd. „Es stört euch demnach nicht, dass Joey und ich…“ begann ich, wurde dann aber gleich von Tea unterbrochen: „Nein, tut es nicht, im Gegenteil. Wir freuen uns für euch.“ Ich schob Mokuba, schwer amtend, beiseite und lugte zur Badezimmertür.
 

„Ähm, Leute, könntet ihr uns vielleicht noch einmal kurz alleine lassen? Wir kommen gleich runter, okay?“ Alle, sogar Mokuba, nickten einstimmig und verließen nach und nach den Raum. Ich stand auf und klopfte vorsichtig gegen die Badezimmertür. „Joey?“ fragte ich vorsichtig. Keine Antwort. Erneut pochte meine Hand gegen das dunkle Holz, wieder wurde mir eine Antwort verwehrt. „Joey, hey, mach auf“ forderte ich meinen Freund sanft auf, die Barriere zwischen uns aufzulösen. Als er wieder nicht antwortete, drückte ich die Klinke nach unten und staunte nicht schlecht, als ich realisierte, dass die Tür offen war.

Joey saß auf dem gefliesten Fußboden, die Beine angewinkelt. Die Arme hatte er um die Knie geschlungen. Er reagierte nicht. Leise schloss ich die Tür hinter mir und sperrte ab. Sollte ich etwas sagen? Alleine lassen wollte ich ihn auf keinen Fall. Wie würde er auf meine Berührungen reagieren?
 

Ich setzte mich neben Joey und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Badewanne. Was sollte ich tun? Es zerriss mich innerlich, ihn so zu sehen. War es so schlimm, dass unsere Freunde Bescheid wussten?
 

„Schämst du dich für mich?“ fragte ich ihn leise. Endlich zeigte er eine Reaktion. Seine Wangen waren feucht und die Augen gerötet. Er hatte wohl still geweint. „Wärst du lieber mit Mei zusammen gewesen? Hättest sie geheiratet, mit ihr Kinder bekommen?“ Meine Fragen lösten irgendetwas in Joey aus, denn er schüttelte heftig den Kopf.
 

„Warum ist es dir dann peinlich, dass unsere Freunde über uns Bescheid wissen? Zweifelst du an unserer Beziehung, an mir?“ Mein Freund öffnete den Mund und schloss ihn wieder wortlos. „Joey? Du hast Angst, oder? Wovor? Dass man dich nicht mehr für einen harten Kerl hält? Du ausgelacht wirst, gehänselt wirst? Was dein Vater, deine Mutter, deine Schwester dazu sagen werden?“ Ich senkte meinen Blick, denn ich wollte Joey nicht ansehen. Ich pokerte hoch und bluffte auch ein wenig, aber das war mir im Moment egal. Er sollte endlich mit der Sprache herausrücken.
 

„Ich, ich…nein“ kam es betreten von meinem Freund. „Du bist das Beste was mir je passiert ist, David. Ich liebe dich, wirklich. Ich schäme mich nicht für dich. Serenity wird sicher ganz vernarrt in dich sein, und die Meinung meiner Mutter ist mir egal. Es ist nur…“ Damit kehrte wieder Stille ein. Ich schüttelte den Kopf. „Du vertraust mir nicht genug, dass du mir erzählen möchtest, was dich belastet.“
 

Finger umfingen zart mein Kinn und drückten es sanft nach oben. Ich sah in Joeys rehbraune Augen, welche noch immer ein wenig gerötet waren. Langsam näherten sich unsere Gesichter. Beide Nasenspitzen streiften einander, nur um dann Platz für unsere Lippen zu machen, welche sich zärtlich miteinander verbanden. Nach kurzer Zeit löste er sich wieder von mir und hielt den Blickkontakt.
 

„Ich verspreche dir, es in nächster Zukunft preiszugeben, ja? Nur nicht heute. Ich möchte diesen Tag nicht verderben. Zumindest vor meinen Freunden muss ich mich nicht mehr verstellen, mich selbst verleugnen.“ Seine Antwort war nur zum Teil befriedigend. Andererseits war es ein großer Fortschritt, dass er überhaupt überlegte, sich nicht mehr vor unseren Freunden zu verstellen (was ob deren Informationsstandes auch ein wenig sinnlos gewesen wäre).
 

„Ich möchte, dass du mir eins versprichst, Joey“ und stupste ihn mit meiner Nase zärtlich an. Mein blonder Freund nickte: „Alles was du willst.“ Ich musste unwillkürlich lächeln. Er wusste gar nicht, was so ein Angebot bedeuten konnte. „Egal was dich bedrückt, deine Gedanken vernebelt und dein wunderschönes Lächeln von deinen Lippen bannt – ich liebe dich, und ich stehe hinter dir.“ Damit küsste ich ihn sanft.
 

Meine Hände wanderten zu Joeys muskulösem Rücken, auf welchem sie, mit gespreizten Fingern, zum Ruhen kamen. Er veränderte seine Position in eine Art Schneidersitz und zog mich auf ihn. Dieses Mal waren weder Lust noch Begierde im Spiel – es handelte sich um Vertrauen und Geborgenheit.
 

Ich schmiegte mich an meinen Liebsten und sog seinen Geruch mit meiner Nase ein. Die blauen Flecken blendete ich für den Moment so gut es ging aus. Joey drückte sich langsam in die Höhe und bettete mich dabei auf seinen Armen, ohne den Kuss zu beenden. Eng umschlungen verließen wir das Badezimmer. Joey lud mich auf dem Bett ab und löste sich von mir. „Wir sollten uns anziehen und nach unten gehen, hm?“ Bei seiner Frage strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste meinen Mundwinkel. Ich nickte und wir zogen uns rasch an um nach unten zu gehen.

Ein Stück Vergangenheit

Wir gingen nach unten ins Esszimmer, wo uns die Meute schon breit grinsend erwartete. Einzig Kaiba hatte sich auf das Verzehren seines Steaks beschränkt. Zwei Stühle standen an der reichhaltig gedeckten Tafel noch leer.
 

Joey zog mich am Arm zu einem der Sessel, nur um sich selbst hinzusetzen und mich auf seinen Schoß zu pflanzen. Verwundert sah ich ihn an, was er nur mit einem Kopfschütteln abtat. Mir sollte es Recht sein. Eilig griff ich nach dem Teller und häufte mir Wedges, Steak und Gemüse auf.
 

„Warum habt ihr es eigentlich so lange geheim gehalten, Jungs?“ Tristan verdrückte gerade ein Stück Sushi. Ich blickte nach hinten zu Joey, welcher mir bedeutete, ich solle essen. „Weil sowas peinlich ist, auch heute noch, Tris. Ich bin ein harter Junge, und kein…“ Joey wurde lachend von seinem Freund unterbrochen: „Was? Ein Depp? Ein Weichei? Komm schon, Joey, als ob das wen interessieren würde. Wir leben in einer aufgeklärten Zeit und nicht mehr im Mittelalter.“
 

Ich aß schweigend mein Mahl, wobei mich Joey am Bauch kraulte. Er wollte es alleine regeln, also beschränkte ich mich darauf, wenn nötig, einzuspringen. „Trotzdem, man wird uns schief angucken. Wir werden in der Schule eines der Hauptgesprächsthemen sein. Was machen wir im Sportunterricht?“
 

Kaiba tupfte sich mit einer Serviette den Mundwinkel ab und überschlug die Beine. „Du bist sowieso das Gesprächsthema Nummer eins, Wheeler. Es vergeht keine Woche, in der du nicht irgendeine Blamage ablieferst. Darüber solltest du dir keine Gedanken machen. Außerdem: Seit wann stört es dich, zuerst zuzuschlagen und dann zu reden, um deine Männlichkeit und Ehre zu verteidigen?“
 

Gekonnt wich Kaiba meiner Gabel samt aufgespießtem Fleischstück aus, welche ihm Joey entgegenwarf. „Nanana, ein wenig mehr Respekt in meinem Haus, ja? Ewig wird dich dein kleiner Freund auch nicht beschützen können. Steh wenigstens zu ihm, du hast ihm genügend Schwierigkeiten eingebrockt.“
 

Ich konnte Joeys Brust an meinem Rücken spüren, welche sich in unregelmäßigem Abstand hob und senkte. Wahrscheinlich würde er gleich ausrasten. Sanft drapierte ich meine Hände auf der Seinen, welche meinen Bauch nach wie vor streichelte.
 

„Yugi, darf ich dich einmal was fragen?“ Tea hatte gerade mit ihrem kleinen Freund getuschelt, der nun zu mir herübersah. Er nickte lächelnd: „Klar, frag nur.“ Warum hatte ihn diese Stimme, dieser Mahad, Pharao genannt? Was hatte es mit diesem komischen Ring auf sich?
 

„Kennst du einen Mahad?“ Ich schrägte meinen Kopf ein wenig und Yugis Lächeln wurde noch ein wenig breiter. „Das erklärt deine Affinität zum Schwarzen Magier. Ja, ich kenne Mahad, oder besser gesagt ein Teil von mir. Hat er sich dir gezeigt?“
 

Kaiba schnaubte abfällig: „Diese Märchen schon wieder. Reinkarnation, Magie, Schatten…alles lächerlich.“ Der CEO schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Ihr könnt heute hierbleiben, aber seid nicht zu laut. Ich muss mich auf die nächste Firmensitzung vorbereiten.“ Leise zog Kaiba die Tür hinter sich zu und wir waren unter uns, mal abgesehen von Mokuba, der meinem Gespräch aber auch aufmerksam folgte.
 

„Ja, nein, also…“ Ich rang um Worte. „Ihr könnt mich jetzt für einen Spinner halten, aber mir ist in der VR jemand erschienen, ein junger Mann mit orientalischem Touch. Er trug alte, komische Kleidung und wirkte so vertraut. Mir hat er sich als Mahad vorgestellt.“
 

Yugi nickte leicht: „Ja, Mahad war ein Hohepriester des Alten Ägyptens und ein guter Freund des damaligen Pharao. Er hat seine Lebensessenz in den Schwarzen Magier übertragen, und diesen so überhaupt erst geschaffen.“
 

Ich seufzte leise. So wie alle anderen, mit Ausnahme von Joey und Mokuba dreinschauten, glaubten sie wohl Yugis Story. War ich von Irren umgeben? War ich selbst irre, weil ich dieser aberwitzigen Geschichte glauben wollte.
 

„War es darum so einfach, zu kämpfen? Ich wusste teilweise instinktiv, was zu tun war? Es fühlte sich richtig an. Ich fühlte mich…frei.“ Yugi nickte erneut. „Ja, deine Energie und die von Mahad sind wohl eins. Du bist seine Reinkarnation. Eigentlich…“ Dabei senkte sich der Blick meines kleinen Freundes und auch Bakura sah zur Seite.
 

„Was ist los?“ fragte ich und schob dabei die Augenbrauen in die Höhe. Hatte ich etwas Falsches gefragt oder gesagt? „Nun, siehst du meine Halskette?“ Yugi hielt das pyramidenartige Ding in die Höhe. „Ja, natürlich. Ein außergewöhnlicher Schmuck. Ich wollte dich schon immer mal fragen, woher du es hast.“ Mit einem leisen Klirren kehrte das Milleniumspuzzle an Yugis Brust zurück. „Das ist einer der Milleniumsgegenstände. Es gibt sieben davon. Ich besitze einen, genauso wie…“ Sein Blick glitt dabei zu Bakura, welcher ein wenig beschämt wirkte.
 

„Weiter? Dieses schmucke Beiwerk kann was?“ Man konnte die Ungeduld in meiner Stimme hören. „Jeder Gegenstand hat eine besondere Eigenschaft. Pegasus hat ein Auge besessen, mit dem er in den Geist seiner Gegner schauen konnte. Es gibt noch den Stab, die Halskette, den Schlüssel, die Waage und…“ Ich vollendete seinen Satz: „Einen Ring, oder?“ Yugi nickte. „Ja. Begnüge dich fürs Erste damit, dass es äußerst seltene und wertvolle Gegenstände sind. Der Ring ist…anders als der Rest.“
 

Das war wieder einer der Momente wo Fakt und Realität gegen Glaube und Wahnsinn in mir ankämpften. Ein Auge, mit dem ich in den Geist von jemandem schauen konnte? Das war doch lächerlich. Den Blicken meiner Freunde nach zu urteilen glaubten sie diesen Schwachfug aber.
 

„Wir sprechen später drüber, einverstanden? Kaiba hat einen riesigen Indoor-Pool, den wir dringend einmal ausprobieren sollten.“ Yugi zwinkerte nur und ich machte mich wieder über mein Essen her.

„Wow, du machst ja Joey Konkurrenz was Appetit und Manieren angeht“ schmunzelte Tea. „Lasch mich, ich bin hungrig“ konterte ich und führte meine Fresseskapade unbeirrt fort.
 

Nach dem Essen begaben wir uns in einen weiß gefliesten Raum, der tatsächlich einen Swimming-Pool enthielt. Alle, sogar Joey, plantschten im Wasser. Dieser behielt jedoch sein T-Shirt an, mit der Begründung „Wenn es klebt, regt es die Vorstellungskraft nur noch mehr an“. Wir spielten eine Runde Wasserball, wobei Mokuba, Joey, Yugi und ich ein Team gegen Duke, Tristan, Tea und Bakura bildeten. Letzterer wirkte ein wenig abwesend, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Unser Team verlor haarscharf, was wir aber mit einer Runde „Tauchen“ der anderen konterten.
 

Nach dem freien Nachmittag machten wir uns gemeinsam an die Hausaufgaben für Englisch, Japanisch und Geschichte. Mokuba verzog sich inzwischen in sein Zimmer. Zum Abendessen gab es gebratenen Reis, Fisch und Nudeln. Wir vermieden jegliche Gespräche über den gestrigen Tag und konzentrierten uns lieber auf andere Dinge, wie etwa Tristans neuestes Stuntvideo, Bakuras Geständnis, dass er mit einem Mädchen aus der Parallelklasse geknutscht hätte, und Teas Ideen für den Weihnachtsball. In der gesamten Zeit, hielt Joey entweder meine Hand, streichelte, oder berührte mich sonst irgendwie. Zumindest vor unseren Freunden war es ihm nicht peinlich.
 

„Mann bin ich müde“ gähnte Tristan und streckte sich ausgiebig. Duke nickte: „Ich auch. Es ist ja auch schon spät.“ Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es kurz nach elf war. „Hauen wir uns hin Leute, hm? Morgen ist schulfrei. Ich habe eine SMS bekommen, dass irgendetwas mit der Heizung nicht stimmt.“ Alle sahen Tea einstimmig sauer an. „Mensch, Tea – dann hätten wir die Hausaufgaben heute ja gar nicht machen müssen.“ Joey schob beleidigt seine Unterlippe vor. „Dir schadet es sowieso nicht, mal ein wenig früher deine Arbeiten zu bewältigen, Meister der Prokrastination.“ Der fragende Gesichtsausdruck meines Freundes ließ mich schmunzeln. „Sie meint, du schiebst alles vor dich her.“
 

Wir alle lachten lautstark, als Joey sich beschwerte, was sich Tea denn herausnehme. Er habe bisher noch jede Aufgabe erledigt. Nach Teas Konter, dass dies meist zu spät gewesen sei, wurde ich von einem schmollenden Joey aus dem Raum gezogen. „Gute Nacht, Leute. Bis morgen!“ Ich winkte ihnen noch zu, nur um dann ins Zimmer geschliffen zu werden.
 

Joey und ich putzten uns die Zähne und unterhielten uns über Duel Monsters, ehe wir gemeinsam im Bett, eingemümmelt in die Decke, und eng aneinandergepresst, langsam wegdämmerten. „Ich liebe dich, Joey“ hauchte ich ihm noch zu. Sein regelmäßiger Atem verriet mir, dass er bereits schlief. Dem schloss ich mich auch an.

Alptraum

Ein lauter Schrei riss mich aus meinem Schlummer. Schlaftrunken lugte ich zur Seite und sah Joey, welcher panisch um sich schlug. Er riss und kratzte dabei, warf sich im Bett herum und brüllte immer wieder, jemand solle doch aufhören ihn so zu quälen.
 

Ich schüttelte den Kopf um einigermaßen wach zu werden, machte die Nachttischlampe an und griff nach seinen Handgelenken, welche ich fest umschlossen hielt. „Joey? Hey, Joey! Wach auf! Alles gut, nur ein Alptraum!“ Tatsächlich öffnete mein Freund die Augen und starrte mich an. Furcht und Trauer spiegelten sich in seiner braunen Iris wider.
 

„Hey, Schatz. Du hattest einen Alptraum“ konstatierte ich und ließ ihn sogleich los. Vorsichtig strich ich meinem Freund über die Stirn, was seinen panischen Gesichtsausdruck ein wenig weichen ließ. „Dämliche Horrorfilme“ murmelte Joey halbherzig. Ich seufzte leise. Das war kein gewöhnlicher Alptraum gewesen.
 

„Joey? Sicher, dass es nur ein Horrorfilm gewesen ist?“ Meine Finger streichelten zärtlich über seine Wange, die feucht und verklebt von Schweiß war. „Was sollte es denn sonst sein?“ fragte der Blonde mit einem halbherzigen Lachen. Mir kamen da so einige Dinge in den Sinn. „Schatz? Du hast dich heute Vormittag schon so komisch verhalten. Was ist los?“ Bewusst behutsam versuchte ich, mittels Stimme und Gestik, den Finger langsam auf seinen wunden Punkt zu bewegen.
 

„Das ist nichts, es war einfach nur…“ Joey zögerte den Satz zu vollenden. Was war denn los? Ich setzte mich auf und zog meinen Freund in eine Umarmung. Meine rechte Hand strich dabei beruhigend über seine Schulter. „Ist es wegen deinem Vater?“ fragte ich und wurde prompt mit Stille belohnt. Für die nächsten Minuten entschloss ich mich, Joey einfach zu signalisieren, dass ich da bin, ihm zuhören würde, wenn er mit mir sprechen wollte.
 

Nach einer Weile schluchzte der Blondhaarige leise und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. „Es, ist, ich…“ Meine Wenigkeit hielt die Luft an nur um ihm die Worte aus dem Mund zu nehmen: „Er misshandelt dich, oder?“ Joey nickte heftig und drehte den Kopf weg, als er sprach: „Er trinkt, dann schlägt er mich, bedroht mich, gibt mir die Schuld daran, dass er und meine Mutter sich getrennt haben…“ Endlich war es raus. Yugi und Co hatten Recht gehabt.
 

Ich strich Joey weiterhin über die Schulter und bettete seinen Kopf an meine Brust. Warme Tränen rannen über meine Haut hinunter zum Bettlaken, welches die manifestierten Gefühle meines Freundes auffing. „Stammen daher deine blauen Flecken?“ fragte ich leise. Daraufhin herrschte wieder Stille, die kurz darauf von einem erneuten Schluchzen durchbrochen wurde.
 

„Schh, alles gut. Wir müssen darüber nicht sprechen, wenn du nicht möchtest.“ Meine Hand, die seine Schulter liebkoste, wanderte nach oben zu seinem blonden Haarschopf, welchen ich sanft kraulte. „Ich weiß es ist schwierig. Du liebst deinen Vater, und doch ist er so grausam zu dir. Diese Vorwürfe, sie nagen an dir. Du hörst sie wahrscheinlich Tag für Tag, Woche für Woche. Du seist an allem Schuld, was in seinem Leben schiefgegangen ist.“
 

Joeys Finger krallten sich in meine Brust, versuchten dort Halt zu finden, aber rutschten nur ab und hinterließen mit den Nägeln eine kleine Wunde die brannte. Er wirkte dabei wie ein Ertrinkender, der verzweifelt nach Halt suchte. Der Tränenstrom wurde stärker und die salzige Flüssigkeit vermischte sich mit meinem Blut, was das Brennen nur noch zusätzlich intensivierte.
 

„E-Er hat einmal gesagt, es wäre besser gewesen, wenn meine Mutter mich abgetrieben hätte. Ich sei ein Taugenichts, ein Versager, eine Niete. Wenn ich wenigstens anschaffen gehen würde, wäre ich ansatzweise nützlich“ presste Joey abgehakt hervor. Ich seufzte leise. So etwas tat weh, vor allem von den eigenen Eltern, oder zumindest einem Elternteil.
 

„Schatz?“ fragte ich vorsichtig und schob meine Hand unter sein Kinn. Mit sanftem Druck zwang ich ihn, mich anzusehen. Seine vom Weinen geschwollenen, geröteten Augen trafen auf meine grau-grünen Iriden und es brach mir das Herz, ihn so zu sehen. „Meine Mum hat etwas Ähnliches zu mir gesagt. Es ist schwer, damit umzugehen, ich weiß, aber es stimmt nicht. Du bist ein wundervoller, hübscher Junge, der humorvoll ist, intelligent, freundlich, ehrlich, zuverlässig, aufgeschlossen und hilfsbereit. Dein Vater sucht ein Ventil. Er braucht jemandem, dem er den Schwarzen Peter zuschieben kann, damit er ja keine Verantwortung übernehmen muss. Deine Mutter und Serenity sind weggezogen, da bleibst nur du übrig.“
 

Joey schüttelte heftig den Kopf und versuchte sich aus meiner Umarmung zu entwinden: „Er ist mein Vater. Ich muss ihn stolz machen.“ Ich biss mir auf die Unterlippe um jetzt nichts Falsches zu sagen. Ihm an den Kopf zu werfen, sein Vater sein versoffener Taugenichts, der an den Beinen aufgehängt gehörte, damit ihm der Alk aus dem Mund tropfte, damit er wenigstens einmal nüchtern war, wäre nicht förderlich gewesen. „Joey, Schatz. Dein Vater ist, wenn er betrunken ist, nicht mehr er selbst. Glaube mir, meine Mutter ist ähnlich. Bitte beruhige dich, ja?“ Damit brach sein Wiederstand auch schon zusammen, und ich konnte ihn wieder in meine Arme ziehen.

Nach einer Weile hörte er auf zu weinen und der Tränenstrom versiegte. Seine Atmung wurde ruhiger. „Geht es dir jetzt ein wenig besser, Schatz?“ fragte ich und wurde mit einem leisen „Ja“ abgespeist. „Es muss dir nicht peinlich sein, schon gar nicht vor mir. Reden hilft, zumindest am Anfang.“
 

Langsam beugte ich mich zu ihm hinab und küsste ihn sanft auf die Lippen. Joey versteifte sich und drückte mich mit den Händen weg. „Lass mich, ich will das…ich…wenn mein Vater das mit uns herausfindet, dann…“ Ich musste mich nun beherrschen, um nicht eine Schimpftirade auf den alten Wheeler loszulassen. Darum wollte Joey nicht, dass es öffentlich wird, dass ich und er ein Paar waren.
 

„Er wird es auch nicht erfahren, versprochen.“ Ich bemühte mich, meine Enttäuschung zu verbergen. Joey stand nicht zu mir, zu uns, und vor allem hatte er mich gerade wegen seines Vaters beiseitegeschoben. Vorsichtig griff ich mit meiner Hand nach seiner und verwob unsere Finger miteinander. Diesmal blockte er nicht ab, im Gegenteil. Seine Finger umschlagen meine Hand und drückten sie fest. „Tut mir Leid, dass ich vorhin so forsch reagiert habe.“ Ich schüttelte heftig den Kopf und zog ihn mit mir ins Bett zurück. „Nichts passiert.“
 

Mein Daumen streichelte über seinen Handrücken und ich machte das Licht erst aus, als Joey wieder eingeschlafen war. Er hatte es vermieden, noch weiter mit mir zu sprechen oder sonst irgendwie zu reagieren. Ich konnte mir nur schwerlich ausmalen, welchen inneren Kampf zwischen Anerkennung von seinem Vater und Liebe zu mir er ausfechten musste. Eines war mir jedoch bewusst: Ich wollte Joey nicht verlieren, zumindest nicht wegen einem Alki.

Verhandlungen

Der nächste Morgen verlief recht ereignislos. Joey war wie ausgewechselt. Wir sprachen auch nicht über seinen Anfall von gestern. Ich wollte ihn nicht bedrängen, schließlich konnte er wieder jeden Moment zumachen. Wir zogen uns also an und gingen zum Frühstück, wo Kaiba die nächste Bombe platzen ließ.
 

„Wie bitte? Warum sollten David und ich aussagen müssen? Haben die einen Schaden, oder was? Wir sind die Opfer, und Mei die Täterin!“ fauchte Joey und funkelte Kaiba wütend entgegen. Dieser nippte seelenruhig an seinem Kaffee. Mir war zwar auch der Appetit vergangen, dennoch blieb ich im Gegensatz zu meinem Freund einigermaßen ruhig.

Meine rechte Hand grabbelte unter dem Tisch nach seiner und drückte sie ganz sanft. „Ich verstehe es natürlich, aber führt daran kein Weg vorbei?“ fragte ich. Kaiba legte seine Morgenzeitung beiseite und schüttelte den Kopf. „Nein. Auch ich werde eine Aussage tätigen müssen. Es war schließlich meine Software, die hier missbraucht wurde. Es wird auf dem Rücken der Kaiba Corporation ausgetragen, und ich kann es nicht zulassen, dass unbedarfte Aussagen eurerseits den Ruf der Firma in den Dreck ziehen.“
 

Joey schüttelte meine Hand ab und warf Kaiba einen giftigen Blick zu. „Die Firma ist dir also wichtiger als das Wohlergehen deiner Freunde?“ Das letzte Wort bewog den CEO dazu, die Lippen amüsiert zu kräuseln. „Meine Freunde? Ich glaube du irrst dich ein wenig, Wheeler. Du bist geduldet, und David ganz annehmbar. Ihr seid Mokubas Freunde, nicht meine.“ Ich seufzte innerlich. Joey würde wieder gleich explodieren.
 

„So? Dann, dann… Du kannst mich mal, Kaiba!“ Mein Freund stürmte aus dem Esszimmer, und ich war ehrlich gesagt froh, dass sich die anderen alle zum Lernen verzogen hatten. So blieben nur Kaiba und ich übrig. Dieser schüttelte nur den Kopf, als ich Joey nachgehen wollte. „War das wirklich nötig?“ fragte ich den CEO seufzend und nippte an meinem Kakao.
 

„Er wird in letzter Zeit ein wenig aufmüpfig. Du scheinst ihm Selbstvertrauen zu geben. Außerdem hat er wohl erkannt, dass ein Konflikt mit mir, in meinem Haus, eher sinnlos ist. Früher hätten ihn Muto und der Kindergarten zurückhalten müssen; heute schafft er das auch alleine.“ Kaiba stellte seine Kaffeetasse klirrend auf den Unterteller und stützte sich mit den Ellenbogen am Tisch ab. Seine Finger schob er ineinander und beobachtete mich, wie ich mich dazu zwang, einen Bissen Toast zu mir zu nehmen.
 

„Wir werden natürlich mit einem Anwalt hingehen, und uns auf ein dementsprechendes Verfahren vorbereiten.“ Ich hustete lautstark und klopfte mir auf die Brust. „Verfahren? Warum?“ fragte ich verständnislos. Das mit der Aussage hatte ich kapiert, aber warum mussten wir bei einem Verfahren dabei sein? „Wir werden als Zeugen fungieren, oder besser gesagt ihr. Keine Angst Kleiner, es stehen auch mein Name und das Ansehen der Kaiba Corporation auf dem Spiel. Ich lasse euch nicht im Stich, zumal mir Mokuba das nie verzeihen würde, wenn unser neuestes Familienmitglied in Schwierigkeiten steckt.“
 

Ich ließ den Vollkorntoast auf meinen Teller fallen und schrägte ungläubig den Kopf. „Bitte?“ fragte ich und wurde mit einem amüsierten Schmunzeln seitens Kaiba belohnt. „Mokuba hat mir von eurem Nachtmarsch erzählt.“ Ich schluckte schwer. Mokuba hatte was? Damit konnte ich mir wohl meine Bitte an Kaiba komplett in die Haare schmieren. Wahrscheinlich würde er mir, früher oder später, irgendwie mein restliches Leben zur Hölle machen.
 

„Ich bin ehrlich gesagt ein wenig fasziniert von dir, Kleiner.“ Er hatte vorhin meinen Namen benutzt, das war ein kurzer Lichtblick gewesen. Jetzt war er wieder zu „Kleiner“ übergegangen. Ich verstand Kaiba nicht, und konnte seine Handlungen weder voraussehen noch deuten. So entschied ich mich zu schweigen, und die Krümel meines halbgegessenen Frühstücks anzustarren. „Mokuba mag zwar Yugi und Wheeler gerne, aber er hat an dir einen Narren gefressen. Das Hündchen scheint manchmal sein bisschen Hirn anzustrengen, bevor er handelt und du hast dich in der Virtuellen Realität sehr gut geschlagen.“ Kaiba überschlug seine Beine auf dem Stuhl und veränderte seine Position nur kurz, um einen Schluck Kaffee zu trinken.
 

„Wenn du noch ein einigermaßen passabler Duellant wirst, könnten wir uns, unter Umständen, vielleicht sogar verstehen.“ Der Braunhaarige starrte mich noch eine Weile lang an, ehe er in seine Jackentasche griff, und mir ein weißes Kuvert zuschob. Der Umschlag rutschte über den blank polierten Tisch und hielt genau vor mir an. „Was ist das?“ fragte ich.
 

„Eine Einladung“ antwortete er knapp. Ich rollte mit den Augen. „Für?“ bohrte ich weiter nach und musste mich bemühen, der aufflackernden Neugierde nicht nachzugeben, und das Kuvert gleich aufzureißen. „Für das Turnier an den Weihnachtstagen. Pegasus hat sich dieses Jahr dazu entschlossen, dass eine Art Partnerkampf stattfinden soll.“ Partnerkampf? Pegasus? Meinte er Maximillien Pegasus? „Ich traue ihm auch weiterhin keinen Millimeter über den Weg. Wahrscheinlich ist es wieder nur eine Angeberei, aber es werden genug Leute von Rang und Namen anwesend sein, die horrende Summen investieren wollen, wenn wir gewinnen.“ Wir? Hatte ich richtig gehört?
 

„Wen meinst du mit wir?“ fragte ich und drehte das Kuvert um. In einer feinsäuberlichen Handschrift war mein voller Name „David Pirchner“ auf den Umschlag geschrieben worden. „Dich und mich.“ Kaiba nippte wieder an seinem Kaffee und ließ sich nicht in die Karten schauen, als ich ihn komplett entgeistert ansah. „Witze sind nicht deine Stärke“ entgegnete ich nervös. Der CEO hob ein wenig die Mundwinkel an: „Ich beliebe nicht zu scherzen.“
 

Ich uffte laut. Hatten eigentlich alle außer mir einen Dachschaden? Träumte ich? „Nimm doch Yugi? Der ist schließlich einer der besten, wenn nicht sogar der beste Duellant?“ fragte ich und klammerte mich dabei an den letzten Strohhalm, Kaibas Angebot auszuschlagen.

„Muto eignet sich nicht. Mit ihm zu gewinnen ist keine Kunst. Außerdem würde es meinem Ansehen als Duellant schaden, wenn ich mich dazu herabließe, Seite an Seite mit Yugi zu kämpfen. Du bist unbekannt und neu.“ Ich schüttelte den Kopf. „Kaiba, das geht nicht. Ich versaue es. Ich bin kein Profi wie ihr. Mit Glück reißt man nicht immer einen guten Platz.“
 

„Du spielst mit mir, dementsprechend kannst du nicht verlieren. Außerdem hat sich Muto bereiterklärt, mit dir zu üben, sollten dir meine Methoden zu unangenehm sein.“ Ich ließ den Kopf hängen und seufzte laut. „Habe ich denn eine Wahl?“ Kaiba schüttelte den Kopf und bog seine Finger ein wenig durch. „Die hast du natürlich nicht.“ Ich biss mir auf die Lippen. Natürlich wäre es spannend, an der Seite einer echten Legende zu kämpfen, vielleicht sogar zu gewinnen, aber andererseits würde mir Kaiba den Hintern aufreißen, wenn wir verloren.
 

„Ich mache es, aber nur unter einer Bedingung.“ Meine Stimme zitterte ein wenig. Der Braunhaarige zog die Augenbrauen in die Höhe. „Die da wäre?“ fragte er ruhig und trank seinen letzten Rest an Kaffee aus. „Du bezahlst einen Flug samt Aufenthalt in einem Hotel für die Weihnachtsferien.“ Jetzt würde er mir an die Gurgel gehen, mich einen undankbaren Schmarotzer nennen, mir seine Überlegenheit unter die Nase reiben. „In den Ferien ist das Turnier, du und Wheeler werdet…“ fing er an, wurde jedoch von mir unterbrochen. „Ich möchte Joey zu Weihnachten ermöglichen, dass er seine Schwester sehen kann. Serenity und er sind, was ich so mitbekommen habe, unzertrennlich, und er leidet sehr an der Distanz.“
 

Betretenes Schweigen. Kaiba musterte mich eine Weile und seine eisblauen Augen hatten den unangenehmen Effekt, dass sie komplett ausdruckslos wirkten. „Einverstanden. Sie und Wheeler können über Weihnachten und die Feiertage im Gästeflügel nächtigen. Ich komme für Hin- und Rückflug auf.“
 

Mein Herz machte einen Sprung. Er hatte mir wirklich zugesagt! Wahnsinn! Ein kleines bisschen mehr, und ich wäre ihm beinahe um den Hals gefallen. „Ich denke, du solltest dich nun um deinen Freund kümmern, oder er kommt auf dumme Ideen.“ Kaiba schob den Stuhl zurück und stand auf. „Dieser Tage werden wir dein Deck begutachten. Wenn wir gewinnen, erlaube ich dir, aus meinen gesamten Karten auszuwählen.“ Damit war ich auch schon alleine. Einerseits fassungslos, andererseits glücklich.

Angst vor dem nächsten Tag

Ich begab mich zum Gästezimmer und drückte die Tür leise auf. Joey hatte sich aufs Bett geworfen und wirkte genervt. Sein Kopf war auf den Händen gebettet und er starrte stumpf an die Decke. Kaibas Worte mussten ihm wohl schwer zugesetzt haben, dazu noch der Ausbruch von gestern. Ich konnte seinen Gemütszustand durchaus nachvollziehen.
 

„Schatz?“ fragte ich vorsichtig und drückte die Tür hinter mir wieder zu. Mittlerweile war ich es gewohnt, Joey in dieser vertrauten Form anzusprechen. Er regte sich tatsächlich ein wenig und quittierte meine Frage mit einem leisen „hm?“.
 

Ich setzte mich an die Bettkante und strich meinem Freund zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht, was ihn zu einem schmalen Lächeln bewog. „Ist es wegen gestern?“ fragte ich. Joey schüttelte den Kopf: „Nein, wegen morgen.“ Ich seufzte leise und klemmte ihm eine weitere Haarsträhne hinter sein Ohr. „Ist es so schlimm für dich, einen Jungen zu lieben?“ Innerlich biss ich mir auf die Lippen. Meine Tonlage verriet eindeutig Enttäuschung.
 

„Ich, nein, ja“ begann der Blonde und setzte sich dann genervt auf. Seine Finger umschlossen meine rechte Hand und drückten diese sanft. „Nein, ist es nicht. Es ist wunderschön, mit dir Zeit zu verbringen. Ich habe trotzdem ein wenig Angst.“ Joeys Blick wirkte gequält. „Wenn das rauskommt, mein Dad es rausfindet, dann…“ Mein Freund beendete den Satz nicht sondern hüllte sich einfach in betretenes Schweigen.
 

„Ich kann in der Öffentlichkeit weiterhin einen deiner besten Freunde mimen, wenn du das möchtest, aber dir sollte bewusst sein, dass das keine Dauerlösung ist“ sagte ich sanft und zog Joey auf meine Knie. Dieser bettete sein Haupt tatsächlich in meinen Schoß und seufzte laut: „Das weiß ich doch selbst. Ich bin einfach hin und hergerissen.“ Automatisch strich ich meinem Liebsten über die Stirn und beobachtete ihn, wie er die Augen schloss.
 

„Joey, ich werde egal bei welcher Entscheidung hinter dir stehen, aber erwarte nicht, dass wir dieses wackelige Konstrukt aus Lügen, welches bereits jetzt zu bröckeln beginnt, lange aufrechterhalten können.“ Sein Gesichtsausdruck verkrampfte sich bei meinen Worten. „Es ist nichts, wofür du dich schämen müsstest. Wir leben im 21ten Jahrhundert, in einer Zeit der Aufklärung und Modernisierung. Nur weil es mal verpönt war, muss es nicht wieder verpönt sein.“
 

Joey brummte nur und drehte sich in meinem Schoß ein wenig. „Schatz? Etwas anderes. Ich weiß nicht, wie du Weihnachten feierst, aber ich werde wahrscheinlich nicht dabei sein.“ Schlagartig riss der Blonde die Augen auf und versah mich mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck: „Also bin ich dieses Jahr wieder gezwungen, mit meinem Alten zu feiern?“ Ich blinzelte perplex ob seiner Worte. Dieses ambivalente Verhalten bezüglich seines Vaters war mir ein Rätsel.
 

„Nein, das musst du nicht“ lächelte ich und strich Joey über die Wange. „Du wirst deine Ferien dieses Jahr weit weg von deinem Vater verbringen. Ich hoffe dein Geschenk bereitet dir Freude.“ Meine Lippen legten sich auf die von Joey und stahlen ihm einen flüchtigen Kuss. „Wie meinst du das?“ fragte er neugierig und setzte sich auf.
 

„Das ist eine Überraschung“ grinste ich. Der Blonde schmollte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du wirst es deswegen auch nicht früher erfahren, Schatz“ schmunzelte ich und ließ mich nun meinerseits in seinen Schoß sinken. Joey strich mir über Brust und Nacken, was ein angenehmes Prickeln an den berührten Stellen hinterließ. „Reist du denn nach Hause?“ fragte er, ohne sein Tun zu unterbrechen. „Nein, Joey. Ich werde mit Kaiba an einem Partnerduell teilnehmen.“ Mein Freund schrägte den Kopf. „Lange Geschichte. Ich mache es nicht ganz freiwillig, und was er sich davon verspricht, weiß ich auch nicht. Er war jedenfalls so nett, um mir bei deiner Überraschung behilflich zu sein.“
 

„Du und ein Duell?“ grinste mein Freund, was mich dazu veranlasste, ihm halbherzig gegen die Schulter zu boxen. „Was soll das heißen?“ fragte ich gespielt gekränkt. „Es gibt bessere Duellanten als dich“ antwortete Joey und grinste dabei noch breiter. Ich rollte mit den Augen: „Mh, dich, oder?“ Ein eifriges Nicken seinerseits ließ mich etwas von „eitler Pfau“ murmeln und meine Hände schlangen sich um seinen Nacken. Langsam näherten sich unsere Gesichter und wir küssten uns erneut, innig und zärtlich.
 

Dieses Gefühl von Geborgenheit und Nähe schien mit jedem Kuss, jeder Umarmung, jeder Berührung und jeder Zärtlichkeit die wir austauschten, stärker zu werden. Zumindest das schien Joey nicht zu bereuen. Nach einiger Zeit lösten wir uns wieder voneinander und ich blickte in die rehbraunen Augen meines Freundes. „Ich liebe dich“ hauchte ich ihm zu, was mit einem neuerlichen Kuss belohnt wurde.
 

„Ich dich auch“ antwortete er danach und bettete seine rechte Hand auf meinem Bauch. Seine linke Hand stützte meinen Kopf. „Serenity würde sicher einen Narren an dir fressen“ lächelte Joey. Das Glitzern in seinen Augen war wunderschön. Wie weich und zeitgleich traurig er den Namen seiner Schwester aussprach – ich war mir sicher, dass Serenity und ich die wichtigsten Personen in seinem Leben waren. „So? Denkst du?“ schmunzelte ich und schmiegte meinen Hinterkopf an seine langen, schlanken Finger.
 

„Ganz sicher. Du siehst gut aus, bist intelligent, hast ein bezauberndes Lächeln…“ begann Joey einige meiner Vorzüge aufzuzählen, bis ich ihm lachend meine Hand auf den Mund legte. „In der Regel wollen die Leute etwas von mir, wenn sie mir so Honig ums Maul schmieren.“ Der Blondhaarige entgegnete irgendetwas gedämpft durch meine gespreizten Finger, was mich nur umso mehr auflachen ließ. „Mh, und du mich auch“ grinste ich. Joey entwand sich meinem Maulkorb und kicherte: „Ich werde in Zukunft einfach mit Komplimenten sparen. Sie scheinen für dich etwas Alltägliches zu sein.“
 

Spielerisch boxte ich Joey gegen die Brust. „Versprichst du mir etwas, Schatz?“ fragte ich. Der weiche, zärtliche Blick, kombiniert mit einem eifrigen Nicken ließ mich dahinschmelzen. Joey war wirklich mehr als nur süß. „Mache dir einfach keine Sorgen wegen morgen, okay? Ich bin da, genauso wie Tristan, Yugi, Tea, Mokuba und Duke. Wir alle halten zu dir.“ Mit diesen Worten richtete ich mich auch auf und nahm Joey an der Hand.
 

„Wohin gehen wir?“ fragte er verdutzt, während ich ihn Richtung Ausgang bugsierte. „Genug Süßholzgeraspel für einen Tag. Zeit, dass wir etwas Anständiges machen.“ Mein Vorschlag entpuppte sich als eine Runde Duel Monsters mit Tea als Partnerin, während Joey und Yugi ein Team bildeten. Tea und ich verloren natürlich haushoch, aber Yugi meinte, wir beide hätten uns wirklich gut geschlagen. Tristan und Bakura kritisierten sämtliche von Joeys Spielzügen, was diesen zu einigen wütenden Schimpftiraden bewegte, die uns alle zum Lachen brachte.
 

Den restlichen Tag verbrachten wir im Swimmingpool der Kaibas, wo uns schlussendlich auch Mokuba Gesellschaft leistete. Nach dem Abendessen verzogen wir uns auf die Zimmer. Kaiba selbst hatte uns den ganzen Tag lang nicht beehrt.
 

Hundemüde ließ ich mich nach dem Zähne putzen ins Bett fallen. Ich war wegen morgen eigentlich gar nicht nervös. Kaiba hing in der Sache mit drin, dementsprechend würde man uns in Ruhe lassen. Außerdem hatte ich immer noch die Voiceaufnahme von Mei.
 

Joey hatte es sich neben mir gemütlich gemacht und mich in seine Arme gezogen. Ich schmiegte mich an seinen Körper und lächelte glücklich. Dieses Mal trug er ein viel zu großes Shirt und eine lange Jogginghose, während ich oberkörperfrei, nur mit kurzer Trainingshose bekleidet, einschlief. Joeys regelmäßiger Atem verriet mir kurz vorher noch, dass es ihm wohl ähnlich ergangen war.

Vorleben

Der Milleniumsring leuchtete in meinem Träumen auf. Es war, als ob man mir die Seele aus dem Körper reißen würde. Ich schrie stumm ob des Schmerzes. Es war dunkel um mich herum. War das noch ein Traum? Wenn ja, dann vierteilte mich gerade jemand bei lebendigem Leib. Ich konnte nicht klar denken. Ein Stechen, ausgehend von meinem Herzen, kroch durch meinen ganzen Körper.
 

Ebenso plötzlich, wie der Schmerz aufgekommen war, war er auch schon wieder verschwunden. Die Schwärze um mich herum wich langsam. Zuerst konnte ich nur verschwommen Schemen erkennen. Nach und nach wurde das Bild vor meinen Augen immer klarer. Träumte ich noch immer?
 

Eisiger Wind fegte über eine Zeltstadt hinweg. Die weißen Planen flatterten wegen der Luft, welche sie, gemeinsam mit den Pfosten, aus der Erde ziehen wollte. Rund um das Lager hatte man eine hölzerne Palisadenbarrikade errichtet. Sauber zugespitzte Baumstämme waren aneinandergereiht worden.
 

Der Himmel war wolkenverhangen und grau. Bald würde es zu regnen beginnen. Vom bevorstehenden Sturm ließ sich das rege Treiben im Lager aber nicht beirren. Dutzende Männer in schweren Plattenrüstungen liefen umher, brüllten sich gegenseitig irgendwelche Befehle zu. Manche reihten sich ein, um Suppe aus einem der riesigen Kupferkessel zu ergattern, deren offene Feuerstellen von den Mägden mit knapper Not aufrechterhalten wurden.
 

Pferde wieherten in der Ferne, und man hörte das unablässige Hämmern von Metall auf Metall. Die Schmiede schufteten ohne Unterlass, um die Ausrüstung der Soldaten fertig zu bekommen. Ihr Herr überließ nichts dem Zufall. Sie würden in den Krieg ziehen, das wussten sie.
 

„Imposant, oder?“ fragte Mahad, der neben mir erschienen war. Ich blinzelte angestrengt und nickte daraufhin. Wo war ich jetzt schon wieder? „Das England des 15ten Jahrhunderts – zur Zeit der Rosenkriege“ beantwortete mein orientalischer Freund meine stumme Frage. Ich zog die rechte Braue in die Höhe. „Warum wir hier sind, ist kompliziert zu erklären. Es wird sich im Laufe der Geschichte lüften. Komm.“ Mahad lächelte mir entgegen und bedeutete mir, ihm zu folgen.
 

„Mahad? Sehen uns die anderen nicht?“ fragte ich und beobachtete einen Soldaten, der knapp an mir vorbeilief. Meine Frage wurde mit einem Kopfschütteln beantwortet: „Nein, wir durchleben eine gemeinsame, frühere Erinnerung. Nichts, was wir hier tun, beeinflusst die Vergangenheit.“
 

Wappenröcke waren sauber auf großen Holzbalken aufgehängt worden. Sie waren schneeweiß, mit einem pechschwarzen Schwan in der Mitte eines gelben Schildes. Mir gefiel das Wappen, beinhaltete es doch meine Lieblingsfarben. Mahad lachte leise und betrat das einzige schwarze Zelt, welches mittig im Lager thronte.
 

Drinnen hatte man den Boden flachgetrampelt worden. Rechts von uns befand sich ein kleiner Tisch mit Tintenfässchen und Feder, nebst einigen Pergamentrollen. Links hatte man über einer riesigen Holzplatte einige Karten und Briefe ausgebreitet. In der Mitte des Raumes stand ein Kapuzenstuhl aus weißem Holz. Ich musste mir die Augen reiben, und mich zwicken: War ich irre geworden?
 

Vor dem thronartigen Möbelstück kniete ein Junge, maximal 16 Jahre alt. Auf ihn sah jemand hinab, der mein Zwilling hätte sein können. Die gleiche bleiche Haut, die gleichen, dunkelblonden Haare. Seine graugrünen Augen ruhten auf dem Jungen, während er sich ruhig anhörte, was dieser zu sagen hatte. Sein Körper war von einer schwarzen Plattenrüstung bedeckt, deren Schulterpanzer zwei mir sehr vertraute Köpfe darstellten.
 

„Das ist…“ begann ich und Mahad nickte amüsiert. „Du erkennst den Schädel des Schwarzen Rotaugendrachens, hm?“ Tatsächlich. Die Konturen, das gespreizte Maul, sogar die Zähne – ein Meisterwerk der Schmiedekunst. Mein früheres Ich hatte die gepanzerten Finger ineinandergeschoben und schüttelte dabei den Kopf. „Heinrichs Bitte ist unmöglich zu erfüllen. Nicht einmal ich kann den Earl von Derby schlagen, geschweige denn es mit Christian Rosenkreuz aufnehmen. Ich muss ihn leider enttäuschen.“ Die Stimme meines Zwillings war etwas tiefer als die meine und auch kraftvoller. Er duldete keine Widerworte, das merkte man auch.
 

„Ohne Euch ist die Schlacht aber verloren, Mylord. Wir werden niemals hier anlanden können. Der rechtmäßige König verlässt sich auf Euch!“ Die Stimme des Jungen klang bestürzt und flehend. Langsam dämmerte es mir. „Das da bin ich, oder besser gesagt wir? Willst du mir gerade weismachen, dass wir zur Zeit der Rosenkriege für König Heinrich und die Lancasters gekämpft haben?“ Mahad bestätigte meine Frage mit einem Kopfnicken.
 

„Niemand ist Rosenkreuz´ Bestien gewachsen. Heinrich verlangt das Unmögliche. Außerdem will ich mich nicht in diesen Krieg hineinziehen lassen. König Richard hat mir persönlich keine Steine in den Weg gelegt, und ich wage es nicht, die Rosenkreuzritter gegen mich zu verfeinden.“ Die Augenbrauen meines Counterparts wanderten nach unten und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich dabei.
 

„Ihr sollt nur König Richards Armee in Bosworth schlagen, und den Weg zu Stonehenge freimachen. Bitte, Mylord, König Heinrich wird Euch jeden Wunsch erfüllen, den…“ Mein früheres Ich schnaubte verächtlich: „Was ich mir wünsche, ist unmöglich zu erfüllen, Junge.“
 

„Vielleicht kann ich es aber, Elias du Lac, aus dem Geschlechte Lancelot du Lacs.“ Eine Stimme vom Eingang bewog alle Anwesenden dazu, ihrem Klang zu folgen. Ein ernst wirkender Joey hatte die Zeltplane beiseite geschlagen. Er trug eine Rüstung, die verdächtig nach der des Flammenschwertkämpfers aussah. Der Zweihänder am Rücken, genauso wie der Helm am Gürtel, bestätigte meine Vermutung.
 

Elias´ Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Er setzte sich in seinem Stuhl ein wenig auf. „Heinrich muss verzweifelt sein, dich zu schicken. Was wünschst du, Christopher Urswick? Mich erneut zu verraten? Mir wieder alles zu nehmen?“ Erst jetzt konnte ich das Schwert mit grüner Klinge an der Seite meines früheren Ichs erkennen.
 

„Eine Aussöhnung, Eli“ flüsterte Christopher brüchig. Irgendetwas schien den früheren Joey zu bedrücken. Mit einer harschen Handbewegung wurde der Bote entlassen und Elias´ schüttelte angeekelt den Kopf. „Hier aufzutauchen ist an Niedertracht und Ehrlosigkeit nicht zu überbieten, Chris. Ich frage dich erneut: Was sind deine wahren Beweggründe?“ Beide benutzten die Kurzform ihrer Namen. Sie waren wohl miteinander vertraut.
 

„Vergebung“ kam es von Christopher leise, wobei er eine kleine Schatulle von seinem Gürtel zog. Sie war aus purem Gold und das Milleniumsauge prangte am Deckel. „Nichts, was du mir anbieten kannst, könnte mich verzeihen lassen.“ In den Augen von Elias blitzte aber die Neugierde.
 

„König Heinrich schickt mich mit besten Grüßen.“ Christopher trat auf seinen Gesprächspartner zu und kniete sich vor diesem hin, die Schatulle demütig in die Höhe haltend. Sein Blick wanderte zu Elias´ Stiefeln. Dieser Chris sah genau wie Joey drein, wenn er etwas ausgefressen hatte. Elias wiederrum war mein Spiegelbild, wenn ich mein Interesse vor etwas nicht verbergen konnte.
 

Langsam streckte mein früheres Ich die Hände aus und nahm die Schatulle entgegen. Vorsichtig wurde der Deckel abgenommen. Auf blauem Samt waren mehrere Karten gestapelt worden. Elias stockte der Atem und es trat ein Glanz in seine Augen, der mehr als nur Freude bedeutete.
 

„Weißt du, was du da gerade getan hast, Chris?“ fragte mein Counterpart, ohne von seinem vermeintlichen Schatz aufzusehen. „Ich weiß, Eli. Bitte verzeih mir. Ich habe den König und Jasper deinetwegen verraten.“ Verraten? Was meinte er damit? Wer war Jasper?
 

Elias strich über die oberste Karte. Sie wirkte deutlich rustikaler als die Duel Monsters Karten der heutigen Zeit. Pergament oder Leinen war das Material, auf welchem ein mir unbekanntes Monster prangte, oder ein Teil davon.
 

„Die Macht, ganz England, nein die ganze Welt zu erobern. Du bringst sie mir. Warum?“ Elias sah von der Karte auf und musterte den noch immer knienden Christopher vor ihm. „Weil ich dir vertraue; wir dir vertrauen.“ Der Blonde wagte es aufzusehen und konnte ein Lächeln in den Zügen seines Gesprächspartners erkennen.
 

„Was hält mich davon ab, zuerst Rosenkreuz und dann die beiden Könige zu vernichten? Ich halte gerade in den Händen, wonach Jasper und du gierten. Füge ich das letzte Stück hinzu, wird nichts mich aufhalten.“ Elias´ Stimme war kalt geworden, ebenso wie sein Lächeln.
 

„Wir müssen ihn aufhalten. Mahad, wir, du, ich, wir sind ja wahnsinnig! Wenn das stimmt, was dieser Elias sagt, dann…“ Mein geisterhafter Begleiter legte mir seine Hand auf die Schulter und schüttelte lächelnd den Kopf.
 

„Ich“ war Christophers leise Antwort. Das Lächeln auf Elias´ Zügen verschwand. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Ich hätte es mit einer Mischung aus Überraschung und Schmerz beschrieben. „Ich habe vor fünf Jahren aufgehört so zu fühlen, Chris. Dein Verrat hat mich kalt werden lassen.“ Der Dunkelblonde klang bedauernd, fast schon traurig.
 

„Ich weiß, Eli. Bitte, vergib mir. Wenn du noch irgendetwas für mich empfindest, dann…“ Christopher Urswick brach seinen Satz ab, als Elias den Kopf zur Seite drehte. Er weinte, und das stumm. Seine graugrünen Augen spiegelten einen Schmerz wider, der unfassbar groß sein musste. „Sag deinem König, ich werde tun, was er wünscht“ sagte der schwarzgepanzerte Ritter mit erstaunlich fester Stimme.

Joeys Ebenbild nickte stumm. Er rang sichtlich mit sich, nicht doch etwas zu sagen, verbeugte sich dann aber schlussendlich und verschwand aus dem Zelt. Elias griff sich an die Brust und gab sich stumm seinen Tränen und dem Kummer hin.
 

„Was hat denn Christopher getan, Mahad?“ Ich folgte meinem ägyptischen Führer, der ebenfalls nach draußen ging. „Beide waren sich einmal sehr nahe. Christopher Urswick hat seine Nähe zu Elias genutzt, um ihn zu bestehlen. Familienbesitz, genauso wie Elias´ Herz waren am Ende fort.“ Ich schluckte schwer. „Das, das muss aber nicht auch in der Gegenwart passieren, oder?“ Mahad schüttelte den Kopf: „Nein, natürlich nicht. Jede Existenz ist anders. Es sind eure Entscheidungen, die euer Leben bestimmen.“ Ich nickte erleichtert. „Kommen die zwei am Ende wieder zusammen?“ Mein Begleiter lächelte traurig: „Auch das wirst du sehen. Komm.“

Die Schlacht um Bosworth

Die Szene hatte sich plötzlich gewandelt. Mahad und ich befanden uns auf einer weiten, grasbewachsenen Ebene. Das Gebiet wurde von zwei Seiten her von schneebedeckten Bergen umrandet. Auf der einen Seite hatte sich das Heer von Elias du Lac versammelt. Demgegenüber stand König Richard III. mit seiner Armee.
 

Mein Vorfahre war zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Seine Mannen machten zwar einen entschlossenen und robusten Eindruck, der aber das Kräfteungleichgewicht niemals wettmachen konnte. Elias saß auf einem pechschwarzen Hengst. Der Schädel des Tieres war mit einem braunen Lederschutz versehen worden. Der junge du Lac hatte die Zügel um seine rechte Hand gewickelt. Elias trug dieses Mal einen schwarzen Umhang, dessen Innenseite rot gefüttert war. Sein Helm hatte die Form eines Rotaugenschädels, welcher sein Maul spreizte.
 

König Richard trug eine silberne Plattenrüstung unter seinem Wappenrock, den eine weiße Rose zierte. Sein Ross war schneeweiß und mit einem schwarzen Lederschutz an der Stirn versehen. Insgesamt nahmen sich beide Anführer nichts an Imposanz und Ehrfurcht. Der Kampf in dieser Ebene würde das Schicksal Englands entscheiden.
 

Beide lösten sich von ihren Heeren. Keiner schien es eilig zu haben, die Konfrontation mit dem Anderen zu suchen. Ich konnte aus den Augenwinkeln Mahads ein freudiges Lächeln erkennen. Er schien sich auf das Kommende zu freuen.
 

„Was führt Euch in die Ebenen von Bosworth, Elias?“ fragte der König und zügelte sein Ross. Dessen schwarzer Kontrahent tat es ihm gleich und nahm den Helm ab. In den Augen meines Vorfahren war Bedauern aber auch Entschlossenheit zu erkennen. „Ihr, mein König.“ Richard lächelte amüsiert. „Ihr habt Euch also endlich dazu entschieden, Partei zu beziehen?“ Der junge Lord nickte auf die Frage bejahend. „Ja, Eure Majestät. Ich werde mich einer Seite zuwenden.“
 

Richards Lächeln wurde noch breiter. Dessen weißer Umhang flatterte im aufkeimenden Wind. „Es ehrt Euch, dass Ihr die Wahrheit erkennt, Elias. Ihr werdet reich belohnt werden, wenn das alles vorbei ist.“ Mein Vorfahre senkte den Blick ein wenig: „Ich handle nicht aus materialistischen Gründen, Mylord, das wisst Ihr.“ Verwirrung machte sich in den Zügen des Königs breit: „Wie meint Ihr das?“
 

Elias´ Stimme war leise, und sie klang demütig, fast flehend: „Ich biete Euch hiermit die Möglichkeit der Kapitulation an, Richard of Gloucester. Ergebt Euch, und Euch und Euren Mannen wird nichts geschehen. Ihr habt mein Wort.“ Der König lachte schallend und legte dabei seinen Kopf in den Nacken: „Ist das Euer Ernst, Elias? Ihr? Ihr stellt Euch auf die Seite von Heinrich? Nachdem, was man Euch angetan hat? Euer Haus, Eure Ländereien – alles nur mehr ein Schatten seiner selbst.“ Richard deutete mit der flachen Hand nach hinten, zu seinen Soldaten: „Wie gedenkt Ihr diese Armee aufzuhalten?“
 

„Verzeiht mir mein König“ waren Elias´ letzte Worte, bevor er sein Ross an den Zügeln herumdrehte und wieder zu seinen Männer zurückpreschte. Er ließ einen sichtlich verwirrten König hinter sich. „Männer!“ rief der schwarzgepanzerte Ritter seinen Soldaten zu, während er auf sie zuritt. „Ihr habt mir treu gedient. Ich zweifle an keinem von Euch. Eure Motive sind edel, eure Hingabe zu mir ungebrochen und ihr alle kämpft mit einem Feuer im Herzen, von dem die Mannen des Königs nicht einmal zu träumen vermögen. Werdet ihr mir auch in diese Schlacht folgen?“
 

Die Soldaten reckten ihre Waffen in die Höhen. Piken, Hellebarden, Schwerter und Morgensterne wurden gen Himmel gestreckt. „Für Lord Elias, für das Haus du Lac!“ riefen die Männer einstimmig. Zeitgleich begannen sie, synchron, mit den Stiefeln im Takt auf den Boden zu stampfen. Wie ein Mantra wurde der Lobgesang auf Elias unermüdlich wiederholt. Der junge Lord zerrte sein Pferd wieder herum und starrte, hoch zu Ross, auf Richard und dessen Soldaten hinab. „Für König Heinrich!“ schrie der Erbe des Hauses du Lac und reckte dabei sein Schwert in die Höhe. Die grüne Klinge schimmerte im Antlitz der Sonne. Er setzte sich den Helm auf und trat seinem Pferd in die Flanken.
 

Geordnet folgten ihm die Männer in die Schlacht. König Richard verharrte in der Mitte der Ebene, während seine Soldaten schreiend nach vorne stürmten, um ihren Herren zu beschützen. In den hinteren Reihen brachten sich die Bogenschützen der Yorks in Stellung. Sie legten synchron an, spannten und ließen einen Pfeilhagel los, der die die Sonne verdunkelte.
 

Die Soldaten des Schwanenritters rückten eng zusammen und hielten die Schilde über die Köpfe. Elias trieb inzwischen sein Ross an, direkt auf den König zu. Einige der Bogenschützen visierten den jungen Lord an, doch dieser schlug ihre Pfeile mit dem Schwert beiseite. Sein Umhang wehte im Wind, den Pfeilhagel hinter sich lassend.
 

Schreie waren zu hören, genauso wie Jubelrufe und das Absplittern von Metall. Die erste Pfeilsalve hatte weit weniger Schaden angerichtet, als ich vermutet hatte. Einige der Soldaten waren zu Boden gegangen, der Großteil von ihnen hielt aber noch stand. Es war mir nach wie vor ein Rätsel, wie mein Vorfahre diese Schlacht gewinnen wollte. Richard unterdessen rührte sich noch immer nicht.
 

Die Bogenschützen legten wieder an, wieder ein Pfeilhagel, während die Männer des Königs immer näher in Richtung Elias kamen. Er konnte unmöglich alleine die gesamte gegnerische Streitmacht aufhalten, genauso wenig wie den König zu Fall bringen. Dessen Soldaten waren zu nah.
 

Neben dem König tauchten plötzlich zwei schimmernde Steinmonolithen auf. Diese leuchteten immer greller und verformten sich. Mein Vorfahre hielt weiterhin unbeirrt auf den König zu. Langsam schälten sich aus den Findlingen Wesen, die mit Fleisch und Haut überspannt wurden.
 

„Das, das sind ja Duel Monsters“ rief ich verblüfft aus und deutete auf die beiden Wächter des Königs. Links von ihm stand die Kaiserliche Richterin, rechts von ihm der Kampfstier, mit einem Spieß in den monströsen Pranken. „Ja, auch in England war das Spiel der Schatten bekannt.
 

Neben Elias schälten sich der Beauftragte der Dämonen und der Pantherkrieger aus dem Nichts. Beide hielten mühelos mit dem Pferd ihres Herren mit. Nach und nach wurde mir klar, was hier gespielt wurde. Männer in beiden Reihen sanken zu Boden. „Sie opfern ihre Männer um die Monster zu beschwören!“ entfuhr es mir entsetzt.
 

Der Beauftragte der Dämonen packte im Flug die Kaiserliche Richterin und pflügte sich mit ihr als Rammbock durch die Reihen des Königs. Der Pantherkrieger nutzte den Spieß des Kampfstieres als Sprungbrett, nur um einen Kettenbumerang vom Gürtel zu ziehen. Wieder gingen einige Männer von Elias zu Boden, während sich die Waffe um den knurrenden Kampfstier schlang. Dieser wurde mit voller Wucht in die Soldaten des Königs geschleudert. Panik brach unter den Männern Richards aus. Die Monster bekämpften sich nun nicht mehr nur gegenseitig – auch die ersten Soldaten fielen unter den Angriffen des Pantherkriegers und des Beauftragten der Dämonen.
 

„Ihr habt versagt, Majestät“ waren Elias´ letzte Worte, bevor er das Schwert mit der rechten Hand in die Höhe hielt. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Richard traute seinen Augen nicht. Seine Männer hielten knapp vor ihrem König inne, während der junge du Lac zum finalen Schlag ausholte. Es war plötzlich so still.
 

Ich konnte das Schnauben des Pferdes hören, wie die Erde von seinen Hufen aufgewirbelt wurde. Den Wind, der Elias um die Ohren pfiff, durch Mark und Bein ging. Wie sich seine Finger um den Schwertgriff krampften, sich der ganze Körper versteifte, bereit, das Leben des Königs zu beenden. Der innere Konflikt, welcher in meinem Vorfahren tobte. Er war hin und hergerissen zwischen Pflicht und etwas anderem. Vor meinem geistigen Auge erschien Joey.
 

Wie in Zeitlupe drehte Elias das Handgelenk ein wenig. Sein Schwertarm wanderte im Reiten nach hinten. Er hielt die Luft an. Knapp vor Richard drehte er die Waffe urplötzlich erneut. Die flache Seite der grünen Klinge traf auf das Gesicht des Königs. Knochen brachen, und Blut schoss aus dessen Nase. Das Fell des Schimmels färbte sich rot und dieser stieg verängstigt auf die Hinterbeine. Mit einem dumpfen Laut schlug der silberne Ritter am Boden auf. Er hielt sich die Hände an die Nase, was den aufkeimenden Blutfluss nicht zu stoppen vermochte.
 

Elias seinerseits hob die flache linke Hand, und sowohl der Pantherkrieger, als auch der Beauftragte der Dämonen, stoppten ihr grausiges Werk. Der Kampfstier und die Kaiserliche Richterin waren inzwischen zu Stein erstarrt. Überall lagen tote oder verwundete Soldaten. Manche würden für den Rest ihres Lebens verkrüppelt bleiben. Ein schauriger Chor hallte über die Ebenen von Bosworth. Schmerzensschreie und das Flehen nach Erlösung mischten sich unter Wimmern und Weinen.
 

Elias zügelte sein Ross und lenkte es in einem großen Bogen um Richard herum. Seine beiden Monster eilten herbei, den Rücken ihres Meisters abdeckend. das war aber nicht nötig: Die Soldaten des Königs leisteten keinen Wiederstand. Ihr Herr war mit einem einzigen Schlag gefällt worden, während seine herbeigerufenen Monster komplett vernichtet worden waren.
 

Der junge du Lac hielt mit seinem Pferd neben dem König. „Gebt Ihr auf, Richard of Gloucester? Ich habe diesen Kampf gewonnen, genauso wie den Krieg. Dankt ab, und ich gebe Euch mein Wort, dass Ihr Eure letzten Tage friedlich auf einer abgelegenen Insel verbringen dürft.“ Der König schnaubte verächtlich und nahm die Plattenhandschuhe vom Gesicht. Das Metall war schmierig und rot. Blutbrocken hatten die Rüstung besudelt, und auch vor dem Wappenrock nicht halt gemacht. Die einst strahlend weiße Rose färbte sich allmählich blutrot.
 

„Ihr habt gar nichts gewonnen, Elias. Seht selbst!“ lachte der König und deutete hinter seinen Kontrahenten, bevor er den Kopf ins Gras sinken ließ. Elias folgte dem Fingerzeig und ihm stockte der Atem.
 

Der Horizont hatte sich dunkelrot gefärbt. Am Himmel konnte man Monster erkennen. Der Schwarze Magier, der Schwarze Rotaugendrache, der Karbonala-Krieger, die Magierin des Glaubens, der Milleniumgolem, der Festungswal, der Uralte Baum der Weisheit und die Harpyien-Schwestern versuchten gemeinsam den Blauäugigen Ultradrachen in Schach zu halten.
 

Elias riss an den Zügeln und trat seinem Pferd erneut in die Flanken. „Zieht Euch zurück, Männer. Das ist ein Befehl!“ rief er ihnen noch zu, bevor er in Richtung der kämpfenden Monster verschwand. Seine eigenen Kreaturen wurden von einem Pentagramm verschlungen und waren verschwunden.

Ungleiches Duell

Wir begleiteten unser früheres Leben, indem wir stumm neben ihm herschwebten. Ich hatte mir die Frage gespart, wie das sein könne – Mahad hätte sowieso nur mit einem amüsierten Lächeln geantwortet.
 

Elias trieb sein Pferd ohne Unterlass an. Schaum hatte sich bereits um das Maul des Tieres gebildet. Reiter und Ross schienen nicht gewillt, aufzugeben. Mein Vorfahre hatte den Helm inzwischen abgenommen und die verschwitzten Haarspitzen klebten ihm an der Stirn. Sein Umhang flatterte im Wind, der immer stärker wurde. Ein Sturm zog auf.
 

Das Brüllen des Ultradrachen hallte über die Ebene. Ein Lichtstoß nach dem anderen verließ die reißzahnbewährten Mäuler des Ungetüms. Noch hatten alle anderen Monster es geschafft auszuweichen. Lange würden sie aber nicht mehr durchhalten, davon war ich überzeugt. In der Ferne waren Steinmonolithen zu erkennen, die man im Kreis angeordnet hatte – Stonehenge.
 

„Ich werde nicht erneut verlieren, was mir einst so wichtig war“ murmelte Elias, was im tosenden Sturm unterging. Das Gras wellte sich unter den Windmassen, gegen die es sich verzweifelt zu stemmen versuchte.
 

Je näher wir kamen, desto angespannter wurde der junge Schwanenritter. Seine Muskeln verkrampften sich, das konnte ich spüren. Sein Blick verhärtete sich, ebenso wie ihm immer wieder Christopher im Kopf herumgeisterte. Ich war mir mittlerweile sicher, dass sie ein Liebespaar gewesen sind. „Deine Vermutung ist richtig – ihr seid bereits einmal einander verfallen gewesen.“ Mahad nickte sanft.
 

„Was hat denn Joey, also ich meine Christopher, von uns gestohlen?“ fragte ich, während Elias seinen schwarzen Hengst ohne Unterlass antrieb. „Kannst du es dir nicht denken?“ schmunzelte Mahad. Ich begutachtete mein früheres Ich eingehend, dann den Schwarzen Rotaugendrachen am Himmel, der sich verzweifelt gegen den Ultradrachen stemmte. „Das Rotauge!“ fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
 

„Ja. Der Schwarze Rotaugendrache war einer der bestgehüteten Schätze des Hauses du Lac. Christopher war aus diesem Grund auch ein enger Freund von König Heinrich. Seine militärische Stärke ist durch den Verrat an uns beträchtlich gestiegen.“ Ich nickte auf Mahads Ausführungen hin. Darum trug Elias eine Rüstung nach dem Vorbild des Schwarzen Rotaugendrachens. Wahrscheinlich mochte ich deshalb diese Karte so gern. Mein Blick fiel auf die goldene Schatulle am Gürtel meines Zwillings. „Was hat Christopher ihm dann gegeben? Ich meine, das Rotauge kann es nicht gewesen sein, das kämpft schließlich mit dem Ultradrachen.“ Mahad senkte seinen Blick ein wenig und wurde ernst: „Etwas sehr, sehr Mächtiges. Ein Monster, welches äußerst schwer zu beschwören, und noch schwerer zu kontrollieren ist. Das Haus du Lac besaß vier Teile davon, der Onkel des Königs einen.“
 

Das Brüllen der Monster war inzwischen beinahe unerträglich geworden. Ich fragte mich, wie Elias keine Miene bei diesem Lärm verziehen konnte. Sein Gesicht war wie versteinert. Warum hatte er den König nicht gefangen genommen? Mit ihm hätte dieser Krieg doch enden müssen, oder? „Mahad? Kann dieses Monster den Ultradrachen besiegen?“ fragte ich. Der Ägypter nickte leicht: „Es gibt nichts, was dieses Monster nicht besiegen könnte. Seine Zerstörungskraft ist unermesslich. Nur wer reinen Herzens ist, kann es wirklich führen.“ Ich schluckte schwer. Mir gefiel die Tonlage nicht, in der Mahad sprach.
 

Je näher wir kamen, desto mehr konnten wir vom Kampf erkennen. Der Ultradrache schien unversehrt, während alle anderen Monster schwer angeschlagen waren. Die Harpyien-Schwestern mussten sich am Rücken des Rotaugendrachens festhalten, während der Schwarze Magier und die Magierin des Glaubens in der Baumkrone des Uralten Baumes der Weisheit Schutz suchten.
 

Auch waren die Personen hinter den Monstern allmählich zu erkennen. Joey, Yugi, Bakura, Tristan, Tea, zwei mir unbekannte Männer, einer gekleidet wie ein Fischer, der andere in Roben gehüllt wie Mahad, und eine blondhaarige Frau. Sie alle standen beisammen und riefen ihren Monstern irgendwelche Befehle zu.
 

Auf der gegnerischen Seite saß ein junger Mann, hoch zu Ross. Er trug eine glänzend weiße Rüstung am Körper. Schultern und Helm stellten einen ausgeprägten Drachenkopf dar. An den Rücken hatte man zwei flügelartige Fortsätze geschmiedet. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während sein Schimmel unruhig hin und her tänzelte. Dieses amüsierte Lachen, so voller Selbstsicherheit und Abfälligkeit. Dazu die Rüstung. „Das da, das ist Kaiba, oder?“ Mahad nickte: „Ja, das ist Seto Kaiba in einem früheren Leben.“
 

„Rosenkreuz“ rief Elias und hielt direkt auf den früheren Kaiba zu. Dieser drehte sich im Sattel herum und schrägte den Kopf. „Was macht Ihr hier? Wo ist der König?“ fragte der weiße Ritter. Inzwischen waren alle Monster meiner Freunde zu Boden gegangen und der Ultradrache gelandet. Die drei Köpfe starrten grimmig auf ihre Gegner hinab. Blitze zuckten aus ihren Nüstern und Mäulern.
 

„Der König ist besiegt. Lasst ab von Eurer Wahnsinnstat.“ Elias zügelte sein Pferd, welches erstaunlicherweise noch stehen konnte. Beide Reiter waren fast auf Augenhöhe und starrten sich grimmig an. Der frühere Kaiba nahm den Helm ab und entblöße ein zynisches Lächeln. Er glich seinem heutigen Counterpart aufs Haar.
 

„Wer soll mich denn aufhalten? Heinrich und seine Freunde?“ Rosenkreuz legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Sein Blick war eiskalt. „Meine Rosenkreuzritter warten nur auf das Kommando um diese lächerliche Invasion endgültig niederzuschlagen. Bisher habe ich sie nicht gebraucht.“
 

„Nun, dann werde ich als König Heinrichs Champion antreten. Christian Rosenkreuz – ich fordere Euch zu einem Duell. Der Sieger bestimmt über das Schicksal Englands.“ Ein Raunen ging durch die Reihen von Joey und Co. Ich konnte Heinrich sehen, wie er lächelte, genauso wie Christopher. „So förmlich? Was sollte mich davon abhalten, zuerst diesen Haufen vor mir zu zertreten?“ fragte Kaibas voriges Leben. „Ich“ entgegnete Elias ruhig und stieg vom Pferd. Er setzte sich den Helm auf, zog sein Schwert und befestigte den schwarzen Schild an der linken Hand.
 

„Ihr oder ich, so, wie Ihr es Euch immer gewünscht habt.“ Rosenkreuz lachte laut und ließ sich ebenfalls aus dem Sattel gleiten. „Es ist einerlei, ob Ihr gewinnt, oder nicht, Elias. Bald wird der Earl of Derby mit seinen Mannen auftauchen. Euer Plan ist gescheitert.“ Dieser Kerl hatte das gleiche widerwärtige Auftreten wie Kaiba.
 

„Nun denn, dann gewährt mir wenigstens die Möglichkeit, mich ein letztes Mal mit Euch zu messen.“ Elias neigte sein Haupt und zog den Umhang über die Schatulle. Er wollte sie wohl verbergen. „Nun denn, wie Ihr wünscht.“ Kaiba zog ebenfalls Schwert und Schild. Seine Klinge war blau, wie die Augen des Weißen Drachens, und in den Schild war eine weiße Rose gehämmert worden.
 

Beide schlugen mit den Schwertklingen gegen die Schilder und verneigten sich kurz. Elias´ schwarzer Umhang mit rotem Innenfutter flatterte im Wind, genauso wie es der weiße Umhang mit blauem Futter von Christian tat. Mich erinnerte die Szene an mein Duell mit Kaiba – Rotauge gegen Weißen Drachen.
 

Der erste Schlagabtausch erfolgte so plötzlich, dass ich wegen der klirrenden Waffen zurückschrak. Beide Kontrahenten kreuzten ihre Schwerter und stemmten sich jeweils dem Anderen entgegen. Mit einem Ruck lösten sie sich, und ließen die Schilder aufeinanderprallen. Ihre Bewegungen waren absolut synchron. Der eine konterte den Angriff des Anderen und umgekehrt.
 

Elias duckte sich unter dem nächsten Schwerthieb seines Gegners hinweg, nur um ihm den Schild gegen die Brust zu donnern. Christian seinerseits taumelte kurz, fand aber sein Gleichgewicht rasch wieder, nur um von oben herab auszuholen. Mein Vorfahre wehrte den Angriff mit dem Schild ab und lenkte die Schwertklinge zur Seite. Er holte aus und zwang den anderen Ritter dazu, dem Angriff auszuweichen.
 

Die Monster von Heinrich und Co erholten sich inzwischen langsam allmählich wieder. Erst jetzt fielen mir die Soldaten auf, die herumlagen. Manche hatten eine rote Rose auf der Brust, die anderen eine weiße. Wahrscheinlich die „Opfer“, die notwendig waren, um die Monster zu beschwören. Duel Monsters in dieser Form war nicht nur ekelhaft, sondern auch menschenverachtend.
 

Christian machte einen Ausfallschritt und nutzte die darauffolgende Wucht für einen Angriff. Elias verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Siegessicher stellte sich der Weiße Drachenritter über seinen Kontrahenten und begann, mit dem Schwert auf dessen Schild einzuhämmern. Beide Kämpfer atmeten bereits schwer, dennoch wehrte sich jeder von ihnen verbissen.
 

Elias nutzte das nächste Ausholen seines Gegners um zuzustechen. Die grüne Klinge schrammte am Helm von Rosenkreuz entlang und hinterließ einen Kratzer. Christian hielt inne, was mein Vorfahre dazu nutzte, nach hinten zu rutschen und sich wieder auf die Beine zu kämpfen. Der frühere Kaiba fuhr sich mit dem Handrücken über die getroffene Stelle und schmunzelte. „Ihr seid wahrlich ein formidabler Schwertkämpfer, Elias. Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Freude bei einem Kampf.“
 

„Das Gleiche kann ich zurückgeben, Christian.“ Elias war sichtlich erschöpft, genauso wie sein Kontrahent. Lange würde dieses Kräftemessen nicht mehr andauern. Der entscheidende Fehler musste bald kommen.
 

Rosenkreuz stürmte auf seinen Gegner zu, täuschte mit dem Schild an und holte mit dem Schwert aus. Elias duckte sich gerade noch so unter dem Schlag hinweg, der aber seinen Helm traf. Dieser flog in hohem Bogen von seinem Kopf und rollte direkt vor die Füße des Ultradrachen. Das Monster hatte sich erstaunlich ruhig verhalten.
 

Christian ließ vom Rotaugenritter aber nicht ab. Immer wieder griff er an und drängte meinen Vorfahren in die Defensive. Elias kam fast gar nicht mehr zum Angriff. Seine Paraden waren zwar nach wie vor sauber, doch sie wurden von Mal zu Mal langsamer. Ein letzter verzweifelter Schwung mit dem Schwert und auch Christians Helm flog davon.
 

Beiden Kontrahenten stand der Schweiß auf der Stirn. Sie kreuzten erneut die Klingen und erreichten eine klassische Pattsituation. Keiner von ihnen gab nach. Beide Mienen waren eisern und auf einen Sieg versessen. Der Ultradrache reckte die Köpfe in die Höhe und brüllte laut. In der Ferne waren Fanfaren zu hören.
 

„Das ist die Armee von Thomas Stanley. Ihr habt verloren, Elias. Das ist Euer Ende!“ Rosenkreuz wähnte sich siegessicher. Ich konnte es ihm auch nicht verdenken. Eine Armee und dann auch noch der Ultradrache.
 

„Ihr habt verloren, Rosenkreuz! Eure Marionette wird vernichtet werden, genauso wie alles, wofür Ihr steht!“ Elias drückte Christian von sich weg und atmete tief durch. „Verschwindet von hier – das ist mein Kampf, nicht Eurer!“ Ich konnte Verwirrung in jedem Einzelnen von meinen, oder besser gesagt, von Elias´ früheren Freunden erkennen, außer bei Christopher. Dieser wirkte traurig.
 

„Los! Dies ist Eure Chance!“ Elias wich noch einige Schritte zurück, und ließ dabei das Handgelenk seines Schwertarms kreisen. HEinrich und die anderen wichen langsam zurück. Der Ultradrache schnaubte und fauchte. Kaibas Vorfahre lachte erneut: „Welchen Wahnsinn habt Ihr nun geplant, Elias? Nichts kann den Blauäugigen Ultradrachen aufhalten. Zumal ich noch die Armee von Thomas Stanley und auch die des Königs zur Verfügung habe.“
 

Elias rammte sein Schwert in den Boden und griff unter den Umhang. Er zog die Schatulle vom Gürtel und öffnete sie. Mit der rechten Hand nahm er die fünf Karten heraus und warf sie in die Luft. Anstatt, dass sie der Wind forttrug, schoben sie sich übereinander, nur um dann einen festen Platz einzunehmen. Nach und nach breiteten sich grüne Linien von den Karten aus, welche sie miteinander verbanden.
 

„Die Macht die Welt zu verändern“ rief mein früheres Ich. Kaibas Lachen erstarrte, während sich um die Karten ein Kreis bildete. Ein Pentagramm war erschienen und umfing die Pergamentstücke. Nach und nach wurde der Kreis immer größer. „Unmöglich!“ schrie Rosenkreuz bestürzt, während er einen Schritt nach hinten taumelte.
 

Das Pentagramm waberte und leuchtete dann grün auf. Zuerst griff eine orangefarbene Hand aus dem Nichts heraus, dann eine zweite, dazu zwei Beine. Das Klirren von Ketten war zu hören. Mit einem Ruck zerrissen die Gliedmaßen die Fesseln, die sie hielten. Am Ende schälte sich ein gigantischer Kopf aus dem Nichts. Er verband sich mit einem muskulösen Torso und den restlichen Gliedmaßen.
 

„Was, was ist das?“ fragte ich ängstlich. Egal was es war, dieses Monster war sogar furchteinflößender als der Ultradrache. „Eine uralte Bestie; so mächtig, dass man sie in fünf Teile spalten und bannen musste. Exodia kann es sogar mit den alten Göttern aufnehmen.“ Ich schluckte schwer und beobachtete, wie sich die Exodia aus ihrem Gefängnis quälte. Sie war größer als der Ultradrache und grinste höhnisch auf diesen hinab.
 

Es begann zu Regnen. Die Tropfen waren blutrot. Das Gras, der Boden, einfach alles schien in der Flüssigkeit zu ertrinken. Elias ging auf die Knie und stützte sich auf seinen Schwertknauf. Er wirkte um Jahre gealtert. Sein Haar ergraute und wurde allmählich weiß. Falten bildeten sich auf seinem Gesicht, zogen Furchen durch das jugendliche Antlitz. Aus dem jungen Mann war ein alter Greis geworden. Seine Stimme war brüchig, als er sprach: „Exodia – vernichte meine Feinde. Schmiede ein Land, in dem es sich zu leben lohnt. Ich bitte dich, erhöre mein Flehen!“
 

Christians Augen waren immer größer geworden. Auch die Armee am Horizont hatte gestoppt. Der frühere Kaiba sprang panisch auf sein Pferd und gab diesem die Sporen. Der Ultradrache reckte die Köpfe in die Höhe und brüllte lautstark. Nach und nach erschienen mehr Männer auf den Hügeln rund um Stonehenge. Sie alle führten Duel Monsters mit sich. Ich konnte die Riesenmotte, Zera der Mant, den Maschinenkönig, den Torwächter, Dutzende von Zombies, den Zweiköpfigen Donnerdrachen, einen gigantischen Pinguin-Krieger und die Bikuri-Box erkennen.
 

Der Ultradrache beugte inzwischen seine Köpfe nach unten. Der Mittlere nahm Elias und versenkte seine Zähne in seinem Leib, während die anderen an Schädel und Beinen zogen. Er musste unbeschreibliche Qualen erleiden. Mahad hatte mir die Hand auf die Schulter gelegt. Blut tropfte von den Zähnen der Bestie. Knochen brachen unter der tonnenschweren Wucht der Kiefer des Drachens.
 

Mit einem Mal ließ der Ultradrache von Elias ab. Dieser rollte aus dem mittleren Maul und kam mit einem dumpfen Laut auf dem Boden auf. Unter ihm bildete sich eine Blutlache. Die anderen Monster stürmten die Ebene herab, und mir wurde auch bewusst warum.
 

Die Exodia hatte sich endlich gerührt. Sie packte den Ultradrachen mit der rechten Hand und zerquetschte dessen drei Hälse mühelos. Das Wesen röchelte, nur um dann mit einem schrillen Schrei zu Stein zu erstarren. „Ex-Ex-Exodia – auslöschen“ hauchte Elias, bevor sein Kopf kraftlos zur Seite fiel.
 

Exodia legte die monströsen Hände aneinander und formte einen orangenen Energieball. Der Boden um uns verdorrte augenblicklich, während der Wind buchstäblich alles zu verschlingen begann. Ross und Reiter der königlichen Armee wurden durch die Luft geschleudert. Die anderen Monster hatten Mühe, ihr Tempo beizubehalten. Der Energieball zwischen den gekrümmten Fingern der Exodia wurde immer größer.
 

Stumm zog sie den rechten Arm nach hinten und drückte ihn dann mit voller Kraft nach vorne. Die Druckwelle, der eine riesige orangene Welle folgte, entwurzelte Bäume, riss ganze Erd- und Felsbrocken aus dem Boden und pflügte sich einen Weg zur Armee der weißen Rose.
 

Der Energiestreifen wurde immer breiter und größer. Alles in seinem Weg, egal ob Flora, Fauna oder Menschen, es verging einfach; vernichtet durch pure Kraft. Männer schrien, nur um kurz darauf zu verstummen. Ihre Körper, ihre Rüstungen, jeglicher Hinweis auf ihre Existenz wurde einfach ausradiert.
 

Die Duel Monsters zerfielen einfach zu Staub, der sich Sekunden später ebenfalls im Nichts auflöste. Die Exodia raffte alles dahin. Als der Angriff abebbte, war der Landstrich kahl. Es sah aus, als hätte ein Feuer getobt. Schwarze, tote Fläche zog sich kilometerweit übers Land. Die Exodia holte aus und zerschmetterte auch den versteinerten Ultradrachen.
 

Ihre Schritte ließen die Erde erzittern, als sie sich umdrehte. Ihr höhnisches Grinsen hatte sie nicht verloren. Sie starrte auf Heinrich und dessen Begleiter hinab, die sich an eine Klippe zurückgezogen hatten.
 

Elias´ Finger zuckten schwach. Sein Monster bewegte sich langsam auf die Gruppe zu. Mit letzter Kraft zog sich mein früheres Ich an seinem Schwert hoch. Seine Finger umklammerten den Schwertgriff. In diesem Zustand hätte man ihn auf Mitte 80 schätzen können, und kurz vor dem Sterben. Er schloss die Augen. Sein ganzer Körper zitterte, während die Exodia seinen Verbündeten immer näher kam.
 

Mit einem Ruck zog Elias seine Waffe aus dem Boden, drehte sich und warf sie mit beiden Händen in Richtung des Monsters. Gleich darauf brach er zusammen. Die Klinge glühte im Flug grün. Mit einem knisternden Laut fraß sie sich in den Rücken der Exodia. Diese ballte die Hände zu Fäusten und reckte den Schädel gen Himmel. Die Karten erschienen wieder, um welche sich die Ketten des Monsters schlangen. Langsam erstarrte das Wesen zu Stein, nur um dann gänzlich in die Pergamentstücke gesaugt zu werden.
 

Der blutrote Regen ebbte ab, genauso wie sich die Sonne wieder ans Firmament kämpfte. Die fünf Karten kehrten, wie von Geisterhand, in die Schatulle neben Elias zurück. Mit einem leisen Laut schloss sich der Deckel.
 

Die Gruppe rund um Christopher und Heinrich stürmte heran. Jeder schien es eiliger zu haben als der Vorherige. Sie waren auch die Ersten, die Elias erreichten. Christopher fiel sofort auf die Knie und bettete dessen Haupt auf seinem Schoß, während Heinrich sich hinkniete und ein betretenes Gesicht machte. Tea besah sich meinen Vorfahren kurz und schüttelte traurig den Kopf. „Er ist außerhalb meiner Reichweite.“ Christopher nickte und senkte sein Haupt. Seine Finger strichen über Elias´ Wange.
 

Dieser regte sich tatsächlich. Unter dem blutverkrusteten Antlitz hatte sich ein schwaches Lächeln gebildet. Flatternd öffnete er die blutunterlaufenen Augenlider. Sein Gesicht wurde von Christophers Tränen benetzt, die sich mit dem Blut auf seiner Haut vermischten. „Ch-Chris?“ fragte Elias. Seine Stimme war nicht mehr ein Hauchen. Der Blonde weinte stumm und nickte nur, zum Zeichen, dass er ihn gehört hatte. „B-Bitte verzeih mir. P-Passe gut auf i-ihn auf.“ Ein neuerliches Nicken war die Antwort, gepaart mit fest zusammengepressten Augen.
 

Langsam drehte sich Elias ein wenig und ließ seinen Blick noch einmal kreisen: „V-Versprecht mir, d-dass wir uns i-im nächsten Leben nicht z-zer-zerstreiten, ja?“ Seine Stimme wurde immer schwächer. Yugi aka Heinrich nickte lächelnd, und die restliche Gruppe tat es ihm gleich. „I-Ich l-liebe dich“ hauchte der junge Lord du Lac noch, bevor er die Augen für immer schloss.

Der Milleniumsring

In der Ferne war ein Klatschen zu hören, gepaart mit Schritten, die näher kamen. Allesumfassende Schwärze umgab mich, während ich das Gefühl hatte, zu fallen. Panisch versuchte ich mich in der Leere an irgendetwas zu klammern. „Mahad!“ rief ich verzweifelt, doch mein Begleiter war verschwunden. Hatte ihn die Schwärze verschluckt?
 

Die Schritte wurden lauter. Sie schienen von überall zu kommen. Ein Fuß wurde exakt vor den anderen gesetzt, während das Klatschen zunahm. Ein amüsiertes, kaltes Kichern gesellte sich zu dem Chor an Geräuschen. Ich kannte diese Stimme, und doch war sie mir fremd. Was war hier wieder passiert?
 

Ich war mit einem Mal wütend. Warum konnte ich mir nicht erklären. Auch nicht, auf wen. Mahad, diesen Fremden? Ich hatte von diesem ganzen Mist genug. Eine Erinnerung jagte die Nächste. Ich wurde aus einem einigermaßen geregelten Leben herausgerissen, um mich mit irgendwelchem Wahnsinn zu befassen. Jeder Penner meinte, er könne mich in die Schranken weisen, oder mir erklären, was zu tun war.
 

Aus dem Schatten trat eine mir vertraute Gestalt. „Bakura“ fragte ich ungläubig. Mein Freund wirkte irgendwie seltsam, böse, fast schon verrückt. Der Milleniumsring klebte förmlich an seinem beigen Pullover. Die zylinderartigen Spitzen an den Seiten zeigten alle auf mich, während das Auge in der Mitte glühte.
 

„Hat der kleine Mahad seine Liaison mit Joeys früherem Dasein also endlich wiedergefunden?“ Bakuras Stimme war verzerrt, fremd, fast schon unheimlich. „Bakura? Alles okay?“ fragte ich erneut nach, wobei ich unbewusst einige Schritte in der allumfassenden Schwärze zurückwich. „Ich bin nicht Bakura, ich bin ein Teil von ihm. Ein böser Geist, eingesperrt in den Milleniumsring.“ Innerlich seufzte ich, während sich die Wut in mir steigerte.
 

„Okay, Geist – was willst du von mir?“ erkundigte ich mich. Zorn und Angst hielten sich die Waage. Irgendetwas an dem Typen gefiel mir nicht, er war auf keinen Fall Bakura. „Der Milleniumsring erinnert sich an dich, deine Zeit als sein Träger. Mittlerweile funktioniert er nicht mehr vollständig – mit deiner Seele als Opfer wird er das sicher wieder.“ Meiner Seele?
 

„Hey, ich glaube, wir könnten das anders klären, oder? Ich meine, wie wäre es, wenn ich dem Ring sage, dass ich ihn nicht mehr will?“ Mein Angebost wurde mit einem spöttischen Lachen abgetan. „Nein, ich denke nicht, dass das funktionieren wird“ schmunzelte mein Gegenüber kalt. Mit jedem Schritt, den dieser Bakura-Geist auf mich zukam, wich ich gleichzeitig einen zurück.
 

„Du kannst ihn schlagen, vertraue mir“ meldete sich Mahad in meinem Kopf. Das unablässige Pochen meines Herzens beruhigte sich ein wenig. Ich war also nicht völlig alleine. „Flüstert dir Mahad gerade etwas ein? Dass du dich wehren sollst?“ Bakura grinste höhnisch. „Du hast mich vor 3.000 Jahren nicht aufhalten können, und da warst du deutlich erfahrener als heute.“ Mit jeder Sekunde, die der Typ sprach, fiel es mir schwerer, mich zu konzentrieren.
 

„Ah, die Schatten zerren bereits an deiner Seele. Nicht mehr lange, und du wirst dich vollständig auflösen und im Nichts vergehen.“ Dieser sadistische Unterton – das war nicht Bakura. Wahrscheinlich war er überhaupt kein menschliches Wesen. Ich blinzelte angestrengt. Mir wurde schwindelig. Meine Lider wurden schwer.
 

„Los, kämpfe! Glaube an dich!“ Das war zur Abwechslung nicht Mahad, das war… „Joey?“ hauchte ich ungläubig seinen Namen. „Der wird dir auch nicht helfen können, nur noch ein paar Augenblicke.“ Meine Konzentration schwand immer mehr. Es war so, als ob man hundemüde wäre, und sich das Gefühl immer mehr intensivierte.
 

„Ich will nicht ohne dich sein, dich noch einmal verlieren. Bitte!“ Feine Finger streichelten über meine Schultern, nur um diese dann schlagartig zu rütteln. Eine angenehme Wärme ging von den berührten Stellen aus, und bekämpfte die Müdigkeit. Das war Joey, da war ich mir ganz sicher. Ich musste unwillkürlich lächeln. Die Schwärze wich allmählich.
 

„Wie ist das möglich? Du bist schwach, ein Mensch. Dich beschützt auch kein Milleniumsgegenstand!“ kreischte der Bakura-Geist bestürzt und sah sich um. Ich schüttelte erneut den Kopf. War ich vollkommen durchgedreht? Ich stand neben meinem Körper, der geisterhaft wirkte, fast durchsichtig. Meine Züge wirkten hart, streng, und fremd.
 

„Mir gehört, was du über dem Herzen trägst, Bakura. Du hast es mir vor 3.000 Jahren geraubt. Du warst damals nichts anderes als ein Grabschänder, der das alte Ägypten beinahe in ein Meer der Dunkelheit getaucht hätte.“ Meine Stimme war erwachsener, älter, mit einem strengen Unterton.

„Du kannst nicht mit dem Jungen die Plätze tauschen, das ist unmöglich. Ohne den Ring bist du machtlos, Mahad“ stammelte mein Gesprächspartner und wich nun seinerseits zurück. Der Milleniumsring an seiner Brust vibrierte, während sich mein Körper in Bewegung setzte. Ich kam dem goldenen Kleinod immer näher, was Bakura dazu veranlasste, die Augen aufzureißen.
 

Um uns herum bildete sich ein Gemäuer aus geschliffenem Stein. Dieser war fein säuberlich aufeinandergeschichtet worden. Fremdartige Zeichen hatte man eingraviert, die von Fackeln beleuchtet wurden. Mehrere Säulen stützten die Decke ab, während sich der böse Geist mit dem Rücken langsam auf eine schmale, geländerlose Brücke zubewegte.
 

„Erinnerst du dich an diesen Ort, Bakura? Fühlst die Verzweiflung im Herzen, die ich einst fühlte?“ Meine Lippen bewegten sich von selbst. Ich war wie ein Zuschauer, der nicht eingreifen konnte. „Bist du so furchtlos, das ultimative Opfer zu erbringen?“ Knapp vor Bakura hielt ich an, der sich weigerte, weiter zurückzuweichen. Ich konnte die Panik in seinem Gesicht deutlich erkennen.
 

„Wenn sich Ba und Ka vermischen, entsteht, gepaart mit Hingabe…“ Bakura unterbrach mich und schrie verzweifelt auf. Er griff sich in die Haare und zog daran, während er auf die Knie fiel. „Nein, das ist unmöglich! Der Ring, er gehorcht mir nicht mehr!“ Panisch zerrte er an dem Lederband um seinen Hals. Was zum Geier war hier los?
 

Mein Körper streckte seine rechte Hand aus und beugte sich langsam zu Bakura hinab. Mit einem Ruck zog er am Band und befreite dessen Inhaber von der schweren Last. Schwach lächelnd hängte ich mir den Ring über, der sich augenblicklich beruhigte. Das Milleniumsauge hörte auf zu glühen, und die Anhänger hingen schlaff herab.
 

„Dieses Mal“ begann meine fleischliche Hülle zu sprechen, wobei eine große Steintafel hinter mir erschien. „Dieses Mal wirst du nicht fliehen.“ Die Steintafel glühte auf. Man hatte etwas hineingemeißelt und mit einigen Zeichen versehen, die ich nicht lesen konnte. Das Glühen sprang auf meinen Körper über und tauchte mich in ein helles Licht, welches Bakura schreiend zwang, sein Gesicht mit der Hand abzuschirmen.
 

„Es ist Zeit, in das Nicht zurückzukehren, aus dem du gekommen bist, Yami Bakura!“ Ich starrte ungläubig auf die Stelle, wo ich mich eben noch selbst bewundern konnte. Da stand noch immer ich, aber… „Der Schwarze Magier?“ platzte es aus mir heraus. Das war exakt der schwarze Magier, den Yugi sein Eigen nannte. Nur die Haare waren braun und der Teint dunkler.
 

Fast schon erhaben stand das fleischgewordene Duel Monster da, die Arme verschränkt, wie auf der Spielkarte. Sein Blick war kalt und hart geworden. „Fahr in die Hölle nieder, die dich und deinen Meister erwartet“ rief der Magier grimmig aus. Seine linke Hand, die den Stab hielt, löste sich aus der Verschränkung.
 

„Nein! Ich werde nicht verlieren! Diabound!“ Hinter Bakura erschien ein muskelbepacktes, silbernes Wesen mit Flügelhelm und Flügeln, die ihm aus den Schultern wuchsen. Der Unterleib setzte sich rudimentär fort und mündete in eine Schlange, deren Kopf zischte und fauchte. Die Giftzähne glitzerten gefährlich im Schein der Fackeln. Das Wesen legte die Arme aneinander und ein weißer Blitzball formte sich dazwischen.
 

„Ich habe 3.000 Jahre auf diesen Moment gewartet. Mein Opfer im Tempel, mein Opfer für den Pharao…“ Unbarmherzig richtete der Schwarze Magier den Stab auf Bakura, der nach hinten kroch. Diabound feuerte kreischend seinen Angriff auf seinen Kontrahenten ab. Eine Wolke aus Blitz und Rauch umgab den Schwarzen Magier. War er tot? War ich tot?
 

„Los, erneut!“ schrie Bakura, dessen angsterfüllte Stimme widerhallte. Das Monster folgte seinem Meister und setzte Angriff für Angriff fort. Das konnte der Magier unmöglich überstehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit stoppte Diabound es kehrte Stille ein. Es war mittlerweile gar nichts mehr zu erkennen, und nur das wahnwitzige, irre Lachen des Geistes durchbrach nach einiger Zeit die Ruhe.
 

Langsam verzog sich der Qualm. Inmitten der Rauchsäule schwebte der Dunkle Paladin, an dessen Brust der Milleniumsring glühte. Sein Blick war geringschätzig und auf Bakura gerichtet. Dieser starrte mit großen Augen auf das Duel Monster. Blitze umspielten den Dunklen Paladin. „Hast du wirklich geglaubt, ich hätte nichts dazugelernt?“ fragte er den Geist, was dieser nur mit einem angsterfüllten Schweigen quittierte.
 

„Denkst du, ich weiß nicht, warum ich damals in England gestorben bin? Mich nicht erholen konnte? Dein Verrat? Du warst es, der alles mit Christopher eingefädelt hat. Du hast ihn gedrängt, mich zu bestehlen, mir das Herz zu brechen.“ Die Züge des Dunklen Paladins verhärteten sich. „Ich hätte des Pharaos treuster Diener sein können. Doch du hast mir alles genommen, Land, Freunde und Liebe.“ Der ehemalige Schwarze Magier schrägte seinen Kopf ein wenig und fuhr fort: „Ich besaß einmal die Macht, die Welt zu formen, sie zu verändern, für den Pharao, für Joey…“ Joey? Ich schrägte den Kopf. Das Ding da, war das etwa...?
 

„Nun wird es Zeit, dass ich mir das alles wieder zurückhole.“ Der Dunkle Paladin wirbelte die Stangenwaffe in seiner linken Hand herum. Die Schneide wurde von schwarzen Blitzen durchzogen. Mit einem Ruck führte er einen sauberen Schnitt aus, der Diabound in zwei Teile spaltete. Stumm zersprang das Wesen in tausend Teile. Yami Bakura schrie schmerzerfüllt auf und verging, gemeinsam mit allem anderen, im gleißenden Licht, welches der Milleniumsring aussandte.

Trost nach einem Alptraum

Ich wachte schweißgebadet im Gästezimmer der Kaibavilla auf. Das schwache Licht der Nachttischlampe blendete mich. Ich hatte wohl geschlafen. Nein, das konnte nicht stimmen – ich lag in Joeys Armen. Dieser war kreidebleich. „David?“ fragte er leise und strich mir die verschwitzten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich stöhnte leise. Mein Kopf fühlte sich an, als wollte er gleich zerplatzen. „H-Hm?“ antwortete ich schwach. Meine Lippen waren rissig und trocken und jeder Knochen in meinem Körper schmerzte.
 

„Sch, alles ist gut“ hauchte mein Freund und wiegte mich in seinen Armen hin und her. Ich schloss wieder die Augen und genoss die Geborgenheit. Nach einer Weile war es mir wieder möglich, leise zu sprechen. „J-Joey? Was, w-was ist passiert?“ erkundigte ich mich. Meine Kehle brannte wie Feuer. Sollte ich nach Wasser fragen? Träumte ich noch immer? „Das weiß ich leider auch nicht. Du hast geschrien wie am Spieß und heftig gekrampft. Mit einem Mal bist du heiß geworden, so als ob du hohes Fieber hättest.“ Geschrien? Gekrampft? „Und dann…“ Joey brach ab, was mich dazu bewog, flatternd die Augen zu öffnen. Mein Freund machte ein betretenes Gesicht.
 

„Du hast jetzt dieses verfluchte Ding“ flüsterte er und atmete tief durch. Ich brauchte einige Momente, bis ich realisierte, was er meinte. Tatsächlich, auf meiner nackten Brust ruhte der Milleniumsring, so als ob er schon immer dorthin gehört hätte. „Wie? Was? Der gehört doch Bakura?“ Joey hob die Schultern an und antwortete niedergeschlagen: „Das ist das Gleiche wie mit Yugis Puzzle oder den anderen Milleniumsgegenständen. Sie suchen sich ihren Träger aus, nicht umgekehrt.“ Langsam ließ er mich ins Bett zurücksinken, nur um mir ein Glas Wasser an die Lippen zu halten. In meiner Gier verschluckte ich mich. Prustend bemühte ich mich, die Flüssigkeit im Mund zu behalten. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, griff ich nach Joeys Hand und drückte diese fest. Der Blonde mied meinen Blick, erwiderte die Geste aber.
 

„Joey? Du glaubst das alles, oder? Von den früheren Leben, von diesen Milleniumsdingern – das ist alles real?“ Mein Freund senkte den Blick ein wenig und nickte dann. „Bakura hatte sehr unter dem Milleniumsring zu leiden.“ Ich wollte Joey beruhigen, konnte es aber nicht. Wenn diese Träume, diese Visionen, sogar Mahad, alles wirklich real war, dann… „Schatz?“ Ich streckte meine Hand langsam und zittrig nach ihm aus und legte sie auf seine Wange. Seine Augen waren voller Kummer und Schmerz, als er mich ansah. „Dieser Ring, er, ich glaube er gehört zu mir, nicht zu Bakura. Er hat auf mich anders reagiert als auf ihn.“ Joey nickte schwach und strich mir durchs Haar: „Ich hoffe es.“
 

Meine Arme schlangen sich um Joeys Nacken und zogen ihn, unter ordentlicher Mithilfe seinerseits, zu mir herab, wo sich unsere Lippen trafen. Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Mir war das alles zu viel. Was ich vor Wochen noch für Märchen und Aberglauben gehalten hatte, schien mit einem Mal real zu sein. Ich war ein Teil davon, genauso wie Joey und alle anderen. Wir kannten uns von früher. War es Schicksal gewesen, erneut zusammenzufinden?
 

Joey lehnte sich in den Kuss und streichelte mir über den Rücken, stützte mich, um mir diesen Moment so einfach wie möglich zu gestalten. So hatte Christopher auch Elias gehalten, als dieser im Sterben lag. Seine Züge wirkten damals so glücklich – anscheinend hatte die Liebe Jahrhunderte später wieder zueinandergefunden. Vorsichtig löste sich Joey von mir und lächelte schief, während sein Daumen einige meiner Tränen wegwischte. „Erinnerst du dich an dein früheres Leben, Joey?“ Ein stummes Kopfschütteln seinerseits beantwortete meine Frage.
 

„Würdest du glauben, dass es Schicksal war, dass wir uns gefunden haben?“ Dieses Mal nickte er, wobei das Lächeln ein wenig ehrlicher und breiter wurde. „Ja, daran glaube ich. In dieser kurzen Zeit, die wir uns kennen, war und bin ich glücklicher, als ich es jemals zuvor gewesen bin.“ Ich musste unweigerlich den Kopf zur Seite drehen, um die Schamesröte in meinem Gesicht zu verbergen. Warum wusste ich selbst nicht. „Joey? Versprichst du mir zuzuhören, und mir erst dann an den Kopf zu werfen, dass ich spinne?“ Ein leises Glucksen seitens meines Freundes ließ mich weitersprechen. „Joey, ich habe heute gesehen, dass wir uns bereits einmal getroffen haben, wir alle. Sogar Kaiba. Du und ich, wir, ich glaube wir haben uns bereits einmal geliebt.“
 

Joey schwieg und beobachtete mich ruhig während meiner Erzählung. „Wir haben damals natürlich anders geheißen. In England. Dein Name war Christopher und meiner Elias. Beide trennten sich aber Jahre vor meinem Traum. Dieser Christopher hatte Elias verraten und bestohlen. Kannst du dir denken, was er ihm genommen hat?“ Joey dachte kurz nach und nickte dann: „Eine Karte, die uns beide verbindet, oder?“ Ich nickte meinerseits. „Mehr noch. Er hat ihm Teile eines ganz mächtigen Monsters gestohlen. Eines, das so mächtig war, dass man es unmöglich kontrollieren konnte.“
 

Mein Freund senkte erneut den Blick und streichelte mir wieder über den Rücken. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens fuhr ich fort: „Der Kaiba von damals hatte euch mit dem Ultradrachen in die Ecke gedrängt. Christopher, nein, du, hast mir die Karten zurückgebracht. Nach einem Duell mit Kaiba habe ich die Bestie erweckt. Sie hat alles ausradiert, das gegnerische Heer, den Ultradrachen. Der Himmel verdunkelte sich, und es schien Blut zu regnen, während mir das Leben entglitt.“ Ich atmete tief durch und schloss die Augen. Ich konnte mich mit einem Mal an Einzelheiten erinnern, die ich definitiv nicht in dem Traum erlebt hatte. „Langsam wich das Leben aus meinem Körper. Es waren keine Soldaten da, die man opfern konnte. Ich wollte nicht, dass ihr, dass du stirbst. Da habe ich mich selbst geopfert. Ich durfte nicht scheitern.“ Joey legte mir den Finger auf die Lippen und hinderte mich am Weitersprechen.
 

„Ich kenne diese Geschichte.“ Ich öffnete die Augen und starrte meinem Freund verwirrt entgegen. „Ich selbst besitze nur flüchtige Erinnerungsfetzen, die ich in der Regel als Alpträume abtue. Yugi kann sich aber an seine früheren Leben erinnern. Du bist in meinen Armen gestorben, als alter, schwacher Mann.“ Mir dämmerte allmählich, warum Joey manchmal so verschlossen war. Vorsichtig schob ich seinen Finger beiseite. „Joey – was damals gewesen ist, muss nicht heute erneut passieren. Wir sind noch halbe Kinder, haben alltägliche Probleme wie Schule und Stress mit unseren Eltern. Diese Geschichte wird sich nicht wiederholen, versprochen.“ Ich zog ihn näher zu mir heran und drückte mich an ihn.
 

Joey umarmte mich, während er die Decke über uns zog. „Wir haben uns alle versprochen, dass wir im nächsten Leben Freunde werden. Das ist so eingetreten. Wir haben wieder zueinandergefunden. Kaiba gehört auch zu unserer Gruppe, genauso wie Mokuba. Mach dir keine Sorgen und vor allem keine Vorwürfe, ja?“ Ich spürte Joeys Lippen auf meiner Stirn, bevor er das Licht ausknipste. „Versuche jetzt zu schlafen.“ Ich nickte geistesgegenwärtig und schlief kurze Zeit später, erschöpft, wieder ein.

Ein Moment zu zweit

Ich schlief einigermaßen ruhig. Der Milleniumsring an meiner Brust fühlte sich fast normal an. So, als ob er schon immer zu mir gehört hätte. Joey vermied es im Schlaf tunlichst, den Schmuck zu berühren. Irgendwie gab mir das Ding mehr Selbstvertrauen. Ich war im früheren Leben bereits mindestens zweimal voller Mut in irgendeinen Wahnsinn gestürzt – was nicht jeder von sich behaupten konnte. Außerdem hatte ich echt coole Freunde gewonnen, während meines Aufenthaltes hier.
 

Als der Wecker klingelte, griff ich neben mich und fand das Bett leer vor. Seufzend wälzte ich mich herum und vergrub meine Nase in Joeys Kissen. Aus dem Badezimmer tönte das Rauschen von Wasser – er duschte wohl. Genüsslich sog ich den Duft meines Freundes sein. Erneut wechselte ich die Bettseite und starrte dann auf das Stück Metall an meiner Brust. Für mich war der Ring weder erschreckend noch besorgniserregend. Gegenteiliges war der Fall: Ich fühlte mich wohlig, genauso, wie, wenn Mahad in meiner Nähe war.
 

Das Rauschen klang ab und die Tür zum Badezimmer ging auf. Joey stand in Boxershorts im Türrahmen und rubbelte sich die Haare trocken. Als er realisierte, dass ich bereits wach war, lächelte er. „Guten Morgen, Schlafmütze!“ Grinsend warf er mir das nasse Handtuch an den Kopf. Ich schickte es in hohem Bogen an den Absender zurück und gähnte ungeniert. Wie spät war es eigentlich genau? Mit großen Augen starrte ich auf den Wecker: 9:00 – wir hätten schon längst in der Schule sein müssen.
 

Hastig sprang ich aus dem Bett und wollte ins Badezimmer stürmen, wurde aber von meinem Freund mit seinem rechten Arm locker zurückgehalten. „Joey? Hast du einen Schaden? Wir haben verpennt – geh weg, ich muss mich eben frisch machen und dann müssen wir sofort in die Schule!“ Eine Spur Panik lag in meiner Stimme. Der Blonde hingegen blieb erstaunlich cool und ruhig. „Keine Sorge, wir haben nicht verschlafen. Sie haben die Heizung noch immer nicht repariert.“ Ich wollte mich noch immer an Joey vorbeidrängeln und überhörte seinen Einwand einfach. Nicht jeder konnte so eine fragwürdige Moral haben, wie er, was das Thema Schule anging. „Joey – Schule! Schule! Verdammt nochma…“ Mein Gezeter wurde von einem Kuss unterbrochen. Unweigerlich löste sich der kleine Panikanfall im Nichts auf.
 

Schmunzelnd löste sich Joey von mir und grinste zu mir herab: „Na? Beruhigt?“ Ich hämmerte leise lachend gegen seine Brust. „Das heißt wohl nein“ schlussfolgerte Joey und hob mich in seine Arme. Mein Lachen wurde lauter, während ich mich an ihn klammerte: „Ich kann noch sehr gut selbst laufen. Alles okay.“ Mein Freund machte aber keine Anstalten, mich runterzulassen. Wir steuerten auch nicht das Bett an, sondern bewegten uns kurzerhand wieder ins Bad zurück. Dort setzte er mich auf meine eigenen vier Buchstaben.
 

„Ich hätte es sicher allein geschafft, Joey. Aber danke für diesen Service.“ Dieser wedelte nur lachend mit der Hand. „Ah, ich muss doch ein wenig auf dich aufpassen, hm?“ Im Badezimmer war es noch angenehm warm von Joeys Duschsession. Erst jetzt realisierte ich auch vollends, dass Joey beinahe nackt vor mir stand. Ich merkte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg, als mein Blick von seinem Gesicht, über den durchtrainierten Körper, zu seinen schwarzen Boxershorts wanderte. Hastig sah ich zur Seite und biss mir auf die Lippen. „Bist du ein Trottel, als ob ihr nicht schon mehr miteinander gemacht hättet“ schalt ich mich gedanklich. „Ich lasse dich dann mal alleine, hm?“ Als Joeys Hand den Türgriff berührte, schnellte meine Hand reflexartig nach vorne. Der fragende Blick des Blonden verstärkte sich nur noch ein wenig mehr, als ich die Tür abschloss.
 

„Joey?“ fragte ich zögernd und rieb mir den Oberarm. Warum war es mir nun auf einmal peinlich? Wir hatten bereits wirklich mehr gemacht, viel mehr, und trotzdem, es war mir unangenehm, danach zu fragen. „Hm?“ fragte mein Freund und lächelte spitz. Er konnte es sich wohl auch denken. „Würdest du, ich meine…“ Meine Frage wurde mit einem Kuss seitens Joey unterbrochen, der sich mit mir langsam der Duschkabine näherte. Sekunden später prasselte das Wasser bereits auf uns herab.
 

Ich bekam eine Gänsehaut, als das kalte Nass uns einhüllte. Reflexartig verkrampfte sich alles in mir, nur um dann wieder zu entspannen, als sich die Wassertemperatur langsam einem angenehmen Pegel näherte. In der ganzen Zeit hatten Joey und ich den Lippenkontakt nicht unterbrochen. „Schon komisch, vor einer Weile war es euch noch total peinlich“ ging es mir durch den Kopf. Joey zumindest hätte am Anfang nicht so gehandelt, ganz sicher nicht.
 

Meine Finger wanderten langsam über den Rücken meines Liebsten hinab zu seinem Hintern. Seine Boxershorts waren mittlerweile klitschnass, genauso wie meine Trainingshose. Joey löste seine Lippen von den meinen und seine Augen glitzerten dabei. Gerade musste er frei sein, wirklich frei von allem, was ihn belastete. Seine Hand griff hinter mich und schnappte sich das Shampoo, welches er ergiebig auf meinen Haaren und meinem Körper verteilte. Leise seufzend gab ich mich Joey hin und schloss die Augen.
 

Behutsam massierte er mir das Shampoo ein, und ein angenehmer Kokosduft erfüllte den Raum. Sanft wurde ich von Joey in dessen Arme gezogen. Ich klebte förmlich an ihm, mit Ausnahme unserer Brustkörbe, zu dem er ein wenig Abstand hielt. Seine Finger kraulten meinen Nacken, wanderten von dort über meine Halsbeuge, die sie zärtlich streichelten. Ich klammerte mich an Joey, die Hände um seinen Nacken gelegt.
 

„Ich liebe dich“ hauchte er mir ins Ohr, mit einer Stimme, die mein Herz einen Hüpfer machen ließ. „Ich dich auch“ flüsterte ich und wagte es die Augen langsam zu öffnen. Joeys rehbraune Augen ruhten auf mir, einen verträumten, zärtlichen Ausdruck innehabend. Er öffnete seinen Mund, nur um ihn wieder zu schließen. Ich wollte gerade nachfragen, was er denn sagen wollte, als es an der Tür klopfte. „Wheeler, David? Wenn ihr fertig miteinander seid, wäre es angebracht, dass ihr nach unten kommt. Die Polizei möchte euch vernehmen.“ Schlagartig war unser beider Laune im Keller. Das war eindeutig Kaiba. „Wir kommen gleich“ seufzte ich und drehte den Wasserhahn hinter mir zu.
 

Joeys Blick war wie versteinert, fast schon ängstlich. Ich wartete kurz, bis ich Schritte hörte, und mir sicher war, dass Kaiba verschwunden war, bevor ich Joeys Hände in die meinen nahm und ganz sanft drückte. „Du musst dir keine Sorgen machen, wir biegen das schon gerade, außerdem steckt Kaiba da auch mit drinnen.“ Der Blondschopf senkte den Blick ein wenig. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, nur um dabei nach den Handtüchern zu angeln.
 

Wir zogen uns rasch um, entledigten uns dabei der nassen Sachen, und huschten dann nach unten. Ich nahm im Gehen Joeys Hand und verwob unsere Finger miteinander. Mir war zwar auch nicht sonderlich wohl zumute, aber schließlich waren wir alle Opfer, Kaiba, Joey, ich, oder? Das musste die Polizei doch wissen. Mal abgesehen davon, ich hatte noch immer das Voice.

Aussage

Im Esszimmer angekommen, konnten wir zwei unbekannte Personen am Tisch sitzen sehen. Joey löste unsere Hände rasch und atmete tief durch. Kaiba unterhielt sich angeregt mit den Beamten, und auch ein Anzugträger mit Kurzhaarschnitt und Hornbrille mischte sich in das Gespräch ein. Ich atmete tief durch, bevor ich mich räusperte. Schlagartig waren alle Blicke auf uns gerichtet. Die Stimmung war mehr als nur angespannt, das konnte man merken.
 

„Ah ja, Mister Wheeler und Mister Pirchner, nehme ich an?“ Der männliche Part des Duos hatte bereits ergrautes Haar und trug einen langen, beigefarbenen Regenmantel, nebst einer farblich dazu passenden Schiebermütze. Seine Hände hatte er aufeinandergelegt, während seine Kollegin, eine junge Frau, um die zwanzig, mit schulterlangem, braunem Haar, fleißig auf ihrem Laptop mitschrieb. Ich nickte zögerlich und trat dann ein, Joey dicht hinter mir.
 

„Setzen Sie sich“ forderte uns der Herr auf. Kaiba nickte kurz, was mich veranlasste, neben ihm Platz zu nehmen. Joey brauchte einige Momente, um zu realisieren, dass er nun der Einzige ohne Stuhl war, bis er sich mir anschloss. Unter der Tischplatte grabbelte ich nach seiner Hand und drückte sie kurz, bevor ich erneut tief durchatmete und dem älteren Herren in die Augen sah. Er wirkte alt, verschlagen, aber auch irgendwie voller Lebenserfahrung und Wissen. Mit einem passenden Rauschebart wäre er der ideale Methusalem gewesen.
 

„Ich bin Kommissar Matayoshi, und das ist meine Kollegin Date. Wir sind hier, um mit Ihnen über den Vorfall im Haus der Familie Nakamura zu sprechen.“ Der Kommissar wirkte durchaus freundlich, lächelte sogar ein wenig, während er sprach. Seine Kollegin hingegen runzelte die Stirn und linste uns böse entgegen. „Was wollen Sie dann von mir?“ fuhr Joey den Beamten gleich an. „Ich war niemals in diesem gottverdammten Haus.“
 

„Dessen bin ich mir durchaus bewusst, Mister Wheeler, aber Sie sind ein potentielles Opfer“ erklärte Matayoshi ruhig. Einige Sekunden lang herrschte Stille, bis Joey lospolterte und dabei aufsprang: „Was heißt hier potentielles Opfer? Mei hat mich entführt, erpresst, mich einer Gehirnwäsche unterzogen.“ Ich schloss die Augen und ließ den Kopf hängen. Das machte sicher kein gutes Bild, wenn einer von uns so explodierte.
 

„Bis zum erbrachten Beweis gilt Mei als unschuldig, und jetzt setz dich hin und halt den Mund, bis der Kommissar dich konkret befragt“ blaffte Kaiba Joey an, der abwechselnd zwischen dem Kommissar, ihm, und mir hin und herschaute. Innerlich betete ich zu sämtlichen Geistern und Gott, dass mein Freund den Wink mit dem Zaunpfahl verstand und Kaibas Anweisungen folgte. Sichtlich sauer nahm Joey wieder auf dem Stuhl Platz.
 

„Nun, ich würde gerne mit Ihnen beginnen, Herr Pirchner. Mister Kaiba war bereits so freundlich, und hat uns die technischen Details genauer dargelegt, ebenso wie Ihren Ausflug, den anschließenden Kampf und etwaige Motivgründe seitens Frau Nakamura.“ Matayoshi klang ausgesprochen ruhig, und er schien die ganze Sache auch ernst zu nehmen. Das war in meinen Augen keine Selbstverständlichkeit; nach außen hin musste es wie das Zusammentreffen einiger Nerds wirken, die sich irgendwie verfeindet hatten.
 

„Natürlich“ antwortete ich und bemühte mich, einigermaßen ruhig zu bleiben. Der Kommissar nickte seiner Kollegin zu und zog dann ein kleines Notizbuch hervor, genauso wie einen Stift. „Ihre und Mister Wheelers Personalien sind uns bereits von Herrn Kaiba bereitgestellt worden. Diesen Teil können wir also überspringen. Mich würde nun interessieren, wie der Abend dieser Geburtstagsfeier abgelaufen ist.“ Date schnaubte abfällig: „Seien Sie nicht zu nett mit denen, Herr Kommissar. Dieser Mistkerl hat das Mädchen vergewaltigt.“ Verächtlich nickte sie dabei in meine Richtung. Ich schluckte schwer. Nach einem mahnenden Blick, seitens des Kommissars, war Date aber wieder still. „Bitte, wenn Sie nun mit der Sachverhaltsschilderung beginnen würden?“
 

„Also, es war so – ich begleitete den Bruder von Herrn Kaiba, Mokuba Kaiba, zur Geburtstagsfeier von Frau Nakamuras jüngerer Schwester, Sakura“ begann ich, während Matayoshi hie und da etwas in sein Notizbuch kritzelte, und Date missmutig am Laptop mitschrieb. „Ich wurde von Sakura, Frau Nakamuras jüngerer Schwester, gleich nach oben geschickt, denn Mei würde auf mich warten. Dort bot sie mir einen Sitzplatz an, und wir tranken gemeinsam eine Kleinigkeit.“ Matayoshi sah von seinem Notizbuch auf: „Eine Kleinigkeit in Form von Alkohol?“
 

„Nein, wir…“ setzte ich an, als mir der Anzugträger neben Kaiba ins Wort fiel. „Sie müssen nichts sagen, bei dem Sie sich belasten müssten.“ Ich blinzelte kurz. Belasten? „Wir haben keinen Alkohol getrunken, sondern nur eine Limo“ fuhr ich fort. Erleichtert atmete der Anzugträger, den ich mittlerweile als Kaibas Anwalt identifiziert hatte, aus, und nickte mir zu. „Fahren Sie bitte fort“ sagte Matayoshi und ignorierte den Anwalt geflissentlich.
 

„Wir unterhielten uns eine Weile, bis sie sich seltsam zu verhalten begann.“ Ich zögerte, als sowohl Joey, als auch der Kommissar, Date und der Anwalt mich fixierten. Ich war im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. „Sie meinte, ich sei hübsch, und, ob ich nicht mit ihr zum Weihnachtsball gehen wolle.“ Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. War es überhaupt so gewesen? Log ich? Mit aller Kraft versuchte ich mir den Abend in Erinnerung zu rufen.
 

„Hübsch? Sie meinen, Frau Nakamura hat sich Ihnen gegenüber angebiedert?“ fragte der Kommissar nach. Ich schüttelte verneinend den Kopf: „Nein, nicht direkt.“ Date schnaubte laut und ich schluckte schwer. Zumindest seine Kollegin hatte mich auf dem Kieker. „Inwiefern?“ bohrte Matayoshi nach. „Nun, sie…“ zögerte ich und warf dabei Joey einen traurigen Blick zu. Wenn ich jetzt mit der Wahrheit herauskam, dann würde es bald die Presse wissen, es in den Zeitungen stehen, es öffentlich werden.
 

„Sie hat ihn erpresst“ setzte Kaiba meinen Satz fort. Verwundert sahen wir alle zu ihm hinüber. „Mister Kaiba, den Einsatz für Ihre Freunde in allen Ehren, aber…“ begann der Kommissar, wurde dann aber sogleich unterbrochen. „Herr Kommissar? Kürzen wir diese Scharade bitte ab, ja? Herr Pirchner ist erpresst worden, und das auf heimtückische und gemeine Weise. Die sexuelle Handlung war nicht einvernehmlich.“ Woher wusste Kaiba das alles? Ein lautes „Ha!“ ließ uns irritiert in Richtung Date blicken.
 

„Jetzt hat ihn sein Freund verraten! Er hat das Mädchen vergewaltigt! So war es, und nicht umgekehrt. Das deckt sich mit den Aussagen des Opfers!“ Betreten sah ich auf die Tischplatte. Mei hatte also bereits ausgesagt und gelogen. Hatte es überhaupt Sinn, sich gegen die Anschuldigungen zu wehren. Mein Blick fiel auf das braune Lederband, welches sich unter meinem T-Shirt verlor und in den Milleniumsring überging.
 

„Das ist unsachlich. Herr Kommissar, weisen Sie ihre Kollegin zurecht – sie stellt unbestätigte Aussagen als Fakten dar, und verunsichert so meinen Mandaten.“ Der Anwalt hatte einen scharfen Ton angeschlagen. Um mich herum drehte sich alles. Mir wurde Übel. Musste ich hier ins Gefängnis? Was war mit meinen Eltern, meinen Großeltern? Was würde mit Joey passieren?
 

Der Milleniumsring an meiner Brust glühte hell auf. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen. Die zeternde Date, die nun den Anwalt beschimpfte, ein aufgebrachter Kommissar Matayoshi, der seine Kollegin anfuhr, genauso wie Joey und der Anwalt es taten, und ein ruhiger Kaiba, der an seiner Kaffeetasse nippte. Keinem schien das grelle Licht aufzufallen, welche durch mein Shirt hindurchstrahlte. Mit einem Mal riss ich die Augen auf und es wurde schwarz um mich.
 

Ich befand mich in einer absoluten Schwärze. Wo war ich nun wieder? Wo waren die anderen hin? Gerade, als ich mich meiner Verzweiflung hingeben wollte, erhellte sich das Dunkel und mir wurde der Blick auf zwei massive Eisentüren gewährt. Eine war einen Spalt breit geöffnet. Aus ihr drang Licht und Wärme, während die andere fest verschlossen schien.
 

Zögernd machte ich mich auf und ergriff mit zitternden Fingern den Türknauf. Als ich die Tür aufstieß, strahlte mir das Licht entgegen, genauso wie eine prickelnde Wärme. Ich bedeckte meine Augen mit der freien Hand, und versuchte durch den grellen Schein etwas zu erkennen. Vor mir stand jemand, eindeutig. Ich rechnete mit dem Schlimmsten, bis das Licht abklang.
 

„Mahad!“ rief ich, was dieser mit einem Lächeln quittierte. „Schön dich wiederzusehen, David“ antwortete er mir und schob meinen Arm sanft nach unten. „Wo sind wir? Was ist hier los? Wo sind die anderen?“ erkundigte ich mich. Das Lächeln des Ägypters wurde breiter. Er schob seine Hände in die Robenärmel und bedeutete mir mit dem Kopf, mich umzusehen.
 

Der Raum kam mir bekannt vor. Ein Bett, ein Schreibtisch mit Laptop und Bildschirm, ein großer Schrank. Neben dem Schreibtischsessel befand sich noch ein zweiter, wo jemand ungeordnet einige Sachen draufgeworfen hatte. „Erkennst du den Raum?“ fragte Mahad lächelnd. Die gelben Wände, das schwarze Bettzeug – das war mein Zimmer! Mein zweites Ich nickte leicht. „Wir sind hier in deinem Seelenraum.“ Meinem was?
 

„Wir zwei teilen uns nun einen Körper, so wie es Bakura mit seinem früheren Selbst tat, und wie es auch der Pharao mit deinem Freund Yugi tut.“ Was taten wir? Ich starrte Mahad völlig entgeistert an. Hatte der noch alle Tassen im Schrank? „Ich bin somit immer in deiner Nähe, ein Teil von dir. In brenzligen Situationen kann ich für dich übernehmen.“
 

Passierte das gerade? Bemächtigte sich Mahad meines Körpers? Wie ein Parasit? Kontrollierte er mich? „Nein, das tue ich nicht. Es muss aus freien Stücken geschehen. Du musst es mir erlauben.“ Er glaubte wohl wirklich an das, was er da von sich gab. „Wie soll denn das funktionieren, Mahad? Mal abgesehen davon: Selbst wenn es funktioniert, dann merken die anderen doch, dass du und nicht ich mit ihnen sprichst, oder?“
 

Mahad schrägte den Kopf ein wenig: „Ja und nein. Für sie bist du noch immer David. Einzig Träger von Milleniumsgegenständen werden einen Unterschied erkennen. Möchtest du es einmal ausprobieren?“ Ich zögerte. Die Situation war ja wohl denkbar schlecht. Was sollte ein dreitausend Jahre alter Geist von einer vermeintlichen Vergewaltigung wissen, oder der Rechtslage Japans im 21. Jahrhundert? „Vertrau mir einfach – ich kann sofort wieder an dich zurückgeben.“ Konnte der Versuch schaden? Ich nickte kurz angebunden, ehe ich wieder zu mir kam und die Gruppe vor mir beobachtete.
 

Das Gefühl, welches mich durchströmte, war schwer zu beschreiben. Ich war noch immer ich, und dann doch wieder nicht. Ich konnte meinen Körper kontrollieren, meine Finger bewegen, aber genauso spürte ich, dass jemand anderer da war, jemand, es mit meiner Einwilligung tat. Mahad. Fühlte Yugi auch so? Bakura genauso?
 

„Herr Kommissar?“ fragte ich und die zeternde Meute verstummte schlagartig. „Ich denke nicht, dass der Erpressungsgegenstand für dieses Verhör notwendig ist. Frau Nakamura hat mich zum Sex gezwungen. Sie würde sonst ein für mich pikantes Detail meines Privatlebens an die Öffentlichkeit bringen, sollte ich nicht mit ihr schlafen, und mich nicht als ihr Freund ausgeben.“ Hatte ich das wirklich gesagt? Warum klang ich nicht nervös? Meine Stimme war ruhig und kräftig.
 

„Für das Verfahren ist es von außerordentlicher Wichtigkeit, dass wir alle Fakten kennen“ legte der Kommissar den Sachverhalt dar, während Date wieder missmutig auf die Tastatur hämmerte. „Nun, ich fürchte, dass ich Sie in dieser Angelegenheit enttäuschen muss, Herr Kommissar. Ich denke, mein Beweis ist ausreichend, um mich von jeglichem Tatverdacht zu befreien.“ Ich griff in meine Hosentasche und zog mein Handy hervor. Routiniert entsperrte ich das Smartphone und wechselte zu den Audioaufzeichnungen. Ich stellte die Lautstärke auf Maximum und spielte dann die Audiodatei ab.
 

„Sicher, dass du mit mir schlafen möchtest, Mei? Das erste Mal sollte eigentlich etwas Besonderes sein“ tönte meine Stimme aus den Lautsprechern des Smartphones. „Ich mit dir? Du hast wohl eher keine Wahl“ erklang Mei amüsiert auflachend. „Außerdem bin ich neugierig, wie du wohl so im Bett bist, und ob du mit Kiyoshi mithalten kannst.“ Selbstsicher drückte ich auf Stopp und schob das Handy wieder in die Hosentasche.
 

„Sie haben es gehört, Herr Kommissar. Frau Nakamura hat deutlich gesagt, mein Mandant hätte keine Wahl. Es war von ihrer Seite aus eine Nötigung, wenn nicht sogar Vergewaltigung, aber zumindest einvernehmlich“ fuhr der Anwalt auf und schob sich die Hornbrille mit dem Finger nach oben. Sowohl Matayoshi, als auch Date waren verstummt.
 

„Damit erübrigt sich die Einleitung eines Strafverfahrens gegen meinen Mandaten. Wir werden Ihnen das Audiomaterial natürlich zur Verfügung stellen. Von einer Aussage seitens Mister Wheeler können Sie somit auch Abstand nehmen. Wie das ärztliche Zeugnis…“ fuhr der Anwalt fort, was mich nicht weiter interessierte. War das gerade wirklich passiert?
 

Sowohl Matayoshis Blick, als auch der von Date, hatten sich schlagartig verändert. Die Kollegin des Kommissars wandte sich von mir ab und tippte stumm auf der Tastatur herum. Matayoshi schüttelte den Kopf und seufzte leise, um sich dem Anwalt zuzuwenden. Joey atmete neben mir erleichtert aus, und Kaiba konnte ein Zucken seiner Mundwinkel nicht verbergen.
 

„Ich denke, damit sollte sich das Problem aufgelöst haben“ ertönte Mahads Stimme in meinem Kopf. „Es, es scheint so“ antwortete ich ungläubig. Warum hatte ich das nicht selbst machen können? „Das hast du. Wir sind eins, vergiss das nicht!“ Mit diesen Worten verließ das seltsame Gefühl meinen Körper wieder und ich atmete erleichtert aus.
 

„Das können Sie unmöglich machen! Er muss aussagen! Wenn nicht, dann werden wir ihn vorführen!“ brauste Date auf. In Kaibas Augen blitzte es verräterisch. Er richtete sich im Stuhl zu voller Größe auf und sprach mit ruhiger aber scharfer Stimme: „Er muss gar nichts, außer das Protokoll unterschreiben. Zweifeln Sie etwa am Befund des Arztes? Ich an Ihrer Stelle würde mich nun zurückhalten, wenn Sie nicht den Rest Ihrer Laufbahn damit verbringen möchten, Parkuhren zu kontrollieren. Ihr Verhalten gegenüber den Opfern ist nicht nur pietätlos, es entbehrt auch jeglicher Form von Feingefühl. Wenn Sie noch einmal ausfällig werden sollten, werden wir eine Klage erheben und ein Disziplinarverfahren anstreben. Haben Sie mich verstanden?“
 

Date schien etwas erwidern zu wollen, wurde dann aber mit einem Mal im Stuhl ganz klein, als sich zu Kaibas strengem Blick auch noch der von Matayoshi gesellte. „Ich muss mich ausdrücklich bei Ihnen entschuldigen. Meine Kollegin ist noch jung und unbedarft.“ Kaiba wedelte mit der rechten Hand und nickte seinem Anwalt zu. Dieser schob Joey ein Klemmbrett mit mehreren Bögen Papier zu. „Unterschreiben Sie auf der letzten Seite und wir sind fertig, Mister Wheeler“ wies ihn der Anwalt an. Joey zögerte kurz, griff dann aber nach einem bereitliegenden Stift und setzte seine Unterschrift drunter.
 

Der Anwalt nahm Klemmbrett und Stift wieder an sich, wobei er Ersteres dem Kommissar aushändigte. „Damit sind wir fertig. Der genaue Verhandlungstermin gegen Frau Nakamura wird mir, als Bevollmächtigtem der Mandanten, mitgeteilt werden, genauso wie meinen Kollegen.“ Das war keine Bitte, sondern eine Feststellung. Der Anwalt betonte außerdem das Wort „gegen“ ausdrücklich.
 

Matayoshi nickte nur und stand auf und verbeugte sich vor uns. „Vielen Dank für Ihre Bemühungen.“ Mit einem Handwink bedeutete er Date, ihm zu folgen. Das Klemmbrett hatte er unter den Arm gelegt, und sein Notizbuch steckte er im Gehen in eine Seitentasche seines Mantels. Beide schienen es sehr eilig zu haben.
 

„Es wundert mich, dass das Dezernat noch immer Personen wie Date bei solch delikaten Fällen einsetzt“ grinste der Anwalt amüsiert und wandte sich mir und Joey zu, jedem die Hand reichend. „Verzeihen Sie bitte, dass ich erst jetzt dazu komme, mich vorzustellen: Haruto Takahaishi – ich bin der Anwalt von Herrn Kaiba. Meine Kollegen und ich werden Sie im Gerichtsprozess vertreten.“ Ich schüttelte verdattert die Hand des Anwalts, genauso wie Joey.
 

„Das mit dem Beweisstück haben Sie hervorragend gemacht. Ich gehe stark davon aus, dass das Verfahren gegen Sie fallen gelassen wird. Beide von Ihnen werden aber höchstwahrscheinlich gegen Frau Nakamura aussagen müssen.“ Gegen Mei? Warum? „Wieso gegen Mei, wenn ich fragen darf?“ Der Anwalt, wie auch Kaiba, grinsten verschmitzt: „Es wird zu einer Anklage wegen sexueller Nötigung und Erpressung, sowie Entführung und Misshandlung kommen.“ Mein Blick wanderte zwischen Kaiba und Herrn Takahaishi hin und her.
 

„Was machen wir in der Schule?“ erkundigte sich Joey. Kaiba machte eine wegwerfende Handbewegung auf die Frage hin: „Mei wird offiziell von der Schule genommen, da ihre Familie, arbeitsbedingt, für längere Zeit ins Ausland muss. Etwaigen Gerüchten wird dadurch vorgebeugt. Offiziell ist das alles nie passiert.“ Joey schnaubte verächtlich: „Das kommt an die Öffentlichkeit. Wenn nicht bei der Gerichtsverhandlung, dann, weil deine Firma auch namentlich fällt.“ Kaiba schmunzelte nur: „Lass das mal meine Sorge sein, Wheeler. Ich würde vorschlagen, ihr erzählt dem Kindergarten von eurer Errungenschaft, und lasst mich mit Herrn Takahaishi allein.“
 

Joeys Blick verfinsterte sich. Er zeigte Kaiba den Vogel und stürmte aus dem Zimmer. Ich seufzte leise und nickte den beiden zu, bevor ich meinem Freund folgte. Wahrscheinlich war er auf unser Zimmer getürmt und hatte dabei wieder mindestens drei Personen vor den Kopf gestoßen. Gerade konnte ich seine Reaktion nicht nachvollziehen. Es war doch alles gut gegangen, oder?

Joeys eigene Welt

Ich wartete ein paar Minuten vor unserem Zimmer. Von drinnen war kein Mucks zu hören. Ich war mir dennoch sicher, dass Joey sich dorthin zurückgezogen hatte. Welche anderen Optionen bestanden denn sonst? So wie ich meinen Freund mittlerweile kannte und einzuschätzen vermochte, brauchte er ein wenig Zeit für sich.
 

Als mir die Zeit günstig erschien, klopfte ich kurz an, nur um die Tür leise zu öffnen. Es war dunkel, obwohl die Sonne draußen schien. Joey hatte die Vorhänge zugezogen. Er saß im Schneidersitz auf dem Bett. In der rechten Hand hielt mein Freund einen Bleistift, mit dem er irgendetwas in seinen Block kritzelte. Seinen Gesichtsausdruck vermochte ich nicht zu deuten, zumal das spärliche Licht mir auch ein wenig die Möglichkeit nahm, diesen genauer zu beurteilen. Vorsichtig schloss ich die Tür hinter mir und zögerte. Sollte ich ihn ansprechen? Er schien mich überhaupt nicht zu registrieren.
 

„Joey?“, fragte ich leise. Er sah nicht auf, geschweige denn, dass er überhaupt eine Reaktion zeigte. Der Blondschopf war einzig auf seinen Block fixiert. Er wirkte wie im Wahn. Die Linien, die er ins Papier drückte, fast schon mit Gewalt zu pressen schien, waren zittrig. Je näher ich ihm kam, desto mehr konnte ich erkennen, was er da malte. Mit jedem Schritt wurde mir mulmiger zumute. So hatte ich ihn wirklich noch nie erlebt.
 

Ich hockte mich neben ihn und beobachtete schweigend sein Werk. Ein Drache zerfleischte einen Menschen. Die Schuppen, das Muster, das stechende Starren – der Weiße Drache mit Eiskaltem Blick. Mit jeder Sekunde die verging, wurde das Bild detailreicher. Der Mensch im Maul des Fabelwesens bekam eine Rüstung, genauso wie ein Schwert, welches er in der rechten Hand umklammert hielt. Am Boden lag ein mir wohlbekannter Helm herum, während Joey dem Flammenschwertkämpfer eine äußerst charakteristische Frisur verpasste: Seine eigene.
 

Joey registrierte mich noch immer nicht. Obwohl ich mir massiv Sorgen machte, wollte ich herausfinden, was er am Ende grafisch darstellen wollte. Mittlerweile war ich mir auch sicher, dass wir alle Recht hatten: Joey verarbeitete seine Probleme mittels Zeichnungen. Wahrscheinlich verbannte er sie damit aus seinem Geist, um ein wenig Ruhe erfahren zu können. Stumm zeichnete er weiter.
 

Die Züge des Flammenschwertkämpfers nahmen Form an. Sein Gesichtsausdruck war schmerverzerrt. Die Augen spiegelten Trauer und Schmerz wider; ex aequo Joeys Blick. Die Tunika des Flammenschwertkämpfers hing nur noch in Fetzen an seinem Oberkörper. Schlagartig wanderte der Bleistift nach oben, und versah den Weißen Drachen mit einer weiteren Person.
 

Nach und nach bekam auch der Reiter eine Form. Er stand hocherhobenen Hauptes auf dem Rücken des Monsters, die Arme vor der Brust verschränkt. Die Augen waren spöttisch auf den Flammenschwertkämpfer gerichtet. Ein süffisantes Grinsen zierte seine Lippen. Er schien große Freude am Tun seines Monsters zu besitzen. Als die Frisur mit dem langen Mantel kombiniert wurde, war mir klar, wen Joey da zeichnete: Kaiba.
 

Hastig blätterte Joey um und begann ein neues Bild. Die Striche gewannen langsam an Form. Konturen wurden mit Leben erfüllt. Als Erstes zeichnete mein Freund eine sehr zierliche Person. Ihre Figur war schmal, fast schon ungesund dünn. Sie bekam schulterlange, glatte Haare verpasst. Die rechte Hand stemmte die Unbekannte in die Hüfte. Ihr Lächeln hatte etwas Sadistisches an sich. Der Körper wurde mit Kleidung versehen – leicht, fast schon ein wenig billig wirkend, mit genügend Einblick um ein gewisses Maß an Interesse zu wecken.
 

Neben ihr erschuf Joey eine weitere Gestalt. Diese war deutlich größer und breiter. Langsam wurden Torso, Arme und Beine mit einer Rüstung versehen, deren Verzierungen und Form ich nur zu gut kannte. Die säbelartige Waffe und der Schild komplettierten das Bild vom Soldaten des Schwarzen Lichts. Unter dem Helm lugte erneut Joey hervor, dieses Mal einen gequälten, fast schon flehenden Blick aufgesetzt. Die andere Person, ich vermutete stark, dass es sich dabei um Mei handelte, hatte ihre linke Hand unter sein Kinn gelegt.
 

Erneut blätterte Joey um. Wieder setzte er den Stift an und wieder ließ er langsam ein Bild entstehen. Wie viel Zeit inzwischen vergangen sein mochte, konnte ich nicht sagen. Waren es Minuten gewesen oder Stunden? Mir war es einerlei: Auch, wenn es mich schmerzte, ihm dabei zuzusehen, so bekam ich doch endlich einen Einblick in die Gefühlswelt des echten Joeys. Jenen, den er vor allen, sogar vor mir, verbarg.
 

Mein Freund hauchte dem Blauäugigen Ultradrachen Leben ein. Zwei der drei Köpfe waren in die Höhe gereckt. Die Klauen des Drachen umschlossen dabei jene eines anderen Wesens. Der mittlere Schädel war im Maul des anderen Monsters gefangen. Die monströse Gestalt bildete sich vor meinem geistigen Auge erneut. Ich konnte mich gut daran erinnern. Wie sie sich aus dem Himmel schälte. Das Brüllen, welches die Erde erbeben ließ. Joey versah den anderen Drachen mit einem zweiten Maul. In seinem Schädel thronte ein juwelartiger Kopfschmuck: Yugis Monster. Tatsächlich stand unser Freund auch auf dem Schädel seines Drachens. Einige Strahlen, die von seiner Brust und dem Milleniumspuzzle ausgingen, sollten wohl ein Leuchten signalisieren.
 

Die Tür sprang auf und ich schreckte hoch. Tristan stand, mit Yugi und Tea im Schlepptau, im Türrahmen. Gerade als er etwas rufen wollte, legte ich den Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf. Mein Blick wanderte zu Joey, der noch immer nichts außer seinen Zeichnungen zu kennen schien. Die drei beobachteten unseren gemeinsamen Freund mit Sorge, gleich wie ich, doch sie verstanden auch, dass es das beste war, ihn nicht zu stören. Leise drückte Tea die Tür zu und das Trio näherte sich uns. Ich machte ein wenig Platz, sodass wir alle Joeys nächste Zeichnung begutachten konnten.
 

Dieses Mal schälten sich zwei wohlbekannte Figuren aus dem kreativen Geist meines Freundes. Eine davon war ich, die andere Kaiba. Beide standen wir da, die Arme vor der Brust verschränkt. Der CEO verwendete eine Duel Disk von seltsamer Form. Sie war sternförmig und schien zu leuchten. Kaibas Kopf wurde von einer Art Headset umgeben. An meiner Brust klebte der Milleniumsring, der ebenso leuchtete. Die spitzen Anhänger deuteten alle auf Kaiba.
 

Im Seitenprofil erschuf er zwei Monster. Der schemenhafte, riesige Krieger mit dem Juwel auf der Stirn, den Zacken, die aus seinem Körper ragten und seine Hände, die er zu Fäusten geballt hatte, erinnerten stark an das Monster, welches Kaiba in der VR benutzt hatte: Obelisk der Peiniger. Die Fäuste des Monsters wurden von Fingern umschlossen. Zu diesen gesellte sich langsam ein Torso, sowie Arme und Beine. An jeder Extremität baumelte eine Kette lose herab. Als der Schädel an seinen rechtmäßigen Platz hingezeichnet wurde, öffneten sowohl ich als auch Yugi die Münder: Das war die Exodia.
 

Joey begann zu weinen, bitterlich sogar. Er schluchzte und vergrub das Gesicht in den Händen. Sekunden später umschlangen ihn mehrere Arme: Die von Yugi, Tea, Tristan und mir. Wir handelten alle reflexartig. Fest drückten wir unseren Freund und Liebsten an uns, jeder für sich. Schweigend saßen wir so da und gaben Joey das Gefühl, nicht alleine zu sein. Dafür waren keine Worte nötig, sie würden wahrscheinlich auch nichts ändern.
 

Nach einer Weile beruhigte sich Joey ein wenig. Der Tränenstrom versiegte und er entspannte sich ein wenig. „I-ich wäre gerne ein wenig a-alleine“ ,stammelte er, und zwang sich zu einem schiefen Lächeln. Wir alle zögerten. Unsere Blicke sprachen Bände. „B-Bitte“ ,fügte Joey an und wischte sich mit dem Handrücken über die verweinten Augen.
 

„Wenn du uns versprichst, nichts Dummes anzustellen“ ,entgegnete Tea zögernd und ließ Joey los. Nach und nach taten wir es ihr gleich, wobei ich der Letzte war, der sich, schweren Herzens, physisch von Joey trennte. Dieser nickte nur müde. Unsere Freunde machten einen betretenen Eindruck. Sie fühlten gleich wie ich. Leise verließen wir den Raum und zogen die Tür hinter uns zu. Wütend donnerte ich meine Faust gegen den Türrahmen und seufzte schwer.

Revanche

Ich stand mit geschlossenen Augen da, die Faust noch immer gegen den Türrahmen gepresst. Joeys Selbstvertrauen schien im Keller zu sein, mehr noch: Er litt unter Kaibas ständigen Sticheleien ungemein. Was hatte die letzte Zeichnung zu bedeuten? Waren der CEO und ich gleichauf? Musste ich mich mit ihm duellieren? Sollte ich mich überhaupt mit ihm messen? Kaiba mochte zwar ein äußerst aufgeblasenes Ego besitzen, doch er war bisher immer zuvorkommend gewesen; für seine Verhältnisse.
 

„Ich werde Kaiba herausfordern“, sagte ich und öffnete die Augen. Die angenehme Wärme, welche mich bereits einmal durchströmte, prickelte wieder in meinen Adern. Jede Faser meines Körpers strotzte vor Energie. Ich musste nicht an mir herabschauen, um zu wissen, dass der Milleniumsring unter meinem Shirt glühte.
 

„Hast du komplett den Verstand verloren?“, platzte es aus Tristan heraus. Der Hüne schüttelte den Kopf und packte mich an den Schultern. „Kaiba hat dich bereits einmal in einem Duell in den Boden gestampft. Denkst du, es ist jemandem geholfen, wenn dir das wieder passiert?“ Ich drehte den Kopf weg und atmete tief durch, nur um mich dann aus Tristans Griff zu befreien. „Ich habe dazugelernt seit dem letzten Mal. Außerdem habe ich euch, oder?“, lächelte ich und blickte in die Gesichter meiner Freunde. Sowohl Tristan, als auch Tea wirkten wenig begeistert bis bestürzt. Einzig Yugi schenkte mir ein Lächeln.
 

„Lassen wir es David versuchen. Ich glaube an ihn, ihr nicht?“, erkundigte sich der König der Spiele. Seine Züge waren wieder anders, härter, ernster, aber zeitgleich auch selbstsicherer. Zögernd nickten Tea und Tristan, ehe sie sich zu einem Grinsen hinreißen ließen. „Natürlich glauben wir an ihn. Er ist unser Freund!“, tönte der Braunhaarige lautstark und boxte mir gegen die Schulter. „Leute?“, fragte ich, und streckte meine rechte Hand aus. „Würdet ihr mir beistehen? Mental?“ Ehe ich es mich versah, hatten alle ihre Hände auf die meine gelegt. „Freunde halten zusammen, egal was passiert!“, riefen sie im Chor. Mein Herz machte einen Hüpfer. Ich war mir sicher, Kaiba zumindest ein anständiges Duell bieten zu können. Wenn schon nicht für mich, oder für meine Freunde, dann wenigstens für Joey. Er wollte uns nicht in seiner Nähe haben? Gut, dann würden wir ihn eben so unterstützen.
 

Selbstsicher stapfte ich zurück ins Esszimmer, begleitet von meinen drei Freunden. Mein Blick war streng, meine Züge hatten sich verhärtet. Nein, das war nicht ich, sondern Mahad. Er hatte meine stumme Bitte wohl verstanden, und übernahm gerade für mich. Ich konnte noch alles beobachten, und mental steuern, wusste aber, dass mein Körper wieder meinem früheren Ich gehörte.
 

Mit Schwung drückte ich die Türflügel auf. Kaiba saß allein am Tisch, bei einer Tasse Tee und der Zeitung. Er zog seine Brauen in die Höhe und bedachte uns mit einem fragenden Blick. „Hat Wheeler ausgeweint, oder was habt ihr vor?“, fragte er mit seinem typisch spöttischen Unterton. Eigentlich hätte ich kochen sollen, ihm an die Gurgel gehen, aber ich blieb erstaunlicherweise ruhig. „Nein, aber ich würde mich gerne mit dir duellieren, Kaiba“, entgegnete ich mit fester Stimme. Meine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht: Kaiba schmunzelte und faltete die Zeitung. „Hat dich dein Freund dazu angestiftet, Kleiner?“, erkundigte er sich und stand auf.
 

„Nein, hat er nicht. Außerdem benötige ich noch Training für unser Partnerduell.“ Der CEO seufzte gespielt und bedeutete uns, ihm zu folgen. „Kleiner, du hast Glück, dass ich gerade große Langeweile verspüre, und das nächste Meeting erst gegen Abend stattfinden wird“, erläuterte Kaiba uns seinen Terminplan. Seine Euphorie konnte er trotz einer nahezu perfekten Mimik nicht gänzlich verbergen. Er liebte Duelle, das hatte ich mir mittlerweile zusammengereimt.
 

Wir folgten ihm in einen großen Raum, der mit grauen Metallplatten ausgelegt war. Auf einem schmucklosen, einfachen Holztisch lagen mehrere Duel Disks und einige Metallkoffer. „Einen bestimmten Wunsch, wie unser Kampffeld aussehen soll, Kleiner?“, fragte Kaiba, und warf mir dabei eine der Disks zu. „Etwas Ägyptisches, vielleicht ein altes Grab oder eine Pyramide“, antwortete ich, und schnallte mir die Duel Disk um den linken Arm. Der CEO klatschte in die Hände, und unsere Umgebung veränderte sich in Sekundenbruchteilen.
 

Wir standen alle in einer Art Grabkammer. Steinplatten, versehen mit Hieroglyphen zierten die Wände. Große Säulen stützten eine Decke ab, an denen jeweils Fackeln hingen, die den Raum in ein angenehmes Licht tauchten. Kaiba zog sein Deck aus den Unweiten seines Mantelinneren, und schob es in den dafür vorgesehenen Schlitz. Als ich das Gleiche tun wollte, ergriff Yugi mein Handgelenk. Er hielt mir eine Karte entgegen und lächelte. „Der Buster Blader. Denk an uns, wenn du ihn benutzt“, flüsterte er leise. Damit ließ mich mein Freund auch schon wieder los und kehrte zu Tea und Tristan zurück. Ich drehte die Karte um und lächelte: Sie hatten alle unterschrieben. Sogar Bakura und Duke. Wollte Yugi ihn mir schon länger geben?
 

„Was ist jetzt?“, blaffte Kaiba und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich schob mein Deck in den Schlitz und atmete tief durch. „Duell!“, riefen wir zeitgleich und damit begann der Kampf. Ich zog fünf Karten und begutachtete mein Blatt. Ruhig legte ich Zanki, verdeckt im Verteidigungsmodus, auf das Feld, und versah ihn noch mit zwei Fallenkarten: Der Bannkreis und Schwerkraftbindung würden zumindest am den Anfang für dessen Sicherheit garantieren.
 

Kaiba legte eine Karte verdeckt aufs Feld, und spielte den Vollstrecker im Angriffsmodus. Dieser schwang seine Keulen und stürmte auf meinen verdeckten Zanki zu. „Du bist in meine Falle getappt, Kaiba“, lächelte ich, und drückte auf meine Duel Disk. Mein Bannkreis wurde aufgedeckt. „Oder du, Kleiner. Du hast meine Fallenkarte, Königlicher Erlass aktiviert. Alle Fallenkarten, sowohl deine, als auch meine, sind damit nutzlos. Jetzt, Vollstrecker, zermalme sein lächerliches Monster!“
 

Zanki ging mit einem wilden Schrei unter, als ihn Kaibas Monster zerschmetterte. Sein Gesicht war wieder mit diesem süffisanten Grinsen gespickt. Ich zog drei neue Karten und lächelte schief. „Du bist dir zu siegessicher, mein Freund“, entgegnete ich, und ließ Garoozis aus den virtuellen Untiefen erscheinen. Dazu legte ich noch die Zauberkarte „Salamandra“ aufs Feld. Die Axt in Garoozis Händen wurde von einem hellen Feuerschein umgeben, was das Monster dazu veranlasste, lautstark zu brüllen. „Garoozis, vernichte den Vollstrecker“, befahl ich dem Monster. Mit einem gezielten Hieb der feurigen Axt, wurde das gegnerische Monster in zwei Teile gespalten, und zersprang anschließend in tausend Teile.
 

Kaiba machte einen abfälligen Laut. Meine Freunde jubelten im Hintergrund. „Genau so! Damit hat Kaiba sicher nicht gerechnet!“, rief Tea und schenkte mir ein breites Lächeln. „Freue dich nicht zu früh“, führte Kaiba knapp aus, und zog seine Karten nach. Ohne eine Miene zu verziehen, beschwor er eines seiner Drachenmonster. Der Hyozanryu schälte sich aus dem Nichts heraus und entfaltete seine kristallinen Flügel dabei. Das Horn an der Schnauzenspitze glitzerte. Ein wunderschönes, wie auch furchteinflößendes Monster. Grelle Lichter blendeten mich kurz, bevor Garoozis mit einem Sterbensschrei in die nächste Dimension überging. „Der Glanzpalast erhöht die Angriffspunkte meines Monsters um ganze 700 Punkte. Dein mickriger Garoozis konnte dagegen wohl nicht bestehen“, stichelte Kaiba und verschränkte seine Arme vor der Brust.
 

Der Hyozanryu hatte 2.800 Angriffspunkte, eine mehr als nur stattliche Zahl. Außerdem blockierte Kaiba sämtliche meiner Fallenkarten. Entweder musste ich den Königlichen Erlass loswerden, oder ein sehr starkes Monster aus dem Hut zaubern. Damals war ich noch nervös gewesen. Ich hatte mir fast in die Hosen gemacht. Jetzt griff ich routiniert nach der nächsten Karte. Meine Bitten waren nicht erhört worden. Ich hatte die Panzerechse gezogen. Innerlich seufzend spielte ich das Monster verdeckt im Verteidigungsmodus.
 

Prompt hatte der Hyozanryu auch dieses Monster ins digitale Nirwana geschickt. „Na Kleiner? Was machst du, wenn ich noch ein Monster aufs Feld schicke, hm?“, grinste Kaiba siegessicher. „Dann sind wir verloren“, sagte ich zu mir selbst. „Du darfst nicht immer gleich aufgeben, David. Es ist noch gar nichts entschieden“, wies mich Mahad sanft zurecht. Der hatte gut reden. Für ihn ging es um nichts. „Doch, tut es. Wir sind eins, und ich fühle genauso wie du, David. Du bist ich, und ich bin du. Vergiss das nicht“, ertönte Mahads sanfte Stimme, während ich nach meiner nächsten Karte griff.
 

Ich begutachtete die Karte und mein Blatt, nur um dann zu lächeln. „Wie ich sagte“, hauchte Mahad, während wir gemeinsam unsere Karten auf die Duel Disk legten. „Ich spiele den Schwarzen Rotaugendrachen im Angriffsmodus.“ Aus dem Nichts trat mein geliebtes Rotauge hervor. Die Grabstätte bebte, als seine Klauen sich in den Steinboden gruben. Mit einem lauten Brüllen reckte das Monster den Schädel gen Decke, und spreizte seine Flügel aus. Neben ihm erschien der Beauftragte der Dämonen, welcher grimmig neben seinem Partner Posten bezog.
 

„Kleiner, weder Wheelers lächerlicher Drache, noch dein Skelettmonster können es mit meinem Hyozanryu aufnehmen“, begann Kaiba und grinste noch breiter. Als ich die Fusionskarte zwischen die zwei Monster legte, und sie langsam eins wurden, verblasste der süffisante Gesichtsausdruck des CEOs schlagartig. Mein Schwarzer Totenkopfdrache brüllte ohrenbetäubend, und löschte den Hyozanryu mit einem Feuerball mühelos aus.
 

„Yes! Endlich!“, rief Tristan und reckte die Fäuste jubelnd in die Höhe. Tea stimmte ein, und Yugi nickte mir lächelnd zu. Ich hatte es geschafft. Dieses Monster war stärker als Kaibas Weiße Drachen. Er konnte keine Fallenkarte benutzen, weil sein Königlicher Erlass alle Fallenkarten blockierte, sogar seine eigenen. Selbst wenn er den Erlass aufhob, so würden meine Fallen auch wieder zuschlagen können. Wenn ich noch die Drachenklauen zog, war mein Drache unaufhaltbar. „Unser Drache“, lächelte ich und dachte an Joey. Wenn ich Kaiba erst eingestampft hatte, würde ich ihn schon irgendwie zwingen, dass er meinen Freund in Ruhe lassen würde.
 

Die nächsten Runden waren davon geprägt, dass ich Kaibas Verteidigung, bestehend aus dem Meteordrachen, Mystischer Jinn der Lampe, den Kampfochsen und den mystischen Reiter aus dem Weg räumte. Außerdem, gesellte sich mein Schwarzer Magier nun zum Schwarzen Totenkopfdrachen. In seiner roten Rüstung schwebte meine zweite Lieblingskarte neben dem Herzstück meines Decks und wartete darauf, Kaiba den Todesstoß versetzen zu dürfen. Alle meine anderen Karten waren entweder zu schwach gewesen, oder Zauberkarten, die Kaibas duale Verteidigung nicht durchbrechen konnten.
 

„Jetzt hat er Kaiba! David wird gewinnen!“, jubelte Tea, und fiel Tristan um den Hals, welcher mit ihr auf und absprang. Sie hatten Recht. Ich würde tatsächlich Seto Kaiba besiegen. Für Joey. Lächelnd drehte ich mich um und konnte in das Gesicht eines Kaibas blicken, der unheilvoll grinste. „Kleiner, jetzt ist deine Vorstellung vorbei. Du warst nicht schlecht, aber auch nicht unfehlbar. Niemand kann mich, Seto Kaiba, besiegen. Niemand, außer vielleicht Yugi Muto.“
 

„Ich spiele zuerst Topf der Gier, und ziehe so zwei weitere Karten“, begann Kaiba, und führte seine Strategie genüsslich aus. „Dann rufe ich den Meister der Drachen aufs Feld, und lasse ihn, mittels zweier Drachenflöten zwei meiner Weißen Drachen beschwören.“ Gesagt getan. Der Meister der Drachen spielte beide Male die Flöte, und neben ihm erschienen zwei Weiße Drachen mit Eiskaltem Blick, welche ihn flankierten. Bedrohlich reckten sie mir die Mäuler entgegen. „Nun rufe ich meinen dritten Weißen Drachen von meiner Hand. Komm hervor, meine geliebte Bestie!“, rief Kaiba aus, und auch ein drittes Monster erschien. „Nun fusioniere ich meine Bestien zum ultimativen Monster!“ Die Fusionskarte ließ alle drei Weißen Drachen verschmelzen, und den Blauäugigen Ultradrachen erscheinen.
 

Alle drei Köpfe starrten auf mich und meine Monster herab. In den Nüstern des Wesens zuckten gelegentlich Blitze. Er war genauso imposant, wie in der VR, und in der Vergangenheit. War dieses Ding wirklich stärker als mein Totenkopfdrache? Mit einem lauten Schrei verging mein Monster in dem Lichtstrahl der drei Drachenköpfe und beantwortete meine Frage damit. Mir rutschte das Herz in die Hose.
 

„Nichts in deinem Deck kann mich aufhalten, David. Sieh der geballten Macht des Ultradrachens ins Auge und vergehe daran“, lachte Kaiba höhnisch. Verzweifelt griff ich nach der nächsten Karte. Seinen Meister der Drachen auszulöschen, brachte seine Lebenspunkte nicht auf null, und selbst mit den Drachenklauen wäre laut der Anzeige, die ich nun las, auch mein Totenkopfdrache nicht in der Lage gewesen, dieser Bestie Einhalt zu gebieten.
 

„Ich spiele die Zauberhüte, und verschaffe mir so etwas Zeit“, murmelte ich, und ließ die magischen Hüte erscheinen. Einer bedeckte meinen Magier, und vervierfachte sich dann. Was sollte ich tun? Kaiba lachte erneut nur höhnisch, während ich den Blick zu meinen Freunden mied. Ich würde sie enttäuschen. Ganz sicher.
 

Die nächsten zwei Runden waren von Zittern und Hoffen geprägt. Kaiba traf zweimal einen leeren Hut. Er genoss dieses Spiel sichtlich. Ich verstand ihn auch. Was sollte ich überhaupt gegen dieses Monster ausrichten? „Vertrau auf deine Karten, David. Höre auf dein Herz“, rief Yugi hinter mir. Das war damals möglich gewesen, ja, bei einem Weißen Drachen, aber nicht bei dem Monster. Dieses Ding hatte 4500 Angriffspunkte. „Gib nicht auf. Wir sollten wirklich auf unsere Freunde vertrauen“, sagte Mahad zu mir. Bedrückt drehte ich mich um. Sie würden sicher beschämt wegschauen. Meinen Blick meiden.
 

Ich wurde eines Besseren belehrt. Tristan, Tea und Yugi hatten sich an den Händen genommen. Sie nickten mir lächelnd zu. Sie glaubten an mich! Wirklich? Sie glaubten an mich, selbst in dieser ausweglosen Situation? Warum? Waren wir wirklich so gute Freunde? „Das sind wir“, korrigierte mich Mahad. Ich atmete tief durch, und griff nach der nächsten Karte, der letzten, spielentscheidenden Karte. Ich starrte auf das fremdartige Bild.
 

„Der Buster Blader“, murmelte ich, und Kaibas Lachen erstarb. „Das ist es! Los, David, vertraue deinem Herz! Du weißt, was zu tun ist!“, rief mir Yugi zu. Ein Blick auf meine Hand genügte mir. Selbst, wenn ich den Dunklen Paladin rief, er war noch immer zu schwach. Sollte ich es wirklich tun? Was hatte ich schon zu verlieren?
 

„Ich lasse meinen Schwarzen Magier aus dem Schutz der Zauberhüte entsteigen“, sagte ich, und aus dem ganz linken Hut sprang mein Monster. „Dann spiele ich den Buster Blader im Angriffsmodus, und fusioniere die Karte meiner Freunde mit meiner eigenen.“ Vor unseren Augen verschmolzen beide Monster zu einer Einheit. Der Stab wurde zu einer speerartigen Waffe, die Rüstung massiver, die Haut dunkler, und der Blick meines Monsters stechend. Furchtlos starrte der Dunkle Paladin dem riesigen Ultradrachen entgegen. Ein Laut ertönte, und ich starrte auf die Angriffspunkte meines Monsters. Da musste ein Fehler vorliegen. Ungläubig klopfte ich gegen das Display. Da standen 4900 Angriffspunkte. Das waren 2000 mehr, als er eigentlich haben sollte.
 

„Buster Blader bekommt für jedes Drachenmonster am Feld und am Friedhof 500 Punkte. Der Dunkle Paladin hat diese Fähigkeit bei der Fusion übernommen!“, rief mir Yugi zu. Mein Totenkopfdrache war am Friedhof, genauso wie Kaibas zwei Drachen. Der Ultradrache zählte auch als Drachenmonster. Ich hatte es wirklich geschafft. Meine Freunde hatten mich zum Sieg geführt. Ich musste nur noch angreifen.
 

„Dunkler Paladin! Los, vernichte den Blauäugigen Ultradrachen“, befahl ich meinem Monster. Dieses wirbelte mit der Waffe kunstvoll herum, ehe es in die Luft sprang, und von oben herab durch den Drachen schnitt. Dieser zerfiel zuerst in zwei Hälften, nur um am Ende in tausend Teile zu zerspringen. Kaiba starrte ungläubig auf mein Monster. Die Grabkammer um uns verschwand, und er starrte zur Eingangstür. Joey stand da, und beobachtete uns.

Erster Kontakt

„Wheeler, du störst, merkst du das nicht?“, blaffte Kaiba meinen Freund an. Dieser starrte uns nur ausdruckslos an. Wir alle, mit Ausnahme des CEO, hielten unsere Luft an. Was würde Joey jetzt machen? Wie würde er reagieren? Zäh zog sich jede weitere Sekunde dahin, die wir schweigend auf eine Reaktion warteten.
 

Joeys glockenhelles Lachen durchbrach die Stille. Er grinste über beide Ohren. „Da ist dein Drache flöten gegangen, Kaiba. Wie fühlt es sich an, wenn einem das stärkste Monster vor den Augen wegstirbt? Wie mein Rotauge damals?“ Kaiba verzog keine Miene auf Joeys Sticheleien hin: „Eine Lösung, Wheeler, der man mit Monsterreanimation und der Schild- und Schwertkarte zweifelsohne bekommen hätte können. Im Gegensatz zu dir, beherrsche ich dieses Spiel auch.“ Damit nahm Kaiba die Duel Disk vom Arm, und bedeutete mir, es ihm gleichzutun.
 

„Kleiner, entgegen der Admiration deines Freundes, und deines Fanclubs, war ich von dem Duell positiv überrascht. Für mich war es natürlich keine Herausforderung, aber mit etwas Training solltest du mir gegen Pegasus zumindest nicht zur Last fallen.“ Kaiba verstaute unsere Duel Disks, und zog dann die Metallkoffer unter dem Tisch hervor. Nach dem Aufschnappen wurde mir beinahe schwindelig. Ich hatte noch nie so viele Duel Monsters Karten auf einem Haufen gesehen. „Bediene dich, und bau dein Deck.“ Der CEO nickte mir zu, und ließ uns dann mit seinen Kostbarkeiten alleine.
 

Sekunden später fiel mir Joey um den Hals. Ich wurde mit einem Kuss auf die Wange belohnt, bevor er sich den Koffer genauer ansah. Seine leuchtenden Augen wurden von Tristan ergänzt, der sich mit ihm prügelte, um Einblick in das Sammelsurium zu erhalten. Einzig Yugi und Tea gesellten sich zu mir, und schüttelten schmunzelnd die Köpfe über unsere Streithähne.
 

„Hast du schon eine Idee, welche Karten du dir aussuchen wirst? Mal abgesehen von einem Weißen Drachen, einer Götterkarte und einigen Limitierungen, wird Kaiba alles haben, was man sich nur wünschen kann“, lächelte Yugi und nickte nach vorne. Ich hatte wirklich die freie Auswahl. Joey und Tristan zogen nämlich eine Karte nach der anderen hervor, nur um noch größere Augen zu bekommen. Bestimmt drängte ich mich zwischen die beiden und schob sie beiseite. Ich durchsuchte Kartenpack für Kartenpack.
 

„Hey, du lässt ja die ganzen guten Karten liegen!“, maulte Joey, und sammelte ein, was mir eher nebensächlich erschien. „Wonach suchst du eigentlich?“, fragte mich Mahad, der nach unserem Duell wieder in sein eigenes Reich zurückgekehrt war. Achtlos schob ich mächtige Monsterkarten beiseite, genauso wie Fallen- und Zauberkarten. Ich wollte etwas ganz Bestimmtes.
 

Nach einer Weile des Suchens wurde ich fündig. Sorgsam legte ich fünf Karten aus dem Pack beiseite und bildete einen Stapel. Neugierig umschwärmten mich meine Freunde. „Ist das dein Ernst? Weißt du, wie hoch die Chancen sind, dass du alle fünf ins Spiel bringst?“, seufzte Joey und schüttelte den Kopf. Er lenkte seine Aufmerksamkeit gemeinsam mit Tristan auf andere Dinge.
 

„Du fühlst dich mit der Karte verbunden, hm?“, fragte Yugi und griff nach den Karten, um sie aufzufächern. „Ja, das tue ich“, war meine Antwort, während ich nun auch energischer die Karten durchstöberte. Zuhause wären alle vor Neid erblasst. Es war unmöglich all diese Karten zu sammeln, und ich durfte daraus auswählen.
 

Ich zögerte kurz, bevor ich mich räusperte und Yugi lächelnd ansah: „Könntest nicht du mir, vielleicht…“, begann ich, was aber nur mit einem nickenden Lächeln quittiert wurde. Gemeinsam suchten Yugi und ich uns in Ruhe Karten aus, die wir jeweils mit denen aus meinem Deck abglichen und daraufhin wieder ausschlossen. Nach einer Weile war mein Deck fertig und ich lächelte stolz. Tatsächlich, es fühlte sich richtig an, diese Karten mit mir zu tragen. Es steckte Herzblut darin, genauso wie das Wissen, dass es meine Karten waren, die, gemeinsam mit Kaibas und Yugis Unterstützung, ein gutes Blatt bildeten.
 

„Damit ergänzt ihr euch sehr gut, und du kannst selbst auch zeigen, was du kannst“, meinte Yugi, und legte seine Hände auf die meinen. Er bog meine Finger sanft auf die Karten und nickte. „Wir haben die Karten ausgesucht, unser Herz steckt darin. Damit kannst du gar nicht verlieren.“ Ich lächelte. Es war irgendwie beruhigend, diese Worte zu hören, auch wenn sie nicht der Wahrheit entsprechen mochten.
 

„Na, hast du dich beruhigt?“, fragte ich Joey, und schob mein Deck vorsichtig in meine Hosentasche. Langsam räumten Yugi, Tea und ich die Karten wieder ein, während Joey und Tristan sich angeregt unterhielten. „Er scheint dich nicht wahrzunehmen“, kicherte Tea. „Duel Monsters ist ihm wohl wichtiger als sein Freu…“ Die Braunhaarige brach mitten im Satz ab. „Du kannst es ruhig beim Namen nennen, Tea“, warf Joey ein, und legte mir von hinten die Hände auf die Brust. „Auch wenn ich es an der Schule nicht an die große Glocke hängen möchte, hier können wir es aber tun“, grinste der Blondschopf und versenkte seine Nase in meinen Haaren.
 

„Dass du mal sowas wie Zärtlichkeit zeigen würdest“, stichelte Tea und räumte das letzte Kartenpack in einen der Koffer. „Was soll das heißen?“, fauchte Joey gespielt wütend. Wir alle lachten herzhaft und verbrachten den restlichen Tag im Swimming-Pool der Kaiba Villa. Mokuba leistete uns später auch noch Gesellschaft. Nach dem Abendessen lernten wir noch ein wenig, bevor wir uns in unsere Zimmer zurückzogen.
 

Ich gähnte ausgiebig und warf meine Sachen aufs Bett. Mir fiel es schwer, die Augen offenzuhalten. Es war wirklich ein langer Tag gewesen, mit Höhen und Tiefen. „Du bist müde, Champ, hm?“, schmunzelte Joey und legte mir die Arme um den Bauch. Zärtlich strichen seine Lippen über meinen Nacken und hinterließen eine Gänsehaut. „Mhm“, brummte ich, und genoss das Gefühl der Zweisamkeit.
 

„Du wirkst wie jemand ganz anderer, wenn du dich duellierst“, hauchte Joey in mein Ohr und wanderte mit seinen Händen langsam nach oben, um meine Brust zu streicheln. „Du warst so ernst, so überzeugt, so selbstsicher.“ Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und sah zu ihm auf: „Ich will es dir gar nicht erklären – ich habe es einfach aus Liebe getan. Für dich.“ Der Blondschopf beugte sich zu mir herab und legte seine Lippen auf die meinen. Ich bettete meine Hände auf seinen und lehnte mich in den Kuss hinein.
 

„Ich liebe dich“, flüsterte Joey, als er sich von mir löste. „Genauso wie meine Schwester. Du und Serenity, ihr seid das Wichtigste für mich auf dieser Welt.“ Ich errötete leicht. Natürlich war es wunderschön solche Worte zu hören, dennoch, es war ungewohnt. Außerdem, Serenity musste ich auch noch kontaktieren. Wie sie wohl reagieren würde?
 

„Joey? Ich weiß, es ist sehr, sehr kurzfristig, aber…“, begann ich, und biss mir verlegen auf die Lippen. Ein leises „Hm?“, gepaart mit einem weichen Blick, ließ mich beinahe dahinschmelzen. „Könntest du in die Küche runtergehen, und fragen, ob sie Heidelbeermuffins haben?“ Joey starrte mich einige Momente lang entgeistert an, bevor er lächelte und nickte. „Mal sehen, ob der Koch so gnädig ist“, meinte er und huschte aus dem Zimmer.
 

„Du weißt, dass er jetzt den Koch bedrängen wird?“, hörte ich Mahad schmunzeln. Zugegeben, es war nicht meine beste Idee, aber ich wollte das noch hinter mich bringen. Eilig griff ich nach meinem Smartphone und durchsuchte die Kontaktliste. „Serenity“, hatte ich eingespeichert. Sollte ich da wirklich anrufen? Wie spät war es in Amerika überhaupt? Wie würde sie reagieren? Andererseits, ich wollte Joey eine Freude machen – zumal sie als Schwester meines Freundes durchaus ein Anrecht darauf hatte, mich kennenzulernen.
 

Mit klopfendem Herzen drückte ich auf Anrufen. Es klingelte. War sie überhaupt zuhause? Was, wenn sie in der Schule war? Hatte sie vielleicht die Nummer geändert? Sekunden später nahm jemand das Gespräch an. „Hallo? Wer ist da?“, erkundigte sich eine weibliche Stimme auf Englisch mit einem typisch amerikanischen Akzent. Das musste sie also sein. Serenity Wheeler. Joeys kleine Schwester. „Hallooo? Wenn das ein Scherz sein soll, ich finde das nicht lustig“, meldete sich die Stimme erneut.
 

Ich räusperte mich rasch: „Ähm, ja, hallo. B-Bist du Serenity Wheeler?“ Kurze Zeit herrschte Stille, und ich fürchtete schon, sie hätte aufgelegt, als sich die Stimme erneut regte: „Ja, bin ich. Wer will das überhaupt wissen?“ Sie klang nicht unfreundlich, aber durchaus bestimmend. „Ähm, ja, das, also…“ begann ich. Was sollte ich überhaupt sagen? Wer war ich? Joeys Freund? Liebhaber? Partner? Ich biss mir auf die Lippen und holte tief Luft. Zeit, ins kalte Wasser zu springen.
 

„Ähm, hallo Serenity. Ich bin David. Ich weiß nicht, ob du schon von mir gehört hast, aber…“ Mein Satz wurde von einem lauten Kreischen unterbrochen. Ich hielt das Smartphone vorsichtshalber einige Zentimeter von meinem Ohr weg. „Du bist David? Der David? Joeys Freund?“, konnte man überdeutlich aus dem Handy heraus hören. „Der bin ich?“ Ich war wirklich ein wenig überrascht. Ich hatte eher mit einer nüchterneren Reaktion gerechnet. „Endlich! Joey hat schon so viel von dir erzählt, aber meinen Vorschlag, über Skype oder Discord einmal mit dir zu sprechen, immer abgeblockt!“ So, das hatte er?
 

„Ja, also, Serenity, ich rufe eigentlich nicht wegen eines Kennenlernens unsererseits an, sondern eher, weil ich etwas von dir brauche, oder besser gesagt, dich, brauche.“ Ich rollte mit den Augen. Heute hatte ich es aber auch mit den dämlichen Formulierungen. „Klar, schieß los“, antwortete mir Joeys Schwester aufgeregt. „Gut, ich möchte Joey nämlich zu Weihnachten ein besonderes Geschenk machen. Denkst du, du könntest in den Weihnachtsferien nach Japan kommen? Für den Flug, sowie Unterkunft ist gesorgt.“
 

Ein lautes „Was?“, bewog mich dazu, das Handy wieder von mir weg zu halten. Sie hatte jedenfalls ein lautes Organ und war aufgedreht. „Natürlich!“, fuhr sie in der gleichen Tonlage fort. „Ähm, gut, ich werde dann dieser Tage die Reise organisieren. Versprichst du mir, dass du Joey nichts erzählst?“ Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sie am anderen Ende eifrig nickte. „Klar, versprochen. Ich freue mich schon!“ Das war mir spätestens nach ihrem zweiten Anfall bewusst gewesen.
 

„Ich melde mich dann dieser Tage noch einmal bei dir, ja?“ Wir verabschiedeten uns keine Sekunde zu früh. Joey öffnete die Tür und hatte tatsächlich Heidelbeermuffins auf den Armen. Damit konnte man eher eine fünfköpfige Familie beglücken. Hastig legte ich auf und schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Zwei oder drei hätten gereicht, du Depp“, lachte ich. „Wer war das?“, wollte Joey wissen, und stellte mir einige der Backwaren auf den Nachttisch. „Niemand Wichtiges, Joey“, log ich und biss herzhaft in den ersten Muffin. Er war köstlich, noch warm und schmeckte herrlich nach Heidelbeeren.
 

„Ich bin versucht nachzubohren, lasse es aber“, seufzte mein Freund und schnappte sich auch einen Muffin. Wir verspeisten noch den ganzen Bestand, ehe wir uns ins Bett legten. Ich kuschelte mich eng an Joey und schlief mit einem Lächeln ein. Meine Überraschung würde also glücken.

Der erste Schultag danach

Wir wurden pünktlich durch das schrille Piepen meines Handys wach. Verschlafen rieb ich mir die Augen und linste zu Joey hinüber, der sich noch einmal herumdrehte. Ich lächelte verstohlen und beugte mich über ihn. Zärtlich strich ich ihm mit den Lippen über die Wange, nur um sein Ohr zu küssen. „Guten Morgen, Schatz – Schule ist angesagt.“ Mein Freund brummelte nur etwas von „Lass mich in Ruhe“. Ich grinste breit und schob meine Hände unter die Decke, um sie auf seine Brust zu legen.

„Schatz, wir sollten vielleicht nicht zu spät kommen. Du zumindest nicht“, neckte ich Joey. Dieser stöhnte genervt und seufzte dann: „Du bist echt schlimmer als Tea, wenn sie mich aus dem Bett klingelt.“
 

Nach einem kurzen Aufenthalt im Bad zogen wir uns an, schnappten unsere Sachen, und begaben uns nach unten, zum Frühstück. Mokuba und die anderen trudelten nach und nach ein, während ich mir meinen Vollkorntoast mit Butter beschmierte. „Wo hast du deinen Bruder gelassen, Mokuba?“, erkundigte ich mich und biss von meinem Frühstück ab. „Seto hat heute etwas in der Firma zu erledigen. Er wird also nicht mitkommen.“
 

Joey murmelte etwas von: „Ist eh besser so“, und klaute mir meinen zweiten Toast vor der Nase weg. Ich rollte mit den Augen und schmierte mir das nächste Gebäck: „Hat er etwas zu dir gesagt, Mokuba?“ Der kleien Wirbelwind schüttelte den Kopf und kippte sich seine Tasse Kakao hinunter. „Nein, aber das ist normal. Seto hat viel um die Ohren.“ Wenn Mokuba das sagte. Er musste es schließlich wissen. Außerdem war Kaiba alt genug, und ich nur indirekt auf ihn angewiesen. Mit seinem kleinen Bruder hatte ich durchaus einen starken Verbündeten auf meiner Seite.
 

Wir wurden alle fein in die Schule kutschiert. Eine Limousine brachte uns direkt vor das Schultor. Ich schluckte schwer und atmete tief durch. Was wussten die anderen? Würden sie Fragen stellen? Ich stieg als Letzter aus und bedankte mich noch beim Fahrer, ehe wir ins Gebäude gingen. Der Schulhof war belebt wie immer. Man nahm von uns auch keine Notiz. Beruhigend.
 

Kaiba hatte tatsächlich sein Wort gehalten: Unser Klassenvorstand teilte uns mit, dass Mei für längere Zeit dem Unterricht fernbleiben würde. Ihre Eltern hätten beruflich im Ausland zu tun, und sowohl sie, als auch ihre Schwester seien dabei miteinbezogen worden. Ich konnte Joey erleichtert neben mir ausatmen hören. Eine Sorge weniger.
 

Der Englischunterricht war heute ausgefallen. Frau Fujisas Schwester heiratete, und so hatte man sie freigestellt. Wir bekamen als Aufgabe, einen Text unserer Wahl auf Englisch zu verfassen, der nächste Woche abzugeben war. Ich entschied mich für eine Kurzgeschichte über Ares, den Kriegsgott Griechenlands, und dessen Liaison mit Aphrodite.
 

„Was schreibst du da?“, fragte Joey, und riss mir den Zettel aus der Hand. „Du hättest auch fragen können“, murrte ich und linste zu meinem Sitznachbarn hinüber. Ein Lächeln stahl sich auf meine Züge. Er hatte tatsächlich etwas über den Flammenschwertkämpfer geschrieben. Ein Abenteuer, soweit ich durch das Überfliegen herauslesen konnte. Es ging wohl um den Glauben an sich selbst, und daran, dass man niemals aufgeben durfte.
 

„Viel zu kompliziert. Wer sind überhaupt diese Gestalten? Aphrodite, Ares, Persephone, Adonis?“, wollte Joey wissen, und warf das Blatt auf den Tisch zurück. „Das, Joey, sind Gottheiten und Persönlichkeiten des antiken Griechenlands“, erklärte Yugi, der hinter uns saß. Joey drehte sich im Stuhl um, und bettete sein Kinn auf die Lehne: „Also, wenn die wirklich so drauf war, dann war sie ein ziemliches Miststück.“
 

Yugi und ich lachten zeitgleich und schüttelten den Kopf. „Joey, du misst das an den heutigen Werten. Monogamie war damals total fremd. Der Göttervater selbst, Zeus, hatte unzählige Liebschaften“, erklärte Yugi. Joey bließ seine Wangen auf: „Ist das für dich normal?“ Der König der Spiele schüttelte den Kopf: „Nein, aber Joey, schau. Das war eine andere Zeit, mit anderen Regeln. Aphrodite hat schließlich auch sehr teuer für ihr Fremdgehen bezahlt.“
 

Ich war wirklich erstaunt. Yugi kannte sich in Geschichte exzellent aus. Sein Wissen überstieg meines bei Weitem. Ich interessierte mich auch weniger für Fakten und Zahlen, und auch nicht die jüngere Geschichte, sondern mehr für Mythen und Sagen. Er war aber auch in diesen Gebieten top. „Indem Ares ihren Liebhaber gekillt hat?“ Joey schüttelte den Kopf: „Ein wenig krass, hm?“
 

„Naja, schau einmal. Was würdest du mit dem Liebhaber von Da…“, begann Yugi, biss sich aber sogleich auf die Lippen und zog das Wort, unter Joeys strengem Blick, in die Länge: „Daainer Freundin machen, wenn du ein eifersüchtiger Gott wärst?“ Gut gerettet, das musste ich ihm lassen. „Jedenfalls nicht umbringen“, konterte Joey.
 

„Dir entzieht sich der Sinn der Sage ein wenig, Joey. Aphrodite hat sich nicht an die Regeln gehalten. Selbst Götter waren Regeln unterworfen, zumindest untereinander. Sie und Persephone hatten die Vereinbarung, Adonis frei den dritten Teil seiner Zeit bestimmen zu lassen. Aphrodite hat mit dem Gürtel gemogelt. Darum hat Persephone sie an Ares verraten.“ Yugis ruhige und erklärende Art machte ihn zu einem exzellenten Nachhilfelehrer
 

Joeys Nasenflügel bebten ein wenig: „Dann war diese Persephone aber auch sauber dämlich. Dadurch hat sie diesen Adonis ja auch verloren.“ Ich schüttelte den Kopf: „Nein, denn Persephone war die Königin der Unterwelt. Folglich blieb Adonis auf ewig bei ihr.“ Mein Freund zeigte sowohl mir, als auch Yugi, den Vogel und wandte sich wieder seinem eigenen Text zu.

„Den Romantiker streichen wir also einmal“, sagte Tea nüchtern, die sich neben Yugi setzte. Wir beide grinsten, und machten uns wieder an die eigene Arbeit. Ich war zwanzig Minuten vor Stundenschluss bereits fertig, also beschloss ich, Joey ein wenig unter die Arme zu greifen.
 

„Ich würde das hier umformulieren“, sagte ich, und deutete auf einen Satz, der, wenn ich seine Intention richtig deutete, so viel bedeutete wie „Nichts kann vor meiner Flamme bestehen“. Joey schrägte den Kopf und schob das Ende seines Stiftes in die Mundwinkel: „Wie denn?“ Ich schrägte den Kopf und überlegte kurz. „Nothing can stand before the burning flame of my heart.“ Joey schrieb den Satz so hin und tippte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. „Und da?“, fragte er und deutete auf den nächsten Satz.
 

„I will not tremble before you. Your evil will be undone, Master of Dragons. Nothing can stop me, not even your mightiest dragons”. Joey nickte und lächelte. “Wie sage ich denn, dass ich daran glaube, dass es Schicksal ist?” Ich konnte aus den Augenwinkeln heraus beobachten, wie Yugi und Tea uns lächelnd beobachteten. „I believe in destiny. It was foretold, that this will happen.” Joey kritzelte auch diesen Satz hastig hin.
 

“Ihr zwei ergänzt euch erstaunlich gut”, lächelte Tea. Gerade, als ich etwas erwidern wollte, ging die Tür auf, und die Schulsprecherin, Hiko Mahasaki, betrat die Klasse. Sie räusperte sich dezent: „Ich wollte Euch nur darauf aufmerksam machen, dass wir einen Sponsor für den diesjährigen Weihnachtsball aufgetrieben haben, der so großzügig war, uns eine komplette Location samt Band und Verpflegung zur Verfügung zu stellen. Er hat eine einzige Bedingung gestellt: Es wird ein Mottoball werden.“ Ein Raunen ging durch die Klasse, gefolgt von leisem Flüstern. „Das Motto lautet: Duel Monsters. Seht es als Chance auf einen gemütlichen und genialen Abend an.“ Hiko verbeugte sich und verschwand wieder aus dem Klassenzimmer.
 

Ratlose Gesichter starrten sich gegenseitig an. „Das war sicher Kaiba“, schnaubte Joey. Ich zog die Brauen in die Höhe: „Warum?“ Joeys Antwort ging im Läuten der Glocke unter. Irgendwie hatte er seinen Groll gegenüber Kaiba noch immer nicht ablegen können. Ich hatte gehofft, seit dem Duell gestern, bei dem er so euphorisch gewirkt hatte, wäre seine miese Laune ein wenig verflogen. Den restlichen Tag vermieden wir alle es tunlichst, Kaiba in Joeys Gegenwart zu erwähnen. Vor dem Schultor verabschiedeten wir uns, und ich war ehrlich gesagt froh, endlich wieder einmal in den eigenen vier Wänden sein zu dürfen.

Streit unter Freunden

Die nächsten Tage bis zum Wochenende waren davon geprägt, dass ich einen geregelten Alltag mit Schule, Sport, und Freizeit mit meinen Freunden verbringen durfte. Es war total unbeschwert, mit den Jungs und Tea abzuhängen. Joey war auch wieder lockerer drauf, als bei meinem Text über Aphrodite. Vielleicht hatte ihm auch die gute Note in Englisch, auf seine Arbeit, ein wenig Auftrieb verschafft. In der Arcadehalle, wo Yugi, Tristan, er und ich uns trafen, war er jedenfalls immer wieder drauf und dran, zu betonen, wie gut Frau Fujisa der Text gefallen hatte.
 

„Vor allem meine bildhafte Sprache hat sie gelobt“, erklärte Joey zum gefühlt 100ten Mal, kombiniert mit einem breiten Grinsen. Ich freute mich für ihn, vor allem ob seines Erfolgserlebnisses. Yugi schloss sich meiner Meinung an, einzig Tristan schien sich an Joeys Ausführungen zu spießen. Wütend klopfte er gegen den Automaten, bei dem er und ich uns gerade prügelten. „Ah Mann, Joey, im Ernst, wenn mir David den halben Text übersetzt hätte, wäre ich auch mit einer guten Note ausgestiegen“, schnaubte der Riese und haute in die Tasten. Joeys Grinsen erstarb augenblicklich.
 

„Was soll das heißen?“, fauchte Joey und warf seinem besten Freund einen bösen Blick zu. „Dass du nicht so drauf rumreiten musst, dass du in Englisch mal besser gewesen bist als wir“, entgegnete Tristan, ohne von unserem Spiel aufzusehen. „Jetzt noch die Zehn Hit Kombo, und…“, wähnte sich mein Gegner siegessicher, wurde aber von einem Konter, kombiniert mit einem Wurf, besiegt. „Tja, Tristan, niemand schlägt mich“, grinste ich breit.
 

„Haben sie dir gerade ins Hirn geschissen, oder was ist los, Tris? Ich meine, gönnst du mir meinen Erfolg nicht, oder was?“, fuhr Joey seinen Kumpel an. Sowohl Yugi, als auch ich, seufzten leise. Das würde wieder in einen sinnlosen Streit ausarten. „Joey, ich glaube nicht, dass…“, begann ich, wurde aber mit einer Geste seitens Joey zum Schweigen gebracht. Dieser stierte Tristan wütend an.
 

„Alter? Kriegst du eigentlich mit, dass du in letzter Zeit wegen jeder Kleinigkeit an die Decke gehst? Mir geht das tierisch auf die Nerven. Du hackst auf uns herum, nur um dann wieder himmelhochjauchzend einen auf alles in Butter zu machen.“ Tristan tippte sich an die Stirn. „Wir können echt nix dafür, dass du und Kaiba euch nicht vertragt.“ Ich sah Tristan schon mit Joeys Faust im Gesicht. Der Blondschopf ballte die rechte Hand zur Faust und atmete lautstark aus. Gleich würde er ihm eine kleben, ganz sicher.
 

„Hast du eine Ahnung, wie es ist, wenn man dauernd kleingehalten wird? Für deinen Dummkopf? Ich brauche keinen Beschützer, und auch niemanden, der mir meine Fehler aufzeigt. Es ist nicht so, dass ich es nicht versucht hätte, aber Kaiba ist einfach, einfach…“
 

„Kaiba ist genauso stur wie du, Joey. Euch könnte man die Freundschaft ins Gesicht klatschen, und ihr würdet es nicht checken. Er ist einfach zu eingebildet, du zu stolz, um einzusehen, dass eure Freunde euch eigentlich nur helfen wollen“, beendete Tristan Joeys Satz. Der Hüne verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. „Wir gönnen es dir echt. Dein Verhältnis zu Mokuba, dass du ein guter Duellant geworden bist, sogar jemanden an deiner Seite hast, aber für deine Unzufriedenheit können wir echt nichts. Wenn du Kaiba nicht die Stirn bieten kannst, lass es einfach. Erspart uns allen eine Menge Ärger. Vor allem David, der dauernd zwischen den Stühlen sitzt.“
 

Ich biss mir auf die Lippen. Das war so ein klassischer Konflikt, den ich vermeiden wollte. Einerseits hatte Tristan Recht; Kaiba war manchmal so ekelig, dass mir das Essen vom Vortag hochkommen wollte, andererseits war er mir gegenüber aber auch einigermaßen nett. Viel mehr hing ich aber an Mokuba, dem diese sinnlosen Streitereien sicherlich nicht behagten. Ich war außerdem Kaibas Angestellter und regelmäßiger Gast.
 

„David sitzt überhaupt nicht zwischen den Stühlen. Es gibt keine Stühle, zwischen denen er sitzen kann. Kaiba kann man nicht mögen. Er ist ein Snob und schaut auf jeden von uns herab. Yugi mal ausgenommen, weil er ihm ein paar Mal die Leviten gelesen hat“, brauste Joey auf und fuchtelte mit den Händen. Ich sah hilfesuchend zu Yugi, der genauso überfordert wirkte wie ich.
 

„Ach nein? Hast du David mal gefragt, wie es ihm geht, wenn du dauernd auf dem Bruder seines Freundes rumhackst? Mokuba vergöttert ihn, falls das noch nicht in deinen Weichschädel hineingegangen sein sollte. Er ist eine seiner wichtigsten Bezugspersonen, genauso wie du. Reiß dich endlich mal am Riemen.“ Heute hatten wohl beide entweder schlecht gefrühstückt, oder es war ein Tag zum Streiten. Ich hielt es jedenfalls für klug, keine Partei zu beziehen. Wortlos stahl ich mich zu Yugi hinüber und beobachtete das Schauspiel.
 

„Mokuba weiß selbst, dass Kaiba ein Arsch ist. Außerdem schleimt er sich nur ein, weil er Schiss hat, dass es mehr Duellanten wie Yugi geben könnte. Einer davon ist zufälligerweise mein Freund. Er hat ihn einmal fast geschlagen, was schon an Kaibas Ehre kratzen muss. Deshalb überhäuft er ihn mit Geschenken und irgendwelchem anderen Schrott, und setzt Mokuba auf ihn an, damit er ja schön still hält.“ Joeys Augen funkelten vor Zorn und seine Stimme bebte.

„Sag mal, merkst du, was für Müll du da von dir gibst? Kaiba setzt Mokuba auf David an? Warum macht er das dann nicht auch bei Yugi? Ich glaube, ich weiß, was dir stinkt. Erstens, dass Kaiba den Ball organisiert, und zweitens, dass David es schneller geschafft hat, als du, sich mit ihm zusammenzuraufen. Du bist eifersüchtig.“ Tristan tat es Joey gleich, während ich im Boden versinken wollte. Zum Glück war die Spielhalle leer, unsere Zuschauer hielten sich also in Grenzen.
 

„Ich pfeife auf eine Freundschaft mit Kaiba. Eifersüchtig bin ich auf ihn schon mal gar nicht, und ob er diesen Ball sponsert, oder nicht, ist mir vollkommen schnuppe. Das ist ja total lächerlich, ich und eifersüchtig“, maulte Joey, senkte den Blick dabei aber. Ein verräterisches Zeichen. Das begriffen wir wohl alle, denn schlagartig veränderte sich sowohl Tristans, als auch Yugis Miene. Letzter gab mir einen sachten Stoß mit dem Ellenbogen.
 

„Joey, du musst nicht eifersüchtig sein. Das ist total unbegründet, das weißt du auch. Kaiba und ich sind höchstens Freunde, wobei ich bezweifle, dass er dieses Wort überhaupt kennt. Ich bin gerne in seinem Haus, weil ich Mokuba mag, vielleicht sogar lieb habe. Er ist wie ein kleiner Bruder für mich. Das würdest du bei Serenity doch auch tun, oder?“, fragte ich mit sanfter und ruhiger Stimme. Ich bezweifelte zwar, dass es wirklich nur Eifersucht auf Kaiba war, die ihn so gereizt machte, aber es war zumindest ein Anfang.
 

Joey atmete tief durch und nickte dann. „Ich kann es einfach nicht mehr hören, Kaiba hier, Kaiba da. Mir brennen die Sicherungen einfach bei seinem Getue durch. Dann noch die Sache mit Mei. Es nagt einfach alles gerade an mir.“ Ich biss mir auf die Lippen. Wenn ich jetzt mit dem Vorschlag einer psychiatrischen Behandlung anfing, würde er komplett durchdrehen. Stattdessen ging ich auf Joey zu und umarmte ihn, sorgsam darauf bedacht, die Berührung freundschaftlich zu halten. „Schon okay, jeder hat mal einen schlechten Tag. Mach dir nichts draus.“
 

Tristan und Yugi stimmten in die Umarmung ein. So standen wir geraume Zeit da, bis Joey leise lachte. „Leute, was denken die Anderen von uns?“ Ich grinste schief und nickte dann zum Automaten hinüber. „Ich gebe die nächste Runde aus. Los, Tristan, vermöble Joey mal ordentlich für mich.“ Yugi und ich holten inzwischen vier Milchshakes, während unsere Freunde wieder so wirkten, wie vor Joeys Wutausbruch.
 

„Ich glaube, er hat einfach grade viel um die Ohren. Außerdem war Joey schon immer so, dass er mit jedem Erfolg prahlen musste. Dass du an Weihnachten nicht da bist, passt ihm auch nicht sonderlich“, sagte Yugi, und zog am Strohhalm seines Erdbeershakes. „Kann schon sein, aber ich glaube, er wird mit Serenity genügend anzufangen wissen. Außerdem seid ja noch ihr da, und ich bin schließlich auch nicht ewig weg“, antwortete ich und wartete auf die restlichen Milchshakes. „Sag mal Yugi? Warum hat Joey eigentlich so eine Aversion gegen den Milleniumsring? An Bakura hat ihn das Teil ja auch nie gestört?“
 

Yugi setzte den Plastikbecher ab: „Es hat ihn an Bakura nie direkt gestört, weil er keine so enge Bindung zu ihm hat. Wir haben mit dem Ding viel mitgemacht. Außerdem sind die Milleniumsgegenstände keine Spielzeuge, oder Schmuck. Jeder von ihnen hat verborgene Kräfte. Bakura ist froh, ihn endlich los zu sein.“ Nachdenklich griff ich unter meinen weißen Hoodie und holte das Schmuckstück hervor. „Komisch, ich trage ihn eigentlich gerne.“ Yugi lächelte verschmitzt: „Ich mein Puzzle ja auch. Hat Joey denn etwas gesagt?“
 

Ich schüttelte auf die Frage hin den Kopf: „Nein, aber er vermeidet es tunlichst, ihn zu berühren. Wenn wir, also, wenn wir im Bett, gemeinsam…“ Ich errötete dezent, was Yugi mit einem wissenden Blick kommentierte. „Gib ihm ein wenig Zeit, dann wird er ihn als Teil von dir akzeptieren. Ich jedenfalls freue mich für dich.“ Damit waren auch unsere restlichen Milchshakes bereit. Wir gingen zu unseren Freunden zurück, und verbrachten den restlichen Nachmittag damit, Tristan und Joey dabei zu beobachten, wie sie sich gegenseitig virtuell an die Gurgel gingen. Yugi und ich unterhielten uns über das bevorstehende Partnerduell zu Weihnachten, und meine Kartenwahl.
 

Draußen war es schon dunkel, als wir uns verabschiedeten. „Macht es gut“, winkte Joey und huschte davon, ohne auf eine Reaktion zu warten. Ich blinzelte irritiert, während Yugi und Tristan wissend grinsten. „Was hat er denn?“, fragte ich konfus. Beide winkten hastig ab und verabschiedeten sich rasch. Die verbargen doch was vor mir. Auf meine gerufene Frage, was denn los sei, wurde ich nur mit einem Lachen abgespeist. Schulterzuckend machte ich mich auf den Heimweg.

Weihnachtsgeschenke

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Bald stand Weihnachten, und auch der Ball vor der Tür. Letzterer interessierte mich nicht sonderlich. Nähen war nicht meine Stärke, und an Geduld mangelte es mir ebenso. Wahrscheinlich würde ich gar nicht hingehen. Kaiba hatte nichts durchblicken lassen, ob er den Ball sponserte, oder nicht. Es war aber ein offenes Geheimnis. Wer sonst würde einen Mottoball zu Duel Monsters veranstalten?
 

Joey hatte sich tatsächlich beruhigt. Er war wieder total entspannt und locker. Meist hing er mit Tristan ab, und wenn wir uns trafen, dann nur bei mir. Ich kam in den Genuss eines sehr selbstständigen, aufgeschlossenen Joeys. Er kochte meist, da er sich dagegen wehrte, Fertigessen bei mir zu konsumieren. Sein Englisch wurde auch besser. Die nächsten Aufgaben, die wir bekamen, fielen durchwegs positiv aus. Joey verblüffte Frau Fujisa außerdem, da er mittlerweile bei der Grammatik einigermaßen durchblickte. Tristan und Tea meinten, dass dies eindeutig mein Verdienst sei.
 

Es war jedenfalls an der Zeit, Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Das Meiste hatte ich schon beisammen. Für Tea gab es ein Paar rosa Armreifen, in die ihr Name eingekerbt worden war. Tristan bekam ein kleines Modellmotorrad von mir. Yugi erhielt ein Buch über Griechenlands Sagen und Mythen. Bakura würde über die Ferien zu seinem Vater nach England reisen, deswegen konnte ich mir sein Geschenk für später aufsparen. Duke hatte ein Treffen mit einem wichtigen Investor für Dungeon Dice Monsters, also fiel der auch weg. Blieben noch Mokuba, Kaiba und Joey. Letzterem wollte ich auch eine Kleinigkeit schenken, etwas, dass er unter den Tannenbaum legen konnte.
 

Ich tippte ins Handy eine Nummer, die ich zuvor aus dem Netz gesucht hatte. Yugi zu fragen, wäre natürlich auch eine Option gewesen, doch ich hatte eigentlich vor, dass er nichts davon mitbekam. Es läutete eine Weile, bis sich ein älterer Herr am Telefon meldete. Seine Stimme klang freundlich. Wir vereinbarten einen Termin am Nachmittag, und ich ließ mir die genaue Adresse, samt Wegbeschreibung, geben. Um Punkt fünf Uhr stand ich vor der Tür. Man erwartete mich bereits.
 

Der alte Mann war klein, wirkte dafür aber umso erhabener. Er hatte einen imposanten Bart, und eine Frisur, welche unter seiner Kappe hindurchlugte, die verdächtig nach Yugi aussah. „Ah, ja. Du musst David sein. Yugi hat mir schon viel von dir erzählt. Ich bin Solomon Muto, Yugis Großvater“, lächelte mir der Alte entgegen und verbeugte sich leicht. Ich tat es ihm gleich, und wir betraten gemeinsam den Spieleladen.
 

Drinnen wurde mir ein gut sortiertes Angebot an Spielwaren angeboten. Brettspiele, einige Puppen, Plüschtiere, und ein ganzes Regal voll mit Duel Monsters Karten. Genau dieses fixierte ich auch. Zielstrebig ging ich darauf zu und begutachtete die einzelnen Karten. Ich war nicht an den Booster Packs interessiert. Diese Weihnachtsgeschenke sollten etwas Besonderes sein. „Brauchst du Hilfe?“, fragte mich Herr Muto und beobachtete lächelnd, wie ich die einzelnen Karten durchging. „Danke, aber ich möchte Ihre Zeit nicht mehr als notwendig in Anspruch nehmen, Herr Muto. Ich komme schon zurecht“, antwortete ich. Nickend ließ mich der alte Herr alleine und verschwand ins Hinterzimmer. Ich schmunzelte ein wenig: Er war genauso vertrauensselig wie Yugi. Es wäre ein Leichtes gewesen, einfach mit den Karten abzuhauen.

Schließlich war ich fündig. geworden Vorsichtig strich ich über die Folie der Karte. Ein Blauer Flammenschwertkämpfer zierte das Blatt. Ja, das war genau die richtige Karte für Joey. Seine Lieblingskarte, eine die er selbst besaß, und eine von mir. Für Kaiba hatte ich auch etwas gefunden: „Vampirlord“ lautete der Titel des Monsters. Es sah Kaiba ziemlich ähnlich, fand ich zumindest.
 

„Ich habe mir fast gedacht, dass du dich für den Blauen Flammenschwertkämpfer entscheiden wirst“, gluckste Herr Muto, der wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht war. Ich schrägte den Kopf und bedachte ihn mit einem fragenden Blick. „Joey und du seid gute Freunde, genauso wie ihr alle eigentlich. Es ist nur logisch, dass du seine Präferenzen und Vorlieben kennst. Der Vampirlord entzieht sich aber meiner Kenntnis“, erklärte Solomon und deutete dabei auf die zweite Karte. „Ähm, das soll auch ein Geschenk sein für, für Seto Kaiba“, stammelte ich. Warum war es mir eigentlich peinlich Kaiba etwas zu schenken?
 

„Ah ja, da wird er sich sicher bestimmt freuen. Auch wenn Seto Kaiba seine Gefühle nicht zeigt, so hat er doch einen weichen Kern.“ Herr Muto nahm beide Karten aus dem Regal und führte mich zu der Glasvitrine, auf der eine altmodische Kassa stand. Wir verhandelten noch über den Preis. Yugis Großvater wollte mir großzügig nachlassen, was ich aber entschieden ablehnte. Diesen kleinen Laden neben Kaibas Imperium am Laufen zu halten war sicher schwierig genug, ohne, dass er dauernd von den Freunden seines Enkels belästigt wurde.
 

„Herr Muto? Darf ich Sie etwas fragen?“ Yugis Großvater nickte lächelnd, während er mir die Karten einpackte. Vorsichtig versah er sie mit einem bunten Geschenkspapier. Darüber war ich ehrlich gesagt froh: Einpacken war nicht meine Stärke. „Yugi hat mir erzählt, Sie hätten ihm sein Milleniumspuzzle geschenkt, stimmt das?“ Der Alte brummte zustimmend. „Wissen Sie dann auch über die anderen Milleniumsgegenstände Bescheid?“, fuhr ich fort. „Ein wenig, warum fragst du denn?“ Ich zögerte; meine Neugierde war zwar groß, aber ich wollte meinen „Schatz“ eigentlich nicht an die große Glocke hängen. Schlussendlich griff ich unter meine Jacke und zog den Milleniumsring hervor. Das bewog Herrn Muto dazu, mit seiner akribischen Arbeit aufzuhören, und mich mit großen Augen anzusehen.
 

„Der Milleniumsring gehört doch zu Bakura. Wie bist du in seinen Besitz gelangt?“, wollte er wissen, und ging um die Vitrine herum. Er besah sich das Schmuckstück genau, fast schon ein wenig ängstlich. „Herr Muto, das werden Sie mir sowieso nicht glauben, und mich als verrückt abstempeln“, wiegelte ich ab, erfolglos. „Das verspricht eine spannende Geschichte zu werden“, lächelte er. „Hast du Zeit für einen Tee?“ Ich sah auf mein Handy. Es war halb sechs, und ich hatte heute frei. Bisher schien er mich nicht für komplett gestört zu halten. „Wenn es Ihnen wirklich keine Umstände macht?“ Lachend winkte er ab und bedeutete mir, ihm zu folgen. Er führte mich in ein gemütliches Wohnzimmer, das zugleich auch Küche zu sein schien. Ich zog meine Jacke ab und hängte sie über einen Ohrenstuhl, in den ich mich auch setzte. Nach kurzer Zeit kam Herr Muto summend mit zwei Tassen grünen Tees herein und setzte sich mir gegenüber hin. Er nickte mir lächelnd zu, und so begann ich, die Geschichte zu erzählen.
 

„Das war die ganze Geschichte“, beendete ich meine Erzählung und nippte an meiner Tasse. Herr Muto hatte die ganze Zeit aufmerksam zugehört, und auch weder gelacht, noch den Kopf geschüttelt. Seine einzige Reaktion war ein kurzes Nicken ab und an. „Dann hat der Milleniumsring also sein böses Innenleben verloren“, schloss Yugis Großvater aus meinen Erzählungen. „Es scheint so“, sagte ich, und begutachtete das Schmuckstück. Er wirkte für mich weder fremd, noch gefährlich, eher wie ein Teil von mir, den ich endlich wiedergefunden hatte.
 

Ich konnte Herrn Mutos Hand auf meiner Schulter fühlen. Er drückte sie sanft und lächelte: „Es freut mich, dass Bakura frei von diesem bösen Geist ist. Dir scheint er nicht beizukommen, oder er ist wirklich verschwunden“. Die freundliche Art von Yugis Großvater hatte etwas Ansteckendes. Einer plötzlichen Eingebung folgend, stellte ich ihm noch eine Frage: „Herr Muto? Sie wissen von mir und Joey, oder?“ Solomon Muto nickte lächelnd: „Ja, ich weiß von dir und Joey. Yugi hat euch nicht verraten. Das war Joey selbst.“ Mein fragender Blick wurde mit einem Schmunzeln beantwortet. „Weißt du, David, ich mag vielleicht alt sein, aber ich habe Augen im Kopf. Joey hat bei mir das Duellieren gelernt, und er gehört fast schon zur Familie. Wenn er und Yugi sich über dich unterhalten, dann strahlen seine Augen, er leuchtet förmlich.“ Meine Mundwinkel zuckten bei seinen Worten. „Sie haben eine sehr gute Beobachtungsgabe.“ Der alte Herr winkte nur ab und nippte an seiner Tasse.
 

„Sag mal David, darf ich dir eine Frage stellen?“ Ich nickte. Das Gespräch war bisher sehr angenehm gewesen, und ich bezweifelte, dass Herr Muto mich zu einer Antwort drängen würde, sollte mir die Frage nicht behagen. „Yugi hat mir erzählt, dass du die Exodia in dein Deck aufgenommen hast. Hast du das getan, weil dir das Monster selbst gefällt, oder wegen deiner Vergangenheit?“ Ich strich mir über das Kinn, bevor ich antwortete: „Es hat sich richtig angefühlt. Wie der Ring, oder mein Schwarzer Magier, mein Rotauge…“ Mehr musste ich nicht sagen, denn Herr Muto stand plötzlich auf, und ging wieder in den Laden hinaus. Hatte es geklingelt? Ich hatte nichts gehört.
 

Nach kurzer Zeit kam er mit einer Karte in Folie zurück. Er legte sie auf den Tisch zwischen uns und trank seinen Tee aus. Neugierig begutachtete ich die Karte: „Vertrag mit Exodia“ konnte ich lesen. „Was ist das?“, wollte ich wissen, und drehte die Karte vorsichtig hin und her. „Ein Geschenk. Es ist bald Weihnachten, und schließlich bist du ein enger Freund meines Enkels.“ Ich blinzelte, und wollte protestieren, aber eigentlich freute ich mich ungemein. „Herr Muto, das kann ich nicht annehmen.“ Yugis Großvater lächelte nur und räumte unsere Teetassen ab. „Herausfinden, wie du sie benutzen musst, obliegt dir aber alleine. Bedenke immer, dass nicht alles verloren sein muss, selbst, wenn Exodia am Friedhof sein sollte.“ Mit diesen kryptischen Worten scheuchte er mich aus dem Kame Game Shop, wobei ich eingeladen war, ihn wieder zu besuchen.

Eine Überraschung

Ich war gerade dabei, mir den Kopf über Mokubas Geschenk zu zerbrechen, als es an meiner Wohnungstür klingelte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es sechzehn Uhr war. In zwei Stunden würde der Ball losgehen. Ich hatte eigentlich keine große Lust, zumal ich kein Kostüm auftreiben konnte. Die, die man zu Kaufen bekam, waren einfach nur…mies. Seufzend erhob ich mich vom Schreibtisch und ging zur Tür. Als ich sie öffnete, blickte ich in die breit grinsenden Gesichter von Yugi, Tea, Tristan und Joey. Sie alle waren kostümiert.
 

Yugi ging als Schwarzer Magier (was auch sonst?), Tea hatte sich als Magierin des Glaubens verkleidet, Tristan als Karbonala-Krieger, und Joey als Flammenschwertkämpfer. „Überraschung!“, riefen alle einstimmig, und drückten mich in die Wohnung zurück. Tristan und Joey hatten ein großes Bündel in den Händen. „Ähm, Leute?“, fragte ich vorsichtig, während man mich auf die Couch drückte. „Keine Widerrede, du kommst mit“, sagte Tea in einem Tonfall, der auch keine Widerworte duldete. „Ich habe ja nicht einmal ein Kostüm“, murrte ich. Joey und Tristan falteten das Bündel auf, und mir verschlug es die Sprache.
 

„Seid Ihr komplett wahnsinnig geworden?“, fragte ich und begutachtete das Kostüm mit großen Augen. „Wie?“, stotterte ich und fuhr über die Kleidung. Das war unmöglich. Es war alles dabei, sogar ein Umhang, samt Schwert und Schild. „Leute, das muss ein Vermögen gekostet haben.“ Die Vier lachten lautstark. „Gefällt es dir?“, wollte Joey mit einem breiten Lächeln wissen. Ich nickte eifrig. Wie hatten sie das überhaupt hinbekommen?
 

Vor mir lag ausgebreitet die exakte Kopie der Rüstung, die mein Vorfahre Elias du Lac einst getragen hatte. Sie sah täuschend echt aus, wie eine Plattenrüstung, und doch, sie war aus einem feinen Stoff gewebt worden. „Ihr seid ja komplett durch den Wind“, lachte ich. Ein Wappenrock war auch dabei. Drauf waren wir alle, einschließlich Mokuba, die im Kreis zueinander standen, jeder die Hand aufeinandergelegt. Groß hatten sie, in schwarzen Buchstaben, die Worte: „Freunde für immer“, eingestickt. Ich musste mich bemühen, nicht zu weinen. Das war das schönste Geschenk, welches ich jemals von Freunden erhalten hatte.
 

„Nicht weinen“, grinste Tristan und klopfte mir auf die Schulter. „Beeil dich, und zieh dich an, wir müssen rasch los.“ Ich nickte und wischte mir mit dem Ärmel über meine Augen. Hastig verschwand ich ins Badezimmer, machte mich frisch, und zog mich um. Das Teil passte perfekt. Sogar an eine Gürtelschlaufe für das Schwert hatten sie gedacht. Nachdem der Wappenrock saß, und ich Schwert und Schild am Körper trug, trat ich nach draußen, den Helm unterm Arm. Alle starrten mich mit großen Augen an, nur um dann zu applaudieren. „Steht dir wirklich“, kommentierte Tristan. „Wie habt ihr die Sachen überhaupt hinbekommen, wo gekauft?“, wollte ich wissen. „Mit viel Zeit selbst erstellt“, lächelte Tea und hakte sich bei mir ein. „Na los! Machen wir den Ball unsicher!“, rief sie theatralisch. Ich grinste und stimmte mit ein.
 

Ein riesiges Gebäude war angemietet worden. Die Tatsache, dass ein Weißer Drache und ein Rotauge die Klauen ineinandergeschoben hatten, so als ob sie ringen würden, ließ mich schmunzeln. Das war eindeutig Kaibas Handschrift, der unser Gespräch im Krankenhaus wohl tatsächlich ernst gemeint hatte. Wir gingen nach drinnen und fanden eine riesige Halle vor. Sie war gedimmt, mit bunten Lichtern versehen, während ein DJ die neuesten Hits auflegte und mixte. Jeder war verkleidet. Es gab Punsch, frisches Weihnachtsgebäck, genauso wie traditionelle, japanische Gerichte an unzähligen Tresen zu bestellen. Ein ganzes Heer an Köchen kümmerte sich um das leibliche Wohl der Schüler der Domino High. Ich nestelte ein wenig an meiner Mantelspange herum, und prüfte den Sitz des schwarzen Umhangs kurz, ehe mich Tea auch schon auf die Tanzfläche zog.
 

Ich war es nicht, der führte, im Gegenteil. Tea platzierte meine Arme auf ihren Schultern und leitete mich an. Ich war und bin noch immer ein grottiger Tänzer, was sie aber nicht zu stören schien. Kurz warf ich einen Blick zu Joey, der mir nur zugrinste, und seinen Daumen zeigte, ehe ich mich Tea zuwandte. „Sag mal David, wie hast du Kaiba dazu gebracht, dass er das mit Joeys Schwester arrangiert?“, fragte mich Tea, als die Musik ein wenig leiser und einfühlsamer wurde. „Nennen wir es Charisma“, schmunzelte ich. Sie nickte lachend und wir glitten über das Tanzparkett.
 

Nach einer Weile gesellte ich mich zu Joey und Tristan an die Bar, und übergab Yugi die Dame. Dieser errötete leicht, bevor ihn Tea an den Handgelenken auf die Tanzfläche zog. Lachend beobachten wir Yugi, der sichtlich seine Schwierigkeiten hatte, Tea so anzufassen. „Manchmal frage ich mich echt, ob er wirklich so alt ist wie wir“, grinste Joey breit und reichte mir ein Glas Punsch. „Gleiches fragen wir uns bei dir auch“, neckte Tristan seinen besten Freund, und wurde sogleich mit einem Faustschlag gegen die Schulter beglückt. „Jungs, nicht streiten, es ist bald Weihnachten“, tadelte ich meine Freunde amüsiert und nippte am Punsch.
 

Plötzlich ging sämtliches Licht aus, genauso wie die Musik langsam abklang. „Was ist jetzt los? Stromausfall?“, fragte Joey. Ich hob meine Schultern: „Eher ein Werbegag von Kaiba, denke ich.“ Meine Vermutungen waren auch richtig. Sekunden später richteten sich mehrere Scheinwerfer auf die Bühne. Kaiba wusste, wie man sich in Szene setzte. Er trug ex aequo die gleiche Rüstung wie sein Vorfahre, mit weißem Umhang, der innen eisblau ausgeschlagen war.
 

Ein Raunen ging durch die Menge, als sich neben Kaiba zwei Weiße Drachen aus dem Nichts schälten. Seine Hologramme waren so realistisch, dass die vorderen Reihen zurückzuckten. Die Monster legten ihre Häupter vor Kaiba nieder, der sich ein amüsiertes Grinsen ob der Reaktionen nicht verkneifen konnte. „Ich danke euch allen, dass ihr so zahlreich zu unserem Schulball erschienen seid, zumal in einer passenden Kleidung. Eure Kostüme sind teilweise wirklich sehr extravagant und zeugen von großem Bemühen und Handwerkskunst.“ Mir schoss mein Punsch durch die Nase, als ich Joey beobachtete, wie er sich gespielt den Finger in den Mund steckte, und so tat, als müsse er kotzen.
 

„Ich habe diesen Ball bewusst so ausgerichtet, um euch, exklusiv, meine neuste holografische Technik vorzuführen. Sie erlaubt es, zwischen den einzelnen Bildern einen fast realen Kontakt zu erzeugen, und die Kämpfe so noch dynamischer, echter, atemberaubender zu gestalten.“ Wie auf Kommando drehte sich der gesamte Saal, aufgeschreckt durch ein mir wohlbekanntes Kreischen, um. Über uns schwebte ein Schwarzer Rotaugendrache. Mit einem einzigen Flügelschlag war er bei Kaiba, und stürzte sich auf einen dritten Weißen Drachen. Die Monster schoben ihre Klauen ineinander und rangen um die Oberhand. Darum also das Motiv des Plakats.
 

„Dies ist die Zukunft. Duel Monsters wird eine lebendige Welt werden, eine, die so real wirkt, dass man glauben kann, diese Monster seien aus Fleisch und Blut.“ Die Drachen verbissen sich bei Kaibas Worten ineinander. Das Rotauge versank seine Zähne im schuppigen Hals seines Kontrahenten, während dieser mit den Klauen nach den Flügeln des Anderen griff. In einer Explosion aus grellem Licht vergingen beide Wesen, und ein stürmischer Applaus folgte. Kaiba bedankte sich, machte noch darauf aufmerksam, dass die Einnahmen des Balles zur Sanierung der Schule verwendet wurden, und verabschiedete sich. Damit folgte auch wieder normale Musik, und wir wandten uns unseren Getränken zu.
 

„Eins muss man Kaiba lassen, er hat schon ein Gespür dafür, wie man fulminante Auftritte hinlegt“, kommentierte Tristan die Szene und grinste breit. „Werden sicher genügend reiche Eltern von ihren Kindern belagert werden“, fügte er an. Im Stillen gab ich meinem Freund Recht. Kaibas Reichtum kam nicht von ungefähr. Er war zwar eiskalt und berechnend, hatte aber einen Sinn für Ästhetik, Perfektion und Ausdauer, der seinesgleichen suchte.
 

Wir verbrachten den Abend noch mit feiern, tanzen, und amüsierten uns. Als gegen eins der Saal allmählich geräumt wurde, entschlossen wir uns, auch zu gehen. „Macht es gut!“, meinten Tea, Tristan und Yugi, die alle in die entgegengesetzte Richtung mussten. Joey eigentlich auch, dieser schien aber zu zögern. „Lust, noch auf einen Sprung zu mir zu kommen?“, schmunzelte ich. Mein Freund reagierte nicht. „Hallo? Erde an Joey? Ob du noch zu mir mitkommen möchtest?“ Ruckartig blinzelte er, und nickte dann lächelnd. „Klar, wenn es dir nichts ausmacht?“ Ich schüttelte den Kopf und setzte mich in Bewegung: „Hast du was?“ Joey verneinte nur abwesend.
 

Bei mir zuhause entledigte ich mich meines Kostüms und hing es sorgfältig in den Schrank. „Rüstung“ und Schwert wurden gegen Jogginghose und Shirt getauscht. Ein Blick aus meinem Zimmer zu Joey, der sich auf die Couch fallen ließ, bestätigte mich in meiner Vermutung: Er wollte heute hierbleiben. Lächelnd kramte ich nach einigen meiner alten Sachen, und trug sie nach draußen. „Du wirst wohl nicht als Flammenschwertkämpfer hier schlafen wollen, oder? Mag zwar ziemlich männlich wirken, aber im Bett ist mir das Ding zu unbequem“, sagte ich, und warf Joey im Vorbeigehen die Sachen in den Schoß.
 

Ich trieb inzwischen Chips und Tee auf, während sich der Blonde umzog. Joey wirkte noch immer abgelenkt – Zeit ihm auf den Zahn zu fühlen. Die Fressalien fanden auf dem kleinen Couchtisch Platz, nebst zwei Tassen mit dampfendem Tee. Ich faltete Joeys Sachen ordentlich (etwas, das er wahrscheinlich nie erlernen würde), und legte sie auf einen der Stühle, bevor ich nach einer Kuscheldecke griff, und mich zu ihm legte. Mit dem Rücken schmiegte ich mich an Joeys Brust, und drückte ihn so sanft aufs Sofa. Seine Hände wanderten auf meinen Bauch, und ich zog uns die Decke über. Kurz verließ ich noch einmal mein wohliges Nest, um mit der Fernbedienung irgendeine Doku über England einschaltete, nur um mich dann ganz an meinen Liebsten zu schmiegen.
 

„Wie hat dir der Abend gefallen?“, fragte ich, und lugte zu Joey hoch. „Ganz gut, für Kaibas Verhältnisse. Der Abend war schön, aber…“ Ich schrägte den Kopf: „Aber?“ Der Blonde biss sich auf die Lippen. „Ich, also, ich will dich nicht belasten“, begann er, was ich nur mit einem Augenrollen kommentierte. „Ähm, also, ich habe gestern mit meiner Schwester telefoniert“, fuhr er fort, während ich die Hand ausstreckte und nach einer Hand voll Chips griff. „Aha, und?“, fragte ich, und kaute dabei die frittierten Kartoffelscheiben. „Sie hat so komisch getan, so als ob etwas nicht in Ordnung wäre. Sie verbirgt was vor mir“, setzte Joey an, und ich musste mich beherrschen, nicht laut loszulachen. Da lag also der Hund begraben.
 

„Ich kann dich beruhigen“, unterbrach ich ihn, und rutschte dabei ein wenig nach oben, sodass meine Wange an der seinen lag. Unter der Decke grabbelte ich nach seinen Händen und verwob unsere Finger miteinander. „Es ist nichts Schlimmes, mehr eine Überraschung.“ Joey richtete sich ein wenig auf, und sah mir in die Augen: „Wie, Überraschung? Du kennst Serenity doch gar nicht. Woher willst du das wissen?“ Nun, das stimmte so nicht ganz. „Doch, ein wenig. Bitte lass dich einfach überraschen, ja?“ Meine Worte unterstrich ich mit einem Kuss auf Joeys Wange. „Ich liebe dich, weißt du das?“ Sein Gesicht zierte ein sanftes Lächeln, und er löste eine Hand aus der Umarmung, um mir durch die Haare zu streichen. „Ich dich auch, mehr als du dir vorstellen kannst.“
 

Langsam näherten sich unsere Lippen erneut. Zärtlich umfing ich Joeys Mund, und lehnte mich in den Kuss hinein, während meine Augen langsam zufielen. Die Vergangenheit musste sich nicht wiederholen, das wurde mir in diesem Moment bewusst. Außerdem wusste ich nun, was ich Joey, neben der Karte und dem Besuch von Serenity noch schenken wollte. Wenn es jemand verdient hatte, dann er. Gleich morgen würde ich mich daranmachen. Im Kuss, mit Joeys Geschmack auf den Lippen, dämmerte ich langsam weg.

Joeys Weihnachtsgeschenk

Stöhnend drehte ich mich in meinem Bett herum und griff nach dem Handy. Das Display verriet mir, dass es sieben Uhr morgens war. Ein Blick über die Schulter offenbarte Joey, der seelenruhig schlief. Lächelnd musste ich dem Drang widerstehen, ihm eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Unglaublich, dass ich vor einem Jahr noch nicht einmal ansatzweise an ihn gedacht hatte. Wie wäre wohl mein Leben verlaufen, wenn ich nicht nach Japan gereist, oder an eine andere Schule gegangen wäre?
 

Leise stand ich auf und streckte mich. Ich schlich aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, um Joey ein Geschenk zu besorgen, oder besser gesagt, eines zu basteln. Ich wollte meinem Freund wirklich nicht nur etwas „Gekauftes“ schenken. Mir geisterte schon seit einigen Tagen eine Idee im Kopf herum, die ich nun zu Papier bringen wollte. So wie ich Joey kannte, würde er vor neun sowieso nicht wach werden, also blieb mir genügend Zeit.
 

Im Halbschlaf ging ich zum Küchentisch und schnappte mir Block und Stift. Was sollte ich nun also schreiben? Einen klassischen Text? Nein, das war viel zu anspruchslos. Einen Liebesbrief? Zu kitschig. Ein Gedicht? Vor meinem geistigen Auge sah ich mein jüngeres Ich vor dem Laptop sitzen, eine durchzechte Nacht hinter mir. Mein Herz schlug mir bis zum Halse, während ich immer wieder einzelne Wörter eintippte, nur um sie frustriert zu löschen. Entschieden schüttelte ich den Kopf und kehrte in die Gegenwart zurück. „Für den Jungen, den ich über alles liebe“ – schrieb ich als Titel. Geistesgegenwärtig nickte ich und machte mich an die Arbeit.
 

Nach gefühlten Stunden war ich fertig und einigermaßen zufrieden. Ich lehnte mich im Stuhl zurück und begutachtete mein Werk eingehend. Dieses Mal war ich nicht so verkrampft gewesen, so fixiert darauf, jemanden zu gewinnen; ich hatte schließlich schon die Liebe meines Lebens an meiner Seite. Ohne Joey wäre mein Leben sicher nicht so glücklich, wie es gerade gewesen ist.
 

„Jeder Moment, den wir beisammen sind

fühlt sich an wie der wärmend´ Wind,

der mein Haar zärtlich zerzaust,

aber auch so stürmisch sein kann, wie deine Faust
 

Joseph Wheeler, meine große Liebe, mein Herz

von dir getrennt zu sein, ist ein unerträglicher Schmerz.

Ohne dich ist mein Leben sinnlos und leer

jede Hürde gleich zehnmal so schwer.
 

Ich trage dich immer nah bei mir,

Gedanken, Worte, Gefühle, sie gelten nur dir.

Ich liebe dich ohne Unterlass,

denn du hast befreit mein Herz von großem Hass.
 

Dieser Hass hat mich fast zerfressen,

und ich hätte bald die Liebe komplett vergessen.

Dieser kleine Funke der beinahe erloschen ist,

ist wieder aufgekeimt, als du in mein Leben getreten bist.
 

Du wirst immer ein Teil von mir sein,

genauso wie ich sein werde immer dein.

In meinem Herzen besitzt du einen Platz,

den ich hüte, mehr als meinen größten Schatz.
 

Am Ende hoffe ich, dass du glücklich bist,

und mich, deinen Freund, niemals vergisst.

Schmerz und Kummer möchte ich von dir nehmen

denn würde ich es nicht tun, müsste ich mich schämen.
 

Du bist immer für mich da, egal ob Tag oder Nacht,

hältst über mich deine gütige Wacht.

Eines Tages möchte ich dir deine Liebe zurückgeben

denn sie ist mehr als nur ein wundervoller Segen.“
 

Lächelnd lehnte ich mich im Stuhl zurück und wischte mir eine Träne aus dem Gesicht. Was war nur los mit mir? „Das frage ich mich auch“, hörte ich vom Schlafzimmer her, was mich aufschrecken ließ. Hatte ich mit mir selbst gesprochen? „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Joey, der langsam auf mich zukam. Er trug das gleiche, geborgte, schwarze Shirt und die passende Jogginghose dazu, als er mich von hinten in den Arm nahm.
 

Ich schmiegte mich an Joeys Brust und sah nach oben: „Nichts Wichtiges. Wie hast du geschlafen?“ Meine Hände wanderten automatisch zu den Seinen, auf denen ich sie drapierte. „Gut, wie immer, wenn du bei mir bist“, antwortete mein Freund und belohnte mich mit einem Kuss auf die Stirn. „Joey?“, fragte ich leise und schloss die Augen, ob des Gefühls seiner weichen Lippen auf meiner Haut. „Hm?“, säuselte er und strich dabei langsam an meiner Wange entlang. „Versprichst du mir etwas?“ Ein leises Brummen signalisierte Zustimmung. „Stell keine Dummheiten an, während ich weg bin, ja?“ Ein sanftes Boxen gegen meine Schulter stimmte mich zufrieden.
 

Während Joey duschen war, riss ich den Zettel mit dem Gedicht aus dem Block. Sauber gefaltet klemmte ich ihn zwischen die Schlaufe, die Herr Muto um die eingepackte Karte gewickelt hatte. Ich räumte noch den Tisch ab. Als der letzte Teller sauber abgespült und getrocknet im Schrank verschwand, ging die Badezimmertür auf, und mein Freund kam fix fertig, mitsamt Kostüm, ins Wohnzimmer. Sein Blick hatte etwas Wehmütiges. Das hieß wohl Abschied für einige Tage. Ich seufzte innerlich, trocknete meine Hände ab und ging dann zu Joey, im Vorbeigehen sein Geschenk mitnehmend.
 

Ich drückte die Karte gegen seine Brust und stellte mich auf die Zehenspitzen um ihn sanft zu küssen. Unsere Lippen vermischten sich für einen flüchtigen Augenblick, ehe ich mich zwang, mich von ihm zu lösen. „Frohe Weihnachten, Schatz“, murmelte ich leise. Joey sah herab und griff nach seinem Geschenk. Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, was ich aber durch meinen Zeigefinger auf seinen Lippen zu verhindern wusste. „Joey, ich möchte, dass du mir jetzt einmal zuhörst und nichts sagst, ja?“
 

Ich holte tief Luft und senkte den Blick ein wenig. Mir war es irgendwie peinlich, und ich wusste, dass eine sanfte Röte auf meinen Wangen brannte, aber ich musste es sagen. „Joey, du bist für mich einer der wichtigsten, wenn nicht sogar der wichtigste Mensch in meinem Leben geworden.“ Langsam griff ich nach seinen Händen und führte sie, mitsamt seinem Geschenk, zu meiner Brust, dort, wo mein Herz lag. „Du hast mich aus einem Tief geholt, welches mich beinahe verschlungen hätte. Mein Leben war schwarz und grau. Es sind so viele Dinge in den letzten Jahren passiert, und manche, die haben mir beinahe meinen Lebenswillen geraubt. Es gab Tage, da wollte ich nicht mehr aufstehen, nichts mehr fühlen, nicht einmal existieren.“ Ich holte erneut tief Luft und fuhr fort, meinen Blick noch immer gesenkt haltend: „Dann seid ihr in mein Leben getreten. Mokuba, Yugi, Tea, Tristan und Co, aber keiner von ihnen hat mein Herz so berührt wie du. Aus dem hässlichen Entlein ist ein wunderschöner Schwan geworden, der sich im Spiegel ansehen und lächeln kann.“
 

Joeys Finger zuckten an meiner Brust. Er ließ sie aber dort ruhen. Es war endlich Zeit, Joey die Wahrheit zu sagen, meine Gefühle, meine Gedanken offen zu legen. „Joey? Ich habe furchtbar Angst dich zu verlieren, oder, dass du dich wegen mir schämst. Bitte, wenn ich wieder zurückkomme, rede mit mir. Rede über das, was bei dir zuhause abgeht, und lass mich dir helfen, denn ich liebe dich von ganzem Herzen, und ertrage es nicht, dich leiden zu sehen.“ Ich griff nach Joeys Handgelenken und küsste seine Fingerspitzen vorsichtig, während meine Augen brannten. „Wir stehen alle hinter dir, und ich möchte für dich kämpfen, für dich da sein. Wenn du es nicht kannst, so möchte ich es tun, und wenn es sein muss, dann bin ich dein Schild, der so lange standhält, bis er zerbricht. Wir haben uns einmal aus den Augen verloren – nochmal lasse ich das nicht zu.“
 

Beschämt drehte ich den Kopf zur Seite, nur um mich an seine Brust zu werfen und ihn zu umarmen. „Versprich mir, mich nicht zu verlassen, nicht noch einmal. Ein zweites Mal würde ich es nicht ertragen.“ Vor meinem geistigen Auge erschien Joey, wie er geschunden vor mir lag. Das Gefühl, ihn zu verlieren, hatte mich damals fast entzweigerissen. Ich wollte dieses Gefühl nie wieder spüren, nie wieder so von ihm getrennt sein.
 

Joey strich mir durchs Haar während ich bitterlich weinte. Alles, was ich verdrängt hatte, kam nun zum Vorschein. Ich hatte Schiss davor, mich bei diesem Turnier zu blamieren, Schiss davor, kein guter Freund zu sein, Schiss davor, dass zuhause etwas passierte, was ich nicht verhindern konnte, Schiss davor, Joey zu verlieren. Meine Finger krallten sich in den Stoff von Joeys Kostüm. Jeglicher Schmerz der letzten Jahre, alle Ängste und Probleme, sie kamen genau jetzt an die Oberfläche.
 

„Ich bin stolz auf dich“, murmelte Joey leise, und fuhr mir mit den Fingern über die verweinte Wange. „Nur wer zugibt, dass er Angst hat, kann sie bekämpfen. Ich kann es nicht, aber ich glaube es eines Tages zu können, mit dir, an deiner Seite.“ Ich schluchzte laut und drückte meine Nase an Joeys Brust. „Hätten wir uns früher kennengelernt, mein Leben wäre sicher anders verlaufen, doch ich bin dankbar, dass es jetzt passiert ist. Niemand hat mich so verstanden wie du, nicht einmal Tristan oder Yugi.“ Joey schob seine Hand unter mein Kinn und drückte es sanft nach oben. Seine Augen glitzerten ein wenig, als er zu mir herabsah: „Wenn du das Duell bestritten hast, schaust du in deinen Koffer, ins Seitenfach, ja? Aber nicht vorher. Versprichst du mir das?“ Ich nickte leicht und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
 

„Ich glaube an dich, David. Du wirst Pegasus aus dem Ring fegen, und selbst Kaiba in den Schatten stellen. Sieh nur zu, dass du in einem Stück wiederkommst, und das möglichst bald.“ Seine Lippen küssten meine Stirn und er wischte mir die restlichen Tränen weg. „Lache wieder, hm? Ich liebe dein Lächeln mehr, als deine Tränen. Außerdem passt das nicht zu mir, eine Heulsuse als Freund.“ Ich zitterte mit den Mundwinkeln, und boxte ihn schwach gegen die Schulter: „Blödmann“.
 

Wir hielten uns noch eine ganze Weile in den Armen, bis sich Joey löste und tief durchatmete. Sein Blick war von Sorge geprägt, während er mir eine Strähne aus dem Gesicht strich. „Pass auf dich auf, ja? Du kannst mir Tag und Nacht schreiben, wir glauben an dich.“ Ich nickte schwach und küsste ihn zum Abschied noch einmal: „Du genauso.“ Mein Freund nickte, ehe er die Tür hinter sich schloss und eine bedrückende Stille meine Wohnung erfüllte. Der letzte Kuss brannte noch auf meinen Lippen.

Reise ins Königreich der Duellanten

Ich schlief die letzte Nacht vor der Abreise äußerst schlecht. Immer wieder geisterten mir verschiedene Bilder durch den Kopf. Einmal, wie ich bereits in der Vorrunde sowohl Kaiba, als auch mich ins Abseits beförderte, dann wie Mokuba sich beschämt von mir abwandte, alle über mich lachten. Mehr als einmal ertappte ich mich dabei, wie ich nach dem Milleniumsring griff und leise seufzte. Mahads Präsenz erzielte auch nicht die tröstende Wirkung, die ich mir herbeisehnte. Als um sieben Uhr der Wecker klingelte, stand ich kraftlos auf.
 

Ich frühstückte kurz, machte mich frisch, und kontrollierte noch einmal meine Koffer. Ich hatte alles Nötige dabei. Für die Reise lagen Kopfhörer und ein MP3-Player bereit, nebst Block und Stift. Vielleicht half es, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Ich schreckte hoch, als es klingelte. In der Tür stand ein hochgeschossener, drahtiger Kerl, rasiert, in schwarzem Smoking und Sonnenbrille: „Herr Kaiba wartet bereits im Auto auf Sie. Ich wurde angewiesen, Ihnen mitzuteilen, dass Sie Ihr Kostüm vom Schulball mitnehmen sollen.“ Ich schrägte den Kopf und starrte den Hünen fragend an. „Eine Anweisung von Herrn Kaiba. Sind das Ihre Koffer?“, fragte er und deutete mit dem Kopf in Richtung meiner Sachen. Ich nickte zögerlich. Kurzerhand schnappte er sich das Gepäck und trug es nach draußen. Vor meiner Wohnung parkte eine schwarze Limousine. Leise seufzend hastete ich noch einmal ins Schlafzimmer, kramte das Kostüm hervor, schnappte mir Handy und MP3-Player und huschte ins Auto.
 

Kaum eingestiegen, fiel mir Mokuba schon um den Hals. Ich klopfte ihm auf den Rücken und sah mich um. Vom großen Kaiba war weit und breit keine Spur. „Hey David! Na, alles klar?“ Ich nickte leicht und schnallte mich an: „Ja, geht schon. Ein wenig nervös. Wo ist denn dein Bruder?“ Mokuba setzte sich mir gegenüber hin und grinste breit: „Er wartet am Flughafen. Warum bist du denn nervös?“ Ich musste mich beherrschen, nicht mit den Augen zu rollen: „Wenn ich das hier vergeige, dann wird mich dein Bruder schlimmer piesacken als er es mit Joey tut.“ Der kleine Wirbelwind grinste noch breiter und lehnte sich entspannt zurück: „Ach was. Du spielst gut, außerdem braucht Seto sowieso niemanden, um zu gewinnen.“ Mit einem leisen „Mh“ griff ich nach einer der Wasserflaschen, die sich in den Getränkehaltern befanden. Langsam rollte der Wagen weg und ich beobachtete das Gebäude meiner Wohnung, wie es immer kleiner wurde. „Ich feuere dich aber trotzdem an, ja?“ Ich verschluckte mich beim Trinken. Was hatte er gesagt?
 

„B-Bitte?“, keuchte ich und klopfte mir auf die Brust. Mokuba lächelte breit und hielt mir ein Taschentuch hin. Kaiba hatte wohl echt alles in seinen Wagen. „Ich habe gesagt, ich werde dich anfeuern.“ Geräuschvoll säuberte ich mir die Nase. „Heißt das, du kommst mit?“ Ein eifriges Nicken bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen. Wie kam Kaiba auf die Idee, dass Mokuba bei so einer Veranstaltung dabei sein musste? „Klar, ich muss schließlich meine zwei großen Brüder anfeuern!“ Der Satz schaffte es seltsamerweise, mich ein wenig zu beruhigen. „Wann startet denn unsere Maschine genau, Mokuba?“ Der kleine Frechdachs bedachte mich mit einem Blick, der mich an meine Mutter erinnerte, wenn ich etwas äußerst Dummes gefragt hatte. „Wenn wir da sind“, beantwortete Mokuba meine Frage und griff nach einer zweiten Wasserflasche.
 

„Aha, gehört die Fluggesellschaft auch deinem Bruder, oder warum?“ Ich wischte mir ein letztes Mal über die Nase und griff wieder nach meinem Wasser. Dieses Mal würde ich auf den nächsten Bock, den die Kaibabrüder schossen, gefasst sein. „Nein, aber der Jet“, entgegnete Mokuba lapidar und griff in eines der Fächer, die sich in der Lehne versteckten. Er zog einen Handheld heraus und widmete diesem seine Aufmerksamkeit. Wir flogen also in einem Privatjet. Interessant. „Wer einmal einen von den Beiden an Land zieht, der hat wahrlich ausgesorgt“, ging es mir durch den Kopf. Kaiba hatte wirklich alles, was man sich wünschen konnte, und noch mehr. Warum er keine Freundin hatte, war mir ein Rätsel. Gerade in der heutigen Zeit waren Geld und Erfolg wichtiger, als Charakter und innere Werte. Wahrscheinlich lag es einfach an seiner unausstehlichen Art, und der Tatsache, dass ihm außer Mokuba niemand etwas zu bedeuten schien.
 

„So war er schon immer“, meldete sich Mahad in meinem Kopf. „Seine vorigen Leben waren ähnlich. Erfolg und die Scheu, auf andere angewiesen zu sein, haben deinen Freund auch in den vorigen Leben geprägt. Er besitzt aber einen sehr weichen Kern, den er nur manchmal an die Oberfläche lässt, und dies auch nur gegenüber eingeweihten Personen.“ Ich tippte mir ans Kinn und beobachtete Mokuba, wie er energisch irgendetwas über den Haufen schoss. „Stehst du mir eigentlich beim Duellieren dann bei?“, fragte ich Mahad in Gedanken. Dieser antwortete warm: „Natürlich. Wir sind eins. Mach dir keine Sorgen, du warst beim Spiel der Schatten immer ein Favorit. Es gab nur wenige, die sich mit dir messen konnten.“ Ich, du, wir; mich verwirrte dieses Hin und her zugegebenermaßen. Jedenfalls war ich nicht komplett alleine.
 

Nach einer guten halben Stunde erreichten wir den Flughafen. Wir wurden vom Fahrer und dem Hünen begleitet, die meine und wohl auch Mokubas Sachen schleppten. In der Eingangshalle war ein reger Andrang. Es war schönes Wetter, und nur wenige Flüge hatten Verspätung. Dementsprechend war das Gewusel um uns herum. Die einzelnen Gates waren rappelvoll, und es gab nur mehr wenige Sitzmöglichkeiten. Lange Schlangen hatten sich vor den Informationsschaltern und dem Check-in gebildet. Mokuba ging zielstrebig an der Menschenmenge vorbei. Als wir auch die First-Class Lounge hinter uns ließen, war ich sichtlich verwirrt. Wir hielten erst vor einem menschenleeren Schalter an, hinter dem eine junge, blonde Frau saß. Mokuba hielt ihr zwei Karten hin, die sie kurz begutachtete und uns lächelnd weiterwinkte. Keine Pass- oder Gepäckkontrolle, nichts. Wir marschierten durch einen leeren Gang, und erreichten einen Hangar, in dem ein Jet stand, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
 

Die Außenhülle war silbrig-weiß. An den Turbinen waren Krallen montiert worden, und die Flügel in Schuppenform lackiert worden. Die Spitze des Jets war ins Maul eines Weißen Drachens eingelassen worden. Groß prangte „KC“ in schwarzer Schrift auf der Seite des Flugzeugs. Mit offenem Mund begutachtete ich das Teil. „Worauf wartest du? Komm, Seto wird sonst ungeduldig“, winkte mich Mokuba mit sich. Konnte dieses Ding überhaupt fliegen? Was hatte es gekostet, den Jet so zu modifizieren? Ich schüttelte den Kopf und folgte unserem kleinen Führer in den Jet hinein.
 

Natürlich hatte man hier keine Kosten und Mühen gescheut. Eierschalenförmige Sessel, die wohl ein Vermögen gekostet haben mussten, gliederten sich perfekt in das Innenleben des Flugzeugs ein. Eine kleine Couch war vor einem Flachbildfernseher aufgestellt worden. Ich konnte auch eine Mini-Bar erkennen. Dunkles Holz schmiegte sich an die Innenverkleidung des Jets und verlieh dem Ganzen noch einen zusätzlichen, edlen Schliff. Man hätte hier zweifelsohne auch wohnen können.
 

An einem Tisch saß Kaiba mit einer älteren Frau und einem älteren Herrn, die sich angeregt zu unterhalten schienen. Beide machten sich Notizen, während Kaiba gestikulierte und ruhig irgendetwas näher ausführte. „Seto? Wir sind da, ich sage dem Piloten, dass er starten kann“, sagte Mokuba und flitzte ins Cockpit. Kaiba nickte mir kurz zu und bedeutete dann, neben ihm Platz zu nehmen. Alle drei hatten jeweils ein Kristallglas neben sich stehen, in dem eine bernsteinfarbene Flüssigkeit schwappte. „Das ist mein Partner für das diesjährige Duell im Königreich der Duellanten“, führte Kaiba aus und schnippte kurz. Aus dem Nichts erschien ein Kellner. „Was darf ich dem jungen Herren bringen?“, fragte er mich freundlich. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich, wie mich die anderen Beiden musterten. „Ähm, haben Sie vielleicht für mich auch so einen…“ ich sah dabei auf Kaibas Glas. „Natürlich, ein Bourbon. Ich kann Ihnen aber auch eine Spezialität aus Ihrer Heimat anbieten.“ Was? „Also, gut, dann, nehme ich das?“ Der Mann nickte und verschwand.
 

„David?“ Kaibas Stimme ließ mich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Trio lenken. „Das hier sind Frau Mizukawa und Herr Oikawa, meine PR-Leiterin und mein Marketing-Leiter. Ich möchte diese Veranstaltung nutzen, um einige Leute für ein Projekt als Investoren zu begeistern.“ Ich nickte schluckend. Das konnte ja heiter werden. „Hast du das Kostüm mitgebracht?“ Wo hatte ich das Ding gelassen? Nicht etwa im Auto, oder?

Mokuba kam aus dem Cockpit und kramte in meinem Rucksack. „Ich habe es dir in deine Sachen gepackt, als du gedöst hast.“ Ich hatte gedöst? Wann? Jedenfalls zog der kleine Kaiba mein Kostüm aus dem Rucksack und hielt es den Beiden hin. Der CEO nippte inzwischen an seinem Glas. „Wie Sie sehen, möchte ich auf die Synergie zwischen Schwarzem Rotaugendrachen und Weißem Drachen mit Eiskaltem Blick hinweisen.“ Er wollte was? Was ging mich das alles überhaupt an? Ich war froh, wenn ich dieses Duell irgendwie über die Bühne bringen konnte, ohne uns knietief hineinzureiten.
 

Der Kellner erschien wieder neben uns, und stellte mir auch ein Glas hin; meine Flüssigkeit war aber durchsichtig. Ich schnupperte daran, ehe ich vorsichtig am Glas nippte. Der Geschmack war unverkennbar. Exzellent gebrannt, leicht süßlich, mit fruchtiger Note. Das übliche Nachbrennen blieb aus. „Woher haben Sie bitte…“, begann ich, wurde aber von Kaiba unterbrochen. „Entspricht er deinen Erwartungen, oder muss ich den Verkäufer wirtschaftlich ruinieren?“ Ich schüttelte den Kopf. Das war der beste Heidelbeerschnaps, den ich jemals probiert hatte. Der Kellner verbeugte sich lächelnd, und ließ uns wieder alleine. Mokuba hatte inzwischen auf der Couch Platz genommen, und spielte mit Kopfhörern an seinem Handheld weiter.
 

„Die Signaturkarte von Herrn Pirchner wird der Schwarze Rotaugendrache sein. Ich möchte auch, dass unser Team so angemeldet wird“, sagte Kaiba und schob die Finger ineinander, während er sich im Stuhl zurücklehnte. Herr Oikawa und Frau Mizukawa schrieben mit und verunstalteten ihre Tablets mit wüsten Kritzeleien. „Sie werden der Presse mitteilen, dass dieser Sieg durch eine ausgezeichnete Kooperation und Training mit mir, als auch mit Yugi Muto, zustande gekommen ist. Herr Pirchner wird als mein Protegé auftreten.“ Würde ich das? Was faselte Kaiba da eigentlich?
 

„Haben Sie vielleicht auch die Möglichkeit, Ihre Monster zu kombinieren, Herr Kaiba? Also eine Fusion aus Schwarzem Rotaugendrachen und Weißem Drachen mit Eiskaltem Blick?“, fragte Frau Mizukawa, wurde sogleich aber unter Kaibas strengem Blick ganz klein. „Meines Wissens nach besitzt Herr Pirchner den Soldaten des Schwarzen Lichts. Den hast du doch noch in deinem Deck, oder, David?“ Mir gegenüber war Kaiba sogleich wieder normal kühl, fast schon ein wenig freundlich. Ich nickte auf die Frage hin. „Drucken Sie auf die Plakate den Meister der Drachenritter. Das sollte genügen.“ Beide nickten eifrig. „Herr Kaiba, wir wollten Sie noch darüber informieren, dass Ihr neues Videogame ein voller Erfolg zu werden verspricht. Das Cover kommt sehr gut an, und die Anfragen, wann das Spiel denn releast wird, überschlagen sich.“ Kaiba nickte nur kurz und bedeutete dann den Beiden, zu verschwinden.
 

Ich nippte wieder an meinem Glas und bemühte mich, nicht laut aufzuschreien. Als ob der Druck nicht schon groß genug wäre, auch ohne Kaibas wahnsinnige PR-Vorstellungen. „Ich würde gerne mit dir kurz das Programm durchgehen“, sagte der CEO und griff unter den Tisch. Aus einer kleinen Schublade zog er ein mehrseitiges Dokument, dessen Titelseite ein Cartoonhase zierte, der wahnwitzig lachte und dabei seine Zunge herausstreckte.
 

„Wir haben Zimmer nebeneinander. Heute Abend wird es einen Empfang geben, bei dem du mich begleiten wirst. Wenn man dir Fragen stellt, kannst du ruhig ehrlich sein, aber stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Pegasus wird dich sicher nicht aus den Augen lassen. Verrate ihm nicht zu viel von dir, und lasse dich nicht von seiner Art vereinnahmen.“ Kaiba blätterte durch das Programm und erklärte mir den Tagesablauf. Das Duell würde erst übermorgen stattfinden, vorher gab es einige Schauduelle. „Pegasus´ Eliminatoren werden paarweise gegen die anderen Bewerber antreten. Keine Angst, du spielst immer mit mir, dir kann nichts passieren.“
 

Was war mit Kaiba los? Er war zwar noch immer kühl und distanziert, abgehoben und narzisstisch, aber irgendwie schien er sich auch ein wenig Gedanken um mich gemacht zu haben. Er ging mit mir die einzelnen Gegner durch. Jeder hatte ein Profil bekommen, nebst Kartenaufstellung, Spielstil und so weiter. „Du spielst wie gewohnt, ja?“ Ich nickte leicht. „Wenn die Schauduelle vorbei sind, gibt es noch ein kleines Interview und dann das Abendessen. Die Leute von der Presse werden uns belagern; ich werde das Reden hauptsächlich übernehmen. Sollte man dir zu unangenehme Fragen stellen, gibst du mir ein Zeichen.“ Erneut bedachte ich Kaiba mit einem Nicken.
 

„Das wäre dann soweit alles. Hast du noch Fragen?“ Ich schüttelte den Kopf und schluckte lautstark. „Du machst dir zu viele Sorgen, Kleiner. Yugi meinte, du wärst ein guter Duellant, natürlich nicht mit mir zu vergleichen, aber immerhin kein komplett nutzloser Klotz am Bein.“ Kaiba verstaute die Einladung wieder in der Schublade und stand auf. „Wheelers Schwester müsste in zwei Stunden am Flughafen ankommen. Soweit ich informiert bin, ahnt er noch nichts. Stelle aber bitte dein Handy für die nächsten Tage auf lautlos. Es gibt nichts Peinlicheres, als ein klingelndes Handy während eines Interviews.“ Damit verschwand auch Kaiba. Worauf hatte ich mich da nur eingelassen? Zumindest Joey würde sich über sein Geschenk freuen können, das war es wert gewesen.
 

Mokuba zog mich an den Armen auf die Couch, während er mir einen Controller in die Hand drückte. Dieser Jet war sogar mit einer Spielkonsole ausgestattet. Wir prügelten uns gegenseitig das Hirn aus dem Leib, wobei ich mir unter wüsten Beschimpfungen Mokubas, ein Grinsen abringen konnte. Für einige Zeit war das Duell vergessen.

Ein köstliches Mittagessen später (Steak mit Kartoffeln, dazu Kakao, der ein wenig seltsam schmeckte), zog mich Mokuba wieder auf die Couch. „Du solltest noch ein wenig schlafen, du siehst furchtbar aus“, grinste er und hielt mir eine Decke hin. „Na danke auch“, murrte ich gespielt und zerstrubbelte dem Frechdachs das Haar. Der kicherte nur und bequemte sich an mein Fußende, wo er weiterzockte. Ich dämmerte tatsächlich ein wenig weg, und verschlief so den Rest des Fluges. Unsanft wurde ich geweckt, als mich Mokuba daran erinnerte es sei Zeit, sich anzuschnallen, wir würden gleich landen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch nahm ich Platz. Kaiba gesellte sich ebenfalls zu uns und sah dezent genervt auf seine Armbanduhr. Laut quietschend setzten wir auf der Landebahn auf. Es war draußen mittlerweile dunkel geworden. Die Maschine wurde langsamer und endlich öffnete sich die Tür zum Aussteigen. Nun gab es also kein Zurück mehr: Ab in den Wahnsinn, und zur größten Blamage meines Lebens.

Ein interessanter Abendempfang

Als wir ausstiegen, bot sich ein Anblick, der mir den Atem raubte. Ein Schloss war inmitten eines verschneiten Waldes gebaut worden. Die einzelnen, runden Türme waren mit Schnee bedeckt, während im Hintergrund die weißen Berggipfel das Gemäuer überragten. Die sandfarbenen Mauern wirkten gepflegt, wobei sich einige Ranken zu den großen Glasfenstern hinaufschlängelten. Wahrscheinlich bezahlte Pegasus horrende Summen, alleine für die Instandhaltung des Anwesens. Kaibas Villa war zwar imposant, doch ihr fehlte dieses erhabene, altertümliche Etwas, das einen mit Ehrfurcht auf dieses Bauwerk starren ließ.
 

Eine ganze Reihe von Anzugträgern stand Spalier, bis hin zu den Stufen, die hinauf zum Schloss führten. Sie alle trugen getönte, schwarze Brillen, eine schwarze Krawatte und weiße Hemden, deren gestärkte Kragen perfekt auf ihren Sakkos ruhten. Den beiden Kaibas war so ein Empfang wohl schon bekannt, mir jedoch verschlug er die Sprache. Der Boden unter unseren Füßen war angenehm warm, und ich begriff auch warum: Man beheizte den Gehweg.
 

„Mister Pegasus freut sich, Sie hier begrüßen zu dürfen“, begrüßte uns ein älterer Herr, mit leicht ergrautem Haar, Schnauzer und Seitenscheitel. Auch er trug eine getönte Brille. Höflich verbeugte sich der Mann vor uns, wobei sein Blick vor allem an mir hängen blieb. „Ersparen Sie uns das übliche Gerede, Croquet – bringen Sie uns lieber auf unsere Zimmer“, entgegnete Kaiba in einem monoton-genervten Tonfall. Croquet nickte leicht und bedeutete uns zu folgen.
 

Das Schloss selbst gestaltete sich als genauso imposant, wie es von außen wirkte. Nachdem wir das Metalltor durchschritten hatten, wurden wir durch einen großen Innenhof geführt. Einem Wirrwarr aus Gängen folgend, in dem ich die Vermutung hegte, dass Pegasus ein großer Freund der Kunst war (dutzende, teils altertümliche Bilder hingen an den Wänden, Vasen standen auf Marmorsockeln, und die Tapeten waren reichhaltig verziert worden), hielten wir vor zwei Türen aus Mahagoniholz. Goldene Namensschilder wiesen uns die jeweiligen Zimmer zu. Meines war das Linke, während Mokuba und Seto das Rechte bekamen.
 

„Der Empfang erfolgt pünktlich um neunzehn Uhr. Es gilt Abendkleidung. Einen angenehmen Abend wünsche ich.“ Croquet neigte sein Haupt und ließ uns dann alleine. „Ähm, unser Gepäck?“, fragte ich zögerlich, was Kaiba aber mit einer Geste abtat. Schweigend verschwand er in seinem Zimmer, und ließ mich und Mokuba alleine. „Was hat er denn?“, fragte ich den kleineren Kaiba, der sich ebenfalls komisch verhielt. Stumm öffnete er meine Zimmertür. Ich schrägte den Kopf. Ich hatte ja damit gerechnet, dass es kein Urlaub werden würde, aber das fing ja schon einmal gut an.
 

Ich folgte Mokuba und begutachtete meine Unterkunft für die nächsten Tage. Auch hier hatte eindeutig Pegasus zugeschlagen. Überall hingen Bilder in Goldrahmen, die lila Vorhänge waren aus schwerem Samt, genauso wie der Überzug und die Decke des Doppelbettes. Man hatte auch einen Schreibtisch samt Laptop, Fernseher und Sofa in dem geräumigen Zimmer platziert. Ein großer Schrank stand neben einer weiteren Tür, die ich als Zugang zum Badezimmer vermutete.
 

Mokuba saß mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck auf dem Bett und starrte gegen die Wand. Was war mit den beiden Kaibas los? „Mokuba?“, fragte ich leise. Keine Reaktion. Irgendetwas hatte beide aus der Bahn geworfen. Sollte ich mich einmischen? Beim großen Kaiba sicher nicht, der war alt genug, und würde mich maximal mit einem verächtlichen Blick strafen, aber Mokuba war nicht so. „Ich muss schließlich meine großen Brüder anfeuern“, geisterten mir seine Worte durch den Kopf. War es nicht die Pflicht eines großen Bruders, sich um sein kleineres Geschwisterchen zu kümmern? Hatte ich das nicht auch getan, als ihn Meis Schwester abserviert hatte?
 

Vorsichtig setzte ich mich neben Mokuba und beobachtete ihn, wie er mit seinen Fingern nervös spielte. Ich zögerte einen Moment, dann nahm ich ihn in die Arme und zog ihn auf meinen Schoß. Sanft streichelte ich ihm durch die Haarmähne und hielt ihn fest. Schweigend saßen wir so da, und wippten langsam vor und zurück. Nach einer Weile entschloss ich mich doch dazu, einen weiteren Versuch zu unternehmen, zu dem Kleinen durchzudringen: „Mokuba?“ Tatsächlich konnte ich ein leises Schluchzen hören.
 

„Möchtest du mir erzählen, was dich bedrückt?“, fuhr ich fort, und wiegte ihn sanft hin und her. „D-Das ist eine l-lange Geschichte, die ich nicht unbedingt er-erzählen möchte“, antwortete er mir. Ich nickte und setzte das Wiegen fort. „Das musst du auch nicht, aber vergiss nie, dass ich immer für dich da bin, ja?“ Wir saßen noch eine Weile so da, bis sich Mokuba einigermaßen beruhigt hatte. Lächelnd hielt ich ihm meinen Ärmel hin, um sich die Tränen abzuwischen. „Mischen wir nachher den Empfang auf?“, fragte ich aufmunternd. Der kleine Kaiba schniefte lautstark. „Hälst du mir den Mund zu, wenn ich im Begriff bin, Mist zu reden?“ Tatsächlich konnte ich ihm ein seichtes Grinsen abringen. „Das ist mein Ernst“, fuhr ich fort, und wurde sogleich ins Bett gedrückt. „Unfair“, lachte ich, während ich versuchte, den kleinen Wirbelwind von mir herunterzubekommen. Sein Lachen war wieder zurückgekehrt, was mich ungemein beruhigte.
 

Man brachte uns das Gepäck nach. Um achtzehn Uhr begab ich mich ins Badezimmer, um mich frisch zu machen, etwas Deo aufzutragen und schlussendlich in meinen Smoking zu schlüpfen. Als ich nach draußen kam, war Mokuba bereits umgezogen: Er trug einen gänzlich weißen Anzug, mit rosa Hemd, lila Gilet und blauer Krawatte. „Du hast dich ja fein rausgeputzt“, schmunzelte ich. Das Teil hatte sicher ein Vermögen gekostet. Mokuba winkte nur mit der Hand ab: „Was denkst du, was ich bei den Sitzungen der Kaiba Corp trage?“ Diese Frage hatte ich mir tatsächlich noch nie gestellt. Ich konnte mir Mokuba noch immer nicht als stellvertretenden Chef der Kaiba Corporation vorstellen, wobei dies auch bei seinem Bruder teilweise sehr schwierig war.
 

Die Tür ging auf, und der große Kaiba betrat mein Zimmer. Er trug einen blauen Nadelstreifenanzug, samt weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Seine eisblauen Augen wirkten noch kälter als sonst, und sein Blick zeugte von einem gewissen Maß an Anspannung. „Seid ihr fertig?“, fragte er. Sowohl Mokuba, als auch ich, nickten. Schweigend folgten wir dem CEO, der sich hier außerordentlich gut auszukennen schien. Wir nahmen mindestens ein Dutzend Abzweigungen, und ich war mir sicher, später nicht mehr auf mein Zimmer zu finden.
 

Kaiba stieß energisch zwei schwere Flügel einer Eichentüre auf und wir betraten einen großen Ballsaal. Kronleuchter aus Kristall und Gold hingen an der Decke. Ein Streichquartett beglückte die Gäste mit irgendeinem klassischen Musikstück. Das Parkett unter unseren Füßen knarzte ein wenig, bis wir zu dem langen, roten Teppich gelangten, der unsere Schritte dämpfte. Schlagartig hatte unser Trio die Aufmerksamkeit des gesamten Raumes auf sich gezogen.
 

Ein schlanker Mann mit langem, grauem Haar, das einen Teil seines Gesichts bedeckte, kam auf uns zu. Er trug einen roten Anzug mit weißen Lackschuhen. Sein Lächeln hatte etwas Eigenartiges an sich. Es wirkte nicht falsch, aber auch nicht sonderlich ehrlich. Mir wurde schlagartig unwohl, als sich der Fremde zu uns gesellte. „Ah ja, Kaiba Boy, wie schön, dass du es einrichten konntest. Wenn das nicht der kleine Mokuba ist?“ Seine Stimme war zuckersüß, und innerlich klingelten sämtliche Alarmglocken bei mir. Der Blick meiner Begleiter verhärtete sich. Mokuba ging automatisch einen Schritt zurück, und stellte sich hinter uns, fast so, als ob er Schutz suchen würde. Als die erwarteten Reaktionen wohl ausblieben, wandte sich der Fremde mir zu und musterte mich eingehend. „Ah ja, du musst Kaibas Teampartner sein. Ich bin äußerst neugierig. Mit wem habe ich das Vergnügen?“
 

„Ich ähm, mein Name ist David“, begann ich, wurde aber harsch von Kaiba unterbrochen. „Du hast ihm die Einladung doch persönlich ausgestellt, Pegasus. Spar dir deine Spielchen.“ Mir stockte der Atem: Das da vor mir war also wirklich Maximillien Pegasus, der Erfinder von Duel Monsters. Ein verächtlicher Laut kam über Pegasus´ Lippen: „Nanana, Kaiba, lass mich ein guter Gastgeber sein.“ Der Chef von Industrial Illusions wandte sich nun voll und ganz mir zu. Einem der vorbeigehenden Angestellten nahm er zwei Rotweingläser ab, wobei er mir eines reichte. „Gehen wir ein Stück?“, fragte er mich. Ich nickte zögernd; etwas an ihm beunruhigte mich. Die Blicke, die auf uns ruhten, verunsicherten mich zusätzlich.
 

Pegasus führte uns zu einer nahegelegenen Ledercouch und setzte sich. Einladend klopfte er neben sich und schwenkte sein Rotweinglas ein wenig. Ich setzte mich neben unseren Gastgeber und nippte hastig am Glas, um ihm nicht direkt in die Augen schauen zu müssen. Dieser lächelte nur und überschlug die Beine. „Ich bin besonders auf deine Performance gespannt, David. Wer mit Kaiba spielen darf, der muss entweder sehr gut sein, oder sehr starke Nerven besitzen.“ Ich schluckte schwer und nickte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dieser Mann in mein tiefstes Inneres blicken konnte. Ich fühlte mich wie ein offenes Buch. „Nun, wissen Sie, Herr Pegasus, ich bin ein eher durchschnittlicher Duellant. Wenn wir gewinnen, dann haben wir das alleine meinem Partner zu verdanken.“ Pegasus warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. „Bescheiden auch noch? Tugendhaft, wirklich. Solche Eigenschaften sind heutzutage rar geworden.“ Ich versuchte meine Unsicherheit mit einem Lächeln zu überspielen.
 

„Ich glaube, in dir steckt weit mehr, als du zugeben möchtest“, kicherte der Grauhaarige und starrte dabei äußerst auffällig auf meine Brust, dort, wo der Milleniumsring ruhte. „Für dich und Kaiba habe ich mir ein besonderes Pairing ausgesucht“, schmunzelte Pegasus amüsiert und nippte dann an seinem Glas. „Haben Sie?“, fragte ich unsicher. Meine Frage wurde mit einem Nicken beantwortet. „Ich bin gespannt, ob Kaiba gelernt hat, im Team zu spielen, oder ob er noch immer glaubt, alles alleine regeln zu müssen. Der Preis ist natürlich dementsprechend, sodass Kaiba nicht wiederstehen kann.“ Preis? Erneut schluckte ich lautstark. Welcher Preis? „Darf ich fragen, was Sie vorbereitet haben?“ Pegasus schüttelte schmunzelnd den Kopf: „Das ist eine Überraschung.“ Gerade, als ich etwas erwidern wollte, trat Kaiba an uns heran. Mit einem leichten Nicken bedeutete er mir, mich zu verdrücken. Nichts lieber als das! Ich verabschiedete mich flüchtig von Pegasus, bevor ich mich auf die Suche nach Mokuba machte.
 

Ich konnte ihn, am Rand der Feierlichkeiten, ausmachen. Er hielt einen Teller mit Häppchen in den Händen, wovon ich mir sogleich eines schnappte. „Na? Hat dich Pegasus endlich aus seinen Fängen entlassen?“, fragte mich der Kleine. „Nun, die Formulierung trifft es so ziemlich. Ich habe keine Ahnung warum, aber etwas an ihm macht mich nervös.“ Mokuba genehmigte sich auch einen Happen, bevor wir unser Gespräch weiterführten. „Natürlich macht er das. Glaube mir, er ist ein ziemlich mieser Zeitgenosse.“ Ich zog die Augenbrauen in die Höhe: „Was machen wir dann hier?“ Mokuba hielt mir den Teller hin, während er sprach: „Industrial Illusions ist noch immer ein Name im Segment, das die Kaiba Corporation bedient. Pegasus veranstaltet jährlich solche Feierlichkeiten, und wir gehen jährlich hin.“ Was der Kleine sagte, ergab durchaus Sinn. Auch wenn die Holotechnologie von Industrial Illusions schon längst veraltet war, so waren sie noch immer Marktführer bei der Erzeugung von Duel Monsters Karten. „Ich bin froh, wenn dieser ganze Trubel vorbei ist.“ Mokuba schien es ähnlich zu ergehen.
 

Ungefähr um zehn Uhr holte uns Kaiba wieder ab. Ich war bis dahin gezwungen gewesen, mich mit einigen, teils äußerst schmierig wirkenden Personen, zu unterhalten, die mich über mein Privatleben ausquetschten. Meist half mir Mokuba aus der Klemme, und lenkte das Gesprächsthema auf irgendwelche Geschäfte der Kaiba Corporation. Ich war froh, als die Tür hinter uns zufiel, und wir alle drei in meinem Zimmer waren. „Was hat Pegasus zu dir gesagt?“, fragte Kaiba, sobald wir uns im Raum befanden. „Nichts, er hat nur ein wenig von mir geschwärmt, und gemeint, er wäre auf meine Performance gespannt. Weißt du etwas von einem Preis?“ Der CEO verschränkte die Arme vor der Brust. Man konnte ihm ansehen, wie es in seinem Kopf ratterte. „Nein, und so wie ich Pegasus kenne, wird die Enthüllung ein besonderes Spektakel werden.“ Ich seufzte leise und rieb mir mit Daumen und Zeigefinger die Schläfen. „Gute Nacht, ihr zwei“, sagte Kaiba noch, bevor er verschwand. Ihr zwei?
 

„Es stört dich nicht, wenn ich heute bei dir schlafe, oder?“, fragte Mokuba. Ich schüttelte leicht den Kopf. Eigentlich war ich sogar froh, den Kleinen um mich zu haben. Wir machten uns bettfertig, quatschten noch eine Weile über den Abend, bis sich der kleine Quälgeist an mich schmiegte und die Augen schloss. Nach kurzer Zeit war er auch schon eingeschlafen. Nachdenklich beobachtete ich meinen „kleinen Bruder“, wie er an mir klebte, eine Hand um mein Schlafshirt geschlungen. Sollte ich noch einmal nach dem Handy greifen, um nachzusehen, ob Joey und Serenity bereits glücklich vereint waren? Dann hätte ich den Zwerg aber sicher geweckt. Stattdessen zog ich die Decke ein wenig weiter nach oben und drehte den Kopf zur Seite. Auch wenn der Tag insgesamt anstrengend und auch ein wenig gruselig war, so hatte ich doch das Gefühl, zumindest hier, in diesem Zimmer, Ruhe und Frieden gefunden zu haben. Mit diesem Gedanken, und einem Lächeln auf den Lippen, schlief ich ein.

KP vs ParaDox

Langsam öffnete ich die Augen und gähnte ausgelassen. Der Druck an meiner Brust, und Hände an meiner Schulter, ließen mich zur Seite schauen, und einen schlafenden Mokuba erkennen. Mein Shirt war an der Stelle, wo sein Mund ruhte, ein wenig feucht: Da sabberte wer im Schlaf. Schmunzelnd beobachtete ich den kleinen Kaiba, wie er leise etwas murmelte und sich dann von mir löste. So war es also, wenn man einen kleinen Bruder hatte.
 

Leise schlich ich ins Badezimmer und stellte mich unter die Dusche. Das warme Wasser vertrieb die letzte Restmüdigkeit. Ich machte mich frisch, putzte mir die Zähne und rasierte mich. Nach der Morgenroutine schlüpfte ich in eine kurze, blaue Trainingshose (Pegasus´ Schloss war außerordentlich gut beheizt), und ging zurück ins Schlafzimmer. Dort erwartete mich bereits ein wacher Mokuba, der mir mit großen Augen entgegenstarrte. Ich schrägte den Kopf und fuhr mir auf Verdacht durch die Haare: „Ist etwas?“ Der Kleine bedachte mich mit einem Blick, als wäre ich das siebte Weltwunder. Meine Brauen wanderten nach unten und ich folgte Mokubas Augen, bis ich verstand: Der Milleniumsring glühte leicht. Die Spitzen hatten sich aufgestellt und zeigten alle in Richtung der Eingangstür. Von einer Sekunde auf die andere hörte das Spektakel wieder auf.
 

„Hast du eine Ahnung, was das war?“, fragte mich Mokuba neugierig. Um ehrlich zu sein, nein, hatte ich nicht. „Keinen Plan“, antwortete ich wahrheitsgemäß und schnappte mir frische Sachen aus meinem Koffer. Wenn es etwas Schlimmes gewesen wäre, hätte mich Mahad sicher gewarnt. „Oder?“, fragte ich gedanklich nach. „Es ist ein weiterer Milleniumsgegenstand in der Nähe“, beantwortete der Geist meine Frage. Ein anderer Milleniumsgegenstand? Ich wollte noch nachbohren, da stand aber schon Kaiba in der Tür, mit einem missmutigen Gesicht. Er trug sein Kostüm vom Ball. Warum?
 

„Zieh dich an, los. Pegasus hat unser Duell vorgezogen.“ Die Stimme des CEO ließ keine Widerworte zu. Vorgezogen? Warum? Mein Magen rebellierte. Ich hatte Hunger. Kaiba wollte ich aber nicht unbedingt auf die Palme bringen, also folgte ich seinen Anweisungen. Im Badezimmer schlüpfte ich rasch in mein Kostüm und betrachtete mich im Spiegel. „Wir glauben an dich“, geisterten mir die Stimmen meiner Freunde im Kopf herum. Ein entschlossener David blickte mir entgegen: Wir würden diese Eliminatoren besiegen, ganz sicher.
 

Kaiba wartete draußen bereits ungeduldig. Mokuba hatte sich inzwischen auch angezogen, und wir folgten schweigend dem CEO, der uns in einen langen, dunklen Gang führte. Wie spielten wir überhaupt? Kaiba hatte keine Duel Disk am Arm, demnach fiel seine Technologie schon einmal aus. Hatte Pegasus ein neues, eigenes System entwickelt? Würde er uns wirklich beobachten? Mir lief es kalt über den Rücken, wenn ich an diesen Mann dachte. Er war nicht unsympathisch, überhaupt nicht, aber seine Motive waren sicher nicht freundlich, oder nur der Unterhaltung wegen.
 

Gemeinsam traten Kaiba und ich in ein grelles Licht. Der Boden unter unseren Füßen bewegte sich. Wir standen auf einer Art Förderband, das uns zu einer kleinen Arena führte. Ein ohrenbetäubender Jubel schlug uns um die Ohren. Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, wagte ich es, einen Blick nach oben zu riskieren: Dutzende Leute standen auf einem Balkon links von uns. Rechts saß Pegasus, auf einem einfachen Holzstuhl, und hatte die Beine überschlagen. Er nippte an einer Tasse Tee. Flankiert wurde der Leiter von Industrial Illusions von Croquet und einem uniformierten Typen.
 

Am anderen Ende des Spielfeldes standen zwei Glatzköpfe, mit jeweils einem seltsamen Zeichen auf der Stirn. Der eine trug eine grüne Weste, sein Counterpart eine orangene, jeweils mit schwarzen Ärmeln. Beide glichen sich wie aufs Haar, und erinnerten mich irgendwie an Kampfmönche. Das Duo hatte die Arme vor der Brust verschränkt und grinste höhnisch. Warum ließen mich diese Kerle an Joey und Yugi denken? In Kaibas Unterlagen war jedenfalls von den Beiden nichts zu lesen gewesen.
 

„Meine verehrten Zuschauer“, riss mich Pegasus´ feierliche Stimme aus meinen Gedanken. Der Grauhaarige war aufgestanden und breitete theatralisch seine Hände aus. Croquet hielt inzwischen die Teetasse, was ihm mehr den Eindruck eines Butlers, denn eines wichtigen Mannes in Pegasus´ Firma einbrachte. „Wir werden gleich ein Duell sehen, welches uns sicher allen den Tag versüßen wird. Auf der linken Seite stehen die Gebrüder ParaDox, furchtlose Kämpfer, die mit allen Wassern gewaschen sind.“ Beide Mönche bewegten ihre Hände vollkommen synchron in einem komplizierten Muster, und wirkten dabei wie die Hälfte des jeweils anderen. „Wir werden zerstören eure Bande“, begann der linke Bruder, „um euch am Ende davonjagen, mit Schimpf und Schande“, vollendete der andere den Satz.
 

Kaiba neben mir zuckte mit den Mundwinkeln und verschränkte seinerseits die Arme vor der Brust. Er schien von dem Spektakel nicht sonderlich angetan zu sein. „In der rechten Ecke sehen Sie die Herausforderer, das Team KP!“ Die Menge jubelte und klatschte. Man ließ ein Banner den Balkon herab, auf dem der Ultradrache mit einem Reiter zu sehen war. Über dem Monster hatte man groß „KP“ abgedruckt. Ich sah zu Kaiba auf: „KP?“ Dieser nickte nur: „Die Initialen unserer Nachnamen.“ Pegasus schmunzelte amüsiert und fuhr fort: „Wird das Duo gemeinsam gegen die fiesen Brüder bestehen können, oder wird es vom Platz gefegt werden? Möge das Spiel beginnen!“
 

Wir mischten unsere Decks, und legten sie neben uns. Die schwarze Fläche, die wohl das virtuelle Spielfeld darstellte, war mit Linien durchzogen, die jeweils ein Rechteck bildeten, das genau die Größe einer Duel Monsters Karte hatte. Ich atmete tief durch und zog meine ersten Karten. Kaiba stand ruhig neben mir, in der rechten Hand sein Blatt haltend. Den linken Arm hatte der CEO angewinkelt und seine Finger waren um seinen Oberarm gelegt. Man merkte, wie oft er sich schon, auch auf internationaler Bühne, duelliert haben musste. Ich hatte große Mühe, das Zittern meiner Hand einigermaßen zu verbergen.
 

„Mein Bruder wird den ersten Zug machen“, begann der linke der Mönche wieder, „um dann über Kaibas Gegenschlag zu lachen“, vollendete sein Bruder den Satz. Ich rollte mit den Augen. Mir ging dieses Gerede ziemlich auf den Geist. „Ich spiele die Labyrinthmauern.“ Vor unseren Augen erschien aus dem Nichts ein Labyrinth aus Stein. Zitternd schob es sich an die Oberfläche. Ein Blick auf die kleine Anzeige vor mir, gab mir die Daten der Karte durch: 0 ATK und 3000 DEF. Was bezweckte dieses Ding? Er hatte sie im Angriffsmodus gespielt, oder?
 

Kaibas Lippen zuckten ein wenig, ehe er seinen mystischen Clown aufs Feld rief. Vor uns erschien das vieläugige Monster. Schweigend schob der CEO seine Finger über das Pad, und der Clown hüpfte, einem Frosch gleichend, vier Felder ins Labyrinth hinein. „Für jede Stufe deines Monsters darfst du ein Feld vorrücken“, erklärte Kaiba mir. Was war das wieder für ein sinnloses Game? Ich nickte aber, und wartete auf den Zug unseres Gegners.
 

„Ich spiele den Schattenghul und verschmelze ihn mit dem Labyrinth.“ Tatsächlich verschwand der Schattenghul im Nichts. „Attacke!“ Aus der Mauer sprang plötzlich das Monster hervor, und verarbeitete Kaibas Clown zu Kleinholz. „Gut gemacht, Para“, lobte der grüne Mönch seinen Bruder. Ich schrägte den Kopf. „Hey, Moment mal…der Mauerschatten kann sich doch gar nicht so weit bewegen.“ Para lachte höhnisch: „Die Mauer hat aber keine Felder, Kleiner.“ Mein rechtes Augenlid zuckte ein wenig. Das war doch Betrug, mal abgesehen davon, dass ich es hasste, wenn man mich „Kleiner“, nannte.
 

Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich auf meine Karten. Ablenkung war gerade das, was ich am Wenigsten brauchen konnte. „Ich spiele den Schlag-Ninja im Angriffsmodus, und außerdem diese Karte verdeckt.“ Mein Monster erschien vor dem Labyrinth, neben ihm die verdeckte Karte. Schweigend ließ ich meinen Kämpfer vier Felder vorrücken und beendete damit den Zug. Damit war Dox wieder an der Reihe.
 

„Ich spiele diese Monsterkarte verdeckt, und beende damit meinen Zug.“ In meinem Hinterkopf arbeitete es. Ich kannte doch diese Geschichte schon irgendwoher. Das war ein verdecktes Monster, und die Karte erschien nicht am Feld. Nachdenklich betrachtete ich Para und Dox, die sich jeweils nicht mit einem Hauch von Mimik verrieten. Labyrinth, Mauern, ein Rätsel. Ich hatte diese Typen noch nie gesehen, und dennoch; es war wie ein Déjà-vu.
 

„Ich fusioniere meinen Mystischen Reiter und meinen Kampfochsen zum Tollwütigen Reiter“, begann Kaiba seinen Zug und spielte zuerst beide Monster, welche sich unter dem Effekt der Fusionskarte vereinigten. Schnaubend stürmte das Mischwesen in das Labyrinth hinein. Der CEO beendete seinen Zug und bedachte das Spielfeld mit einem geringschätzigen Blick. Hatte er noch keinen Weißen Drachen gezogen, oder warum schickte er ein, für seine Verhältnisse eher schwaches Monster, in das Labyrinth hinein?
 

„Nun denn, ihr wähnt euch sicher, ob eurer Angriffspunkte, aber wir werden eurem Duo, mit seinen altertümlichen Waffen schon zu Leibe rücken. Ich spiele den Labyrinthpanzer, und lasse ihn sogleich sieben Felder vorrücken.“ Para kicherte amüsiert: „Gegen hochmoderne Waffen kommt ihr mit eurem altertümlichen Zeug nicht an.“
 

Der Labyrinthpanzer war deutlich stärker als unsere beiden Monster. Wir mussten rasch unsere Truppe verstärken. „Ich spiele meinen Schwarzen Rotaugendrachen im Angriffsmodus.“ Mein Lieblingsmonster schälte sich aus der VR und ließ mit seinen Krallen die staubigen Labyrinthmauern erzittern. Als ich dem Drachen die Anweisung gab, zu Kaibas Monster aufzuschließen, geschah nichts. War das Teil defekt? Ich probierte es erneut. „Meine Vermutungen sind also korrekt“, sagte Kaiba und schüttelte den Kopf. „Widerlich, solche Tricks zu benutzen. Das Labyrinth ist eine Flugverbotszone; unsere Drachen können sich nur fliegend fortbewegen.“ Die Gebrüder ParaDox lachten lautstark, und die Zuschauer applaudierten ob dieses brillanten Schachzuges. „Hast du das gewusst?“, fragte ich Kaiba und biss mir auf die Lippen. „Ich habe es vermutet“, kommentierte der CEO meinen Zug. Murrend ließ ich meinen Ninja zu Kaibas Monster aufschließen und beendete meinen Zug.
 

Dox legte ein Monster verdeckt aufs Feld und beendete seinen Zug. Ein komischer Holzkasten, der mit Schnüren zusammengehalten wurde, und ein seltsames Schriftzeichen in einem grünen Kreis beherbergte, schwebte auf der Spielfeldseite der beiden Reimer. Was hatte so eine Karte für einen Sinn? „Chinesischer Zauberkasten“, geisterte mir durch den Kopf. Denk nach, David, woher kennst du dieses ganze Schauspiel?
 

Kaiba legte eine Karte verdeckt ab und ließ sein Monster weiter vorrücken. Als der Tollwütige Reiter das vorletzte Feld seiner Reichweite erreichte, schrie Dox triumphierend. „Der große Seto Kaiba ist in meine Falle getappt!“, rief er höhnisch. Mit einem Schlag hatte ich Mühe, noch gerade zu stehen. Meine Augen weiteten sich, bevor ich den Blick abwandte, und ich mich am Rand der Arena abstützen musste. Jirai Gumo war die verdeckte Karte gewesen. Das Zischen und seltsame Kreischen des Monsters; Flashbacks an meinen Ausflug in die VR drängten sich in meine Gedanken. Damals hatten Joey und ich das Ding besiegt. Dieses Mal war Joey aber nicht da.
 

„Glaub an dich, ich tue es auch“, erinnerte ich mich an Joeys Worte. Meine Finger krallten sich in das Eingabefeld, und entfernt war Kaibas ruhige Stimme zu hören, die fragte, was mit mir los sei. Um mich herum drehte sich alles. „Joey“, flüsterte ich leise. „Jirai Gumo hat damals den Effekt meines Kettenbumerangs negiert“, erinnerte ich mich an die Geschichte. Mein Freund saß mir gegenüber in der Pause, seinen Stuhl verkehrt benutzend. Jetzt erinnerte ich mich! Ich schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Vielleicht war es noch nicht zu spät.
 

„Ich aktiviere meine Fallenkarte“, stöhnte ich gepresst und vermied es, aufs Spielfeld zu schauen. Mein Brustkorb hob und senkte sich, während der Laut von Metall, welches sich um etwas Organisches schlang, zu hören war. „Ruhig, es ist ganz einfach“, ermahnte ich mich selbst. „Mein Schlag-Ninja erhält durch den Kettenbumerang 500 Angriffspunkte.“ Zögernd öffnete ich die Augen und starrte auf das Eingabefeld. Es war ganz einfach. Zuerst legte ich meinen zitternden Zeigefinger auf den Ninja. Langsam bewegte ich ihn zu Jirai Gumo. Ekel durchströmte mich. Ich konnte das Bild nicht einmal berühren. „Wir glauben an dich!“ Meine Freunde. Taten sie das wirklich? „Sei stark!“, echote Mahad in meinem Kopf. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr alleine war. Nicht nur durch meine Freunde, auch nicht durch Kaiba, sondern durch Mahad. „Los, du schaffst es!“ Mokuba winkte mir vom Zuschauerbalkon herab zu. Ja, ich würde es schaffen.
 

Mit einer für mich immensen Kraftanstrengung, und voller Widerwillen, tippte ich auf das Bild von Jirai Gumo. Die Spinne wurde von den Dolchen meines Ninjas zerfleischt und zersprang in tausend Teile. „Das gibt es doch nicht!“, schrie Para und donnerte seine rechte Faust auf die Eingabefläche. „Du spielst genau wie dieser blonde Loser von damals“, murrte Dox. Die Zuschauer klatschten und ich schüttelte erneut meinen Kopf.
 

„Jetzt weiß ich, woher ich euch zwei kenne“, schnaubte ich und richtete mich wieder auf. „Natürlich. Ihr beide habt damals gegen Yugi und Joey gespielt. Ihr seid das Team mit dem Torwächter!“ Ein Raunen ging durch die Menge, und ich konnte Pegasus anerkennend Nicken sehen. „Ich durchschaue eure Taktik jetzt.“ Kaiba schmunzelte amüsiert. „Ich kenne auch eure nächsten Züge, und ich weiß, wie Joey und Yugi euch besiegt haben.“ Die beiden Brüder wurden ganz bleich. „Einer von euch hat Sanga und Juga im Deck, während der andere Suga beschwören kann, wahrscheinlich habt ihr sogar mehrere Exemplare davon. Ihr wollt uns so lange im Labyrinth halten, bis ihr den Torwächter zusammenbauen könnt.“ Mein Blick wanderte zu Kaiba hinüber: „Darum die Flugverbotszone. Unsere besten Monster können sie so nicht erreichen.“
 

„Das macht nichts“, höhnte Para und legte einen weiteren Bestandteil des Torwächters, Sanga, auf das Feld. „Wir machen den gleichen Fehler nicht noch einmal.“ Sie waren also tatsächlich vorbereitet worden. Der Torwächter konnte sicher auch die Regeln des Labyrinths brechen, genauso wie ihre restlichen Monster. Wieder bewegte sich der Labyrinthpanzer sieben Felder nach vorne und zerlegte Kaibas Tollwütigen Reiter mühelos. „Außerdem“, grinste Para, „spiele ich den Kerkerwurm im Angriffsmodus, und verstärke ihn mittels der Zauberkarte Kräftigung.“ Das Monster setzte zum Angriff an und bohrte sich seinen Weg durch den Untergrund, nur um dann wieder aus dem gleichen Loch zurückzuschießen. „Was soll das?“, zeterte Para.
 

„Ihr zwei solltet euch wirklich einmal Gedanken über euer Deck machen“, spottete Kaiba. Er hatte mittels einer „Angriff annullieren“-Karte die Attacke gestoppt. Warum vergeudete er seine Falle für mein Monster? Yugi und Joey erzählten mir, Seto Kaiba sei ein brillanter Duellant, aber kein Teamplayer. Knurrend beendete Para seine Runde. Ein Raunen ging durch die Menge. Als Nächstes kam sicher der Dompteur der Höllendämonen, um den Kerkerwurm zu verstärken. Ich zog meine nächste Karte. „Yes!“, rief ich. Mir kam etwas in den Sinn, eine Taktik, die es nicht nötig machte, das Labyrinth zu durchqueren. „Ich opfere mein Rotauge, und meinen Schlag-Ninja um“, begann ich triumphierend und warf die Ritualkarte grinsend auf das Spielfeld „den Soldaten des Schwarzen Lichts zu rufen.“ Beide Monster hauchten ihr Leben aus, um meinem glänzenden Ritter den Weg aufs Spielfeld zu ebnen. Die Mönche stießen ein lautes „Ai“, aus. „Angriff!“, rief ich, und tippte auf die Labyrinthmauer. Mit einem gezielten Schlag seiner grünlich schimmernden Klinge, zertrümmerte mein Monster das Hindernis, und dabei sich selbst.
 

Ein Blick zu den beiden Brüdern ließ mich schaudern. Es wirkte fast so, als hätten sie damit gerechnet. „Kleiner, du hast gerade dein einziges Monster ausgeschaltet“, grinste Dox. „Und ich habe die letzte Komponente für den Torwächter auf der Hand“, fuhr er fort. Para drehte eine seiner Karten zu uns. „Riryoku wird uns mit einem einzigen Schlag zum Sieg führen.“ Ich schluckte schwer. Das hatte ich nicht bedacht. Ich hatte auch keine Fallenkarte auf der Hand. Schweren Herzens beendete ich meinen Zug. Zumindest der Mauerschatten war verschwunden.
 

„Nun denn, rufen wir den Torwächter! Sanga, Suga und Juga beginnt…“, sagten beide Mönche im Gleichton ihr Mantra auf. Tatsächlich schälte sich der Torwächter aus dem Nichts und starrte grimmig auf uns herab. „Ein direkter Angriff auf die Lebenspunkte des Winzlings, los!“, befahl Dox seinem Monster. Meine Lebensanzeige wanderte auf bescheidene 250 hinab. Außerdem legte er eine verdeckte Karte aufs Feld. „Angriff annullieren reicht völlig aus, um euch nächste Runde, auch bei einem Ultradrachen, vom Feld zu fegen.“ Sie würden sogar Kaibas mächtigstes Monster einfach einstampfen. Ich ließ den Kopf hängen.
 

„Man sollte niemals seine Taktik herausposaunen“, schmunzelte Kaiba amüsiert. Ein Raunen ging durch den Raum. Sogar Pegasus hatte sich ein wenig aufgerichtet. „Was faselst du da?“, fragte Para entsetzt. „Das war ein genialer Schachzug meines Partners“, führte Kaiba weiter aus. „Ich werde als erstes einmal meinen Ultradrachen beschwören“, begann er und innerhalb von Sekunden schälte sich Kaibas mächtigstes Monster aus seinem Deck. „Außerdem spiele ich die Zauberkarte Monsterreanimation und hole so den Soldaten des Schwarzen Lichts meines Partners vom Friedhof.“ Auch dieses Monster erschien auf unserer Spielfeldseite. „Dazu lege ich noch zwei Karten verdeckt aufs Feld und beende meinen Zug.“ Was hatte Kaiba vor?
 

„Torwächter, los, Angriff auf die Lebenspunkte des Kleinen“, sagte Para. „Spiegelkraft“, war Kaibas lapidarer Kommentar. „Abwehr!“, brüllte Dox und der Torwächter lenkte den Angriff direkt auf den Kerkerwurm um. Fassungslos starrten beide auf das Spielfeld. „Ihr zögert eure Niederlage nur um eine lächerliche Runde hinaus!“, schnaubte der orangene Bruder und machte seine Drohung war. Durch Riryoku kletterten die Angriffspunkte des Torwächters auf schwindelerregende 5.625. Nicht einmal der Ultradrache konnte der Bestie standhalten. „Außerdem setze ich den Labyrinthpanzer in den Verteidigungsmodus.“
 

Nachdenklich kratzte ich mich an der Stirn. Was sollte ich nun tun? „Komm schon, mach deinen Zug, und wir gewinnen“, kommentierte Kaiba mein Tun. Ich zog Monsterreanimation und holte mein Rotauge zurück aufs Feld. Gerade als ich ihn in den Verteidigungsmodus drehen wollte, schüttelte mein Partner den Kopf: „Nicht.“ Ich schrägte den Kopf. Meine Finger wollten die Karte mit aller Macht drehen, aber etwas in seinen Augen ließ mich die Hand zurückziehen. „Wie du meinst.“
 

„So, jetzt aber…Torwächter, Angriff auf den Ultradrachen!“ Kaiba hob amüsiert den Zeigefinger und bewegte ihn hin und her. „Angriff annullieren.“ Kaiba hatte uns zwar diese Runde Zeit erkauft, aber er konnte es niemals mit diesem Monster aufnehmen. „Was soll das? Das geht doch nicht!“, rief Dox und hämmerte wutentbrannt auf die Eingabetasten. „Beruhige dich, Bruderherz, dann eben nächste Runde“, sagte Para leise.
 

„Es wird keine nächste Runde geben, ihr Dilettanten.“ Kaiba legte nacheinander, ganz langsam, und vor allem siegessicher, seine Karten auf das Fald. „Ganz langsam für euch zwei Glatzköpfe – ich werde zuerst die Fallenkarte Königlicher Erlass aufs Feld legen, die eure Angriff annullieren Falle blockiert.“ Kaibas Finger strichen über die nächste Karte, als er sie platzierte: „Nun werde ich meinen Ultradrachen mit dem Soldaten des Schwarzen Lichts fusionieren, um den Meister der Drachenritter herbeizurufen.“ Mein Monster, und das von Kaiba schlossen sich zusammen. Tatsächlich: Der Schwarze Ritter und der Ultradrache waren eins. Der Meister der Drachenritter hatte sage und schreibe 5.000 Angriffspunkte, das war aber noch zu wenig. „Ich spiele außerdem noch Babydrache im Angriffsmodus.“ Der kleine Drache erschien zwischen unseren Monstern und wirkte dabei äußerst mickrig. „Außerdem spiele ich noch diese Karte hier.“ Verteidigung stoppen? Der Labyrinthpanzer wurde wieder in den Angriffsmodus versetzt.
 

Para und Dox lachten höhnisch. „Der ist vollkommen verrückt geworden.“ Dox nickte: „Total plemplem.“ „Durch unsere beiden Drachen auf dem Feld erhält der Meister der Drachenritter jeweils fünfhundert Angriffspunkte zusätzlich.“ Das Lachen der Beiden erstarb augenblicklich. „Mit 6.000 Angriffspunkten ist unser Monster stärker als eures. Angriff.“ Kaibas Stimme war kalt wie nie. Der Reiter und sein Reittier ballten ihren Angriff und formten einen großen, gleißenden Strahl, direkt auf den Labyrinthpanzer gezielt. Ich verstand Kaibas Taktik nun: Selbst, wenn sie mit dem Torwächter blocken sollten, würde dieser zerstört werden. Wenn sie nicht blockten, gingen die Lebenspunkte von einem der Brüder auf null. Ohne den Torwächter, hatten sie sowieso keine Chance. Mit einem ohrenbetäubenden Knall zersprang der Labyrinthpanzer in tausend Teile, während Para und Dox fassungslos auf das Spielfeld starrten. Wir hatten gewonnen.

Nachricht von Zuhause

Tatsächlich! Die Zuschauer brachen in Jubel aus. Ein Blick nach oben entblößte einen Pegasus, der anerkennend applaudierte. Irgendwie wirkte er sogar, als würde ihn der Ausgang dieses Duell freuen. Kaiba nickte mir anerkennend zu: „Du hast dich gut geschlagen, Kleiner.“ Hatte ich das? Beinahe wäre unsere ganze Taktik in die Hose gegangen, und der CEO hätte mich sicherlich noch kürzer gemacht, als ich ohnehin schon war. „Danke“, sagte ich leise.
 

„Damit haben wir wohl einen Sieger!“, rief Pegasus theatralisch über den Jubel der Menge hinweg. „Seto Kaiba und sein Protegé konnten die Gebrüder ParaDox durch Vertrauen ineinander besiegen. Es war ein Hochgenuss, diesem Duell zu folgen, oder?“ Zustimmendes Raunen folgte auf die Worte unseres Gastgebers. „Außerdem möchte ich noch auf die extravaganten Kostüme hinweisen, die unsere wackeren Streiter tragen.“
 

Mein Blick wanderte zu Mokuba, der wie ein Honigkuchenpferd strahlte. Er drängelte sich durch die Menge und war dann auch schon verschwunden. „Kommt jetzt sowas wie eine Pressekonferenz?“, fragte ich Kaiba seufzend, der nur amüsiert den Kopf schüttelte. Er sammelte seine Karten zusammen, und verstaute das Deck in den Unweiten seines Kostüms. Ich tat es ihm gleich, und gerade, als ich mich zum Gehen abwenden wollte, sprang mir jemand an den Hals. Mit großer Mühe konnte ich das Gleichgewicht halten, um nicht nach hinten zu kippen. Mokuba war mir an den Hals gesprungen: „Das war soooo cool von euch, Wahnsinn! Die zwei Glatzköpfe haben echt alt ausgesehen!“
 

Laut surrend richteten sich die Holoprojektoren neu aus, und über uns erschien der Meister der Drachenritter. Brüllend reckte das Monster die drei Köpfe in die Höhe, und der Soldat des Schwarzen Lichts streckte seine Waffe gen Himmel. Ein Blitzlichtgewitter folgte. Ich zuckte mehrmals zusammen, und spätestens nach den ersten zehn Bildern rutschte Mokuba von mir herunter und stellte sich brav zwischen seinen Bruder und mich. „Ein wenig Teamwork kann das ganze Duell entscheiden. Seien wir gespannt, was uns morgen erwartet, wenn das Team KP gegen mich, Maximillien Pegasus höchstselbst, antritt. Doch für heute belassen wir es bei einer Feier, und den folgenden Duellen am Nachmittag.“
 

Beim Frühstück, wurden wir belagert, als hätten Kaiba und ich das achte Weltwunder erbaut. Dutzende Investoren prügelten sich regelrecht darum, sich mit ihm und Mokuba zu unterhalten, während man von mir jede Sekunde des Duells bis ins Detail analysiert haben wollte. Soviel zum Thema „keine Presse.“ Mein grummelnder Magen jedenfalls, hielt mich nicht davon ab, während der Interviews zu essen. Jemand aus der Menge meinte, ich würde so einen rustikalen Charme versprühen. Das Reden konnte ich außerdem zum Großteil Mokuba überlassen. Es kehrte erst Ruhe ein, als Pegasus den Raum betrat, und sich neben mich setzte.
 

„Ein brillanter Schachzug mit dem Soldaten des Schwarzen Lichts. Du musst Kaiba ziemlich gut kennen, wenn du darauf vertraust, dass er dich schützt. Normalerweise spielt er nämlich nicht mit anderen“, verwickelte mich unser Gastgeber in ein Gespräch, während er Kaviar auf ein Stück Toast schmierte. Die Leute mit den Kameras klebten nun förmlich an uns, was mir zusehends unangenehm wurde. „Yugi und deine Freunde werden dich sicher bald kontaktieren – das Duell ist schließlich live übertragen worden.“ Ich hatte Mühe, meinen Toast nicht über die lange Tafel zu spucken, an der wir hockten. Pegasus kicherte nur amüsiert: „Ich bin ehrlich gesagt ein wenig fasziniert von dir, David. In dir brennt ein Feuer, das ich bisher nur selten gesehen habe.“ Sollte ich etwas darauf erwidern? Ich hatte das unangenehme Gefühl, dass Pegasus mir dauernd auf die Brust starrte, da wo mein Anhänger versteckt unter dem Kostüm ruhte.
 

„Ich glaube, Sie loben mich viel zu sehr. Neben Ihnen bin ich ein kleines Lichtlein am Firmament.“ Der Grauhaarige nippte an seiner Tasse Tee, und blendete die Paparazzi wohl exzellent aus. Jedenfalls schienen ihn die dauernden Fragen und Blitzlichter nicht sonderlich zu stören. „Ich glaube, du hast heute nicht dein ganzes Potential ausschöpfen können. Meine Eliminatoren sind zwar gut, aber nicht Weltklasse. Ich frage mich, was sonst noch in deinem Deck lauern könnte.“ Sein Blick wanderte zu meiner Brusttasche, wo ich mein Deck hingesteckt hatte. Gerade, als er etwas sagen wollte, belagerten ihn zig Leute, und er war gezwungen, seinen stechenden Blick endlich von mir abzuwenden. Ich atmete erleichtert aus und schaufelte rasch mein Frühstück in mich hinein.
 

Der Zauber war nach einer guten halben Stunde vorbei, und wir wurden auf unsere Zimmer entlassen. Pegasus lud uns zwar ein, ihm beim Mittagessen Gesellschaft zu leisten, was wir einstimmig ablehnten: Das Frühstück sei zu spät gewesen. Im Zimmer angekommen, ließ ich mich erschöpft aufs Bett fallen. Mokuba war mit seinem Bruder gegangen, und so hatte ich ein wenig Zeit für mich allein. Müde streckte ich mich nach meinem Handy auf dem Nachttisch aus. Ein Blick auf das Display zeigte über hundert neue Nachrichten und mehrere verpasste Anrufe.
 

Meist handelte es sich um Glückwünsche von meinen Freunden, sowohl von zuhause, als auch aus Japan. Vor allem Yugi lobte meine Idee mit dem Zerstören des Labyrinths sehr, gab mir aber den Ratschlag, in Zukunft meine Deckung nicht zu sehr zu vernachlässigen. Pegasus sei nämlich ein exzellenter Duellant, der jeden Fehler gnadenlos ausnutzte. Auch Tristan, Duke, Bakura und Tea hatten mir geschrieben. Also hatte Pegasus nicht gelogen: Das Duell war übertragen worden.
 

Die Anrufe waren allesamt von Joey gewesen, in einem Abstand von gut zwei Minuten. War das gut oder schlecht? Ich zögerte: Was, wenn Serenity nicht angekommen war, oder er sauer war, weil sie bei Kaiba in der Villa übernachten mussten? Mit klopfendem Herzen wischte ich auf dem Display nach rechts, und wollte gerade anrufen, als ich innehielt. Ein Videoanruf von Joey. Zögernd nahm ich das Gespräch an.
 

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich das Bild einigermaßen verfestigte. Ein strahlender Joey grinste mir entgegen, begleitet von seiner Schwester, die noch weit glücklicher schien, als er. Mir fiel auf, dass sowohl Serenity, als auch Joey, das gleiche Lächeln teilten. „Hey Schatz“, sagte ich leise und hob die Mundwinkel. „Du bist ja total wahnsinnig“, grinste Joey und berührte mit seiner Nase fast das Display seines Handys. „Bin ich das?“, fragte ich matt. Er nickte nur eifrig, und wurde sogleich von seiner Schwester weggedrängt. „Du warst einsame Spitze. Joey hat die Popcornschüssel bei eurem Sieg vor lauter Freude über den Haufen getreten.“ Ich musste bei Serenitys Worten schmunzeln: Das hörte sich eindeutig nach Joey an.
 

„Bist du gut angekommen, Serenity?“, erkundigte ich mich. Sie nickte lächelnd: „Ja. Der Flug war schön. Die Überraschung ist geglückt, wobei…lass dir das mal von Joey selber erzählen.“ Ich zog die Augenbrauen in die Höhe, und beobachtete, wie vor dem Handy wieder getauscht wurde. „Warum hast du nichts gesagt?“, fragte mich mein Freund vorwurfsvoll. Den Kopf geschrägt, verengte ich meinen Blick ein wenig: „Was gesagt?“ Der Blonde fuchtelte mit der Hand herum: „Dass ich abgeholt werde? Gestern stand eine Limousine vor der Haustür, und ein Kasten von Kerl hat gemeint, ich solle mitkommen.“ Ich rollte mit den Augen: Kaibas Personal war auch nicht unbedingt vertrauenserweckend. „Ähm, ja…“, antwortete ich, und rieb mir verlegen den Nacken. „Freust du dich wenigstens?“
 

Joey tippte sich an die Stirn und lachte dann glockenhell: „Natürlich.“ Erleichtert atmete ich aus und rang mich zu einem Grinsen durch. „Wie geht es dir?“ Ich zuckte mit den Schultern: „Naja, ich bin ein wenig geschafft, glaubs mir. Ich dachte fast, ich hätte es verbockt.“ Mein Freund schüttelte heftig den Kopf: „Die Idee war genial. Yugi und ich sind damals nicht draufgekommen, einfach das Labyrinth selbst anzugreifen.“ Naja, eigentlich hatte ich diese „Idee“, eben Yugi und Joey zu verdanken. „Mir fehlte aber deine Copycat-Karte. Hast du eigentlich schon dein Geschenk aufgemacht?“

Joey schüttelte den Kopf: „Nein, erst heute Abend, gemeinsam mit dem von Serenity und den anderen.“ Serenity drängte sich wieder ins Bild: „Wenn du zurückkommst, musst du deine aber auch aufmachen.“ Meine Geschenke? Ich schrägte den Kopf. „Ich, meine, also, außer dem von Joey…“, stotterte ich, und errötete dabei leicht. „David ist fast so wie du, Joey, wenn du nicht weiterweißt.“ Lachend wurde Serenity auf ein Bett gedrückt, und das Smartphone polterte zu Boden. Sekunden später war die Verbindung weg.
 

„Wheeler ist also zufrieden?“ Kaibas Stimme ließ mich schlagartig aufschauen. Er trug inzwischen wieder seinen üblichen weißen Mantel, samt zugehörigen Accessoires. „Hast du mich etwa belauscht?“, fauchte ich. Der CEO schrägte seien Kopf ein wenig: „Vielleicht?“ Am liebsten hätte ich ihm in diesem Moment einige äußerst unpassende Bemerkungen an den Kopf werfen. „Privatsphäre“, murmelte ich, und legte das Handy beiseite. Mein Blick fiel dabei auf Kaibas Weihnachtsgeschenk. Missmutig griff ich danach und hielt es dem Braunhaarigen entgegen. Dieser starrte mich fragend an. „Dein Weihnachtsgeschenk“, sagte ich leise. Wir verharrten so eine ganze Weile, bis er mir die Karte aus der Hand nahm und in seinen Mantel steckte. Irgendetwas schien ihm nicht zu passen; jedenfalls wandte er sich ab, und machte Mokuba Platz, der sich auf mich warf und weiterdrangsalierte.
 

Wir verbrachten den Rest des Tages zu zweit im Zimmer. Kaiba ließ sich auch weiterhin nicht blicken, was Mokuba als normal abtat. Uns wurde das Abendessen aufs Zimmer gebracht. Nach einer ausgiebigen Session eines Beat em ups (Ja, auch an sowas hatte Pegasus gedacht), machten wir uns bettfertig. Seltsamerweise war ich vor morgen weniger nervös, als heute. Vielleicht, weil es einfach keine Schande war, gegen Pegasus zu verlieren. Wir quatschten noch eine Weile, und schliefen dann langsam aber sicher ein, wobei sich der Zwerg wieder an mich klammerte, als würde er ertrinken.

Ein unwiderstehliches Angebot

Um Punkt acht Uhr klingelte der Wecker. Ich drehte mich im Halbschlaf herum, und griff murrend nach meinem schrillenden Smartphone. Das Duell zwischen Pegasus und uns sollte erst am Mittag stattfinden. Wir hatten also noch genügend Zeit, uns frisch zu machen, zu frühstücken und die erwartete Taktik, sofern Kaiba so etwas überhaupt kannte, noch einmal durchzugehen. Mokuba hatte sich an meinem Shirt festgekrallt, was die Aktion „Wecker ausschalten“, nicht gerade erleichterte.

„Leg dir mal einen sanfteren Weckton zu“, murrte der Kleine und rieb sich die Augen, während ich uns endlich von dem Gebimmel befreite. „Das ist der Sinn dahinter, dass Schlafmützen wie du auch aufstehen“, grinste ich, und stupste ihm gegen die Nase. Sofort wurde ich mit einem Kissen konfrontiert, welches man mir um die Rübe zog. Lachend versuchte ich, mich mit den Händen vor der nächsten Attacke zu schützen. So ein Verhalten passte zum dem Mokuba vom Essen von gestern überhaupt nicht. Kein Geschäftsmann, keine Höflichkeitsfloskeln, Manieren oder sonst etwas: Er war ein ganz normaler Teenager, der sich an den einfachen Dingen des Lebens erfreute.
 

Nachdem ich nach allen Regeln der Kunst vermöbelt worden bin, huschte ich ins Bad und machte mich, nach einer ausgiebigen Dusche, frisch. Für das Duell gegen Pegasus wollte ich das Kostüm nicht unbedingt tragen, auch nicht einen Smoking: Ich wollte einfach nur ich sein, David, mit dem weißen Kapuzenpulli, der schwarzen Hose und den Sneakers.
 

Mokuba ging gleich nach mir ins Bad. Ich überprüfte inzwischen meine Nachrichten, wobei mir jeder noch einmal alles Gute für heute wünschte; Joey ließ kein Wort über sein Geschenk fallen. Ich starrte gedankenverloren aufs Handy, als es an der Tür klopfte. Schlagartig wanderte mein Blick zu dieser. Kaiba hatte sonst nie angeklopft. Den konnte ich also schon einmal ausschließen.
 

Als ich die Tür öffnete, verneigte sich Croquet vor mir. „Guten Morgen, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?“ Argwöhnisch betrachtete ich den Mann mit Schnauzer; deswegen war er sicher nicht gekommen. „Ja?“, antwortete ich vorsichtig, was Pegasus´ rechter Hand ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. „Höchst erfreulich. Pegasus möchte Sie und Seto Kaiba alsbald sprechen. Es geht um das Duell von heute.“ Wollte er das? Mir drehte sich der Magen um. „Warum?“ Croquet schüttelte den Kopf: „Das weiß ich nicht.“ Ich nickte leicht: „Sagen Sie ihm, ich komme in zehn Minuten.“ Der Mann verneigte sich wieder und verschwand dann im Flur. Seufzend knallte ich die Türe hinter mir zu.
 

„Was ist los?“, fragte mich Mokuba, der mit nassen Haaren und einem Handtuch um die Hüften aus dem Badezimmer lugte. „Pegasus will mit deinem Bruder und mir wegen dem Duell sprechen.“ Die Miene des Schwarzhaarigen verfinsterte sich augenblicklich: „Ist gut, ich bin gleich fertig.“ Auch wenn er ein freundliches Äußeres besitzen mochte: Maximilien Pegasus war ein äußerst unangenehmer Zeitgenosse.
 

Nachdem Mokuba fertig war, holte man uns ab: Vom großen Kaiba keine Spur. Wir wurden von einem von Pegasus´ zahlreichen Angestellten in den großen Raum gebracht, in dem wir das letzte Mal bereits gefrühstückt hatten. Unser Gastgeber saß bereits an der üppig gedeckten Tafel: Von anderen Leuten keine Spur. „Ah ja, David und Mokuba. Wie schön euch zu sehen“, lächelte der Grauhaarige und bedeutete uns, neben ihm Platz zu nehmen. „Wo ist mein Bruder?“, fauchte Mokuba und verschränkte die Arme vor der Brust, was Pegasus nur zu einem hellen Lachen bewegte. „Er braucht noch ein paar Minuten, das ist alles. Kommt, setzt euch und esst. Ich hoffe, ihr habt einen Bärenhunger“, schmunzelte er und bestrich sich ein Stück Weißbrot mit etwas, das ich als Kaviar identifizierte.
 

Ich setzte mich neben Pegasus, wobei Mokuba nicht den Platz links von ihm, sondern den neben mir, belegte. Allmählich ging mir diese ganze Scharade gehörig auf den Senkel. Es lag eine unangenehme Spannung in der Luft, und keiner wollte mir irgendwie erklären, woher dieses angespannte Verhältnis zwischen Pegasus und den Kaibabrüdern herrührte. Ich griff nach einer Scheibe Vollkorntoast und bestrich sie mit Butter, während Mokuba schweigend auf die Tischplatte starrte. „Nun, David, wie hast du geschlafen?“, fragte mich der CEO von Industrial Illusions und nippte an seinem Tee. „Danke, Ihre Vorkehrungen waren exquisit“, entgegnete ich, und biss von meinem Toast ab. Mein Gesprächspartner lächelte nur und stellte seine Tasse ab. „Mokuba, du solltest vielleicht auch etwas essen“, schmunzelte Pegasus amüsiert. „Es ist nicht vergiftet“, fügte er lachend an.
 

Ich fand Pegasus´ Humor ein wenig makaber. Der kleinere Kaiba hatte jedenfalls auf stur geschaltet, und wirkte dabei wie ein kleines, schmollendes Kind, das seinen Willen nicht bekam. „Dürfte ich erfahren, was hier los ist?“, fragte ich dezent gereizt in Richtung von Pegasus. „Er will wieder eines seiner Spielchen spielen“, kam es von einer der unzähligen Türen des Raumes. Kaiba stand, erhaben wie eh und je, in seinem weißen Mantel, im Raum, die Arme vor der Brust verschränkt. Mokubas Gesicht hellte sich auf, als er seinen Bruder erblickte.
 

„Spielchen? Aber nein Kaiba, eher ein Angebot“, entgegnete Pegasus vergnügt. Er schob seine Finger ineinander und stützte seine Ellenbogen an den Lehnen seines Stuhls ab. „Ich nehme an, du wirst dich nicht setzen?“, fragte er nach und grinste amüsiert. „Wozu?“, entgegnete Kaiba missmutig. „Wir reisen ab, du hältst dich nicht an Vereinbarungen.“ Tat er das nicht? Mein Blick wanderte zwischen Pegasus und Kaiba hin und her, die sich ein stummes Duell lieferten. Der Braunhaarige starrte seinem vergnügten Kontrahenten kalt entgegen.
 

„Natürlich halte ich mich an Vereinbarungen. Ich möchte nur den Gewinn ein wenig attraktiver gestalten.“ Pegasus nippte erneut an seinem Tee und überschlug die Beine dabei. „Du hast nichts, was mich interessieren könnte“, antwortete der CEO der Kaiba Corp. Sein Gesprächspartner bewegte nur mahnend den Zeigefinger hin und her: „Nicht einmal einen weiteren deiner heißgeliebten Drachen?“ Schlagartig veränderte sich Kaibas Haltung ein wenig. Man konnte ihm die Anspannung direkt ansehen: „Du bluffst.“ Pegasus lachte und warf dabei den Kopf in den Nacken: „Du solltest mich besser kennen, Kaibaboy.“ Um seine Worte zu unterstreichen, klopfte unser Gastgeber an seine rechte Brust: „Gut verwahrt, in meiner Obhut. Karten kann man auch nacharbeiten lassen, Kaiba, weißt du?“
 

Wenn Blicke töten könnten, dann wäre Pegasus in diesem Moment wohl tot umgefallen. Ich hatte Kaiba noch nie so gesehen. Er mochte zwar ein Snob sein, der einen spüren ließ, wie sehr man ihm unterlegen war, aber er geriet normalerweise nie aus der Fassung. Hier schien er mit sich selbst zu ringen. „Und was willst du dafür?“, fragte er ruhig nach. sein Blick strafte ihn aber Lügen. „Zwei Bedingungen“, entgegnete Pegasus, und hob seine rechte Hand, mit der er Zeige- und Mittelfinger ausstreckte. „Erstens, werden wir um etwas mit Gegenwert spielen, ohne Paparazzi natürlich.“ Ein inoffizielles Duell? Wozu? „Und zweitens, wird sich nur David mit mir duellieren.“
 

„Nein!“, brüllte Mokuba und sprang so heftig auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte. „Unter keinen Umständen!“ Pegasus amüsierte sich köstlich über seine Reaktion: „Hast du dich an noch jemanden gebunden? Jemanden, der nicht so kaltherzig ist, wie dein Bruder?" Der Schwarzhaarige funkelte Pegasus zornig an. „Glaubst du mir nicht?“, hakte dieser nach und deutete lächelnd zum großen Kaiba. „Was ist der Gegenwert?“, wollte der Braunhaarige wissen, während sich Mokubas Augen vor Schreck weiteten. „Du erwägst doch nicht ernsthaft, darauf einzugehen?“, fragte er mit einem entsetzen Unterton. „Der Milleniumsring“, antwortete Pegasus ruhig.
 

Woher wusste er von meinem Milleniumsring? Warum war Mokuba so erbost über die Forderungen? Mir reichte es jedenfalls. „Könnte nun endlich jemand die Güte besitzen, mich aufzuklären? Mal abgesehen davon, dass ohne meine Zustimmung sowieso kein Duell zustande kommt.“ Das wäre ja noch schöner gewesen, mein Eigentum aufs Spiel zu setzen, nur, weil Kaiba meinte, er könne über mich verfügen, wie über seine Angestellten. „Wir nehmen an“, war Kaibas Antwort. Sowohl Mokuba, als auch ich, starrten den CEO an, als hätte er komplett den Verstand verloren. „Wir nehmen überhaupt nichts an“, schnaubte ich wutentbrannt, während mir die Zornesröte ins Gesicht stieg.
 

Wütend warf ich den angebissenen Toast auf den Teller. „Ich bin weder eine deiner Angestellten, die du herumkommandieren kannst, noch sonst irgendeiner deiner Speichellecker, die unbedingt einen Vertrag mit dir abschließen wollen“, brauste ich auf. Mich störte einfach Kaibas Verhalten, und nicht einmal, weil er meinte, über mich bestimmen zu können: Etwas versetzte Mokuba in fast schon panische Angst, was sein Bruder geflissentlich zu ignorieren schien. „Kriegst du eigentlich noch was mit, Kaiba?“, fuhr ich zeternd fort, was den CEO nicht einmal dazu bewegte, irgendeine Form von Reaktion zu zeigen. „Das ist genau so eine Aktion, wie damals. Erinnerst du dich noch an unser Gespräch vor der Schule?“ Wieder keine Antwort. Ich blendete alles aus, Mokuba, Pegasus, die Tatsache, dass wir nicht in einer vertrauten Umgebung waren. „Was ist nur in deinem Leben schiefgelaufen, dass du nicht einmal mitbekommst, wenn dein kleiner Bruder sich gegen irgendetwas sträubt. Kapierst du nicht, dass er vor irgendetwas Angst hat?“
 

„Ich denke, wir kürzen das Gespräch ein wenig ab“, mischte sich Pegasus ein und biss von seinem Weißbrot ab, nur um sich danach mit einer Seidenserviette den Mund abzutupfen. „Ich bin, wie es der Zufall so will, Förderer einiger Mediziner, die ein neuartiges Verfahren zur Bekämpfung der Folgen von Schlaganfällen entwickelt haben. Die Heilungschancen sind dementsprechend hoch.“ Meine Finger krallten sich in die Tischdecke. „Woher wissen Sie davon?“, fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Ich hatte immer mehr das Gefühl, eine Figur in einem Schachspiel zu sein. Gerade wusste ich nur nicht, zu welchem Spieler ich gehörte. „Nennen wir es Verbindungen“, entgegnete Pegasus amüsiert.
 

Mokuba zog an meinem Arm und schüttelte den Kopf: „Das können wir auch. Die Kaiba Corp hat genügend finanzielle Mittel, um so etwas zu bewerkstelligen.“ Ein verächtlicher Laut seitens Pegasus ließ den kleinen Mann verstummen. „So viel Zeit hat Davids Großvater aber nicht. Er ist schon alt, und sein Gesundheitszustand könnte sich verschlechtert haben.“ Schlagartig fixierte ich Pegasus: „Wie meinen Sie das?“ Der Grauhaarige schob wieder die Finger ineinander und lehnte sich im Stuhl zurück: „Nur, dass man in diesem Alter jeden Tag damit rechnen kann, dass etwas passiert. Außerdem wird Kaiba sicher nicht finanzielle Mittel aufbringen, um den Nebenbuhler um die Gunst seines Bruders zu unterstützen.“
 

Kaiba reagierte auf diesen Vorwurf nicht. „Das ist nicht wahr!“, rief Mokuba und schüttelte heftig den Kopf. „Oh doch, ist es, Mokuba. Dein großer Bruder hat, außer an dir, und seinem Rivalen Yugi, kein Interesse an der restlichen Menschheit. David ist ihm genauso egal, wie es Joey ist, und alle deine anderen Freunde. Eigentlich ist er ihm sogar ein Dorn im Auge.“ Mein Blick wanderte zu Kaiba, der nur den Kopf schüttelte: „Bist du endlich fertig?“ Pegasus richtete sich in seinem Stuhl ein wenig auf: „Ah ja, da ist sie wieder, die rasende Eifersucht. Du musst dich beherrschen, weil du Mokuba sonst verlieren könntest, aber insgeheim hoffst du doch, dass David verliert, dass dein Bruder mit seinen Problemen zu dir kommt. Du verstehst nicht, was er an einem bestenfalls durchschnittlichen Schüler findet. Warum alle ihn sofort ins Herz geschlossen haben. Was er hat, was du nicht hast. Am Geld kann es nicht liegen.“

Mir wurde schwindelig. Ich hatte Mühe, nicht vornüberzukippen. Der ganze Raum drehte sich. Das alles war zu viel, viel zu viel für den Moment. Pegasus wusste über alles Bescheid. Die Tatsache, dass Kaiba nichts entgegnete, war ein Zeichen dafür, dass er Recht hatte. Ich konnte noch gedämpft Mokubas wütendes Schimpfen hören, während ich die drohende Schwärze mit aller Macht zu bekämpfen versuchte. „Ich übernehme jetzt“, sagte eine sanfte Stimme in meinem Kopf. „Lass dich fallen, David, vertrau mir.“ Ich wurde müde, entsetzlich müde. Langsam fielen mir die Augen zu, und an meiner Brust konnte ich ein heißes Glühen spüren. Es durfte jemand anderer übernehmen, jemand, dem ich ebenso blind vertrauen konnte wie Joey.
 

Als ich die Augen wieder öffnete, konnte ich mich selbst sehen, fast wie ein Geist. Eine transzendentale Erfahrung, wie ich sie schon einmal erlebt hatte. Meine Züge wirkten irgendwie kantiger, strenger. Das vormals dunkelblonde Haar hatte einen starken Braunton angenommen, und ich hätte schwören können, dass mein Teint dunkler geworden ist. Meine Haltung strahlte Selbstsicherheit und Stolz aus, und stand dabei der von Kaiba in Nichts nach.
 

„Sie möchten sich also um meinen Milleniumsgegenstand duellieren?“, fragte ich und sah Pegasus dabei fest entgegen. „Der Gegenwert besteht in einem Weißen Drachen und der Behandlung für meinen Großvater?“, fuhr ich fort. „Nun, du darfst dir eine Karte deiner Wahl aussuchen, unter anderem den Weißen Drachen“, antwortete Pegasus und nickte leicht. „Ich will, dass sie, selbst wenn ich verliere, versprechen, dass wir abreisen können, ohne behindert zu werden.“ Der Grauhaarige schmunzelte amüsiert: „Natürlich. Ich fasse das einmal als ein Ja auf.“ Damit stand Pegasus auf, und bedeutete mir zu folgen.
 

„Geh nicht!“, schrie Mokuba, und hielt mich an der Hand zurück, als ich Pegasus folgen wollte. „Lass ihn“, sagte sein Bruder ruhig. Ich drehte mich um und zerstrubbelte dem Zwerg die Haare: „Keine Angst, ich schaffe das schon.“ Damit löste ich mich aus dem Griff des Kleinen und folgte Pegasus, der an der Tür bereits auf mich wartete. Ich konnte noch Mokuba wüten hören, der seinem Bruder die wüstesten Dinge an den Kopf warf, ehe wir mit einer Art Förderband zur Arena transportiert wurden. Schweigend betrat ich meine Seite des Spielfelds, während Pegasus mit einer Art Kran auf die entgegenliegende Seite gehoben wurde. Wir mischten beide unser Deck, zogen unsere ersten Karten und sahen uns ernst entgegen: „Duell!“, riefen wir zeitgleich.

Cartoons vs. uralte Macht

„Weißt du, David“, schmunzelte Pegasus amüsiert, während er ein Monster im Verteidigungsmodus spielte, und dazu eine weitere Karte, ebenfalls verdeckt, „ich bin fasziniert. Du hast anscheinend den wilden Seto Kaiba gezähmt.“ Das war alles Taktik. Er wollte mich zweifelsohne ablenken. Ich studierte mein Blatt, und versuchte, die Worte des älteren Mannes einfach auszublenden. „Mokuba hängt an dir, Yugi und seine Freunde haben dich in ihren Kreis aufgenommen – was möchte man mehr?“

Was hatte dieser Mann eigentlich vor? Warum war er so an meinem Milleniumsring interessiert?
 

Ich spielte den Felsenkrieger im Verteidigungsmodus, und legte außerdem noch die Fallenkarte „Macht des Spiegels“, als zusätzlichen Schutz ab. „Wie? Gar kein Angriff? Kaiba hätte mich schon längst attackiert“, kicherte Pegasus amüsiert, und zog seine nächste Karte. „Denkst du, defensiv zu spielen, wird dir den Sieg bringen?“ Natürlich dachte ich das nicht, aber mir war bewusst, dass Pegasus nur auf einen Fehler lauerte. Wäre Mahad es nicht gewesen, der gerade für mich spielte, ich wäre wahrscheinlich unter der Anspannung zusammengeklappt. „So schweigsam? Vorhin bist du durchaus mehr aus dir herausgegangen.“ Pegasus legte eine zweite Karte verdeckt aufs Feld und beendete erneut seinen Zug.
 

Er wollte, dass ich unbedingt angriff. Sollte ich ihm diesen Gefallen tun? Vielleicht reichte es aber auch einfach aus, mich mit einem guten Monster als Abschreckung abzusichern? Mein Blick fiel auf meinen Schwarzen Rotaugendrachen. Der sollte genügen. Ich wollte ihn gerade beschwören, als Pegasus theatralisch „Stopp!“ rief. „Moment! Du hast meine Falle aktiviert!“ Welche Falle? Ich hatte meine Karte noch nicht einmal ausgespielt. „Die Karte nennt sich Weissagung – ich darf damit raten, ob die Angriffspunkte deines Monsters über, oder unter 2.000 liegen. Rate ich richtig, gehört dein Monster mir.“ Woher wusste er überhaupt, dass ich ein Monster spielen würde? „Die Angriffspunkte deines Monsters liegen deutlich über 2.000, oder?“, gluckste Pegasus.
 

Was hatte dieser Mensch nur für ein Glück? Ich ließ es mir nicht anmerken, aber als ich ihm mein Rotauge zeigte, rutschte mir das Herz ein wenig in die Hose. „Tatsächlich! Der seltene Schwarze Rotaugendrache, der jetzt sogar in mein Team kommt“, lachte der Grauhaarige überdreht und bedeutete mir, die Karte auf das Eingabefeld zu legen. Gesagt, getan. Die Fläche drehte sich einmal um sich selbst, und Pegasus erhielt, wie auch immer, die Karte auf seiner Seite.
 

„Nun denke ich, dass es an der Zeit ist, dass ich dich in eine Welt entführe, so grausam wie spaßig. Mein lieber David, magst du Cartoons?“ Was war das für eine Frage? „Was hat das mit unserem Duell zu tun?“, schnaubte ich ungehalten. Der CEO von Industrial Illusions seufzte gespielt: „In dem Punkt bist du wie Kaiba: Fixiert auf die eine Sache.“ Er hob den Kopf ein wenig verträumt an und lächelte wehmütig: „Weißt du, in meiner Jugend habe ich Cartoons geliebt. Der tollpatschige Wachhund, der den bösen Hasen-Ganoven verfolgte, einfach köstlich. Funny Bunny hat mir meiner Kindheit viel Freude bereitet.“ Warum erzählte er mir das?
 

„Na, weil das mein nächster Zug ist, mein lieber David“, schnaubte Pegasus amüsiert und legte eine Zauberkarte aufs Feld. Hatte er gerade meine eigene, gedankliche Frage beantwortet? „Bestaune die wunderbare Toon World!“, rief er entzückt. Tatsächlich, ein Buch, mit grünem Einband, erschien aus einer zeichentrickartigen Rauchfontäne. Als es aufklappte, lugte eine schlecht gezeichnete Stadt hervor. „Cartoons sind einfach einzigartig, beinahe eine eigene Welt.“ Pegasus´ Lächeln veränderte sich zu einem bösen Grinsen. „Die Toon World beschützt sämtliche meiner Monster mit ihrem undurchdringlichen Einband. Mehr noch – sie werden selbst zu Cartoons.“ Bitte was hatte er da gesagt?
 

„Ich werde es dir einmal demonstrieren“, fügte Pegasus an und spielte meinen Rotaugendrachen. Dieser materialisierte sich, erhaben wie eh und je, auf dem Spielfeld. Kreischend peitschte er mit dem Schwanz, als ihn und das verdeckte Monster eine pfirsichfarbene Rauchsäule in die Toon World zog. Sekunden später sprangen sowohl mein Rotauge, als auch ein Ryu-Ran aus dem Buch, die deutlich anders wirkten, als ich sie kannte.
 

„Die allerhabene Macht eines Toons“, lachte Pegasus. „Nichts kann diese Monster aufhalten.“ Damit bedeutete er meinem Rotauge, mein verdecktes Monster anzugreifen. Der kleine Cartoon-Drache öffnete sein Maul irre kichernd, nur um einen roten Energieball zu speien. „Ich aktiviere…“, begann ich, und Pegasus schüttelte den Kopf: „Du aktivierst gar nichts. Meine Zauberkarte Fallen-Verschiebung lenkt deine Macht des Spiegels auf deinen Felsen-Krieger um. Damit geht der Angriff deines, oder besser gesagt, meines Rotaugendrachen direkt auf deine Lebenspunkte.“
 

Fassungslos bedeckte ich die Augen mit meinem rechten Ärmel. Woher hatte Pegasus sowohl von meiner Falle, als auch von meiner Monsterkarte gewusst? Ich hatte meinen Felsen-Krieger nicht aufgedeckt. Das konnte kein Zufall sein. „Ist es auch nicht,“, sagte Pegasus und legte seinen rechten Arm hinter den Rücken. „Nichts in deinem Deck bleibt mir verborgen, genauso wie in deiner Seele.“ Meiner Seele? Er hatte schon wieder eine meiner rhetorischen, unausgesprochenen Fragen beantwortet.
 

„Ich besitze genauso einen Milleniumsgegenstand wie du.“ Was? „Ja, mein Auge ermöglicht es mir, in die Seele meiner Gegner zu blicken, mehr noch: Ich kann jeden deiner Gedanken lesen.“ Konnte er das wirklich? „Du hältst zwei Teile der Exodia in der Hand, genauso wie den Schwarzen Magier, eine sehr interessante Version übrigens, und die Lichtschwerter.“ Das war unmöglich. Fassungslos starrte ich auf mein Blatt: Er hatte Recht. „Das ist Betrug!“, rief ich, was Pegasus nur lapidar mit einer Handbewegung abtat. „Du betrügst doch auch. Du besitzt genauso einen Milleniumsgegenstand.“
 

„Kann er das wirklich?“, fragte ich Mahad. Dieser nickte unmerklich in der Realität. Dann waren wir verloren. „Das bist du wirklich“, schmunzelte Pegasus. „Schon bald wird dein Milleniumsring mir gehören.“ Ich schrie innerlich auf. Wie sollte ich bitte einen Gegner besiegen, der jeden meiner Züge im Voraus kannte? „Beruhige dich, wir finden einen Weg“, ermahnte mich Mahad. „Dann müssen wir zum Angriff übergehen, Mahad.“
 

Ich spielte meinen Schwarzen Magier. Wenn ich die Toon Monster schon nicht abwehren konnte, dann vielleicht wenigstens zerstören. „Schwarzer Magier, Angriff mit Schwarzer Magieattacke auf das Toon Rotauge“, befahl ich meinem Monster. Folgsam hob er den Stab in die Höhe und formte die schwarze Blitzkugel, die direkt auf die gegnerische Kreatur zurauschte. Das Rotauge kicherte nur, und hielt ein Stoppschild in die Höhe, während der Angriff einfach zur Seite gelenkt wurde.
 

„Erinnerst du dich an die alten Cartoons? Der gute Arm des Gesetzes konnte beispielsweise Funny Bunny in 3013 Folgen nicht ein Haar krümmen. So verhält es sich auch mit meinen Toons.“ Das war unmöglich. Mein Schwarzer Magier war stärker als das Rotauge, und hatte es nicht zerstören können. Meine Verzweiflung wuchs innerlich.
 

„Nun denn, ich denke, es ist an der Zeit, deinen Magier auf den Friedhof zu verfrachten. Ich spiele die Karte Megawandler und verpasse deinem Rotaugendrachen 200 Angriffspunkte zusätzlich. Angriff, mein geliebter Toon.“ Mein Schwarzer Magier wurde vom Feuerball des Toon Rotaugendrachen zerstört. „Und ich setze noch einmal nach – Ryu-Ran, direkter Angriff auf Davids Lebenspunkte.“ Der kichernde Manga Ryu-Ran schnaubte und blies dabei aus seinen überdimensionalen Nüstern eine Feuerfontäne, die meine Lebenspunkte auf 1.700 zusammenschmelzen ließ. Ich hatte innerhalb von einer Runde über die Hälfte meiner Lebenspunkte verloren.
 

„Jaja, das Leben kann manchmal so grausam sein“, amüsierte sich Pegasus über meine Verzweiflung. Auch Mahad bemerkte allmählich, wie aussichtslos die Lage war. Zitternd griff er nach der nächsten Karte. Ein weiterer Teil der Exodia. Vielleicht konnte ich Pegasus lange genug mit Verteidigung und Zauberkarten in Schach halten, bis ich alle fünf Teile beisammenhatte? „Ein gewagter Plan“, kicherte er nur, als ich die Lichtschwerter aufs Feld legte. Zumindest für die nächsten drei Runden war ich gerettet.
 

Pegasus zog seine nächste Karte und wirkte hocherfreut. „Ah, sie mal an – kennst du den Doppelgänger?“ Ich wollte ihn ehrlich gesagt gar nicht kennenlernen. „Dieser nette Zeitgenosse kann sich in jede Karte auf dem Spielfeld oder dem Friedhof verwandeln. Rate mal, wen er heute ausgewählt hat?“ Mir wurde schlecht, als ich sah, wie auch mein Schwarzer Magier ein Cartoonmonster wurde. Schweigend zog ich meine nächste Karte, eine Fallenkarte – der Bannkreis. Er war sicher nutzlos, wenn ich so an Pegasus´ Strategien bisher dachte. Angespannt starrte ich auf mein Blatt. Ich brauchte dringend eine Verteidigung, und zwar schnell. Es war riskant, aber ich hatte keine Wahl: Das linke Bein der Exodia im Verteidigungsmodus schützte meine Lebenspunkte.
 

„Sehr verwegen David, wirklich. Ich passe.“ Meine nächste Karte war der Kopf der Exodia. Ich brauchte aber dringend eine starke Monsterkarte, um mir Zeit zu verschaffen. Wenn Pegasus mehr als einen Teil auslöschte, war ich verloren. Wieder passte der CEO von Industrial Illusions, und ich zog meine nächste Karte. Tatsächlich! Der rechte Arm der Exodia. Ich hatte nun Kopf, beide Arme und das linke Bein. Eine Karte noch, und ich würde Pegasus in die Knie zwingen. Der schien aber unbeeindruckt. Er wartete erneut ab.
 

Mit schlagendem Herzen griff ich nach der nächsten Karte. Eine Fusionskarte – wieder nutzlos. Schweren Herzens legte ich den Kopf der Exodia im Verteidigungsmodus aufs Feld. Einen Zug hatte ich noch. Ein Zug, von dem alles abhing. „Oh, diese Spannung“, kicherte Pegasus und passte erneut. Meinen letzten Zug konnte ich fast nicht mehr machen. Meine Finger zitterten so stark, dass ich Mühe hatte, sie auf mein Deck zu legen. Ich zog die Karte und hielt den Atem an: Garoozis. Mein Glück hatte mich also verlassen. Damit war meine Taktik nicht aufgegangen.
 

Kraftlos stützte ich mich auf dem Spielfeld ab und begann zu weinen. Die Lichtschwerter verschwanden langsam. Ich hatte verloren. Nichts in meinem Deck, konnte diese Monster aufhalten. Selbst wenn, Pegasus würde irgendeine Lücke finden, um mich wieder auszubooten. Ich würde einen engen Begleiter verlieren, und außerdem schwer enttäuschte Freunde vorfinden. Kaiba hatte ich außerdem um seinen Weißen Drachen gebracht.
 

„Aber, aber“, lachte Pegasus, „noch ist es nicht vorbei. Vielleicht passiert ja noch ein Wunder?“ Der Spott in seiner Stimme war unüberhörbar. Ich hatte gut Lust, die Karten einfach hinzuschmeißen und davonzulaufen. „Wenn wir aufgeben, haben wir verloren“, echote Mahads sanfte Stimme in meinem Kopf. „Das haben wir doch sowieso“, schluchzte ich. „Mit dieser Einstellung schon“, entgegnete mein früheres Ich. „Aber, wenn wir verlieren, dann, dann verliere ich doch dich auch.“ Der alte Geist lächelte aufmunternd: „Dann haben wir uns eben nur für eine kurze, aber schöne Zeit gesehen, oder?“ Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Nase. Ich hing irgendwie an dem Geist, es war vieles so einfach geworden, durch ihn. „Selbst, wenn wir verlieren, du hast dein Bestes gegeben. Das zählt für alle, auch für mich.“ Er hatte leicht reden: Er war die Dunkelheit gewöhnt. Ich schämte mich in dem Moment, in dem ich diesen Gedanken gefasst hatte, bereits dafür. Nein, er war es nicht gewohnt, er wollte auch bei mir bleiben, das spürte ich. Wenn ich schon nicht gewinnen konnte, dann wollte ich wenigstens um Mahad kämpfen, um mein früheres Leben, um einen meiner engsten Freunde.
 

Der Milleniumsring glühte, und wir wechselten. Ich stand gegenüber von Pegasus, meine Finger in die Abdeckung der Arena gekrallt. Meine Nägel schrammten über das Plastik und ich atmete tief durch. Nein, ich wollte nicht aufgeben. Yugi hatte Pegasus einst besiegt, und das konnte ich auch. Ganz sicher sogar. Ich zog meine Nase geräuschvoll nach oben und wischte mir mit dem Ärmel meines Pullis die letzten Tränen weg, ehe ich den linken Arm der Exodia im Verteidigungsmodus spielte. Zumindest Zeit konnten mir die Teile noch verschaffen.
 

„Ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen“, kommentierte Pegasus mein Verhalten, und pulverisierte mit seinen drei Monstern meine Verteidigung. Schweigend zog ich die nächste Karte: Das letzte Teil der Exodia – eine ganze Runde zu spät. Ich legte den rechten Arm in Verteidigungsposition aufs Feld und erwartete den Gnadenstoß. Pegasus kicherte etwas von „Ironie“, und zerstörte auch diese Karte mühelos. „Da du dich so bemüht hast, will ich einmal nicht so sein“, grinste der Grauhaarige hochmütig und beendete seinen Zug.
 

„Worauf warten Sie noch?“, fragte ich, und legte das letzte Teil der Exodia aufs Feld. „Ich möchte ein besonderes Monster kreieren, welches dir den Gnadenstoß verpasst“, schmunzelte der CEO von Industrial Illusions, und zog seine nächste Karte. „Ah ja, da ist er ja – der Einäugige Illusionist.“ Pegasus beschwor ein Monster, das ein Milleniumsauge besaß. Seine Toons kicherten, als auch mein letztes Exodia-Teil zerstört wurde. Er wollte mich also bloßstellen.
 

Meine nächste Karte, zierte ein fast unbekanntes Cover. Ich hatte eigentlich auf den Kettenbumerang gehofft, um Garoozis zu verstärken, aber stattdessen fand ich eine Zauberkarte vor. Pegasus´ Lachen erstarb gänzlich. „Vertrag mit Exodia“ konnte ich lesen. Herrn Mutos Geschenk an mich. „Selbst, wenn Exodia am Friedhof ist, ist noch nicht alles verloren.“ Das waren seine Worte damals gewesen. Was hatte er damit gemeint?
 

„Unmöglich!“, rief Pegasus bestürzt. Er war aschfahl im Gesicht geworden. „Woher hast du diese Karte? Warum hast du nicht an sie gedacht?“ Warum hatte ich nicht daran gedacht? Ich hatte sie schlicht und einfach vergessen. Außerdem kannte ich ihre Wirkung nicht. Andererseits, was hatte ich schon zu verlieren? Sie beunruhigte meinen Gegner, das war ein gutes Zeichen. „Ich spiele die Zauberkarte „Vertrag mit Exodia“ “.
 

Der ganze Raum schien zu erbeben. Langsam erschienen die einzelnen Teile der Exodia auf dem Feld. Sie fügten sich zu dem gefürchteten Monster zusammen, deren Körper von einer Art schwarzen Krankheit befallen wurde. Ihr Aussehen veränderte sich. Sie glitzerte dunkel und atmete schwarzen Rauch aus. 1.800 Angriffspunkte hauten mich jetzt aber nicht vom Hocker. War die Karte ein Blender?
 

„Greif an“, rief mir eine vertraute Stimme zu. Ich sah nach oben und konnte Kaiba und Mokuba auf dem Balkon erkennen. Mein Monster hatte nur 1.800 Angriffspunkte? Ich würde es doch gleich wieder zerstören dabei, oder? „Er will dich in eine Falle locken, damit du unter allen Umständen verlierst“, stotterte Pegasus hastig. Mein Blick wanderte zwischen den Beiden hin und her. Ich entschied mich stattdessen für die dritte Option, die mir blieb: „Mokuba?“, rief ich. „Soll ich angreifen?“ Der Kleine nickte fest: „Mach ihn platt, großer Bruder.“
 

Mein Blick verfestigte sich wieder. Das Schicksal meinte es gut mit mir. Mokubas Worte gaben mir neuen Mut. „Ich darf nicht verlieren“, sagte ich zu mir selbst. „Los, Angriff!“ Die fremdartige Exodia hob den rechten Arm, zur Faust geballt, und zielte dabei auf den Schwarzen Magier, der zwar auswich, dessen Gegenangriff mein Monster aber auch nicht tangierte, im Gegenteil: Ich konnte, bei einem Blick aufs Spielfeld, erkennen, dass ihre Angriffspunkte um 500 gestiegen waren. Was war hier los?
 

Pegasus kramte nervös in seinen Karten herum. Ihm schien ein passender Gegenzug zu fehlen. Mir kam eine Idee. „Was, wenn ich mit einem unzerstörbaren Monster die unzerstörbare Toon World angreife?“ Nachdem Pegasus in seinem Zug nichts zustande brachte, befahl ich meiner Exodia, die Toon World anzugreifen. Der Grauhaarige schrie entsetzt auf, als sich die Finger meines Monsters um den Einband schlossen, und diesen in Stücke zerrissen. Schlagartig wurden seine Monster wieder normal. Erneut stiegen die Angriffspunkte meiner Kreatur um 500 Punkte.

„Nein, nein, nein!“, wütete Pegasus und hämmerte auf der Ablage der Arena herum. Er erinnerte mich dabei ironischerweise an eine Cartoonfigur, die schon wieder um ihre Ameise gebracht worden war. Mokuba jubelte lautstark. „Wissen Sie“, fing ich nun an und verschränkte die Arme vor der Brust: „Sie mögen zwar ein exzellenter Duellant sein, aber Sie sind viel zu hochmütig. Vor drei Runden wäre es schon möglich gewesen, mich auszuschalten.“ Ich hatte einen Trumpf in der Hand, ein Monster, das anscheinend überhaupt nicht in Pegasus´ Pläne passte. Er war verzweifelt und raufte sich die Haare.
 

„Sie kämpfen nicht mit dem Herzen“, fuhr ich fort und amtete erleichtert aus, als er erneut passte. Meine Exodia zerschmetterte seinen Ryu-Ran und hielt nun stolze 2.800 Angriffspunkte. „Ich war einmal sehr von Ihrem Namen begeistert. Sie sind der Erfinder von Duel Monsters, und müssen sich dann solcher Tricks für ein Duell bedienen?“ Die Haare des CEOs von Industrial Illusion berührten die Kartenablagefläche, als er den Kopf senkte. „Geben Sie auf, und halten Sie Ihr Wort, oder ich werde jedes einzelne Ihrer Monster vernichten. Sie können mir nichts mehr in den Weg legen.“
 

Eine Weile lang reagierte Pegasus gar nicht, bis er die Hand auf sein Deck legte, und unsere Monster verschwanden. Er hatte tatsächlich aufgegeben. „Nun denke ich, ist es an der Zeit, dass Sie Ihr Versprechen halten. Ich möchte mein Rotauge zurück, genauso wie eine weitere Karte.“ Pegasus bedeutete einem seiner Bediensteten, die aus dem Nirgendwoher strömten, mir meine Karte zu bringen. Auf einem Seidentuch gebettet, lag nun mein Rotauge, nebst dem heiß begehrten Weißen Drachen mit Eiskaltem Blick. Der Drache schien mir entgegenzubrüllen, sich gegen seinen neuen Besitzer zu wehren.
 

„Sie haben gesagt, ich darf mir jede Karte aussuchen, oder?“ Pegasus sah auf und schrägte den Kopf: „Was meinst du damit?“ Ich schüttelte mein Haupt und nahm mein Rotauge, um es in mein Deck zu mischen. „Ich will eine andere Karte.“ Fassungslos starrte mir der Grauhaarige entgegen. „Die da wäre?“ Ich tippte auf die Ablage: „Ihre Toon World.“

Das Seitenfach

Das Entsetzen des Grauhaarigen war beinahe greifbar. „Aber, aber…“ stotterte Pegasus. „Was soll ich mit einem Weißen Drachen anfangen? Er ist das Markenzeichen von Kaiba, nicht meines.“ Hatte ich zu viel verlangt? Nein, definitiv nicht. Pegasus selbst war bereit gewesen, einen hohen Preis zu zahlen. „Die Toon World ist aber mein Markenzeichen!“, rief er bestürzt, was mir nur ein müdes Lächeln abrang. „Karten kann man nachdrucken. Das haben Sie selbst gesagt“, antwortete ich matt. „Bringen Sie mir bitte die Karte auf unser Zimmer. Zwecks der Behandlung meines Großvaters: Sie haben ja meine Daten, nehme ich an? Ansonsten wird Kaiba so nett sein, sie weiterzuleiten.“ Damit drehte ich mich auf dem Absatz um und ging, mein Deck in meine Hosentasche schiebend, davon. Wohin, das war mir selbst noch nicht klar, aber ich wollte weg. Selbst wenn Pegasus nicht zu seinem Wort stand, so war es ein äußerst kräftezehrendes Duell gewesen, sowohl für Mahad, als auch für mich.
 

„Danke“, sagte ich leise und konnte die wohlige Wärme des Geistes spüren, der mir nun wieder die Kontrolle über meinen Körper überließ. „Wir haben uns gut geschlagen“, meinte er, was ich mit einem Nicken quittierte. In der Tat, unser Sieg war wirklich etwas Besonderes. Natürlich war eine gehörige Portion Glück dabei gewesen, oder hatte doch das Schicksal am Ende gesiegt? Ich wusste es nicht, und es war mir auch einerlei. Auf Kaiba hatte ich gerade auch keinen Bock: Pegasus´ Worte mochten zwar darauf abgezielt haben, mich zu verunsichern, aber an ihnen haftete auch etwas Wahres. Ich war sein Konkurrent, warum auch immer er mich als solchen sah. Mokuba als eine Art Objekt zu sehen, um dessen Gunst wir buhlten, widerstrebte mir sehr.
 

Irgendwie hatte ich es geschafft, mein Zimmer zu finden. Müde ließ ich mich aufs Bett sinken und starrte an die Decke. „Großer Bruder“, geisterten mir Mokubas Worte durch den Kopf. War es richtig, dass sich der Kleine so an mich band? Ich verlagerte meine Position ein wenig, und mein Blick fiel auf das Seitenfach meines Koffers. Joeys Geschenk! Da war etwas! Hastig rutschte ich nach vorne und öffnete den Reißverschluss. Mehrere, ordentlich gefaltete Zettel, waren in die Schleife eines rechteckigen Päckchens gesteckt worden, dessen rotes Papier das darunterliegende Geschenk vor meinen neugierigen Blicken gut schützte.
 

Vorsichtig entfernte ich die vermeintliche Nachricht und legte das Päckchen beiseite. Sorgsam entfaltete ich die Papierbögen und strich sie glatt. Joeys krakelige Schrift zierte die einzelnen Blätter, und ich begann, voller Neugierde, zu lesen:
 

Lieber Schatz,

wenn du das hier liest, wirst du das Duell mit Pegasus wahrscheinlich bereits hinter dir haben. Ich bin mir sicher, dass du dich gut geschlagen hast. Ich erinnere mich noch zurück, als ich damals im Königreich der Duellanten gegen Yugi kämpfen musste. Es war schwer, aber nicht unmöglich gewesen. So wird es auch dir ergehen, wobei das eher an Pegasus´ Fähigkeiten, und nicht an einer Freundschaft mit dem Schleimbeutel liegen mag.
 

Ich habe lange überlegt, was ich dir schenken soll. Du hast mir ja nicht einmal gesagt, was du mir schenken wirst. (Dabei musste ich schmunzeln – ich konnte mir Joey gut vorstellen, wie er vorwurfsvoll aufs Blatt starrte) Bevor du dein Päckchen öffnest, möchte ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe. Du bist, neben meiner kleinen Schwester, der wichtigste Mensch in meinem Leben. Auch wenn Yugi und Tristan meine besten Freunde sind, so werde ich mit ihnen nie so reden können wie mit dir.
 

Du warst für mich da, als ich dich gebraucht habe. Du hast mich nicht ausgelacht, oder auch nur eine Sekunde daran gedacht, unsere Beziehung an die große Glocke zu hängen, obwohl es dir schwergefallen sein muss. Zwischendrin habe ich mich wie ein total egoistisches Arschloch gefühlt. Ich habe auch an dir gezweifelt, ob du es aushältst, oder dir irgendwann die Sicherungen durchbrennen. Daran bestand wohl auch nicht eine Sekunde lang ein Zweifel, und ich schäme mich, überhaupt daran gedacht zu haben.
 

Ich erinnere mich noch gut, als wir uns in der VR duellierten. Wie ekelhaft es war, kontrolliert zu werden. Ich habe mich selbst gehasst. Jede Faser meines Körpers verfluchte ich in dem Moment, als du vor mir gestanden bist. Dein Blick, dein Auftreten – das warst nicht mehr du. Ich wusste, du würdest mich retten. Mei hatte Angst. Du hast ihre Fallen bewältigt und bist zu mir gekommen. In dem Moment, als ich in dein Gesicht sah, war meine Angst verflogen. Ich wusste, dass unsere Liebe stärker sein würde, als irgendein komischer Zwang in einer VR, oder Meis Eifersucht.
 

Du bist für mich eingestanden, gleich am ersten Tag unseres Kennenlernens. Als du voller Selbstsicherheit dein Rotauge beschworen hast, und es mit Kaibas Weißem Drachen gleichgezogen ist. Langsam aber sicher fandest du die Selbstsicherheit, die ich so an dir liebe. Deine Entscheidungen wirken so einfach, und dabei sind sie manchmal so schwer.
 

Ich hätte nicht eine Sekunde Meis Spiel mitspielen können, nicht mehr. Am Anfang war ich enttäuscht und traurig, aber im Nachhinein habe ich kapiert, warum du es getan hast: Für mich. Du hast das alles auf dich genommen, um mich zu beschützen. Was ich mir so gewünscht habe, als kleiner Junge, es ist wahr geworden. Endlich ist da jemand, der mich liebt, so wie ich bin. Ich muss mich nicht mehr verstellen, nicht mehr an mir arbeiten – du scheinst mich wirklich so zu mögen, wie ich bin.
 

Das Gefühl, dich in den Armen zu halten, dir beim Schlafen zuzusehen – manchmal glaube ich, alles schon einmal erlebt zu haben. Es sind nur ganz flüchtige Fetzen, an die ich mich erinnere. Ein Bild aber, das kann ich immer wieder sehen, nämlich dich, in dieser einen Rüstung. Wir haben sie nach meinen Angaben angefertigt, für den Ball. Du hast genau so ausgesehen, wie in meinen Träumen. Der Ring an deiner Brust, das Schwert am Gürtel. Wenn es stimmt, was Yugi sagt, dann ist das wahr, oder? In einem früheren Leben, da waren wir bereits zusammen? War es darum so schön, als wir uns das erste Mal geküsst haben?
 

Wenn es wirklich stimmt, dann wirst du dich über dein Päckchen freuen. Yugi hat mir geholfen. Ich hoffe, es gefällt dir. Ich warte schon darauf, dass du wieder zurückkommst. Lass dich von Kaiba nicht unterkriegen, und auch nicht von Pegasus. Glaube an dich, so wie wir es tun. Vertraue auf dich, und vergiss nicht: Ich werde an dich denken, und mein Herz wird immer bei dir sein.
 

In Liebe

Joey
 

Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Augen. Er hatte es auf Englisch geschrieben. Ich konnte einige Fehler erkennen, und er hatte vieles durchgestrichen und dann wieder angefügt, aber es war wunderschön. Die Mühe, die er investiert haben musste. Englisch war trotz allem noch immer einfacher für mich zu verstehen, als Japanisch. Er hatte das sicher bemerkt, aber es war für ihn eine größere Qual, sich auf Englisch auszudrücken, als für mich auf Japanisch. Alleine das war schon eine Geste, die mir zeigte, wie sehr er mich liebte, und wie sehr ich ihn vermisste.
 

Langsam griff ich nach dem Geschenk und packte es vorsichtig aus. Es war ein Bild, oder besser gesagt eine Zeichnung. Ich weiß bis heute nicht, wie Joey es geschafft hatte, das zu malen. Da stand ich, in genau der Montur, die ich beim Ball trug. Links von mir stand mein Schwarzer Magier, rechts der Schwarze Rotaugendrache. Über mir hatte die Exodia ihre Hände ausgebreitet. Das Bild war nicht groß, aber es hatte eine solche Detailverliebtheit, dass ich gefühlt Stunden darauf starren hätte können.
 

Ich drehte den Rahmen um, und konnte eine Widmung erkennen. „Weihnachten 2018 – von Joey, für David; damit du mich nie vergisst“. Mit Tränen in den Augen legte ich das Bild zur Seite. „Er hat sich nicht geändert“, konnte ich Mahad hören, der zu lächeln schien. „Auch scheint er sich zu erinnern. Ich kenne dieses Bild nämlich.“ Der Geist kannte das Bild? „Das Original hing in seiner Schlafkammer. Er hat Jahre dafür gebraucht.“ Nachdenklich strich ich mit dem Daumen über das Glas des Bilderrahmens. „Denkst du, dass ihn manchmal Schuldgefühle geplagt haben?“, fragte ich Mahad. Dieser schwieg einige Zeit, bevor er antwortete: „Er hat uns einst versprochen, dass wir nie ganz getrennt sein werden. Es dauerte zwar viele Jahre, aber anscheinend erfüllt er sein Versprechen.“
 

Sollte das alles wirklich wahr sein? Sollten Joey und ich wirklich schon einst ein Paar gewesen sein? „Erinnert sich Kaiba auch an früher?“, fragte ich weiter. Mahads Stimme barg eine gewisse Form von Unsicherheit, als er antwortete: „Vielleicht? Eines steht aber fest: Er handelt genauso wie früher. Wir waren einst gute Freunde.“ Freunde. Konnte man mit Seto Kaiba überhaupt befreundet sein? Hatte Pegasus nicht sein wahres Gesicht aufgezeigt? Doch wer war schon Maximilien Pegasus? Aus dem, in meinen Augen kühnen, stolzen Künstler war ein Häufchen Elend geworden. Er musste betrügen, um eine Chance auf den Sieg zu erlangen.
 

„Darf ich dich etwas fragen?“ Ich schrägte den Kopf. Mahad fragte normalerweise nie nach. Ich nahm an, er war in der Lage, in meine Seele zu blicken, da wir ja eigentlich eins waren. „Natürlich“, entgegnete ich. „Warum hast du den Weißen Drachen nicht angenommen?“ Warum hatte ich das eigentlich nicht getan? „Aus einem Gefühl heraus. Der Weiße Drache mit Eiskaltem Blick ist Kaibas Karte, sein Monster. Es wäre falsch, ihn mir anzueignen.“ Ich hätte schwören können, dass der Geist gerade lächelte. „Und Pegasus die Toon World zu abzunehmen ist nicht dasselbe?“ War es in meinen Augen nicht. „Nein, denn Pegasus kann den Wert einer solchen Karte nicht verstehen. Er mag seine Cartoons zwar lieben, aber es sind für ihn immer noch leblose Objekte, über die er verfügen kann, wie er will. Außerdem benutzt er sie, um andere zu demütigen und zu quälen.“
 

Vor meinem Auge erschien die Szene mit der Exodia, die die Toon World einfach in Fetzen riss. War ich besser als Pegasus? Mein Monster hätte einst fast ganz Britannien ausgelöscht, meine Freunde getötet, und mich am Ende zum Sterben verdammt. „Das bist du“, echote Mahads Stimme sanft in meinem Hinterkopf. „Du hast den Wert deiner Monster erkannt. Auch wenn du dein Deck komplett umgestellt hast, so ist sein Kern, sein Herz noch immer gleich. Du hattest Angst, oder?“ Ich nickte. Lügen hatte keinen Sinn. „Der Weiße Drache, die Karte, sie hat sich wie ein Fremdkörper angefühlt.“ Meine Worte mussten irgendetwas in meinem zweiten Ich ausgelöst haben, denn ich konnte seine Erleichterung spüren.
 

„Deine Sensitivität wächst mit jedem Tag. Duel Monsters ist eine moderne Adaption eines alten, ägyptischen Spiels. Die Monster waren damals real, so wie du es bist.“ Dann war auch die Geschichte in England nicht mehr als eine Weiterentwicklung des ägyptischen Originals. „Manchmal zögerst du, eine bestimmte Karte zu spielen. Du wiegst ab, das ist gut. Damit hast du etwas mit Kaiba gemeinsam.“ Ich zog die Brauen hoch. Kaiba wirkte nicht, als ob ihm etwas an seinen Monstern lag. „An seinen Weißen Drachen schon, ähnlich wie dir an deinem Schwarzen Rotaugendrachen.“
 

Ich erinnerte mich an unser Gespräch im Krankenhaus zurück. Langsam begann die Kausalkette einen Sinn zu ergeben. Kaiba hatte mich besucht, um etwas zu erfahren, zu verstehen: Ob ich gleich fühlte wie er. Suchte jemand wie Seto Kaiba vielleicht einen Gleichgesinnten, mehr noch; einen Freund? Waren wir nicht früher bereits Freunde gewesen? „Diese Frage kann ich dir leider auch nicht beantworten, aber eines ist gewiss: Selbst wenn Kaiba nicht mit uns befreundet sein möchte, so hat zumindest Mokuba dich in sein Herz geschlossen. Vielleicht ist auch ein Teil von Kaibas damaligem Ich, sein guter Kern, auf seinen Bruder übergegangen?“ Mahads Worte stimmten mich nachdenklich. Konnte es wirklich wahr sein? Mokuba war nur die Auslagerung von Kaibas Teilpersönlichkeit? Ich verwarf diesen Gedanken sofort wieder, Für mich war der kleine Kaiba kein Ding, kein Gefäß, er war mehr: Mein kleiner Bruder, den ich über alles liebte, und für den ich, genauso wie für Joey, durch die Hölle gehen würde. Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinem Zwiegespräch mit Mahad.

Klarheit

Ich legte das Bild hastig beiseite, in Erwartung, Pegasus´ Preis zu erhalten. Stattdessen stand ein ziemlich aufgelöst wirkender Mokuba in der Tür. „Störe ich?“, wollte er leise wissen. Ich schüttelte den Kopf und klopfte neben mir einladend aufs Bett. „Du störst niemals.“ Der kleine Kaiba drückte die Tür hinter sich zu und setzte sich neben mich.
 

Was sollte ich sagen? War es angebracht, überhaupt etwas zu sagen? Ihn zu fragen, warum er so aufgelöst war? „Höre auf dein Herz“, ermutigte mich Mahad sanft. „Es tut mir leid“, begann ich leise, was Mokuba dazu bewegte, aufzuschauen. „Du hast dir Sorgen gemacht, oder?“ Ein zaghaftes Nicken seitens meines kleinen Gefährten bestätigte meine Vermutung. „Lass dich nicht verunsichern“, fuhr ich nach einer Weile des Schweigens fort. „Ich glaube nicht, dass Pegasus komplett Recht mit seinen Worten hatte.“ Der Schwarzhaarige senkte wieder den Blick und starrte auf seine Knie.
 

Ich rückte ein wenig näher an Mokuba heran, um ihn zu umarmen. Der Kleine schmiegte sich an mich, krallte sich fast schon krampfhaft an mir fest. „M-Mach sowas nie wieder“, flüsterte er und vergrub sein Gesicht in meinem Pulli. Sanft strich ich ihm durch die ungebändigte Haarmähne. Im Nachhinein war es heller Wahnsinn gewesen, sich auf dieses Duell einzulassen. Es ist so viel auf dem Spiel gestanden, und ein klitzekleiner, zusätzlicher Fehler hätte mich ins Verderben stürzen können.

„Du denkst über meine vorigen Worte nach, oder?“, fragte mich Mahad, während ich Mokuba tröstete. „Ja, das tue ich.“ Mein Blick ruhte auf dem Jungen, der mich als seinen großen Bruder ansah, und den ich genauso akzeptierte und liebte, wie er mich. „Ich weigere mich zu glauben, dass dieser sonst fröhliche, aufgeweckte, emotionale Junge, nur ein Gefäß sein soll. Eine Hülle, die man wie einen leeren Sack mit den positiven Eigenschaften Kaibas befüllt hat.“ Mahads Glucksen brachte mich aus der Fassung. „Selbst, wenn dem so sein sollte, so ist er es nicht für dich, oder?“ Nein, das war er wirklich nicht. Ich hatte ihn von Herzen gern, und mir tat es in der Seele weh, ihn leiden zu sehen.
 

„Mokuba“, sagte ich leise und schob ihn sanft von meiner Brust, sodass ich ihm in die Augen sehen konnte. „Du bist für mich, gemeinsam mit Joey und meinen Großeltern der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich habe dich sehr lieb, aber ich werde nie diese Bindung zu dir haben, wie Seto sie hat. Er ist erwachsener, reifer, besitzt mehr Einfluss und Geld als ich, und er kann dich auch besser beschützen. Ich möchte nicht zwischen dir und deinem Bruder stehen.“ Mokubas Finger krallten sich erneut in meinen Pulli und er schüttelte heftig den Kopf: „Niemand wird sich zwischen Seto und mich drängen, auch du nicht. Du stehst aber neben Seto, denn du bist mein zweiter großer Bruder. Mit dir kann ich zocken, über die Schule reden, meine Freunde. Das sind zwei verschiedene Dinge.“
 

Mokubas Worte ließen mein Herz ganz ein bisschen schneller schlagen. Sie berührten mich, und ich war mir klar, dass ich den Kleinen nicht mehr missen wollte. Ich wollte aber auch nicht, dass sein Verhältnis zu Kaiba durch meine Nähe litt. „Ich weiß, aber was, wenn Pegasus doch Recht hat? Was, wenn dein Bruder wirklich eifersüchtig ist? Ich möchte nicht noch mehr mit ihm aneinandergeraten als ohnehin schon.“ Mit Mühe konnte ich ein verzweifeltes Seufzen unterdrücken. Warum musste alles in meinem Leben so verflucht kompliziert sein. Außerdem hatte ich mich gerade als Lügner enttarnt: Vorhin hatte ich noch gesagt, er hätte nicht Recht gehabt.
 

„Ein Teil von ihm respektiert dich“, sagte Mokuba plötzlich. „Ich weiß es. Seitdem du da bist, verhält er sich anders. Er zögert, wenn auch nur für ganz wenige Augenblicke, seinen Kurs weiterzuverfolgen. Du und Yugi, ihr beide seid ihm wichtig.“ Ich lächelte schmal. Der Geist sah, was er sehen wollte. „Du glaubst mir nicht, oder?“, bohrte der Kleine nach. Ich hätte lügen müssen, wenn ich ihm widersprochen hätte. „Du verstehst ihn, genauso wie es Yugi tut. Ihr alle drei hängt an eurer einen Karte, nicht nur, weil sie selten ist. Nach eurem Duell am Schulhof war er zum ersten Mal seit Langem durch den Wind. Er hat nur von dir geredet, und das Duell analysiert. Jeden einzelnen deiner Züge, und sich gefragt, wie es sein konnte, dass du so fest daran glaubtest, mit deinem Rotaugendrachen seinem Weißen Drachen gewachsen zu sein.“
 

Hatte ich also doch Recht gehabt? Hatte er mich deshalb im Krankenhaus besucht? Weil er einen Gleichgesinnten suchte? War Seto Kaiba wirklich alleine? Brauchte er überhaupt jemanden in seiner Nähe? Er war ein Einzelgänger, ein Workaholic, und dazu noch äußerst gefühlskalt, aber er konnte auch anders. Hatte er nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Joey zu retten, mich zu retten? Warum hatte er mich in sein Team geholt? Mir ein relativ gutes Leben ermöglicht, mit Aussicht auf mehr? Meine Ideen aufgenommen? Warum wollte er unbedingt, dass ich mit ihm spielte, und nicht Yugi? Hatte er mich im Duell nicht gedeckt, beschützt?
 

„Mokuba, ich…“, begann ich, wurde aber sogleich unterbrochen. „Seto mag zwar kompliziert sein, und seine Entscheidungen sind oft sehr rational, aber tief in seinem Inneren besitzt er ein gutes Herz, einen weichen Kern. Auch wenn Pegasus Recht haben mag, so kämpft noch immer der andere Teil in ihm, der Gute, der Seto von damals, mit dem Seto, den ihr alle kennt. Manchmal blitzt seine weiche Seite durch – seitdem Yugi und du in seiner Nähe sind, öfter als sonst.“ Der Gute. Kaiba besaß etwas Gutes, tief in seinem Inneren. Folglich konnte Mokuba gar nicht ein Teil von ihm sein, nicht so. „Denk doch einmal nach: Warum wohl hat er Joey und Serenity bei uns unterkommen lassen? Dein Gästezimmer ist immer vorbereitet, er hat es sogar verändert.“ Hatte er das?
 

„Wenn er dich nicht zumindest ein kleines bisschen mögen würde, dann hätte er mir meinen Weihnachtswunsch nicht erfüllt.“ Welchen Weihnachtswunsch? Gerade als ich danach fragen wollte, ging die Tür erneut auf. Wenn man vom Teufel spricht – Kaiba wirkte ziemlich angespannt. Seine eisblauen Augen fixierten zuerst Mokuba, dann mich. Trotzdem war seine Stimme außerordentlich ruhig und beherrscht, als er sprach: „Warum hast du nicht den Weißen Drachen an dich genommen, wie vereinbart?“ Ich zögerte; die Wahrheit würde er sicher nicht gelten lassen. „Versuche es doch“, ermutigte mich Mahad zum zweiten Mal, nicht zu zögern.
 

„Weil er dir gehören sollte, nicht mir. Ich möchte ihn nicht in meinem Deck haben. Er ist dein Markenzeichen, dein Monster. Jeder verbindet mit dem Weißen Drachen mit Eiskaltem Blick dich, dich und dein Unternehmen. Niemand außer dir hat es verdient, diese Karte zu besitzen. Außerdem wird Pegasus ihn sicher nicht hergeben. Dafür ist die Karte zu kostbar.“ Kaiba versah mich mit einem äußerst komischen Blick. Ich hätte schwören können, seine Augen funkelten ein wenig bei meinen Worten. „Sie gehören zu dir, genauso wie es meine Karten, mein Rotauge und die Exodia, bei mir tun.“
 

Wir schwiegen uns eine Weile an, bis Mokuba endlich die Stille durchbrach. „Seto, du weißt, dass David es ehrlich meint. Er wollte deinen Weißen Drachen nie gewinnen, und dir auch nie deinen Platz streitig machen.“ Seltsamerweise entspannte sich Kaiba nach den Worten seines Bruders ein wenig. „Weißt du, was du getan hast? Pegasus seine Lieblingskarte zu nehmen ist äußerst gefährlich.“ Ich nickte leicht; das Risiko war mir durchaus bewusst. „Ja, aber ich hoffe dadurch endlich Ruhe zu haben. Niemand wird mich willkürlich herausfordern, mit dieser Karte im Deck, wie dich. Außerdem habe ich meine Freunde, Mokuba und dich. Zumindest Yugi und dich fürchtet er.“ Kaiba hob bei meinen Worten die rechte Braue und verschränkte seine Arme vor der Brust. „Wie kommst du darauf, dass ich auf dich aufpassen würde?“, fragte er in seiner typisch abfälligen Manier. „Weil ich es hoffe“, antwortete ich leise und zog mein Deck aus der Hosentasche. Ich drehte es um und strich mit dem Daumen über das Cover meines Schwarzen Rotaugendrachens.
 

„Wir waren ein recht gutes Team, oder? Pegasus meinte zu mir, normalerweise würdest du alleine spielen, und nicht auf deinen Teampartner achten. Du hast es auch nicht nötig, denn du alleine spielst brillant. Ich war dir ein Hindernis, und trotzdem hast du auf mich aufgepasst, mich beruhigt.“ Als ich die Worte aussprach, wurde mir erst klar, wie sehr Mokuba Recht hatte. Auch wenn Kaiba es nie zugeben würde: Im Grunde war er ein guter Mensch. „Alles zum Wohle der Kaiba Corp“, entgegnete er, klang dabei aber nicht ganz so überzeugt wie sonst. Es war nur ein Hauch, eine kleine Nuance, die sich in seinen Tonfall gemischt hatte, der mich an seinen Worten zweifeln ließ. „Macht euch fertig, wir fliegen heim“, war das Letzte, was er sagte, bevor der CEO in seinem Zimmer verschwand.
 

„Du lächelst“, stellte Mokuba zufrieden fest. Tatsächlich: Ich lächelte. Irgendetwas war nun anders zwischen Kaiba und mir, das spürte ich. Wir würden uns sicher noch öfter in die Haare kriegen, vor allem wegen Joey, doch jeder von uns wusste, dass der andere ihn ein wenig brauchte. Ich, weil er Mokubas Bruder war, und wir einst Freunde gewesen sind, er, weil ich ihn wahrscheinlich an etwas erinnerte, das er schon lange suchte und vermisste. „Was hast du dir nun eigentlich von deinem Bruder gewünscht?“, fragte ich Mokuba, der nur grinste. „Das siehst du zuhause.“
 

Wir packten unsere Sachen, als es noch einmal an der Tür klopfte. Croquet trat ein und hielt mir, fast schon demütig, eine einzelne, gut durch Plastik geschützte Karte, auf purpurnem Samt entgegen. Ein Brief war beigelegt, den eine sehr feine, elegante Handschrift zierte. „Für David Pirchner“, stand auf dem Kuvert. Tatsächlich – Pegasus hielt sein Wort. „Pegasus hat bereits alles in die Wege geleitet. Ihr Großvater wird im Laufe der nächsten Woche in eine Spezialklinik in die Schweiz überführt werden. Es wird ihm an nichts fehlen. Ihre Großmutter ist herzlich eingeladen, ihn zu begleiten.“
 

Plötzlich zögerte ich, meinen Preis entgegenzunehmen. War es nicht gemein, Pegasus´ Herzblut an mich zu nehmen. „Ich bin ausdrücklich angewiesen worden, Ihnen die Karte zu überreichen. Den Brief sollen Sie aber erst bitte zuhause öffnen.“ Ich schluckte laut und nahm beides entgegen. „Richten Sie Pegasus meinen Dank aus.“ Croquet verneigte sich und ließ uns dann wieder alleine. Nachdenklich starrte ich auf die Karte, die nun mein war. Wollte ich sie überhaupt benutzen? Das Vibrieren meines Handys ließ mich aufschauen. Joey hatte mir geschrieben, wann wir denn endlich kommen würden. Lächelnd verstaute ich meine letzten Sachen und verließ mit Mokuba dann das Zimmer. Ein letztes Mal besah ich mir Pegasus´ Schloss aus dem Fenster von Kaibas Jet heraus und schloss nachdenklich, aber seltsam beruhigt, dieses Kapitel für mich ab.

Mein Weihnachtsgeschenk

Der Flug nach Hause verlief recht ereignislos. Kaiba hatte mit seinen PR-Leuten zu tun, die ihn für seine brillante Duellführung lobten, während Mokuba und ich gemütlich gegeneinander irgendein sinnloses Game spielten. Pegasus´ Brief wollte ich noch nicht lesen. Mir die Heimkehr zu versauen, war nicht in meinem Interesse. Stattdessen plapperte Mokuba wild auf mich ein, wie cool er doch das Duell am Ende gefunden habe, und wie selbstsicher ich dabei gewesen sei. Letzteres konnte ich nicht ganz unterschreiben, war mir doch öfters das Herz in die Hose gerutscht. Irgendetwas hatte der Kleine in mir ausgelöst. Ohne ihn hätte ich mit der Exodia nie angegriffen.
 

Wir setzten pünktlich um 18:00 Uhr japanischer Zeit zur Landung an. Eine schwarze Limousine wartete auf uns, und kutschierte das gesamte Team, die PR-Leute miteingeschlossen, zur Kaibavilla. Kaum war ich ausgestiegen, so hatte ich schon jemanden am Hals kleben. Entgegen meiner Vermutung war es nicht Joey, sondern Serenity. Ich hatte Mühe, mich von ihr nicht erdrücken zu lassen. Einen Kuss auf die Wange später ließ sie mich endlich los und strahlte mir mit ihren rehbraunen Augen entgegen, die denen ihres Bruders so sehr glichen. „Du warst der absolute Wahnsinn!“ Ich hob fragend meine Brauen und schrägte den Kopf. „Beim Duell gegen diese Mönche, da hast du so gut ausgesehen! So selbstsicher! Meine Freundinnen haben schon sturmgeläutet, ob du noch zu haben bist.“
 

Ich schmunzelte verlegen und machte ein wenig Platz, damit Mokuba auch aussteigen konnte. „Er war irre. Du hättest ihn beim Duell gegen Pegasus sehen sollen!“ Beide tauschten sich energisch aus, was mich zu einem amüsierten Kopfschütteln bewegte. Ich hatte wohl das genaue Gegenteil erreicht: Jetzt würden mich erst Recht x Leute herausfordern wollen.
 

„Wir haben exakt Ihre Worte an die Presse weitergegeben, Herr Kaiba. Die Medien überschlagen sich“, rissen mich die Worte eines Fremden von meiner Beobachtung weg. Ein Butler stand neben dem CEO, der auf der anderen Seite ausgestiegen sein musste, und hielt ihm schon fast demütig die morgendliche Ausgabe der örtlichen Zeitung hin. „Protegé von Seto Kaiba besiegt Maximilien Pegasus im Alleingang – Dreiergestirn aus König der Spiele, CEO der Kaiba-Corp und dem Exodia-Duellanten wird beim nächsten Turnier erwartet.“
 

„Exzellent, Oikawa. Das haben Sie gut gemacht. Sie und Ihre Kollegin haben für die restliche Woche frei.“ Sowohl Frau Mizukawa, als auch Herr Oikawa, verbeugten sich, und verließen das Anwesen durch das große Eisentor. „Dreiergestirn? Du, Yugi und ich?“ Ich lachte traurig. Hatte Kaiba überhaupt eine Ahnung, was er da lostrat? „Es geht darum, das medienwirksamste Ergebnis zu erzielen. In unserem Fall haben wir das zweifelsohne erreicht“, antwortete Kaiba und griff in seine Manteltasche. Wortlos hielt er mir einen Schlüssel entgegen. „Was soll ich damit?“, fragte ich ihn und hielt reflexartig die Hand auf, als er den Schlüssel fallen ließ. „Dein Weihnachtsgeschenk“, entgegnete der CEO kühl, und ging dann, begleitet von seinem Butler, der leise auf ihn einredete, ins Anwesen.
 

„Komm!“, riefen Mokuba und Serenity gleichzeitig, und zogen mich hinter ihnen her. Mein Weihnachtsgeschenk? Ich hasste diese Sorte von Überraschungen. Beinahe widerstandslos ließ ich mich ins Anwesen schleifen. Dort führten mich Serenity und Mokuba durch die Villa, nur um vor einer Ebenholztür anzuhalten. Ich rieb mir die Augen und schüttelte den Kopf. In goldener Zierschrift war mein Name ins Holz eingelassen worden. „David Pirchner“, stand auf der Tür. Meine Begleitung kicherte amüsiert ob meiner Reaktion. „Na los, sperr schon auf“, forderte mich Mokuba auf. Der Schlüssel glitt wie von selbst ins Schloss.
 

Mir bot sich ein Anblick, wie man ihn normalerweise in den nobelsten Luxushotels erwartete. Alleine das Doppelbett, welches rechts an der Wand stand, hatte wahrscheinlich mehr gekostet, als die Jahresmiete meiner Wohnung. Je länger ich mich umsah, desto weiter klappte mir die Kinnlade herunter. Serenity hielt sich die Hand beim Lachen vor den Mund: „Haargenau wie Joey.“ Was sollte das jetzt wirklich bedeuten? „Das ist ein Witz, oder?“, fragte ich, und lugte zu Mokuba hinab, der breit grinsend den Kopf schüttelte. „Frohe Weihnachten, großer Bruder.“ Damit umarmte er mich fest. „Rühr dich nicht, ich habe noch etwas für dich.“ Blitzschnell verschwanden die beiden Plagegeister und ließen mich alleine.
 

Der Fernseher, der gegenüber vom Bett montiert worden war, hatte eine Bildschirmdiagonale, die wahrscheinlich meiner Körpergröße entsprach. Der Schreibtisch aus Kirschholz hatte dem Tischler wahrscheinlich ein nettes Sümmchen Geld eingebracht. Nach und nach offenbarten sich immer mehr Dinge. Der Laptop musste ein kleines Vermögen gekostet haben. Die Schränke waren riesig, mit genügend Platz für die Kleidung von drei Familien. Mir wurde erst langsam klar, was man dir eigentlich geschenkt hatte.
 

Poster an den Wänden, die den Schwarzen Magier zeigten, oder den Schwarzen Rotaugendrachen, wie er sich majestätisch aufbäumte, zierten die dunkel gestrichenen Wände. Das sauber zu machen, musst eine Heidenaufgabe sein. Dazu Spielkonsolen, Teppiche, Zierpflanzen, ein Bücherregal – es fehlte noch der Whirlpool, und ich wäre mir nicht sicher gewesen, ob man mich in eine Luxussuite der Extraklasse verfrachtet hatte. Ein vorsichtiger Blick ins Badezimmer präsentierte mir den nächsten Wahnsinn: Eckbadewanne, Toilette, Waschbecken – alles dunkler Stein oder Keramik. War das wirklich der Ernst von Kaiba? Wie hatte Mokuba ihn dazu gebracht? Hieß das überhaupt, was ich vermutete?
 

„Tut es“, beantwortete Kaiba meine letzte Frage, die ich wohl laut ausgesprochen haben musste. Ich zog den Kopf aus dem Badezimmer und schüttelte den Kopf: „Das ist unmöglich. Ich weiß, du willst mich nicht in deiner Nähe haben. Außerdem läuft mein Mietvertrag noch, und…“ Der CEO unterbrach mich mit einer Geste seiner linken Hand: „Der Mietvertrag läuft mit 31. Dezember aus. Du erhältst deine Kaution zurück, und deine Sachen werden bereits übersiedelt.“ Es musste einen Haken geben. Was wollte Kaiba von mir? „Mokuba hat sich gewünscht, dass du in seiner Nähe sein kannst.“ Verlegen schob ich meine Hände in die Hosentasche: „Kaiba, das kann nicht dein Ernst sein. Ich meine, wenn du diese Räume vermietest, nimmst du eine Stange Geld ein. Ich kann dir nicht einmal eine angemessene Anzahlung leisten.“
 

Kaibas Lippen kräuselten sich amüsiert: „Denkst du wirklich, ich wäre auf dein Geld angewiesen?“ Das „Ich“ betonte er besonders. Natürlich war er das nicht, aber in Kaibas Gunst zu stehen, wollte ich nicht unbedingt mehr, als es sein musste. „Wir haben strikte Regeln bezüglich der Wäsche und des Essens. Man wird dich noch einweisen.“ Essen? Wäsche? „Kaiba, ich will nicht…“ Der CEO bedeutete mir erneut, den Mund zu schließen. „Es ist unerheblich, was du willst, oder ich will. Mokuba hat diesen einen Wunsch geäußert, und ich werde ihn ihm erfüllen. Wage es nicht, meinen kleinen Bruder unglücklich zu machen.“ Mit Mühe konnte ich mir den bissigen Kommentar, der mir auf der Zunge lag, hinunterschlucken. Stattdessen senkte ich meinen Kopf und murmelte ein leises „Danke“.
 

„Danke nicht mir, sondern meinem kleinen Bruder.“ Kaiba nickte kurz, bevor er Serenity und ihrer Begleitung Platz machte. Mokuba hielt mir dann Paket entgegen. „Frohe Weihnachten!“ Drehten jetzt alle am Rad? War das nicht schon genug Geschenk gewesen? Überfordert nahm ich das Päckchen entgegen und riss es auf. Es war eine Schachtel, deren Inhalt mich beinahe sabbern ließ. „Ihr seid ja alle wahnsinnig“, lachte ich leise und setzte mich auf die Bettkante. Es waren Laufschuhe, aber nicht irgendwelche: Meine Freunde hatten alle darauf unterschrieben. „Probier sie an“, forderte mich das dynamische Duo auf.
 

Alleine das Muster war einzigartig. Beide hatten ein Rotauge als Gesicht an der Spitze. Pechschwarz wie sie waren, schienen sie fast schon im Zimmerlicht ein wenig zu glänzen. Mit einem weißen Stift hatte man überall einen Namen hingekritzelt – sogar Bakura hatte unterschrieben. Der Tragekomfort war himmlisch. Sie waren leichter, als alle, die ich bisher mein Eigen nennen durfte. Probeweise machte ich einige Sprünge, und lief durchs Zimmer, nur um Mokuba und Serenity dann in die Arme zu nehmen: „Spinner“, schmunzelte ich.
 

„Ich glaube, da möchte dich wer sehen“, sagte Serenity nach einer Weile und löste sich gemeinsam mit Mokuba von mir. Beide winkten Joey lächelnd zu, ehe sie sich aus dem Zimmer verdrückten und uns alleine ließen. Mein Freund schloss die Tür hinter sich, und einen Augenblick später hielten wir uns eng umschlungen fest. „Ich habe dich vermisst“, hauchte er mir leise ins Ohr, was mich nur dazu bewog, meine Finger in sein Shirt zu krallen. „Ich dich auch“, flüsterte ich und drückte meine Wange an seine Brust. Wir standen eine Weile so da, bevor wir uns voneinander lösten, und zum Bett gingen. Beide saßen wir auf der Bettkante und sahen uns tief in die Augen. Irgendetwas hatte sich verändert.
 

„Du erinnerst dich, oder?“, fragte ich leise nach. Joey bestätigte meine Vermutung mit einem angedeuteten Nicken. „Du kannst dich genauso ändern, oder?“ Ich verstand, was er meinte. „Ja, kann ich.“ Joey griff nach meiner Hand und verwob seine Finger mit meinen. „Wen von euch liebe ich nun?“ Ich biss mir auf die Lippen. „Beide“, antwortete ich knapp. Wenn er sich wirklich erinnern konnte, mochten es auch nur Bruchstücke sein, dann konnte ich mir denken, was in ihm vorging. Mein Daumen strich sanft über Joeys Handrücken. Er schien sich wirklich zu freuen, mich zu sehen, aber da war noch mehr in seinem Blick: Trauer, Wut, Schuld.
 

„Ich…“, begann er, wurde dann aber sogleich von mir unterbrochen. Meine Lippen schmiegten sich sanft an die seinen, und ich legte ihm meine freie Hand in den Nacken. Der Kuss war zärtlich, und in ihm lag so viel von der Liebe und Geborgenheit, nach der wir beide uns so sehr sehnten. „Du musst dich für nichts entschuldigen, oder an früher denken“, sagte ich, als sich unsere Lippen einen Millimeter voneinander entfernten. „Nichts was war, hat jetzt Bedeutung. Ich liebe dich, von ganzem Herzen, so wie du bist.“ Mit der Hand von seinem Nacken strich ich ihm über die Wange. Dabei konnte ich die ersten Tränen spüren, die sich ihren Weg bahnten. „Sch, es gibt nichts, worüber du weinen müsstest, Joey.“ Beschämt schlug der Blonde die Augen nieder. „Es stimmt, oder?“ Natürlich stimmte es.
 

„Schatz“, begann ich leise, und versuchte dabei, so gut es ging, seine Tränen zu trocken: „Ich weiß nicht, an was du dich erinnerst, aber, du hast mir damals versprochen, dass wir uns wiedersehen. Das hast du gehalten.“ Mit sanfter Gewalt, bedingt durch meine Finger, die sein Kinn nach oben drückten, zwang ich ihn, mir in die Augen zu schauen: „Joey? Mein letzter Moment galt dir. Denkst du, ich würde über Dinge, an die ich mich selbst nicht wirklich erinnere, die wie eine ferne Welt wirken, nachdenken? Ihnen eine Bedeutung zumessen, die meine Gefühle zu dir beeinträchtigen?“ Seltsamerweise musste ich lächeln: „Du bist so wunderschön, und wenn jemand beschämt sein sollte, dann ich.“
 

Geräuschvoll zog Joey die Nase hoch und wischte sich mit dem Ellenbogen über die Augen. „Red keinen Stuss“, brummelte er dabei. Ich griff nach seinen Handgelenken und drückte seine Arme so sanft nach außen. „Joey? Hast du mein Gedicht gelesen?“ Meine Frage wurde mit einem stummen Nicken beantwortet. „Versprichst du mir etwas?“ Joey sah wieder auf. „Lies es noch einmal, immer wieder, so lange, bis diese unnötigen, negativen Gefühle verschwinden.“ Mein Freund öffnete den Mund, und schloss ihn dann wieder, nur um zu grinsen. „Romantiker“, murmelte er und wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Mit einem Bärenhunger“, entgegnete ich amüsiert. Wir warteten noch eine Weile, bis auch die letzten Anzeichen von Joeys Weinen einigermaßen aus seinem Gesicht verschwunden waren, ehe wir uns auf den Weg zum Esszimmer machten. Ich hoffte, der Koch hatte irgendetwas zubereitet, was mir schmeckte; andererseits hätte ich wahrscheinlich auch gebratene Heuschrecken mit Schneckenschleim vertilgt, so einen Hunger hatte ich.

Das erste Mal

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Der Morgen danach

Ich wurde durch ein behutsames Streicheln meiner Stirn geweckt. Die Augen langsam öffnend, konnte ich Joey erkennen, wie er neben mir lag, und dabei einige Haarsträhnen aus meinem Gesicht strich. Er wirkte dabei so verträumt und geistesabwesend, dass ich mir nicht ganz sicher war, ob mein Freund nicht doch noch schlief. Die rehbraunen Augen hatten sich an mir festgefressen. So hatte ich Joey noch nie gesehen. War das gestern so schön für ihn gewesen? So wichtig?
 

„Hast du gut geschlafen?“, fragte er mich, und strich mir weiter über die Stirn und durch die Haare. Ich nickte bejahend, und drehte mich dabei zu Joey herum, um ihm einen Kuss aufs Kinn zu geben. „Ich schlafe immer gut, wenn du in meiner Nähe bist.“ Sein Lächeln wurde noch ein wenig sanfter und weicher. „Obwohl ich dir gestern zweifelsohne solche Schmerzen bereitet habe?“ Flüchtig kam mir der gestrige Abend in Erinnerung. Dass es zu meinen schönsten Erlebnissen gezählt hätte, wäre gelogen gewesen. Es schien Joey aber sehr wichtig gewesen zu sein, und ein Teil von mir hatte es schließlich auch gewollt.
 

„Du hast dich bemüht behutsam zu sein, oder?“, fragte ich, und legte eine Hand an seine Wange. Mein Freund drehte sein Gesicht und strich mir mit den Lippen zärtlich über die Fingerspitzen. „Natürlich. Ich könnte dir niemals bewusst weh tun.“ Es beschäftigte ihn dennoch etwas. Das konnte ich aus seinem Blick, seiner Mimik herauslesen. „Joey? Was ist?“ Der Blonde löste sich von meiner Hand und seufzte leise: „Wenn du jetzt hier wohnst, dann…“ Ich konnte mir denken, was ihn störte. „Ich werde Kaiba sicher auch nicht jeden Tag zu Gesicht bekommen. Außerdem bist du genauso Mokubas Freund, wie ich es bin.“ Ganz überzeugt schien Joey nicht zu sein. „Hör mal – hier ist es gemütlicher und ruhiger als bei mir zuhause. Du hast hier genauso einen Rückzugsort, wie bei den anderen. Das Bett ist schließlich groß genug, wie wir gestern bereits festgestellt haben.“ Mein süffisantes Grinsen wurde durch ein gespieltes Boxen gegen meine Schulter quittiert. „Nicht nur das mit Kaiba stört dich, oder?“, fragte ich vorsichtig nach. Joey wirkte dabei, als hätte man ihn bei etwas Unanständigem ertappt.
 

Ich grabbelte nach seiner Hand und verwob sie mit der meinen. „Du weißt, dass du mir alles sagen kannst. War dein Weihnachtsfest bisher nicht schön?“ Mein Freund druckste herum und wich meinem Blick aus. „Schon, doch, sehr sogar, aber…“ Er hielt inne, und ließ sich seitlich aufs Kopfkissen sinken. „Wenn du es mir nicht erzählen möchtest, bohre ich nicht weiter nach. Wir können dir aber nur helfen, wenn du uns lässt.“ Automatisch hatte ich unseren Freundeskreis miteinbezogen, dem sicher genauso viel an Joey lag, wie mir.
 

„Du bist so wunderschön, weißt du das? Dir scheint bisher nichts etwas ausgemacht zu haben. Du bist unter dem gleichen Terror aufgewachsen wie ich, und hast dich doch ganz anders entwickelt.“ Unser Gespräch fing schon einmal vielversprechend an. Er ging aus sich heraus. „Joey, auch in mir gibt es Wunden, die vernarbt sind. Auch ich habe manchmal Momente, wo mich die ganze Situation einfach nur belastet.“ Joey sah mir nun wieder direkt in die Augen: „Was machst du dann?“ Ich lächelte – die Antwort war einfach. „Ich denke an die schönen Dinge, die ich habe. Meine Großeltern, meine Freunde, mittlerweile auch Mokuba und dich.“ Beim letzten Wort huschte ein Lächeln über sein vormals nachdenkliches, ernstes Gesicht. „Es gab eine Zeit, da wäre ich froh gewesen, wenn sie aus meinem Leben verschwunden wäre. Einfach gegangen, und nicht mehr gekommen. Heute ist das anders. Ich versuche, auch an meiner Mutter die positiven Eigenschaften zu sehen. Sie kocht zum Beispiel in nüchternem Zustand hervorragend, und manchmal, da habe ich das Gefühl, dass sie bereut, was sie am Vortag angerichtet hat.“
 

Zögernd schlug Joey die Augen nieder: „Kann es sein, dass manche Menschen nicht bereuen, was sie im Suff anstellen?“ Ich schüttelte den Kopf: „Das mit Bestimmtheit zu behaupten, kann ich nicht. Zeigt denn dein Vater gar keine Anzeichen von Schuld und Reue?“ Mein Freund überlegte, bewegte dann aber seinen Kopf langsam hin und her. „Wir streiten oft. Dann wirft er mir meist wüste Dinge an den Kopf. Ich sei eine Missgeburt, und meine Mutter hätte uns wegen mir verlassen.“ Ja, das kannte ich auch, zwar in einer anderen Form, aber es war ein sehr ähnliches Muster. Ich strich Joey mit dem Daumen sanft über den Handrücken, während ich sprach: „Wenn er es nicht an dir auslassen könnte, keinen Sündenbock für sein verkorkstes Leben hätte, dann müsste er etwas ändern. Es ist bequemer, die Schuld abzuwälzen, als sich einzugestehen, dass man einen Fehler gemacht hat.“ Wo war der starke Joey aus der VR hin? Der sich reihenweise durch die Monster schnitt? Wie er mich dazu motivierte, meine Angst zu überwinden?
 

„Glaubst du denn, du seist eine Missgeburt?“, fuhr ich nach einer Weile des Schweigens fort, in der wir uns stumm angesehen hatten. „Ich, ich weiß es nicht. Wenn du es jeden Tag hörst, dass du nichts wert bist, dann glaubst du es irgendwann. Ich habe ehrlich gesagt Angst davor, dass er herausfindet, dass wir zusammen sind.“ Tief in mir keimte dieser Verdacht schon länger. Er wollte diesen Saftarsch, der sich sein Vater schimpfte, nicht enttäuschen, nicht noch mehr, als ohnehin schon. „Denkst du, man kann etwas für Gefühle? Für das Geboren sein? Joey, du bist ein wundervoller Mensch, und das sage ich nicht nur, weil ich dich liebe. Yugi, Tristan, Tea, wir alle werden dich doch wohl nicht belügen, oder?“ Ich konnte gerade zu sehen, wie es in Joey zu arbeiten begann. Waren meine Worte aus reinem Mitleid geboren, oder sagte ich doch die Wahrheit? Musste ich zu ihm halten, weil ich sein Freund war? Hielt ich ihn nicht auch für eine Missgeburt?
 

„Schämst du dich denn dafür, mit mir zusammen zu sein?“ Ein Ruck ging durch Joey, und er schüttelte schlagartig den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Ich liebe dich.“ Lächelnd strich ich ihm mit der freien Hand wieder über die Wange. „Warum machst du dir dann Gedanken über jemanden, der dir solche Dinge in einem Zustand an den Kopf wirft, in dem er geistig nicht ganz bei sich ist?“ Ich wusste die Antwort zwar, hoffte aber, dass sie doch anders ausfallen würde. „Weil er noch immer mein Vater ist.“ Mit Mühe konnte ich ein Seufzen unterdrücken. Ich verstand Joey, sehr gut sogar, doch man lebte nicht für seine Eltern, oder Freunde, um diese Stolz zu machen. Jeder hatte sein eigenes Leben, das er so verbringen sollte, wie es ihm am besten erschien. „Hast du ihn denn lieb? Wie einen Vater?“ Zögernd nickte Joey: „Ja, es, weißt du, manchmal, wenn er nur so halb betrunken ist, dann kann man durchaus mit ihm auskommen. Er ist zwar noch immer ein Ekelpaket, aber sanfter als sonst.“
 

„Wenn ich raten muss, dann schlägt er dich auch?“ Dieses Mal senkte Joey seinen Kopf gänzlich, was mir bereits Antwort genug war. „Warum hast du dich denn nie deinen Freunden anvertraut? Yugi und Tristan hätten es sicher verstanden.“ Mein Freund zuckte schwach mit den Schultern: „Ich schäme mich, dauernd Hilfe annehmen zu müssen. Von dir, von Yugi, Tristan, euch allen. Ich schlafe ja sogar jetzt in einem Zimmer, im Haus von jemandem, den ich abgrundtief verabscheue.“ Mein Lachen riss Joey aus seiner Lethargie heraus. Er war eindeutig überfordert. „Warum lachst du?“, fragte er, mit einer Spur von Ärger in der Stimme. „Joey? Denkst du, ich hätte das hier alles alleine auf die Reihe gebracht? Wer glaubst du, bezahlt die Miete für meine Wohnung? Wie bin ich wohl nach Japan gekommen? Geschwommen? Es ist doch nichts Verwerfliches daran, Hilfe anzunehmen. Es ist auch keine Schwäche, zuzugeben, alleine nicht mehr weiterzukommen, im Gegenteil: Wer einsieht, dass er Hilfe braucht, und sie auch annimmt, der kommt im Leben weiter.“
 

Ich hatte ihn eindeutig überfordert, beziehungsweise wollte er einfach nicht wahrhaben, dass ich Recht hatte. Mit 14, 15 hatte ich ähnlich gedacht. Ich meinte, mit dem Kopf durch die Wand zu müssen, und allen meinen Willen aufzuzwingen. Wenn das nicht funktionierte, hockte ich mich schmollend in mein Zimmer, und wartete, bis man auf mich zukam. Heute wusste ich, dass es gut war, diese Erfahrung gemacht zu haben, weil ich daraus schlussfolgern konnte, dass es eben doch nicht immer die beste Lösung war, meine Kämpfe alleine auszutragen. „Joey, ich weiß, das klingt jetzt altklug, aber, du wirst das eines Tages verstehen. Ich glaube sogar, dass du es jetzt schon begriffen hast, nur nicht wahrhaben möchtest.“
 

Joey wollte noch etwas sagen, als es an der Zimmertür klopfte. „Was ist denn?“, murrte Joey, und wurde innerhalb von Sekunden von seiner Schwester ins Bett gedrückt, während sich Mokuba auf mich warf. „Aufstehen, ihr Schlafmützen!“, riefen beide im Chor. Zumindest erging es Joey mit seinem „Geschwisterchen“ ähnlich wie mir. Wir sahen uns beide kurz an, ehe wir das Duo unter unseren Decken begruben. Kichernd versuchten sie sich zu befreien, aber Alter und Muskelkraft war auf unserer Seite. „Gebt ihr Ruhe, wenn wir euch rauslassen?“, fragte Joey, der wirkte, als wäre nichts gewesen. Beide bejahten folgsam die Frage, nur um uns aus der Deckenhöhle heraus wieder zu attackieren. Nach einer guten halben Stunde waren wir geschafft, und scheuchten die Beiden aus dem Zimmer. Mein knurrender Magen tat sein Übriges.
 

„Bereust du es schon ein wenig, dass Mokuba so an dir hängt?“, grinste Joey, und schlüpfte in sein Shirt. Ich warf ihm lachend meinen Pyjama an den Kopf: „Er ist sicher pflegeleichter als Serenity.“ Nach einigen weiteren Sticheleien gingen wir dann endlich ins Esszimmer, wo man an die große Tafel bereits vier Stühle gestellt hatte. Von Kaiba war weit und breit nichts zu sehen. Ich setzte mich hin, und goss mir warmen Kakao in meine Tasse und griff nach dem Müsli am Tisch. Das Frühstück war sehr europäisch, was mir gelegen kam: Zumindest morgens brauchte ich etwas, das mich an Zuhause erinnerte.
 

Serenity setzte sich neben Mokuba, und beide unterhielten sich angeregt darüber, wessen Bruder nun der Coolere sei. Ich biss kopfschüttelnd von meinem Toast ab. Ganz klar war es Kaiba. Er hatte Geld wie Heu, war sicherlich heiß begehrt, und obendrein ein exzellenter Duellant. Serenity meinte, dass es Joey sei, weil dieser so einen starken Willen besaß, und niemals aufgab. „Na und? Das hat David auch! Genauso wie Seto! Beide haben schließlich Pegasus besiegt!“ Mein Blick wanderte zu Joey hinüber, dem das Ganze irgendwie unangenehm zu sein schien. Er starrte lustlos auf seinen Teller, und stocherte im Frühstück herum.
 

„Was habt ihr denn für heute geplant?“, fragte ich das Geschwisterteam, welches uns schlagartig seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. „Shoppen!“, riefen beide gleichzeitig. Ich stöhnte. Das konnte wieder heiter werden. Vor meinem geistigen Auge sah ich Joey und mich, wie wir Taschen und Kartons hinter den schnatternden Zwergen herschleppten. Meine Befürchtungen sollten sich schlussendlich auch bewahrheiten.
 

Wir wurden zwei Stunden später von einem von Kaibas Chauffeuren ins Zentrum gefahren, wo wir das große Einkaufszentrum besuchten. Serenity meinte, sie brauche unbedingt etwas für den Sommer, der ja bald vor der Haustür stehen würde. Ich warf Joey einen vernichtenden Blick zu, gepaart mit einem breiten Grinsen – sie war anstrengender als Mokuba. Die Retourkutsche folgte auf dem Fuße: Auch mein kleines Geschwisterchen meinte, er brauche neue Sachen. Gleichstand.
 

Wir schlenderten also, mit Einkaufstüten beladen, durch das Einkaufszentrum. Es war bisher bei einigen Pullis, Hosen, neuen Schuhen und Stiefeln, sowie Schminkzeug geblieben, welches alles auf Mokubas Kappe ging. „Ich glaube, er hat Gefallen an deiner Schwester gefunden“, grinste ich zu Joey, der genervt aufstöhnte. „Bloß nicht. Ein Grund mehr, dass Kaiba über mich herfällt.“ Kichernd beobachtete ich Serenity und Mokuba, die sich angeregt darüber unterhielten, dass sowohl die Jungs, als auch die Mädchen in den jeweiligen Klassen einfach nicht ihr Fall seien.
 

„In eurem Alter habe ich mir noch gar keine Gedanken über eine Freundin gemacht“, riss ich die beiden aus dem Gespräch. Zeitgleich streckten sie mir die Zunge heraus: „Kann eben nicht jeder so lange warten wie ihr.“ Joey sah zu mir herüber und grinste: „Frech sind sie beide, oder?“ Ich nickte: „Allerdings.“ Wir stichelten noch eine Weile jeweils gegen das andere Team, bis es Nachmittag wurde, und man uns wieder abholte. Zum Glück übernahm der Fahrer das Verstauen der Sachen im Kofferraum. Wie er das ganze Zeug eingeladen bekommen hatte, ist mir bis heute ein Rätsel.
 

Wieder in der Kaibavilla angekommen, sprangen die beiden Quälgeister aus dem Wagen und meinten, wir könnten ja gemeinsam eine Runde spielen. Serenity habe mit Mokuba bereits die Beta-Version des Games testen dürfen, an dem Joey und ich synchronisieren durften. Ich seufzte, folgte der Einladung dann aber, mit einem amüsierten Joey, der meinte, er würde uns sowieso alle mühelos aus dem Ring werfen.
 

Nach einigen haarsträubenden Duellen, in denen interessanterweise Serenity und ich, sowie Joey und Mokuba ein Team bildeten (Team Joey hatte gewonnen), war es Zeit fürs Abendessen. Wieder fehlte von Kaiba jegliche Spur. Auf meine Frage hin meinte Mokuba, er wisse auch nicht, wo Seto sich herumtreibe – das sei aber normal für den CEO. Ich war froh, als die beiden sich dazu entschlossen, noch gemeinsam in Mokubas Zimmer fernzusehen, da es für uns etwas Ruhe bedeutete.
 

„Per Luftpost nach Amerika“, kommentierte ich Joeys Grinsen beim Zähneputzen. Unsere Ideen, wie wir die beiden ruhigstellen könnten, wurden immer wahnwitziger, was meist in einem Lachanfall unsererseits endete. Als wir endlich im Bett lagen, kuschelte ich mich geschafft an Joey, der mir noch einen Gute Nacht Kuss gab. „Lieber hüte ich einen Sack Flöhe, als das jeden Tag zu machen“, brummte ich. „Mh, viel Spaß, wenn du hier wohnst.“ Ich verpasste Joey noch einen Stoß mit meinem Ellenbogen, ehe ich geschafft einschlief.

Ein weiteres Puzzleteil

„Mahad?“ Meine Stimme hallte im Echo meiner Seele wider. Ich wusste, dass er mich hören konnte. Ich konnte es fühlen, seine Wärme spüren. Wir waren eins, und doch untrennbar separiert. Wie konnten eigentlich zwei Wesen so existieren? In diesem Moment war es mir egal, mehr noch: Es war gleichgültig, denn ich wollte etwas Bestimmtes wissen. Eine einzige Sache, die mir auf der Seele brannte.

Der Geist antwortete tatsächlich. Die Schwärze, die unser beider Seelenräume umhüllte, sie wich einem gleißenden Licht, das von dem Ägypter ausging. Er hatte seine Hände lächelnd in die Ärmel geschoben. Unser beider Lippen zierte ein Lächeln, und dennoch, es wirkte zögernd, fast schon traurig.
 

„Du weißt, worum ich dich bitten werde, oder?“, fragte ich. Mahad nickte nur. Das Lächeln auf unseren Zügen erstarb in dem Moment, in dem die letzte Silbe meine Lippen verließ. Sanft legte mir mein früheres Ich die Hand auf die Schulter und das helle Licht umhüllte auch mich. Eine angenehme, prickelnde Wärme liebkoste meine Haut. Die Härchen an meinen Armen und in meinem Nacken stellten sich auf, und ich fühlte mich, als hätte man mich in ein warmes Bad getaucht. Mein Blick wurde von dem gleißenden Lichterschein getrübt, und ich konnte erst wieder klar sehen, als sich das wärmende Gefühl langsam verflüchtigte.
 

Mahad und ich standen auf der Spitze eines hohen Turmes. Der Wind peitschte uns ins Gesicht, und mir fröstelte, ob der eisigen Kälte, die in meine Knochen fuhr. Im Nu hatte der Regen meine Kleidung durchweicht, und ich konnte nur mit Mühe das Klappern meiner Zähne verhindern. Mahad schien gänzlich unbeeindruckt von dem Unwetter zu sein, welches tobte – sein Blick war dennoch leer. Diese eine Erinnerung schien ihn zu plagen, von innen heraus zu zerfressen.
 

„Eli, bitte“, ließ mich die Stimme, die so derer glich, die ich liebte, von meinem früheren Ich wegsehen, und meinen Blick auf zwei wohlbekannte Gestalten zu lenken. Sowohl Elias, als auch Christopher standen in voller Rüstung auf dem sturmtosten Holzboden des Turmes. Ich konnte mir angenehmere Orte vorstellen, um etwas zu bereden, aber, ich konnte mir denken, warum sie hier miteinander sprachen.
 

„Ich sagte nein, Chris, ich kann nicht“, entgegnete mein Vorfahre. Seine Stimme war leise und doch trotzte sie dem Sturm mühelos. Ich musste nicht hinschauen, um seinen Blick zu erkennen, war er doch der Meine. Elias hatte die Augen niedergeschlagen, die Finger um den Griff seines Schwertes gelegt und den Kopf gesenkt. Er sträubte sich, und er wusste, was folgen würde. Ein Teil von ihm klammerte sich an die schwache Hoffnung, dass sein Geliebter sich für ihn entscheiden würde. Was für ein dummer Gedanke? Wie konnte er denn verlangen, was er selbst nicht bereit war zu geben?
 

„Eli, du bist der beste Kämpfer den wir haben. Niemand sonst kann Christian herausfordern.“ In Christophers Worten lag eine erschreckende Wahrheit, vermischt mit dem sterbenden Wunsch, sein Freund möge doch zur Besinnung kommen. Wer von ihnen würde zuerst die Pflicht über ihre Liebe stellen, sich zu einem Verrat hinreißen lassen?
 

„Das Rotauge ist seinem großen Bruder nicht gewachsen, Chris, das weißt du.“ Elias´ Blick senkte sich noch weiter. „Ich kann nicht Land und Volk riskieren, nur um die Kriegsgelüste deiner Freunde zu unterstützen. Bisher hat Richard mich nicht angegriffen, und solange ich mich neutral verhalte, wird er das auch nicht tun.“
 

Ein Kopfschütteln seitens des Blondschopfes ließ meinen Vorfahren aufschauen. „Warum wohl? Du hast die fähigsten Soldaten im Land, und vereint, könnte uns nichts aufhalten.“ Christopher ging auf Elias zu und nahm seine Wangen zärtlich in die Hände. Der Stoff seiner Handschuhe musste sich so vertraut anfühlen, so weich, genauso wie die warmen Lippen, die sich mit denen seines Liebsten vermischten. Dieser Kuss war aber nicht leidenschaftlich oder mit Liebe durchzogen: Er symbolisierte den Abschied.
 

Elias´ Miene gefror im Kuss, wandelte sich. Schmerzverzerrt und von Kummer und Trauer benetzt, lösten sich die Lippen der Beiden. Der Drachenritter glitt langsam an Christopher herab, versuchte sich noch mit den steifen Fingern an dessen Tunika festzuhalten, aber vergeblich. Der Blonde fing ihn behutsam auf und bettete seinen Liebsten auf dem kalten Holzboden. Ein letztes Mal strich er mit den Fingern über Elias´ Wange, ehe er ihm eine goldene Schatulle, sowie eine pergamentähnliche Duel-Monsterskarte vom Gürtel riss. „Es tut mir leid“, hauchte Christopher ihm noch ins Ohr, bevor er rasch den Blick abwandte, und vom Turm verschwand. Ich konnte den Dolchgriff in Elias´ Schulter noch gerade so erkennen, als wir uns wieder in den Unweiten unserer Seele wiederfanden.
 

„Ist es das?“, fragte ich leise, was mit einem traurigen Nicken quittiert wurde. „Ja, das ist es. Wenn du an Dinge wie Karma glaubst, dann hast du eine Erklärung gefunden, warum Joeys Schicksal so ist, wie es ist.“ Meine Hände ballten sich unweigerlich zu Fäusten. Was hatte diese eine Sache von früher mit heute zu tun? Mit uns? Mit meinem Joey?
 

„Wir haben ihm doch vergeben, oder?“ Mahad nickte erneut bestätigend: „Ja, das haben wir, David. Aber es gibt einen Unterschied – das Schicksal schert sich nicht um solche Bande.“ Hatte ich Joey eine leere Versprechung gemacht? Dass unsere Beziehung halten würde, egal was kam? War das eine Lüge gewesen? Würde sich diese eine Szene, wenn auch nicht so drastisch, wiederholen?
 

„Nein, wird es sich nicht. Auch wenn der Beginn vorherbestimmt ist, so könnt ihr selbst über euer beider Schicksal bestimmen.“ Irgendwie bewogen mich Mahads Worte dazu, zu lächeln. Er glaubte an das, was er mir gerade gesagt hatte, das spürte ich. „Euer beider Schicksal“, echoten seine letzten Worte in meinem Kopf wider. Schicksal.
 

Vor meinem geistigen Auge bildete sich ein Bild. Joey, wie er, hinter mir stehend, die Arme um mich geschlungen hatte. Sein Lächeln war frei und er wirkte wie er selbst. Ich lehnte mich gegen ihn und sah grinsend zu ihm auf. Neben uns standen Tristan und Yugi, welche Mokuba mit einem Schmunzeln bedachte, der die gleiche Geste bei Serenity nachahmte. Nach und nach gesellten sich mehr Personen dazu: Bakura, Duke, Tea, sogar Kaiba, der, wie immer, mit seinem gleichgültig kalten Blick die Situation gelassen begutachtete.
 

„Wenn du dieses Bild festhältst, und daran glaubst, kann es wahr werden.“ Mahads Worte ließen das Bild sanft verblassen. „Sogar Kaiba“, schmunzelte ich. Das helle Lachen des Ägypters hallte von überall und nirgends wider. „Wir sind einmal gute Freunde gewesen, fast wie Brüder.“ Sanft stupste mir Mahad gegen die Stirn. „Das mit den verbrüderten Drachen kommt schon nicht von ungefähr.“ Wie sehr einen die Vergangenheit doch noch beeinflussen konnte.
 

„Soll…soll ich die Toon World behalten?“, fragte ich nach einer Weile vorsichtig. Mein anderes Ich schrägte neugierig den Kopf. „Natürlich, du hast die Karte schließlich nicht ohne Grund gewählt. Sie ist jetzt ein Teil von dir, von deinem Deck, genauso wie es die anderen Karten sind.“ Vor uns erschien eine große Ausgabe der Toon World-Karte. Nach und nach gesellten sich Monster dazu, alle in einer Zeichentrickform, die schräg, wie auch schaurig und lustig wirkte.
 

„Der Schwarze Magier, der Soldat des Schwarzen Lichts, schau, sogar der Schwarze Totenkopfdrache – sie sind alle deine Monster.“ Über den Monstern erschien der Oberkörper der Exodia, die ihre Hände schützend über uns ausbreitete. Auch wenn ich die Karte noch immer nicht sonderlich liebte, so fühlte es sich in diesem Moment richtig an, so, als ob sie mich beschützen würde.
 

„Wenn du an dich und Joey glaubst, werdet ihr, gemeinsam mit euren Freunden, jedes Problem lösen können, und auch jeder Gefahr wiederstehen.“ Würden wir das? „Natürlich. Außerdem helfe ich dir ja, oder?“ Ich seufzte erleichtert und nickte dann. Natürlich, ich war nie alleine, egal wohin ich auch ging. „Nun solltest du dich aber allmählich sputen, es wird bald morgen werden, und so wie ich Mokuba kenne, lauert er bald vor eurer Tür.“
 

Erneut hüllte mich gleißendes, warmes Licht ein. Meine zuvor noch nassen Sachen, genauso wie die eisige Kälte, die ich vor einigen Minuten noch verspürt hatte, sie waren trocken und der Wärme gewichen. Einige Augenblicke später lag ich wieder im Bett, an Joey gekuschelt. Der schlief seelenruhig neben mir, zur Abwechslung einmal. Müde drehte ich meinen Kopf und bettete ihn wieder auf das Kissen. Mit seinem warmen Atem im Nacken schlief ich wieder ein.

Alltag

Ich wurde von Joeys sanften Lippen geweckt, die sich an meinen Nacken schmiegten. Wohlig murmelnd drehte ich mich zu meinem Freund herum und lächelte diesem verschlafen entgegen. „Daran könnte ich mich glatt gewöhnen“, gluckste ich und spitzte die Lippen, um ihm einen zweiten Kuss abzubetteln. Schmunzelnd kam er meiner Forderung nach, nur um sich dann zu strecken und aufzustehen.
 

„Wie spät ist es denn?“, fragte ich und streifte die Bettdecke ab. „Hm, schätze wird wohl so halb zehn, zehn sein“, antwortete der Blondschopf und schlüpfte in sein Shirt. Mir fiel erst jetzt auf, wie zerschlissen das Teil eigentlich war. „An der Altkleidersammlung vorbeigelaufen, oder wollte der Sperrmüll es einfach nicht mehr?“, sprach ich meine Gedanken laut aus, was mit einem wütenden Blick seitens Joey bestraft wurde. „Hey, das ist mein Lieblingsshirt!“, fauchte er. „Ist ja gut“, entschuldigte ich mich halbherzig und huschte ins Bad.
 

Lieblingsshirt hin oder her, ich würde ihm beizeiten ein paar neue Sachen besorgen. Gedankenverloren fuhr ich mir über Kinn und Wange, und wollte mich gerade mit Rasierschaum eindecken, als es an der Badezimmertür klopfte. „Hm?“, brummte ich und stellte die Dose wieder auf das kleine Regal über dem Waschbecken zurück. „Du bist in den Nachrichten!“, konnte ich Joey aufgeregt durch die Zimmertür rufen hören. Bitte?
 

„Träumst du noch, oder was ist mit dir los?“, fragte ich, als ich aufsperrte. Der Blondschopf drückte mir fast die Ausgabe der heutigen Zeitung ins Gesicht. Ich brauchte einige Momente, um zu kapieren, worauf er hinauswollte, dann schluckte ich aber laut. Da war ein Foto von mir und Kaiba. Die Überschrift ließ mir beinahe das Essen von gestern hochkommen: „Exodia-Duellant besiegt Pegasus im Alleingang – Teilnahme am örtlichen Battle City Turnier wahrscheinlich.“
 

„Du nimmst am Turnier teil?“, wollte Joey begeistert wissen. Welcher Trottel hatte denn diese Meldung verbreitet? Ich ignorierte meinen Freund und überflog den Artikel. Natürlich, wer sonst, außer Kaiba, konnte mich als Werbemaskottchen missbrauchen. Meine Miene verfinsterte sich. „Was ist denn das für ein Schundblatt?“, seufzte ich und ließ die Zeitung sinken. Auf einer Skala von eins bis zehn entsprach der Wahrheitsgehalt ungefähr einer drei, wenn man Angaben zu meinem Namen, Geschlecht, Alter und der derzeitigen Schule hinzuzählte.
 

„Das ist doch total cool!“ Joey konnte mich mit seiner Euphorie nicht sonderlich anstecken. „Das ist total behindert“, korrigierte ich ihn. „Jetzt wird wahrscheinlich jeder dahergelaufene Depp ein Duell mit mir wollen. Außerdem kann ich Kaiba nicht zusammenstauchen, wenn ich hier wohne.“ Mir dämmerte bereits, ich hätte mich nie auf Mokubas Wunsch, oder besser gesagt sein Geschenk, einlassen sollen. Der goldene Käfig war zwar sicher angenehm, aber er hatte auch seine Nachteile. Spätestens bei der nächsten Werbekampagne mit dem „Exodia-Duellanten“ würde ich auszucken.
 

„Spinnst du? Du bist jetzt eine echte Berühmtheit! Ich habe ewig gebraucht, um meinen Ruf aufzubauen!“ Ich rollte mit den Augen: „Natürlich, aber es gibt einen Unterschied – ich wollte das nie.“ Genervt warf ich Joey die Tür vor der Nase zu und machte mich ans rasieren. Was als Nächstes? Bekam ich noch eine unbekannte Freundin zugeschanzt? Vielleicht war ich ja auch mit Kaiba zusammen, und er sponserte mich deswegen? In der Schule würde mich jeder belagern, jedes Detail wissen wollen, dabei war es einfach nur Glück gewesen.
 

„Nun, so ganz stimmt das nicht.“ Ich hätte mich vor Schreck beinahe geschnitten, als Mahads durchsichtige Gestalt im Spiegel auftauchte. „Du nicht auch noch“, murrte ich und begann mich der Bartstoppeln zu entledigen. Das amüsierte Kichern des Ägypters trug nicht unbedingt dazu bei, dass sich meine Stimmung aufhellte. „Nein, aber ich weiß, dass du nicht gerne im Rampenlicht stehst.“ Natürlich wusste er das, schließlich waren wir ja irgendwie ein und dieselbe Person. „Versuch einfach das Beste daraus zu machen. Vielleicht bekommst du ja deinen eigenen kleinen Fanclub?“ Gerade der konnte mir gestohlen bleiben. „Hast du dir nun überlegt, ob du die Toon World in dein Deck aufnehmen willst?“
 

Ich hielt inne. Sollte ich? Die Karte war viel zu mächtig, um sie zu benutzen. Außerdem glaubte ich, nach den ganzen Vorkommnissen der letzten Wochen, dass sich in den Karten selbst vielleicht manchmal doch ein Stück weit Leben befand. „Ich mag Cartoons eigentlich“, entgegnete ich und rasierte mich weiter. „Nun, damit hat sich die Frage wohl erledigt“, lächelte mir mein Gesprächspartner entgegen, bevor er verblasste. Nachdem ich fertig war, und mein Gesicht mit dem Handtuch abtrockente, ging ich zu meinen Sachen und kramte mein Deck hervor. Ich fächerte es auf und starrte auf meinen Preis. Wie konnte einer so lächerlich anmutenden Zeichnung so viel Macht innewohnen? Mein grummelnder Magen hielt mich von weiteren Gedankengängen ab und trieb mich, nachdem ich mich angezogen hatte, ins Esszimmer hinab.
 

„Guten Morgen, Schlafmütze!“, trällerte es mir entgegen. Mokuba und Serenity saßen fast schon aufeinander, und vertilgten ihr Frühstück. Ich rieb mir den Nacken: „Morgen“, und setzte mich dazu um mir Cornflakes in meine Schüssel zu füllen. Woher wusste dieser Koch, oder Butler, oder wer auch immer eigentlich, worauf ich gerade Lust hatte? „Habt ihr Joey gesehen?“, fragte ich und schaufelte die erste riesige Portion in mich hinein. „Der meinte, er habe keinen Hunger“, antwortete Mokuba. Ungewöhnlich, Joey aß nämlich in der Regel auch gerne. Die ersten Sorgen keimten bereits in mir auf, und irgendwie schien mich mein Gesicht verraten zu haben, denn Serenity schüttelte nur lächelnd den Kopf: „Mach dir keinen Kopf. Ich kenne ihn ein wenig besser als du.“
 

Sie hatte leicht reden, andererseits aber auch Recht. „Hör mal Serenity, mir tut es leid, dass ich deinen Bruder so von dir fernhalte. Eigentlich wollte ich ja, dass ihr Zeit miteinander verbringt.“ Joeys kleine Schwester strich sich verlegen lächelnd eine Strähne aus dem Gesicht: „Das machen wir doch. Außerdem freut es mich, Joey so glücklich zu sehen.“ Gerade als ich etwas erwidern wollte, begann Mokuba die wahnwitzige Idee auszubreiten, wir könnten doch einmal gemeinsam in der VR etwas machen.
 

„Champ - “, schmunzelte ich und schüttete mir Milch nach. „Der Ritter in der strahlenden Rüstung musst du sein, nicht ich.“ Bei meinem Kommentar wurde der kleine Kaiba dezent rot im Gesicht, was Serenity zu einem Kichern verleitete. Kaiba würde toben, wenn er erst einmal realisierte, dass zumindest Mokuba Gefallen an Joeys Schwester gefunden hatte. „Sag mal Mokuba?“, begann ich und versuchte den Kleinen so von dieser peinlichen Situation zu erlösen. „Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, zu behaupten, ich würde bei diesem Battle City Turnier teilnehmen?“
 

Mokubas Scham sprang sofort in Euphorie um. „Seto und ich!“ Ah ja, wenigstens wusste ich nun mit Sicherheit, wem ich für meine unfreiwillige Nominierung zu danken hatte. „Yugi und Joey machen auch mit.“ Na fein, wenigstens konnte mich jemand aus dem Turnier fegen, den ich mochte. „Du wirkst ja gar nicht so, als ob du dich freuen würdest“, stellte Serenity fest und musterte mich. „Tu ich auch nicht“, antwortete ich knapp. „Lass mich raten, Joey berät sich mit Yugi, oder?“ Sie biss sich auf die Lippen, was für mich Antwort genug war.
 

„Ja genau, denn das Finale wird ein Teamduell sein!“, platzte es aus Mokuba heraus. Ich verschluckte mich an meinen Flakes und hustete lautstark. Nicht schon wieder so eine Schnapsidee. Röchelnd klopfte ich mir mit der Faust auf die Brust. „Du wirst mit Seto gegen Yugi und Joey antreten, sofern ihr es ins Finale schafft, aber das ist ziemlich sicher.“ Natürlich war es ziemlich sicher. Wahrscheinlich würde Kaiba jeden meiner Gegner bei einem drohenden Sieg daran erinnern, dass er ihn sowohl wirtschaftlich, als auch gesellschaftlich ruinieren konnte.
 

Der restliche Morgen verlief recht ereignislos. Ich ließ mich schlussendlich doch zu einer Runde VR hinreißen, wobei natürlich Mokuba den Vortritt bekam, um Serenity zu beeindrucken. Innerlich musste ich ein wenig schmunzeln, als ich die beiden so betrachtete. Waren Joey und ich genauso? Der hatte mir einfach eine Nachricht geschrieben, er sei beschäftigt, und ich solle mit dem Schlafen nicht auf ihn warten. „Blödmann“, war meine knappe Antwort, versehen mit einem Zwinkersmiley.
 

Nachmittags drehte ich eine Runde durch Kaibas imposanten Garten. Ich fand das Ganze zwar ein wenig kitschig, mit Heckenlabyrinth, weißem Kies und Skulpturen, die natürlich alle Weiße Drachen darstellten. Auch wenn das Ganze nicht meinen Geschmack traf, so musste ich doch dem Gärtner ein stilles Kompliment zukommen lassen. Wie man die Pflanzen auch über den Winter hinweg so kultivieren konnte war mir schleierhaft. Vielleicht konnte ich mir ja ein paar Tipps holen, und diese an meine Großmutter weiterleiten, die ihren kleinen Garten mit viel Liebe pflegte.
 

Nach der Dusche folgte das Abendessen, wobei ich dieses Mal nur von einem äußerst steif wirkenden Butler beobachtet wurde. Serenity und Mokuba zogen es vor, in seinem Zimmer zu essen, und Joey war noch immer nicht aufgetaucht. Der Hausherr hatte länger in der Firma zu tun und so blieb wohl nur ich übrig, den man mit Schweigen beglücken konnte. Ich bedankte mich für das Essen, verbeugte mich höflich, und zog mich dann in mein Zimmer zurück.
 

„Kommst du überhaupt mal wieder?“, schrieb ich Joey, und pflanzte mich in mein Bett. Mir war ehrlich gesagt ein wenig langweilig. Im Fernsehen lief nichts, und die kleinen Turteltauben wollte ich nicht stören. „Heute wahrscheinlich nicht mehr, schlafe bei Yugi.“ Ich ertappte mich dabei, wie ein Lächeln auf meine Lippen huschte. Joeys Hingabe, wenn ihn einmal etwas fesselte, sie war irgendwie süß. „Ist gut. Träum fein und grüß Yugi von mir.“
 

Als ich das Handy weglegte, fiel mir etwas ein. Ich kramte in meinen Sachen und wurde bald fündig: Der Brief von Pegasus. Mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu öffnete ich ihn. Er hatte sich sogar die Mühe gemacht, ihn handschriftlich zu verfassen. Auch wenn ich ihn noch immer nicht mochte, so war sein Schriftbild wunderschön, nicht zu vergleichen mit meiner Sauklaue.
 

„Lieber David, wenn du diese Zeilen liest, wird sich dein Großvater wahrscheinlich bereits in Therapie befinden, beziehungsweise betreut werden. Ich halte mein Wort. Die Maßnahmen sind vielversprechend, und wir haben bereits teilweise halbseitig gelähmte Patienten heilen können. Ich bin zuversichtlich, dass wir solche Erfolge auch bei deinem Großvater erzielen werden.
 

Mein eigentliches Anliegen ist aber ein anderes. Du hast mir eine sehr liebgewonnene Karte, einen teuren Schatz, abgenommen. Niemand spielt mit Maximilien Pegasus, und eigentlich war ich versucht, mich an dir zu rächen. Stattdessen habe ich eine Bitte an dich: Verwahre sie gut, und denke an die Erinnerungen, die wir beide damit verbinden. Wenn die Zeit reif ist, kehrt sie vielleicht zu mir zurück, oder Funny Bunny bringt sie höchst selbst. Ich beobachte dich.
 

Pegasus“
 

Seufzend legte ich den Brief beiseite. Was sollte ich von dieser Nachricht wieder halten? Ich hatte mit Drohungen, Beschimpfungen und was weiß ich gerechnet. Stattdessen war er sogar einigermaßen nett gewesen, mal abgesehen vom letzten Satz. Darüber wollte ich mir aber keinen Kopf machen, zumindest derzeit nicht. Ich griff nach der Fernbedienung und zappte durch das Programm. Tatsächlich wurde ich fündig: Es lief ein Anime aus meiner Kindheit. Lächelnd ließ ich mich ins Kissen sinken. Dieser Tage würde ich einmal bei meinen Großeltern anrufen, und mich erkundigen, wie es ihnen ging. Zumindest dabei hatte ich kein schlechtes Gefühl, warum auch immer. Pegasus schien wirklich Wort zu halten. „Funny Bunny“, murmelte ich, und dämmerte schmunzelnd weg. Was für ein Kindskopf.

Die Sorgen zweier Seelen

Ich hatte diese Nacht äußerst schlecht geschlafen. Joey fehlte mir, dazu noch der Brief von Pegasus, und irgendetwas, das an mir nagte. Es zu beschreiben war unmöglich. Da war ein Gefühl, eine dunkle Vorahnung, der Wunsch, etwas zu verändern. Nachdenklich knipste ich die Nachttischlampe an und betrachtete den Milleniumsring an meiner Brust. Bakura hatte Angst davor gehabt, ich nicht. Yugi besaß das Puzzle, ich den Ring, Pegasus das Auge. All unsere Gegenstände schienen eine besondere Fähigkeit zu besitzen. Pegasus aber hatte seinen Körper damals augenscheinlich nicht mit jemand anderem geteilt.
 

„Jeder Milleniumsgegenstand besitzt besondere Eigenschaften und Fähigkeiten“, lächelte Mahad, der plötzlich neben mir auf der Bettkante saß. Eigentlich hätte ich erschrecken müssen, aber mir war der Ägypter mittlerweile genauso wenig fremd, wie es Joey oder Yugi waren. „Das heißt, es gibt noch mehr?“, fragte ich und sah auf. Der Braunhaarige nickte bestätigend. „Ja, es gibt noch mehr.“ Gedankenverloren sah ich wieder auf den Ring hinab und stupste mit dem Finger dagegen, was ein leises Klirren zur Folge hatte. „Bist du enttäuscht?“, fragte mein früheres Ich nach. War ich das? „Nein“, antwortete ich zögernd. Der Milleniumsring war ein Teil von mir, genauso wie Mahad. Er fühlte sich auch nicht falsch an, oder gefährlich, aber, wenn ich so an Pegasus dachte, der einfach mit seinem Auge die Gedanken seiner Gegner lesen hatte können.
 

„Mit ein wenig Übung wirst auch du die verborgenen Fähigkeiten des Ringes zum Vorschein bringen“, sagte der Ägypter zuversichtlich. „Hat er also welche?“, bohrte ich neugierig nach, was mit einem Nicken bestätigt wurde. „Ja, auch der Milleniumsring hat einige Mechanismen, die aktiviert werden können. Welche genau, das musst du selbst herausfinden.“ Ich schrägte den Kopf ein wenig. Warum konnte er sie mir nicht einfach sagen. „Derzeit bist du noch nicht reif genug, um die Macht des Ringes vollends zu begreifen. Bald wirst du ihn nutzen können, genauso wie Pegasus und Yugi ihre Gegenstände. Übe dich bis dahin einfach in Geduld.“
 

Innerlich seufzte ich. Jeder meinte, mir vorschreiben zu müssen, was ich wann, wo, wie zu tun hätte. Dabei kam mir ein Gedanke, der mir den Magen umdrehte. „Mahad?“, fragte ich leise. Es war ein wenig albern, schließlich teilten wir uns eine Seele, oder einen Körper, oder die gleichen Gedanken – wir waren jedenfalls eins, und ich hatte das Gefühl, dass der Ägypter oftmals mehr wusste, als er zugab, auch über mich. „Ja?“, lächelte mir mein Gegenpart entgegen. „Kaiba wird mich sicher dazu nötigen, bei diesem bescheuerten Battle City Turnier mitzumachen. Ich kann auch nicht ablehnen, weil – “, ich setzte aus und deutete um uns herum. „Ich verstehe dich. Du möchtest, dass ich an deiner Stelle antrete?“ Seltsamerweise war es mir peinlich, den Geist darum zu bitten. Hatte er mir nicht bereits früher anstandslos geholfen? „Ja, du bist einfach erfahrener und ruhiger als ich. Außerdem scheinen die Karten dir eher zu gehorchen als mir.“ Der letzte Satz kam mir äußerst dumm vor, kaum, dass ich ihn ausgesprochen hatte. Es waren nur Hologramme, Abbilder von gedruckten Zeichnungen. „Da irrst du dich aber gewaltig“, schmunzelte Mahad. „Duel Monsters ist ein uraltes Spiel, welches bereits im Ägypten der Pharaonen gespielt wurde.“
 

Erstaunt starrte ich meinen durchsichtigen Wegbegleiter an. „Natürlich lief es damals deutlich anders ab, aber das Spiel der Schatten war der Vorläufer des heutigen Duel Monsters.“ Spiel der Schatten – in meinen Ohren klang das nicht gerade wie eine nette Nachmittagspartie Karten spielen. „War es auch nicht. Die Monster waren in Steintafeln gebannt und real, so wie du und deine Freunde.“ Real? „Du meinst, all die Monster, die wir im Laufe der Spiele heraufbeschwören, die gibt es wirklich?“ Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.
 

„Hast du schon die Ausflüge in die Vergangenheit vergessen?“, fragte der Geist und hob dabei seine Mundwinkel amüsiert in die Höhe. Natürlich hatte ich sie nicht vergessen, aber es war dennoch einfach zu fantastisch, zu glauben, das alles wäre wirklich so passiert. „Duel Monsters wohnt eine besondere Magie inne. Denkst du denn, du würdest dich zu bestimmten Karten hingezogen fühlen, nur, weil du sie als Besonders erachtest?“ Ich hatte nie so darüber nachgedacht, aber jetzt, wo mich Mahad darauf aufmerksam machte, griff ich nach meinem Deck, welches neben mir, auf dem Nachttischen lag und fächerte es auf.
 

Da waren tatsächlich Karten, die mir sofort ins Auge sprangen. Der Schwarze Magier, das Rotauge, der Kopf der Exodia, der Beauftrage der Dämonen. „Mit diesen Karten hast du eine besondere Verbindung, weil du sie früher schon benutzt hast.“ Konnte das stimmen? Vertraute ich deswegen so darauf, dass mir diese Karten manchmal den Hintern retteten? Ich strich mit dem Daumen über das Cover meines Schwarzen Magiers. Erinnerungen blitzten auf. Ein Grab, der andere Bakura, der Milleniumsring, wie er durch die Luft flog und scheppernd auf dem mit Hieroglyphen übersäten Steinboden landete. Danach folgte ein stechender Schmerz und es wurde dunkel. Wärme durchströmte mich, und als ich die Augen aufschlug fühlte ich mich wieder ganz. Ich starrte auf das Cover und blinzelte mehrmals.
 

„Das – “ setzte ich an, hielt dann aber inne. Wie konnte das sein? Ich kannte meine Karte genau, ganz genau, und doch, sein Gesicht, die Statur, sogar die Haarsträhnen, die aus dem Helm hervorlugten. „Das bist du“, stellte ich fest. Seltsamerweise senkte der Ägypter sein Haupt und schlug die Augen nieder. „Natürlich bist du das, nein, das sind wir!“ Ich erinnerte mich. Erst waren es nur flüchtige Fetzen, Eindrücke, wie aus einem Traum, doch nach und nach verdichteten sich die einzelnen Puzzleteile zu einem Bild.
 

„Der Schwarze Magier, damals, in der VR, mit Mokuba, das warst auch du, oder?“ Aufgeregt legte ich die Karten beiseite und starrte mein früheres Ich an. „Du hast dich in der Schwertklinge gezeigt. Das war keine Einbildung.“ Anhand seiner Reaktion konnte ich erkennen, dass ich Recht hatte. „Du und der Geist, der in Yugi wohnt, ihr zwei seid gute Freunde, oder?“ Schief lächelnd sah Mahad auf und nickte. „Ich habe es mir also nicht eingebildet, oder? Yugi kann genauso mit seinem früheren Dasein tauschen wie ich?“ Natürlich musste er das können, gerade vor zwei Minuten hatte ich dies für ein unumstößliches Faktum gehalten. „Ja“, sagte der Geist leise.
 

„Darum ist mir nach Joey auch Yugi der Liebste, oder?“, fuhr ich weiter fort, ohne auf eine Antwort zu warten. „Weil wir einst befreundet gewesen sind. Der Schwarze Magier ist seine Lieblingskarte, weil du der Schwarze Magier bist, du dich für ihn geopfert hast.“ Ich fuhr mir mit den Fingern an die Schläfen. „Der Weiße Drache, du hast gegen das Ding einmal gekämpft, oder?“ Natürlich hatte er das. Darum war die Karte so furchteinflößend, wirkte für mich so real – weil sie es einst gewesen war. Mahad, ich, nein, wir, wir sind diesem Monster einmal gegenübergestanden.
 

„Warum hast du mir nie was davon erzählt?“ Ich bemühte mich, nicht vorwurfsvoll zu klingen. „Weil die Vergangenheit nicht immer gut für die Gegenwart ist“, murmelte der Geist leise. „Was hast du denn auf einmal?“, wollte ich wissen und rückte näher an ihn heran. Was mochte wohl passieren, wenn ich versuchte, ihn zu berühren? „Du würdest ins Leere greifen“, beantwortete der Ägypter meine unausgesprochene Frage.
 

„Ich habe mich so oft reinkarniert, gewartet, gehofft und immer wieder die gleichen Fehler gemacht. Meiner jetzigen Existenz möchte ich dieses Schicksal ersparen.“ Der Geist sah auf und machte ein betrübtes Gesicht. „Ägypten, England – ich war immer zu schwach, das Richtige zu tun. Ich möchte nicht, dass dir dieses Schicksal erneut, hier, in Japan, widerfährt.“ Ich verstand nicht ganz. „Aber Mahad, du hast doch alles richtig gemacht? Die Welt existiert noch, und deine Freunde, zumindest einer, auch.“ Meine Worte schienen ihn nicht sonderlich aufzumuntern. „Ich war dennoch der Grund dafür, dass sie einmal beinahe untergegangen wäre.“
 

Entschlossen fasste ich nach der Schulter des Geistes. Auch wenn ich sie nicht ergreifen konnte, so tat ich zumindest so, als würde ich meine Hand darauf betten. „Beinahe reicht aber nicht. Fehler sind total okay, jeder macht sie. Manche sind größer, manche kleiner. Es ist wichtig, daraus zu lernen und sie zu vermeiden, oder es zumindest zu versuchen. Stark ist, wer nicht in der Vergangenheit hängt, sondern versucht, die Zukunft zu verändern.“ Tatsächlich hellte sich Mahads Gesicht ein wenig auf. „Das ist lieb von dir, danke.“ Ich nickte leicht: „Wir sind eins, und du kannst dich genauso an mich wenden, wie ich an dich, ja?“
 

Der Geist hob die Mundwinkel an und nickte ebenfalls. „Du hilfst mir also beim Battle City Turnier?“, versuchte ich ihn von seinen düsteren Gedanken abzulenken. „Alleine schaffe ich das nämlich nicht. Da sind sicher nur die Besten der Besten, und ich möchte zumindest nicht gleich rausfliegen.“ Mahad schmunzelte: „Das würdest du auch ohne meine Hilfe nicht, aber natürlich helfe ich dir. Wir sind eins, wie du gesagt hast.“ Erleichtert atmete ich aus. Das Vibrieren meines Handys ließ uns beide auf den Beistelltisch starren.
 

„Und?“, fragte mich Mahad, als ich auf das Display schaute. Serenity, die mich fragte, ob ich schon wach sei. „Ich hatte ehrlich gesagt mit Joey gerechnet, und nicht mit seiner Schwester“, murmelte ich, und tippte ein knappes „Ja“ zurück. „Nun, was erwartest du denn? Du bist der Freund ihres Bruders“, kicherte der Geist amüsiert. „Hast du Lust, mit mir heute etwas zu unternehmen? Also nur wir zwei; Mokuba musste mit seinem Bruder in die Firma, und so wie ich Joey kenne, wird er heute auch nicht heimkommen.“
 

Ratlos kratzte ich mich an der Stirn. „Sag einfach ja, und nutze die Chance, um ein wenig über Joey herauszufinden. Jene Dinge, die er dir nicht erzählt, könnte er vielleicht mit seiner Schwester teilen.“ Gerade als ich „Klar“ zurückschicken wollte, hörte ich ein Geräusch an der Tür. Augenrollend legte ich das Handy beiseite. „Serenity, du kannst auch einfach reinkommen.“ Lächelnd lugte Joeys Schwester durch den Spalt herein, den sie geöffnet hatte. „Hey!“, rief sie und betrat das Zimmer. „Hast du Besuch?“ Ich blinzelte kurz, verstand dann aber. Mahad war bereits verschwunden. „Nein, bin wohl einfach nur noch ein wenig schläfrig“, log ich.
 

Joeys Schwester setzte sich genau dorthin, wo Mahad zuvor noch gewesen war. „Ziemlich arschig von deinem Bruder, dich alleine zu lassen“, sagte ich und grabbelte nach meinem Shirt. Serenity hob lächelnd die Schultern: „So war er schon immer, wenn es um Duel Monsters geht. Außerdem, ohne dich hätten wir uns gar nicht gesehen.“ Ich hob die Mundwinkel ein wenig an: „Mein Geschenk gefällt euch beiden also?“ Lachend nickte sie: „Natürlich, was denkst du denn?“
 

Gerade, als ich etwas Freches erwidern wollte, kam mir mein grummelnder Magen dazwischen. Joeys Schwester kicherte: „Das kenne ich irgendwoher.“ Mit sanftem Griff zog sie mich aus dem Bett, hinter ihr her, in Richtung des Esszimmers. Schmunzelnd folgte ich ihr und tat dabei so, als würde ich mich wehren, aber ob ihrer überlegenen Stärke hoffnungslos verloren zu sein. „Man merkt, wer dein Bruder ist“, lachte ich noch, als wir zum heißersehnten Frühstückstisch kamen, der bereits beladen war mit Müsli, Vollkorntoast, Honig, Marmelade und Kakao. An diesen Service konnte ich mich glatt gewöhnen.

Von Brüdern und Schwestern

Ich verschlang, unter leisem Kichern von Serenity, sämtlich verfügbares Essen und spülte das Ganze mit Kakao hinunter. „Du bist genau wie Joey, wenn er Hunger hat.“ Hastig verbarg ich mein Grinsen hinter der Tasse. In meinen Augen war mein Freund deutlich schlimmer als ich, wenn es darum ging, Nahrung zu verwerten. „Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“ Das war eine gute Frage.
 

„Nun, wenn ich ehrlich bin, hat Joey es gleich am ersten Tag geschafft, dass ich mich mit Kaiba duellieren durfte.“ Nachdenklich biss ich, unter Serenitys neugierig-aufforderndem Blick, ein weiteres Stück Toast ab. „Die große Klappe deines Bruders, kombiniert mit seiner impulsiven Ader und dem unterschwelligen Hass, den er auf Kaiba hat, reichen in der Regel einfach aus, damit Probleme entstehen“, fuhr ich schmunzelnd fort. „Er weiß eben genau, wann man wo, was, wie nicht sagen sollte.“
 

Serenity schrägte den Kopf ein wenig und stützte ihn auf ihrer flachen Hand ab. „Er hat mir viel von dir erzählt“, lächelte sie. „So, hat er das?“, fragte ich nach, was mit einem Nicken bestätigt wurde. „Ja, Joey hat mir schon sehr früh von dir erzählt. Der Neue sei ziemlich cool. Dass er für deine Konfrontation mit Kaiba verantwortlich war, hat er natürlich weggelassen.“ Typisch Joey, die „unwichtigen“ Details, die einen selbst belasteten, konnte man ruhig unter den Teppich kehren. „Manchmal, da hat er wieder dieses Glitzern in den Augen, wie damals, bevor sich unsere Eltern getrennt haben, wenn er von dir spricht.“
 

Die Trennung; da war etwas gewesen. Joey hatte davon eigentlich fast gar nichts erzählt. „Sag mal Serenity, ich will nicht zu aufdringlich sein, aber, könntest du mir einmal ein wenig von damals erzählen?“ Die Schwester meines Freundes wirkte ein wenig überrascht, nickte dann aber: „Was möchtest du denn gerne wissen?“ Was wollte ich denn wissen? Es gab so viele dunkle Stellen in Joeys Vergangenheit. „Erzähle mir einfach, was du mir erzählen möchtest, ja?“ Serenity nickte und griff sich eine Schale Kakao.
 

„Unsere Eltern haben sich getrennt, als wir noch klein waren. Mum kam irgendwann nicht mehr mit Dad klar, sie hatten sich auseinandergelebt. Für Joey war die Trennung sehr schlimm. Ich war einmal sein Ein und Alles.“ Sie legte eine kurze Pause ein, bevor sie fortfuhr: „Ich bin mit meiner Mutter dann in die USA gezogen. Sie hat dort ihren heutigen Lebenspartner, Marc Brown kennengelernt.“ Ich blinzelte irritiert: „Meinst du den Baseballspieler?“ Lächelnd nickte Serenity: „Genau den.“ Man hätte es auch schlechter treffen können, in meinen Augen.
 

„Jedenfalls, der Kontakt zwischen Joey und mir ist nie abgerissen, wir konnten uns eben nur nicht mehr so oft sehen. Eigentlich überhaupt nicht, weil meine Mutter nicht wollte, dass ich - “ Sie stockte, und ich hatte auch eine Vermutung warum. „Dass du Kontakt mit einem Alki hast“, führte ich den Satz zu Ende. Stumm nickte Serenity und senkte den Blick ein wenig. „Ich verstehe aber nicht, warum Joey bei eurem Vater geblieben ist, wenn der damals schon ein Alkoholiker gewesen ist.“ Mir tat die Frage bereits in dem Moment leid, als sie meine Lippen verlassen hatte.
 

„Das war einfach kompliziert und irgendwie waren alle mit der Situation überfordert“, flüsterte sie und senkte den Blick noch weiter, sodass ihr einige Haarsträhnen ins Gesicht fielen und es verdeckten. Ich nickte leicht und wartete auf eine weitere Reaktion, die aber ausblieb. „Es ist nicht eure Schuld, egal wer das auch behaupten mag.“ Schlagartig sah Serenity auf. „Sowas ist schwierig, ich weiß, und du bist auch noch recht jung, aber konzentriere dich auf andere Dinge und genieße dein Leben. Joey schaukelt das Ding schon.“ Mein Gewissen nagte zwar ob des letzten Satzes an mir, dennoch wagte ich zu bezweifeln, dass mein Freund es gutgeheißen hätte, wenn ich seiner Schwester die Situation komplett unbeschönigt geschildert hätte.
 

„Aber, eigentlich wollte ich mit dir über etwas Anderes sprechen“, versuchte ich das Thema zu wechseln. Ein wenig Neugierde war in Serenitys fragendem Blick zu erkennen, als ich fortfuhr: „Wie dir sicher aufgefallen ist, hat sich Mokuba in dich verguckt.“ Ertappt errötete die Braunhaarige ein wenig. „Mich geht das eigentlich alles gar nichts an, weil er dafür einen großen Bruder hat. Ich kenne Kaiba aber gut genug, und auch seine soziale Inadäquanz, um zu wissen, dass er keine große Hilfe sein wird“ Joeys Schwester biss sich auf die Unterlippe. Also wahrscheinlich ins Schwarze getroffen. „Mokuba hat mir auch von eurer Bindung erzählt“, nuschelte sie. Wahrscheinlich hatte der Kleine sogar gehofft, dass ich dieses Gespräch für ihn führen würde.
 

„Sei einfach ehrlich zu ihm, ja?“ Ich nippte erneut an meinem Kakao, und ließ ihr Zeit, diesen einfachen Satz sacken zu lassen. „Ich lüge niemals“, stellte sie ein wenig gekränkt in den Raum. „Das habe ich nicht behauptet, Serenity. Wenn du ihn auch gerne hast, dann ist das okay, aber wenn du ihn nur als guten Freund siehst, dann sag ihm das offen.“ Anhand ihrer Reaktion konnte ich erkennen, dass sie sich wohl auch ein wenig in ihn verknallt hatte. Irgendwie war das Verhalten der Beiden schon goldig. Alles wirkte so unschuldig und frei von Problemen, die über das natürliche Maß hinausgegangen wären.
 

„Lass dir mit deiner Entscheidung ruhig Zeit, nur sei dabei ehrlich.“ Gerade, als sie etwas erwidern wollte, ging die Tür auf und einer der Bediensteten kam herein, mit der Frage, ob er denn schon abräumen dürfe. Nickend bejahten wir seine Frage, und gingen nach draußen. „Wie wäre es, wenn du mal deinen Bruder kontaktierst?“, schmunzelte ich. „Du bist schließlich wegen ihm nach Japan gekommen.“ Lachend fiel mir Serenity um den Hals. „Mh, aber ohne dich wäre das nie möglich gewesen.“ Ich hatte zwar ein Stück weit meine Seele dafür verkauft, aber, in meinen Augen war es das wert gewesen. Sanft erwiderte ich die Umarmung und scheuchte sie dann ins Gästezimmer. Lächelnd sah ich ihr nach. Wahrscheinlich würde sie nicht Joey schreiben, sondern jemand anderem.
 

„Dann hat es mich also nicht getäuscht“, sagte jemand hinter mir und das Lächeln auf meinen Lippen erstarb augenblicklich. Ich drehte mich um und konnte einen Kaiba, in weißem Hemd, das Sakko locker über die Schulter geworfen, erkennen. „Mokuba gefällt die kleine Wheeler also.“ Weder anhand seiner Stimme, noch anhand seiner Mimik konnte ich ausmachen, ob das gut oder schlecht war. „Und?“, fragte ich und achtete dabei sorgsam darauf, mir nicht in die Karten schauen zu lassen. „Ich werde dem sowieso keinen Riegel vorschieben können, ohne ihn zu verletzen“, entgegnete er und bedeutete mir, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen.
 

In dem Ding hätte man gut und gerne wohnen können. Es war riesig, mit antiken Möbeln versehen, was dem ganzen einen altertümlichen Touch verlieh. Mit einem Nicken bedeutete mir der CEO, mich in einen der Stühle sinken zu lassen, während er das Sakko über seinen Eigenen warf. Ich beobachtete ihn, wie er aus einem Regal eine Flasche mit Bourbon, sowie zwei Gläser hervorzog, und uns einschenkte. „Wir haben zwei Dinge zu klären“, fing er ohne Umschweife an und setzte sich. „Ersteres betrifft die Präsentation unseres Spiels auf der nächsten Gamemesse.“
 

Ich schrägte den Kopf und sah Kaiba fragend an. „Die Investoren möchten, dass auch du dort aufkreuzt. Ich werde natürlich alles mit der Schule klären, dass du freigestellt wirst. Hin- und Rückreise übernehme natürlich ich, genauso wie alle anderen Unkosten.“ Etwas an Kaibas Art verblüffte mich. Er war zwar noch immer ekelhaft bestimmend, aber doch irgendwie, netter? „Das sollte ich noch hinbekommen“, nickte ich und nippte am Bourbon, der hervorragend schmeckte. Wie Kaiba als Jugendlicher in Japan an solchen Alkohol kam, war mir ein Rätsel, aber andererseits, wer konnte schon Seto Kaiba vorschreiben, sich an die Gesetze zu halten? Zur Not wurden sie eben umgeschrieben.
 

„Die zweite Sache betrifft das bevorstehende Battle City Turnier.“ Genau, deswegen hatte ich sowieso noch mit ihm ein Hühnchen zu rupfen. „Ich habe in der PR-Abteilung bereits erste Entlassungen in Aussicht gestellt.“ Bitte? „Möglichkeiten als Fakten zu präsentieren gehört nicht zum Stil der Kaiba Corporation.“ Nicht? Dabei war doch genau das eigentlich bisher Kaibas Motto gewesen. Seine Meinung war ein Faktum, und dazu noch ein Unumstößliches. „Es steht dir natürlich frei, teilzunehmen. Außerdem würde es die Spannung ein wenig erhöhen, wenn neben mir und Yugi noch jemand einigermaßen begabter in die Finalrunde käme.“ Er hatte tatsächlich sich selbst vor Yugi genannt, aber das störte mich weit weniger als die Tatsache, dass ich anscheinend ablehnen konnte.
 

„Mokuba meinte aber, ihr hättet das so beschlossen“, stellte ich nüchtern fest. Kaiba schob seine Finger ineinander und schüttelte den Kopf: „Wir haben den Wunsch geäußert, dass du daran teilnehmen sollst, nicht, dass du wirst.“ Ich war zugegebenermaßen verwirrt. Was ritt Kaiba, dass er mir nicht reindrückte, was er alles für mich getan hatte, und was ich dafür machen musste? „Das Finale soll ein Partnerduell sein, oder?“ Der CEO zuckte mit dem rechten Augenlid, was ich als Geste des Missfallens wertete. „Ich bin noch ein wenig unschlüssig, auch wenn Mokuba Feuer und Flamme dafür ist, seine Brüder gemeinsam im Finale anfeuern zu können.“ Das Wort „Brüder“ betonte er für meinen Geschmack ein wenig zu lange.
 

„Mal angenommen, ich würde teilnehmen, wie liefe das dann ab?“ Kaiba nahm sein Glas und nippte daran, bevor er meine Frage beantwortete. „Wir werden es ähnlich halten wie beim letzten Turnier. Es werden mehrere Lokalisierungskarten gebraucht, und der Einsatz für jedes Duell ist deine seltenste Karte.“ Was? Erschrocken ging ich mein Deck gedanklich durch. „Keine Sorge, du wirst nicht verlieren. Wir werden für dieses Jahr die Sicherheitsmaßnahmen verstärken. Außerdem besteht der Großteil der Kandidaten aus blutigen Anfängern. Mit dir werden sich, genauso wie mit mir, nur wenige Wahnsinnige duellieren wollen.“
 

Ich zögerte ein wenig, bevor ich den Mund öffnete: „Diese Regel, sie gilt auch für das Finale?“ Kaiba nickte bejahend: „Für jeden Kampf.“ Das würde bedeuten, spätestens an Kaiba oder Yugi eine meiner Karten abtreten zu müssen. „Es werden einige äußerst seltene Monster dabei sein, die du zur Not eintauschen kannst.“ Er ging wohl echt davon aus, dass ich mich gut schlagen würde. „Ist gut, ich bin dabei“, seufzte ich, was den CEO zum angedeuteten Heben seiner Mundwinkel bewegte. „Im Fernsehen wird demnächst der Ankündigungsspot laufen – du musst dich weder öffentlich registrieren lassen, noch eine Duel Disk besorgen.“
 

Kaiba war viel zu nett. Aus meinem Deck konnte er aber keine Karte wollen, denn, da waren zwar manch seltene dabei, aber nichts, was er nicht auch haben könnte. Kurz hegte ich einen schrecklichen Verdacht, den ich aber sogleich wieder verwarf: Von der Toon World konnte er nichts wissen. „Frag ihn nach seinem Einsatz“, meldete sich Mahad in meinen Gedanken. „Welche Karte wirst du denn setzen?“ Ich konnte fast so etwas wie Erregung in Kaibas Gesicht erkennen, Vorfreude, Euphorie, Emotionen, die ich bei ihm gänzlich ausgeschlossen hatte. „Das wirst du dann sehen.“ Er bedeutete mir mit der Hand, dass unser Gespräch beendet sei. Ich trank das Glas Bourbon aus und ging dann nach draußen.
 

„Was glaubst du, hat er vor“, fragte ich Mahad leise, als wir uns draußen am Gang befanden. Der Geist erschien neben mir. „Er sucht etwas. Ich möchte mich mit Vermutungen noch zurückhalten, aber, wenn ich richtigliege, stecken wir in großen Schwierigkeiten.“ Das hörte sich nicht sonderlich aufbauend an. „Glaubst du er weiß von der Toon World?“ Der Ägypter schüttelte den Kopf: „Selbst wenn, darauf ist er nicht aus.“ Ich ging in mein Zimmer und dachte nach. Kaiba besaß schon einige der seltensten Karten überhaupt. Welches Ziel wollte er denn dann mit dem Turnier verfolgen? Zeitvertreib? Wohl kaum. „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf.“ Der Geist war wieder verschwunden. Seufzend ließ ich mich ins Bett sinken – in was war ich da nur wieder hineingeraten?

Wenn Angst auf Entschlossenheit trifft

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Zwei alte Freunde

Ich rieb mir die Augen und versuchte die verschwommene Umgebung einigermaßen klar wahrzunehmen. Wer auch immer auf die Idee gekommen war, nichts gegen diesen seltsamen Sickereffekt zu unternehmen, der auftrat, wenn man unvorbereitet aus der VR gerissen wurde, gehörte in meinen Augen verprügelt. Nach einigem Blinzeln konnte ich Mokuba und einen mir unbekannten Mann, höchstwahrscheinlich ein Techniker, erkennen. Der kleine Kaiba wirkte besorgt.
 

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er nach. Ich nickte nur und rieb mir mit Daumen und Zeigfinger die Augen. Was war das eben gewesen? Hatte Kaiba doch neue Funktionen einprogrammiert? Das war aber sogar für die VR noch ein Stück weit zu real gewesen. Kaibas Hologramme, genauso wie seine Spielwelten, mochten zwar täuschend echt wirken, doch, es war unmöglich, dass er einen so eigenständigen Datensatz erstellen konnte, oder etwa nicht? „David?“, hakte Mokuba erneut nach, energischer als zuvor. Mir war noch immer ein wenig schummrig.
 

„Ja, alles okay, keine Angst“, antwortete ich und zwang mich zu einem schiefen Grinsen. „Du machst dir zu viele Sorgen, genau wie Joey“, versuchte ich die angespannte Stimmung ein wenig aufzulockern. Der stechende Blick, mit dem mich der Kleine bedachte, beunruhigte mich ein wenig. In manchen Punkten konnte man die Verwandtschaft der Kaibabrüder einfach nicht leugnen. „Scheint wohl einfach nur ein wenig heiß gelaufen zu sein, euer System.“ Mokuba schüttelte zweifelnd den Kopf. Er dachte wohl genauso wie ich: Fehler bei seinem Bruder? Unmöglich.
 

„Das System ist soweit stabil. Ich werde mich gleich an eine Fehleranalyse machen“, erlöste mich der Fremde vom durchbohrenden Blick des kleinen Kaibas. Nach einer kurzen Verneigung war er auch schon verschwunden, und Mokuba und ich waren alleine. „Yugi möchte mit dir sprechen“, war alles, bevor er sich ans Gehen machte. Was war denn jetzt schiefgelaufen? Hastig sprang ich auf und griff nach der Schulter des Schwarzhaarigen. „Mokuba? Was ist?“ Der Kleine mied meinen Blick. War er enttäuscht? Traurig? Eifersüchtig? „Ich brauche nachher deine Hilfe“, murmelte er kleinlaut. Hilfe? Ich verkniff mir ein Seufzen, ging um ihn herum und hockte mich hin, sodass wir einigermaßen auf Augenhöhe waren.
 

„Mokuba, du kannst mit mir über alles sprechen. Seien es Probleme in der Schule, mit deinen Freunden, mit deinem Bruder, mit Mädchen.“ Beim letzten Wort zuckte er für einen kurzen Moment zusammen. Mittlerweile kannte ich den kleinen Kaiba gut genug, um diese unscheinbare Geste richtig deuten zu können. „Ich glaube, sie mag dich auch“, war alles was ich sagen musste, um sein Gesicht schlagartig zum Strahlen zu bringen. „Wirklich?“, fragte er euphorisch nach. Ich nickte schmunzelnd. Es gab eben doch Dinge, die man nicht mit Geld und Einfluss regeln konnte, zumindest auf gefühlsmäßiger Ebene. „Aber warum möchte mich Yugi sprechen?“ Der Schwarzhaarige hob die Schultern: „Joey ist übrigens auch da, wir werden später ins Kino gehen, falls du und Yugi Lust habt, könnt ihr gerne mitkommen.“ Wir schloss wahrscheinlich auch Serenity mit ein. Ich nickte nur, drückte den Frechdachs kurz, und machte mich dann auf den Weg in mein Zimmer. Warum hatte ich ein mulmiges Gefühl? Yugi war normalerweise nicht der Typ, der irgendetwas unter vier Augen besprechen musste.
 

Tatsächlich: Als ich das Zimmer betrat, saß Yugi schon auf meinem Bett. Er lächelte, was mir ein wenig von der Anspannung nahm. „Hey Yugi, was gibt es?“, fragte ich nach und schloss die Tür hinter mir. Der sonst so kleine, unauffällige Yugi, er wirkte so anders, größer, impulsiver, erhabener. Entweder hatte ich nicht mehr alle Latten am Zaun, oder -. Den Gedanken konnte ich nicht mehr zu Ende führen, denn der Milleniumsring an meiner Brust glühte hell auf. Auch wenn Mahad mich nicht dazu zwang, so konnte ich doch das Drängen spüren, dass er unbedingt mit mir tauschen wollte. Zögernd gab ich seinem Wunsch nach und wechselte in die Beobachterperspektive.
 

„Du bist es wirklich, oder?“, fragte Yugi. Ich, oder besser gesagt Mahad, nickte. Meine Züge zierte ein Lächeln, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. „Es ist schön Euch wiederzusehen, mein Pharao.“ Wir beide wirkten glücklich, als wir uns in die Arme fielen. Das war also eine Freundschaft, die Jahrtausende überdauert haben musste. Ich konnte Mahads Erleichterung, genauso wie seine Freude und sein Glück spüren. Yugi schien es ähnlich zu ergehen. „Du hast es also geschafft, nach all den Jahrhunderten?“ Der Blick meines Freundes wanderte zu meiner Brust. Ich legte die Hand auf das Schmuckstück und nickte. Es war seltsam: Ich wusste, ich konnte die Kontrolle über meinen Körper jederzeit wiederhaben, aber ich wollte meinem früheren Ich diesen einen Moment nicht zerstören. Beide schienen eine halbe Ewigkeit auf diese Wiedervereinigung gewartet zu haben.
 

„Weißt du, wie leer und düster es ohne dich gewesen ist?“ Yugi klang nicht vorwurfsvoll, sondern eher traurig. Ich verzog ein wenig das Gesicht: „Natürlich weiß ich das, mein Pharao. Dennoch waren weder Zeit noch Ort reif für eine Wiedervereinigung. Es scheint, das Schicksal hat mein Flehen nun doch erhört.“ Auch wenn mir dutzende Fragen unter den Nägeln brannten, so hielt ich mich zurück. Was mir Mahad erzählen wollte, würde er auch eines Tages tun. „Es scheint so, alter Freund“, lächelte mein Gegenüber. Mir drängte sich immer mehr der Gedanke auf, dass nichts aus Zufall passiert war. Weder meine Affinität zu Japan, noch meine Wahl, die auf die Domino High gefallen war.
 

„Wie ich sehe hast du deinen Schützling gut ausgebildet.“ Wir setzten uns aufs Bett. „Das Gleiche kann ich auch von Euch sagen. Euer Ruf eilt Euch voraus, mein Pharao.“ Yugi lachte und machte eine wegwerfende Handbewegung: „Dir der deine genauso.“ Ich als Beobachter schüttelte den Kopf. Da war noch ein Yugi, durchsichtig, so wie ich ihn kannte: Klein, freundlich, mit einem netten Lächeln auf den Lippen. War das der echte Yugi?
 

„Ja, bin ich. Hey David“, lächelte er und hob die Hand. Ich machte zögerlich einen Schritt nach vorne, was auch funktionierte. „Wir können uns nicht berühren, falls du das versuchen möchtest, aber ansonsten sind wir nicht sonderlich eingeschränkt.“ Dem Gespräch unserer anderen Ichs schenkten wir keine Beachtung mehr. „Dann hat es mich also echt nicht getäuscht; bei meinem ersten Duell gegen Kaiba, da hast du getauscht, oder?“ Mein Freund nickte. „Ja, wir sind eins, genauso wie du und Mahad.“ Yugi wusste sogar wie mein zweites Leben hieß; ich war beeindruckt. „Ich komme bei dem Gespräch der Beiden irgendwie nicht mit“, murrte ich und beobachtete den Pharao und Mahad, wie sie sich angeregt unterhielten. Yugi kicherte nur: „Ich auch nicht, keine Angst.“
 

„Gehe ich richtig in der Annahme, dass beide ein gutes Team abgeben?“ Der König der Spiele schrägte den Kopf ein wenig und besah sich das Duo. „Ja, ich glaube schon. Was mir der Pharao so erzählt hat, waren er und Mahad beste Freunde.“ Das konnte gut passen, so vertraut wie beide miteinander umgingen. „Ihr nehmt also auch am Battle City Turnier teil?“, fragte ich, was Yugi dazu bewog, mir wieder seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. „Werden wir – ihr also auch?“ Nickend bejahte ich seine Frage. „Kaiba möchte aus irgendeinem Grund ein Partnerduell.“ Ratlos hob ich die Schultern. Yugi grinste breit. „Hm?“, wollte ich wissen, als sein Grinsen noch breiter wurde.
 

„Kaiba glaubt, dass er den Pharao mit deiner Hilfe schlagen kann.“ Reflexartig tippte ich mir an die Stirn. „Du spinnst ja. Als ob ich Kaiba eine Hilfe wäre. Außerdem ist sein Ego dafür viel zu groß.“ Der König der Spiele schüttelte den Kopf: „Da kennst du Kaiba aber schlecht. Dich unterschätzt du übrigens auch gewaltig.“ Ersteres mochte vielleicht schlimmen, aber sicher nicht Letzteres. „Aber daraus wird wohl nichts werden.“ Lächelnd deutete er mit dem Daumen zu unseren beiden Freunden. „Sie haben gerade beschlossen, dass wir gemeinsam im Finale kämpfen.“ Ich blies die Wangen auf.
 

„Hey ihr zwei!“, rief ich entrüstet. „Das geht so nicht. Ich habe Kaiba bereits zugesagt, dass wir mit ihm kämpfen werden.“ Beide schienen mich zu ignorieren. Fassungslos ließ ich meinen Blick wieder zu Yugi wandern, dessen Grinsen noch breiter geworden war. „Tja, du bist wohl überstimmt worden.“ Gespielt genervt schob ich die Unterlippe vor, um ein lautes Prusten zu unterdrücken. Aus irgendeinem Grund fühlte sich diese Paarung richtig an. Ich hatte kein schlechtes Gefühl wie bei Kaiba. Wenn er nicht gerade ein größerer Fuchs war als unsere beiden Freunde, dann hatte er das Duell bereits verloren. Yugi, genauso wie sein früheres Dasein, waren exzellente Duellanten, und bei mir war es zumindest Mahad, der wie ein routinierter Profi spielte.
 

„Joey hat sich übrigens energisch bei mir vorbereitet. Ich befürchte, die nächsten Monate werde ich kaum zum Schlafen kommen.“ Ich musste bei Yugis Worten leise lachen. Das war so typisch mein Freund. Duel Monsters und Joey, das gehörte einfach zusammen. „Er feilt sicher an der perfekten Taktik, um Kaiba in den Arsch zu treten?“ Mein Freund lachte ebenfalls: „Genau mit diesen Worten.“ Da schien wer ziemlich auf mich abzufärben. „Er hat sich aber sehr über dein Geschenk gefreut. Serenity ist ihm das Wichtigste auf der Welt, gleich nach dir.“ Ich hoffte, als Geistwesen nicht im Gesicht erröten zu können. „Hat er das gesagt?“, nuschelte ich. „Er hat noch ganz andere Dinge gesagt“, lächelte Yugi und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich habe ihm aber versprochen, kein Wort darüber zu verlieren.“ Mehr als ein leises „Mh“ brachte ich nicht heraus. War irgendwo klar, Yugi war sein bester Freund, mit wem würde er sonst sprechen? Tristan vielleicht noch, Serenity war einfach ein wenig zu jung für manche Dinge.
 

„Sie scheinen fertig zu sein“, meinte mein Gesprächspartner und nickte mit dem Kopf zu den Beiden hinüber. Tatsächlich, innerhalb von Sekunden war ich wieder Herr über meine Sinne. Yugi schien es gleich zu gehen. Gerade rechtzeitig, denn es klopfte an der Tür: „Macht mal hin, wir müssen bald los, wenn wir noch rechtzeitig ins Kino wollen.“ Wir mussten uns ein Lachen verkneifen – Joey. „Manchmal frage ich mich, was du an ihm findest“, neckte mich Yugi, was ich mit herausgestreckter Zunge konterte. „Ein Gentleman genießt und schweigt.“ Grinsend gingen wir nach unten und suchten die Truppe, welche schon ausgeflogen sein musste. „Tu mir einen Gefallen und sitz du heute neben mir“, gluckste ich, als wir vor die Kaibavilla traten. Mein Freund schrägte fragend den Kopf. „Er darf ruhig ein bisschen eifersüchtig sein, mich wegen Duel Monsters versetzen.“ Gespielt rollte ich mit den Augen und ging mit Yugi zur Limousine, die bereits auf uns wartete.

Zwei neue Freunde

Meinen Vorsatz musste ich bereits in dem Moment aufgeben, als ich zu einem verliebt dreinschauenden Joey in die Limo stieg. Yugi gluckste und setzte sich links von mir hin. Automatisch wanderte meine Hand zu der des Blondschopfs und legte sie in meinen Schoß, wo wir sie miteinander verwoben. Ich stahl mir einen Kuss und schnallte mich dann an. „Na? Genug Techniken und Strategien ausgefeilt?“, neckte ich Joey, während der Chauffeur den Wagen anließ und losfuhr. Mokuba und Serenity beschäftigten sich inzwischen mit Yugi.
 

„Natürlich. Ich habe hundertprozentig eine Möglichkeit gefunden, wie ich es mit Kaiba aufnehmen kann“, grinste mein Freund und zog mich ein wenig näher an sich heran. Zumindest vor Yugi, Mokuba und seiner Schwester schien er die übliche Scheu abgelegt zu haben. Wahrscheinlich hatte er mich genauso vermisst wie ich ihn. „Du hast mich also gar nicht vermisst?“, fragte ich und schob meine Unterlippe nach vorne. Der Blondschopf schrägte den Kopf ein wenig und schien zu überlegen: „Vielleicht ein wenig.“ Ich seufzte gespielt und wollte mich aufrichten, als er mich sanft zurückhielt und mir durch die Haare strich. Sein warmer Atem an meinem Ohr ließ mich eine Gänsehaut verspüren. „Mehr als du dir vorstellen kannst“, hauchte er mir leise zu und strich mit den Lippen flüchtig über meinen Nacken.
 

„Was wollen wir uns überhaupt ansehen?“, riss Mokuba uns unserem innigen Moment. Wir hatten gar nicht bemerkt, dass der Blick der restlichen Insassen auf uns ruhte. Joey räusperte sich und ich richtete mich verlegen auf. „Ich habe gehört der neue Actionfilm mit den Superhelden soll ziemlich gut sein“, lächelte Serenity. Schlagartig hatte Joeys kleine Schwester die gesamte Aufmerksamkeit der Runde. Mädchen und Actionfilme? Das sollte wohl ein schlechter Scherz sein. „Was denn?“, kicherte die Braunhaarige. „Ihr tut ja fast so, als hätte ich vorgeschlagen, eine Bank zu überfallen.“ Schmunzelnd sah ich zu Joey: „Das hat sie eindeutig von dir.“
 

Als wir am Kino angekommen waren, hatten wir uns schlussendlich auf Serenitys Filmvorschlag geeinigt. Mokuba zog sie natürlich gleich an der Hand hinter sich her und ließ es sich auch nicht nehmen, ihre Karte zu bezahlen. Lächelnd beobachtete ich die beiden, wie sie ins Gebäude stürmten und sich bereits über die Auswahl des Knabbergebäcks stritten. „Warst du bei deiner ersten Freundin auch so?“, wollte ich von Joey wissen, der nur die Schultern hob. „Ist schon eine Weile her.“ Ich warf meinem Freund einen fragenden Blick zu. Er wirkte ein wenig mürrisch, und das von einer Sekunde auf die Andere. „Passt es dir nicht, dass sie sich mögen?“, hakte ich nach.
 

„Joeys erste Freundin war Mei“, flüsterte mir Yugi zu, der sich als Nächster einreihte um seine Karte zu besorgen. Natürlich, was war ich für ein Trampeltier? „Tut mir leid“, murmelte ich. Mein Freund hob erneut die Schultern: „Schon okay.“ Sonderlich überzeugt klang er zwar nicht, aber ich ließ es dabei beruhen. Nachbohren war etwas, dass Joey hasste. Wenn er darüber sprechen wollte, würde er schon zu mir kommen, oder zu Tristan, über den ich es dann wieder erfahren würde.
 

Ich zahlte, unter heftigem Protest seitens Joey, unsere Karten und auch Getränke samt Popcorn. „Du musst nicht – “ fing er an, wurde aber sogleich von mir abgewürgt. „Ich weiß, dass ich nicht muss, aber es ist nichts dabei, einem meiner Freunde den Kinobesuch zu zahlen, oder?“ Die Mundwinkel des Blondschopfs wanderten ein wenig nach oben; subtile Zustimmung. Mir fiel bei der Gelegenheit ein, dass ich mich ja um seine Garderobe kümmern wollte. Wenn er es von jemandem annahm, dann von mir und Serenity. Joeys kleine Schwester würde zu einem Shopping-Trip sicher nicht nein sagen, und sie kannte den Geschmack ihres Bruders wahrscheinlich ein wenig besser als ich.
 

Wir saßen in der vorletzten Reihe, gleich wie im Auto: Ich zwischen Yugi und Joey, während Mokuba und Serenity links außen das Schlusslicht bildeten. Es war erstaunlich wenig los im Kino. Die Vorstellung war zwar etwas früh, es war immerhin erst Nachmittag, dennoch hatte ich mit deutlich mehr Besuchern gerechnet. Alle saßen in den vorderen Reihen, und als das Licht ausging, ertappte ich mich dabei, wie ich nach Joeys Hand fischen wollte. Es war einigermaßen dunkel, und die Gefahr, entdeckt zu werden, dementsprechend gering. Andererseits hatte ich ihm versprochen, nichts zu riskieren, und seine Entscheidung zu respektieren. So lehnte ich mich innerlich murrend im Sessel zurück und konzentrierte mich auf den Film.
 

Ein typischer Actionstreifen, mit seichter Handlung, vielen Prügelszenen und flachem Humor. Genau mein Ding, wie auch das der Anderen. Als die Lichter wiederangingen, diskutierte Joey bereits mit Yugi und mir, dass Thor, der Gott des Donners, keine Hilfe benötigt hätte. „Hör mal, niemand kann Spiderman und Ironman in die Schranken weisen“, entgegneten wir im Duo, was mein Freund aber nicht gelten lassen wollte. „Das ist ein Gott!“ Manchmal, da war er einfach extrem stur. „Und? Hast du gesehen, wie Spiderman ihn vermöbelt hat?“ Der Blondschopf schnaubte verächtlich. „Joey, sieh es ein, Thor ist einfach die Nummer drei“, gluckste Yugi.
 

Wir setzten unsere Diskussion auch noch im Restaurant fort, in das uns Mokuba und Serenity geschliffen hatten. „Ihr zwei habt ja keine Ahnung“, brauste Joey auf und gestikulierte wild mit seinen Essenstäbchen umher. „Oder wer?“, antwortete ich trocken und verschluckte mich fast an einem Riesenbrocken Reis, als Yugi etwas von „Sturkopf“ murmelte. „Ihr zwei scheint ja richtig gute Freunde geworden zu sein“, grinste Mokuba und nickte mir und Yugi zu. „Sind sie“, murrte Joey und machte sich über sein restliches Essen her.
 

Ich sah Yugi an und musste lächeln. Mokuba hatte Recht. Mir war gar nicht aufgefallen, wie gern ich den kleinen Punk um mich hatte. Er war so ruhig, schüchtern, aber blühte in seinem vertrauten Umfeld so richtig auf. In der Schule wirkte er eher zurückhaltend, bestach aber durch großes Wissen. Beim Sport schwächelte er zwar ein wenig, was aber in den Teamwettbewerben meist durch Joey, Tristan und nun auch mich ausgeglichen wurde. Ich mochte beide Yugis irgendwie. Hing das mit unserer früheren Freundschaft zusammen? Eine Verbindung, die unauflöslich zu sein schien, wie die zwischen mir und Joey?
 

„Manche Freundschaften sind so stark, dass sie über ein Leben hinaus halten“, hörte ich Mahads Stimme in meinem Kopf. Yugi lächelte – wahrscheinlich hatte ihm sein Geist gerade das Gleiche gesagt. „Scheint so“, grinste ich und legte meinen Arm um den König der Spiele. „Yugi muss man aber auch einfach mögen“, legte ich nach und zog ihn mitsamt Stuhl näher an mich heran. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir uns sehr gut ergänzen würden. Natürlich würden wir das, schließlich war ich bereits einmal für ihn gestorben. „Ist ja widerlich“, krächzte Joey gespielt genervt und wollte bereits mit seinen Stäbchen in meine Schale fahren, was ich aber gekonnt abzuwehren wusste. „Eifersüchtig?“, grinste ich und lieferte mir mit meinem Freund einen Esstäbchenkampf. Gerade als ich zu verlieren drohte, mischte Yugi mit, der uns, wie konnte man es vom König der Spiele auch anders erwarten, schlussendlich haushoch besiegte und die salomonische Lösung traf, dass ich Joey die Hälfte abgeben sollte.
 

„Manchmal frage ich mich, wer hier die Kinder sind“, seufzte Mokuba, was Serenity zu einem Kichern bewog. „Nicht frech werden“, sagten Joey und ich im Chor, und schnappten uns die Reste unserer Geschwister. „Fressäcke“, war alles, was wir zu hören bekamen, bevor wir das Essen in uns hineinschaufelten. Ich war glücklich, Zeit mit meinen Freunden und meiner Liebe verbringen zu dürfen. Wären meine Großeltern noch dabei gewesen… Der Gedanke an die Beiden versetzte mir einen Stich. Hatte ich sie vernachlässigt? War ich zu egoistisch gewesen? Wann hatte ich mich das letzte Mal bei ihnen gemeldet? Würde Pegasus sein Wort halten und die Therapie auch weiterführen? Was, wenn er auch so ein krankes Spiel wie mit Yugis Großvater trieb?
 

„Du machst dir zu viele Gedanken“, versuchte mich Mahad zu beruhigen. „Du hast leicht reden“, entgegnete ich aufgebracht. Wie konnte ich nur so selbstsüchtig sein, und nicht regelmäßig zuhause anrufen? Sie waren sicher bereits ganz krank vor Sorge. „Sind sie nicht, vertraue mir“, sagte der Geist, und obwohl ich ihn derzeit nicht sehen konnte, so spürte ich sein beruhigendes Lächeln. Ich spürte Yugis Hand an meinem Arm, den er sanft drückte. „Freunde“, ging es mir durch den Kopf. Ich sah in die Runde und atmete tief durch. Wie sich alle lachend unterhielten, so unbeschwert. „Wir sind alle bei dir“, machte Mahad erneut auf sich aufmerksam. „Rufe doch einfach morgen an? Der Zeitunterschied lässt nahtlose Kommunikation nicht so einfach zu.“ Ich nickte und lächelte Yugi dankbar zu.
 

Auf dem Nachhauseweg setzte sich die Diskussion um Thor und Spiderman fort, wobei ich schlussendlich meinen Dickschädel durchsetzen konnte. Wir alle waren erstaunt, dass Joey, wenn auch nur widerwillig, einmal klein beigegeben hatte. Höchst ungewöhnlich. Der Fahrer ließ Yugi beim Laden seines Großvaters aussteigen. Wir verabschiedeten uns herzlich, und ich lud ihn morgen zu mir, oder besser gesagt, zu Kaiba ein. „Du kommst aber wirklich, ja?“, lächelte ich, was mit einem Nicken bestätigt wurde.
 

„Muss ich eifersüchtig werden?“, schmunzelte Joey, als wir uns auf den Weg zur Kaibavilla machten. Ich grinste und kuschelte mich an ihn: „Natürlich.“ Interessanterweise tat es Serenity mir gleich, was bei Mokuba zu einem fast schon panischen Hilfeblick führte. Wortlos deutete ich auf Joey, der den Arm um mich gelegt hatte, und aus dem Fenster schaute. Verstehend nickte mein kleiner Bruder und tat es meinem Freund gleich. Wir würden wahrscheinlich noch sinnlos zocken, dann etwas essen, und ins Bett gehen. Morgen würde ich in Joeys Armen aufwachen, und alle Sorgen und Zweifel, die mich plagten, sei es wegen Zuhause, wegen des anstehenden Duells oder der Schule, würden verschwunden sein. Mir fielen langsam die Augen zu und ich dämmerte weg, den Geruch von Joey in der Nase. „Liebe dich“, murmelte ich noch, bevor ich ins Land der Träume entschwand.

Vereinigung

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Der Abschied

Die letzten Tage unserer Ferien verbrachten wir mit einer Mischung aus Spiel und Spaß. Mir drängte sich der Verdacht auf, zwischen Mokuba und Serenity könnte bereits, ohne brüderliches Zutun, etwas laufen. Yugi und ich duellierten uns ein paar Mal gegen virtuelle Klone, die uns Kaiba zur Verfügung gestellt hatte. Meist war der CEO mit seiner Firma beschäftigt, doch, wenn er uns einmal mit seiner Anwesenheit beehrte, dann hatte ich das Gefühl, als wäre er stolz. Sein Protegé hatte sich laut Yugi zu einem exzellenten Duellanten gemausert, dessen Strategien nicht mehr so leicht zu durchschauen waren wie früher.
 

Joey kümmerte sich um seine Schwester und deren Anhängsel. Mokuba schien ganz vernarrt in Serenity, und sie verhielt sich so, als würde ihr das auch durchaus gefallen. Alles in allem hätte es ein durchaus schöner Ausklang werden können, wenn da nicht der bevorstehende Abschied über dem Kopf meines Freundes gekreist wäre, wie ein Damoklesschwert. Ich versuchte ihn so gut es ging abzulenken. Meist war nach einer Runde Duel Monsters alles wieder im Lot, doch je näher der Termin von Serenitys Abreise rückte, desto düsterer wurde seine Stimmung. Nicht einmal, wenn wir miteinander schliefen (was derzeit öfter der Fall war), konnte er seine Trauer völlig verbergen.
 

Yugi war so nett gewesen, gemeinsam mit Tristan aufzutauchen, als es dann soweit war. Ich hob die Mundwinkel an und klatschte meine Freunde ab, während Joey mit Serenity in meinem Zimmer war. „Und, wie ist er drauf?“, erkundigte sich der Braunhaarige. „Ehrlich gesagt, Tristan, ich weiß es nicht. Er hat gerade so eine Mischung aus Freude und Trauer, die fast schon ein wenig unheimlich anmutet.“ Yugi seufzte leise: „Das ist typisch. Wir haben das schon mehrere Male durchgemacht. Stell dich drauf ein, dass er in nächster Zeit abblocken wird.“ Das waren ja wieder rosige Aussichten. Außerdem hegte ich die Vermutung, dass seine schlechte Laune mit noch etwas Anderem zusammenhing.
 

Ich klopfte vorsichtig gegen die Zimmertür: „Joey?“ Ein leises Rumpeln war zu hören, gefolgt von einem gefauchten „Jaja“. Tristan grinste breit: „Wenigstens fährt er dich auch so an, wenn es um Serenity geht.“ Ich unterdrückte das Verlangen, meinem Freund eine ziemlich unflätige Geste zu zeigen; stattdessen winkte ich beide mit mir. „Wenn wir das Zimmer belagern, wird es sicher auch nicht besser. Gehen wir nach unten, noch eine Kleinigkeit essen.“
 

Mittlerweile hatte ich mich mit dem Koch angefreundet. Wie auch sonst alles in Kaibas Haus, war das Essen, beziehungsweise der Service dahinter, vorzüglich. Es gab bestimmte Zeiten, zu denen man seine Wünsche äußern konnte. Mir war es zwar ein wenig unangenehm, aber der Küchenchef ging meist meinen Vorschlägen nach, sofern nicht Kaiba selbst andere Präferenzen äußerte. Mokuba entpuppte sich als jemand, der meinen Essensgeschmack teilte. Außerdem war es, laut seinen Aussagen, abwechslungsreich, europäische Küche zu genießen.
 

Unser Trio setzte sich ins Esszimmer, wo immer irgendwelche Snacks bereitstanden. Ich versuchte mich vor dem wahrscheinlichen Drama abzulenken, indem ich die selbstgebackenen Brezeln fast inhalierte. „Wenn du nervös bist, könnte man meinen, du hättest wochenlang nichts zu essen bekommen“, schmunzelte Yugi, der mich aus meinen Gedanken riss. „Hat er wahrscheinlich auch nicht. Wenn er mit Kaiba streitet, gibt es sicher kein Abendessen vor dem zu Bett gehen“, setzte Tristan grinsend nach, was mir tatsächlich ein Lachen entlockte. „Ihr beide seid unmöglich, wisst Ihr das?“, fragte ich rein rhetorisch, und schob ihnen das restliche Gebäck zu.
 

Nach gut einer halben Stunde, und beinahe zu spät, erschienen Serenity, Joey und Mokuba in der Tür. Alle drei wirkten wie getretene Hunde, und ich war mir sicher, dass alle drei geweint hatten. Ein drolliger Anblick, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass ich sie gut verstehen konnte. Mir war noch etwas eingefallen, das ich aber noch zurückhielt. „Dann gehen wir es einmal an, hm?“ Betreten schweigend nickte Team Joey und machte sich auf den Weg zur Limousine. „Tristan, du bist so gut, ja?“, lächelte ich dem Riesen entgegen, der bejahend nickte. Manchmal war nur ein kleiner Denkanstoß nötig, und dazu eine gehörige Portion Trotz, den es in anderen zu wecken galt.
 

Das Gepäck hatte man bereits verladen. Unsere Aufgabe bestand darin, eine gute Figur im Auto zu machen, welches langsam die Einfahrt hinabrollte. Der weiße Kies knirschte unter den Reifen und vermochte die drückende Stille, die herrschte, nicht zu durchbrechen. Ich wartete noch ein wenig, bis ich Tristan das vereinbarte Zeichen gab und mich zurücklehnte. Yugi saß neben mir, der sich das Lachen auch nur mit Mühe verkneifen konnte. Die Idee war zwar gemein, aber höchstwahrscheinlich auch idiotensicher.
 

„Und Serenity-“, begann Tristan und riss das Trauertrio aus seinem Schweigen. „Wie sieht es denn so in Amerika mit den Typen aus?“ Schlagartig schwenkte die Stimmung um. „Was soll das heißen?“, zeterte Joey, während Mokuba wirkte wie ein von einer Kette zurückgehaltener Hund. Einzig Serenity lächelte, wie immer eigentlich, als sie antwortete: „Gut?“ Ich rempelte Yugi mit dem Ellenbogen an und deutete auf Joey, der rot im Gesicht wurde. Gleiches galt auch für den kleinen Kaiba. Mir ging der Vergleich von Hennen und deren Küken durch den Kopf.
 

„Na, sie wird jetzt bald dann, 15, oder?“, fuhr Tristan ungerührt fort. Er spielte seine Rolle echt gut. „Und?“, brauste Joey auf. „Mit 15 geht man noch zur Schule, und konzentriert sich auf Noten, Leistung und solchen Kram.“ Ich hob die Brauen in die Höhe: „Und das gilt mit 17 nicht mehr?“, hakte ich todernst nach. Schlagartig verstummte Joey und schaute mich fassungslos an. „Du hast aber auch keine Augen im Kopf, hm?“ Yugis prustendes Lachen durchbrach die neuerliche Stille. „Was meinst du damit?“, brummte Serenitys Bruder, die er nun mit Argusaugen musterte.
 

„Meine Güte, du hast eine lange Leitung“, seufzte Tristan und rollte mit den Augen. Ich deutete zwischen Mokuba und Serenity hin und her. „Hast du es echt noch nicht geschnallt, dass die beiden…?“ Joeys Reaktion nach zu urteilen, hatte er es wirklich nicht kapiert. Mokuba biss sich auf die Lippen, während Serenity an ihren Haarspitzen herumnestelte. Ich lag mit meiner Vermutung genau richtig. Andererseits war es aber auch nicht schwer zu erraten gewesen, wenn man nicht gerade wie Joey blind durchs Leben ging.
 

„Bevor du ihm nun den Kopf abreißt, wovon ich dir abrate, weil ich sonst das Gleiche mit dir tun werde-“, setzte ich an und konnte unser Pärchen dabei beobachten, wie es erleichtert ausatmete, „würde ich nachdenken, was das für dich und deine Schwester bedeuten könnte.“ Man konnte Joey buchstäblich ansehen, wie es in seinem Kopf ratterte. „Dass Kaiba und ich uns anfreunden müssen.“ Ich blinzelte kurz, brach dann aber in schallendes Gelächter aus, begleitet von meinen Freunden. „Na komm, eher friert die Hölle zu.“ Ich lehnte mich ein wenig zurück und verschränkte die Finger hinter dem Kopf. „Im Gegensatz zu dir und mir, ist Mokuba der kleine Bruder von Kaiba. Wenn er und Serenity miteinander gehen, sollte es möglich sein, den großen Kaiba dazu zu bringen, sie öfter nach Japan zu holen. Da ich bei den Kaibas wohne, und du mein Freund bist, wäre es normal, wenn du Zeit bei mir verbringst. Ergo siehst du deine Schwester öfter.“
 

Es dauerte einige Sekunden, eine Reaktion seitens Joey folgte. Er beugte sich zu Mokuba hinüber, und bevor einer von uns reagieren konnte, fiel er ihm, soweit mit Sicherheitsgurt möglich, um den Hals. Ich schenkte meinem kleinen Bruder und meiner Schwägerin in spe ein Lächeln. Es war deutlich einfacher gewesen als gedacht, den sonst so besitzenden Joey mit dem Gedanken anzufreunden, dass seine Schwester allmählich eine Frau wurde. Mokuba warf mir einen bitterbösen Blick zu, der sich aber sogleich in ein freudestrahlendes Gesicht verwandelte, als er von Joey umarmt wurde.
 

Die restliche Fahrt verlief locker. Joey unterhielt sich eingehend mit Mokuba, um einige Regeln festzulegen, wie er denn mit seiner Schwester umzugehen habe. Diese wirkte peinlich berührt, zog es aber vor zu schweigen und nach Mokubas Hand zu grapschen. Ich unterhielt mich mit Tristan über dessen neuste Stundideen mit dem Motorrad, während Yugi sich damit begnügte, lächelnd aus dem Fenster zu starren. Als wir am Flughafen ankamen, stand der schwerste Teil bevor: Der Abschied.
 

Ich hatte mich mittlerweile auch an Serenity gewöhnt. Sie gehen zu lassen fiel mir auch nicht leicht, und wir umarmten uns lange. „Pass gut auf dich auf, ja?“, schmunzelte ich und löste mich dann nach einer gefühlten Ewigkeit von ihr. Lächelnd strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht: „Mache ich. Pass mir du auf Joey und Mokuba auf, ja?“ Ich hob die Mundwinkel in die Höhe: „Natürlich.“ Die Verabschiedung von ihrem Bruder und dem kleinen Kaiba fiel länger aus, als beim Rest. Ich bedeutete meinen beiden Kumpanen, zum Wagen zurückzugehen, und ihnen so einen letzten Moment der Dreisamkeit zu gönnen.
 

„Woher hast du gewusst, dass er so reagieren würde?“, fragte mich Tristan und lehnte sich gegen die Limousine. „Es war Pokern mit Risiko. Wenn es schiefgegangen wäre, hätten wir ihn sicher zu dritt beruhigt bekommen“, gab ich zu. Yugi schrägte den Kopf ein wenig: „Du hast es gar nicht gewusst?“ Ich schüttelte verneinend den Schädel. Joey war in manchen Belangen nicht kalkulierbar. Er dachte mit dem Herzen und handelte mit seinem Bauchgefühl.
 

Nach einer Weile kehrten Mokuba und Joey zurück, während der Fahrer das Gepäck einer winkenden Serenity hinterhertrug. Ich griff nach Joeys Hand und begann über das anstehende Battle City Turnier mit Yugi zu plaudern. Wie zu erwarten war, stiegen Joey und Mokuba gleich mit ein. Irgendwie hatte sich die Verbindung zwischen Yugi und mir intensiviert. Der König der Spiele wusste genau, worauf ich hinauswollte und umgekehrt, so, als würden wir uns bereits ein Leben lang kennen. Genau genommen taten wir das ja auch, irgendwie.
 

Der Chauffeur kehrte dann alleine zurück und fuhr nacheinander die einzelnen Personen nach Hause, zuerst Tristan, dann Yugi, und zum Schluss Joey. „Sicher, dass du nicht heute bei mir schlafen möchtest?“, fragte ich und gab meinem Freund einen Abschiedskuss. „Irgendwann muss ich auch einmal wieder nach Hause“, murmelte er. „Müssen – “, begann ich, wurde aber sogleich unterbrochen. „Zu oft will ich auch nicht in Kaibas Gunst stehen“, murrte er. „Nix gegen dich Mokuba.“ Der kleine Kaiba nickte nur und sah wieder aus dem Fenster. Mittlerweile dämmerte es bereits.
 

„Ist gut, Schatz. Pass auf dich auf. Bis morgen in der Schule.“ Joey zeigte uns seinen Daumen und warf die Tür dann zu. Nun waren wir nur mehr zu zweit. Als wir wieder in Bewegung waren, fiel mir Mokuba um den Hals und drückte mich fest. Ich lächelte und erwiderte die Umarmung: „Keine Ursache.“ Zuhause angekommen genehmigten wir uns noch ein Abendessen, unterhielten uns über den aktuellen Stand des Games, und schauten gemeinsam einen Film, bevor wir ins Bett huschten. Insgesamt war es ein schöner Tag gewesen, vor allem erfolgreich, aber ich hatte dennoch ein komisches Gefühl, als ich die Augen schloss und einschlief. Es war zu gut gelaufen.

Ein unmögliches Pairing

Mein erster Schultag nach dem teilweise weihnachtlichen Wahnsinn sollte deutlich anders verlaufen, als ich es mir ausgemalt hatte. Es war ungewohnt, mit der Limo in die Schule gefahren zu werden. Mittlerweile war es mir gelungen, mich mit einem der Chauffeure, Ito Saki, einigermaßen anzufreunden. Er arbeitete schon seit mehreren Jahren für Kaiba und war es dementsprechend gewohnt, angeschnauzt zu werden. Umso erfreuter schien er zu sein, als er langsam aber sicher bemerken durfte, dass ich grundsätzlich dankbar für jeden Handgriff war, den man mir machte, und ich es nicht als selbstverständlich ansah, überhaupt in die Schule chauffiert zu werden.
 

„Wissen Sie, Ito, ich frage mich manchmal, ob ich lachen oder weinen soll“, sagte ich, als wir uns in Richtung Schule bewegten. Der Fahrer legte lachend seinen Kopf in den Nacken. „Jetzt wohne ich wahrscheinlich bei einem der reichsten Menschen überhaupt, könnte theoretisch sogar Leute herbeiklingeln, die mir den Hintern abwischen, und dennoch, irgendetwas gefällt mir nicht.“ Ito sah in den Rückspiegel und grinste mir zu: „Das nennt sich wohl goldener Käfig, hm?“ Ja, so konnte man es in der Tat nennen.
 

Mokuba und der feine Herr wurden, warum auch immer, separat kutschiert. Kaiba hatte wahrscheinlich wieder irgendeinen Termin, und es wäre wohl ein Umweg gewesen, mich zur Schule zu bringen. Seltsamerweise meckerte der CEO aber nicht. Wahrscheinlich hatte Mokuba ihm die Flügel ein wenig gestutzt, oder, und das hielt ich für äußerst unwahrscheinlich, Seto Kaiba war einmal nicht mit dem falschen Fuß aufgestanden. Jedenfalls bestritten Ito und ich unsere Reise zu zweit.
 

„Wann soll ich Sie denn wieder abholen?“, fragte er mich, als der Wagen vor dem Schultor zum Stehen kam. „Ich habe um vier Uhr Unterrichtsende, wenn Sie so gut wären, um etwa viertel nach vier hier zu sein? Ich melde mich sonst bei Ihnen, wenn ich darf.“ Ito nickte nur lächelnd und wünschte mir einen schönen Tag.
 

Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugeschlagen, wurde ich auch schon von allen Seiten belagert. Dutzende Personen bedrängten mich, und ich hatte das Gefühl, als wolle man mir mit aller Gewalt Kopfschmerzen verpassen. Jeder quasselte irgendwas, manche hielten Stift und Papier hin, andere tatschten an mir herum. Es fehlte nur noch das Blitzlichtgewitter.
 

„Na, wie wäre es, wenn sich die Fangirls mal verpfeifen, genauso wie die anderen Groupies. Der Unterricht beginnt gleich.“ Teas harsche Stimme übertonte irgendwie das Sammelsurium an Stimmen. Ein warnender Blick und nach und nach verzog sich die Meute, manche nur widerwillig. Ich atmete erleichtert aus und schenkte meiner Freundin ein dankbares Grinsen. „Ist ja widerlich. Wie sich alle an dich ranmachen wollen“, schnaubte die Braunhaarige und setzte sich in Bewegung. „Vorher begaffen dich alle, weil du der neue Austauschschüler bist, jetzt, weil du Pegasus besiegt hast.“ Ich rollte mit den Augen. Da verstand wer meinen Unmut, und die Definition von „Ich hasse es im Mittepunkt zu stehen.“
 

„Ich habe Kaiba gesagt, dass es eine blöde Idee ist, aber keine Ahnung, geilt er sich an sowas auf?“ Tea kicherte amüsiert. „Wohl kaum. Kaiba ist nicht dafür bekannt, etwas zu tun, ohne einen Nutzen daraus ziehen zu können. Die Zeitungen haben dich ja als seinen Protegé oder sowas in der Art betitelt. Du bist ein Senkrechtstarter, wie Yugi, mit dem Unterschied, dass du vom CEO persönlich gefördert wirst.“
 

„Auf die Förderung könnte ich dankend verzichten, Tea. Du kommst dir vor wie in einem Puppenhaus, dessen Besitzer an der Militärakademie gewesen sein muss. Manchmal habe ich das Gefühl, sämtliches Personal fürchtet Kaiba.“
 

Die Braunhaarige hob die Schultern ein wenig an: „Das wird auch so sein. Kaiba kann furchtbar ekelhaft mit seinen Mitmenschen umgehen. Schau dir doch nur mal sein Verhältnis zu Joey an. Das mag zwar nicht das Aushängeschild für seine soziale Inkompetenz sein, zumal Joey selbst auch ein ziemlicher Dickkopf sein kann, aber im Großen geht Kaiba mit allen Menschen so um, Yugi, Mokuba und dich einmal ausgenommen.“
 

Ein interessanter Punkt, den ich so noch nicht wirklich genauer durchdacht hatte. Kaiba war mir gegenüber zwar genauso kühl und unfreundlich wie dem Rest der Menschheit, aber ab und an blitzte doch ein wenig von seiner fröhlichen Seite, sofern man sie so bezeichnen durfte, durch. Außerdem lebte ich noch, sowohl körperlich, als auch wirtschaftlich, was, in Anbetracht einiger Situationen in der Vergangenheit, in denen wir aneinandergeraten waren, mehr als nur als eine glücklicher Fügung anzusehen war.
 

In der Klasse ging der Trubel dann um meine Person weiter. Mit Tea und Tristan hatte ich aber zwei exzellente Beschützer, die den Haufen von mir fernhielten. Auf die Dauer konnte das natürlich nicht gut gehen, aber für den Anfang verschafften mir meine Freunde ein wenig Luft. Was sollte ich denn sagen? Dass es reines Glück war? „Nenne es eher einen Lernprozess“, meldete sich Mahad in meinem Kopf zu Wort. Mir brummte jetzt schon der Schädel.
 

Kaiba konnte den Haufen mühelos abfertigen. Er kam, gelangweilt wie immer wirkend, herein, sagte ein paar Worte, gab einige Autogramme und setzte sich dann auf seinen Platz. Niemand wagte es, ihn nach einem seiner eiskalten Blicke noch weiter zu bedrängen. Vielleicht sollte ich mir auch so etwas zulegen?
 

Joey kam, wie üblich, gut zehn Minuten zu spät. Wir hatten bereits mit dem Englischunterricht begonnen, und wurden gerade paarweise für einen kurzen Dialog eingeteilt. Mein Partner war Yugi, der von Tea Tristan, Bakura hatte Duke erwischt, und so weiter. Als mein Freund hastig auf seinen Platz huschte, schluckten wir alle schwer, als unsere Lehrerin ihn und Kaiba zusammensteckte. Das würde in einer einzigen Katastrophe enden.
 

„Ich glaube nämlich, dass Sie sich sehr gut ergänzen könnten. Ihre Arbeit war ausgezeichnet, zumal Mister Kaiba etwas Ähnliches geschrieben habt.“ Man hätte eine Stecknadel fallen lassen können, so ruhig war es. Unsere Lehrerin lächelte nur und schien nicht ganz zu kapieren, was sie da gerade heraufbeschwor. Selbst Kaiba konnte für eine Millisekunde seine Verwunderung nicht verbergen.
 

„Wheeler soll in Englisch etwas zustande gebracht haben, das lesbar sein soll? Der beherrscht doch noch nicht einmal seine eigene Muttersprache. Dann außerdem etwas Ähnliches wie ich?“ Joey stieg die Zornesröte bereits beim ersten Wort von Kaiba ins Gesicht. „Was soll denn das heißen? Willst du damit sagen, dass ich dumm bin?“
 

Kaiba stand auf und ging an Joey vorbei zum Lehrertisch: „Das muss man nicht aussprechen, Wheeler, das wissen alle im Raum hier.“ Höflich bat der CEO darum, seine und Joeys Arbeit sehen zu dürfen, während wir alle Hände voll damit zu tun hatten, Joey unterschwellig von einer Dummheit abzuhalten. Wäre nicht das leise Gemaule meines Freundes gewesen, man hätte glauben können, die Klasse wäre ausgestorben.
 

„Hast du den Text aus dem Internet?“ Diese Frage wurde, bevor Joey auch nur ansetzen konnte, von unserer Lehrerin beantwortet: „Nein, es scheint eine Eigenkreation zu sein. Ich war genauso überrascht wie Sie.“ Nun ging ein Raunen durch den Raum. Joey, unser Joey, sollte echt selbst eine überdurchschnittlich gute Arbeit, nein, eine Arbeit, die sich mit der von Kaiba messen konnte, zustande gebracht haben?
 

„Es ist meine Idee, und jetzt halt den Mund!“, schnaubte der Blondschopf und ging nach vorne. Fauchend krallte er sich seine Arbeit und marschierte auf seinen Platz zurück. Ich seufzte leise und hob meine Hand. Frau Fujisa nickte mir zu, zum Zeichen, dass ich sprechen durfte. „Frau Fujisa, wäre es vielleicht möglich, dass ich mit Joey den Partner tausche?“ Zu meiner Verwunderung wurde ich mit einem kurzen „Nein“ abgewimmelt. Das war sehr ungewöhnlich, da ich unsere Englischlehrerin als kompromissbereite und aufgeschlossene, aber vor allem freundliche Frau kennengelernt hatte. „Ich denke, dass Mister Kaiba von Mister Wheelers Fähigkeiten profitieren kann.“
 

In diesem Moment hoffte ich inständig, dass Frau Fujisa bereits ihr Testament gemacht hatte. Kaiba sollte etwas von Joey lernen können? Sie hätte genauso gut behaupten können, einen Präsidenten erschossen zu haben, und das vor der jeweiligen Spezialeinheit des dementsprechenden Landes. Entgegen meiner Erwartungen rührte sich Kaiba nicht, im Gegenteil: Der CEO saß gelassen auf seinem Stuhl und wartete. Ich stieß Yugi mit dem Ellenbogen an, der ein genauso ratloses Gesicht machte wie ich. Waren heute denn alle verrückt geworden?
 

Ich konnte mich gar nicht auf meinen Partnerdialog konzentrieren. Immer wieder glitt mein Blick zum ungleichen Duo hinüber, das sich erstaunlicherweise recht gut zu verstehen schien. Kaiba sparte sich die meisten seiner Sticheleien, während Joeys Betonung, wie auch Wortwahl erstaunlich waren. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte Joey für jemanden kurz vor seinem Abschluss gehalten. Locker und leicht gingen ihm die fremden Worte über die Lippen. An einigen Stellen stockte er zwar, doch das waren Kleinigkeiten. Was hatte er da bloß fabriziert?
 

Als die Stunde endlich vorbei war, gingen wir gemeinsam zu Joey und Kaiba. Letzterer schenkte unserer Gruppe einen abfälligen Blick: „Na? Hat der Kindergarten Zeit gefunden, seinen entlaufenen Köter einzufangen?“ Der Blondschopf warf dem CEO einen vernichtenden Blick zu und drängte sich dann an uns vorbei, um aus dem Klassenraum zu rennen. „Ich schaue mal nach Joey“, murmelte Tristan, der seinem besten Freund sogleich folgte.
 

„Was gibt es dir eigentlich, auf Joey so herumzuhacken?“, fragte ich bemüht höflich mein Gegenüber. Kaiba räumte lässig seine Sachen in die braune Aktentasche und würdigte mich keines Blickes. „Hallo?“, setzte ich erneut an. Tatsächlich ließ sich der CEO dazu herab, mir in die Augen zu sehen.
 

„Was glaubst du? Wheeler ist furchtbar leicht zu verletzen, und noch leichter zu durchschauen. Ein mittelmäßiger Duellant und ein schlechter Schüler. Wenn ihn niemand auf seinen Platz verweist, dann –“ Was dann passieren würde, erfuhr keiner von uns, denn Tea gab einen wütenden Laut von sich.
 

„Du hast doch wohl eine Meise, Kaiba. Kein Wunder, dass Mokuba sich so sehr an jemand anderen hängen muss. Empathie ist für dich ein Fremdwort, oder?“ Wären ihr in diesem Moment noch Hörner gewachsen, man hätte sie glatt für einen Dämon der Rachsucht halten können. Zornig funkelte sie Kaiba an, der sich nicht die Mühe machte, ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken. Sein Blick wanderte stattdessen von mir zu Yugi und wieder zurück.
 

„Wheeler hat ziemliches Glück, dass er euch beide als Freunde hat, sonst wäre er schon längst von der Schule geflogen.“ Mein Geduldsfaden war zum Zerreißen dünn. Wenn ich jetzt explodierte, konnte ich unter einer Brücke schlafen. Glücklicherweise war das auch gar nicht nötig.
 

„Manchmal, Kaiba, da frage ich mich, ob du nur von deiner Unsicherheit ablenken musst, wenn du auf Joey herumhackst.“ Erst jetzt fiel mir auf, dass sich die gesamte Klasse unseren Disput gab. Yugi sah auf Kaiba herab, wie ich es noch nie gesehen hatte. Dieser stechende Blick, so selbstsicher, so frei von Zweifel und Unentschlossenheit. „Yugi“, formten meine Lippen lautlos.
 

Tatsächlich konnte ich fühlen, wie Kaiba innerlich nachgab. Wenn man ihn nicht kannte, hätte man die Zeichen nicht deuten können. Seine Haltung veränderte sich um eine einzige, hauchzarte Nuance, doch das reichte aus, um zu sehen, wie sein Widerstand brach. Er respektierte den anderen Yugi. Niemand sonst hätte so mit ihm reden dürfen; wahrscheinlich hätte er Tea angeschnauzt oder sie sonst subtil fertig gemacht, genauso wie den Rest, nur nicht den Pharao.
 

„Wie schön, dass er in diesem Alter noch einen Babysitter braucht“, war Kaibas letzter Kommentar, bevor er ebenfalls den Klassenraum verließ. Innerlich musste ich Yugi applaudieren. Wenn er sich in seinen Duellen auch so verhielt, war mir klar, warum er noch nie verloren hatte.
 

„Vielleicht hat der Kotzbrocken endlich etwas dazugelernt“, beendete Tea die ungemütliche Stille, die im Klassenraum herrschte. Unser Blick wanderte geschlossen zur Tür, als Tristan mit Joey zurückkehrte. Dieser wirkte, als wäre nichts gewesen, fröhlich wie eh und je. Als sein Blick auf Kaibas leeren Stuhl wanderte, grinste er wie ein Honigkuchenpferd. „Hat da wer Kaiba die Leviten gelesen?“
 

Der restliche Unterrichtstag verlief einigermaßen ruhig. Kaiba hatte sich mit gut fünf Minuten Verspätung wieder in die Klasse bequemt und tat so, als wäre nichts gewesen. Joey hielt sich auch bedeckt, obwohl man ihm ansehen konnte, dass es ihn in den Fingern juckte, zu stänkern. Seltsamerweise ließen beide Kontrahenten von ihren üblichen Handlungen in solchen Situationen, die meist damit endeten, dass Joey wütend davonrannte, ab.
 

Ich packte meine Sachen zusammen und sah zu Kaiba, der zu warten schien. Joey und der Rest waren bereits nach draußen, auf den Schulhof gegangen. „Ist etwas?“, fragte ich, und räumte meine letzte Mappe in den Rucksack. Der CEO schulterte seine Aktentasche: „Wir fahren gemeinsam nach Hause.“ Na Gratulation, Ito würde seine helle Freude haben. Ich nickte kurz angebunden und folgte dem Firmenchef der KC.
 

Wie Kaiba es schaffte, einen Keil in die Schulmeute zu treiben, ist mir bis heute ein Rätsel. Jedenfalls rempelte ihn niemand an, im Gegenteil: Es schien so, als würden alle Platz machen. Ich hielt nach meinen Freunden Ausschau und winkte Yugi zu, der gerade bei Joey, Tea und Tristan stand. „Ich melde mich später!“, rief ich ihnen noch zu, und beeilte mich, meinem Gönner zu folgen, der sicher nicht auf mich gewartet hätte.
 

Wortlos stiegen wir in den Wagen ein. Die Scheibe zum Fahrersitz war ausgefahren, und so konnte ich gar nicht sagen, wer uns nach Hause chauffierte. Kaiba zog seinen Laptop aus der Tasche und begann damit zu arbeiten, während ich mich damit begnügen durfte, aus dem Fenster zu starren.
 

„Hat er von dir abgeschrieben?“ Ich sah zu Kaiba, der noch immer auf den Bildschirm starrte. „Wie meinst du das?“, fragte ich nach. „Ich habe seinen Text kurz überflogen. Wheeler bewegt sich normalerweise zwischen vier und fünf, nicht eins und zwei. Er kann ihn unmöglich selbst geschrieben haben.“ Hätte ich es nicht besser gewusst, man hätte meinen können, Kaiba wäre entweder beeindruckt oder eifersüchtig.
 

„Ich weiß nicht einmal, worüber er geschrieben hat.“ Der CEO hielt mit dem Tippen inne und sah auf. Seine eisblauen Augen musterten mich, und ich hatte das unangenehme Gefühl, als würde er in das Innerste meiner Seele blicken, um zu prüfen, ob ich log, oder nicht. „Über dich“, war seine knappe Antwort. Ich blinzelte perplex.
 

„Über mich? Das hieße ja, du hättest das Gleiche getan.“ Kaiba klappte seinen Laptop zu und legte ihn beiseite, um die Finger ineinanderzuschieben und die Beine zu überschlagen. „Unsere Geschichten gleichen sich, bis auf einen markanten Unterschied.“ Ich war versucht einen ungeduldigen Laut von mir zu geben; diese Kunstpause hatte er mit Absicht eingelegt. „In meiner Version stirbt der Magier, in seiner besiegt er den Weißen Drachen.“
 

Ich schrägte den Kopf. „Kaiba, ihr beide habt über Duel Monsters geschrieben, nicht über mich. Das hört sich nach einem Duell zwischen dir und Yugi an.“ Der CEO schüttelte sein Haupt. „Nein, denn unsere beiden Magier gleichen sich.“ Damit griff er wieder nach dem Laptop, klappte ihn auf, und hielt ihn mir hin.
 

„Wie“, sagte ich und unterdrückte den Drang, über den Bildschirm zu streichen. Da war eine Steintafel, oder eher ein Abzug davon, der uralt sein musste. Sinnlose Zeichen, die ich nicht hätte lesen dürfen können, denn es waren Hieroglyphen, umspielten eine filigrane Zeichnung. „Unmöglich“, murmelte ich.
 

Der Magier entstieg einem Schwall aus purem Licht. In der Hand hielt er einen Stab, und sein Haupt zierte ein kunstvoller Kopfschmuck. Der gesamte Körper war in eine goldene Rüstung gehüllt, die nur ab und an von einer weißen Robe unterbrochen wurde. Arm- und Beinschutz waren pechschwarz, und fügten sich perfekt in das Muster ein. Das Metall war an manchen Stellen in Ringe gearbeitet worden, was dem Ganzen einen ägyptischen Touch verlieh. Das alles wäre nicht erschreckend gewesen, hätte ich nicht in ein mir wohlbekanntes Gesicht gestarrt, das zwischen dem kronenähnlichen Schmuck und dem weißen Tuch, das sein Haupt bedeckte, hervorlugte.
 

„Wenn man diesem Unfug von früheren Leben glaubt, dann müsstest das du sein“, führte Kaiba meinen Gedankengang zu Ende. „Ba und Ka sind eins.“ Diese fremden Worte waren mir unweigerlich über die Lippen gehuscht, als ich die Inschrift entzifferte. „Das ist doch alles Wahnsinn; außerdem, woher habt ihr zwei einen Zugang zu sowas?“
 

„Bei Wheeler weiß ich es nicht.“ Kaiba ließ meine Frage unbeantwortet. Wenn nicht er Mittel und Wege zur Verfügung hatte, wer dann? „Jedenfalls ist es sehr überraschend, zumal sich seine Englischkenntnisse stark verbessert haben. Aus irgendeinem Grund scheint er an sich arbeiten zu wollen.“ Der Blick des CEO durchbohrte mich förmlich. „Du“, beantwortete er seine getarnte Frage selbst.
 

„Das ist normal, wenn man in einer Beziehung ist.“ Kaiba schüttelte verneinend den Kopf: „Nein, nicht so. Er lernt sich zu beherrschen, und hat nun nicht mehr nur Yugi, der auf ihn aufpasst. Ich wäre fast geneigt, ihn beim Turnier beobachten zu wollen.“ Der Braunhaarige klappte den Laptop wieder zu und schob ihn in die Tasche zurück. „Ich brauche dich übrigens am Donnerstag um siebzehn Uhr in meinem Büro.“
 

„Wozu?“, fragte ich. „Das wirst du schon sehen.“ Der Wagen hielt an und die Tür wurde geöffnet. Kaiba stieg aus und ließ mich alleine. Ich machte mir gar nicht die Mühe ihm zu folgen oder nachzufragen – er wollte es mir nicht sagen, also würde ich wohl oder übel auf den Donnerstag warten müssen.
 

Ich verbrachte den Abend mit Hausaufgaben, dem Abendessen, bestehend aus gegrilltem Lachs mit Folienkartoffeln und Kräuterbutter, und einem aufgedrehten Mokuba, der mir auf die Pelle rückte. Sogar Kaiba ließ sich zum Abendessen blicken, das er aber vorwiegend schweigend zu sich nahm. Ab und an wechselte er ein paar Worte mit seinem kleinen Bruder.
 

Im Bett starrte ich an die Decke. War das wirklich ich gewesen? Mahad hatte mich mit meiner Frage auch im Dunkeln gelassen. Irgendwie gefiel mir das Bild aber ganz gut, sogar das kleine Spitzbärtchen, welches angedeutet mein Kinn zierte. Der Teint stimmte nicht ganz, und ich besaß auch nicht einen solchen stechenden Blick, aber ansonsten war das eindeutig ich gewesen. „Ba und Ka sind eins“, murmelte ich. Was hatte das zu bedeuten?

Eine persönliche Note

Um punkt 17 Uhr fand ich mich in Kaibas privatem Büro ein. Ich hatte den Raum bereits ein paar Mal betreten, doch heute bot er überhaupt nicht das gewohnte Bild, dass ich sonst davon kannte. Der Schreibtisch war übersäht mit dutzenden Schrauben, Metallteilen, Hülsen, Verpackungsmaterial – es wirkte unordentlich, und ich kannte Kaibas Perfektionswahn. Normalerweise konnte man von der Tischplatte essen, und würde dabei noch immer nicht irgendein wichtiges Dokument versauen.
 

Der CEO selbst saß in seinem Bürostuhl und baute an irgendetwas. Kaiba hatte mich noch nicht bemerkt, was mich noch mehr verwunderte. Er schien wirklich in seine Arbeit vertieft zu sein. Jeder einzelne Handgriff saß. Wenigstens sein Werkzeug, bestehend aus Schraubenziehern, Klebstoffen und Pinzetten hatte er in gewohnter Manier griffbereit: Geordnet vom Kleinsten zum Größten.
 

Ich räusperte mich, was Kaiba aufsehen ließ. Die braune Mähne gab endlich das blasse Gesicht preis. Seine eisblauen Augen musterten mich einen Moment, dann bedeutete er mir, mich zu setzen. „Willst du einen Drink?“ Seine Tonlage war wie üblich, abwertend und distanziert, woran ich mich mittlerweile aber gewöhnt hatte. Seinen Mitarbeitern gegenüber verhielt er sich deutlich anders, noch schlimmer.
 

„Wenn du auch einen trinkst?“
 

Kaiba stand auf, ging zu einer der Glasvitrinen und zog einen Flacon und zwei Kristallgläser heraus, in die er den Scotch hineinfließen ließ. Er stellte mir mein Glas direkt vor die Nase, setzte sich und lehnte sich dabei im Stuhl zurück um an seinem Getränk zu nippen. Ich tat es dem CEO gleich und lobte im Stillen wieder einmal Kaibas exzellenten Geschmack. Wahrscheinlich hatte der Tropfen ein kleines Vermögen gekostet, doch er war es wert.
 

„Also, warum hast du mich heute zu dir gebeten?“ Ich versuchte aus dem Blick meines Gegenüber zu erkenne, was er denn von mir wollte. Den Gefallen tat mir der CEO aber nicht, im Gegenteil, er musterte mich schweigend, schien mich fast zu röntgen.
 

„Das Battle City Turnier steht bald an, und du musst noch dementsprechend ausgerüstet werden.“
 

Ich schrägte den Kopf und warf Kaiba einen fragenden Blick zu. Ausgerüstet? Warum? Ich meine, eine Duel Disk würde er wohl für mich haben, und mehr brauchte ich nicht. Mein Deck war in meinen Augen recht stark, und würde sicher genügen, um zumindest ins Viertelfinale zu kommen. Mehr konnte mein Sponsor schließlich auch nicht von mir wollen.
 

„Es wird in diesem Turnier genügend Duellanten geben, die alle die neueste Duel Disk der Kaiba Corporation testen dürfen. Das Ganze hat auch einige logistische Gründe, mit denen ich dich nicht weiter behelligen werde. Jedenfalls gibt es nur einige, wenige Teilnehmer, denen es vergönnt sein wird, eine Spezialanfertigung tragen zu dürfen. Genauer gesagt, meine Wenigkeit, Yugi und dich.“
 

Spezialanfertigung. Mein Blick wanderte über das Chaos auf dem Schreibtisch, und dann wurde mir klar, woran Kaiba da baute. Jetzt ergab auch alles einen Sinn, mehr noch: Ich konnte erkennen, dass die Unordnung einem bestimmten Muster zu folgen schien. Nicht einmal hier war es dem CEO möglich, seine perfektionistische Marotte abzulegen.
 

„Kaiba, ich bin mit einer normalen Duel Disk vollends zufrieden. Wahrscheinlich könnte ich mir nicht einmal eine Neue leisten.“
 

Der Braunhaarige gebot mir mit seiner Hand zu schweigen. „Ich habe bereits alles vorbereitet, und ich dulde keine Widerrede.“ Kaiba griff nach einem Schnellhefter, den er mir aushändigte und nippte wieder an seinem Glas. Während ich die Mappe durchblätterte fuhr er fort: „Yugi trägt eine im Stil des Schwarzen Magiers, meine Version erinnert an den Weißen Drachen mit Eiskaltem Blick, für dich habe ich ein Konzept entworfen, dass an den Schwarzen Rotaugendrachen angelehnt ist.“
 

Damit hatte er maßlos untertrieben. Die Duel Disk war wunderschön. Die Kartenspielfläche erinnerte an einen Flügel meines Lieblingsmonsters. Die Halterung für das Deck deutete den Schädel des Rotaugendrachens an. In den Kopf war die Lebenspunkteanzeige eingelassen worden. Ich war natürlich begeistert von dem Entwurf, doch ich verstand das Warum dahinter nicht. Das fragte ich Kaiba dann auch.
 

„Ich meine, Kaiba, die Duel Disk ist wunderschön. Aber das kann ich nicht annehmen.“ In mir nagten außerdem ein wenig Schuldgefühle, ob meiner Zusage an Yugi, im Finale mit ihm gemeinsam zu kämpfen, sollte es denn wirklich ein Doppel werden.
 

„Natürlich kannst du. Ich sponsere dich, und du bist Mokubas bester Freund. Jemand, der so sehr mit der Kaiba Corporation in Verbindung gebracht wird, kann nicht wie die gewöhnlichen Straßenduellanten herumlaufen. Außerdem erhoffe ich mir, dass so die Raritätenjäger auf uns aufmerksam werden.“
 

Ich spuckte beinahe den Whisky aus, als Kaiba seinen letzten Satz tätigte. Bitte was? Die Raritätenjäger? Auf mich? Warum? Ich hatte ehrlich gesagt wenig Lust, mich mit dieser Bande an Irren, sofern es sich um die gleiche Vereinigung handelte, die Yugi und Joey mir einmal beschrieben hatten, anzulegen.
 

„Tu nicht so. Die Raritätenjäger sind das einzig Interessante am Battle City Turnier.“ Kaiba nippte wieder an seinem Glas und rutschte wieder an den Schreibtisch heran. Irgendetwas schien ihm unter den Nägeln zu brennen – würde er jetzt das große Geheimnis lüften, warum er mich denn so dringend brauchte?
 

„Ich nehme an, Yugi und Wheeler haben dir bereits von den Raritätenjägern erzählt?“ Kaiba stellte sein Glas ab, griff nach einem Maßband und bedeutete mir, meinen Arm auszustrecken. Was sollte das nun wieder werden?
 

„Das ist doch der Haufen, der Duellanten überfällt, um sich ihre seltenen Karten anzueignen?“
 

Kaiba nickte, während er meinen ausgestreckten Arm abmaß. „Ja. Sie sind eine echte Plage, zeitgleich aber auch ein ziemlicher Segen.“
 

Das war ja wieder einmal eine brillante, nichtssagende Antwort.
 

„Ich habe aber ehrlich gesagt keinen Bock, ihnen meine Karten auszuhändigen.“
 

Der CEO machte einen abfälligen Laut. „Als ob auch nur einer von denen eine Ahnung vom Duellieren hätte. Meist kämpfen sie hinterrücks an abgeschiedenen Orten. Ich habe dieses Jahr aber das Sicherheitspersonal deutlich verstärken lassen. Außerdem ist die gesamte Stadt satellitenüberwacht.“
 

„Was ist dann an den Raritätenjägern so interessant, dass du sie unbedingt wieder hier haben willst? Ich meine, so wie du von ihnen sprichst, scheinen sie vorwiegend Ärger zu machen.“
 

Kaiba rollte das Maßband wieder auf, notierte sich die Zahlen und griff dann wieder zu seinem Glas, das er ein wenig schwenkte. Er wirkte euphorisch, geradezu energiegeladen. Jetzt würde der dicke Fisch kommen, ganz sicher.
 

„Nun, sagen wir einmal, auch sie haben seltene Karten. An einigen, wenigen, bin ich selbst interessiert.“
 

Ah ja. Ich wollte Kaiba eigentlich vorschlagen, sich einfach die Boosterpacks tonnenweise zu kaufen, und dann zu schauen, ob seine Wunschkarten nicht dabei sind, aber mich beschlich eine leise Ahnung, was er denn wirklich haben wollte. Karten, die so selten waren, wie die Toon World.
 

„Gut, aber wie soll ich dir dabei helfen?“
 

Der CEO hob die Mundwinkel ein wenig an, und nickte mit dem Kopf in Richtung meines Milleniumsrings. „Alleine das Ding da macht dich schon interessant genug. Irgendwie sind sie alle vernarrt in diese Teile. Aber nicht nur das, du besitzt seltene Karten, bist ein guter Duellant und laut Presse einer meiner Schützlinge.“
 

Ich musste mich zurückhalten, Kaiba nicht den Whiskey ins Gesicht zu schütten. War das alles nur ein Spiel gewesen, mit dem Sponsoring, der Wohnung, dem Entwickeln des Spiels? Um an irgendwelche behinderten Spielkarten zu gelangen? Das konnte doch nicht sein Ernst sein, oder?
 

„Bevor du dich fragst, nein, ich habe dich nicht nur deswegen gefördert. Es war an der Zeit einen dritten Rivalen zu erschaffen, damit die Duelle endlich interessanter werden. Ich und Yugi haben Duel Monsters auf einer Ebene perfektioniert, von der die Anderen nur träumen können. Es geht hier nicht mehr um den Weltmeister und den König der Spiele – wir sind das Gesicht, das Wahrzeichen für dieses Spiel geworden.“
 

Ich schüttelte leicht verärgert den Kopf: „Und weiter? Ich meine, das ist ja schön für euch, aber dazu braucht ihr mich nicht. Außerdem: Spielt Mokuba auch nur bei deinem Schauspiel mit?“
 

Tatsächlich zögerte Kaiba für den Hauch einer Sekunde mit seiner Antwort. Ich merkte es ihm an, dass er gerne gegenteilig geantwortet hätte: „Nein. Mokuba liebt dich wirklich aufrichtig. Beinahe wie mich.“ Der CEO hielt inne, bevor er fortfuhr: „An deinem ersten Tag an der Schule, hast du nicht nur den Mut bewiesen, für Wheeler einzustehen, sondern auch gewagt, mir die Stirn zu bieten. Dabei geht es nicht um den Ausgang des Duells, ich konnte dieses Feuer in dir brennen sehen, welches auch in Yugi lodert, wenn er sich duelliert. Du hast für diesen einen Moment gelebt, und daran geglaubt, die richtigen Karten zu ziehen.“
 

War das ein Kompliment? Aus Kaibas Mund? Die Welt musste sich gerade in die falsche Richtung drehen. Wirklich? Im Ernst? Der Seto Kaiba hatte mir ein Lob ausgesprochen? Hier war sicher irgendwo eine versteckte Kamera, die alles aufzeichnete, um mich dann irgendwie zu blamieren.
 

„Es gab einige Erfahrungen in letzter Zeit, unabhängig von dir, die zumindest meine Einstellung zu Yugis Mummenschatz bezüglich des Glaubens an die Karten ein wenig in Frage gestellt haben. Jedenfalls glaube ich, in dir einen weiteren Rivalen gefunden zu haben. Ein roher Diamant, den es zu formen gilt. Mit mir und Yugi als Lehrer kann es sein, dass du ein ernstzunehmender Gegner wirst.“
 

Wir unterhielten uns noch ein wenig über die Duel Disk, einige Formalitäten bezüglich des Turniers und Kaiba wollte auch meine Eindrücke und Ideen festhalten, um sie, nach reiflicher Überlegung natürlich, in das Battle City Turnier einfließen zu lassen. Das Finale würde wieder besonders werden, da mir Kaiba verraten hatte, er würde auf das Wunschsetting der Finalisten Rücksicht nehmen. Meine Vorlieben und Abneigungen wurden notiert, bevor er mich entließ und ich in mein Zimmer zurückging.
 

Auf dem Bett hockend dachte ich nach und starrte dabei meinen Milleniumsring an. „In dir brennt das gleiche Feuer wie in Yugi“, gingen mir die Worte des CEO durch den Kopf. Wusste er von Yugis zweitem Ich, genauso wie von Meinem?
 

„Er vermutet es“, meldete sich Mahad lächelnd zu Wort. Der Geist saß neben mir, durchsichtig, gespenstisch weiß. Mir war der Anblick mittlerweile vertraut. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart wohl. Angst verspürte ich keine mehr, im Gegenteil: Es freute mich, ihn so in meiner Nähe zu wissen.
 

„Er sucht die Göttermonster, oder?“ Meine Frage war mehr eine Feststellung, die Mahad mit einem Nicken bestätigte.
 

„Ja. Die Sangenshin sind Kaibas größtes Begehr. Er versucht erneut, alle drei zu vereinen, um so der größte Duellant aller Zeiten zu werden. Dabei hat er nichts gelernt. Die Geschichte darf sich nicht wiederholen.“
 

„Was meinst du damit?“, fragte ich und konnte Mahads trauriges Lächeln sehen.
 

„Der Pharao und Kaiba haben sich bereits einmal bekämpft, ähnlich wie wir und er. Einen Gott zu kontrollieren ist schwer, fast unmöglich. Alle drei kann nur der Auserwählte bändigen. Versucht es ein anderer, so wird er schwerstens bestraft.“
 

Ich nickte leicht. „Yugi ist der Auserwählte, oder? Er kann diese drei Monster kontrollieren, sie lenken und führen?“
 

Mahad wiegte den Kopf ein wenig hin und her: „Ja und Nein. Alle drei zu kontrollieren ist ihm alleine vorbehalten, doch es gibt andere, die ein Göttermonster zu bändigen vermögen. Vorwiegend hängt es mit den Milleniumsgegenständen und der Verbindung zur Vergangenheit ab. Theoretisch ist auch die Exodia ein göttliches Wesen.“
 

Die Exodia, mein mächtigstes Monster. Im Umkehrschluss musste das bedeuten, dass auch ich in der Lage war, eines der Göttermonster auszuspielen.
 

„Diese Annahme ist korrekt, David.“
 

Ich wollte aber eigentlich keines dieser Monster besitzen. Ich hatte Geschichten von Unfällen gehört, bei der Herstellung bestimmter Karten. Yugi meinte, sie seien bösartige Wesen, die man nur mit Bedacht auf die Welt loslassen sollte, und selbst Joey hatte mir einmal anvertraut, er habe Angst, ihnen wieder zu begegnen.
 

„Das musst du auch nicht. Es reicht, wenn wir den Raritätenjägern eines abnehmen.“
 

Ich blinzelte. „Eines? Du willst wirklich, dass wir uns da einmischen?“
 

Mahad nickte lächelnd: „Natürlich. Das ist unsere Aufgabe. Der Pharao braucht uns schließlich.“
 

Der Pharao. Mich brauchte Yugi, genauso wie ich Yugi brauchte. Aber irgendwie schienen unsere Geister sich auch gegenseitig zu brauchen. Vielleicht brauchte auch ich den Pharao, und Yugi Mahad? Wahrscheinlich war es so, mir jedenfalls brummte der Kopf ob dieser Gedanken.
 

„Leg dich schlafen“, lachte der Geist und verschwand wieder im Nichts, aus dem er gekommen war. Ich beherzigte diesen Ratschlag und ging bald darauf ins Bett, wobei ich dieses Mal aber äußerst schlecht schlief. Ich träumte von einer verheerenden Dürre im alten Ägypten, und einem riesigen, gold-gelben Vogel, der dafür verantwortlich war.

Ärger im Paradies

Die nächsten Tage und Wochen waren relativ ereignislos gewesen. Ich hatte mich mittlerweile an mein Leben im Luxus einigermaßen gewöhnt, wobei ich durchaus das Gefühl hatte, man deutete meine Dankbarkeit falsch. Die Angestellten in der Villa wirkten fast alle eingeschüchtert und still, sorgsam darauf bedacht, nicht zu sehr aufzufallen. Kontakt war, mal abgesehen mit Ito, dem Chauffeur, unerwünscht. Mir blieben also nur Mokuba, der große Kaiba und ich selbst. Meine Freunde konnte ich seltsamerweise einladen, wann ich wollte. Die Angestellten hielten sogar eines der Gästezimmer bereit, falls einer von ihnen bei mir übernachten wollte.
 

Ich hatte auch ein wenig Bedenken ob der Tatsache, dass Joey eben kein Zimmer brauchte, sondern bei mir schlief, und das recht oft. Plappermäuler gab es überall. Dass mir das zuvor noch nie in den Sinn gekommen war, ärgerte mich ein wenig. Mich hätte es nach wie vor nicht gestört, unsere Beziehung öffentlich zu machen, aber Joey hielt eisern an seinem Wunsch fest. Jegliche Gespräche über Zuhause blockte er rasch ab und überspielte sie mit einer äußerst künstlich wirkenden Maske der Freude und Aufgedrehtheit. Mahad und Yugi hatten mir beide geraten, ihn fürs Erste nicht zu bedrängen und daran hielt ich mich auch. Mein früheres Ich und mein bester Freund würden mir wohl kaum schlechte Ratschläge erteilen.
 

Jedenfalls schien Kaiba sein Personal getrimmt zu haben, nur ja nicht in private Angelegenheiten von ihm, Mokuba oder seinen Gästen, unter anderem auch mir, herumzustochern oder sich gar das Maul darüber zu zerreißen. Ehrlich gesagt war ich erleichtert, dass sich der CEO so vehement verhielt, bezüglich seines Personals. Eine Sorge weniger, die, neben Joey, gerade in meinem Kopf herumgeisterte.
 

Ich hatte mich bereits oft genug mit der Frage befasst, wie ich das Battle City Turnier bestreiten wollte. Kaiba, wie auch meine Freunde, waren felsenfest davon überzeugt, ich würde ins Finale kommen. Natürlich hatte ich mich mittlerweile durch die Nähe zum König der Spiele und dessen Rivalen gemausert und in den Duellen, die wir zum Spaß bestritten, war es mir gelungen, mich gegen Yugi eine Weile zu halten, sowie Joey aus dem Spiel zu fegen (sehr zu dessen Verdruss). Kaiba ließ sich selten dazu herab, sich mit mir zu duellieren, wenn, dann bemühte ich mich tatkräftig, konnte ihn aber nie schlagen. Wie denn auch? Wir sprachen hier von dem Mann, der für Duel Monsters lebte, mehr als es Yugi tat.
 

Die Vorbereitungen für die Spielemesse, auf der ich gemeinsam mit Kaiba, Mokuba und den Investoren auftreten sollte, waren in vollem Gange. Auch wenn Kaiba es sicher nicht aus reiner Gefälligkeit tat, so bemühte er sich doch darum, mir das Meiste vom Hals zu halten. Ich dürfe laut ihm, und schließlich hatte er das letzte Wort, natürlich auftreten, ohne einstudierte Rede und dergleichen. Wichtig sei nur, dass ich betonen würde, wie mir das Spiel gefalle, wie sich die Entwicklung für mich angefühlt hat, aber auch, woran ich Kritik geübt hatte, welche auch Berücksichtigung gefunden hatte.
 

Ich lag auf meinem Bett und überflog meine Hausaufgaben in Japanisch, als es an der Zimmertür klopfte. Mit einem lauten „Herein“ bat ich den vermeintlichen Gast, wahrscheinlich jemanden, der mich zum Essen rufen wollte, in den Raum. Zu meiner großen Freude war es kein Dienstmädchen, sondern Joey.
 

„Hallo Schatz!“, lächelte ich und legte die Hausaufgaben beiseite. Der Blondschopf schloss die Tür hinter sich und hob die Mundwinkel ein wenig an. Mein Lächeln erstarb schlagartig, als er ins Licht meiner Leselampe trat.
 

„Was ist mit dir passiert?“ Ich sprang vom Bett auf und stützte meinen Freund, um mit ihm gemeinsam die letzten Schritte zu machen.
 

Joey wirkte übel zugerichtet. Seine Lippen waren aufgeplatzt, die sowieso schon heruntergekommene Kleidung zerrissen und hing nur mehr in Fetzen herunter. Durch das Shirt konnte ich blaue Flecken erkennen. Er zitterte am ganzen Körper und das, obwohl ihm der Schweiß von der Stirn perlte. Sich in mein Zimmer zu schleppen musste ihn die letzten Reserven gekostet haben.
 

„H-Halb so wild“, wehrte mein Freund ab und ließ sich stöhnend aufs Bett sinken. Mir lag etwas Böses auf der Zunge, doch verkniff ich mir, ihn anzufahren.
 

„Schatz, bitte, was ist los?“ Wieso hatte man ihn überhaupt in dem Zustand hereingelassen? Irgendeinem Bediensteten ist er sicher untergekommen und ganz ehrlich: In dem Zustand holte man doch einen Arzt, oder?
 

„I-Ich sagte doch, nichts. Kann ich heute bei dir pennen?“ Joey fiel das Sprechen sichtlich schwer, und auch wenn er sich mit aller Kraft bemühte, die Situation zu verharmlosen, so erkannte ich, dass es höchste Eisenbahn war, etwas zu unternehmen. Nicht ob der Verletzungen, das stand natürlich außer Frage, doch ich konnte mir dieses Trauerspiel nicht mehr mitansehen. Ich war sein Freund und als solcher verpflichtet, ihm zu helfen.
 

„Natürlich kannst du“, antwortete ich leise und stand auf, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass er nicht vornüberkippte. Ich ging ins Bad und holte ihm ein Glas kaltes Wasser, das er dankend entgegennahm. Ich griff nach meinem Handy und schrieb Mokuba, er möge doch bitte alsbald in mein Zimmer kommen, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder Joey schenkte.
 

„Schatz so geht es nicht weiter“, begann ich vorsichtig und beobachtete meinen Freund, wie er an dem Wasserglas nippte. „Wir alle wissen woher deine Verletzungen stammen.“ Joeys rechtes Augenlid zuckte, doch entgegen meiner Erwartungen sagte er nichts. Er starrte einfach nur stumm in sein Glas.
 

„Joey, ich werde dich nicht noch einmal in dieses Haus zurückgehen lassen, ist dir das klar? Keiner von uns. Auch nicht Tristan, Tea, Yugi, Duke, Bakura – das ist keine Lösung. Es wundert mich, dass die Lehrer nicht bereits aufmerksam geworden sind und deine Lügen mit den Prügeleien noch immer nicht durchschaut haben.“
 

Joey hob den Kopf an und seufzte leise: „Und was willst du tun? Ich bin noch nicht volljährig und er ist mein Erziehungsberechtigter. Ich muss bei ihm wohnen.“
 

Ich blies die Wangen auf um einen genervten Laut zu unterdrücken. Auch wenn ich mich nicht mit der japanischen Rechtslage auskannte, so glaubte ich zumindest, dass man auch hier an solche Fälle gedacht hatte. Für ein Heim war Joey in meinen Augen zu alt, und selbst wenn, es gab Anwälte, die, auch wenn ich es hasste, wahrscheinlich von Kaiba gesponsert werden mussten.
 

„Du musst gar nichts. Hör mir mal zu. Wir können uns das nicht länger mitansehen. Dieses Schwein missbraucht dich, körperlich wie geistig, auf eine Weise, die schon fast an Folter grenzt. Irgendwie hat er es geschafft, dich glauben zu machen, ohne ihn nicht überlebensfähig zu sein. Wir sind hier in Domino City, der Stadt, die Seto Kaiba mehr oder weniger gehört, und der wiederum zählt, warum auch immer, zu meinen Gönnern, Freunden, oder keine Ahnung, wie du das nennen magst.“
 

Wütend sprang Joey auf und ließ dabei das Glas fallen. Zorn loderte in seinen Augen auf. „Ich nehme nichts von Kaiba an, niemals. Bevor ich bei dem in der Schuld stehe, lebe ich lieber unter einer Brücke, mit drei solchen Typen.“
 

Meine Augenbrauen schoben sich nach unten. Meine ganze angestaute Wut und mein Hass auf den alten Wheeler entlud sich in diesem Moment. Ich hatte zu lange zugesehen, und meine Gefühle unterdrückt, wie mir schlagartig klar wurde. Auch wenn ich es nicht wollte, so verlor ich die Beherrschung.
 

„Warum verdammt nochmal Joey, kannst du nicht einmal über deinen Schatten springen? Nur einmal? Denkst du es macht mir Spaß dich so zu sehen? Jedes Mal wenn ich dich gehen lasse, zu wissen, dass du in diesen Hort des Wahnsinns zurückkehren musst? Nein, nicht musst, willst. Was ist so schlimm daran Hilfe anzunehmen?“
 

Joey ballte die Hände zu Fäusten. Es wunderte mich, dass er so lange stehen konnte. „Ich werde niemals, niemals nie, in der Schuld von Kaiba stehen. Er ist ein reicher, widerlicher Pinkel, der allen reindrückt, wie gut er doch ist. Für ihn gibt es niemanden. Er kennt nur sich selbst. Bei so einem willst du in der Kreide stehen?“ Der letzte Satz war mit einem Unterton des Abscheus verbunden, der mich zutiefst verletzte.
 

„Ich stehe bei Kaiba nicht in der Kreide. Wenn man ihn nicht dauernd reizt, kann er sogar ganz erträglich sein. Aber du musst ja dauernd auf ihm herumhacken. Ihr beide führt euch auf wie kleine Kinder, die sich um die Schaufel im Sandkasten streiten! Komm endlich zu dir! Wir alle wollen dir nichts Böses, im Gegenteil. Kaiba ist der einzige Weg, der mir einfällt, dich aus diesem Irrenhaus herauszubekommen, und wenn es sein muss, dann bettle ich auf Knien, dass er dir das ermöglicht.“ Meine Stimme wurde zusehends schärfer, und auch wenn es kontraproduktiv war, so tat es mir in der Seele gut, den angestauten Frust abzulassen.
 

„Hast du so wenig Stolz?“, fragte Joey verächtlich.
 

„Hast du so wenig Hirn und Selbstvertrauen, als dass du bei deinem Vater bleiben willst?“ Ich hielt inne, als ich seinen verletzten Blick sah, fuhr dann aber fort. Vielleicht verstand er jetzt, was ich meinte, und wie spät es schon war, fast zu spät, sich von seinem Vater zu lösen.
 

„Wenn Kaiba von mir verlangt, dass ich von der Brücke springe, damit er dich da rausholt, dann würde ich es ohne zu zögern tun. Verstehst du nicht Joey, dass ich dich liebe? Dass ich will, dass es dir gut geh, und dass es für mich eine Qual ist, dich so zu sehen?“ Ich deutete mit meiner flachen Hand an ihm entlang.
 

„Was passt dir denn an meinem Aufzug nicht? Ist es für den feinen Herrn zu minder, wenn sich sein Freund keine teuren Markenklamotten leisten kann?“ Joey schnaubte wutentbrannt.
 

„Ist das dein Ernst? Sag mal Joey, was ist dein Problem? Was habe ich dir getan? Nichts, im Gegenteil, ich bemühe mich all diese schlechten Sachen um dich herum auszublenden, und ergreife Partei für dich, wenn du dich mit Kaiba streitest, genauso wie Yugi.“
 

„Ich brauche niemanden, der für mich Partei ergreift“, fauchte der Blondschopf und wandte seinen Blick ab.
 

„Natürlich, du brauchst niemanden. Du bist haargenau wie Kaiba. Wenn ihr zornig werdet, dann…“ Was die beiden denn waren, konnte ich nicht mehr vollenden, da mich Joey unsanft am Shirt gepackt und in die Höhe gezogen hatte.
 

„Wage es dir noch einmal, mich mit Kaiba zu vergleichen“, knurrte er. Seine freie Hand hatte er zur Faust geballt.
 

„Was dann? Willst du mich verprügeln?“ Ich hätte schwören können Joeys Zähne aufeinander mahlen zu hören. „Ist es das was du willst? Alleine sein? Mich von dir stoßen? Warum? Hat dein Vater endlich gerafft, dass wir zusammen sind? Dass du auf Kerle stehst? Ist er enttäuscht von dir?“
 

Ich spürte einen dumpfen Schmerz in der Bauchgegend. Keuchend fiel ich zu Boden und krümmte mich. Ein Blick nach oben ließ mich in Joeys entsetztes Gesicht blicken, der seine Faust anstarrte. Ihm wurde wohl klar, was er da gerade getan hatte.
 

„Das, das wollte ich nicht“, stammelte er. Der wütende Wheeler Junior wich dem besorgten, sanften Jungen, in den ich mich verliebt hatte. Der, der sich um seine Freunde sorgte, genauso wie um seine kleine Schwester. Ich konnte ihm ansehen, wie sehr er sein Handeln bereute und dennoch, irgendetwas in mir konnte ihm gerade nicht verzeihen.
 

„Er bedeutet dir mehr als ich, oder?“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und richtete mich langsam auf, dabei den Nachttisch als Stütze verwendend. „Ich verstehe schon, dein Vater hat dich an der kurzen Leine. Du musst schließlich zu ihm halten, er ist ja dein Papa.“ Als ich einigermaßen gerade stand, konnte ich nur mit Mühe die Tränen verbergen, die in meinen Augen brannten. Ich griff nach dem Schlüssel auf meinem Nachtkästchen und warf ihn Joey vor die Füße.
 

„Hier, du kannst in meinem Zimmer pennen so lange wie du willst, aber ohne mich.“ Die aufkeimende Wut verdrängte den pochenden Schmerz in meiner Magengrube. Joey hatte genügend Kraft, wie mir schmerzlichst bewusst wurde. Umso weniger verstand ich, warum er sich nicht gegen seinen Vater wehrte. Schnaubend ging ich zur Tür.
 

„Wohin gehst du?“, fragte Joey kleinlaut.
 

„Den Kopf frei bekommen. Tu mir einen Gefallen, ja?“ Im Türrahmen stehend hielt ich inne. „Schlafe wirklich hier, ich will mir nicht unnötig Sorgen machen müssen.“ Damit ging ich nach unten und schaute auf den Dienstplan der Fahrer. Kaiba hatte mittlerweile einen Nachtdienst eingeführt, sodass Mokuba und ich auch außer Haus konnten, egal wie spät es war. Ich ließ den Chauffeur mithilfe der Sprechanlange kommen und gab ihm auch gleich die gewünschte Destination durch.
 

Als ich ausstieg wünschte ich, der Höflichkeit halber, dem mir unbekannten Mann einen guten Heimweg und entschuldigte mich, dass er extra so weit hatte fahren müssen. Mit letzter Kraft schleppte ich mich zur Tür und klingelte. Als sie aufging, fiel ich weinend einem Yugi in die Arme. Meine Kraft für heute war erschöpft.

Obdach beim König der Spiele

Yugi verfrachtete mich auf seine Couch und versorgte mich dabei mit einem Eisbeutel, den ich auf die Stelle presste, wo Joey mir eine verpasst hatte. Die Kälte tat mir gut und ließ den pochenden Schmerz, der sich bereits während der Fahrt wieder gemeldet hatte, ein wenig abklingen. Ich würde sicher einen blauen Fleck bekommen.
 

„Ich verstehe das nicht“, murmelte Yugi und schüttelte den Kopf, nachdem ich ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. Er war dabei ruhig geblieben, hatte mir zugehört, und uns nebenbei einen Tee gekocht. Dass ich bei ihm übernachten durfte, war selbstverständlich.
 

„Yugi, ich verstehe es auch nicht“, antwortete ich. „Nun, das stimmt so nicht ganz“, setzte ich nach und rieb mir den Nacken. Mein bester Freund schrägte den Kopf ein wenig und bedachte mich mit einem fragenden Blick.
 

„Was ich gesagt habe war ziemlich gemein.“
 

Yugi nickte: „Natürlich. Aber das meinst du nicht. Du verstehst nicht, warum Joey sich nicht wehrt, oder?“
 

Ich tat es meinem Freund gleich, griff dann nach einem Tee und blies über den Tassenrand. Irgendwie tat mir dieses Gespräch ziemlich gut. Er würde mir sicherlich den Kopf waschen, aber zeitgleich auch aufzeigen, was ich richtig gemacht hatte. Auch wenn Mahad den Pharao schätzte, verehren mochte, ich war mit dem kleinen Yugi Muto befreundet.
 

„Weißt du, Joey hatte es früher schon schwer. Das mit Serenity und der Trennung, dann ist er irgendwie auf die schiefe Bahn geraten. Joey und Tristan waren mal ziemliche Raufbolde, Bullys, um genau zu sein.“
 

Ich blinzelte perplex. Joey sollte ein Mobber gewesen sein? Mein Freund? Genauso wie Tristan? Gut, beide hatten eine durchaus hitzköpfige, schroffe Art, aber trotzdem. Zumal, die hatte ich ja auch, wenn ich ganz ehrlich war.
 

„Sie waren einfach verloren, führungslos, beide. Irgendwann sind sie dann aber doch ein gutes Team geworden, genauso wie wir.“ Yugi lächelte aufmunternd: „Mit dir sind wir erst komplett geworden.“
 

Obwohl mir gar nicht danach zumute war, musste ich ebenfalls lächeln. Das waren sehr warme, freundliche Worte von Yugi. Außerdem wusste ich, dass sie ehrlich gemeint waren. Er konnte nicht gut lügen und hatte auch keinen Grund dazu.
 

„Aber Joey war früher wirklich schlimm. Er hat sich dauernd geprügelt, den Unterricht geschwänzt, war ein totaler Außenseiter. Das hat sich dann alles ein wenig relativiert, als wir alle so enge Freunde geworden sind. Mit Duel Monsters hat er dann wirklich ein Ziel vor Augen bekommen, dass er verfolgen wollte. Auch wenn Kaiba es nicht zugibt, Joey ist ein sehr guter Duellant, der ihn mehr als nur einmal in Bedrängnis gebracht hat.“
 

Ich hörte still zu und nippte an meinem Tee. Mir fiel dabei auf, wie wenig ich eigentlich über Joeys Vergangenheit wusste. Er selbst hatte sich dabei als recht wortkarg erwiesen.
 

„Darum haben wir auch so lange nicht kapiert, dass etwas im Argen sein musste. Dass Joey mit einem blauen Auge in die Schule kam, war nichts Ungewöhnliches. Wir wussten auch, dass seine finanziellen Verhältnisse nicht so rosig waren und auch noch sind. Irgendwann hatten wir dann aber doch die Vermutung, dass es mit seinem Vater zutun haben könnte.“
 

Ich nickte verstehend. Das war ja bei mir auch so gewesen. Gut, ich hatte einen Vater und liebevolle Großeltern, genauso wie einen überschaubaren, aber doch starken Freundeskreis. Auch finanziell ging es uns nicht unbedingt schlecht, und meine Noten waren gut. Aber ich hatte auch viel Kraft aufgewendet, um zu verbergen, was bei uns Zuhause teilweise abging.
 

„Nur Joey ist, auch wenn er es nicht zugibt, ein äußerst sensibler Mensch. Wie du bereits gemerkt hast, hängt er sehr an Serenity, an Tristan, mir und auch dir. Wir sind alle seine Bezugspersonen, und er möchte uns helfen, für uns stark sein, keine Schwäche zeigen. Im Königreich der Duellanten hat er sich mit purer Willenskraft teilweise aus wahnwitzigen Situationen, die auch mir Kopfzerbrechen bereitet hatten, geschlängelt, für Serenity.“
 

Davon wusste ich. Joey hatte für Serenitys Operation gekämpft, da diese sehr kostspielig gewesen ist. Dabei hatte er nie aufgehört an sich selbst und seine Fähigkeiten zu glauben, ein Zug, den ich auch heute noch an ihm bewunderte und liebte.
 

„Vor dir zuzugeben, schwach zu sein, das muss für Joey eine einzige Qual sein. Er kann es vor mir schon nicht besonders gut, und auch nicht vor Tristan, aber vor dir – das ist noch einmal eine ganz andere Nummer. Außerdem möchte er seine Probleme selbst lösen, zumindest in privaten Dingen.“
 

Ich stellte die Teetasse ab und drückte wieder den Eisbeutel auf den Bluterguss, der mittlerweile deutlich zu erkennen war. „Yugi, das mag ja alles sein, aber dann erzählst du mir, oder er, dass euer Zusammenhalt das ist, was euch stark macht. Ich erinnere mich noch, wie er mir von eurem Duell gegen die Paradox-Brüder erzählt hat, oder, wie er mit deiner Hilfe Mai Valentine geschlagen hat. Du hast ihn gegen Bandit Keith und seinen kleinen Kumpel unterstützt, genauso wie im Battle City Turnier. Warum weigert er sich, zumindest von dir, Hilfe anzunehmen?“
 

Yugi bewegte seinen Kopf ein wenig hin und her, so, als ob er seine Antwortmöglichkeiten genau abwägen würde. „Weil er dafür zu stolz ist. Das sind private Dinge, die eigentlich keinen von uns etwas angehen. Außerdem funktionieren unsere Familien ja, sogar deine. Joey hat mir einmal erzählt, er bewundere es, wie sehr du für deine Großeltern kämpfst und dass du schon viel weiter bist, als er.“
 

Ich konnte ein leises Seufzen nicht unterdrücken. Auch wenn das alles sehr süß und romantisch klang, so war das keine befriedigende Antwort. „Yugi, ich brauche keinen Ritter in strahlender Rüstung, der mir meine Probleme aus dem Weg räumt. Das mache ich selbst, und wenn ich es nicht schaffe, dann habe ich noch immer Mahad und dich. Es ist nicht Joeys Aufgabe, vor mir stark zu sein.“
 

Der König der Spiele lächelte schmal: „Deine aber auch nicht vor ihm.“
 

Ich blinzelte und starrte dann auf meine Teetasse. Mein bester Freund hatte natürlich Recht. Vor Joey versuchte ich immer stark zu sein, ihn aufzubauen, und mir auch meine Nervosität oder Angst nicht anmerken zu lassen; zeitgleich kritisierte ich aber genau dieses Verhalten bei dem Blondschopf.
 

„Joey hat viel durchgemacht, nicht nur mit seinem Vater, auch mit Mei und mit uns. Dass er gerade vor dir seine Ängste und Sorgen verbergen möchte, verstehe ich total. Er liebt dich abgöttisch. Tristan hat ihn schon aufgezogen, ob er nicht auch bald ein Bild von dir herumtragen würde, wie Kaiba es mit Mokuba tut.“
 

Ich musste erneut lächeln. Das konnte ich mir bildhaft vorstellen.
 

„Aber da sind auch andere Dinge. Zweifel, die an ihm nagen. Du und ich, wir beide kommen mit Kaiba gut aus. Mokuba liebt dich genauso wie Joey es tut. Der sonst so kühle, kalte Seto Kaiba hat nicht nur einen Rivalen in spieltechnischer Hinsicht, mich, sondern jetzt auch noch einen in beziehungstechnischen Dingen, dich. Mokuba spricht entweder über dich oder seinen Bruder, und er setzt euch beide beinahe gleich. Natürlich betont er nach wie vor, dass Kaiba sein leiblicher, großer Bruder ist, aber du stehst diesem beinahe in Nichts nach. Anstatt dass dich der große böse Kaiba loswird, wohnst du bei ihm. Für Joey hat er nur Hohn und Spott übrig.“
 

Mir wurde erst jetzt so wirklich bewusst, in welcher Zwickmühle Joey eigentlich stecken musste. Nicht nur Mokuba, den er mochte, zwang ihn dazu, sich mit seinem Erzfeind abzugeben, da war auch noch, sein Freund, der ihn quasi nötigte, mit dem CEO zu verkehren. Innerlich schalt ich mich einen Dummkopf, nicht früher draufgekommen zu sein.
 

„Dann hast du Kaiba schon mehrmals die Stirn geboten und nicht nur das: Ihr zwei seid ein gutes Team. Du bist ein Spitzenduellant, planst deine Züge, glaubst an das Herz der Karten, vertraust deinen Fähigkeiten, dir selbst, und uns. Du hast Pegasus in einem Duell geschlagen, was bisher nur mir wirklich gelungen ist. Du kamst aus dem Nichts und hast seine gesamte Welt auf den Kopf gestellt. Dass er ein wenig verwirrt, fast schon eingeschüchtert ist, das ist normal. Dann kommt noch deine Vergangenheit dazu.“
 

Unweigerlich starrte ich auf meinen Milleniumsring. Ich wusste, dass Joey ihn nicht mochte, aber er hatte ihn akzeptiert. Ich legte das Schmuckstück nicht mal zum Duschen ab, wie mir gerade auffiel, auch nicht, wenn wir miteinander kuschelten oder schliefen. Er vermied es zwar, ihn zu berühren, aber mokierte sich dennoch nicht mehr darüber.
 

„Du, Kaiba und ich, wir sind alle Nachfahren einer uralten Dynastie, oder zumindest gehen unsere Vorfahren bis nach Ägypten zurück.“
 

„Natürlich Yugi, aber Joey und ich waren ja schon einmal ein Paar.“ Ich wurde mit einem sanften Lächeln belohnt und entschloss mich, wieder an meinem Tee, der köstlich schmeckte, und eine beruhigende Wirkung hatte, zu nippen.
 

„Ja, aber das ist etwas Anderes. Unsere Geschichte hat uns vorher schon einmal zusammengeführt. Gerade uns beide. Der Pharao und Mahad sind genauso gute Freunde, wie wir es sind. Joey hat nicht diesen Einblick, diese Vertrautheit. Er besitzt kein früheres Ich, auf dass er zurückgreifen kann. Er lebt von Erinnerungsfetzen und einem Gefühl, das langsam wächst. Außerdem war dieser Ring einmal böse. Er hat Angst, dass auch du böse werden könntest.“
 

Ich kannte ein paar der Schauermärchen, die mir Yugi erzählt hatte. Bakura weigerte sich über seinen früheren Besitz zu sprechen und wich auch den Fragen danach gekonnt aus. Ich schob den Milleniumsring meist unter mein Shirt oder meinen Pulli, wenn er in der Nähe war, einfach um die unangenehme Stimmung nicht noch mehr aufzuheizen.
 

„Dann wissen wir noch nicht, welche Fähigkeiten der Ring bei dir hat. Was, wenn noch immer ein wenig von Bakuras bösem Geist in ihm wohnt? Nicht, dass ich dir das unterstellen möchte, aber es ist ein gewisses Risiko. Er muss dich auch teilen, mit Mahad und auch irgendwo mit mir, weil wir miteinander verbunden sind. Genauso wie wir mit Kaiba verbunden sind. Er fühlt sich einfach ein wenig außen vor.“
 

Ich musste nicht fragen, ob Joey denn mit Yugi über all diese Dinge gesprochen hatte; der König der Spiele besaß eine sehr gute Auffassungsgabe und konnte wahrscheinlich in uns allen wie in einem offenen Buch lesen. Vielleicht biss er sich an Kaiba die Zähne aus, aber bei dem Rest ganz sicher nicht.
 

„Auch wenn es gut gemeint sein mag, aber dass du dich vor Kaiba erniedrigst, so edel das auch sein mag, das war dann wohl der Overkill. Er hasst Kaiba einfach und umgekehrt auch. Beide raufen sich nur zusammen, wenn sie es müssen, und der Grund dafür war früher ich, heute bist es auch du. Das zehrt auch an seinen Kräften. Ich will diesen Faustschlag nicht gutheißen, oder ihn in Schutz nehmen, aber, tief in seinem Inneren, leidet Joey mehr als du. Bitte sei nachsichtig mit ihm.“
 

Ich nickte, nur um Yugi dann von seinem Couchstuhl in meine Arme zu ziehen und fest zu drücken. Mir war bewusst geworden wie sehr ich den König der Spiele liebte. Nicht wie Joey, auch nicht wie Mokuba oder meine Großeltern, aber doch auf eine Art, die mich mit ihm verband. Er war wirklich mein bester Freund geworden, und ich wusste, dass ich mich auf ihn verlassen konnte.
 

„Danke“, hauchte ich leise und umarmte ihn fest, wobei mir ein paar Tränen über die Wange liefen. Ich hatte zuhause auch gute Freunde, sehr gute sogar, aber nicht so einen wie Yugi. Pharao hin oder her, ich war mit dem kleinen Yugi verbunden und war mir sicher, dass diese Freundschaft ein Leben lang halten würde.
 

„Schon okay“, lächelte er und erwiderte die Umarmung. Nach einer kleinen Ewigkeit ließen wir voneinander ab und lächelten verlegen. Ich konnte eine wohlige Wärme in mir spüren und war mir sicher, dass es Yugi gleich ging – unsere beiden Geister schienen die Szenerie mit großem Interesse verfolgt zu haben und wohl ähnlich zu denken wie wir.
 

„Yugi? Würdest du vielleicht morgen mit mir…“, begann ich, wurde aber sogleich mit einem lächelnden Nicken bestätigt.
 

„Natürlich. Hau dich aber erst einmal aufs Ohr, ja?“
 

Ich nickte und wurde dann sogleich auf der Ausziehcouch mit Decke und Kopfkissen versorgt. Auch Schlafsachen bekam ich, die mir zwar ein wenig zu klein waren, aber sich doch bequem anfühlten. Sogar an Zahnbürste und Co war gedacht worden. Auch wenn ich noch total aufgewühlt war, so schlief ich doch nach einer Weile ruhig ein. Ich hatte in Japan nicht nur meine große Liebe, sondern auch eine Freundschaft gefunden, die mehr wert war, als alle Reichtümer dieser Welt. Was konnte mir da noch passieren?

Ein Ausweg

Ein sanftes Kitzeln auf meiner Nase riss mich aus meinen Träumen. Ich versuchte das vermeintliche Insekt mit einem Wedeln meiner Hand zu verscheuchen. Das Kitzeln wanderte zu meiner Wange. Genervt öffnete ich die Augen und blinzelte. Ein mir vertrautes Gesicht hatte sich über mich gebeugt.
 

„Joey?“ Bevor ich weiterfragen konnte, wurde ich mit einem Kuss zum Verstummen gebracht. Es war dieses Mal anders als sonst, zumal ich einen salzigen Geschmack auf den Lippen hatte. Ein Blick nach oben verriet mir, dass Joey weinte. Ich konnte mich auch nicht sonderlich rühren, denn er lag mit seinem Gewicht auf mir gestützt. Ich wollte den Kuss genießen, aber konnte es nicht.
 

Nach einer gefühlten Ewigkeit löste sich mein Freund von mir und weinte nur noch bitterlicher. Das waren keine Freudentränen, wie mir schlagartig bewusst wurde. Er sah übel aus, noch schlimmer als gestern. Es waren noch ein Veilchen und einige Schrammen dazugekommen.
 

„Ich habe es ihm gesagt“, hauchte Joey leise und senkte seinen Blick. Ich verstand im ersten Moment nicht ganz. „Ich habe ihm gesagt, dass ich mit dir zusammen bin, dass ich dich liebe und ich es ihm nicht erlaube, meine Beziehung zu dir kaputt zu machen.“
 

Mühsam schaffte ich es mich aufzusetzen, nur um Joey sogleich in meine Arme zu ziehen. Gestern noch hätte ich nicht verstanden warum er weinte, heute war es mir schlagartig klar. Behutsam strich ich ihm über die Wange und durch sein Haar. Seine Tränen hatten nach kurzer Zeit sowohl die Decke, als auch meine Schlafhose durchnässt.
 

„Er hat mir üble Dinge an den Kopf geworfen, mich einen Bastard genannt, eine Schande, die er schon vor 17 Jahren hätte entsorgen sollen“, brachte Joey erstickt hervor und krallte sich in mein Shirt. Ich wollte etwas sagen, ihn trösten, konnte es aber nicht. Mein Zorn auf den alten Wheeler wuchs mit jeder Sekunde. Was war das nur für ein Mensch? Ich konnte ihn mir gut vorstellen: Ein konservativer Säufer, der es nicht ertragen konnte, wenn seine wenigen Trinkkumpanen herausfänden, dass sein einziger Sohn homosexuell war.
 

„Es tut weh, oder? Nicht körperlich, meine ich“, fragte ich leise und strich Joey dabei über den Rücken, der nur stumm nickte. Ich wusste nicht warum, aber ich empfand großen Respekt vor Joey. Er konnte seine Gefühle zeigen, musste sie auf einmal nicht mehr verbergen, mehr noch: Er hatte sich entschieden, ein Schritt, den nur wenige wagten. Vorsichtig legte ich meine Finger unter sein Kinn und hob seinen Kopf ein wenig an, sodass er mir in die Augen schauen musste. Was sollte ich also sagen?
 

„Höre auf dein Herz“, erinnerte mich Mahad an eine seiner Lieblingsphrasen. Aber was wollte mein Herz sagen? Ich war nämlich stocksauer und hätte dem alten Wheeler am Liebsten alle Zähne einzeln herausgeprügelt. Das war aber nicht zweckdienlich. Nein, das wäre falsch gewesen. Ich atmete innerlich durch, zählte bis drei und öffnete dann einfach den Mund.
 

„Schatz, du bist kein Schandfleck. Ich habe noch nie einen so wundervollen Menschen getroffen wie dich. Du siehst gut aus, bist mutig, stark und zögerst nicht, wenn es drauf ankommt. Wir alle mögen und lieben dich von ganzem Herzen. Nicht den Joey, der sich hinter seiner Maske versteckt, und seine Probleme nicht zugeben kann, sondern den Joey, der auch mal schwach ist. Ich bewundere dich. Du hast so lange durchgehalten und liebst ihn sogar jetzt noch.“
 

Ich hielt inne und schlüpfte aus meinem Shirt, welches ich Joey hinhielt, damit er sich die Tränen ein wenig abwischen konnte. Schluchzend verstand er den Wink dann auch, als ich fortfuhr:
 

„Ich habe lange Zeit nicht verstanden, warum du deinen Vater nach alledem noch liebst und ich kann es auch jetzt nicht verstehen, doch, tief in meinem Inneren, habe ich verstanden, dass das keine Schwäche ist, sondern eine Stärke. Nach all den Dingen, die dir widerfahren sind, was er mit dir gemacht hat, hältst du noch immer zu ihm.“
 

Ich konnte eine Spur von Schuld in Joeys Zügen erkennen. Er schämte sich. Ich zögerte; hatte ich etwas Falsches gesagt?
 

„Nein, nur zu, mach weiter“, ermutigte mich Mahad sanft und vertrieb den Zorn aus meinen Gedanken, der noch immer unterschwellig an mir nagte.
 

„Auch wenn er es nicht zeigen kann, so liebt dich dein Vater, zumindest der Teil von ihm, der noch nicht ganz dem Alkohol verfallen ist. Er versteht nur nicht, was für ein Geschenk er mit dir erhalten hat. Jeder andere wäre schon längst abgehauen, davongelaufen, hätte ihn alleine gelassen. Du aber nicht, im Gegenteil: Du hast ihn davor bewahrt, in der Gosse zu landen.“
 

Joey senkte seinen Blick erneut. Mit sanfter Gewalt entwand er sich meinem Griff und vergrub das Gesicht in den Händen. Er schluchzte unaufhörlich. Sein Tränenstrom schien gar nicht mehr versiegen zu wollen. Mein Freund zitterte am ganzen Körper. Ich zog ihn wieder sanft zu mir und strich ihm über die Schulter.
 

„Ich weiß ja nicht mal, wo ich jetzt wohnen soll“, presste er zwischen zwei Schluchzern hervor. Mein Blick fiel auf die ausgefranste Sporttasche, in der wahrscheinlich Joeys wenige Habseligkeiten ihren Platz gefunden hatten. Wie dumm sein Vater doch war: Er konnte ihn nicht vor die Tür setzen, aber wahrscheinlich war es das Beste.
 

„Bei uns“, meldete sich eine vertraute Stimme zu Wort. Beide schauten wir zur Tür, in Yugis Gesicht.
 

„Das, das geht nicht“, murmelte Joey entrüstet. „Ich kann das nicht annehmen.“
 

„Natürlich kannst du“, lächelte Yugi. „Ich weiß, dass du nicht bei David unterkommen willst, wegen Kaiba, aber hier kannst du gerne bleiben. Du bist auch näher an der Schule und Tristan ist auch nicht so weit weg.“
 

„A-Aber Yugi, das Ju-Jugendamt wird massive Probleme machen.“
 

Ich nickte Yugi näher heran, während ich sprach: „Das überlasse mir, ja? Kaiba kennt einige gute Anwälte und dieses Mal bin ich es, der seine Hilfe in Anspruch nimmt, nicht du. Er schuldet mir sowieso noch einen Gefallen.“
 

Entgegen meiner Erwartungen verkrampfte Joey sich nicht bei dem Vorschlag. Er warf sich einfach nur mir und dem hinzugekommenen Yugi in die Arme, und heulte bitter weiter. Wenn er so weitermachte, würde er bald ersticken.
 

„Joey, wir haben so viel durchgestanden. Das Königreich der Duellanten, die Raritätenjäger, das Battle City Turnier – wir sind noch immer da, egal was dein Vater sagt. Wir sind deine Freunde und wir lieben dich, weil du so bist, wie du bist.“
 

Joey schnaubte in mein Shirt hinein. „Aber was mache ich nach der Schule?“
 

Ich musste ein wenig schmunzeln: „Nun, entweder du wirst Profiduellant oder Künstler.“
 

„E-Erzähl keinen Scheiß“, murmelte der Blondschopf leise.
 

„Mache ich nicht. Du hast eine große Begabung im künstlerischen Bereich. Du zeichnest echt gut, und als Duellant bist du auch top. Warum nicht als Grafikdesigner anfangen?“
 

Yugi pflichtete mir bei: „Joey, schau, wir bekommen das hin, als Team. Gemeinsam mit Tristan hast du eine echt starke Truppe hinter dir, die dich nie fallen lässt. Glaube an dich, wie du es sonst bei deinen Duellen auch tust.“
 

Ich verstand es einfach nicht. Yugi hatte eine Gabe, eine Fähigkeit, die mir verborgen war. Joey beruhigte sich tatsächlich, mehr noch: Ich selbst glaubte seinen Worten. Es war nicht der Pharao, der aus ihm sprach, sondern der kleine Yugi Muto, der einen so starken Willen besitzen musste, dass er ihn auf andere übertragen konnte. Für Joey musste die Welt gerade nicht nur grau, sondern pechschwarz sein, und trotzdem, die Worte unseres Freundes spendeten mehr Hoffnung als alles, was ich gesagt hatte.
 

„D-Danke Leute“, murmelte der Blondschopf und krallte sich an uns fest. Wie lange wir so dasaßen war schwer abzuschätzen. Es hätten auch Jahre sein können, doch keinen von uns störte es. Langsam aber sicher kehrte ein wenig Farbe in Joeys blasses Gesicht zurück. Auf seine Bitte hin, ein wenig alleine sein zu wollen, reagierten wir nur zögerlich, gaben dann aber schlussendlich nach. Ich ging mit Yugi nach unten und trank einen Tee.
 

„Ich bin nur in einer Sache ein wenig überfragt“, flüsterte der König der Spiele. Wir unterhielten uns gedämpft, da wir nicht unbedingt wollten, dass Joey unser Gespräch mitbekam. Er hatte gerade genügend Sorgen und außerdem wollten wir schließlich zu unserem Wort stehen.
 

„Hm?“, fragte ich und nippte an meiner Tasse. Wieder der gleiche Tee von gestern, mit derselben, beruhigenden Wirkung.
 

„Sein Vater besitzt ja noch immer das Aufenthaltsbestimmungsrecht, oder?“
 

Ich nickte zögerlich. Der alte Wheeler war nach wie vor Joeys Erziehungsberechtigter und konnte demnach auch über den Aufenthaltsort seines Sohnes bestimmen. Wenn die Rechtslage in Japan ähnlich war wie zuhause, dann hatten wir ein Problem.
 

„Das Problem ist, dass wir die Zeit überbrücken müssen, bis Joey 18 ist. Dann kann er seinen Aufenthalt selbst bestimmen.“ Joey wurde in gut einem halben Jahr volljährig. Das war eine lange Zeit, vor allem jetzt, wo er sich geoutet hatte. Sein Vater würde ihm wahrscheinlich jeden Tag zur Hölle machen.
 

„Und was machen wir jetzt?“, sinnierte Yugi und starrte in seine Tasse hinein.
 

Ich zupfte nachdenklich an meiner Unterlippe. Kaibas Anwälte wussten sicher einen Weg, wie wir einstweilig eine Verfügung erwirken konnten, um Joey nicht mehr zu seinem Vater zurückschicken zu müssen. Seinen Aufenthalt in den Kameshop zu verlegen, konnte nicht so schwer sein. Er brauchte lediglich einen Vormund für diese Zeit.
 

„Hör mal Yugi“, begann ich und genoss sofort die Aufmerksamkeit meines Freundes. „Wenn ich in Rechtskunde bei mir in der Schule gut aufgepasst habe, und eure Rechtslage nicht anders ist, als die Unsrige, dann bräuchten wir schlicht einen Vormund für Joey, bis er volljährig ist.“
 

Der König der Spiele nickte: „Ja gut, aber an wen denkst du da? Ich meine, wir sind alle zu jung, und…“
 

„Was, wenn es dein Großvater machen würde?“ Ich wollte eigentlich Yugis Eltern vorschlagen, aber die waren selbst ja nie zuhause. Außerdem wäre es Joey sicher peinlich gewesen, da die ganze Geschichte so aufgedeckt worden wäre. Das würde früher oder später sowieso passieren, aber Herr Muto war ihm eine Art väterlicher Freund gewesen. Außerdem wusste er auch, ohne unser Zutun, von der familiären Situation der Wheelers.
 

„Ich weiß nicht, ob Großvater das machen würde. Ich habe eher an seine Mutter gedacht.“
 

Mir zog sich der Magen zusammen. Joeys Mutter. Die war in Amerika. Das würde eine Trennung bedeuten.
 

„Schon, aber ich glaube nicht, dass das Sorgerecht für Joey im Eilverfahren an eine ihn fremde Frau, die noch dazu im Ausland sitzt, übertragen wird. Das würde ihn ja erneut aus seinem Lebensmittelpunkt reißen. Dein Großvater wäre die beste Wahl und Kaibas Anwälte werden das wohl durchboxen können.“
 

Yugi und ich einigten uns nach einer guten Stunde der Diskussion, Herrn Muto einfach zu fragen. Joey war inzwischen nicht aus dem Zimmer gekommen und wir vermuteten, dass er eventuell schlief. Wir wollten ihn jedenfalls nicht stören.
 

„Großvater?“, rief Yugi nach unten in den Laden. „Kannst du mal eben kurz hochkommen?“
 

Wir hörten den alten Mann ächzend etwas Murmeln als er die Treppe in den Wohnbereich hochstieg, bevor er uns ein Lächeln schenkte und sich dabei den Rücken hielt. „Ich hätte einen Lift einbauen lassen sollen. Was gibt es denn, Jungs?“
 

Ich zögerte, ergriff dann aber das Wort. Was wir verlangten, das war sehr viel. Außerdem war da noch das Problem mit Herrn Mutos Alter, andererseits vertraute ich einfach auf Kaibas Anwälte und deren Fähigkeit, sowie der Macht des Scheckbuchs des CEO.
 

„Herr Muto, ich, also wir, Yugi und ich, wir hätten einen Vorschlag, oder eher eine Bitte an sie.“
 

Der alte Mann setzte sich zu uns an den Küchentisch und so begannen wir unsere Idee langsam und vorsichtig in Worte zu fassen. Ich konnte, genauso wie Yugi, Herrn Mutos Reaktion nicht einschätzen, zumal er sich auffallend ruhig verhielt, während wir sprachen. Als wir geendet hatten, fuhr er sich durch den Bart.
 

„Das ist aber eine große Verantwortung“, brummte er.
 

„Das weiß ich, Herr Muto. Mir fällt aber sonst niemand ein, und es wäre nur für ein halbes Jahr. Für die Kosten komme ich natürlich auf.“ Letzteres bedeutete zwar wieder, Kaiba zur Kasse zu bitten, aber das war mir herzlich egal.
 

„Kosten?“, fragte Yugis Großvater und funkelte uns finster an. Ich hielt die Luft an. Was hatte ich denn Falsches gesagt?
 

„Kosten? Das traust du dich auch noch, in den Raum zu stellen?“, lachte Herr Muto plötzlich und sowohl Yugi, als auch mir, fiel ein Stein vom Herzen. „Also die Kosten interessieren mich überhaupt nicht. Wenn Joey das auch möchte, dann können wir uns natürlich darüber unterhalten.“
 

Yugi fiel seinem lächelnden Großvater um den Hals, und ich musste mich bemühen, es ihm nicht gleichzutun. „Großvater, du bist der Beste!“, lachte Yugi erleichtert. Ich nickte Herrn Muto dankbar zu, der seinen Enkel in die Arme schloss. Mir versetzte das ganze Szenario einen Stich: So hätte ich mich bei meinem Großvater auch verhalten. Mir fiel wieder einmal auf, wie sehr sie mir fehlten.
 

„Ich gehe nach oben und frage Joey“, sagte ich und ließ die Beiden alleine. Herr Muto war seinem Enkel sehr ähnlich, vielleicht auch ein Grund warum ich ihn so mochte. Dass der Mann ein äußerst gewiefter Duellant war, konnte ich mir schwer vorstellen. Andererseits war es auch schwer zu glauben, dass Yugi den Titel des Königs der Spiele führte.
 

Ich klopfte gegen die Tür und trat nach einem leisen „Ja?“ ein. Joey saß auf der Couch, über ein Blatt Papier gebeugt auf dem er eifrig zeichnete. Mir wurde jetzt auch wieder klar, dass mein Freund seine Probleme durch Zeichnen bewältigte. Eine gute Idee, wobei mir ein wenig flau im Magen wurde, da er so seinen zukünftigen Job eventuell auf ewig mit seinem Vater verband.
 

„Schatz?“, fragte ich vorsichtig und setzte mich neben Joey. Dieser ließ sich von mir gar nicht beeinflussen, im Gegenteil: Er zeichnete in einem Tempo weiter, das mich beinahe schwindlig machte. Jeder einzelne Strich wirkte für mich als Laien einfach perfekt. Das Motiv enthielt diesmal Flammenschwertkämpfer Joey, der über einen untoten Zanki hinwegstieg.
 

„Joey, hör mal, Yugi und ich haben eine Lösung für dein Problem gefunden“, begann ich, hielt dann aber inne, als Joeys Bleistift leise knackste. Entweder er verdrängte seinen Vater bereits wieder oder er war sich ob der Entscheidung, die er getroffen hatte, nicht mehr so sicher.
 

„Wäre es für dich in Ordnung, wenn Herr Muto dein Vormund wird, bis du 18 bist? Danach kannst du deinen Aufenthalt selbst bestimmen und wärst gänzlich frei. Du bist sowohl im Kameshop, als auch bei Mokuba und mir, immer herzlich willkommen und es wäre für dich eine zusätzliche Entlastung.“
 

Joey reagierte auf meine Worte nicht, sondern starrte einfach nur stumm auf seine Zeichnung. Ich konnte ihm ansehen, wie er mit sich selbst rang. Was ich ihm vorschlug war natürlich die Freikarte aus dem Teufelskreis, in dem er sich befand, aber es bedeutete auch, erneut über seinen Schatten und seinen Stolz zu springen. Einmal hatte er das gemacht und dafür einen ordentlichen Schlag kassiert. Jetzt war die Euphorie von vorhin verflogen und auch die Trauer und Angst umschloss sein Herz weniger; er konnte etwas klarer denken.
 

„I-Ich z-zahle auch jeden Monat meinen Beitrag“, stammelte er nach einer kleinen Ewigkeit. Ich musste unweigerlich lächeln. Sogar jetzt noch wollte er niemandem zur Last fallen. Joey war ein Kämpfer, ein Alpha, genauso wie Yugi, Kaiba und ich. Das zeigte sich heute wieder einmal deutlich.
 

„Wenn du möchtest“, ließ ich die Entscheidung offen. Ihm jetzt zu versichern, dass Herr Muto nicht auf sein Geld angewiesen war und es gerne tat, wäre kontraproduktiv gewesen.
 

Joey nickte nur und zeichnete weiter. Jetzt war er in seiner eigenen Welt. In diese hatte niemand Zutritt, nicht einmal ich. Sanft küsste ich ihn auf die Wange und stand auf. „Ich werde mich dann mit Kaiba treffen. Wir hatten sowieso noch etwas bezüglich der Gamemesse zu klären. Wenn es dich nicht stört, dann lasse ich dich mit Yugi und Herrn Muto eine Weile alleine. Du kannst ja Tristan anrufen, ob er dich noch besuchen möchte.“
 

Mein Freund nickte kaum merklich, so als ob er gar nicht mitbekommen hätte, was ich gesagt hatte. Ich ging nach unten zu dem Großvater-Enkel Gespann, und bedachte beide mit einem ernsten Blick.
 

„Hat er abgelehnt?“, fragte Yugi und löste sich sofort von seinem Großvater.
 

„Nein, aber er ist wieder sehr in sich gekehrt. Ich werde mich gleich mit Kaiba treffen und zusehen, dass die Sache über die Bühne gebracht wird. Der alte Wheeler wird sicher noch im Delirium sein und gar nicht kapieren, was passiert ist. Wir haben also etwas Zeit, die wir gleich nutzen sollten.“
 

Yugi nickte leicht: „Ist gut. Wir passen inzwischen auf ihn auf. Du kannst natürlich gerne bei uns übernachten.“ Der letzte Satz war mit einer Frage verbunden, die in Richtung seines Großvaters ging. Dieser lächelte nur ein wenig, als Zeichen der Zustimmung.
 

„Danke. Ruft vielleicht noch Tristan an. Dem wird er sich auch öffnen, vielleicht sogar mehr als uns.“ Damit ging ich nach unten und wählte die Nummer von Kaibas Sekretärin. Er war heute im Büro, das wusste ich. Wir hatten unseren Termin zwar erst gegen späteren Abend, aber ich konnte es mir sicher erlauben, früher aufzutauchen.
 

„Büro des Geschäftsführers der Kaiba Corporation, Yamamoto am Apparat, was kann ich für Sie tun?“ Die Stimme von Kaibas Sekretärin war freundlich. Das musste sie natürlich sein, denn wer diese Nummer besaß, der genoss Kaibas persönliches Vertrauen oder zumindest dessen Interesse. Solche Personen zu vergraulen kam einem Todesurteil gleich.
 

„Guten Tag Frau Yamamoto, Pirchner mein Name. Ich habe heute einen Termin mit Herrn Kaiba um 19 Uhr. Wäre es möglich, dass ich gleich zu ihm komme?“
 

Die Frau am anderen Ende schien kurz die Luft anzuhalten, antwortete dann aber freundlich: „Natürlich. Herr Kaiba hat kein Meeting und ich bin angewiesen worden, Sie sofort durchzustellen, wenn es wichtig ist.“
 

So? War sie das? Eine sehr interessante Entwicklung. Kaiba wurde mir allmählich ein wenig unheimlich, aber auch sympathischer. Langsam glaubte ich nicht mehr nur an den Einfluss von Mokuba, dass er mir gegenüber so freundlich war.
 

„Nein, es ist eine persönliche Angelegenheit. Könnten Sie mich bitte ankündigen? Ich werde in einer guten halben Stunde da sein.“
 

„Natürlich. Ich wünsche noch einen schönen Tag.“
 

„Gleichfalls.“ Damit legte ich auf und rief zuhause an. Es war ein wenig befremdlich, die Kaibavilla als mein Zuhause anzusehen, nichtsdestotrotz war sie es aber geworden. Der Fahrer würde in gut fünf Minuten kommen und ich legte mir inzwischen schon Argumente zurecht, warum mir Kaiba denn unbedingt helfen musste. Ich hoffte, dass sie reichen würden.

Jeder Deal hat seinen Preis

Ich bedankte mich höflich beim Fahrer als ich aus dem Wagen ausstieg und machte mich auf den Weg in den Hauptsitz der Kaiba Corporation. Das Gebäude war riesig. Es überschattete alles was Domino City zu bieten hatte. Kaibas ganze Macht und auch sein Reichtum schienen sich in diesem einen Gebäude zu vereinen.
 

Über die geleckt wirkenden Fenster hatte man ein Banner mit dem Firmenlogo „KC“ gehängt, kombiniert mit dem Weißen Drachen, der sich mächtig aufbäumte und die Unternehmensinitialen mit seinen Pranken umschloss. Wie sonst hätte auch der Ort aussehen sollen, der Heimat und Arbeitsplatz für Seto Kaiba war? Ich wagte zu behaupten, dass wahrscheinlich sogar die einzelnen Stockwerke genormt worden waren. Nichts hatte man hier dem Zufall überlassen.
 

Ich durchschritt die vollautomatische Glastür in Richtung Lobby, welche einfach riesig war. Aus dem Eingangsbereich hätte man durchaus eine kleine Wohnung machen können. Überall standen Zierpflanzen in Töpfen, einige Büsten des Weißen Drachens sowie ein vollautomatischer Springbrunnen, dessen sanftes Plätschern eine beruhigende Wirkung hatte. Auch an eine Sitzecke hatte man gedacht. Alles in allem ein kleines Paradies.
 

Ich ging zu der Frau am Empfangsschalter und räusperte mich dezent. Sie unterhielt sich gerade mit einer Kollegin über irgendwelchen Nagellack. Bei genauerem Hinsehen entpuppten sie sich als recht junges Mädchen in ungefähr meinem Alter. Ihre Kollegin war da schon deutlich betagter, wahrscheinlich Mitte 40. Es war schon später Nachmittag und ich konnte es ihnen nicht verdenken ihre Freizeitgespräche zu führen, wenn nichts los war.
 

Geduldig wartete ich, dass man auf mich reagierte, aber beide der Damen schienen mich schlicht zu ignorieren. Ich sah an mir herab: Ein schwarzer Hoodie, eine dunkle Jeans und Sneaker – ich hatte wahrscheinlich einfach nicht das Auftreten, dass sie gewohnt waren. Außerdem war ich noch dazu Ausländer und recht jung; wahrscheinlich hatte ich mich in ihren Augen einfach verirrt.
 

„Verzeihung?“, räusperte ich mich erneut. Dieses Mal sahen mich beide sichtlich genervt an.
 

„Was ist denn?“, schnaubte die Eine am Empfang. Ich fragte mich, ob Kaiba wusste, wie freundlich sein Personal doch mit potentiellen Kunden umging. Das war mir in dem Moment aber einerlei. Es ging um Joey und außerdem hatte ich einen Termin bei Kaiba.
 

„Ich müsste mit Herrn Kaiba sprechen.“
 

Auf meine Feststellung folgte ein leises Prusten. Sie schienen mir wohl nicht zu glauben. Sollte ich einfach zum Lift gehen und in sein Büro platzen? Dann hatte ich höchstwahrscheinlich das Sicherheitspersonal am Hals. Kaibas Visitenkarte trug ich schon lange nicht mehr mit mir spazieren und ich wagte zu bezweifeln, dass die unteren Etagen überhaupt von meiner Existenz wussten.
 

„Frau Yamamoto hat einen Termin mit mir vereinbart.“
 

„Frau Yamamoto hat mit vielen Männern einen Termin vereinbart“, kicherte die Freundin der Empfangsdame. Zugegebenermaßen reichte es mir ein wenig. Wahrscheinlich waren die eine Praktikantin, und die andere genervt von ihrem eintönigen Job. Außerdem hatten sie sicher schon den ein oder anderen Teenager abwimmeln müssen, der sich ungefragt in eines der größten Gebäude Dominos gewagt hatte, aber das traf auf meine Wenigkeit überhaupt nicht zu. Außerdem fand ich dieses Geläster über Kaibas Sekretärin dezent deplatziert.
 

„Haben Sie denn eine schriftliche Terminvereinbarung dabei?“, amüsierte sich die junge Frau hinter dem Schalter.
 

„Nein. Würden Sie mir bitte einfach sagen, in welcher Etage Kaibas Büro liegt?“
 

Die Kollegin hob ein wenig die Augenbrauen in die Höhe, als ich Kaiba ohne entsprechenden Höflichkeitstitel ansprach.
 

„Hör mal Kleiner“, meinte diese dann, „wenn wir jeden hier reinlassen würden, der behauptet bei Mister Kaiba einen Termin zu haben, dann wäre die Chefetage ziemlich voll. Außerdem kann jeder behaupten bei Yamamoto angerufen zu haben. Passt ja ungefähr in ihr Beuteschema.“
 

Mir riss der Geduldsfaden endgültig als mich diese dumme Gans auf meine Größe ansprach und ihre Praktikantin nichts anders zu tun hatte, als darüber zu lachen. Auch wenn es vielleicht falsch war, so zog ich mein Handy hervor und wählte die Nummer von Kaibas Sekretärin. Bei meinem großen Glück ging nur der Anrufbeantworter dran. Sehr schön.
 

„Na? Ist Yamamoto nicht da?“
 

Ich seufzte leise. Das war eigentlich nicht mein Stil, aber es reichte mir endgültig. Wenn Kaiba schon so großen Wert auf sein Image legte, dann sollte er die Lästerschwestern alsbald loswerden. Ich überging einfach die Sekretärin und rief direkt beim Chef an. Die Nummer war eigentlich nur für Notfälle gedacht, also wenn etwas mit Mokuba war, aber in dem Fall sah ich es als gute Möglichkeit, mein Vitamin B auszuspielen. Kaiba hatte außerdem laut seiner Sekretärin kein Meeting für den heutigen Abend, wo ich ihn stören könnte. Nach kurzem Läuten meldete sich mein Gönner zu Wort.
 

„Ja?“, fragte er erstaunlich ruhig. „Ist etwas mit Mokuba, oder warum verspätest du dich?“
 

Ich zögerte. Sollte ich wirklich sagen, dass sein Empfangspersonal aus ziemlich dämlichen Kühen bestand? Das Kichern, die Tatsache, dass man auf mich deutete und sich auch noch über meinen Hoodie mokierte, machten die Entscheidung recht einfach.
 

„Nein, aber wo befindet sich denn dein Büro?“
 

Ich konnte Kaibas genervtes Schnauben hören: „Ist das dein Ernst? Dafür haben wir Leute in der Lobby.“
 

„Nun, die amüsieren sich gerade über mein Aussehen und meine Kleidung. Deine Sekretärin geht gerade nicht ans Telefon, die wird wohl Pause haben, sonst hätte sich das schon längst aufgeklärt.“
 

Das Gelächter wurde nur noch lauter. Sie glaubten mir wohl nicht, dass ich wirklich mit dem CEO der Kaiba Corporation telefonierte. Der im Gegenzug verstummte komplett. Nach einigen Sekunden des Schweigens legte er auf. Nun war ich verwirrt. Hatte ich ihn etwa noch mehr verärgert als er ohnehin schon war? Zu meiner großen Überraschung klingelte das Telefon am Empfang. Die Praktikantin nahm noch lachend den Hörer ab, verstummte aber schlagartig. Mit jeder Sekunde die verging wurde sie bleicher und bleicher.
 

„Natürlich. Ich werde alles sofort veranlassen.“ Zitternd legte sie auf und stand, sehr zum Unverständnis ihrer Kollegin, auf.
 

„Was ist?“, fragte diese und ließ den Blick zwischen mir und ihr hin- und herwandern.
 

„Bitte verzeihen Sie mir meine Unverschämtheit. Sie müssen in den sechzehnten Stock, Abschnitt vier, Gang C. Herr Kaiba wartet bereits auf Sie.“ Es folgte eine Verbeugung, bevor man mir mit der Hand den Weg zum Lift wies.
 

„In Zukunft sollten Sie Ihre Gäste vielleicht ein wenig netter behandeln“, sagte ich und ging dann zum Aufzug. Als die Tür zuging hörte ich noch das Kreischen der älteren Kollegin und konnte sehen, wie die Jüngere in einen Heulkrampf ausbrach. Da war wohl jemand gefeuert worden. Mit etwas Glück beide.
 

Der Weg zum Büro des CEO war tatsächlich nicht schwer zu finden. Auch ohne Beschreibung, man hätte bloß den Bildern von Kaiba an der Wand folgen müssen, die ihn aus verschiedenen Positionen zeigten, wäre ich ans Ziel gelangt. Ich betrat das geräumige Büro, welches von einer durchsichtigen Glasmauer umgeben war. Auch hier hatte Kaibas Perfektion zugeschlagen: Alles symmetrisch, akkurat und einem Muster folgend.
 

Der CEO selbst wirkte wie immer, eiskalt und gelassen. Wortlos bedeutete er mir, mich zu setzen. Er tippte noch rasch etwas in sein Notebook bevor er dieses zuklappte und sich mir zuwandte. Langsam lehnte er sich in seinem Bürosessel zurück und bettete die Ellenbogen auf den Lehnen, wobei sich seine Finger miteinander verwoben. Kaiba trug seinen üblichen weißen Mantel mit dem schwarzen Rollkragenpulli. Auch die Halskette mit Mokubas Bild fehlte nicht.
 

„Will ich wissen, was du mit ihnen gemacht hast?“, fragte ich.
 

„Nein. Sie war neu und noch nicht eingeschult, sonst hätte man dich gleich hochgelassen. Ihre Kollegin war sowieso ein Tratschmaul das der Abteilungsleiter alsbald loswerden wollte. Die Tatsache, dass sie dich nicht erkannt hat, hat diese Entscheidung deutlich beschleunigt.“ Kaiba sprach von den beiden Entlassungen, als hätte er sich eben einen Kaffee geholt. Er ging wohl echt nur nach Effektivität und blanken Zahlen: Fehlverhalten wurde mit dem Rausschmiss bestraft.
 

„Willst du einen Kaffee?“
 

Ich blinzelte ob der Frage. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er mir gleich sagen würde, nichts für mich tun zu wollen. Ich nickte und der CEO drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch und bestellte, bei wem auch immer, zweimal das koffeinhaltige Getränk. Wir schwiegen uns an, bis ein älterer Herr zwei dampfende Tassen vorbeibrachte, bevor er sich verbeugte und wieder zurückzog, das Tablett unter seinen Arm geklemmt.
 

Kaiba nippte am Getränk, nur um sich dann wieder in seine Ausgangsposition zu begeben und mich zu mustern. Ich mochte das nicht, denn ich glaubte immer, dass mich Kaiba dabei sofort durchschaute. Seine Menschenkenntnis war untrüglich oder zumindest relativ fehlerlos. Ich tat es ihm gleich und so vergingen einige Minuten, in denen ich mich damit abmühte, seinem Blick standzuhalten.
 

„Ich nehme an, es geht um Wheeler“, stellte der CEO dann endlich nüchtern fest. Ich konnte meine Verwunderung nicht verbergen. War ich wirklich so leicht zu durchschauen gewesen? Lügen brachte aber auch nichts, also ließ ich die Katze aus dem Sack.
 

„Kaiba, ich brauche deine Hilfe.“
 

Der CEO hob die Mundwinkel ein wenig an und lehnte sich selbstgefällig zurück: „Du hast keine Ahnung wie oft ich diese Phrase schon gehört habe. Wenn Wheeler etwas will, dann soll er gefälligst selbst kommen und vor mir kriechen, wie es sich für ein Hündchen gehört.“
 

Ich umgriff die heiße Kaffeetasse und versuchte mich mit dem Schmerz davor zu bewahren, aufzustehen und ihm ins Gesicht zu springen. Ich hasste es, wenn er so über Joey sprach. Das tat er mit Absicht, davon war ich überzeugt. Kaiba genoss es, seine Mitmenschen auszutesten. Den Gefallen wollte ich ihm nicht tun.
 

„Das kann er aber nicht. Außerdem ist er dafür zu stolz. Ich möchte dich um deinen juristischen Beistand bitten, oder den deiner Anwälte.“
 

Der Braunhaarige hob seine rechte Braue ein wenig an und rückte näher an den Schreibtisch heran. „Was hat er getan? Jemanden überfallen um sich endlich einmal vernünftige Klamotten zu besorgen?“
 

Ich schüttelte den Kopf und verdrängte auch den Gedanken, Kaiba den Kaffee, der übrigens ausgezeichnet schmeckte, ins Gesicht zu schütten. „Nein, aber ich möchte nicht mehr, dass er zu seinem Vater zurück muss.“
 

Kaiba nahm einen Schluck Kaffee und bedeutete mir dann weiterzuerzählen. Ich bemühte mich ruhig und nicht zu flehentlich zu klingen, während ich ihm die Sachlage, sowie die gemeinsame Idee, Herrn Muto zum Vormund für Joey zu erklären, darlegte. In der ganzen Zeit hatte der CEO sich nicht einmal dazu herabgelassen über meinen Freund herzuziehen. Ich konnte seine Mimik zwar nicht deuten doch ich hätte schwören können, dass eine Spur Bedauern in seinen Zügen zu lesen war.
 

„Nun, rein rechtlich gesehen habt ihr beide das Problem bereits gut erkannt. Yugis Großvater ist zu alt um den Vormund zu spielen und seine Eltern sind auch selten zuhause. Wheelers Mutter bietet sich auch nicht an, zumal du ja ein Eilverfahren durchdrücken willst, wahrscheinlich ohne Wheelers direktes Zutun, oder?“
 

Mir rutschte das Herz in die Hose bei den Worten des CEO. So wie er sprach, klang es nicht danach, als hätten wir eine Chance. Stumm nickte ich und nippte an meiner Kaffeetasse.
 

„Das ist ein heikles Thema, zumal das japanische Familienrecht sich von dem deinigen doch deutlich unterscheidet. Es sollte aber kein Problem sein die richtigen Stellen daran zu erinnern, wem dieser Jurisdiktionsstandort überhaupt zu verdanken ist. Ich glaube auch nicht, dass der alte Wheeler sich einen Verfahrenshelfer leisten kann. Selbst wenn, bis das Urteil aufgehoben ist, wird Wheeler schon 18 sein.“
 

Ich wäre Kaiba fast um den Hals gefallen. Warum er es tat, mir zuliebe oder Yugi wegen, war mir vollkommen egal. Das Endresultat zählte und ich würde Joey heute noch davon berichten können, dass er frei war.
 

„Die Sache ist aber an eine Bedingung geknüpft.“
 

Meine Euphorie erstarb augenblicklich. Natürlich tat Kaiba nichts aus reiner Gefälligkeit heraus. Wie hatte ich auch so dumm sein können. Zögernd fragte ich nach, was denn diese Bedingung sei. Ich malte mir ein Dutzend Szenarien aus, von Schwimmen in einem Becken voller Piranhas über einem zweiten Duell gegen Pegasus bis hin zu meinem gesamten Duel Monsters Deck.
 

„Du wirst Teilhaber der Kaiba Corporation.“
 

Ich spuckte fast meinen Kaffee aus. Bitte was?
 

„Spinnst du?“, fragte ich und ließ dabei jegliche Höflichkeit fahren. „Ist dir der Kaffee zu Kopf gestiegen oder was ist los? Teilhaber, ich? Mit welchem Geld? Warum? Ich bin 17, das geht doch gar nicht.“
 

Kaiba schob seine rechte Hand aus der Verschränkung seiner Finger und bedeutete mir mit dem Zeigefinger, dass ich im Unrecht war. Seine Stimme war noch immer ruhig, als er zu sprechen begann, meine Unhöflichkeit ignorierte er wohl schlicht: „Es geht um exakt ein Prozent. Eine einzige Stimme. Deine. Wenn du abstimmst was ich beschließe, dann verschaffe ich Yugis Großvater die Vormundschaft für Wheeler.“
 

Ich schüttelte den Kopf: „Kaiba, das ist lächerlich. An deiner Firma haben doch sowieso nur du und Mokuba teil, oder? Wozu brauchst du da mich?“
 

Der CEO schob seine Finger wieder ineinander und zog die Mundwinkel nach oben: „Es geht darum, die letzten Überreste der Handlanger meines Stiefvaters aus dem Unternehmen zu entfernen. Ich darf einer einzelnen, nicht mit mir verwandten Person, ein Stimmrecht zusichern. Der Aufsichtsrat wird damit nicht einverstanden sein, genauso nicht wie der Rest der Teilhaber. Keiner wird dafür stimmen, außer mir und Mokuba, die 50 % halten.“
 

Für mich klang das alles ziemlich bescheuert. „Als ob du nur 50 Prozent bei der Firma hältst. Mach dich doch nicht lächerlich. Die haben doch alle Angst vor dir.“
 

Erneut schüttelte Kaiba den Kopf: „Nein, denn sie geiern nach dem Unternehmen. Mein Stiefvater hat diese Klausel damals als eine Art Rückversicherung eingebunden. Zu dumm, dass ich ihm zuvorgekommen bin. Rein unternehmensrechtlich gesehen, wären mir die Hände gebunden.“
 

Mir ging ein Licht auf. „Das war alles von langer Hand von dir geplant, oder? Das Einkommen, die Wohnung, dann, dass ich bei dir wohnen darf, die Publicity um meine Person. Du wolltest mich abhängig machen. Es geht dir nicht nur um das Battle City Turnier, es geht auch um diese Situation!“
 

Kaiba wirkte fast wie ein Kind, dass man beim Stehlen eines Kekses ertappt hatte. „Ich bewundere deine Auffassungsgabe. Das Ganze hat sich zwar nicht so entwickelt wie geplant, aber ja, das war die ursprüngliche Intention dahinter.“
 

Jeder einzelne Schritt den ich machte, trieb mich weiter in die Abhängigkeit von Kaiba. Das war doch blanker Wahnsinn. Das Gros der japanischen Geschäftswelt würde sich wahrscheinlich vor einen Zug werfen, um die Gelegenheit zu bekommen, bei Kaiba einzusteigen, und ich zögerte, wehrte mich sogar dagegen.
 

„Kaiba ich bin 17.“
 

Auch diese Ausrede wollte der CEO nicht gelten lassen. „Natürlich, wie ich. Mokuba ist sogar noch jünger als wir. Das ist kein Problem. Du hast die Wahl, für Wheeler oder gegen ihn.“
 

Wie einfach er mich doch an die Wand manövriert hatte. Der goldene Käfig um mich herum wurde immer dichter und ich baute fleißig an meinem Gefängnis mit. Irgendwann würde Kaiba mich zwingen, nackt über den Schulhof zu stolzieren, und ich würde es tun müssen. Ein wenig konnte ich Joey verstehen, als er mir vorwarf, keinen Stolz zu besitzen. Natürlich waren das bisher alles eher freudige Dinge gewesen, die Kaiba mir aufgetragen hatte, doch irgendwann würde das umschlagen, dessen war ich mir bewusst.
 

„Einverstanden“, murmelte ich kleinlaut.
 

Wir unterhielten uns noch über einige Formalitäten sowie die Gamemesse, die in 14 Tagen anstand. Kaiba hatte bereits alles in die Wege geleitet und auch schon die Schulfreistellung beantragt. Die Veranstaltung würde in Amerika stattfinden, genauer gesagt in Kalifornien.
 

Ich verließ das Hauptquartier der Kaiba Corporation mit gemischten Gefühlen. Einerseits war ich glücklich über die Tatsache, dass Joey nicht mehr zu seinem Vater zurückkehren musste, andererseits aber auch beunruhigt: Kaiba benutzte mich und das mit voller Absicht. Früher oder später würde mir diese Abhängigkeit das Genick brechen – ich hoffte nur, dass meine Freunde stark genug waren, mich dann aufzufangen.

Post von der Justiz

Es waren inzwischen mehrere Tage vergangen, seitdem Joey sich bei den Mutos einquartiert hatte. Zu unserer aller Erstaunen besserte sich seine Laune alsbald, wie auch seine schulischen Leistungen. Er war zwar noch immer nicht im vorderen Drittel, doch gerade in den Fächern, in denen er vorher schwächelte, konnte er teilweise sehr solide Leistungen vorweisen. Yugi meinte, er würde seine Hausaufgaben zwar mit Joey erledigen, doch dieser erweise sich dabei als äußerst hilfreich.
 

Kaiba hatte mir inzwischen versichert, dass sämtliche Formalitäten erledigt seien und das Verfahren bereits eingeleitet worden ist. Herr Wheeler hatte zwar um Verfahrenshilfe angesucht, diese wurde ihm aber verwehrt. Im Stillen dankte ich dem CEO wieder einmal, da ich mir bildlich vorstellen konnte, was er angestellt hatte, um Joeys Vater um sein ihm eigentlich zustehendes Recht zu bringen.
 

Ich war gerade dabei einige Situps zu machen, als es an meiner Zimmertür klopfte. Ein Blick auf meinen digitalen Wecker verriet, dass es bereits 19:00 Uhr war. Das Personal wusste eigentlich, dass ich um diese Uhrzeit nicht gestört werden wollte. Es konnte also nur dementsprechend wichtig sein.
 

„Herein!“, rief ich und stand von meiner Isomatte auf. Die Tür öffnete sich nur langsam, bis ein äußerst verschreckter Joey zu erkennen war. Er lächelte schief als er eintrat: „Du achtest noch immer auf deine Form, hm?“
 

Ich hob die Mundwinkel an: „Als ob du das nicht würdest. Du kommst heute aber spät. Steht etwas Bestimmtes an?“ Joey hatte in den letzten Tagen vermieden längere Zeit bei mir in der Kaibavilla zu bleiben, stattdessen hatten sich unsere Treffen auf den Spielladen und die Spielhalle beschränkt.
 

„Kann man so sagen“, druckste der Blondschopf herum und setzte sich zu mir, als ich auf die freie Fläche neben mir im Bett klopfte. Er hielt einen Umschlag in den Händen und mir dämmerte bereits, um was es sich handeln könnte.
 

„Der ist von der Justiz, oder?“
 

Joey nickte auf meine Frage hin bejahend. Seine Finger zitterten. Wer konnte es ihm auch verdenken? Seine neuerworbene Freiheit hing von diesem einen Brief ab. Ich wäre da auch nervös gewesen.
 

„Na dann mach ihn auf, hm?“, sagte ich und legte die Arme um meinen Freund. Dieser schmiegte sich an mich und riss den Brief äußerst unsauber auf.
 

„Ganz ruhig“, murmelte ich ihm zu und beobachtete Joey, wie er den Schriftverkehr auseinanderfaltete. Ich kannte so eine Korrespondenz nur aus den Gerichtsshows, die meine Mutter immer schaute: Aktenvermerk, Nummer, Betreff, Anrede, dann ein elendslanger Text. Die essentiellen Sachen waren fett hervorgehoben worden.
 

„Sehr geehrter Herr Wheeler“, begann Joey langsam zu lesen. Soweit ich erkennen konnte, handelte es sich sowohl bei Formulierung als auch Wortwahl um äußerst gehobenes, abstrakt wirkendes Japanisch. Ich hatte auch Mühe es zu entziffern.
 

„Ihrem Antrag auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf Herrn Solomon Muto wurde vom Gericht Domino City stattgegeben. Herr Muto wird insoweit Ihr Vormund, als dass er Sie in allen rechtlichen, wie auch familientechnischen Angelegenheiten vertreten darf, bis Sie das 18te Lebensjahr vollendet haben.
 

Des Weiteren möchten wir Sie auch darüber informieren, dass gegenüber Ihrem Vater, Herrn Joseph Wheeler senior, ein Annäherungsverbot erwirkt worden ist. Ihrem Vater ist es nicht gestattet, sich Ihnen auf 50 Meter zu nähern. Etwaige Verstöße gegen diese Verfügung sind umgehend dem örtlichen Wachkörper zu melden.
 

Ihr Vater hat mehrfach bei mir vorgesprochen und darum gebeten, mit Ihnen in Kontakt treten zu dürfen. Ich bin von unserem Mandanten angewiesen worden, dies zu unterbinden. Auch Kontaktaufnahme jeglicher Art, sei es durch Telefon, Briefverkehr, elektronische Medien etc. ist Ihrem Vater untersagt worden.
 

Ich bin außerdem von ihm darauf hingewiesen worden, dass etwaige Schadenersatzansprüche gegenüber Ihrem Vater bestehen könnten. Sollten Sie eine rechtliche Beratung dahingehend wünschen, würde es mich freuen, Sie in meiner Kanzlei begrüßen zu dürfen.
 

Mit freundlichen Grüßen
 

Musashi Kawasaki

Rechtsanwaltskanzlei Kawasaki

Zweigstelle Domino City“
 

Joey fiel ein Stein vom Herzen, wie ich an seiner erleichterten Körperhaltung merken konnte. Seine Anspannung löste sich und er begann erneut den Brief leise durchzugehen. Mir erging es ehrlich gesagt ähnlich: Ich hatte befürchtet, dass nicht einmal Kaiba einflussreich genug war, jemanden um sein ihm zustehendes Recht, nämlich die Obsorge seines Kindes, zu bringen. Dass der alte Wheeler dabei kläglich versagt hatte, schob ich einmal beiseite. Sowas war normalerweise mit aufreibenden Prozessen unter Involvierung des Jugendamts verbunden.
 

„Was heißt das, Schadensansprüche?“, fragte mich Joey nach einer Weile.
 

„Nun, dein Vater hat dich ja misshandelt. Nebst einem Strafverfahren könnte es sein, dass du Ansprüche gegen ihn stellen möchtest. Schließlich hat er dich lange genug psychisch wie auch physisch missbraucht.“
 

Die Augen meines Freundes wurden bei meinen Worten immer größer: „Du meinst, ich kann ihn verklagen?“
 

Ich nickte zögernd: „Wenn ich das richtig verstanden habe, ja.“
 

Joeys Miene verfinsterte sich: „Das, das kann ich nicht machen. Er ist immer noch mein Vater.“
 

„Das verlangt auch niemand von dir. Er wird wahrscheinlich nicht einmal in den Knast kommen, wenn du nicht möchtest. Ich habe Kaiba darum gebeten, dass alleine dir die Entscheidung über ein etwaiges Strafverfahren obliegt.“
 

Der Blondschopf senkte seinen Blick wieder. „Ich will eigentlich nur meine Ruhe haben“, flüsterte er leise und faltete den Brief zusammen.
 

„Dann lass es darauf beruhen“, sagte ich leise und streichelte Joey über die Wange. „Es ist alleine deine Entscheidung und egal wie du dich entscheidest, wir stehen hinter dir. Das ist alles ein wenig viel gerade, ich weiß, aber in ein paar Tagen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Bis dahin kannst du es dir ja überlegen.“
 

„Würdest…würdest du mich denn begleiten?“, fragte mein Freund zögerlich und vergrub dabei sein Gesicht in meiner Halsbeuge.
 

„Natürlich“, antwortete ich sanft und streichelte ihn weiter. „Yugi wird dich auch begleiten, genauso wie Tristan und Tea. Wir halten zu dir.“
 

„Du wirst mir fehlen“, nuschelte der blonde Japaner. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er meinte.
 

„Du mir auch, aber es ist ja nur ein Wochenende. Ich bin in Windeseile wieder zuhause. Inzwischen kannst du dich ja ein wenig am Duellieren üben, hm?“ Meine Neckerei erzielte die gewünschte Wirkung. Sofort löste sich Joey von mir und blies die Wangen auf.
 

„Was soll denn das heißen?“
 

„Dass ich dich letztes Mal haushoch geschlagen habe“, grinste ich frech. „Du musst schon ein wenig trainieren, um ins Finale zu kommen.“
 

Joey boxte mich gegen die Schulter, was ich mit einem noch breiteren Grinsen konterte. „Letztes Mal hattest du nur Glück. Außerdem ist deine Taktik unfair!“
 

Ich musste mich beherrschen, nicht laut aufzulachen. Da war er wieder, mein Joey, so, wie ich ihn kennengelernt hatte und auch liebte. „Meine Taktik ist relativ leicht zu durchschauen?“, schmunzelte ich.
 

„Fallen blockieren, starke Monster rufen und diese dann noch verstärken, um am Ende die Exodia zu spielen, das ist unfair!“
 

Ich zog Joey lachend ins Bett. „Wenn du meine Taktik eh schon durchschaut hast, warum versuchst du dann nicht sie einfach auszuhebeln?“ Bestätigend zu meiner Frage stupste ich meinem Freund gegen die Nase.
 

„Weil das arschig wäre. Ich muss dich schließlich gewinnen lassen, du bist ja auch…“ Was ich war, erfuhr ich nicht, denn Joey bekam hochrote Ohren und nuschelte irgendetwas Unverständliches.
 

„Was bin ich? Dein Freund?“ Ich grinste noch breiter, als mein Freund noch weiter errötete. „Ah ja, deine Freundin, hm?“
 

„So, so war das nicht gem…“ Ich unterbrach ihn einfach mit einem langgezogenen Kuss. Joeys Ego war noch immer riesig und ich hatte auch die Befürchtung, ihm das nicht austreiben zu können, aber andererseits war es der Ursprung seiner Entschlossenheit. Jedes Übel hatte sein Gutes, von daher…
 

Joey schlief diesen Abend bei mir. Wie mir auch auffiel, war er deutlich entspannter und hatte zur Abwechslung mal keinen Alptraum oder wachte klitschnass neben mir auf. Alles in allem war ich sehr zufrieden mit dem erwirkten Ergebnis hinsichtlich des Sorgerechts. Herr Muto und Yugi würden gut auf ihn achten, genauso wie Tristan und Tea, während ich nicht da war. Außerdem war ich gespannt, wie sich Joey weiterentwickeln würde. Jetzt, ohne das Joch seines Vaters, blühte mein Freund förmlich auf. Wenn das so weiterging, mussten Yugi und Kaiba sich wirklich in Acht nehmen. Joey war so schon ein formidabler Duellant, aber jetzt, wo er sich ganz auf das Turnier konzentrieren konnte, würde er beide vielleicht aus dem Ring fegen.

Auf nach Amerika

Pünktlich am Freitag um 9 Uhr stiegen wir in Kaibas Privatjet. Mokuba verzog sich gleich auf die Couch und machte dort ein Nickerchen. Kaiba und meine Wenigkeit nahmen auf einem der Ledersessel Platz und schnallten uns an. Kaum, dass wir in der Luft waren, brachte mir eine Stewardess ein Glas Whiskey und ließ uns dann auf Kaibas Nicken hin alleine.
 

„Ich möchte mich mit dir noch über einige Dinge unterhalten, bevor wir in Amerika landen“, sagte der CEO und überschlug die Beine. Seine Finger hatte er ineinandergeschoben und beobachtete mich, wie ich an meinem Getränk nippte. Ein vorzüglicher Tropfen, wie ich es mittlerweile von Kaiba gewohnt war. Ich hegte sogar den leisen Verdacht, dass er extra wegen mir diesen Whiskey besorgte.
 

„Ich dachte es wäre alles geklärt? Auf der Messe sage ich, was mir gut und weniger gut gefallen hat. Fragen bezüglich der Produktion und Entwicklung beantworten sowieso du oder Mokuba?“
 

Kaiba schüttelte angedeutet den Kopf: „Das meinte ich nicht. Es geht um das anstehende Battle City Turnier und deinen Anteil an der Kaiba Corporation.“
 

Natürlich, diese geniale Abstimmung, der ich mich noch stellen durfte. Wie hatte ich darauf bloß vergessen können? Ich musste mich bemühen, nicht mit den Augen zu rollen. Der CEO wusste genau wie er meine Laune in den Keller schicken konnte. Ich hatte ihm zwar mein Einverständnis zu diesem, in meinen Augen, wahnwitzigen Plan gegeben, was aber nicht hieß, dass ich mich darauf freuen musste.
 

„Womit fangen wir zuerst an?“
 

„Bringen wir das mit der Abstimmung hinter uns“, murmelte ich und beobachtete Kaiba, wie er einen Schnellhefter aus seiner Aktentasche hervorzog. Diesen händigte er mir aus und ich überflog flüchtig die einzelnen Seiten.
 

Das ganze Dokument war sowohl in japanischer, als auch in deutscher Sprache verfasst. Ich war zwar sprachlich nicht unbegabt, hatte aber in beiden Sprachen Probleme die Sätze inhaltlich zu verstehen. Das war Betriebswirtschaft und Jura vom Feinsten.
 

„Die Kurzversion?“, schmunzelte der CEO amüsiert.
 

„Wo muss ich unterschreiben?“
 

Kaiba deutete wortlos auf drei Zeilen. Ich griff nach einem bereitliegenden Kuli und setzte meinen Namen in die einzelnen Felder.
 

„Wann wir abstimmen erfährst du noch“, kommentierte der Braunhaarige mein Tun und nahm den Schnellhefter wieder an sich. „Das Battle City Turnier ist sowieso der interessantere Tagespunkt.“
 

Ich hatte das Gefühl eine Spur Euphorie in Kaibas Stimme zu hören. Er war wohl wirklich verdammt scharf auf diese einzelnen Karten. Mir persönlich konnten sie gestohlen bleiben. Was mir Mahad und Yugi erzählt hatten, waren das äußerst mächtige Monster, denen wirklich eine Seele innewohnte. Nur sehr starke Persönlichkeiten waren überhaupt in der Lage sie zu beschwören. Noch schwieriger war es, diese Monster zu kontrollieren.
 

„Schieß los“, murmelte ich und nippte wieder an meinem Whiskey.
 

„Wie auch beim letzten Mal werden sich die Raritätenjäger unter die Duellanten mischen. Ich gehe stark davon aus, dass ich, Yugi und du ihre begehrtesten Ziele sein werden. Sind wir erst einmal aus dem Turnier geflogen, haben sie leichtes Spiel.“
 

Ich verzog das Gesicht bei Kaibas Worten. Die Aufmerksamkeit einer kartensammelnden Sekte zählte nicht unbedingt zu den Dingen, auf die ich sonderlich scharf war. Auch über diese Gruppe hatte mich Yugi aufgeklärt. Ihr Anführer Marik war schon fast sowas wie ein Wahnsinniger mit gespaltener Persönlichkeit gewesen. Selbst der König der Spiele hatte ihn nur mit Mühe schlagen können; wenn er dieses Mal auch wieder mitmischte, dann konnte ich mir gleich die Kugel geben. Das waren Kaliber, denen ich sicher nicht gewachsen war.
 

„Sie werden dieses Mal auch sicher wieder die Götterkarten ins Feld führen.“
 

Jetzt war ich mir sicher, dass Kaiba seine Erregung nicht mehr gänzlich verbergen konnte. Er wollte diese Monster, die Sangenshin, mit aller Macht in den Händen halten. Eine davon war laut Yugi und Mahad stark genug, um ein ganzes Duell in ein paar Spielzügen zu beenden, alle drei aber…
 

„Auf die bist du so scharf?“, fragte ich unverblümt. Warum sollte ich meine Vermutung auch hinter dem Berg halten?
 

„Sagen wir einmal, ich hege ein gewisses Interesse daran, dass sie in die richtigen Hände gelangen“, korrigierte mich Kaiba.
 

„In deine“, stellte ich unverhohlen fest.
 

„Ich bin am Ehesten in der Lage sie einzusetzen.“ An Selbstvertrauen mangelte es Kaiba überhaupt nicht.
 

„Wie kommst du darauf, dass ich dir meine Götterkarte überlassen werde?“
 

Meine Frage ließ einen Anflug von Unsicherheit in Kaibas Zügen aufblitzen. Wenn man ihn nicht so gut gekannt hätte wie ich, wäre einem das gar nicht aufgefallen. Seine Stirn bildete eine einzelne, feine Falte, wenn sich der CEO unsicher fühlte. Entgegen meiner Erwartungen schwieg er, also setzte ich nach.
 

„Mal angenommen, ich gelange wirklich in Besitz eines der Göttermonster, warum sollte ich dann so dumm sein und sie dir überlassen? Wenn sie wirklich so mächtig sind wie du behauptest, habe ich damit die Chance, zum besten Duellanten der Welt aufzusteigen.“
 

Kaiba machte einen abfälligen Laut: „Mit welchem Sinn?“
 

„Ich wäre von dir unabhängig. Als Nummer eins auf der Weltrangliste wäre ich auf dich nicht mehr angewiesen. Es gibt genügend andere da draußen, die sich um mich reißen würden. Außerdem: Diese drei Monster kann sowieso nicht jeder verwenden, so wie ich das verstanden habe.“
 

Wieder diese dezente Unsicherheit, die sich in Kaiba breit machte. Ich hatte ihm wirklich viel zu verdanken und wollte diese Götterkarte oder Karten eigentlich gar nicht, aber schenken würde ich sie dem CEO auch nicht. Allmählich musste es Kaiba dämmern, dass er neben Yugi einen weiteren Rivalen erschaffen hatte. Wenn ich wirklich so gut war, wie er behauptete, dann hatte ich eine reale Chance, es gegen ihn aufzunehmen.
 

„Mit genügend Willenskraft ist man in der Lage, eines der Göttermonster zu kontrollieren. Ich glaube nicht, dass Yugi oder Joey mich belügen würden. Du hoffst, dass ich sie nicht nutzen kann, oder?“
 

Kaiba schwieg erneut. Sein Plan war wirklich meisterlich eingefädelt. In den Händen einer schwachen Person waren die Göttermonster nutzlos. Kein Gott beugte sich jemandem, der nicht in der Lage war ihn zu bändigen. Yugi, beziehungsweise sein Pendant der Pharao, glaubten, dass Mahad und ich durchaus fähig waren, eines der Sangenshin zu rufen und auch zu kontrollieren. Wenn Yugi nicht wusste, wer diese komischen Dinger führen konnte, dann wohl niemand.
 

„Das war auch in deinen Plan einkalkuliert, oder? Mir weismachen zu wollen, dass ich mit dem Ding sowieso nichts anfangen kann?“ Ich holte tief Luft und nahm all meinen Mut zusammen. Was ich da tat, konnte einen Rausschmiss zur Folge haben, außerdem war ich ihm alleine schon wegen Joey zu Dank verpflichtet, aber andererseits – ich hatte es satt, dass er mich dauernd herumschubste. Auch wenn er es nicht mehr so offen tat wie früher, Kaiba manipulierte mich, und das ausgesprochen gut.
 

„Wenn du dein Göttermonster haben willst, Kaiba, dann musst du es dir auch holen. Widerstandslos werde ich es dir nicht überlassen. Auch wenn du nicht an das Schicksal und die Vergangenheit glaubst, ich tue es.“ Gedankenverloren griff ich an meine Milleniumsring, bevor ich fortfuhr: „Ich war da, genauso wie du. Das sind keine gewöhnlichen Duel Monsters Karten, auch keine Spielzeuge. Es handelt sich dabei um fleischgewordene Götter. Ich glaube an diese Legende.“
 

Kaiba hob die Mundwinkel an und schenkte mir ein spöttisches Lächeln. „Yugi hat dich also mit diesem Gefasel von Schicksal und Bestimmung infiziert. Eine bedauerliche Entwicklung. Auch wenn ich deinen Kampfgeist schätze, so vergisst du, dass niemand außer Pegasus und Yugi in der Lage gewesen ist, mich zu besiegen.“
 

Ich tat es meinem Gesprächspartner gleich. „Jeder verliert einmal Kaiba. Wir können diesen Umstand nur hinauszögern.“ Ich schwenkte mein Whiskeyglas ein wenig und beobachtete die Schlieren, die der Alkohol auf der glatten Oberfläche hinterließ. „Meine Aufgabe ist es wohl, deine Niederlage früher herbeizuführen.“ Eine wohlige Wärme breitete sich in meinem Herzen aus. Mahad war bei mir und gab mir den Mut, dem Weißen Drachen die Stirn zu bieten.
 

„Du willst mir eine Niederlage verpassen?“ Kaiba lachte abfällig und lehnte sich weiter im Stuhl zurück.
 

„Ich werde alles daran setzen, dass dieser Umstand eintrifft, ja. Auch wenn es für dich ein Märchen sein mag, so glaube ich an das Schicksal. Es ist kein Zufall, dass ich euch alle kennengelernt habe. Den Milleniumsring habe ich auch nicht aus Zufall gefunden.“
 

„Das Schicksal ist etwas, das sich nicht rational erklären lässt, folglich kann es auch nicht existieren. Sich an ein Stück Vergangenheit zu klammern ist ein Zeichen von Schwäche. Du hast großes Potential, wirfst es aber genauso weg wie Yugi. Ihr lebt in irgendwelchen Traumwelten und macht euer ganzes Dasein von einem flüchtigen Moment abhängig. Ich lebe meine Träume.“
 

Mein Blick wanderte zu Mokuba, der auf der Couch vor sich hindöste. Ja, Kaiba lebte seine Träume. Er hatte in jungen Jahren erreicht, wofür andere ein ganzes Leben brauchten. Ich fragte mich aber, ob der CEO wirklich glücklich war. Es gab niemanden für ihn, niemanden außer Mokuba und seine Rivalität zu Yugi. Er lebte für die Firma und für Duel Monsters. Das konnte doch nicht der Sinn des Lebens sein, oder?
 

„Ich weiß, dass du deine Träume lebst. Dabei bleiben aber andere auf der Strecke.“ Ich nickte mit dem Kopf zu Mokuba. „Uns beide verbindet dein kleiner Bruder, Kaiba. Auch wenn es ein wenig seltsam anmuten mag, aber ich glaube, ich liebe ihn, genauso wie du es tust. Nach Joey und meinen Großeltern ist er mir mit Yugi das Wichtigste auf dieser Welt.“
 

Entgegen meiner Erwartungen kam kein bissiger Kommentar. Kaiba beobachtete einfach nur seinen Bruder.
 

„Wenn du nicht so wärst wie ich, hätte alles bisher nicht funktioniert. Zu Beginn war ich durchaus ein wenig wütend auf Mokuba. Er zwang mich dazu, dich in meine Nähe zu lassen. Je mehr ich dich loswerden wollte, umso mehr hat er sich an dich geklammert. Es war schon widerlich Wheelers Nähe zu ertragen, aber deine?“
 

Ich gluckste leise: „Das hast du aber nett gesagt.“
 

Der CEO hob seine Mundwinkel ein wenig an: „Du hast dich aber als äußerst fähiger und loyaler Mitspieler entpuppt. Mokubas Menschenkenntnis scheint nicht gänzlich fehlerbehaftet zu sein. Du bist deutlich erträglicher als Wheeler und auch wenn er und Yugi dich beeinflusst haben, so wird ein Teil von mir in deinen Spielzügen sein, egal wie sehr du dich dagegen sträubst.“
 

Ich wollte gerade protestieren, als mich Mahads sanfte Stimme zurückhielt. „Warte noch ein wenig, ich möchte wissen, was er nun sagt.“
 

„Dir mag es zwar nicht aufgefallen sein, aber Wheeler und Yugi schon. Wenn du deine Karten ziehst, wie du sie hältst, alles erinnert an mich. Du denkst sogar gleich wie ich. Wheeler verlässt sich auf sein Glück, Yugi auf das Herz der Karten, aber beide zögern, im richtigen Moment anzugreifen. Du glaubst auch dieses Märchen vom Schicksal, aber im Gegensatz zu den Beiden schlägst du zu. Du adaptierst deine Züge, passt sie an. Deine Taktik mag simpel sein, doch gerade das macht deinen Erfolg aus.“
 

Der Blick des CEO wanderte nach draußen zum wolkenverhangenen Himmel. Er wirkte abwesend, nachdenklich, als er weitersprach: „Ich dachte Mokuba eines Tages so formen zu können. Mein kleiner Bruder besitzt dafür aber ein zu weiches Herz. Er denkt zu sehr an andere.“
 

„Das tue ich auch, Kaiba.“
 

„Natürlich, aber im Gegensatz zu ihm gehst du aufs Ganze. Wenn du die Wahl zwischen Angriff und Verteidigung hast, wählst du Ersteres. Du willst dir deinen Platz erkämpfen. Ich weiß ob deiner Vergangenheit Bescheid.“
 

Unweigerlich schob ich die Augenbrauen nach unten. „Du hast mir nachspioniert, oder?“
 

„Nennen wir es recherchiert. Ich habe mich gefragt was an dir anders ist als an Wheeler. Du hast den gleichen Wahnsinn miterlebt, aber dich gänzlich anders entwickelt. Ohne Yugi ist dein Freund ein Niemand, genauso wie er es nun ohne dich ist.“ Kaiba verschränkte die Arme hinter dem Kopf und bedachte mich mit einem merkwürdig leeren Gesichtsausdruck.
 

„Du magst es zwar bestreiten, aber ohne dich wäre er nie dieser Teufelsspirale entkommen. Bei unserem ersten Duell hast du dich mir gestellt. Ich habe dich für wahnsinnig gehalten, doch als du deinen Rotaugenrachen aufs Feld gerufen hast wusste ich, dass wir gleich sind. Du irrst aber in einem Punkt.“
 

„So, tue ich das?“, fragte ich und nippte wieder an meinem Getränk.
 

„Ich weiß, dass auch du die Götterkarten rufen kannst. Im Gegensatz zu Wheeler hast du gegen deinen Alptraum gekämpft, dich gewehrt. In dir wohnt jene Entschlossenheit die nötig ist, um einen Gott zu beschwören. Ich habe unabsichtlich einen weiteren Rivalen geschaffen. Du wirst ins Finale kommen, mühelos, genauso wie ich und Yugi. Die einzige Frage die sich stellt ist, ob du im entscheidenden Moment zögerst dein volles Potential zu entfalten oder nicht.“
 

„Wie meinst du das?“, blinzelte ich verwirrt.
 

„Wheeler klammert sich an dich, und doch hat er Angst vor dir.“
 

„Was für ein Schwachsinn, Kaiba. Joey liebt mich und ich ihn auch.“
 

Wieder dieses spöttische Lachen, das Kaibas Lippen verließ. „Natürlich tut er das. Doch er fürchtet dich auch. Er hat panische Angst vor diesem Tand an deiner Brust. Mehr noch wird er aber den Geflügelten Drachen des Ra fürchten. Weder er noch Yugi haben dir erzählt, was damals wirklich passiert ist, oder?“
 

Gerade als ich aufbrausen wollte, hielt mich Mahad erneut zurück: „Lass ihn.“
 

„Marik hat damals Ra beschworen um Wheeler in einem Duell der Schatten endgültig auszuschalten. Warum auch immer, aber dein Freund war in der Lage, Ra zu widerstehen. Er hat zwar dennoch verloren, aber, selbst Marik war erschüttert, dass sich ein Sterblicher einem Gott widersetzen konnte. Fällt dir etwas auf?“
 

Ich sah an mir herab. Der Ring, die Göttermonster…
 

„Dir scheint ein Licht aufzugehen. Wenn du es tatsächlich schaffst, wovon ich ausgehe, Ra in die Finger zu bekommen, bist du genau das geworden, was Wheeler so sehr fürchtet. Du besitzt diesen wertlosen Unrat und das Monster, das ihn beinahe umgebracht hätte.“
 

„Selbst, wenn dem so wäre, das ändert nichts. Er weiß, dass ich ihn bedingungslos liebe und bereit bin, alles für ihn zu tun!“ Meine Stimme klang dabei weit weniger überzeugt, als ich gehofft hatte. Was war nur mit mir los?
 

„Du hast es noch immer nicht ganz geschnallt, oder? Wheeler will nicht der sein, der beschützt wird, er will beschützen. In einem Bruchteil der Zeit hast du ihn überflügelt. Er klammert sich mit aller Macht an dir fest, weil du in der Lage bist euch beide aus dem Morast zu ziehen, in den er sich hineinmanövriert hat. Wenn Wheeler dieses Mal auch wieder in die Endrunde kommt, wird sich zeigen, wie stark du wirklich bist.“
 

Ich hatte Mühe das Whiskeyglas in der Hand zu behalten. Darauf wollte er also hinaus. Natürlich, wie hatte ich auch nur so dumm sein können? Selbst wenn die Endrunde ein Paarduell war, so hatte ich sehr gute Chancen, mich mit Joey im Finale messen zu müssen. Was würde ich dann tun? Ich konnte ihn doch nicht einfach aus dem Ring fegen, selbst, wenn ich dazu in der Lage war.
 

„Ich glaube, du wirst ihn vernichten. Wenn du das tust, wird er wahrscheinlich innerlich zerbrechen. Sein großer Held, seine große Liebe, sie hat ihn einfach so vom Ruhm abgehalten. Wheelers Glück ist nicht unendlich. Er mag zwar vielleicht jetzt ein wenig freier sein, doch er hat nur einen Häscher gegen den anderen getauscht.“
 

„Das ist nicht wahr“, murmelte ich leise und umklammerte mein Glas fest. Das konnte nicht wahr sein! Das war alles nur ein Trick, ein Plan von Kaiba, um mich zu verunsichern. Er wollte mir mit Gewalt diese Karte abnehmen, wenn ich sie denn einmal besaß.
 

„Doch.“ Kaiba richtete sich ein wenig auf und rückte an den Tisch heran. „Warum denkst du liebt dich Mokuba so sehr? Warum nennt er dich großen Bruder? Ich habe mittlerweile nichts mehr dagegen, im Gegenteil: Du wirst nie an mich heranreichen, aber du kannst diese Dinge übernehmen, die ich nicht für Mokuba tun kann. Die kleine Wheeler klammert sich auch an ihn, weil er ihr einen Ausweg anbietet.“
 

„Wie kannst du nur so denken, Kaiba? Liebe und Zuneigung sind dir Fremdwörter, oder?“
 

Der Braunhaarige schnaubte verächtlich. „Es wird irgendwann nur mehr uns drei geben, mich, Yugi und dich. Für Wheeler ist da kein Platz. Egal wie sehr du und Yugi euch anstrengt: Er wird nie in dieser Liga mitspielen. Je eher ihr das begreift, desto eher werdet ihr euch weiterentwickeln.“
 

Ich schüttelte vehement den Kopf: „Je eher du lernst, dass Liebe und Freunde keine Schwäche sind, desto eher wird diese Kälte, die dein Herz umfasst, verschwinden. Du kapierst es nicht, oder? Ich wäre ohne Yugi und Joey nie so weit gekommen, genauso wie ich meine restlichen Freunde und auch dich brauche. Auch wenn es dich enttäuschen mag, aber Joey liebt mich, und wird mich lieben, mit Ring und auch mit Götterkarte.“
 

„Wie oft wollt ihr ihn denn vor dem nächsten Schwachsinn bewahren? Wer steigt dieses Mal für Wheeler in den Ring, wenn er sich wieder mit Leuten anlegt, die drei Nummern zu groß sind? Yugi oder du? Vielleicht sind er und Yugi ein gutes Team, genauso wie ich und du, aber im Endeffekt behindert er euch nur.“
 

„Joey behindert niemanden, er ist unser Mittelpunkt, unsere Stütze. Er braucht auch niemanden. Joey kann seine Duelle alleine ausfechten.“
 

„Wheeler kann nichts alleine. Er war nie ein Alpha und wird es auch nie sein. Ohne dich und Yugi ist er ein Nichts. Ein Niemand. Du kannst dutzende Duellanten an seiner statt in den Kampf schicken, es macht keinen Unterschied.“
 

Meine Nasenflügel blähten sich auf. Was wollte er mit diesem sinnlosen Gespräch erreichen? Meinen Glauben an meine Liebe schmälern? Einen Keil zwischen Yugi, Joey und mich treiben, oder machte es ihm einfach Spaß, mich emotional ein wenig zu quälen?
 

„Nein, denn er ist der Junge, den ich liebe, und das von ganzem Herzen. Wenn du irgendetwas planst, Kaiba, dann warne ich dich. Fasse ihn an oder nutze seine derzeit ein wenig angeschlagene Psyche aus, und ich werde dich wie Yugi in die Knie zwingen. Wenn ich wirklich Ra in die Finger bekomme, dann zögere ich nicht, ihn zu nutzen. Ich bändige diese Bestie und zwinge sie, der Bote meines Zorns zu sein.“ Ich redete mich unbeabsichtigt in Rage. Auch wenn mich das Kopf und Kragen kosten konnte, war es mir egal.
 

„Ich bin nicht Yugi, nein. Im Gegensatz zu ihm werde ich nicht zögern alles in die Waagschale zu werfen, auch wenn du ein Freund sein solltest. Niemand verletzt Joey mehr ungestraft. Niemand. Hast du mich verstanden?“
 

„Gilt das auch für den alten Wheeler?“, hakte Kaiba amüsiert nach.
 

„Das gilt auch für seinen Vater, ja. Ich werde das tun, was in den letzten Jahren verabsäumt worden ist: Joey auch in dieser Hinsicht zu stützen. Yugi, Tristan und ich werden Joey behüten und beschützen. Ich fechte seine Kämpfe aus, wenn er es nicht kann, fange ihn auf, wenn er fällt und signalisiere ihm, dass er sich nicht zu fürchten braucht. Das habe ich bei Mokuba schon getan, und werde es auch bei Joey tun.“
 

„Je länger ich dir zuhöre, desto mehr erkenne ich mich in dir wieder.“ Der beißende Spott in Kaibas Stimme trieb mich beinahe in den Wahnsinn. Warum nur wusste der verdammte Mistkerl, wie er mich aus der Fassung bringen konnte? Nicht einmal Mahads beruhigende Aura konnte mich bremsen.
 

„Ich bin nicht wie du und werde es auch niemals sein. Mir bedeuten Menschen etwas. Ich schätze Werte wie Familie und Freunde. Auch wenn es für dich unverständlich sein mag, aber ich glaube an ihn.“
 

„Wir werden sehen, ob du deinen Glauben leichtfertig vergeben hast, oder nicht. Jedenfalls solltest du jetzt austrinken, denn wir landen gleich und werden dann ins Hotel fahren.“

Ein Rivale im Rückblick

Kaiba beobachtete sein Gegenüber aus den Augenwinkeln heraus. Wie der Junge an seinem Whiskey nippte, sich mit ihm gerade verbal gemessen hatte, der besorgte Seitenblick, den er Mokuba zugeworfen hatte – etwas an ihm faszinierte den CEO. Wheelers Freund war sein Protegé geworden. Ein Stück weit war ihm seine eigene Kreation entglitten. Dabei hatte er das alles so nicht geplant, zumindest nicht ganz. Nachdenklich lenkte er seinen Blick zum Fenster hinaus und beobachtete noch ein letztes Mal die Wolken, bevor sie landen würden. Seine Gedanken drifteten ab, zurück zu jenen schicksalshaften Momenten, in denen er sich sicher gewesen war, einen rohen Diamanten gefunden zu haben.
 

An seinem ersten Tag, wie der Neue ihn herausgefordert hatte. Geboren aus dem vorlauten Munde Wheelers, war Kaiba überrascht worden. Sein Herausforderer konnte nicht gewinnen, und das wusste er auch, dennoch kniff der Neue nicht. Der CEO war selbst erstaunt gewesen, dass der Kleine so lange durchhalten hatte können. War das reines Glück gewesen?
 

Kaiba schob seine Finger ineinander und beobachtete David dabei, wie dieser auf sein Handy starrte. Er wirkte ein wenig nervös, aber nicht verunsichert. Hätte er mit Wheeler gesprochen, dieser wäre schon längst unter dem Druck zusammengebrochen. Er wirkte so unscheinbar neben Kaiba oder Yugi und doch…
 

Sie hatten damals alles über Kameras beobachten können. Wie sich der Neue durch die Gegnerreihen in der VR gekämpft hatte. Kein Hindernis war ihm zu groß gewesen, kein Gegner zu stark – erst Nakamura mit ihren schmutzigen Tricks hatte ihn aufhalten können. Selbst da war er noch nicht bereit gewesen völlig aufzugeben, obwohl die Lage aussichtslos schien. Warum? Konnten Freundschaft und Liebe wirklich stärker sein als ein kühler Kopf und die Fähigkeit, sich zu nehmen, was man haben wollte?
 

Auch über diese Frage hatte Kaiba lange nachgedacht. Er war zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen. Etwas an seinem Untermieter war anders. Er kämpfte mit dem gleichen Willen wie Kaiba selbst und Yugi, wollte unbedingt gewinnen.
 

„Seto, du musst ihnen helfen!“
 

Kaiba hatte Mokuba noch nie so erlebt. Sein Bruder war eigentlich ruhig für sein Alter. Auch widersprach er seinem großen Bruder nie oder forderte etwas von ihm. Für ihn war Seto das absolute Vorbild. Zugegeben, der CEO zeigte es ihm viel zu selten, aber Mokuba war sein ein und alles.
 

„Ich helfe niemandem, der sich nicht selbst helfen kann“, entgegnete der Braunhaarige lapidar. Was ging es ihn schon an, wenn Wheeler in der Klemme steckte? Auch nicht der kleine Zwerg, der sich anmaßte, ihn, Seto Kaiba, zurechtzuweisen. Er selbst hatte vor einigen Jahren so mit seinem Stiefvater gesprochen und legte das gleiche Verhalten an den Tag, wenn ihn jemand enttäuschte. Natürlich wurde er nicht laut oder abfällig, aber sein stechender Blick genügte, um selbst die hartgesottensten Manager verstummen zu lassen. Normalerweise machte sich der CEO nicht die Mühe über sich selbst oder seine Art des Handelns nachzudenken, aber dieses Mal – würde er Mokuba nicht enttäuschen, wenn er den Neuen im Stich ließ?“
 

Das Endresultat hatte man gesehen. Er war tatsächlich in die VR gestiegen. Natürlich hatte er das mit persönlichen Gründen wie dem Image der Kaiba Corporation verdeckt, und das war auch zum größten Teil nicht gelogen, doch ein kleines Stück von ihm wollte, dass sein Klassenkollege da heil rauskam. Etwas an ihm faszinierte ihn.
 

Wirklich bewusst wurde ihm erst, was er eigentlich aus dem Neuen machen konnte, als sie sich gegen die Gebrüder Paradox duellierten. Kaiba war davon ausgegangen dieses Duell alleine zu schaukeln. Er brauchte niemanden. Die Labyrinthmauern stellten zwar ein Hindernis dar, doch dafür hatte er sich bereits einen Plan zurechtgelegt, einen Plan, der durch die Taktik seines Teampartners komplett über den Haufen geworfen worden war.
 

Sein Spielverhalten glich dem von Wheeler und Muto, mehr Glück als Verstand und dazu noch dieser alberne Glaube an das Herz der Karten, aber im Gegensatz zu Ersterem besaß er den nötigen Mut anzugreifen.
 

Diesen stellte er unter Beweis, als er Jirai Gumo tatsächlich angriff. Im ersten Moment realisierte Kaiba nicht, was denn mit seinem Mitspieler los war. Dieser zitterte wie Espenlaub und schien mit einer Panikattacke zu kämpfen, dabei war es doch ganz einfach: Garoozis musste nur angreifen. Das Drücken auf eine einzelne Karte und es würde weitergehen. Dann dämmerte es dem CEO: Er zögerte, weil er sich fürchtete. Er hatte Angst vor dem Hologramm. Wie lächerlich – die Spinne war nicht real, und doch, sie war täuschend echt. Dennoch hatte David es durchgezogen, und das hatte Kaiba beeindruckt.
 

Die Idee, die Labyrinthmauern einfach zu zerstören, war natürlich das Tüpfelchen auf dem I gewesen. Er selbst hatte etwas Ähnliches geplant gehabt, doch der Kleine war ihm zuvorgekommen. Dazu noch die richtige Monsterkombination – diese Taktik hatte ihm in die Hände gespielt. Das mochte vielleicht auch noch Glück gewesen sein, doch, und dessen war er sich heute bewusst, sein Mitspieler hatte ihm vertraut, so wie Yugi.
 

Mit seinem Angriff war David der Attacke des Torwächters schutzlos ausgeliefert gewesen und trotzdem, er hatte nicht gezögert zuzuschlagen. Wheeler hätte abgewartet, und Yugi irgendeinen Taschenspielertrick aus dem Ärmel gezogen, sicher nicht rohe Gewalt verwendet. Das war schon mehr sein Stil, wenn sich Kaiba in die Ecke gedrängt fühlte.
 

Nun lachte er tatsächlich wieder, gemeinsam mit Mokuba. Sie alberten über irgendein Game herum. Kindisch, lächerlich, Zeitverschwendung. Kaiba selbst konnte für diese Dinge nie die nötige Muße aufbringen. Er war zu sehr mit der Firma beschäftigt und mit der nächsten Strategie, die sich darum drehte, Yugi zu Fall zu bringen. David tat genau das, was er nicht tun konnte: Für Mokuba emotional da zu sein. Zu Beginn war er eifersüchtig gewesen, wollte den fremden Parasiten möglichst bald zertreten, aber irgendwann hatte Kaiba die Vorzüge erkannt, die Mokubas Freund mit sich brachte. Er mochte es zwar noch immer nicht, wenn sein kleiner Bruder zu dem Anderen „großer Bruder“ sagte, aber diesen Preis zahlte er gerne, denn schon lange nicht mehr war Mokuba so glücklich gewesen.
 

„Ich will ihn nicht in meinem Haus haben“, sagte Kaiba ein wenig ungehalten. Mokubas Vorschlag war der Gipfel der Frechheit gewesen. Jeden anderen hätte er sofort psychisch vernichtet und seine wirtschaftliche Existenz noch dazu. Einen Fremden, noch dazu einen Schleimer, der versuchte über seinen kleinen Bruder an ihn heranzukommen, den wollte er schon gar nicht in seiner Nähe wissen.
 

„Aber Seto“, schmollte Mokuba und warf sich genervt aufs Bett. „Er hat dir nichts getan, im Gegenteil: Bei eurem Duell war er dir eine große Hilfe. Ich habe es dir angemerkt; du warst beeindruckt.“
 

„Wo er ist, ist auch Wheeler. Der strapaziert meine Geduld sowieso schon genug.“ Dass er und David einige Differenzen hatten, verschwieg Kaiba seinem kleinen Bruder. Es war unnötig, ihn damit zu behelligen.
 

„Das stimmt doch gar nicht! Außerdem mag ich Joey genauso gern. Immer muss ich alles nur nach deinem Kopf gehen! Ich will das jetzt und damit basta!“
 

Der CEO schüttelte seinen Kopf. Mokuba war in den letzten Wochen gewachsen, gereift. Natürlich argumentierte er ihm gegenüber oftmals noch wie ein Kind, aber, sich offen gegen ihn zu stellen, das hatte er nicht gewagt. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, meist gab Kaiba nach, doch Mokuba forderte nie ein, was ihm eigentlich zustand. Erfolgreich, wie man meinen mochte, denn er hatte tatsächlich nachgegeben und den Neuen in sein Haus einziehen lassen.
 

Kaibas Blick wanderte nach unten, zum Milleniumsring, den sein Klassenkollege um die Brust trug. Früher hatte dieser Tand einmal Ryou gehört, der den gleichen Firlefanz abzog wie Yugi. Eine zweite Persönlichkeit, ein Geist, wie lächerlich. Auch wenn Kaiba bei den Schattenduellen dabei gewesen war und sogar Pegasus Macht am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, konnte er diesen Schwachsinn einfach nicht glauben, zumindest nicht ganz.
 

Wie hatte er das gemacht? Wie hatte der Neue Pegasus geschlagen? Kaiba selbst war daran gescheitert. Der CEO von Industrial Illusions hatte wieder betrogen, eindeutig, und doch…
 

Viel wichtiger war aber die Frage, warum er ihm noch immer vertraute? Pegasus spielte zwar ein uraltes Spiel, die verbündeten Parteien zu entzweien, doch er hatte nicht gelogen. Kaiba dachte nicht einmal im Traum daran, Geld für irgendwelche medizinischen Forschungszwecke beim Fenster hinauszuwerfen. Das musste David wissen. Dennoch hatte dieser mit seiner Exodia angegriffen, als ihn Kaiba und Mokuba dazu aufgefordert hatten.
 

Die Exodia. Ein, in Kaibas Augen, nutzloses Monster. Sein Stiefvater hatte sie nicht korrekt verwenden können im Cyberspace und bisher war es nur Yugi, sowie einem Raritätenjäger, gelungen, alle fünf Karten beieinanderzuhaben. Letzterer betrog aber, Yugi nicht, David genauso wenig. Der CEO mochte das Monster nicht, verabscheute es sogar, war die Exodia doch unmittelbar mit seiner allerersten Niederlage verbunden.
 

Kaiba saß in seinem Büro, seine Duel Monsters Karten vor sich ausgebreitet. Die Taktik, die er angewandt hatte war makellos gewesen. Es war alles perfekt vorbereitet gewesen – der Blauäugige Ultradrache, keine Exodia, ein einziger Zug noch. Wenn sie das Duell nicht abgebrochen hätten, er wäre als Verlierer aus dem Raum gegangen.
 

Mit einem Schlag hatte David ihn Matt gesetzt. Der Schwarze Paladin, als er diesen rief, da veränderte sich etwas. Die Gestalt seines Rivalen, sie wirkte anders, erwachsener, reifer. Dieser stand da, hocherhobenen Hauptes und zog seine letzte Karte mit einer Selbstverständlichkeit, wie nur Kaiba und Yugi es taten. Alles hing von diesem einen Zug ab, von einer einzigen Karte, und der Kleine zögerte nicht. In seinen Augen brannte das Feuer der Entschlossenheit. Er wollte gewinnen, nicht um Wheelers Willen, nein, sondern um ihn endlich in die Schranken zu weisen, ihn, Kaiba, seinen Gönner und Förderer.
 

Kaiba ging das Duell erneut durch, Zug für Zug. Wann hatte er die Oberhand verloren? Konnte es sein, dass sein Klassenkollege wirklich auch in der Lage war seinen Geist zu tauschen, so wie es Yugi tat? War das sein Geheimnis?
 

Nein, auch das konnte es nicht sein. Kaiba war sich sicher, dass David nicht dauerhaft mit dem Geist im Ring tauschen konnte. Nicht einmal Yugi konnte das. Außerdem hingen alle seine Freunde, Wheeler und Mokuba nicht am Geist, sondern an ihm, an seiner Persönlichkeit und seinem Auftreten.
 

Kaiba hatte oft über die versteckte Kamera im Gästezimmer beobachten können, wie sich David mit Wheeler und Yugi duellierte. Was zu Beginn noch plump und unbeholfen wirkte, war einer Form von Eleganz und Perfektion gewichen, die er nur zu gut kannte: Seiner eigenen. Wie David die Karten hielt, seine Züge machte, angriff und dabei auch Rückschläge hinnahm, nur um im nächsten Moment wieder zuzuschlagen – das war sein eigener Spielstil. Das Lauern auf den Fehler des Gegners, nur um diesem die eigene Unfähigkeit aufzuzeigen; viele der Züge von David trugen Kaibas Handschrift.
 

Natürlich, ihm fehlte es an der Erfahrung und dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, wie sie Kaiba besaß, doch die Wandlung, die dieser Gaijin, nein, sein Schützling, durchgemacht hatte, war atemberaubend gewesen. Innerhalb von ein paar Monaten war er zu einem herausragenden Duellanten geworden. Das respektierte Kaiba. Doch nicht nur das.
 

Im Laufe der Wochen und Monate hatte der CEO immer mehr das Gefühl gehabt jemanden vor sich zu haben, dem man vertrauen konnte. Kaiba vertraute nicht leicht, denn er wusste, wie schnell dieses Vertrauen missbraucht werden konnte. Alleine schon die Big Five, dann Noah, einige wenige Fehlentscheidungen innerhalb des Unternehmens – bisher hatte ihn der aber Kleine nie enttäuscht. Er mochte vielleicht nicht mit so viel Scharfsinn argumentieren wie Kaiba selbst, doch der Neue hatte ihm oft genug die Stirn geboten und zumindest einen kleinen Stein ins Rollen gebracht. Nicht, dass er sich jemals ändern würde, doch Kaiba fing an, seine Entscheidungen ein wenig zu überdenken.
 

Wenn jemand eine der Götterkarten in seinen Besitz bringen konnte, dann war das David. Er würde zweifelsohne in den Besitz des mächtigsten Monsters gelangen, und es auch alsbald wieder verlieren, doch, und das freute Kaiba tief in seinem Inneren, es würde ein Duell darum geben. Bis dahin hoffte der CEO, dass sein Schützling sich noch mehr entwickelte und vielleicht die Möglichkeit war, die er schon so lange suchte, um Yugi Muto in die Knie zu zwingen.
 

Nur, wenn David wirklich so war, wie Kaiba ihn einschätzte, nämlich ihm gleichend, dann würde dieser seine Prinzipien nicht verraten. Vielleicht wegen eines Druckmittels, sei es ob Wheeler oder Yugi, doch wahrscheinlich würde ihn nicht einmal das aufhalten. Seine eigene Kreation, ein Stück seiner selbst, es war außer Kontrolle geraten und dennoch genoss ihr Schöpfer jeden Moment der Entwicklung, dem er beiwohnen durfte.
 

Es war richtig gewesen, ihm das eine Prozent an der Kaiba Corporation zu überschreiben. Auch wenn er ihn nicht als Freund betrachtete, doch war David zumindest eins: Loyal. Seine Prinzipien standen über allem, genau wie bei ihm, und er würde sie nur verraten, wenn es richtig war. Dieses Battle City Turnier versprach spannend zu werden, spannender als alle vorangegangenen Duelle. Er würde wahrscheinlich einer Mischung aus Yugi und seiner selbst gegenüberstehen. Kaibas virtuelle Klone, die er zum trainieren benutzte, waren keine Gegner mehr für ihn, doch sein bisheriges Meisterwerk, daran glaubte er fest, würde eine Herausforderung darstellen, und das würde er genießen.

Monolog mit Dialog

Ich saß nachdenklich in der Limousine, die uns zum Hotel brachte. Mein Blick war aus dem Fenster gerichtet, während ich Mokuba und Kaiba ausblendete, die beide noch einmal die letzten Details der Präsentation durchgingen. Mir geisterte etwas im Kopf herum, eine Idee, ein Gedanke. Was, wenn Kaiba wirklich Recht hatte? War ich wie er? Ein skrupelloser Eisklotz, der sich daran ergötzte, seine Feinde winseln zu sehen?
 

„Stellst du dir diese Frage wirklich?“, fragte mich Mahad und erschien lächelnd neben mir.
 

„Du nicht?“
 

Der Geist schüttelte leicht seinen Kopf. „Nein, ich stelle mir diese Frage nicht. Weder du noch ich sind wie Kaiba. Es mag zwar sein, dass ihr gut miteinanderauskommt, doch am Ende unterscheidet ihr euch wie Tag und Nacht.“
 

„Mahad, ich würde dir so gerne glauben, aber, seine Worte, tief in meinem Inneren spüre ich, dass sie einen wahren Kern enthalten.“
 

„Wie meinst du das?“
 

Ich hob die Schultern ein wenig an. „Wir kämpfen wirklich aggressiv. Wie oft haben wir die Exodia wirklich gebraucht? In den meisten Fällen zertreten wir unseren Gegner mit starken Monstern. Ich schone Joey, genauso wie du, weil ich ihn nicht noch mehr bedrücken möchte, als ohnehin schon.“
 

Der Ägypter schob seine Robenärmel ineinander und bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick. Ich konnte aus seinen Augen, die den meinen so sehr glichen, herauslesen, dass Kaiba doch Recht hatte. Wir waren ihm sehr ähnlich geworden. Natürlich hätten wieder viele Menschen einen hohen Preis bezahlt um Seto Kaiba zu gleichen, nur ich nicht.
 

„Du liebst Joey, oder?“
 

Ich nickte bejahend auf diese Frage.
 

„Denkst du, dass Kaiba es tut?“
 

Wie absurd. Kaiba liebte niemanden, vielleicht sich selbst, und dann Mokuba, aber Joey sicher nicht. Ich hatte eher das Gefühl, dass sich der CEO in mir verwirklichen wollte. Ich verstand sogar seine Taktik für das Battle City Turnier – er ging davon aus, dass ich mit den Raritätenjägern fertig wurde, aber nicht mit ihm. Kalt und berechnend wie eh und je.
 

„Aber?“, bohrte mein früheres Ich nach.
 

„Warum hat er Joey geholfen? Aus reiner Gefälligkeit mir gegenüber? Kaiba hätte auch irgendjemand anderen für seine Abstimmung verwenden können. Warum wohne ich bei ihm? Weil Mokuba seinen Kopf durchgesetzt hat? Wohl kaum.“
 

„Glaubst du denn, dass in Kaiba ein Funken Gutes steckt?“, fragte der Ägypter sanft lächelnd.
 

„Ja“, antwortete ich ohne zu zögern. „Yugi und ich glauben daran. Er hat damals beim Battle City Turnier nicht umsonst seine Karte an Yugi abgegeben. Auch wie er mit Mokuba umgeht, oder mit mir. Ich glaube, dass Seto Kaiba tief in seinem Herzen ein guter Mensch ist.“
 

Hatte ich das wirklich gesagt? Mahads leisem Glucksen nach zu urteilen waren diese Worte wirklich über meine Lippen gekommen. Ich wusste nicht einmal woher ich diese Zuversicht nahm. Klammerte ich mich an diesen Wunsch, weil ich dadurch hoffte, selbst auch ein guter Mensch zu sein? Belog ich mich selbst? Nein, denn ich war auch schon vorher von Kaibas gutem Geist überzeugt gewesen.
 

„Kann es nicht vielleicht sein, dass du diesen guten Kern in Kaiba wieder wachgerufen hast?“
 

Ich lachte innerlich auf. Ich und Kaibas guten Kern wecken? Das war absurd. Wenn das jemand konnte, dann Yugi. Zu Yugi sah der CEO auf, eiferte ihm nach. Nur der König der Spiele war seiner würdig. Diese Duelle genoss er.
 

„Er könnte auch deine Nähe genießen“, gab Mahad zu bedenken.
 

„Er genießt deine Nähe, wenn du dich mit ihm duellierst, und das auch nur eventuell. Ich bin uninteressant für ihn, wahrscheinlich genauso wie Yugi ohne den Pharao.“
 

Das Lächeln des Geistes wurde breiter: „Du vergisst, dass sowohl der Pharao, als auch ich, nicht ohne euch existieren können. Ihr seid wir und umgekehrt. Wir sind eins. Wenn Kaiba den Pharao vergöttert, dann tut er das Gleiche mit Yugi, wenn er mich respektiert, dann respektiert er auch dich. Denke einmal nach: Habe ich dich jemals geführt, als du mit Kaiba verbal aneinandergeraten bist?“
 

Nun, das hatte Mahad wirklich nicht. Er war zwar omnipräsent, hatte mir Mut mit seiner Präsenz gemacht, doch es waren meine Worte und Taten gewesen, die Kaiba schlussendlich in seine Schranken verwiesen hatten. Er hatte Mokuba mir anvertraut, und der kleinere Kaiba liebte mich. Wir spielten miteinander, ich war es, der ihm bei Serenity unter den Arm griff, bei dem er manchmal im Bett schlief.
 

„Du musst aufhören uns als separate Existenzen zu betrachten. Wir sind eins, körperlich wie geistig. Ich bin du. Wenn du das verstanden hast, wie der Pharao und Yugi es tun, dann sind wir unschlagbar.“
 

„Können wir Kaiba dann besiegen?“, fragte ich nach einer Weile des Schweigens. Tausende Gedanken umkreisten mich. War es wirklich der Schlüssel zum Sieg mit Mahad vollkommen zu verschmelzen? Das klang so absurd in der heutigen Zeit. Ein uralter Geist begleitete mich auf Schritt und Tritt. Solche Märchen hätte ich nicht glauben können, wäre der Ägypter nicht tatsächlich gerade in diesem Moment neben mir gesessen.
 

„Natürlich, aber du musst es auch wollen und daran glauben.“
 

Ich hatte aber riesige Angst. Kaiba war ein Profi, mehr noch, die unangefochtene Nummer eins neben Yugi. Niemand konnte ihm das Wasser reichen. Entgegen meiner großspurigen Worte von vorhin rutschte mir das Herz in die Hose, wenn ich an Kaiba dachte, wie er, beschützt von seinem Ultradrachen, über mich lachte. Dann war da noch die Aussicht, mich mit ihm zu messen, wenn er einen Gott kontrollierte.
 

„Ich an deiner Stelle hätte auch Angst. Du bist unfreiwillig ein Teil des Schicksals geworden. Von deinen Entscheidungen hängt so viel ab. Wenn du versagst, versagt vielleicht der Pharao und alles war umsonst.“
 

Ich seufzte innerlich: „Denkst du denn, dass Kaibas Größenwahn so schlimm ist? Ich meine, es geht nur um drei Karten und ein Spiel.“
 

Natürlich war das alles eine Untertreibung. Ich bewegte mich längst in Kreisen, für die Duel Monsters nicht mehr nur ein stupides Kartenspiel war. Hier ging es, wenn ich meinen Freunden glauben durfte, um Menschenleben. Die Raritätenjäger waren bereit über Leichen zu gehen. Sie glaubten mehr an Visionen und Prophezeiungen als ich es tat. Dann war da noch die Tatsache, dass man mir aufbürdete auch einen Gott zu bändigen. Was, wenn ich der Aufgabe einfach nicht gewachsen war? Ich konnte die Kontrolle verlieren und uns alle verdammen.
 

„Das wirst du aber nicht. Du hast bereits mehrfach bewiesen, dass du ein gutes Herz und einen starken Willen besitzt. Stelle dein Licht nicht immer unter den Scheffel.“
 

Mahads Worte munterten mich tatsächlich ein wenig auf. Die Zeit bis zum Hotel war durch unser Gespräch wie im Flug vergangen. Wir logierten natürlich in einem der besten Häuser der Stadt. Meine Aufgabe beschränkte sich darauf, mich mit Mokuba zu unterhalten, während Kaiba uns eincheckte. Es wunderte mich ehrlich gesagt, dass er sowas selbst machte.
 

„Hey David, was hast du?“, riss mich Mokuba aus meinen Gedanken, als er an meinem Ärmel zupfte.
 

„Ah, nichts, ich bin nur ein wenig nervös, das ist alles.“ Mein gespieltes Lächeln kaufte mir der kleine Wirbelwind wohl nicht so ganz ab.
 

„Wegen der Präsentation?“
 

„Eher wegen dem Turnier.“
 

Der Schwarzhaarige grinste breit. „Angst davor, den Hauptpreis zu gewinnen?“
 

„Du träumst ja wohl“, schmunzelte ich.
 

„Oder du. Ich habe Seto schon lange nicht mehr so euphorisch erlebt. Das wird das Turnier des Jahrhunderts, das sage ich dir.“
 

Die Zimmer entpuppten sich als den Standard, den ich auch von Kaibas Villa gewohnt war. Zwei Badezimmer, ein riesiges Doppelbett, ein noch größerer Fernseher, sogar an eine Minibar war gedacht worden.
 

„Morgen um elf Uhr beginnt die Präsentation, das heißt wir müssen um zehn Uhr losfahren“, verabschiedete sich Kaiba und ließ mich damit alleine.
 

Jeder von uns hatte ein eigens Zimmer bekommen. Ich war also dementsprechend ungestört. Den restlichen Nachmittag verbrachte ich mit dem Sortieren meines Decks und einem anschließenden gedanklichen Duell gegen mein früheres Selbst. Ich schrieb noch kurz mit Yugi über die Präsentation morgen, der mir noch einmal Alles Gute wünschte, bevor ich das Smartphone beiseitelegte und an die Decke starrte.
 

„Denkst du an Joey?“, fragte mich Mahad, der am Fußende meines Bettes saß.
 

„Weißt du, ich habe extrem Schiss davor, mich mit Joey zu duellieren.“
 

Der Geist bettete seine Hände im Schoß und bestaunte die Skyline der Stadt. Zum ersten Mal schien auch der sonst so wortgewandte Ägypter nicht gleich eine Antwort zu finden. Das Argument, Joey habe sich schließlich im Königreich der Duellanten mit Yugi duelliert, zählte nicht. Ich war nicht Yugi, wir waren nicht nur Freunde, sondern ein Paar. Außerdem war Joey zu dem Zeitpunkt noch nicht so geistig instabil gewesen wie heute.
 

„Würdest du aufgeben, wenn du Joey im Finale gegenüberstündest?“
 

Ich hatte lange über diese Frage nachgedacht. Konnte ich mir das überhaupt leisten? Würde es Joey nicht enttäuschen, wenn ich nicht mit voller Kraft kämpfte? Mein Freund wollte keine Almosen. Er war stark, tief in seinem Inneren, stärker als ich.

„Nein“, antwortete ich entschlossen.
 

„Warum zögerst du dann noch?“
 

Ich zögerte, weil mir dieser Weg nicht richtig erschien. Wenn Kaibas Worte nicht bloße Lügen waren, dann konnte ich mit einem Sieg Joeys Geist komplett zerstören. Ra und der Milleniumsring, dazu noch eine Niederlage im Duell, er würde sich von mir abwenden. Seine ganze Existenz war an drei Personen geklammert, und die, die er am meisten liebte, versetzte ihm den Gnadenstoß. Das war einfach nicht fair.
 

„Du glaubst nicht, dass Joey dieser Aufgabe gewachsen ist?“
 

Ich schüttelte den Kopf und blinzelte einige Tränen weg. Damals in der VR hatte ich schon geglaubt ihn verloren zu haben, doch dieses Mal, da war es nicht ein eifersüchtiges Mädchen, das ihn aus der Fassung brachte, sondern ich. Mein Gefühl sagte mir, dass ein Duell mit Joey unvermeidlich war. Egal wie dieses ausging, einer von uns würde enttäuscht sein.
 

„Du vergisst, dass Joey in der Lage war, sogar Ras Angriff zu widerstehen.“
 

Da war natürlich etwas dran. Yugi hatte gemeint, dass keiner damit gerechnet hatte, nicht einmal Kaiba. Dem direkten Angriff eines Gottes zu widerstehen, war schon eine Leistung für sich. Den Sieg dabei auch noch um Haaresbreite nicht zu erringen – der Wille meines Freundes war, trotz der schlimmen Erlebnisse in seiner Vergangenheit, nicht zu brechen gewesen.
 

„Glaube ein wenig mehr an Joey. Er besitzt nicht nur einen starken Willen, sondern auch ein aufrichtiges Herz. In den Duellen, die er bisher ausgefochten hat, gewann er stets durch diese beiden Dinge die Oberhand.“
 

Mahad lächelte mir aufmunternd zu. Seltsamerweise beruhigten mich die Worte des Geistes. Yugi hatte diesen schweren Schritt bereits mehrmals getan: Im Königreich der Duellanten, dann, als Joey besessen war und im Finale, als ihn Marik ins Reich der Schatten verbannt hatte. Mein bester Freund hatte damals nicht gezögert. Warum also sollte ich es tun?
 

„Diese Einstellung gefällt mir schon eher.“
 

Wir würden einfach unser Bestes geben. Dieses Kartenspiel hatte aus Joey mehr herausgekitzelt, als Schule und Freunde über Jahre. Er kämpfte für seine Lieben, zu denen nun auch ich zählte, und er glaubte an sich. Trotz dem Terror zuhause, den ärmlichen Verhältnissen, seinen Schwierigkeiten in der Schule, hatte Joey nie aufgegeben.
 

„Weißt du, Mahad, ich glaube allmählich, dass Joey eine dieser Karten verdient hätte, nicht ich.“
 

Der Geist lachte leise: „Es geht nicht darum, wer sie verdient, sondern wer dazu auserkoren ist, sie zu führen. Joey wäre sicher prädestiniert dafür, aber sie wird in unseren Händen besser aufgehoben sein. Zumal du dir noch nie eine essentielle Frage gestellt hast.“
 

Ich blinzelte mein Gegenüber verwirrt an. Welche Frage denn?
 

„Was, wenn du mit Joey im Finale stehst? Glaubst du, ihr ergänzt euch so gut wie du dich mit Kaiba oder Yugi?“
 

Würden wir das? Konnte ich mich wirklich auf Joey verlassen? Gerade, wenn so viel davon abhing? Unweigerlich lächelte ich: Natürlich. Auch wenn seine Spielweise manchmal chaotisch wirkte und mit Glück zu tun hatte, so war er ein verlässlicher Duellpartner. „Nein“, korrigierte ich mich geistig – er war meine große Liebe. Mein Freund besaß eine Willenskraft, die sogar jene von Yugi in den Schatten stellte. Mit ihm an meiner Seite konnte ich sowieso nicht verlieren.
 

„Wie ich sehe, hast du sie beantwortet.“ Mahad verblasste und ließ mich im Hotelzimmer alleine.
 

Der Morgen konnte kommen, genauso wie das Duell und auch die Abstimmung. Warum hatte ich überhaupt gezweifelt? Lächelnd dachte ich an Joey, Yugi, Tea, Duke, Mokuba, Tristan – mit solchen Freunden, da konnte gar nichts schief gehen. Dazu hielt Kaiba noch seine Hand über mich; ich würde es ihm nicht leicht machen im Finale und ich würde den Pharao bei der Erfüllung seines Schicksals unterstützen. Zum ersten Mal fühlte ich mich wirklich stark, auch ohne Mahad. Ich ballte die Faust und betrachtete mich im Spiegel gegenüber vom Bett. Da war es wieder, das Feuer in meinen Augen, wie ich es schon bei Yugi und Kaiba beobachten durfte, wenn sie sich duellierten. Ich war nicht zu schwach um in dieser Liga mitzuspielen; ich tat es längst.
 

„Freunde“, sagte ich laut und nahm mein Deck in die Hand. Das Herz der Karten würde mich nicht im Stich lassen, genauso wenig wie meine Freunde. Was auch passiert, nur der Beste gewinnt, doch wir würden immer Freunde bleiben. Nichts konnte unsere Clique auseinanderbringen. Nichts konnte mich von Joey noch einmal trennen. Ich werde diese Götterkarte in die Finger bekommen und sie dazu nutzen, um Yugi zu pushen. Wir werden diese Raritätenjäger endgültig besiegen und für Ruhe sorgen. Ich würde mit Joey glücklich sein, und das für immer.

Präsentation mit unerwartetem Ausgang

Ich wurde unsanft durch Mokuba geweckt, der sich auf mich geworfen hatte. So gerne ich den kleinen Frechdachs auch mochte, so gerne hätte ich ihm gerade in diesen Momenten aus dem Zimmer geworfen. Schlaf war ein kostbares Gut, und ich hasste es, wenn man mich aus meinen Träumen riss.
 

„Aufwachen!“, trällerte der Schwarzhaarige. So viel Energie am Morgen drehte mir den Magen um.
 

„Du hast ja wohl einen Vogel“, stöhnte ich und rieb mir die Augen. Ein Blick auf mein Smartphone verriet mir, dass ich noch eine gute Stunde hätte schlafen können. Eine ganze Stunde Schlaf, dahin, einfach so. Insgeheim glaubte ich, dass die Kaibabrüder an Schlafstörungen litten. Beim CEO war ich mir sicher: Diesen Menschen hatte ich noch nie ein Nickerchen machen sehen. Seto Kaiba glich einer Maschine, getrimmt drauf, Höchstleistungen zu bringen.
 

„Nein, habe ich nicht!“
 

Ich war da zwar anderer Meinung, aber der Morgen war sowieso schon versaut. Da konnte ich mich auch gleich daran machen, mich anzuziehen und frühstücken zu gehen. Als ich aufstehen wollte, hielt mich Mokuba zurück. Einen fragenden Blick meinerseits später, rückte mein kleiner Bruder mit der Sprache heraus.
 

„Serenity kommt wohl auch zu der Präsentation“, nuschelte er.
 

„Weiß denn dein Bruder davon?“ Die Frage hätte ich mir auch sparen können.
 

„Nein.“
 

„Du hast ein Talent“, brummelte ich und nickte dann. „Wenn er dir den Kopf abreißen will, schiebe es auf mich.“
 

Ich ächzte unter der stürmischen Umarmung, mit der mich Mokuba bedachte.
 

Nach dem Frühstück, das ich alleine zu mir genommen hatte, zog ich mich an. Kaiba hatte mir einen passenden Anzug besorgt. Woher denn der CEO meine Maße hatte, wollte ich gar nicht wissen – das Teil passte jedenfalls wie angegossen. Schmucklos elegant, in schwarz gehalten, mit weißem Hemd. Einzig die Krawatte ließ ich weg; das war nicht mein Stil. Ich schob mein Smartphone in die Innentasche des Sakkos und ging nach draußen, wo ich bereits erwartet wurde.
 

„Ein Kompliment an meinen Schneider, er hatte Recht“, kommentierte der Braunhaarige mein Auftreten. Die fehlende Krawatte überging er wohl einfach. Er selbst trug seinen üblichen weißen Mantel mit Rollkragenpulli und der Halskette, die Mokubas Foto beherbergte.
 

„Womit?“, fragte ich und zog eine Augenbraue in die Höhe.
 

„Dass dir schwarz stehen würde.“
 

„Wie darf ich das verstehen?“
 

Kaiba schmunzelte: „So wie ich es gesagt habe.“ Der CEO warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr, bevor er mir bedeutete, ihm zu folgen.
 

„Wenn du mich anmachen willst, dann muss ich dich enttäuschen“, antwortete ich, als wir in den Aufzug stiegen.
 

„Als ob ich das nötig hätte“, entgegnete Kaiba eiskalt. Punkt für ihn.
 

Ich beobachtete meinen Gönner aus den Augenwinkeln heraus. Da stand er wieder, Kaiba, wie ich ihn gewohnt war. Seine Haltung strahlte Ruhe und Eleganz aus. Eine Aura der Ehrfurcht umgab ihn, und doch – ein kleiner Teil von mir bemerkte, dass er anders geworden war. Nichts würde den eiskalten Geschäftsmann ausmerzen können, den er darstellte, genauso wenig den narzisstischen Duellanten, aber da war mehr. Vielleicht hatte ich tatsächlich seinen guten Kern wieder wachrufen können?
 

Mokuba, in einen weißen Anzug mit rosa Hemd gekleidet, wartete bereits im Wagen auf uns. Eine Unmenge an Zetteln bedeckte ihn und seine Sitzhälfte, während er am Laptop herumtippte. Er wirkte weder nervös, noch angespannt, sondern eher in die Arbeit vertieft.

Kaiba und sein kleiner Bruder kümmerten sich um die letzten Details, während ich meinen Blick aus dem Fenster warf. Nach dieser Präsentation würde ich mich nicht mehr vor dem Turnier drücken können. Außerdem standen noch einige Probleme ins Haus: Wie würde sich Joey inzwischen eingelebt haben? Besser noch als zuvor, oder würde er seinen Vater vermissen? Wie ging es wohl Yugi, meinen Großeltern, den Freunden zuhause? Fragen über Fragen, die ich fürs Erste beiseiteschob. Das Hier und Jetzt verlangte meine volle Aufmerksamkeit.
 

„Du sagst einfach, was dir gut gefallen hat, und was weniger gut, ja?“, riss mich Mokuba aus meiner kleinen Gedankenwelt.
 

„Natürlich“, nickte ich und lächelte. Auch wenn Kaiba stoisch anmutend neben seinem Bruder saß, so hatte er es mir ermöglicht, einigermaßen ruhig dem Termin entgegenzufiebern. Es würde sicher Blitzlichtgewitter geben, und man würde mich mit Fragen löchern, aber, der CEO hatte mir das Gefühl gegeben, nichts falsch machen zu können. Dieses Faktum alleine war schon außerordentlich kostbar.
 

Wir warteten hinter einem großen Vorhang. Draußen mussten tausende Menschen sitzen, die alle darauf warteten, dass Kaiba sein neuestes Spiel präsentierte. Man hörte Stimmengewirr, gepaart mit der Ankündigung des Moderators, eine lebende Legende begrüßen zu dürfen.

Als der Familienname Kaiba fiel, brach die Menge in ein ohrenbetäubendes Jubeln aus. Ein Soundtrack aus dem Game wurde abgespielt, während der Vorhang langsam nach oben gezogen wurde. Metall schlug auf Metall und das Knistern von Feuer war zu hören. Man spielte wohl die Intro-Sequenz ab.
 

Als wir endlich die Messeteilnehmer zu sehen bekamen, wurde ich fast blind wegen des Blitzlichts, das auf uns einprasselte. Mit Mühe wiederstand ich dem Drang, meine Augen mit der Hand abzuschirmen. Sie würden sicher gleich aufhören, spätestens wenn Kaiba zu sprechen begann. Tatsächlich setzte sich dieser auch in Bewegung, während es meine Stimme war, die die Halle erfüllte.
 

„Ich bin hier, um dieses Land von der Dunkelheit zu befreien, die es seit Jahrhunderten verzehrt.“
 

Zugegebenermaßen, mein Englisch war nicht komplett akzentfrei, aber es hatte für die Synchronisation wohl gereicht. Das Tosen der Menge wurde lauter, als sich die dunkle Leinwand erneut erhellte und den Schwarzen Magier zum Vorschein brachte. Dieser öffnete seine Augen, in denen dunkelviolette Flammen brannten.
 

„Meine Aufgabe ist erst erfüllt, wenn der Herr der Drachen vor mir kniet und jene Wunden verheilen, die sein Tun hinterlassen haben.“
 

Dann erschienen hinter dem Schwarzen Magier dutzende andere Duel Monsters. Der Flammenschwertkämpfer, Elementarheld Neos, das Schwarze Magiermädchen, der Angriffs-Ninja, Orgoth der Unbarmherzige – immer mehr füllten das Bild.
 

„Wer wirst du sein? Held oder Verräter? Was wirst du sein? Wem wirst du dienen?“ Mokuba hatte ebenfalls tolle Arbeit geleistet. Seine jugendliche Stimme verlieh dem durchaus mittelalterlich angehauchten Flair den gewissen Touch.
 

Das Bild wechselte und der Spieldrache der Harpyien, der Schwarze Rotaugendrache und ein Weißer Drache mit Eiskaltem Blick bäumten sich brüllend hinter einer vermummten Gestalt auf, die höhnisch lachte. Damit verblasste die Leinwand auch schon und gab Kaiba grünes Licht, der gleich mit seiner Einführung begann.
 

„Eine neue Ära der Videospielindustrie ist angebrochen. Was früher noch auf dem Bildschirm passierte, kann heute live erlebt werden. Die bahnbrechende Technologie der Kaiba Corporation hat es ermöglicht, virtuelle Welten so real zu erschaffen wie noch nie. Ich präsentiere Virtual Duel Monsters!“ Passend dazu streckte der CEO den Arm aus und deutete bedeutungsschwanger hinter sich, wo die ersten Gameplayszenen abgespielt wurden. Die Menge tobte erneut.
 

„Zum ersten Mal ist es möglich, sich komplett in das Spielgeschehen einzuklinken. Jeder Fingerzeig, jedes Blinzeln, sogar jeder Atemzug wird vom System erfasst und in die holografische Welt projiziert. Sie schreiben die Geschichte und schlüpfen dabei in die Rolle eines Ihrer Lieblingsmonster. Egal ob Schwarzer Magier oder Flammenschwertkämpfer – die Möglichkeiten sind schier grenzenlost. Dazu lockt eine interaktive Welt, die auf Sie, Ihre Handlungen und Ihren Charakter reagiert. Die Handlungsstränge sind zwar gegliedert, um den roten Faden aufrechtzuerhalten, doch am Ende entscheiden Sie, wahlweise gemeinsam mit Ihren Freunden, wie sich dieses Universum entwickelt.“
 

Kaibas Vortrag zog sich über eine halbe Stunde hin, in der ich neben Mokuba stand und einfach zuhörte. Noch genoss der CEO die volle Aufmerksamkeit der Meute, doch das würde sich bald ändern. Ich wartete nur auf mein Stichwort. Mein kleiner Bruder suchte inzwischen vehement nach jemandem in der Menge. Ich musste mir ein Schmunzeln verkneifen. Serenity würde sich sicher bemerkbar machen.
 

„In dieses Projekt waren auch unbekannte, neue Gesichter eingebunden, um das Spiel sowohl fordernd, als auch einsteigerfreundlich zu machen. Dadurch, dass eine aktive Nähe zu Gamern, wie auch Synchronsprechern bestand, konnten wir zahlreiche Verbesserungen vornehmen und unser Team präsentiert mit Stolz die Früchte unserer Arbeit. Um zu zeigen, dass die Kaiba Corporation mutig neue Wege beschreitet, bitte ich nun den Synchronsprecher des Schwarzen Magiers, wie auch dessen geistigen Vater, Herrn David Pirchner, einige Worte an Sie zu richten.“
 

Kaiba trat zurück und nickte mir zu. Das war mein Stichwort gewesen. Nervosität machte sich in mir breit, die ein wenig durch Mahads beruhigende Präsenz gelindert wurde. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich vor tausenden von Menschen sprechen, ich, ein unbedeutender Austauschschüler. Ich wollte fast kneifen, doch dafür war es zu spät: Kaiba hatte sich so um mich bemüht, dass ich es ihm schuldete, den Erfolg von Virtual Duel Monsters zu gewährleisten.
 

Ich räusperte mich leise, was mir die volle Aufmerksamkeit der Journalisten, Reporter und Besucher einbrachte. Ein letzter Blick zu Mokuba, der mir zulächelte und dem CEO, der mich mit einem Nicken bedachte, und ich begann zu sprechen.
 

„Virtual Duel Monsters – Personalisiere, Kämpfe, Zerstöre. Das ist ein recht imposanter Titel für ein Game, doch die findet man ehrlich gesagt zuhauf. Wie viele von Ihnen sind schon mit großen Erwartungen in den Laden des Vertrauens gegangen, haben über das Internet bestellt oder geschenkt bekommen, was Sie sich so gewünscht haben: Ein gutes Computerspiel, Wie viele sind aber enttäuscht worden? Ich erinnere mich noch an genügend verpatzte Geburtstage und Weihnachtsfeste, wo ich mein Geschenk am Liebsten in den Müllhäcksler geworfen hätte.“
 

Die Menge lachte und klatschte, was mich ein wenig verunsicherte. Hatte ich es schon versaut? Ein dezenter Blick zu den Kaibabrüdern ließ mich erleichtert ausatmen. Mokuba selbst grinste breit und der CEO hatte die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln erhoben. Bestärkt durch diese Rückendeckung drehte ich mich um und fuhr fort.
 

„Nun könnte ich das Blaue vom Himmel herablügen, dass dieses Game wahrlich jegliche Erwartungen erfüllen wird und unzählige Stunden in der Virtuellen Welt sich auszahlen werden. Das stimmt aber so nicht; ein Spiel zu erschaffen, welches wirklich jeden Geschmack trifft, ist unmöglich. Ich glaube aber zu behaupten, dass Virtual Duel Monsters für Anhänger des Kartenspiels, Rollenspielfans oder einfach nur Genreliebhaber von Kämpfen und mittelalterlichem Flair, auf ihre Kosten kommen werden.“
 

Hinter mir erhellte sich die Leinwand wieder. Ich wusste ohne hinzusehen, dass sich der Schwarze Magier aus dem Nichts schälte und man ihn anpasste. Augen, Nase, Schultern, Brust, Körperbau. Wir hatten ein wenig geprobt, auch wenn ich frei reden durfte – Kaiba wollte, dass ein roter Faden in der Präsentation vorhanden war.
 

„Zuallererst einmal: Die Personalisierungsmöglichkeiten sind gigantisch. In keinem Game zuvor habe ich so viel Zeit damit verbracht meinen Charakter zu erstellen. Das schafft ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit dem Avatar, der Sie durch die Abenteuer begleiten wird. Ganz Mutige können natürlich ihr eigenes Gesicht als Vorlage nehmen – die Software erkennt Ihre Gesichtsstruktur und verschmilzt diese dann mit dem jeweiligen Monster.“
 

Langsam nahm der Schwarze Magier meine Gesichtskonturen an. Augenfarbe, Lidform, Haarfarbe, Nase – am Ende stand da ein nahezu perfekter Klon, in Gestalt einer meiner Lieblingskarten.
 

„Das alleine reicht aber noch nicht. Ausrüstung, Kleidung, Farbe der Schuhe – Sie können wirklich alles nahezu problemlos verändern. Bis ich wirklich ins Game einsteigen konnte, sind drei Tage vergangen. Das lag nicht an einem unübersichtlichen Charaktereditor oder Bugs, sondern einfach an der Tatsache, dass ich meinen Avatar bis ins kleinste Detail anpassen konnte und auch wollte. Perfektionisten sollten viel Zeit mitbringen, und vielleicht ihren Partnern sagen, dass sie die nächsten Tage im Zimmer verbringen werden.“
 

Wieder schallendes Gelächter. Ehrlich gesagt machte mir das sogar ein wenig Spaß. Die Nervosität ließ ein wenig nach.
 

„Vom Gameplay überzeugen Sie sich besser selbst. Außerdem wirkt es ein wenig falsch, wenn ich, als direkter Projektmitarbeiter, vom Spiel schwärme – ich bin da sicherlich nicht sonderlich objektiv. Es war eine große Freude, daran mitarbeiten zu dürfen, in doppelter Hinsicht: Die Synchronisationsarbeit machte großen Spaß, genauso wie das Mitentwickeln meiner Figur, des Schwarzen Magiers. Er wird, in der PC-Version, meine Handschrift tragen. Wenn Sie also gerne schnell und stark angreifen, dann ist das wahrscheinlich Ihr Charakter.“
 

Hinter mir spielten Kaiba und Mokuba einige Szenen aus dem Spiel ein.
 

„Schlimm waren wirklich nur die riesige Welt, in der man sich erst einmal zurechtfinden musste, und der bombastische Editor. Das mag sich komisch anhören, aber die große Auswahl an Möglichkeiten verwirrte am Anfang. Dazu kam noch die Tatsache, dass man blind auf die Welt losgelassen wurde. Meine ersten drei Anläufe landete ich im Maul eines Weißen Drachen.“
 

Die nächsten Szenen zeigten mich im realen Leben, wie ich fluchend (den Ton hatte man herausgeschnitten), auf das Gamepad einhämmerte. Daneben starb der Schwarze Magier durch Kaibas Lieblingsmonster.
 

„Daran haben wir aber gearbeitet und es geschafft, ein wirklich strukturiertes Spiel zu schaffen, welches gerade auf höheren Schwierigkeitsgraden enorm fordernd ist. Die Betonung liegt auf fordernd, nicht unfair – ich hasse nichts mehr, wie unfaire Bossgegner.“
 

Leben kam in die Menschenmenge, als jemand aufstand und seine Stimme erhob: „Und ich nichts mehr als die Kaiba Corporation und alles, was mit ihr verbunden ist.“
 

Irritiert wanderte mein Blick zu dem älteren, dicklichen Herrn mit Halbglatze, in braunem Sakko. Seine Worte trieften vor Hass und Abscheu. Das war so aber nicht geplant gewesen, oder? Wer war der Kerl? Ich sah zu Kaiba, der keine Miene verzog, sondern nur die Arme vor der Brust verschränkte. Mokuba hingegen flüsterte energisch in sein Headset.
 

„Wie lachhaft. Die Kaiba Corporation kümmere sich um ihre Mitarbeiter…“ Der Fremde wurde immer wütender. Unglücklicherweise war ich wohl auch ein Teil der Kaiba Corporation, die er so sehr hasste. Jedenfalls funkelte er mich zornig aus der dritten Reihe heraus an.
 

„Heute ist der Tag der Abrechnung gekommen, Kaiba. Sie und Ihre Firma werden untergehen, vergessen werden, wie wir.“
 

Mehrere Männer bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge. Wahrscheinlich das Sicherheitspersonal, welches den vorlauten Kerl rauswerfen würde. Die Leute rund um ihn herum wurden unruhig.
 

„Dieses Mal entkommen Sie nicht!“ Damit griff er an seine Uhr am Handgelenk und schlagartig wurde es dunkel in der Halle. Panik brach aus. Von den Zuschauerplätzen drangen Schreie und Gekreische. Eine riesige Masse an Menschen geriet in Bewegung, drängte sich wahrscheinlich zu den Ausgängen. Seltsamerweise wurden die Stimmen immer leiser und die Finsternis mächtiger. Was passierte hier? Ich hörte noch ein panisches „Nein!“ von Mokuba, bevor mich die Schwärze endgültig verschlang.

Angeklagt

Hatte ich geschlafen? Wo war ich? Warum brummte mir der Schädel so? War das alles nur ein schlechter Traum gewesen? Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Ein grelles Licht blendete mich. Reflexartig schützte ich mich mit meiner Hand. Wenn das ein Witz sein sollte, so war er ordentlich missglückt. In meinem Hotelzimmer war ich auch nicht mehr, und wenn, dann hatte man mein weiches Bett gegen einen harten Fliesenboden getauscht.
 

„Ah, der Angeklagte ist endlich wach“, hörte ich jemanden sagen. Angeklagter? Bitte was?

Nachdem sich meine Augen an die helle Umgebung gewöhnt hatten, stand ich vorsichtig auf und sah mich um. Ich war in einer Kulisse gelandet, die an einen Gerichtssaal erinnerte. Sämtliche Plätze waren leer, mit einer einzigen Ausnahme: Dem Richtestuhl.
 

„Das macht aber keinen guten Eindruck, bei seiner eigenen Verhandlung einfach umzukippen.“ Mein Gegenüber entpuppte sich als Mann mittleren Alters, mit Brille und kurzgeschorenen Haaren. Sein adrettes, strenges Auftreten wurde durch den dunkelblauen Smoking den er trug, noch verstärkt.
 

„Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“, fragte ich und sah mich erneut um. Eindeutig ein Gerichtssaal. Wie ich hierhergekommen bin, war mir ein Rätsel. Mehr noch beschäftigte mich aber die Frage, wer denn der Fremde war. Wischte mir Kaiba eins aus, dafür, dass ich mich nicht komplett für ihn verbiegen wollte? War das irgendeine Rachekation von Mei? War der Typ da vorne vielleicht ihr Vater?
 

„Oh, das hat Ihnen Kaiba gar nicht erzählt?“, gluckste der Anzugträger und schob sich die Brille ein wenig nach oben. „Mein Name ist Johnson und ich war früher die Rechtsvertretung der Kaiba Corporation.“
 

Was war er gewesen? Die Rechtsvertretung? Wahnsinnig interessant, aber was hatte das mit mir zu tun? Ich gehörte ja nicht mal zur Kaiba Corporation, zumindest nicht offiziell.

„Wenn Sie Geld von Kaiba wollen, oder eine erneute Anstellung, dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Der Mann ist mit dem Großteil seiner Angestellten wahrscheinlich noch schlimmer, als zu Ihren Zeiten.“
 

Johnson legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend. „Wie ich sehe, scheinen auch Sie eine gewisse Abneigung gegen Seto Kaiba zu verspüren. Zu schade, dass ich anderweitig Verwendung für Sie habe.“
 

„Zu schade, dass ich ganz ehrlich weder Zeit noch Nerven für irgendwelche Spielchen habe. Ich möchte wissen wo ich hier bin, und wo Kaiba und Mokuba sind.“ Mir riss langsam aber sicher der Geduldsfaden. Was bildete sich dieser Kerl überhaupt ein? Probleme mit Kaiba hatten genug Menschen; wenn die alle immer zu mir kommen würden, dann würde ich gar kein Privatleben mehr besitzen.
 

„Sie sind in der virtuellen Hölle, in der Kaiba und seine Freunde uns zurückgelassen haben.“ Johnsons Ton wurde zunehmend schärfer. Auf seiner Stirn bildete sich eine Furche während er mich ansah. Irgendetwas klingelte bei mir, nur konnte ich die Erinnerung nicht ganz wachrufen.

„Die Kaibabrüder sind in guten Händen, keine Sorge. Bald werden sie auf ewig in diesem Paradies verweilen dürfen, wie auch Ihre Wenigkeit. Dem Mädchen wird es ähnlich ergehen.“
 

Mädchen? Welches Mädchen? Außerdem gingen mich Kaibas Streitigkeiten mit ehemaligen Mitarbeitern, so geisteskrank wie diese auch sein mochten, nichts an. Dieser Johnson jedenfalls war komplett durchgeknallt.

„Mädchen? Da waren tausende Menschen. Welches Mädchen meinen Sie denn, Johnson?“
 

Der Gesichtsausdruck des Anwalts veränderte sich. Breit grinsend schnippte er mit den Fingern und eine Art Blase tat sich auf. Ich erkannte sofort, wen er meinte.
 

„Lassen Sie sie sofort gehen“, schrie ich und umgriff wütend die hölzerne Umrandung des Podiums, auf dem ich stand. Das war Serenity, die die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatte und vor irgendetwas kauerte. Die Angst war ihr von den Augen abzulesen.
 

„Nun, wir könnten uns ja darum duellieren“, schmunzelte Johnson amüsiert und schnippte erneut, was Joeys Schwester wieder verschwinden ließ. „Vielleicht habe ich ja auch noch anderweitig Verwendung für sie und ihre restlichen Freunde?“
 

Restlichen Freunde? Waren die anderen auch hier? Mir zog sich der Magen zusammen, wenn ich an Joey und Yugi dachte. Dabei waren die noch nicht einmal so ein großes Problem; was war mit Tea und Tristan? Wenn sie auch alle zu einem Duell herausgefordert worden waren… Dieser Johnson konnte aber auch nur einfach bluffen.
 

„Sie lassen mich jetzt besser gehen, und beenden diesen Unfug, bevor ich sauer werde“, knurrte ich und umklammerte die Umrandung so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Diese Situation, irgendetwas in meinem Inneren regte sich. Ich konnte den Gedanken nur nicht fassen. Irgendwer hatte mir hiervon schon einmal erzählt. Ganz sicher sogar. War es nicht Joey gewesen, der…?
 

„Mir schlottern schon die Knie“, höhnte Johnson und schüttelte den Kopf. „So läuft das nicht. Wir duellieren uns. Wenn Sie gewinnen, führe ich Sie zu dem Mädchen, wenn Sie aber verlieren…“ Der Anwalt legte eine Kunstpause ein. „Dann hole ich mir Ihren Körper.“
 

Der Typ wollte bitte was von mir? „Haben Sie einen Schaden, oder was ist mit Ihnen los? Meinen Körper? Als Anwalt werden Sie wohl genügend Geld beisammenhaben, um sich eine Schönheitsoperation leisten zu können. Außerdem bin ich 17 und Sie, keine Ahnung…älter als ich auf jeden Fall.“
 

„Keineswegs“, lachte Johnson lautstark. „Ich will diesen Ort verlassen, an dem ich so lange gefangen gewesen bin. Dazu brauche ich Ihren Körper.“
 

Der Typ konnte mir den Buckel runterrutschen. Ich wollte erneut aufbrausen, da schoss mir das Bild von Serenity durch den Kopf. Wenn ich mich mit ihm nicht duellierte, konnte er irgendetwas Schlimmes mit Joeys Schwester anstellen. Mir blieb also keine Wahl, eigentlich. Außerdem hatte ich noch einen Trumpf im Ärmel, von dem Johnson sicher nichts wusste.
 

„Also gut“, nickte ich und willigte ein. Kaum, dass ich die Worte ausgesprochen hatte, erschien auch schon eine Duel Disk an meinem rechten Arm. Sah zugegebenermaßen ein wenig schick aus, die Disk, kombiniert mit meinem Sakko. Ich griff in die Innenseite meiner Anzugsjacke und fischte mein Deck hervor. Warum hatte ich das überhaupt mitgenommen?

„Dann bringen wir es hinter uns.“
 

„Nicht so hastig“, hielt mich Johnson davon ab, meine ersten fünf Karten zu ziehen. „Sie müssen sich erst einen Deckmaster aussuchen.“

Was musste ich? Einen Deckmaster? Wozu? Außerdem, was brachte mir so ein Ding?
 

„Der Deckmaster stellt sowas wie den Anführer Ihres Decks dar. Er hält sich im Hintergrund und beliefert Sie mit Spezialfähigkeiten, kann aber auch als Monster aufgerufen werden. Wenn Sie das tun, und der Deckmaster wird zerstört, haben Sie automatisch verloren.“
 

Ich fächerte mein Deck auf und betrachtete es nachdenklich. Da waren mehrere Karten, die sich anboten. Der Herr der Drachen, mein Angriffs-Ninja, Garoozis… Ich entschied mich für einen altbewährten Freund.

„Ich wähle den Schwarzen Magier.“ Damit erschien neben mir auch schon meine Karte in Lebensgröße. In roter Rüstung stand er da, die Arme vor der Brust verschränkt, den Stab in der linken Hand haltend. Sein Blick war grimmig Johnson zugewandt, der nickte und sich hinsetzte.
 

„Ich trete als mein eigener Deckmaster an.“ Die Gestalt des Anwalts veränderte sich plötzlich. Aus dem zuvor noch schmächtig wirkenden Johnson war ein muskelbepackter Schrank geworden. War das eine…

„Der Richter!“, rief der Anzugträger theatralisch und griff zum bereitliegenden Holzhammer neben sich. Mit diesem klopfte er auf den Tisch und nickte mir zu. Beide zogen wir fünf Karten und das Duell begann.
 

„Da es mein Gerichtssaal ist, werde ich das Duell beginnen. Dieses Recht steht mir zu. Ich rufe auch gleich den Hysterischen Engel in den Zeugenstand. Sie wird dafür sorgen, dass Sie die Höchststrafe bekommen.“
 

Johnsons Monster entpuppte sich als lächerlicher Engelverschnitt im Anzug, der einen Kodex mit sich führte. Die Angriffspunkte betrugen 1.800, was eher Mittelmaß darstellte. Ein Blick auf meine Hand ließ mich zögern. Er hatte keine Karte verdeckt gespielt; so dumm konnte Johnson doch nicht sein, und ein solches Monster ungeschützt auf dem Feld stehen lassen. Ich atmete tief durch und schloss die Augen.
 

„Mahad?“, fragte ich in Gedanken nach meinem anderen Ich. Dieses antwortete prompt und wir tauschten die Positionen, sodass ich das Schauspiel als Zuschauer betrachten konnte. Der Milleniumsring unter meinem Hemd glühte kurz auf. Wahrscheinlich wäre ich alleine mit Johnson fertig geworden, doch sicher war sicher; es stand vielleicht Serenitys Leben auf dem Spiel, und ein kleiner Patzer konnte schon den Untergang bedeuten.
 

„Ich rufe die Rache des Schwertjägers auf“, sagte mein anderes Ich ruhig und legte die Karte auf die Duel Disk. Meine Züge glichen wieder denen Mahdas: Streng, aber gelassen. Dass ich innerlich bis zum Zerreißen angespannt war, sah man mir gar nicht an.

Die Monsterkarte erschien vor uns und ließ ihren Zweihänder kunstvoll durch die Luft schneiden. „Attacke“ rief Mahad und ließ unseren Schwertkämpfer den Gegner in zwei Hälften zerteilen. Mit einem lauten Schmerzensschrei verabschiedete sich Johnsons Monster ins digitale Nirwana.
 

„Dann bin ich wohl dran“, kommentierte dieser meinen Zug. „Ich spiele ein Monster im Verteidigungsmodus und beende damit die Runde.“

Auf dem Fliesenboden erschien eine verdeckte Karte. War das eine Falle? Hatte Johnsons Monster eine höhere Verteidigungsstärke als unser Schwertjäger? Warum machte er es uns so leicht?
 

„Ich rufe Garoozis im Angriffsmodus.“ Gesagt, getan. Neben der Rache des Schwertjägers erschien die geschuppte Eidechse, die vorfreudig ihre Axt in den Händen hin und herwarf. „Attacke, mein Schwertjäger!“

Wieder zerstörte unser Monster mühelos die gegnerische Karte. Da war doch etwas faul. „Und jetzt, Garoozis, greif den Richter direkt an!“

Der Alligator sprang in die Höhe, holte aus, und versenkte die doppelschneidige Axt tief in der Schulter des Richters, der vor Schmerz aufschrie. Die digitale Lebenspunkteanzeige neben meinem Gegner fiel auf 2.200 Punkte. Wir legten noch die Zauberhüte verdeckt ab und beendeten unseren Zug.
 

„Wie es scheint, sind Sie talentierter, als ich dachte“, schnaubte Johnson und zog eine neue Karte. „Es wird mir eine Freude sein, Ihren Körper in Besitz zu nehmen.“ Beiläufig spielte er die Heilige Elfe im Verteidigungsmodus. Leise singend erschien das weibliche Monster auf dem Feld und legte seine Hände zusammen, so als würde es beten. „Ich spiele außerdem noch eine Karte verdeckt und beende damit meinen Zug.“
 

Gut, die Heilige Elfe war ein mächtigeres Monster als die vorherigen, dennoch nicht unknackbar. Wir mussten nur die richtige Karte ziehen und darauf hoffen, dass unser Angriff durchging. Wenn wir Glück hatte, würde Johnson bald Geschichte sein.

Zu Mahads und meiner Enttäuschung entpuppte sich unsere nächste Karte als Fusionskarte. Das war ein Reinfall, doch daran konnten wir nichts ändern. Außerdem war Johnson nicht in der Lage, etwas gegen unsere Monster zu unternehmen.

„Ich passe“, sagte Mahad und verschränkte die Arme vor der Brust. Diese Selbstsicherheit, diese Eleganz – das war es, was Kaiba meinte. Obwohl wir uns um so viel duellierten, zeigte mein anderes Ich kein Anzeichen von Schwäche oder Unruhe. Außerdem überlegte keiner von uns, wie wir einem eventuellen Angriff von Johnson trotzen konnten. Die Zauberhüte waren nur schmuckes Beiwerk. Unsere Strategie war einzig darauf ausgelegt, den Gegner rasch zu eliminieren. Zwei Exodiateile hatten wir bereits – drei Stück noch, und das Spiel würde aus sein.
 

„Als Erstes aktiviere ich die besondere Fähigkeit meines Deckmeisters.“ Johnson streckte die linke Hand aus. „Für den Preis von läppischen 1.000 Lebenspunkten kann ich alle Monster auf dem Feld zerstören und Sie nehmen für jedes vernichtete Monster 500 Schadenspunkte.“
 

Eine starke Energiewelle ging von den Fingern des Richters aus und ließ unsere Monster in tausend Teile zerspringen. Mahad wirkte nach wie vor unbeeindruckt, doch tief in unserem gemeinsamen Inneren konnte ich spüren, wie er überrascht und zeitgleich ein wenig nervös wurde. Wir hatten noch immer keine Ahnung, was unser Deckmaster denn konnte, während Johnson so etwas aus dem Hut zauberte.
 

„Als Nächstes spiele ich ein Monster, den Vorhang der Finsternis.“ Wieder nur ein schwaches Monster. Das rote Tuch, aus dem zwei widerlich anmutende Arme ragten, besaß nur 600 Angriffspunkte. Hatte der Typ nicht gelernt, warum es notwendig war, starke Monster in seinem Deck zu haben?

„Ich aktiviere meine verdeckte Zauberkarte, Fusion, um meine Heilige Elfe und meinen Finsteren Vorhang zum Kamion-Zauberer zu verschmelzen.“
 

Wir hielten innerlich die Luft an. Wenn das jetzt ein starkes Monster werden würde, hatten wir ein Problem. Die Zauberhüte waren nutzlos ohne Monster, die wir darunter verstecken konnten. Johnson würde dieses Mal direkt angreifen können.

Die Fusion entpuppte sich als Monster mit 1.300 Angriffspunkten. Der Kamion-Zauberer war ein maskiertes Wesen mit rotglühenden Augen und einer Sense. Der blaue Umhang, der die rot-schwarze Rüstung des Monsters komplettierte, wurde von langem, buschigem, blondem Haar ein wenig verdeckt.“

„Meine nächste Kärte, finstere Gerechtigkeit, erlaubt es meinem Fusionsmonster gleich anzugreifen. Attacke!“
 

Der Kamion-Zauberer sprang in die Höhe und riss dabei die Sense über den Kopf. Als die Waffe auf uns niedersauste, hatte Mahad Mühe, nicht in die Knie zu gehen. Auch wenn wir physisch unversehrt waren, so konnte auch ich den brennenden Schmerz spüren, der uns für einen kurzen Augenblick lähmte. Meine besorgte Frage, ob wir denn tauschen sollten, wurde mit einem kaum merklichen Kopfschütteln abgetan.
 

„Finstere Gerechtigkeit verschafft mir außerdem 800 Lebenspunkte für jeden direkten Angriff, den ich gegen Sie ausführe. Das heißt, ich habe wieder 2.000 Lebenspunkte, während Ihre auf 1.700 gefallen sind.“

Da hatte der Anwalt leider Recht. Wenn ich richtig rechnete, konnte er das Späßchen mit seinem Deckmaster wiederholen und uns dann den Todesstoß versetzen. Außerdem wusste ich nicht, ob die Zauberhüte unsere Monster vor der Fähigkeit seines Deckmasters schützen würden.

„Ich spiele noch eine Karte verdeckt, und beende damit meinen Zug.“
 

Unsere nächste Karte stellte sich als der Herr der Drachen heraus. Ein gutes Monster, wenngleich auch schwach. Mit der Drachenruferflöte würden wir unser Rotauge rufen können; jetzt noch der Beauftragte der Dämonen und Johnson würde sein blaues Wunder erleben. Andererseits war es aber zu gefährlich, Johnson erneut angreifen zu lassen. Ich wog ab. Die Exodia zu verschleudern war nicht prickelnd, den Herrn der Drachen ebenso wenig.
 

„Ich spiele ein Monster im Verteidigungsmodus und aktiviere meine Zauberkarte die Zauberhüte!“ Mahad formte unsere Lippen zu einem angedeuteten Lächeln, während der verdeckte Herr der Drachen Schutz unter den Hüten fand. Wenn Johnson nicht gerade ein Hellseher war, würde uns das ein wenig Zeit verschaffen.
 

„Ich decke die Karte Suggestivfrage auf. Sie erhöht die Angriffspunkte eines jeden Fusionsmonsters um 800 Punkte. Außerdem greife ich den ganz rechten Hut an!“

Der Kamion-Zauberer sprang in die Höhe und zerschnitt zielsicher den Hut, der unseren Herrn der Drachen beherbergte. Schreiend zersprang dieser in tausend Teile und ließ uns schutzlos am Feld zurück. Die Angriffspunkte des Kamion-Zauberers waren zumindest wieder von 2.100 auf 1.300 zurückgesprungen.
 

„Glück gehabt“, schnaubte Mahad und zog die nächste Karte. Die Lichtschwerter! Das verschaffte uns zumindest etwas Ruhe.

„Ich spiele die Lichtschwerter! Ihr gleißendes Licht hindert Sie daran, für die nächsten drei Runden mit Ihren Monstern anzugreifen.“

Schützend schwebten die leuchtenden Schwerter in der Mitte des Feldes und hielten den Kamion-Zauberer, wie auch Johnson, auf Distanz.
 

„Ob das seine besondere Fähigkeit aufhält?“, fragte ich Mahad gedanklich, der nur mit den Schultern zuckte.

„Ich weiß es nicht, David. Mit etwas Glück finden wir das bald heraus. Ich habe einen Plan, doch wir müssen die richtigen Karten ziehen.“

Ging es darum nicht immer? Die richtigen Karten? Bisher hatte uns unser Deck aber nie im Stich gelassen.
 

„Eine Verzögerungstaktik. Das ist typisch, wenn sich der Angeklagte in die Enge gedrängt fühlt. Die Freiheit wird sie Ihnen dennoch nicht ermöglichen! Ich ziehe und…“ Johnson legte eine Kunstpause ein. Das war volle Absicht, um uns mürbe zu machen, ganz sicher. Mahad ließ sich dennoch nichts anmerken.

„Ich aktiviere meine Zauberkarte Topf der Gier und ziehe zwei weitere Karten.“ Na bravo, jetzt bekam Johnson noch mehr Munition gegen uns.

„Dann spiele ich die Zauberkarte Verstärkung der Armee, um einen weiteren Krieger in mein Blatt zu holen.“ Das hauerbewehrte Gesicht des Richters verzog sich zu einem grotesken Grinsen. „Wissen Sie auch warum?“

Wir sparten uns die Antwort.
 

„Ich fusioniere meinen mächtigen Armaill-Krieger und meinen Einäugigen Schilddrachen zu Dragona, dem Finsteren Ritter.“

Dieser erschien als Krieger mit Drachenschädelhelm, zwei gezackten Klingen und Drachenflügeln auf dem Feld. Die 1.200 Angriffspunkte würden bald aufgewertet werden, was ausreichte, um uns den Gnadenstoß zu versetzen.
 

„Ich spiele Gaia, den Ritter der Finsternis, im Angriffsmodus.“ Schnaubend schälten sich Ross und Reiter aus dem Nichts. Dort wo die Hufe von Gaias Pferd auf die Fliesen trafen, sprangen diese entzwei. Stolz stand unser Monster als Bollwerk zwischen Johnson und seinem Duo. Selbst mit den 800 Angriffspunkten zusätzlich kamen der Kamion-Zauberer und Dragona nicht an ihm vorbei.
 

„Dann wird es wohl Zeit, die besondere Fähigkeit meines Deckmeisters erneut zu aktivieren.“

Johnson tat das Gleiche wie vorhin. Ross und Reiter gingen wiehernd unter. Ich schrie innerlich. Da war unsere Verteidigungsstrategie dahin. Außerdem fielen unsere Lebenspunkte auf 1.200 herab. Warum hatte Mahad so etwas Unbedachtes getan?
 

„Vertrau mir“, kommentierte der Ägypter seinen Zug. Das war leichter gesagt als getan. Ich wollte Joey nicht unter die Augen treten, wenn ich Serenity an diesen Johnson verloren hatte.

Unsere nächste Karte war der Beauftragte der Dämonen. Wenn wir folgende Runde unser Rotauge zogen, dann hatten wir eventuell eine Chance. Johnson konnte seine Fähigkeit nicht noch einmal einsetzen, ohne sich selbst auszuschalten, und am Schwarzen Totenkopfdrachen kam nichts vorbei. Vom nächsten Zug hing alles ab.
 

„Ich spiele die Karte Rote Medizin, und erhöhe meine Lebenspunkte so um 500 Punkte.“ Johnson grinste nun über beide Ohren. „Das heißt, ich werde, sobald die Lichtschwerter verschwunden sind, angreifen können. Sie haben verloren. Zur Sicherheit aber, versetze ich meine beiden Monster noch in den Verteidigungsmodus.“
 

Mir rutschte das Herz in die Hose. Der Anwalt hatte Recht. Er würde wieder jegliche Monster auslöschen und angreifen können. Wir konnten maximal zwei Monster aufs Feld bringen, was nicht ausreichte, um ihm den Gnadenstoß zu versetzen. Johnson würde keinen Schaden nehmen, wenn wir angriffen, und dann unsere Monster einfach wieder zerstören. Ein schwaches Monster, und wir waren Geschichte. Obendrein war unsere nächste Karte nur der Topf der Gier. Ich konnte Mahads Bedauern spüren. Erstaunlicherweise war nicht einmal jetzt so etwas wie Angst im Ägypter zu fühlen.
 

„Es tut mir leid“, hauchte mein anderes Ich leise und ließ die Hände auf die hölzerne Umrandung sinken. Johnson lachte nur höhnisch und begann uns zu verspotten.

Das war doch unfair. Sein Deckmaster war fast unschlagbar, während unserer einfach nur dastand und wartete. Was war denn seine Spezialfähigkeit?
 

„Mahad, komm schon“, versuchte ich mein anderes Ich dazu zu bewegen, weiterzumachen. „Wir haben noch immer unseren Deckmaster, uns! Das da drüben sind wir. Es ist unmöglich, dass der Schwarze Magier uns im Stich lässt, dass wir uns im Stich lassen.“
 

„Ergeben Sie sich endlich Ihrem Schicksal, Angeklagter?“, riss Johnson uns aus unserer Gedankenwelt. Er war sicher zu gewinnen. „Ihr Deckmaster erwies sich als nutzlos, wie mir scheint.“
 

„Ich spiele…“, begann Mahad und griff nach der letzten Karte. „Den Topf der Gier.“ Endlich regte sich unser Schwarzer Magier. Das Monster nickte uns lächelnd zu und deutete mit seinem Stab auf die Zauberkarte.

„Magier, Magie – Zauberkarte“, zog ich gedanklich den Schluss. Johnson musste 1.000 Lebenspunkte zahlen, um seine Fähigkeit zu aktivieren, vielleicht mussten wir das auch? Was hatten wir schon zu verlieren?
 

„Und opfere tausend Lebenspunkte um die besondere Fähigkeit meines Deckmasters zu aktivieren.“ Der Schwarze Magier nickte erneut und drehte seinen Stab in der linken Hand, bevor er ihn in den Fliesenboden rammte. Knackend breiteten sich am ganzen Boden Risse aus, während die Zauberkarte zu leuchten begann.
 

„Nein!“, rief Johnson entsetzt.
 

Der Milleniumsring an unserer Brust glühte. Natürlich. Ich erinnerte mich jetzt. Yugi und Joey waren schon einmal hier gewesen, mehr noch – Joey hatte sich mit Johnson duelliert. Der Anwalt hatte bei diesem Duell gemogelt. Daher hatte er auch erkannt, wo unser Herr der Drachen versteckt gewesen war! Nun wussten wir auch ob der Spezialfähigkeit unseres Deckmasters.
 

„Ich darf nun vier Karten ziehen, statt zwei, Johnson“, lächelte Mahad. Der Schwarze Magier erlaubte uns, die Fähigkeit einer Zauberkarte doppelt zu nutzen. Das Lächeln des Ägypters wurde noch breiter, als er die gezogenen Karten erblickte.

„Ich habe gezogen, was ich brauche, um Sie zu vernichten, Johnson.“ Die Lichtschwerter verblassten, während wir unsere Karten zurechtlegten.
 

„Als Erstes rufe ich meinen Deckmaster aufs Feld.“ Der Schwarze Magier trat vor und verschränkte wieder die Arme vor der Brust.

„Nun nutze ich Monsterreanimation um meine Rache des Schwertjägers vom Friedhof zu holen.“

Rechts vom Schwarzen Magier erschien der Schwertkämpfer mit den gebleckten Zähnen erneut.

„Ich verschmelze mein Rotauge mit dem Beauftragten der Dämonen um den…“
 

Nun erbebte der ganze Gerichtssaal. Von der Decke rieselten Staub und kleine Steine. Zwischen mir und Johnson brach der Boden endgültig auf und hinterließ eine klaffende Spalte ins abgrundtiefe Nichts. Fliesensplitter stoben zur Seite, als unser Monster den ersten Fuß aus dem digitalen Nichts schob. Brüllend streckte es seine Schwingen aus und reckte den gehörnten Schädel gen Himmel.
 

„Schwarzen Totenkopfdrachen zu rufen“, beendete Mahad den Satz unter dem ohrenbetäubenden Brüllen unseres Champions, der zwischen Schwarzem Magier und Rache des Schwertjägers erschienen war. Der Drache nahm fast den gesamten Raum ein und starrte drohend auf Johnson hinab, der in seinem Stuhl immer kleiner zu werden schien.
 

„Zu guter Letzt, Johnson, aktiviere ich Copycat und kopiere Ihre Zauberkarte, finstere Gerechtigkeit.“

Unser Drache reckte den Kopf zur Seite und ließ eine kleine Rauchwolke aus seinem Maul entspringen.
 

„Jetzt, meine teuren Gefährten, vernichtet Johnson und dessen restliche Lebenspunkte.“
 

Der Schwarze Magier streckte seinen Stab in Richtung des Kamion-Zauberers aus. An der Kugel, die in die Stabspitze eingelassen worden war, bildeten sich schwarze Blitze, die auf das schreiende Monster übersprang. Kreischend verschwand das erste Hindernis.
 

Der Schwertjäger durchbrach mit einem mächtigen Hieb seiner Waffe die Verteidigung von Dragona. Dessen Klingen brachen in zwei Hälften, wie auch er selbst. Nun war der Zeitpunkt gekommen.
 

„Schwarzer Totenkopfdrache – geschmolzener Infernofeuerball!“
 

Brüllend öffnete der Drache sein Maul und richtete es auf Johnson. Die Krallen der Klauen bogen sich nach innen, während sich im Maul des Monsters ein orange-roter Feuerball bildete, dessen Zentrum eine lila Flamme beherbergte, die wie wild pulsierte. Mit einem Ruck schickte der Schwarze Totenkopfdrache die glühend heiße Feuerkugel auf ihren Weg, direkt auf Johnson zu, der noch schreiend die Hände vors Gesicht hielt.
 

Wir bedeckten unsere Augen mit der rechten Hand, während die unerträgliche Hitze alles wegzuschmelzen drohte; Johnson, den Gerichtssaal und wahrscheinlich auch diese verdammte virtuelle Realität. Ein kleiner Teil von mir genoss es, Johnson zu hören, wie er von den Flammen verschlungen wurde. Wenn der Schmerz wirklich real spürbar war, so wie zuvor, beim Angriff des Kamion-Zauberers, dann starb dieser Mistkerl wahrscheinlich gerade tausend Tode. Wir hatten gewonnen.

Die Dunkelheit in meinem Herzen (Yami no Deibiddo)

Ich übernahm wieder die Kontrolle über meinen Körper. Unsere Monster verharrten noch an Ort und Stelle, während Johnsons Lebenspunkte auf null fielen. Die unerträgliche Hitze ließ langsam nach und meine Lungen kosteten die ersten Züge der halbwegs erkalteten Luft voll und ganz aus. Wenn der Anwalt den Angriff überstanden hatte, dann würde er in keinem besonders guten Zustand sein. Mir drückte sich der Gedanke an Joey auf, der sicherlich noch so etwas wie Mitleid mit Johnson verspürt hätte, wäre er an meiner Stelle gewesen. Dieses Gefühl war mir gerade aber seltsam fremd.
 

Der Milleniumsring glühte unaufhörlich an meiner Brust. Ich stieg über die Begrenzung meiner Kanzel und blendete alles aus, was sich um mich herum abspielte. Mein Blick war einzig auf Johnson gerichtet, der wieder seine menschliche Form angenommen hatte.

Der Anwalt lag da, schwach blinzelnd und stöhnend. Ob er realisierte, dass ich auf ihn zukam, war mir völlig egal. Es ging darum, Serenitys Aufenthaltsort zu erfahren, genauso wie den der anderen. Der Gedanke, Joey, Yugi oder Mokuba könnte etwas zugestoßen sein, machte mich beinahe wahnsinnig.
 

Als ich vor Johnson stand, packte ich diesen am Kragen und zog ihn unsanft in die Höhe. Grob schüttelte ich den Anzugträger, sodass ihm die Brille von der Nase rutschte.

„Wachen Sie auf“, schnaubte ich und intensivierte das Schütteln. „Wenn Sie sich bewusstlos stellen, nützt Ihnen das nichts.“
 

Tatsächlich öffnete Johnson seine Augen schlussendlich. Er musste stark kurzsichtig sein, so wie er mich anstarrte.

„Da-Das ist unmöglich. Wir haben sogar Ihre Gedanken blockiert. Sie konnten unmöglich wissen, wie das Duell damals abgelaufen ist. Meine Strategie war…“
 

Was diese Strategie war, das interessierte mich nicht, genauso wenig, wie die Big Five mein Gedächtnis manipuliert hatten.

„Verschonen Sie mich mit Ihrem Selbstmitleid und fehlgeleitetem Narzissmus. Ich will wissen wo Serenity ist.“
 

„Das we-werde ich Ihnen sicher nicht sagen“, stöhnte der Anwalt.
 

Meine Nasenflügel bebten und ich konnte spüren, wie diese eine markante Ader, die ich an der Stirn besaß, hervortrat. Vor meinem geistigen Auge erschien Serenity, die in der Ecke kauerte, wahnsinnig vor Angst. Der Griff um Johnsons Kragen wurde fester.

„Wenn Sie mir nicht auf der Stelle sagen, wo Serenity ist, dann schwöre ich Ihnen, dass dieses virtuelle Gefängnis ein Paradis war.“
 

Ich hätte eigentlich entsetzt sein müssen. Das war doch unmöglich ich selbst, oder? Ich bedrohte diesen Johnson, ohne mit der Wimper zu zucken. Warum war er mir so gleichgültig? Sicher, der Anwalt war ein schmieriger Mistkerl, aber, diese unterschwellige Wut und der Hass, der mein Herz umschloss, das konnte doch unmöglich in mir geschlummert haben. Für all die Dinge, die in meinem Leben schiefgelaufen sind, machte ich gerade diesen Fremden verantwortlich.
 

„Als ob das möglich wäre“, lachte Johnson heiser und wandte den Blick von mir ab.
 

Mit einem Ruck zog ich den Anwalt zu mir heran, so nahe, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte, genauso wie das billig anmutende Aftershave, welches mir in die Nase stieg.

„Das ist es, Johnson. Was sie gerade gespürt haben, können wir über Stunden hinwegziehen, ist Ihnen das klar?“ Passend dazu, kreischte im Hintergrund mein Schwarzer Totenkopfdrache.
 

„S-Sie sind genau wie K-Kaiba“, nuschelte er und versuchte, sich aus dem Griff zu winden.
 

„Dann sollten Sie wissen, dass ich nicht bluffe. Ein letztes Mal: Wo ist Serenity? Wo sind die Anderen?“
 

Johnsons Gesicht veränderte sich. Er wirkte wie ein trotziges Kind, das genau wusste, dass es im Unrecht war, aber dennoch nicht lockerlassen wollte. Ich hatte weder Zeit noch Muße, mich länger mit ihm zu unterhalten, als nötig war. Frustriert warf ich den Mann wieder zu Boden und trat einige Schritte zurück. Dieser robbte von mir weg und griff nach seiner Brille, die er hastig und schief aufsetzte.
 

„Sie haben sowieso verloren. Nezbitt wird sich ihren Körper geholt haben, genauso wie es auch dem Rest Ihrer Freunde ergehen wird. Und Ihnen auch!“
 

Was? Sie hatten was getan? Yugi, Joey und Kaiba hatten sicher ihre Duelle gewonnen. Serenity und Mokuba aber, gerade Mokuba. Ich hatte den Kleinen noch nie ein Duell bestreiten sehen. Auch wenn Serenity Joeys Schwester war, so war es Mokuba, der ein Stück Familie für mich bedeutete. Irgendeiner dieser Bastarde hatte sich des Körpers meines kleinen Bruders bemächtigt? Hatte ich so versagt?
 

Johnson hatte meinen Moment der Selbstzweifel genutzt. Der Anwalt sprang auf und stürmte auf mich zu. „Dieses Mal ist kein Noah da, der mich zwingt, fair zu spielen. Ich werde mir Ihren Körper dennoch holen!“
 

„Mokuba“, hauchte ich, bevor mich eine Welle des Schmerzes übermannte. Ich schrie auf. Die Qual, die mir der Gedanke bereitete, den Kleinen nicht mehr in meine Arme schließen zu können, dass sein Geist hier irgendwo gefangen war, bereitete mir eine Pein, wie ich sie noch nie gefühlt hatte. Die Stacheln des Milleniumsrings richteten sich auf und bohrten sich nach innen. Schlimmer als dieser Schmerz war aber die glühende Hitze, die auf meiner Stirn brannte.
 

Ich presste meine Handballen gegen eben diese, bettelnd, dass dieses Gefühl aufhören möge. Johnson hatte innegehalten und starrte mich an, wie ich zurücktaumelte. Mahads Präsenz war nur mehr schwach zu spüren. Das Licht in meinem Herzen, Joey, Yugi, Mokuba, der Ägypter, alles entglitt meinen geistigen Fingern. Dunkelheit und Schwärze drohte mich zu verschlingen. Ich sehnte mich sogar nach Kaiba, damit er mich von diesem Wahnsinn befreien konnte. Ein Ruck ging durch meinen Körper und ich hatte das Gefühl, wieder die Geister zu tauschen, nur dass es dieses Mal befremdlich war. Obwohl ich noch Herr meiner Sinne war, konnte ich meinen Körper nicht mehr steuern.
 

„Wo ist Mokuba?“ Meine Stimme hatte einen seltsamen, hallenden Unterton angenommen. Etwas Böses haftete ihr an. Langsam setzte ich mich in Bewegung, dazu verdammt, zuzusehen. In Johnsons Brillengläsern spiegelte sich mein Gesicht, eine Fratze voller Hass und Abscheu. Auf meiner Stirn leuchtete das Auge, welches Yugis und meinen Milleniumsgegenstand zierte.
 

„Ich…“, begann Johnson, der panisch zurückwich.
 

„Das war die falsche Antwort.“ Ich schnippte mit den Fingern, woraufhin der Schwarze Totenkopfdrache sein Maul öffnete. Erneut bildete sich ein glühender Feuerball, wieder traf dieser Johnson. Der ganze Gerichtssaal bebte erneut und ich konnte den Anwalt kreischen hören. Die Hitze, die auch dieses Mal den Raum erfüllte, schien mich nicht im Geringsten zu tangieren. Meine Kleidung flackerte im stürmischen Wind, den die Attacke hervorrief, doch ich selbst bewegte mich keinen Millimeter.
 

„Also, Johnson“, formten meine Lippen die nächsten Worte. Meine Stimme klang mit jedem Buchstaben verzerrter und fremder. „Wo ist Mokuba?“
 

Der Anwalt röchelte und wimmerte, zog die Hände über den Kopf und begab sich in eine Embryohaltung. Noch nie hatte ich einen Menschen so voller Angst erlebt. Ich wollte mich schlecht fühlen, damit aufhören, doch ich konnte nicht. Das Auge auf meiner Stirn leuchtete mit jeder Sekunde die verging stärker. Meine eigenen Augen verengten sich zu Schlitzen.
 

„Wir können das ewig fortführen, Johnson.“ Die Kälte meiner Worte erschreckte mich selbst. Ich rief nach Mahad, der nicht zu spüren war. Da war nichts, außer der Leere in meinem Herzen. Ein Stück von mir war mit Johnsons Worten zerbrochen, und irgendetwas Böses füllte dieses Fragment nun aus.
 

„Ich will nicht, bitte“, flehte Johnson und weinte.
 

„Ihre gesamte Welt wird brennen, wenn ich nicht bekomme, was ich will. Das hier, das ist ein goldener Käfig im Vergleich zum Reich der Schatten, in das ich Ihre Seele zwingen werde.“

Erneut ging ich auf Johnson zu und riss ihn grob in die Höhe. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn.

„Wo…ist…Mokuba?“ Jedes einzelne Wort wurde langsam geformt. Ich konnte den Genuss fühlen, den dieses Stück von mir verspürte, als sich Johnsons Atem beschleunigte. Keuchend versuchte er, zu entkommen.
 

„Das d-darf ich nicht…“
 

Bevor er weitersprechen konnte, hatte ich ihn schon gegen das lädierte Richterpodium gedrückt. Der Milleniumsring fraß sich durch mein Hemd, zerriss es einfach. Johnson begann mit einem Mal zu schreien, mehr noch, als beim Angriff des Drachens. Er kreischte, winselte und flehte abwechselnd. Tränen rannen ihm unkontrolliert über die Wange, während seine Augen vor Schreck immer größer wurden.
 

„Wo?“, fragte ich mit verzerrter Stimme erneut. Es fühlte sich an, als würde ich innerlich verglühen, ausgehend von meiner Stirn und dem Milleniumsring, der mit meinem Blut benetzt war. Die ins Fleisch gebohrten Stacheln glänzten ob des roten Lebenssaftes, der sie bedeckte.
 

Johnson deutete kraftlos hinter mich. Da war nichts. Nur meine Monster, die geduldig darauf warteten, dass ich sie auf den Anwalt losließ. Wieder nur eine Verzögerungstaktik.
 

„Sie sind nutzlos“, schnaubte ich und presste ihn noch fester gegen das Richterpult. „Wertlosem Tand soll man sich entledigen. Sie wollen diesem Wahnsinn entkommen? Das können Sie haben.“ Ich konnte spüren, wie der Milleniumsring sich noch tiefer in meinen Körper hineinbohrte.
 

„David!“
 

Schlagartig ließ ich von Johnson ab. Mokuba stand hinter mir. Da war eine Tür gewesen, die nun offenstand. Hatte ich das übersehen? Hatte ich sie übersehen wollen?
 

„Alles okay mit dir?“
 

Ein Blick an mir herab ließ mich zwei Dinge realisieren: Erstens, ich hatte wieder die Kontrolle über meinen Körper und Zweitens, war das Brennen in meinem Körper verschwunden. Dies hatte aber einen unangenehmen Nebeneffekt: Ich spürte die Schmerzen, die der Ring verursachte. Meine Knie zitterten und ich konnte mich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Alles um mich herum verschwamm, nur um dann wieder klar zu werden.
 

„Ich…“, begann ich und ließ Johnson los. Dieser rannte, wie ein Irrer schreiend, an Mokuba vorbei nach draußen, in eine frostig wirkende Eisregion. Wenn ich wieder Herr meiner selbst war, konnte ich dann auch Mahad wieder erreichen?
 

„Ich bin hier.“ Schlagartig war da wieder die ruhige, sanfte Präsenz des Ägypters, die mich einhüllte. Mit letzter Kraft taumelte ich gegen das Richterpult und rutschte daran herab. Ich sackte zusammen und konnte Mokuba nur mehr dumpf hören, wie er panisch meinen Namen rief und an mir rüttelte. Kraftlos griff ich nach seiner Schulter und lächelte schwach.
 

„Hey, Champ. Hast du deinen Gegner besiegt?“ Ich musste mich beherrschen, mich nicht zu übergeben. Der pochende Schmerz in meiner Brust wurde mit jeder Sekunde stärker. Das zerschlissene weiße Hemd hatte sich mittlerweile blutrot gefärbt.
 

„Das ist jetzt unwichtig.“ Der Kleine begann an mir herumzufummeln. Ich schob meine Finger in seine ungebändigte Haarmähne und sah schwer atmend nach oben. Der Kampf hatte die Decke teilweise zerstört und mir wurde der Blick auf einen wolkenverhangenen, dunklen Himmel gewährt. Ich mochte dieses Wetterphänomen, wie kurz vor einem stürmischen Regen.
 

Neben Mokuba erschien Mahads durchsichtige Gestalt, die sich besorgt hinkniete. Er lächelte traurig. „Es tut mir so leid“, flüsterte er und legte seine Hand auf den Milleniumsring. „Ich hätte wissen müssen, dass noch immer Böses in diesem Ring haust.“

Meine Lippen wanderten ein wenig nach oben. Ich sah nun eher verschwommen als klar. Einzig Mahad konnte ich wirklich erkennen. „Was tut dir leid? Dass ich mich nicht beherrschen konnte?“ Ich schmeckte Blut und war mir sicher, dass ein bisschen davon über meine Lippen tropfte. Mokuba starrte mich kurz an, murmelte etwas von „Halluzinieren“, und machte sich dann weiter an mir zu schaffen.
 

„Ich dachte ohne Bakuras schlechten Einfluss wäre die Gefahr des Rings gebannt. Erneut habe ich versagt. Ich hätte dich nie aufsuchen dürfen.“ Mahad schien seine Aufmerksamkeit auf Mokuba zu richten, der mich aus dem Sakko befreite.
 

„Hör auf, Mahad. Ohne dich wäre ich nie der Mensch geworden, der ich heute bin.“ Ich streckte meine Hand in einem letzten Akt purer Willenskraft nach dem Geist aus und wollte ihn am Arm packen, griff aber ins Leere. „Verlass mich nicht“, hauchte ich. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich nicht vor schwierigen Entscheidungen gekniffen, konnte wirklich ruhig schlafen. Das Licht in meinem Herzen, das bist doch du, oder?“
 

„Das ist doch Unsinn“, entgegnete der Ägypter und sah nervös zwischen Mokuba und dem Ring an meiner Brust hin und her. „Du bist auch ohne mich vollkommen.“

„Nein, das bin ich nicht. Ohne euch, und vor allem, ohne dich, werde ich nie vollständig sein. Bitte bleibe und verhindere, dass mich die Finsternis in meinem Herzen verschlingt.“
 

„David!“ Mokuba rüttelte erneut an mir. Warum tat er das? Ich wollte doch einfach nur schlafen, wegdämmern und schlafen. Jede einzelne Bewegung, jeder Atemzug, er kostete mich so viel Kraft. Einfach die Augen zu schließen und ein Nickerchen zu machen war verlockender als alles andere.
 

Mit einem Ruck zog Mahad den Ring aus meiner Brust. Ich schrie auf und mein ganzer Körper spannte sich unter dem Schmerz an, der mich durchfloss. Als Mokuba dann auch noch irgendetwas auf die Wunde drückte, ließ ich mein Kinn auf meine Brust sinken und atmete immer langsamer. War das mein Ende? Wohl kaum. Kaiba würde einfach auftauchen, mit den Fingern schnippen, und mich mittels seiner Ärzteschar wieder gesund machen. Oder Yugi, Joey, Tristan, Tea, Serenity. Waren Sie überhaupt alle hier?
 

„Ich nicke kurz weg, Mokuba. Nur für einen Augenblick“, murmelte ich und, trotz der Proteste meiner beiden Freunde, gab ich der unbändigen Müdigkeit nach, die mich übermannte. Es war doch nur ein kurzer Augenblick der Ruhe, den ich mir gönnte. Warum stellten sie sich denn so an? Am Ende würde ich wieder in Joeys Armen liegen und in sein Gesicht schauen, welches mich so voller Wärme und Zärtlichkeit erwartete.

Wenn ein falscher Gott auf einen echten trifft

Ich wurde durch ein ratterndes, lautes Geräusch geweckt. Bevor ich die Augen öffnete, musste ich den Drang unterdrücken zu erbrechen. Der Geschmack in meinem Mund war ekelhaft. Meine Lippen fühlten sich spröde und rissig an. Das Letzte woran ich mich erinnern konnte war, dass ich nach dem Kampf mit Johnson die Kontrolle verloren hatte und daraufhin eingeschlafen war.
 

„Er kommt zu sich!“ War das Mokubas Stimme? Träumte ich? War ich vielleicht schon tot, wie auch die anderen?

Sanftes Streicheln durch mein Haar ließ mich die Augen schlussendlich langsam öffnen. Ich erblickte Joey, Yugi und Mokuba, die mich allesamt erleichtert ansahen. Der Plan mich aufzurichten wurde vom stechenden Schmerz in meiner Brust und dem beherzten Eingreifen Joeys unterbrochen.

„Bleib liegen.“
 

Ich sah mich vorsichtig um. Wenn mich nicht alles täuschte, befanden wir uns auf der Ladefläche eines Pickups. Das erklärte mein Aufwachen, nicht aber den Fakt, dass die anderen auch hier waren. Johnson hatte demnach nicht gelogen.

Joey hielt mir eine Wasserflasche an die Lippen. Ich trank gierig die ersten Schlucke um die Trockenheit in meinem Mund zu bekämpfen.

„Sch, nicht zu viel auf einmal, sonst kotzt du es wieder hoch.“ Um seine Aussage zu unterstreichen, setzte Joey die Flasche wieder ab und verstaute sie in seinem Rucksack.
 

„Was ist denn passiert?“, fragte ich und schloss wieder die Augen. Alles um mich herum hatte begonnen sich zu drehen. Außerdem wollte der Schmerz in meiner Brust nicht nachlassen. Irgendjemand, wahrscheinlich einer von den Dreien, hatte meine Wunde notdürftig verbunden. Joeys Jacke spendete ein wenig Wärme.
 

„Das wissen wir selbst nicht so genau. Jedenfalls sind wir hier wieder in einer virtuellen Realität, und dieses Mal scheinen die Big Five nicht geneigt zu sein, fair zu spielen.“ Yugi sah bei seinen Worten besorgt in den wolkenverhangenen Himmel. „Was hast du mit Johnson angestellt?“ Alle drei Augenpaare richteten sich bei der Frage auf mich.
 

„Warum?“ Den Blicken nach zu urteilen war der Anwalt entweder umgekommen oder hatte ein schlimmeres Schicksal erlitten.
 

„Er ist wahnsinnig an uns vorbeigerannt und hat dauernd gebrüllt, dass er hierbleiben möchte. Er wolle lieber eine Ewigkeit im virtuellen Paradies verbringen, als in der Hölle der Schattenwelt.“ Joeys Blick sprach Bände. Ich konnte ihm aus den Augen ablesen, wie sehr er mit sich kämpfte. Sollte ich lügen? Mokubas besorgtem Auftreten nach zu urteilen, hatte dieser nur wenig vom eigentlichen Geschehen mitbekommen.

„Johnson hat mir versichert, Mokubas Geist sei bereits verloren. Irgendetwas in mir ist daraufhin zerbrochen. Die Angst nahm überhand. Innerhalb von Sekunden war ich nicht mehr ich selbst.“ Meine Stimme wurde mit jedem Wort leiser, bis sie nur mehr einem Flüstern glich, das kaum in der Lage war, den Motorenlaut zu übertönen.

„Das was aus mir gekommen ist, diese Finsternis, dieser Hass, alles hat sich auf Johnson eingeschossen. Ich…“

Joey legte mir die Hand sanft auf die Brust: „Schon gut, du musst nicht weiterreden.“
 

Als ich die warme Hand meines Freundes auf der Wunde fühlte, bekam ich Panik. Wo war der Ring? Ich konnte Mahad nicht spüren. Hatte ich ihn verloren? Joey deutete zur Seite. Das Schmuckstück lag neben mir. Alle bis auf Yugi schienen den Ring zu meiden, was ich ihnen auch nicht verdenken konnte.

„Wie seid ihr überhaupt in die VR gekommen? Ich meine, Kaiba, Mokuba und ich waren ja auf der Präsentation. Wo ist Kaiba überhaupt?“
 

Yugi nickte lächelnd nach vorne: „Der fährt. Serenity und Tea leisten ihm Gesellschaft.“ Also waren tatsächlich noch mehr meiner Freunde hier. So wie sich Yugi anhörte, waren aber alle wohlauf. Zumindest das war ein gutes Zeichen. „Wie wir hier herauskommen wollen, das ist eine gute Frage. Hereingekommen sind wir ganz unterschiedlich. Irgendein elektronisches Gerät war wohl in der Nähe, sei es Handy oder Laptop, und hat uns hierhergebracht.“
 

So war das also gewesen. Das erklärte einiges, aber noch nicht alles. Gerade als ich weiterfragen wollte, durchbrach ein lautes Kreischen die monoton anmutenden Motorenlaute. Mit jeder Sekunde, die verging, färbte sich der Himmel dunkler. Es schien, als würden sich die Wolken selbst bewegen. Ich brauchte einige Momente um zu realisieren, was passierte.
 

„Sie greifen wieder an!“, rief Mokuba. Das waren keine Wolken, sondern Duel Monster der unterschiedlichsten Gattungen. Das mussten Tausende sein, wenn nicht sogar zig Tausende.

„Noch einen Angriff überstehen wir nicht.“

Noch einen Angriff? Waren sie vorher schon attackiert worden? Mokubas verängstigtem Blick nach zu urteilen schon.
 

Yugis Puzzle glühte. Er tauschte wohl mit dem Pharao. Sollte ich dasselbe tun? Was, wenn ich wieder zu einem Monster wurde? In mir keimte Angst auf. Auch wenn Mahad gut war, so schien das auf mein innerstes Ich nicht zuzutreffen, mehr noch: Ich war abgrundtief böse. Jede Faser meines Körpers hatte danach gelechzt, Johnson zu quälen. Ich wollte meine Freunde nicht verletzen, so war ich aber auch nutzlos. Vielleicht konnten uns Ring und Puzzle helfen? Mein Milleniumsgegenstand schien sich zumindest teilweise über die Gesetze der VR hinwegsetzen zu können, warum sollte das also auch nicht für Yugis Puzzle gelten? Der Pharao und Mahad waren früher ein unschlagbares Team gewesen.
 

Mein Hadern wurde durch die Tatsache unterbrochen, dass wir anhielten. Kaiba stieg aus und sprang elegant über die Ladeklappe. Er strahlte weder Furcht noch Panik aus. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre ich davon ausgegangen, der CEO müsse mal eben kurz zu einem Meeting.

„Wheeler, du fährst weiter.“ Sein Ton war befehlend wie eh und je. „Mokuba, du gehst auch nach vorne, keine Widerworte.“ Als sein Blick zu mir wanderte, zögerte Kaiba einen kurzen Moment. „Und du, steh auf.“
 

Joeys Augen weiteten sich und seine Nasenflügel bebten. „Hast du einen Knall, Kaiba? Wie soll er denn aufstehen?“

Der Braunhaarige drehte sich um und verschränkte die Arme vor der Brust, ohne meinen Freund auch nur eines Blickes zu würdigen. Er wartete noch einige Sekunden, bevor er erneut seine Stimme erhob: „Wenn er es nicht schafft, sind wir sowieso verloren. Möchtest du außerdem noch mehr unserer kostbaren Zeit verschwenden? Du willst wohl, dass wir draufgehen, oder? Ist er dir so wenig wert? Jeder hier kooperiert, nur du nicht. Hast du Angst, dass er dir aus den Händen gleitet, wenn er den Tand neben sich erneut anlegt?“

Kaiba griff nach seinem Deck und suchte einige Karten heraus. „Worauf wartest du noch, Wheeler? Häng ihm das Ding um, und hau ab.“
 

Joey hatte die rechte Hand zu einer Faust geballt. Sein ganzer Körper zitterte. Wenn der CEO noch ein wenig weiterstichelte, dann würde er ihm sicher an die Gurgel gehen. So hatte ich meinen Freund noch nie gesehen. Eine gefühlte Ewigkeit verging, in denen absolut nichts passierte. Joey hockte einfach nur vor mir und starrte mich an. Er haderte genauso, wie ich selbst. Das Risiko war zu groß. Wenn der böse Geist, oder was auch immer das gewesen war, wieder Besitz von mir ergriff, waren alle verloren. Yugi konnte sich am Ehesten wehren, doch irgendwann würden ihn die Monster in die Finger bekommen.
 

„Joey, bitte“, flüsterte ich leise und griff nach der Hand meines Freundes. „Kaiba hat anscheinend einen Plan, und wenn wir hier herauskommen wollen, dann müssen wir alle zusammenarbeiten. Wenn du es nicht für mich tun willst, was ich auch verstehen könnte, dann tu es wenigstens für Yugi, Mokuba und Tea.“

Tränen glitzerten in seinen Augen. „Ich will dich nicht verlieren.“ Ohne mich aus den Augen zu lassen griff er nach dem Ring und hing ihn mir um. Seine beiden Hände ruhten auf dem Schmuckstück und er bettete seine Stirn auf meiner. „Pass auf dich auf.“

Bevor ich weiter reagieren konnte, sprang Joey auch schon von der Ladefläche und stieg in den Pickup.
 

Ich atmete tief durch. Mein ganzer Körper zitterte vor Angst. Mich jetzt wieder auf den Ring einzulassen, auf das Böse in meinem Herzen, konnte das Ende für alle bedeuten. Kaiba schien aber fest mit meiner Anwesenheit und meinen Fähigkeiten zu rechnen. Alleine war ich zu schwach. Meine Brust schmerzte nach wie vor.

„Mahad?“, flüsterte ich in die Stille, die mich bedrückte. Er reagierte nicht. Was war los? Panik stieg in mir hoch. „Bitte, ich brauche dich.“

Nichts.
 

„Bitte, Mahad. Wir alle brauchen dich. Ohne dich sind wir verloren.“ Warum weigerte sich der Geist denn, mit mir zu sprechen? Waren wir nicht Freunde geworden? Es lag doch nicht an ihm, dass Johnson wahnsinnig geworden war.

„Ich kann nicht bekämpfen, was tief in unserem Inneren lauert“, rührte sich der Ägypter endlich. Jede einzelne Silbe war von Kummer und Schmerz durchzogen. Er gab sich die Schuld für das, was passiert war.

„Das musst du auch nicht, nicht alleine. Wir machen das gemeinsam. Ich vertraue dir, nach wie vor.“

Ich musste mein früheres Ich nicht sehen, um zu wissen, dass Mahad ein betretenes Gesicht machte.

„Ich bestimme noch immer selbst über mein Leben. Es sind meine Fehler und meine Dunkelheit, die zu diesem Vorfall geführt haben. Jetzt brauche ich dein Licht, um eine neuerliche Katastrophe aufzuhalten. Bitte, Mahad, ich flehe dich an. Wenn wir nichts unternehmen, dann wird alles dahingerafft, was ich, nein wir, lieben.“
 

Kaiba und Yugi hatten sich inzwischen daran gemacht, ihre mächtigsten Monster zu rufen, während der Pickup sich in Bewegung setzte. Wir wurden vom Schwarzen Magier, Gaia dem Drachenchampion, Valkyrion, sowie dem Blauäugigen Ultradrachen abgeschirmt. Es würde nur mehr wenige Minuten dauern, bis die ersten Monster auf uns einprasseln würden.
 

„Damit riskierst du alles, was du dir bisher aufgebaut hast, ist dir das klar?“

Ja, das war mir klar. Ein Fehltritt konnte das Ende bedeuten. Tief in meinem Inneren, jenem Teil, in dem ich das Licht zu wissen glaubte, vertraute ich meinem anderen Ich aber blind. Dementsprechend fiel auch meine Antwort aus.

„Wir sind eins.“
 

Endlich gab Mahad nach und tauschte mit mir. Der gefürchtete Schmerz vom letzten Mal blieb aus. Es fühlte sich an wie vorher. Das beständige Stechen in der Brust ließ nach, genauso wie der Schwindel und die Kälte, die mich trotz Joeys Jacke eingehüllt hatte. Ich beobachtete den Geist, wie er meinen Körper übernahm und die gewohnt streng-ruhige Art von mir Besitz ergriff. Wortlos erschien ich neben Kaiba, der den Himmel beobachtete.
 

„Ah, du hast es auch endlich geschafft. Dann mach dich nützlich und beschwöre deine mächtigsten Monster.“
 

Yugi, oder besser gesagt der Pharao, nickte mir zu, während ich tat, was Kaiba von mir verlangte. Mein Schwarzer Magier gesellte sich zum Schwarzen Totenkopfdrachen und dem Soldaten des Schwarzen Lichts. Dieser Wall aus Monster würde uns zumindest etwas Zeit verschaffen.
 

„Ihr haltet die Monster auf, während ich versuche, den Quellcode zu knacken und zu überschreiben.“
 

Der Pharao und Mahad nickten sich zu, ehe sie die Duel Disks an ihren Armen mit den Decks befüllten. Jede einzelne Bewegung war absolut synchron. Kaiba ging zurück und die hinterlassene Lücke von ihm wurde mit einem selbstsicheren Schritt der beiden Geister geschlossen. Ich konnte Yugi zwar nicht sehen, aber seine Nähe spüren – wir hatten eine reale Chance. Unsere Freunde, Kaibas Scharfsinn und die Entschlossenheit beider Ägypter konnten ausreichen, um diesem Wahnsinn zu entkommen.
 

„Es fühlt sich an wie früher“, sagte Mahad und hob die Mundwinkel ein wenig. Ich konnte die Euphorie spüren, die von ihm ausging. Yugi musste es wohl gleich mit dem Pharao ergehen.

„Wie früher“, pflichtete ihm der Pharao bei.
 

Ich hielt die Luft an, als die ersten Monster auf unsere eigenen trafen. Mühelos wurden die Angreifer zurückgeworfen. Die Schwarzen Magier unterstützten sich und bekamen sogar noch Verstärkung vom Schwarzen Magiermädchen. Der Soldat des Schwarzen Lichts arbeitete mit dem Ultradrachen zusammen. Valkyrion wurde vom Totenkopfdrachen gedeckt und umgekehrt. Gaia zerstörte, auf dem Fluch des Drachen reitend, jene Gegner, die dem Pickup nahekamen. Unsere Gruppe harmonierte perfekt. Reihenweise zersprangen Monster wie der Hornkobold, Hyozanryu, der Kuomori- Drache oder der Spieldrache der Harpyien.
 

„Das ist nur eine Vorhut, hier stimmt etwas nicht“, sagte der Pharao nach einer Weile. Er hatte Recht: Das Gros der Horde griff nicht an, stattdessen schienen unsere Verfolger auf etwas zu warten. Der Himmel hinter uns wurde mit jeder Sekunde dunkler. Pechschwarze Wolken verdeckten das Firmament.
 

Ein ohrenbetäubendes Brüllen überschattete den Kampfeslärm. Ich hatte so etwas noch nie gehört. Das Geräusch ging durch Mark und Bein und war schlimmer als das Kreischen des Ultradrachen. Ein Blick nach hinten zeigte Kaiba, der von Mokubas Laptop aufsah und die Stirn runzelte.
 

„Ihr Ende ist gekommen, Seto Kaiba. Sie und Ihre Freunde werden diese Hölle nie wieder verlassen.“ Die Stimme des Fremden von der Präsentation hallte über die Ebene. „Dieses Mal werden wir nicht fair spielen. Außerdem wird Ihr kleiner Schützling büßen, für das, was er Johnson angetan hat.“
 

Aus den Wolken schälte sich ein gigantischer, klauenbewehrter Körper. Die schuppige Haut endete in zwei riesigen Flügeln, deren Schläge einen Windzug erzeugten, der uns beinahe von den Beinen riss. Je tiefer das Wesen glitt, desto imposanter wurden seine Ausmaße. Ich zählte ungläubig nach: Eins, zwei, drei, vier, nein fünf Köpfe hatte die Bestie, die in weiter Ferne auf uns herabstarrte. Die Monsterhorde johlte und grölte.
 

„Ich denke, Sie erinnern sich noch an den Götterdrachen, Kaiba?“, fragte der Fremde höhnisch.

„Natürlich. Ihr lächerlicher Drache, Gansley, hat sich früher schon als kein allzu großes Hindernis herausgestellt.“ Kaiba klang genervt, während er sich wieder an die Arbeit machte.

„Oh, natürlich. Nur dieses Mal…“
 

Jedes unserer Monster schrie, brüllte oder kreischte, bevor es einfach verblasste. Die Duel Disks an unseren Armen blitzten und fielen aus. Mahad tippte und hämmerte darauf herum, genauso wie der Pharao. Nichts zeigte Wirkung.
 

„Was haben Sie gemacht?“, rief Kaiba wutentbrannt und starrte auf den Laptop, der ebenfalls ausgefallen war. Wir saßen in der Falle. Mit jeder Sekunde, die verging, kam der Drache näher. Drohend reckten die einzelnen Köpfe ihre Hälse nach uns und fletschten die Zähne, sofern sie welche hatten.
 

„Nennen wir es eine kleine Rückversicherung. Machen Sie sich bereit, Kaiba. Ihren Körper werde ich mit Freuden übernehmen.“
 

Mahad sah zum Pharao. Beide starrten auf ihre jeweiligen Milleniumsgegenstände.
 

„David?“ Ich konnte Yugis Stimme hören. Einen Augenblick später erschien seine schemenhafte Gestalt neben meiner eigenen. „Der Pharao hat eine Idee, dazu brauchen wir aber eure Hilfe.“

Ich schrägte den Kopf ein wenig: „Noch so ein toller Plan wie der von Kaiba? Die Duel Disks sind hinüber.“

„Die brauchen wir auch nicht. Dein Ring und mein Puzzle scheinen sich der virtuellen Realität teilweise entziehen zu können. Wenn wir uns stark genug auf ein Monster konzentrieren, dann können wir es vielleicht gemeinsam rufen.“
 

Der Drache war bedrohlich nahe. Ich sah zum Ring an meiner Brust. Wir hatten nur eine Chance. Das musste klappen.

„Willst du den Meister der Drachenritter beschwören?“

Yugi schüttelte auf meine Frage hin den Kopf: „Nein. Wir sind uns nicht sicher, ob wir irgendwelche Duel Monsters beschwören können. Außerdem haben sich Gansley und die Anderen sicher auf dieses Monster vorbereitet. Wir brauchen etwas Anderes.“

Ich schluckte bei den Worten meines besten Freundes. Was er beschwören wollte, konnte ich mir denken. Wir sprachen hier nicht von irgendeinem x-beliebigen Monster.

„Kann der Pharao es denn kontrollieren?“

„Das können wir, gemeinsam, ganz sicher. Ihr beide müsst all eure Gedanken und eure Kraft auf den Wunsch konzentrieren, Slifer zu beschwören.“
 

„Wollen wir das wirklich tun?“, fragte ich Mahad.

„Vertraust du deinem besten Freund nicht?“

Ich vertraute Yugi, genauso wie dem Pharao, nur was beide da vorschlugen war genauso gefährlich, wie den Ring erneut anzulegen. Ich hatte Slifer einmal gesehen. Auch wenn es Obelisk gewesen war, der Mei den Gnadenstoß versetzte, so hatte ich die Zerstörungskraft des Drachen gespürt. Wenn Slifer außer Kontrolle geriet, war das vielleicht noch schlimmer, als von den Big Five hier eingesperrt zu werden.

„Tun wirs, bevor ich es mir anders überlege.“
 

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Meine Gedanken richteten sich auf den einen Wunsch, den Himmelsdrachen in die VR zu holen. Ich stellte mir das Monster genau vor und rief mir dabei die Begegnung von damals wieder in Erinnerung. Wie Slifer durch den Dom brach, die schlangenartige Form, das grelle Rot der Ober- und das dunkle Schwarz der Unterseite. Der stechende Blick der gelbleuchtenden Augen, die zahnbewehrten Mäuler, die klauenbewehrten Krallen, die riesigen Flügel und das Juwel auf seiner Stirn.
 

„Ich rufe dich an, Slifer, Gott des alten Ägyptens, erscheine. Leihe mir deine Kraft, wie du es schon einmal getan hast.“ Die Stimme des Pharaos übertönte den Flügelschlag des Götterdrachens, genauso wie die anderen Monster. Er brauchte keine Technik, um sich Gehör zu verschaffen, wie Gansley. Etwas an ihm war noch ehrfurchtgebietender als bei Mahad. Der Pharao strahlte eine Ruhe und Macht aus, die sogar Kaibas Auftreten in den Schatten stellte.
 

„Ba und Ka sind eins“, murmelte Mahad. Ich öffnete die Augen. Die beiden Milleniumsgegenstände glühten so hell, dass es schmerzte, sie direkt anzusehen. Etwas hatte das Bitten des Pharao ausgelöst. Ich konnte spüren, wie etwas an uns zerrte. Mir kam ein schrecklicher Gedanke. Wenn wir dieses Ding riefen, woher bekam es seine Energie?
 

Wind zog erneut auf, stärker noch, als beim Erscheinen des Götterdrachen. Blitze zuckten aus den Wolken hervor und schlugen gefährlich nahe neben uns ein. Laut kreischend schälte sich der riesige Drache aus der Dunkelheit über uns. Slifer streckte seinen Kopf aus den Wolken und öffnete das untere Maul.
 

„Daneben sieht Ihr Götterdrache wie ein Spielzeug aus, Gansley“, höhnte Kaiba, der aufstand und sich neben mich stellte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete Slifer. Seine Erregung, das Zittern der schlanken Finger an seinen Oberarmen, der flüchtige Ausdruck von Freude in seinem Gesicht: Kaiba wirkte beinahe schon wahnsinnig, als er den Drachen erblickte. Ich hatte ihn noch nie so gesehen, nicht einmal, als er mir von den Götterkarten erzählt hatte.
 

„Was ist das? Wie kann das sein?“, fragte Gansley panisch.

„Ihr Untergang“, beantwortete Kaiba dessen Frage amüsiert. „Sie haben sich mit Leuten angelegt, die Ihnen weit überlegen sind. Weder Sie, noch Ihre Freunde, werden diesen Ort verlassen. Das was sie hier erblicken ist Slifer der Himmelsdrache, eines der mächtigsten Monster in der Geschichte von Duel Monsters.“
 

„Sie scheinen zu vergessen, Kaiba, dass der Götterdrache nur von einem Lichtmonster zerstört werden kann. Ist Ihr Slifer denn ein solches Monster?“

Der CEO legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend: „Slifer ist ein Göttermonster. Glauben Sie wirklich, dass diese Karte sich an Ihre lächerlichen Regeln halten muss?“
 

Mahad und ich wurden immer schwächer. Wir hatten Mühe, uns noch auf den Beinen zu halten. Rasch griffen wir nach der Heckklappe und stützten uns ab.

„Mein Pharao, lasst Slifer angreifen, bitte“, stöhnte der Ägypter. Gerade, als wir auf die Knie gehen wollten, spürten wir eine starke Schulter, die uns stützte. Yugis anderes Ich nickte sanft.

„Bitte verzeih, alter Freund.“ Danach wandte er seinen Blick dem Götterdrachen zu.
 

„Slifer, Attacke! Vernichte den Fünf-Götter-Drachen!“
 

Das Monster reagierte tatsächlich. Der Drache, von dessen Körper nur ein Teil zu sehen war, öffnete sein Maul. Der dunkle Rachen des Wesens glühte hell, noch heller als das Puzzle und der Ring. Kreischend bildete sich die zerstörerische Kraft und wurde zu einem Strahl gebündelt, der auf den Götterdrachen zuhielt. Jegliches Hindernis, das ihm dabei in den Weg kam, seien es Bäume, Berge oder Monster, löste sich in Nichts auf.

Wir schlossen die Augen, doch selbst so schmerzte das Licht in den Augen, welches vom Maul des Drachen ausging. Slifer kreischte lautstark. Uns fiel das Atmen immer schwerer. Die Müdigkeit von vorhin griff wieder nach uns. Dieses Mal stemmte ich mich aber dagegen. Ich wollte nicht immer, wenn ich gebraucht wurde, wegbrechen. Dann endlich, als das Ziehen an Körper und Geist beinahe unerträglich wurde, war es vorbei.

Ein Stück Freiheit

Wieder stützten mich Arme, doch dieses Mal kräftiger und vertrauter als jene des Pharao. Ich musste nicht einmal die Augen öffnen, um zu wissen, wer mich vor dem Kniefall bewahrte. Mahad hatte mir die Kontrolle zurückgegeben. So war es mein Lächeln, das schlussendlich meine Lippen zierte. Ich wusste nicht, wie er so schnell aus dem Pickup gekommen war, und es war mir auch egal.

„Joey“, hauchte ich. Dieses Gefühl hatte ich so sehr vermisst. Endlich konnte ich mich wieder fallen lassen. Niemand zählte auf mich, niemand brauchte mich; ich durfte endlich jemanden wieder brauchen.
 

„Was machst du für Sachen?“, flüsterte mir mein Freund ins Ohr und bettete mich sanft in seinen Armen. Ich drehte mich langsam herum und sah in das Gesicht des Blondschopfs. Er weinte, wieder.

„Unseren Hintern retten“, neckte ich ihn und schmiegte mich in die Umarmung. Vom Pickup war nichts zu sehen, auch nicht von der Umgebung der VR oder dem Götterdrachen – wir waren auf der Bühne der Messehalle. Das riesige Gebäude wirkte wie ausgestorben.
 

„Versuche dabei nächstes Mal nicht fast draufzugehen, ja?“, lächelte Joey schief und strich mir mit dem Zeigefinger über die Stirn. „Wir wären nämlich alle ohne dich aufgeschmissen.“

Das wagte ich zwar zu bezweifeln, doch wollte ich diesen Moment nicht zerstören. Hier so zu liegen, in Joeys Arme gebettet, einen Rollentausch vollführend, das war es, was ich mir eigentlich wünschte. Ich wollte nicht immer denken müssen, Verantwortung übernehmen, Probleme lösen – ich wollte frei sein.

„Ist ja gut“, rollte ich gespielt mit den Augen und sah mich dann erneut um, dieses Mal genauer. Wir waren tatsächlich alleine, mal abgesehen von unseren Freunden. Mokuba stand bei Serenity, Yugi bei Tea, und Kaiba ein wenig abseits. Jeder hatte irgendwie jemanden, nur der CEO nicht. Auch wenn Mokubas Bruder noch immer ein Ekelpaket war, so wollte ich ihn auch nicht aus der Runde ausschließen. Wahrscheinlich würde er nur den Kopf schütteln und sich aus dem Staub machen, aber anstandshalber schuldete ich ihm das Angebot.
 

„Kaiba?“, rief ich und winkte den CEO heran. Dieser tat so, als hätte er mich überhört. „Kaiba?“, fragte ich erneut. Als wieder keine Reaktion kam, seufzte ich leise. „Danke“, sagte ich ehrlich und wandte mich wieder Joey zu. Auch wenn die Gruppe, mal abgesehen von Yugi, wahrscheinlich nie ganz hinter Kaibas Verhalten kommen würde, so wusste ich, dass er, tief in seinem Inneren, froh war, einige von uns bei diesem Abenteuer dabei gehabt zu haben.
 

Bevor Joey etwas sagen konnte, legte ich ihm den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. „Mein strahlender Ritter könnte mich ja zum Hotel tragen, wie wäre das?“, grinste ich breit. Die große Last, die dem Blonden von den Schultern fiel, sah man ihm an. Das Gröbste war überstanden, und ich würde ihn auch nicht verlassen.

„Sollten wir nicht eher in ein Krankenhaus, hm?“, fragte er und begutachtete meinen Verband, der sich bereits rot gefärbt hatte.
 

„Das kann man im Hotel erledigen“, meldete sich Kaiba und brachte damit die gesamte Gruppe dazu, sich ihm zuzuwenden. Der CEO stand, typisch für ihn, mit verschränkten Armen vor der Brust da, und betrachtete stoisch die Szenerie, die sich um ihn herum gebildet hatte. „Na was ist? Wollt Ihr hierbleiben?“
 

Joey hatte mich tatsächlich zum Auto getragen. Die ganze Fahrt lang wurde ich umsorgt und behütet. Serenity und Mokuba hingen dabei noch mehr an mir als Joey. Yugi, Kaiba und Tea hielten Abstand und ließen mich mit dem Trio alleine fertig werden.

Im Hotel selbst wurde ich relativ schnell von einem Arzt untersucht. Dieser schmierte mir eine seltsam riechende Paste auf die Brust und gab mir Tabletten, die ich alle zwei Stunden mit etwas Wasser einnehmen sollte. Er versicherte vor allem Kaiba, dass ich keine ernsteren Verletzungen davongetragen hatte. Nach der Behandlung ließ man uns endlich alleine.
 

Joey half mir in bequemere Kleidung, bestehend aus einer Jogginghose und einem Shirt. Erneut vermied er es dabei, den Ring direkt zu berühren. Ich verstand nun auch warum. Tief in meinem Inneren fürchtete ich das Schmuckstück selbst.

„Liebst du mich auch noch, wenn ich den Ring weiterhin trage?“, fragte ich, als mein Freund sich zu mir setzte. Die Tatsache, dass er meinem Blick auswich, wie auch der Frage, versetzte mir einen Stich.

„Du hast Angst, oder?“

Joey senkte den Kopf ein wenig und nickte dann. „Ganz ehrlich? Ich habe riesigen Schiss. Dieses Ding hat Bakura böse gemacht und scheint es auch mit dir zu tun. So wie Johnson drauf war…“

Ich griff nach seiner Hand und drückte diese fest. Was sollte ich als Nächstes sagen? Mahad wollte ich nicht noch zusätzlich mit Schuldgefühlen beladen.

„Ich glaube nicht, dass der Ring mich böse macht, Joey. Wie viel Gutes habe ich durch den Ring bewirkt, hm?“
 

Mein Freund drückte meine Hand ebenfalls fest. „Er hat ein Monster in diese Welt geholt. Slifer war real, so real wie Ra damals. Diese Dinger hätten zerstört werden sollen.“

Ich wusste ob der Geschichte vom Battle City Finale. Joey hatte sich damals gegen Ra behauptet und außerdem versucht Mai Valentine zu retten. Wenn Mahad und Yugi Recht hatten, musste Joey trotz all dieser Vorkommnisse in seinem Leben, einen äußerst starken Charakter besitzen.

„Aber Joey…“, begann ich, wurde aber gleich unterbrochen.
 

„Du bist in der Lage diese Dinger zu kontrollieren, wie Yugi, Kaiba und Marik. Du kannst sie genauso real in diese Welt holen. Was machst du, wenn sie außer Kontrolle geraten? Unzählige Menschen werden leiden und sterben.“

Ich wusste nicht, wie ich ihm diese Angst nehmen konnte, denn sie war berechtigt. Wenn dieser falsche Wechsel noch einmal passierte, und ich am Ende auch noch eines der Göttermonster beschworen hatte…
 

„Dann musst du stark genug für uns beide sein.“
 

Joey sah mir zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs in die Augen. „Lasse mich nicht in die Dunkelheit fallen, die mich umgibt. Wenn du Recht hast, dann wird mich der Ring nicht gehen lassen, wie er es mit Bakura getan hat.“ Ich zog ihn sanft zu mir und legte seine Arme um mich. „Halt mich fest und lass mich nicht mehr los, denn, wenn ich ehrlich bin, habe auch ich eine Scheißangst.“
 

Endlich war es draußen, endlich konnte ich tun, was ich schon seit geraumer Weile unterdrückte: Weinen. Mit jeder Sekunde die verging, krallte ich mich fester in Joeys Shirt. Jeder hatte Erwartungen in mich, Kaiba, Yugi, Mokuba, sogar Joey – ich musste immer da sein, mir irgendetwas aus dem Ärmel schütteln und glänzen. Prophezeiungen, Schicksal – das war alles bis zu dem Grad lustig, wo Menschen verletzt wurden. Ich hasste mich selbst, dass ich so schwach war. Hätte Kaiba an meiner Stelle diesen Ring bekommen, er würde zweimal Schnippen und die Welt wäre gerettet. Yugi, der sein Puzzle mit dem Ring kombiniert – unaufhaltbar. Was mache ich? David verbockt es natürlich.
 

Mein Weinen wurde von einem lauten Schluchzen begleitet. Diese Last, diese Verantwortung, sie war unerträglich. Nicht einmal ein zweites Ich war in der Lage, dem Pharao wirklich zur Seite zu stehen. Wie sollte ich es also tun? Mahad war so viel besser als ich und selbst er hatte Angst vor dem Bösen, das im Ring, nein in mir, lauerte.
 

„Ich werde dich nie verlassen“, hauchte Joey mir leise ins Ohr und presste mich fest an sich. „Nichts wird mich von dir trennen, und wenn du und Yugi die Welt retten müsst, werde ich euch beistehen, so wie damals.“

Ich konnte seine sanften Lippen auf meiner Wange spüren, wie sie langsam nach oben glitten Seine Hände wanderten an meiner Brust entlang und kamen auf dem Milleniumsring zum Ruhen. Diesen umschlossen sie fest.

„Ich werde immer da sein. Ich werde dich immer beschützen und behüten, so wie du es mit mir getan hast und tust. Ich werde dein Licht sein, wenn die Dunkelheit dich zu verschlingen droht. Ich liebe dich von ganzem Herzen.“
 

„Was, wenn ich durchdrehe und die Kontrolle verliere? Hältst du mich dann auf?“ Meine Frage war nicht mehr als ein Flüstern, doch ich wusste genau, dass Joey mich verstanden hatte.

„Dann führe ich dich ins Licht zurück. Wenn es sein muss, dann messe ich mich wieder mit einem Gott. Versprich mir nur, dass du mich nie vergisst.“
 

Joeys Lippen legten sich auf meine und küssten mich zärtlich. War diese kurze Zeit der Freiheit bereits ausreichend gewesen, um meinen Freund von den Ketten der Vergangenheit zu befreien? Konnte es sein, dass Joey Wheeler endlich zu sich selbst gefunden hatte? Eines war mir jedoch klar: Ich hatte meinen Ankerpunkt gefunden. Er und Yugi, genauso wie Mokuba und Kaiba, sie würden mich nicht in der Dunkelheit vergessen, niemals. Ich konnte die Exodia einst kontrollieren und würde es auch mit einem Gott schaffen.
 

„Aus Bösem kann manchmal Gutes erwachsen“, echote es in meinem Kopf. Da war eine Stimme, vollkommen fremd und doch vertraut. Sie wirkte wie die von Mahad, doch durchzogen mit einem nichteinzuordnenden Unterton. Seltsamerweise beruhigten mich diese Worte. Ich schlief in Joeys Armen ein, behütet und umsorgt von dem Menschen, den ich am Meisten liebte.

Eine interessante Begegnung

Ich wurde durch ein Klopfen an der Tür geweckt. Verschlafen rieb ich mir die Augen und schmiegte mich ein wenig an Joey, der lautstark gähnte. Ein Blick auf die Uhr zeigte 8:30 an, eine äußerst unchristliche Zeit, wenn man die Erlebnisse des gestrigen Tags bedachte. Als es erneut klopfte, murrte der Blondschopf und zog die Decke über uns. Obwohl wir beide in Unterwäsche schliefen, war es doch unangenehm, zumal wir nicht wussten, wer denn da störte.
 

„Wer ist da?“, wollte Joey leicht säuerlich wissen.

„Ich bins“, hörten wir Serenitys Stimme gedämpft durch die Tür. „Darf ich reinkommen?“

„Meinetwegen.“
 

Joeys kleine Schwester war schon angezogen, fix fertig gestylt und lächelte schief, als sie uns beide im Bett antraf.

„Ihr seid aber Schlafmützen.“

Mir lag etwas auf der Zunge, was ich mir aber schlussendlich verkniff.

„Was los, Schwesterherz?“

Serenity setzte sich, ungefragt, an unsere Bettkante. Es wunderte mich, dass Mokuba nicht um sie herumtänzelte. Normalerweise waren beide unzertrennlich.

„Joey, Mum hat mich angerufen. Sie würde dich gerne sehen.“
 

Ich konnte spüren, wie sich Joey unter der Bettdecke verkrampfte. Seine Mutter, die ihn in Japan bei seinem Vater zurückgelassen hatte. Die Frau, die ihm den Kontakt zu Serenity erschwert, wenn nicht sogar verboten hat. Ich konnte seine Reaktion nur zu gut verstehen.

„Ich aber nicht“, antwortete mein Freund leise.

„Joey, hab dich nicht so. Für Mum war es auch nicht leicht…“

„War es nicht? Sehr interessant. Nach Amerika abzuhauen, und sich hier ein neues Leben aufzubauen, war also schwer? Mein Mitleid hält sich in Grenzen – den Sohn beim Säufer zu lassen ist schon eine Glanzleistung.“
 

Natürlich hatte Joey Recht. Ich kannte aber seine Mutter nicht, und bisher wurde das Thema Mrs. Wheeler einfach totgeschwiegen. Mir wäre auch nicht eingefallen, ihn einmal dazu zu befragen. Wenn mein Freund erst einmal abblockte, war es absolut sinnlos, nachzubohren. Serenitys Blick nach zu urteilen hatte sie jedenfalls mit dieser Reaktion gerechnet.
 

„Mokuba und ich treffen uns mit ihr um elf im Hotelrestaurant. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr nachkommen.“ Damit verpasste sie ihrem Bruder einen Kuss auf die Stirn, bevor sie uns wieder alleine ließ. Ihre Augenwinkel glitzerten ein wenig.
 

„Schatz?“, fragte ich nach einer Weile der Stille, in der Joey einfach nur auf die geschlossene Tür starrte.

„Hm?“, war seine einzige Reaktion.

„Ich weiß, mich geht das alles nichts an. Du wirst mir schon selbst erzählen, was du für wichtig erachtest, aber ich würde gerne mit dir, oder alleine, hingehen.“

„Wozu?“, fragte Joey und sah mich fragend an.

„Weil ich deine Mutter gerne kennenlernen würde.“

„Damit sich dich dann auch um den Finger wickeln kann wie Serenity?“
 

Ich seufzte innerlich. Entweder war seine Mutter echt so ein Monster, oder er überreagierte einfach.

„Ich denke nicht, dass das passieren wird.“

„Ach ja?“, brauste der Japaner auf.

„Ich glaube, ich habe in den letzten Wochen und Monaten sowohl meine Liebe zu dir, als auch meine Loyalität, mehrfach bewiesen“, entgegnete ich leise, was den Blondschopf zum Verstummen brachte.

„Was versprichst du dir davon?“, wollte er nun deutlich ruhiger wissen.

„Ich habe schon deinen Vater nicht kennengelernt, da möchte ich das zumindest bei deiner Mutter nachholen. Für Serenity scheint sie gut zu sorgen. Vielleicht verstehe ich dann auch ein wenig, was zu dieser Situation geführt hat.“
 

Joey krallte seine Finger in die Bettdecke und wandte seinen Blick von mir ab. Ich konnte erkennen, wie er mit sich selbst rang. Hätte er sich noch auf die Lippen gebissen, wäre das Bild komplett gewesen.

„Damit sie dann ebenfalls über mich herziehen kann, wie der Alte? Mir vorwerfen, dass meine Existenz ein Fehler ist? Dass man sich mit mir in der Öffentlichkeit schämen muss, weil ich schwul bin?“

„Wenn sie das macht, hat sie bei mir natürlich keinen guten Stand.“
 

Um meine Worte zu unterstreichen, drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange.

„Du solltest allmählich wissen, dass sich nichts zwischen uns stellen wird. Niemand wird meine Meinung über dich ändern, außer du selbst. Für mich bist du das Beste, was mir im Leben passiert ist. Ich werde immer zu dir halten.“
 

Ein schwaches Lächeln umspielte Joeys Züge.

„Du machst es einem verdammt schwer, weißt du das?“

„Natürlich“, antwortete ich breit grinsend.

„Von mir aus. Ich weiß aber nicht, ob ich nachkomme.“
 

Ich nickte leicht, bevor ich mich noch ein wenig an Joey kuschelte. Die Zeit, bis ich mich fertig machte, unterhielten wir uns über die anstehenden Duelle. Duel Monsters war ein Thema, mit dem man Joey immer wieder aus der Reserve locken konnte. Dabei stellte er sowohl seine Intelligenz, als auch seinen Einfallsreichtum, unter Beweis.

Als ich mich ins Bad zurückzog, schlug ich ihm vor, er könne sich ja inzwischen mit Yugi treffen.
 

Im Spiegel sah ich Mahad, der mir lächelnd zunickte.

„Es ist richtig, sich mit seiner Mutter zu unterhalten.“

Ich sprang unter die Dusche, rasierte mich, machte mir die Haare und schlüpfte in bequeme Sachen, bestehend aus einem schwarzen Hoodie, schwarzen Jeans und meinen Sneaker. Gestriegelt im Anzug zu erscheinen kam mir falsch vor.
 

Joey hatte inzwischen im Fernsehen einen Zeichentrick gefunden, der ihm zu gefallen schien. Das, oder er lenkte sich sehr gut damit ab. Ich stahl mir noch einen Kuss, bevor ich nach unten in die Lobby ging und von da aus zum Restaurant.
 

Kaiba hatte natürlich ein Hotel gewählt, in dem die gehobenere Gesellschaft zu speisen pflegte. Wenn man noch den roten Teppich ausgerollt hätte, wäre das versnobte Bild perfekt gewesen. Ich bereute es schon fast, nicht in den Anzug geschlüpft zu sein, als ich lautstark meinen Namen hörte. Manchmal fragte ich mich, wie es Mokuba schaffte, seriös aufzutreten, wenn er einmal seinen Bruder vertrat.
 

Beim Tisch angekommen, wurde ich fast umgeworfen, als mir der kleine Kaiba an die Brust sprang. Die anderen Gäste bedachten uns schon mit äußerst fragwürdigen Blicken, was mein kleines Anhängsel nicht zu stören schien. Serenity lachte leise.

„Ich habe gerade erzählt, wie du dich das erste Mal mit Seto duelliert hast. Das war der Wahnsinn!“

„Du bist nicht mal dabei gewesen“, schmunzelte ich kopfschüttelnd.

„Ich kenne aber die Erzählungen!“
 

Mein Blick fiel dann endlich auf die Fremde, die wohl Joeys Mutter sein musste. Sie war eine etwas ältere Frau, mit den ersten Falten im Gesicht. Die Ähnlichkeit mit ihren Kindern war unverkennbar. Joey hatte die rehbraunen Augen und die Nase von ihr geerbt, während Serenity wohl ein deutlich jüngeres Spiegelbild sein durfte. Entgegen meiner Erwartungen lächelte Mrs. Wheeler ob Mokubas Euphorie.
 

Als ich mich endlich von meinem kleinen Anhängsel befreien konnte, hielt ich Serenitys Mutter die Hand hin und stellte mich vor.

„Guten Tag, Mrs. Wheeler. Ich weiß nicht, ob Serenity schon von mir erzählt hat, aber mein Name ist David Pirchner. Ich bin der Freund Ihres Sohnes.“ Bewusst hatte ich Serenity vorgeschoben, Mokuba hatte sicher irgendwelche übertriebenen Storys breitgetreten.
 

Mrs. Wheeler schüttelte mir die Hand und nickte lächelnd: „Ja, das hat sie. Mein Name ist Tomomi. Es freut mich, Sie kennenzulernen.“

Ich setzte mich neben Mokuba, der unbeirrt fortfuhr, mein erstes Duell gegen Kaiba haarspalterisch aufzuwerten und darzustellen. Die Hälfte davon war maßlos übertrieben, und die andere Hälfte nüchtern betrachtet ebenso. Joeys Mutter lächelte bei Mokubas hanebüchener Geschichte weiterhin und ich hatte sogar das Gefühl, dass sie sich für das Thema interessierte. Das, oder sie war einfach sehr höflich.
 

„Sie müssen sehr mutig sein, wenn Sie sich mit Seto Kaiba anlegen“, schloss sie die Erzählung ab. Mokuba war kurz vor dem Heißlaufen gewesen, als er berichtete, wie sich der Drache seines Bruders mit meinem maß.

„Ich würde es eher unglücklich in die Situation geraten nennen. Mokubas Bruder ist niemand, mit dem man gut Kirschen essen kann.“

„Das haben Sie aber sehr diplomatisch ausgedrückt.“

„Ohne Diplomatie, kann man an Seto Kaibas Seite nicht bestehen“, schmunzelte ich.
 

„Mokuba? Was hältst du davon, wenn wir mal eben nach deinem Bruder suchen? Hat er dir nicht versprochen, mit uns ins Kino zu gehen?“, fragte Serenity.

„Stimmt. Da war was!“

Ein fadenscheiniger Grund, aber immerhin besser als keiner.

„Bis später dann!“, winkten uns beide zum Abschied, bevor sie sich verdrückten.
 

Ein unangenehmes Schweigen trat ein, das schlussendlich durch den Kellner unterbrochen wurde, der unsere Bestellung aufnahm. Ich entschied mich für ein Rumpsteak mit Kartoffeln und Reis, während Misses Wheeler nur einen leichten Salat nahm. Als der Ober dann wieder verschwand, entschloss ich mich, die Stille zu durchbrechen.
 

„Haben Sie die Beiden auf den Trichter mit dem Kino gebracht, damit Sie sich mit mir ungestört unterhalten können?“

Mrs. Wheeler schüttelte lächelnd den Kopf: „Nein, das war wohl Serenitys Idee.“

„Sie haben bisher noch nicht gefragt, wo Joey ist.“
 

Kurz konnte ich einen Hauch Bedauern in den Zügen meiner Gesprächspartnerin erkennen.

„Ich kenne meinen Sohn lange genug, um zu wissen, dass er wahrscheinlich schmollend in seinem Zimmer hockt.“

Da war etwas dran.

„Darf ich fragen, was Serenity Ihnen erzählt hat?“

„Viel. Sie meinte, Joey sei sehr glücklich mit Ihnen und wäre aus sich herausgegangen. Soweit ich richtig informiert bin, ist es Ihnen zu verdanken, dass Joey und Serenity wieder regelmäßigen Kontakt haben?“

Ich hob ein wenig die Schultern an: „Nun, ich denke nicht. Sagen wir, ich habe ihm einen kleinen Stoß gegeben, das ist alles. Ohne Kaibas Hilfe wäre mir das aber auch nicht geglückt. Ich bin nicht sonderlich flüssig, wenn Sie verstehen.“
 

Bisher war mir Joeys Mutter nicht unsympathisch. Sie wirkte ein wenig reserviert, aber nicht unangenehm. Ich hatte sie mir deutlich schlimmer vorgestellt, wie eine Art Hausdrachen mit drei Köpfen.

„Natürlich. Woher soll man in Ihrem Alter auch das Geld für solche Projekte auftreiben?“

„Fragen Sie das mal Kaiba“, antwortete ich trocken.
 

Bis man uns das Essen brachte, unterhielten wir uns über Serenity und Mokuba. Misses Wheeler schien sich ehrlich für ihre Tochter zu freuen und Mokuba auch schon ein wenig ins Herz geschlossen zu haben. Das konnte ich mir bei seiner vereinnahmenden Art auch gut vorstellen.

Ich erfuhr außerdem, dass sie als Grafikdesignerin in einer Werbeagentur arbeitete, was Joeys zeichnerisches Talent erklärte.
 

„Wie geht es meinem Sohn denn?“, wollte Misses Wheeler zwischen zwei Happen wissen. Ich überlegte kauend, was ich antworten sollte. Das Essen schmeckte übrigens vorzüglich.

„Gut. Ich möchte nicht zu viel über sein Privatleben ausplaudern, aber er hat sich den letzten Monaten, wenn ich den Worten seiner Freunde Glauben schenken darf, sehr zum Positiven verändert.“

„Wie hat denn mein Exmann auf Sie reagiert?“
 

Ich kaute erneut nachdenklich. Sollte ich lügen? Joeys Mutter würde ihren Mann wohl besser kennen als ich, daher entschloss ich mich, die Wahrheit bis zu einem gewissen Grad preiszugeben.

„Er war nicht sonderlich begeistert. Wir sind uns persönlich nie begegnet.“

Entgegen meiner Erwartungen bohrte mein Gegenüber nicht weiter nach.

„Stört es Sie denn?“

„Warum sollte es?“, fragte sie und lächelte sanft. Sie schob die Finger ineinander und beobachtete mich beim Essen.
 

„Es ist noch immer in weiten Kreisen verpönt, homosexuell zu sein. Eine Art Stigmata, welches man mit sich herumträgt.“

„Dahingehend kann ich Sie beruhigen. Mir ist es wichtig, dass Joey glücklich ist, ob das nun mit Mann oder Frau an seiner Seite ist, interessiert mich weniger.“
 

Ich war zugegebenermaßen ein wenig ratlos. Nicht, dass ich mit einer Schimpftirade gerechnet hätte, wie beim alten Wheeler, aber ein wenig Abneigung hatte ich schon erwartet. Ich war schließlich kein Japaner, noch dazu aus eher einfachen Verhältnissen (wenn man einmal meine Nähe zu Kaiba außen vor ließ), und entsprach sicher nicht den Wunschvorstellungen eines Schwiegersohns.
 

„Sie haben mit etwas anderem gerechnet, oder?“, fragte sie und hob die Mundwinkel ein wenig an.

„Wenn ich ehrlich sein soll, ja. Nachdem Ihr Exmann so heftig reagiert hat, ging ich von einer gewissen Abneigung mir gegenüber aus.“

„Das kann man Ihnen auch nicht verdenken. Joey wird wahrscheinlich auch nicht sonderlich gut über mich sprechen.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung gewesen.
 

„Das würde ich so nicht sagen. Er hält sich nur sehr bedeckt.“

„Es war jedenfalls ein sehr schöner Zug von Ihnen, sich ein persönliches Bild machen zu wollen.“

Ich rieb mir verlegen den Nacken.

„Wissen Sie, ich hatte bei seinem Vater schon nicht die Gelegenheit. Sie wirkten auf mich vernünftiger, zumal Serenity sehr glücklich scheint.“

„Auch das kann ich verstehen. Was ich aber nicht verstehe ist, dass Sie mir keine Vorwürfe machen.“
 

Ich blinzelte verblüfft. Misses Wheeler hatte den ganzen Satz relativ neutral betont.

„Sollte ich?“

„Wie mir Serenity erzählt hat, leben Sie in einer ähnlichen Konstellation, wie Joey damals und auch heute. Als sein Freund, mit den gleichen Erfahrungen, wäre es nur natürlich, mich zu hassen.“
 

Die nüchterne Art von Joeys Mutter machte mir ein wenig zu schaffen. Ich trug diesen Gedanken nämlich schon eine Weile mit mir herum, hatte ihn aber irgendwo in den Untiefen meines Kopfes vergraben, um ihr eine einigermaßen objektive Chance zu geben.
 

„Vielleicht hatten Sie gute Gründe?“

„Glauben Sie das denn?“

Tat ich das? Ich hoffte es zumindest.

„Ich hoffe es“, antwortete ich wahrheitsgetreu.
 

„Sie sind ehrlich. Das ist ein sehr kostbarer Wesenszug.“

„Ich gebe mein Bestes“, sagte ich und hob die Schultern an.

„Wollen Sie denn gar nicht wissen, warum ich Joey bei seinem Vater ließ? Warum ich mit Serenity nach Amerika gegangen bin? Mir hier ein neues Leben aufgebaut habe?“
 

Natürlich wollte ich das. Ich wollte aber auch nicht unhöflich sein. Außerdem stand es mir nicht zu, dreist nachzubohren. Bisher hatte Misses Wheeler einen sehr netten Eindruck auf mich gemacht. Sie als herzloses Monster anzusehen lag mir mittlerweile sehr fern.
 

„Es interessiert mich natürlich, doch ich glaube, das sollten Sie mit Joey selbst abklären. Für mich zählt, dass es Serenity gut geht, damit auch Joey, und er glücklich ist.“

„Serenity hat nicht übertrieben, als sie meinte, Sie seien sehr reif für Ihr Alter.“
 

Gerade als ich etwas erwidern wollte, vibrierte mein Handy in der Hosentasche. Joeys Name prangte auf dem Display. Er hatte mir eine SMS geschrieben, er und Yugi würden in das örtliche Einkaufszentrum gehen. Ich legte das Smartphone wieder beiseite. Mich interessierte gerade die Familiengeschichte der Wheelers mehr, oder zumindest mein Gegenüber.
 

„War das Joey?“

Ich nickte zögerlich.

„Ja, das war Joey. Er geht mit Yugi in die Mall.“
 

Mrs. Wheeler war der Schmerz anzusehen, den sie mit sich herumtrug. Tief in meinem Inneren war ich überzeugt, dass sie bedauerte, ihren Sohn in Japan zurückgelassen zu haben. Stand es mir denn zu, über sie zu urteilen? Wo ich doch die Umstände gar nicht kannte?
 

„Darf ich Sie fragen, warum es Sie nach Amerika verschlagen hat?“

Joeys Mutter nickte schwach lächelnd und versuchte die Betroffenheit über die Tatsache, dass ihr Sohn lieber mit seinem besten Freund abhing, als mit ihr, mehr schlecht als recht zu überspielen.

„Wissen Sie, eine gute Freundin von mir lebte damals schon hier. Sie wusste von meiner Situation. Mir wurde praktisch ein guter Job, eine Flucht und auch eine neue Existenz geboten. Ich habe diese Chance ergriffen, auf dem Rücken von Joey.“

Die Stimme von Mrs. Wheeler war fest. Ich hatte mit mehr Tränen gerechnet, oder mit einer Schuldzuweisung an ihren Ex.
 

„Bereuen Sie es?“

Ein kaum merkliches Nicken bestätigte mich in meiner Vermutung. Auch für sie war die ganze Situation damals nicht leicht gewesen. Natürlich wusste ich noch immer nicht ob der Umstände Bescheid, und das wollte ich auch gar nicht, mir reichte es, jemanden vor mir zu haben, der aufrichtig mit einer Entscheidung haderte, die schon weit in der Vergangenheit zurücklag.

„Ich…“, fing ich an, schloss dann aber wieder meinen Mund.
 

„Falls es Sie beruhigt, das Sorgerecht für Joey wurde Ihrem Exmann entzogen.“

Ich wurde mit einem überraschten Blick belohnt.

„Wir haben erwirkt, dass Herr Muto, also Yugis Großvater, bis zu seinem 18ten Geburtstag die Vormundschaft übernimmt.“

„Das freut mich, ehrlich. Solomon war immer sehr nett zu Joey.“

Sie lächelte erneut, tatsächlich.
 

„Das heißt, Sie sind nicht böse, weil wir hinter Ihrem Rücken…?“

„Natürlich nicht. Es war und ist für Joey das Beste“, antwortete mein Gegenüber kopfschüttelnd.

„Wenn er volljährig ist, kann er selbst entscheiden. Er kann dann bei mir leben, sich selbst eine Bleibe suchen…“

„Ich glaube, dass er bei Ihnen in guten Händen ist.“

„Selbst, wenn ich ihn zu mir nach Europa mitnehme?“

Ein schwaches Nicken folgte als Antwort.
 

Mit dieser Art von Entgegenkommen hatte ich auch nicht gerechnet. Insgesamt war das Gespräch mit Joeys Mutter bisher eine positive Überraschung gewesen. Ich glaubte aber auch nicht, dass Joey mich belogen oder gänzlich übertrieben hatte. Wahrscheinlich war in ihrem Leben ein Wendepunkt entstanden, der sie zum Umdenken bewegt hatte.
 

„Es tut mir sehr leid, aber meine Mittagspause ist bald vorbei.“ Damit griff sie nach einem roten Mantel und einer Handtasche, in der sie kramte. Sie zog eine Duel Monsters Karte hervor, die sie mir entgegenhielt.

„Freier Gegendruck“, murmelte ich und drehte sie ein wenig. Sah selten aus.

„Mein Chef ist ein begeistert Duel Monsters Fan, vor allem von Seto Kaiba und Ihnen.“

„Mir?“, lachte ich leise. „Sie müssen nicht lügen, ich empfand das Gespräch auch so als angenehm.“

„Ich lüge nicht. Würden Sie sie bitte Joey geben? Als ein kleines Andenken.“
 

Ich nickte bekräftigend. Wir standen auf und verabschiedeten uns. Mrs. Wheeler übernahm, trotz Protesten meinerseits, die Rechnung. Als ich zurück ins Hotelzimmer ging, dachte ich nach. Sie war weder aufdringlich gewesen, noch hatte sie Fehler nicht zugeben wollen. Auf mich machte Joeys Mutter einen eher vernünftigen, verständnisvollen Eindruck. Sollte das alles nur Show gewesen sein?

Ich strich noch einmal über die Karte und schob sie dann in mein Deck. Dort war sie gut aufgehoben, bis Joey zurückkam. Danach legte ich mich ins Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Ich war unschlüssig, ob ich mich nicht doch einmischen sollte. Am Ende war es aber sowieso Joey, der entschied, und das würde er auch ohne meine Hilfe tun, die Frage war nur, ob er dabei das Richtige tat. Außerdem war mir nicht in den Sinn gekommen, zu fragen, warum sie den Kontakt zwischen den Geschwistern unterbunden hatte, oder war das nur ein Hirngespinst meines Freundes gewesen?

Ein Geschenk gegen die Angst

Joey saß mit Yugi in der Mall, beide einen Milchshake vor sich. Der Blondschopf stocherte lustlos mit dem Strohhalm in seinem Getränk herum.

„Du machst dir zu viele Gedanken, Joey.“

„Du hast zugegeben, dass das in der VR beängstigend war. Der Ring ist noch immer böse. Er kann ihn nicht kontrollieren, wie Bakura.“

„Das ist nicht gesagt…“, begann Yugi, wurde aber sogleich von seinem besten Freund harsch unterbrochen.

„Ist es doch. Du selbst hast gesagt, dass es eigentlich unmöglich sein müsste, Duel Monsters in die reale Welt zu holen. Der böse Geist im Ring konnte das. Es bringt ihn um.“

„Auch das ist nicht gesagt, Joey. Die Milleniumsgegenstände sind eben sehr mächtig. Denk an den Stab und die Kette.“
 

Joey unterdrückte den Drang, seinen Milchshake vom Tisch zu fegen. Er machte sich große Sorgen, und er hatte Angst, auch wenn er das so nicht zugeben wollte. Tristan hatte ihnen von Bakuras Fähigkeiten im Königreich der Duellanten erzählt. Mühelos hatte der böse Geist Duel Monsters in die reale Welt geholt. Marik hatte das Gleiche getan. Beide sind irgendwie wahnsinnig geworden. Er wollte nicht, dass David das gleiche Schicksal blühte.
 

„Warum hast du bei mir keine Angst, dass ich überschnappe?“, wollte Yugi nach einer Weile des Schweigens sanft wissen.

„Weil wir uns schon seit Jahren kennen. Du hast eine sanfte Seele, und du und dein anderes Ich arbeiten in Harmonie zusammen.“

„Das tun David und sein anderes Ich aber auch.“
 

Joey schwieg erneut. Yugi kannte seinen besten Freund mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass ihn etwas anderes bedrückte.

„Lass dir nicht aus der Nase ziehen, was eigentlich los ist.“

„Nichts“, blockte der Blonde ab und zog hastig an seinem Milchshake. Da war tatsächlich etwas, wovor er mehr Angst hatte, als einem bösen David gegenüberzustehen.
 

„Du bist ein schlechter Lügner, weißt du das?“, lächelte Yugi.

„Klappe“, konterte Joey mit einem schiefen Grinsen.

„Du weißt, dass du Tristan und mir alles erzählen kannst, oder?“

„Natürlich, aber…“ Der Größere rieb sich verlegen den Arm.

„Aber?“, hakte Yugi nach.
 

Joey wollte nicht aussprechen, was ihn seit einer Weile verfolgte. Seinen Ängsten einen Namen zu geben, sie auszusprechen, machte sie in der Regel nur schlimmer. Es reichte schon, wenn er sich Gedanken um den Ring machen musste, nicht auch noch um das.
 

„Spucks aus, Joey“, bohrte der König der Spiele erneut nach, in gewohnt sanfter Manier.

„Es ist…“, begann der Blonde zögernd und kapitulierte schlussendlich seufzend, „es ist wegen Kaiba.“

„Kaiba?“, fragte Yugi und schrägte den Kopf. „Das verstehe ich nicht.“

„Ja, Kaiba.“
 

Joey zog erneut an seinem Getränk und legte sich die nächsten Worte zurecht. Yugi konnte er vertrauen. Sein bester Freund würde auch nicht lachen, oder ihn verspotten. Er würde ihn verstehen, ganz sicher sogar.
 

„Ich habe einfach Schiss, dass Kaiba ihn mir wegnimmt.“
 

Nach diesem einen Satz fühlte sich der blonde Japaner seltsamerweise befreit. Es war, als wäre eine große Last von seinen Schultern gefallen. Endlich war es draußen. Er musste es nicht mehr tief in sich verstecken, oder sich bemühen, dass es niemand herausbekam.
 

„Du meinst, dass er ihn dir ausspannt?“

„Nenne es, wie du willst. Dabei geht es gar nicht um David, es geht nur darum, dass ich etwas habe, was Kaiba nicht hat.“

„Hm…“
 

Yugi zog nun seinerseits am Strohhalm. Bisher war ihm nicht einmal ansatzweise der Gedanke gekommen, dass Kaiba an David interessiert sein könnte, oder umgekehrt. Das würde zum CEO auch nicht passen. Dieser hatte schließlich andere Dinge zu tun.
 

„Ich glaube, deine Sorgen sind dahingehend unbegründet.“

„Warum?“

„Ganz einfach, Joey. David liebt dich. Das ist sogar Großvater aufgefallen.“

„Ja schon, aber, vergleiche mich doch einmal mit Kaiba.“

„Warum sollte ich?“
 

Warum sollte man? Kaiba hatte seinem Freund so viel mehr zu bieten; Geld, Ansehen, Förderung. Das waren Dinge, mit denen Joey nicht auftrumpfen konnte. Er hatte höchstens eine kaputte Familie zu bieten. Außerdem stand David wegen ihm schon so tief in Kaibas Schuld, dass es nur eine Frage der Zeit war, dass dieser einen Ausgleich dafür verlangte.
 

„Du siehst das falsch, Joey. Ihr zwei unterscheidet euch sehr. Kaiba ist kalt, emotionslos, und besessen davon, alleine weiterzukommen. Du hingegen verlässt dich auf deine Freunde, liebst deine Schwester und auch deinen Freund. Warum also sollte David Geborgenheit, Wärme und Fürsorge gegen Kälte tauschen? Außerdem, wenn das Kaibas Ziel wäre, dann hätte er ihn sicher nicht bei sich wohnen lassen.“

„Du siehst das falsch, Yugi. Wenn sich David erst einmal an den Luxus gewöhnt hat, will er ihn nicht mehr missen. Was dann? Wenn Kaiba ihm droht, ihn rauszuwerfen, weil er nicht nach seiner Pfeife tanzt, den Kontakt zu mir abbricht…“

„Dann wird Kaiba wohl lernen, dass Reichtum nicht alles ist.“
 

Joey tätschelte seinem besten Freund den Arm.

„Ich glaube nicht, dass David käuflich ist. Tief in deinem Inneren weißt auch du das.“

„Trotzdem, Yugi. Ich fühle mich so nutzlos. Ihr habt alle etwas Besonderes: Du und David die Milleniumsgegenstände, Kaiba Geld und ausgeklügelte Taktiken, und ich…“

„Ein reines Herz, einen starken Willen und das Wissen, dass du nichts davon brauchst, um vollkommen zu sein“, beendete Yugi den Satz.
 

Da war natürlich etwas dran. Joey hatte sich im Laufe der Jahre zu einem sehr guten Duellanten gemausert. Das lag nicht nur an seinem Deck, sondern auch an seinem Vertrauen in das Herz der Karten. Er war Kaiba sicher nicht völlig ebenbürtig, aber doch gut genug, um dem CEO Probleme zu bereiten. Mit Yugi gemeinsam bildete er ein unschlagbares Team. Er hätte damals sogar fast Marik ausgeknockt, und das trotz Götterkarte.
 

„Du vergleichst dich immer mit anderen, und vergisst dabei deine eigenen Erfolge. Ohne dich hätte ich damals im Königreich der Duellanten nicht die Gebrüder ParaDox schlagen können. Dann noch dein Duell gegen Mai, Bandit Keith, dessen Handlanger, Mako Tsunami, Marik; die Liste ließe sich noch fortsetzen.“

Yugi lächelte seinem Freund aufmunternd zu.

„Du hast natürlich Recht, Yugi, aber ich habe trotzdem Angst. Wenn ihn wieder irgendwelche Alpträume plagen, er an Zuhause denkt, dass er wirklich bei den Kaibas untergekommen ist…“

„Kann es nicht eher sein, dass du gerade große Angst davor hast, dass er sich mit deiner Mutter gut verstehen könnte, und du damit konfrontiert wirst, dass sie sich doch für dich interessiert?“
 

Joey blies die Wangen auf. Was sollte das denn? Selbst wenn sich sein Freund mit seiner Mutter gut verstehen würde, würde das noch nichts daran ändern, dass sie ihn in den letzten Jahren im Stich gelassen hatte. Er musste ein Dasein bei einem Alkoholiker fristen, während sie sich in Amerika ein schönes Leben machte – das war eine Ungerechtigkeit, die er ihr nicht so einfach verzeihen konnte.
 

„Selbst wenn, ist es mir auch egal. Meine Mutter ist für mich gestorben, genauso wie mein Vater.“

„Tief in deinem Inneren weißt du, dass auch das nicht stimmt. Sperre dich doch nicht immer gegen deine Gefühle. Ohne David hätten wir nie herausgefunden, was bei dir zuhause los ist, und wir kennen dich länger als er.“

„Na und? Das ist eben was Anderes.“
 

Joey vermied Yugis Blick und starrte stattdessen auf seinen halbleeren Milchshake. Sein Freund hatte Recht, das wusste er auch. Er hatte sich geschämt, schämte sich noch immer, nicht von Zuhause loszukommen. Auch wenn er seinen Freunden vertraute, so kämpfte der Blondschopf immer wieder mit dem Wunsch, komplett selbstständig zu sein. Im Königreich der Duellanten hätte Mai sie beinahe entzweit, weil er ohne Yugis Hilfe kämpfen hatte wollen Zumindest ihm und Tristan, der immer für ihn dagewesen ist, hätte er sich anvertrauen können.
 

„Ich schlage dir etwas vor“, riss Yugi seinen Gesprächspartner aus den Gedanken. Er griff in seine Hosentasche und zog einen für Joey wohlbekannten Gegenstand hervor.

„Du hast sie noch immer?“

„Natürlich. Die Milleniumskette, die mir Ishizu gegeben hat. Wenn du möchtest, nimm sie.“

Der König der Spiele schob das Artefakt zu Joey hin.

„Damit hast du auch einen Gegenstand. Du bist gleichauf mit David und mir, und kannst ihn bremsen, falls es notwendig sein sollte.“
 

Joey schüttelte den Kopf: „Das kann ich nicht annehmen.“

„Natürlich kannst du, stell dich nicht so an. Wenn du dir so unsicher ob der Zukunft bist, versuche einmal, ob sie mit dir reagiert. Ich glaube nämlich nicht, dass es Zufall ist, dass die Kette noch immer in meinem Besitz ist.“
 

„Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit…“, murmelte Joey und griff nach der Milleniumskette. Sie war leicht und fühlte sich angenehm an, ganz anders als der Ring, wenn er ihn unabsichtlich berührte. Damit hatte er etwas in der Hand, eine Rückversicherung. Gemeinsam waren Yugi und er in der Lage, das Böse im Ring einzudämmen, es vielleicht gänzlich zu zerstören, sollte David die Kontrolle verlieren. War es falsch, sie anzunehmen?
 

„Danke, Yugi.“

Nach kurzem Zögern steckte der Blondschopf die Kette in seinen Parka.

„Ich revanchiere mich irgendwann mal dafür, ja?“

„Nicht nötig. Freunde müssen sich nicht revanchieren“, lächelte Yugi erneut sanft.

„Hauptsache, du bist beruhigt.“
 

Das war Joey tatsächlich ein wenig. Endlich war er nicht mehr nur das fünfte Rad am Wagen. Mit der Kette konnte er in die Zukunft blicken, wie auch in die Vergangenheit. Die Träume von längst vergangen Schlachten, Schatten in der Dunkelheit, seinem Rotaugendrachen, jetzt war er in der Lage sie zu erforschen. Natürlich war das ein weiterer Schritt der großen Mut erforderte, und gerade sah sich Joey nicht in der Position, dies zu bewerkstelligen, aber vielleicht in naher Zukunft?

Den restlichen Nachmittag verbrachten die Beiden damit, über Duel Monsters und Tristan zu quatschen, der bald bei einer Stunt-Show in Domino City auftreten würde. Jetzt galt es nur noch zu ergründen, inwieweit Joeys Mutter seinen Freund beeinflusst hatte. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch machte sich der blonde Japaner auf den Weg ins Hotel, Yugi wollte sich noch mit Tea treffen.

Für immer

Joey bot sich ein äußerst niedlicher Anblick: Sein Freund schlief. In diesen Momenten glich er seinem besten Freund Yugi so sehr: Ruhig, gelassen, sanft. Es war kaum vorstellbar, dass dieser Junge einen Funken Böses in sich tragen konnte. Unweigerlich musste Joey lächeln, bevor er aus seinen Stiefeln schlüpfte und sich ins Badezimmer begab.
 

Dort spritzte er sich etwas Wasser ins Gesicht. Auch wenn Yugi Recht haben mochte, so blieben noch immer Zweifel. Er war einfach nicht Kaiba, und das würde er auch nie sein können. Es fehlte ihm an Geld, Prestige und auch ein wenig am taktischen Denken. Joey verließ sich sehr auf Glück. Eine falsche Karte oder ein ungünstiges Ergebnis bei Dingen wie dem Zeitroulette konnten ihn aus dem Duell werfen. Dagegen war jeder von Kaibas Zügen genau durchdacht. Er wusste, welche Karte er spielen musste, wie er selbst ohne die Weißen Drachen den Sieg errang, und wie er möglichst schnell Obelisk den Peiniger aufs Feld holen konnte.
 

„Diese verdammten Götterkarten“, murmelte der Japaner und schälte sich aus seinem Parka. Kaiba hatte eine besessen, Yugi, und auch Marik. Diese Monster waren nicht zu stoppen gewesen. Obelisk fegte alles vom Feld, was ihm im Weg stand, Slifer schwächte die Monster zuerst, um ihnen dann den Gar auszumachen und Ra war mächtig genug gewesen, selbst ohne Angriffspunkte sämtliche Verteidigung des Gegners auszulöschen. Wenn Kaiba wieder so eine Karte ergatterte, wieder Obelisk, warum sollte sich David nicht einfach an ihn halten? Der CEO versprach Ansehen, Macht und Reichtum. Das wollte einfach nicht in Joeys Kopf gehen, warum Kaiba am Ende den Kürzeren ziehen sollte.
 

„Ah verdammt“, fauchte er und pfefferte den Parka in die Ecke. Als dieser gegen die Badewanne prallte, gab er ein leises Klirren von sich. Joey hob seine Jacke auf und griff in die Tasche.

„Die Kette“, murmelte er und zog das Artefakt hervor.
 

Sie fühlte sich leicht an, und war warm, trotz seines metallischen Materials. In der Mitte prangte, genauso wie beim Puzzle und beim Ring, das komisch geformte Auge. Joey hatte das Gefühl, sich darin zu verlieren. Es war, als würde man in einen Abgrund starren, der am Ende zurückstarrte. Mit jeder Sekunde die verging, fiel es dem Blondschopf schwerer, die Augen offenzuhalten. Gerade, als er sie wieder weglegen wollte, um sich dem hypnotischen Bann zu entziehen, leuchtete der Augapfel auf. Das Licht war so grell, dass Joey seine Lider mit der freien Hand schützen musste. Um ihn herum wurde es dunkel.
 

„Jetzt hat mich dieses verfluchte Ding auch schon irgendwohin gezogen, und dabei habe ich es noch nicht einmal eine Stunde“, schnaubte er. Er hätte sich unwohl fühlen müssen, Angst verspüren, zumindest ein Grummeln im Bauch wahrnehmen müssen, aber da war seltsamerweise nichts, im Gegenteil: Langsam schälte sich aus dem dunklen Nebel eine Szene. Es wirkte, als hätte man durch ein Fenster geschaut, oder in eine Comic-Sprechblase.
 

Es regnete, und das schon seit Stunden. Der Sturm wollte einfach nicht aufhören. Die Männer und Frauen auf beiden Seiten waren bereits bis auf die Knochen durchnässt. Wer sich Ketten- oder gar Plattenpanzer leisten konnte, der würde am nächsten Tag über aufgescheuerte Haut klagen. Den Leder- und Waffenrockträgern ging es ein wenig besser, dennoch, auch sie hatten mit der Kälte zu kämpfen. Sie warteten auf eine Entscheidung, die nun endlich zu fallen schien.
 

Auf der linken Seite stand jemand, der Joey zum Verwechseln ähnlich sah. Er hatte den gleichen entschlossenen Blick, wenn er sich etwa sin den Kopf gesetzt hatte, genauso wie die trainierte Statur. Dazu noch Rüstung und Schwert im Stil des Flammenschwertkämpfers. Unter dem Helm lugten blonde Haarspitzen hervor, welche an der Stirn ihres Besitzers klebten.
 

„Wie in alten Zeiten – wer zuerst am Körper blutet, der hat verloren.“ Christopher Urswick, Chris genannt, von seinen Freunden, begann, sich der Rüstung zu entledigen. Was er da tat, war blanker Wahnsinn, geboren aus überzogenem Stolz und Überheblichkeit. Die Männer und Frauen unter seinem Banner schätzten aber genau diese Eigenschaften, weil er sich stets bemühte, ihre Leben zu schonen. Am Ende war ein entschlossener Mann zu sehen, gekleidet in Stiefel, braune Leinenhose und Leinenhemd, der den Schwertgriff des Zweihänders fest umschlossen hielt.
 

Sein Gegenüber sah schon ein wenig erhabener, feiner aus. Er war groß gewachsen, trug eine edle, weiß-silberne Rüstung, deren Design beim ersten Blick schon an den Weißen Drachen mit Eiskaltem Blick erinnerte. Als er den Helm abnahm, stockte dem Joey aus dem 21ten Jahrhundert der Atem. Das war Kaiba!
 

„Wie närrisch, sich mit dem besten Schwertkämpfer des Landes messen zu wollen. Mir soll das einerlei sein; der Exil-König wird lernen, dass sein Leibwächter höchstens für eine Arbeit auf dem Feld geeignet ist.“

Der Kaiba-Verschnitt tat es seinem Kontrahenten gleich, wobei gleich mehrere Männer heraneilten, um die kostbare Rüstung in Empfang zu nehmen. Die Kleidungschicht zwischen Rüstung und Haut war gänzlich in weiß gehalten, und wirkte deutlich edler, als das, was Chris trug.

In einer fließenden Bewegung zog Kaiba das eisblaue Schwert aus der Scheide, drehte es ein paar Mal aus dem Handgelenk heraus, bevor er sich breitbeinig hinstellte und herablassend grinste.
 

„Die nächsten Generationen werden sich an diesen Kampf nicht einmal mehr erinnern. Ein Hund will gegen einen Herren aufbegehren. So sei es denn, Christian Rosenkreuz wird seine größte Errungenschaft am heutigen Tage feiern.“
 

Die beiden Kämpfer umkreisten sich, lauernd, wie Tiger, die darauf warteten, ihre Beute zerfleischen zu können. Der Blick der Beiden war ernst, jeder den Anderen fixiert. Sie achteten auf jede noch so kleine Bewegung, während ihre Stiefel im matschigen Erdreich versanken. Jeder einzelne Schritt wurde schwerer als der vorherige. Wind und Regen peitschte ihnen ins Gesicht. Binnen kürzester Zeit war die Unterbekleidung komplett durchnässt, sie klebte an der Haut und behinderte jede weitere Aktion zusätzlich.
 

„Was ist denn? Habt Ihr Angst? Ihr, der große Leibwächter des Exil-Königs?“ Christians Stimme war von Spott durchzogen. Eine altbewährte Taktik, die schon oft zum Sieg geführt hatte. Sein Gegner war leicht zu reizen, und das wusste er auch. Er wollte ihn zu einer Dummheit verleiten.
 

Beide kämpften um einen sehr hohen Preis. Der Sieg konnte den gesamten Rosenkrieg beeinflussen. Jeder hatte eigene Motive, seien sie aus Selbstsucht, Egoismus oder Liebe geboren. Von diesem einen Schwertkampf hing viel ab, wenn nicht sogar alles.
 

Chris sparte sich eine Erwiderung. Mit einem Ausfallschritt war er bei seinem Kontrahenten und holte mit dem Zweihänder aus. Ein Schwerthieb, horizontal geführt von rechts kommend, wurde vom Anführer der Rosenkreuzritter scheinbar mühelos durchschaut. Mit einem anmutig wirkenden Schritt nach hinten wich er dem wuchtigen Schlag aus.
 

„Das war schon immer Euer Problem, Urswick: Ihr seid zu plump. Euch fehlt es an der Eleganz und Finesse, die der König besitzt, wie auch Euer Freund.“

Um seine Worte zu unterstreichen, legte der Kaiba aus Großbritannien seine linke Hand auf den Rücken und führte die Waffe nur mit einer Hand. Er tänzelte um den Anderen herum, der sich damit abmühte, die schwere Klinge auf seinen Gegner niedersausen zu lassen.
 

„Ihr habt auch nicht gelernt, den richtigen Moment abzupassen.“
 

Christian wartete den nächsten Hieb von oben herab ab, nur um dem früheren Joey den Ellenbogen ins Gesicht zu schlagen. Dieser konnte den Angriff nicht abblocken, war er doch mit dem Zurückziehen der Waffe an den Körper beschäftigt. Mit einem lauten Knacken brach die getroffene Nase. Warmes Blut benetzte Christophers Gesicht, der vor Schmerz aufstöhnte. Der Rosenkreuzritter war inzwischen wieder auf Abstand gegangen und lächelte amüsiert.
 

„Nächstes Mal breche ich Euch den Kiefer“, spottete der Größere der Beiden und beobachtete seinen Kontrahenten, der mit der linken Hand sein Gesicht bedeckte.

„Was mich stört ist allerdings die Tatsache, dass Ihr meine Kleidung mit Eurem Blut besudelt habt. Damit ist sie wertlos geworden.“
 

Der Blonde schüttelte den Kopf und versuchte den pochenden Schmerz einfach zu ignorieren. Er durfte nicht verlieren, nicht nur wegen dem König. Mit einer energischen Handbewegung wischte er sich das Blut von den Lippen, bevor er erneut zum Angriff überging.
 

„Ihr seid noch immer zu langsam.“
 

Erneut wich der Rosenkreuzritter den Angriffen aus, die linke Hand noch immer am Rücken. Bisher hatte er nicht einmal seine Waffe benutzen müssen. Er wirkte frisch und ausgeruht, während Joeys früheres Ich bereits schnaubte und keuchte. Blut und Schweiß wurden vom Regen weggewaschen, benetzten das Leinenhemd, welches sich dunkel gefärbt hatte.
 

Der nächste brachiale Angriff wurde von Christian einfach dadurch gestoppt, dass er mit seinem Fuß dem Leibwächter des Königs die Beine wegzog. Dieser landete mit dem Rücken im Schlamm, die Klinge rutschte ihm dabei aus den Händen.
 

„Nicht einmal die einfachsten Grundregeln des Schwertkampfs beherrscht Ihr. Ein Bauer wird immer ein Bauer bleiben, genauso wie ein Priestersohn kein Krieger sein kann. Zeit, dieser Scharade ein Ende zu bereiten.“
 

Der Braunhaarige holte aus. Seine Klinge zielte direkt auf Christophers Hals. Just, bevor das eisblaue Schwert sich durch die Luftröhre des Gegners fressen konnte, zuckte dessen Träger zusammen. Keuchend wich er zurück und schaute an sich herab. Zwei schlammige Stiefelabdrücke fanden sich auf seinem Oberteil.
 

„Das habt Ihr gar nicht kommen sehen?“, fragte der Blonde nach und musste ein Grinsen unterdrücken. Er nutzte die Zeit, um sich aufzurappeln und sich seine Waffe zu holen.

„Ich stecke wohl doch voller Überraschungen.“
 

Der Kaiba-Klon betrachtete noch einen Moment lang ungläubig die getroffene Stelle, bevor er den Kopf schüttelte. Das war zu viel. Niemand sprang so mit ihm um, schon gar nicht vor seinen Soldaten. Es war Zeit, diesen frechen Nichtsnutz zu vernichten.
 

Wortlos eilte Christian heran und deckte seinen Gegner mit einem Schlaghagel ein, den dieser nur mit Mühe parieren konnte. Der kleine Erfolg von vorhin schwand gänzlich der Defensive, in die er gedrängt wurde. Sein Schwert war zu groß, zu lang, zu klobig, um im direkten Nahkampf wirklich nützlich sein zu können. Das vom Rosenkreuzritter dagegen elegant, leicht und wie geschaffen für ein Duell.
 

„Mit jeder Sekunde die vergeht, werdet Ihr müder. Meine Zeit wird kommen.“
 

Doch sie kam nicht. Auch wenn Chris jeder Knochen im Leib weh tat, und er schwer unter der Last des Zweihänders zu kämpfen hatte, so parierte und wich er dennoch jedem Angriff aus, den der braunhaarige Gegner für ihn bereithielt. Schlussendlich gab der Rosenkreuzritter auf und ging wieder auf Distanz.
 

„Beeindruckend, für einen Tölpel wie Euch.“
 

Joeys früheres Ich wischte sich erneut mit dem Faustrücken über die Nase. Das Blut an seiner Oberlippe war inzwischen getrocknet. Der Regen weichte die Kruste etwas auf, was ein unangenehmes Gefühl hinterließ.
 

„Ihr werdet ihn nie bekommen“, schnaubte Chris.

„Lieber sterbe ich, als das zuzulassen.“
 

„Nun, ich hatte auch vor, Euch endgültig zu vernichten“, entgegnete Christian und drehte sein Schwert erneut aus dem Handgelenk heraus.

„Er wird mir gehören. Sein Leben, seine Hingabe, alles wofür er existiert, wird meinen Wünschen entsprechen. Ich werde ihn weiter formen, weiter ausbilden. Er wird ein Rosenkreuzritter werden wie kein Zweiter.“
 

„Nein!“, schrie Chris aus voller Kehle und griff erneut an, dieses Mal in blinder Wut. Angst packte sein Herz und umschloss es fest. Er durfte ihn nicht verlieren, von ihm getrennt werden.
 

Dieses Mal erwartete Christian den Angriff und parierte ihn sogar. Die Klinge des Blonden prallte auf die des Braunhaarigen, der der Attacke widerstand. Geschickt lies er seine Schwertspitze an der Schneide des Kontrahenten entlangschleifen, bis er knapp vor dem Schwertgriff anhielt und dort mit aller Kraft von oben herabdrückte.
 

Der ermüdete Christopher ließ sich auf das Kräftemessen ein. Er wollte unbedingt gewinnen, beweisen, dass er der Stärkere war, musste jedoch einsehen, dass dies nicht der Fall war, im Gegenteil: Sein Kontrahent drückte ihn langsam aber sicher auf die Knie. Ein Tritt gegen sein Schienbein brachte den früheren Joey endgültig zu Fall. Schwer keuchend lag er erneut im Schlamm, die eisblaue Schwertspitze am Hals.
 

„Ihr habt verloren, nicht nur ihn, sondern auch Euer Leben.“ Christian holte aus und Christopher schloss die Augen, den finalen Schlag erwartend. Dieser blieb aber aus. Das Wiehern eines Pferdes, gepaart mit dem Getrappel von Hufen und dem Schlagen von Metall auf Metall ließ den Blonden die Augen wieder öffnen.
 

Elias saß hoch zu Ross. Er trug einfache, schwarze Kleidung, und einen Umhang mit Kapuze, die ihm vom Kopf gerutscht war. In der rechten Hand hielt er die grüne Schwertklinge, welche den Angriff des Rosenkreuzritters abgefangen hatte.
 

„Ich kämpfe für Chris zu Ende“, sagte der Dunkelblonde und lenkte das Schwert des Kaiba-Klons zur Seite.
 

„Euer Freund ist besiegt, Elias. Nach den Regeln des…“

„Er blutet nicht durch eine Schwertwunde. Ich habe das Recht, ihn zu vertreten, wenn er mich zu seinem Champion ernennt.“
 

Elias streckte die Hand nach seinem Gefährten aus, die dieser ergriff und wurde aufs Pferd gezogen. Wortlos drückte er ihm die Zügel in die Hand und rutschte aus dem Sattel.
 

„Du kannst mich nicht schon wieder retten, Eli..“

„Ich kann dich nicht sterben lassen, schon gar nicht für mich Chris.“
 

Damit schlug der in schwarz gekleidete Ritter seinem Pferd gegen die Flanke, woraufhin dieses davonstob.
 

„Ihr wollt wirklich alles für ihn wegwerfen?“, fragte Christian und nahm nun eine gänzlich andere Haltung ein. Das Spielerische aus der Haltung des Schwertkämpfers wich, genauso wie er die Waffe nun mit beiden Händen umfasste.
 

„Das will ich“, antwortete Elias fest und nahm die gleiche Haltung wie Christian an.

„Der Schüler glaubt also tatsächlich dem Meister gewachsen zu sein?“

„Der Schüler glaubt, dass es etwas gibt, wofür es sich zu sterben lohnt.“
 

Grün prallte auf blau. Beide Gegner bewegten sich vollkommen synchron. Jeder einzelne Schwerthieb wurde mit genauester Präzision ausgeführt. Ihre Haltung, ihr Auftreten, selbst die Blicke glichen sich. Keiner der Beiden wollte auch nur einen Millimeter zurückweichen, eingestehen, dass er dem Anderen unterlegen war.
 

„Ihr habt viel gelernt, Elias. Ich bin mir sicher, Euer Ahne wäre stolz auf Euch.“

„Ich hatte auch einen guten Lehrer.“
 

Elias wich den Angriffen aus, parierte sie, lenkte die eisblaue Klinge zur Seite, nur um dann mit Christian zu tauschen und zum Angriff überzugehen. Obwohl dieser bereits mit Christopher gekämpft und etwas an Kraft verbraucht hatte, zeigte er keine Anzeichen von Müdigkeit oder Schwäche.
 

„Als mein Adjutant würdet Ihr zum zweitmächtigsten Mann in England werden. Ihr müsstet niemandem Rechenschaft ablegen, nicht einmal dem König.“

„Und doch wäre ich auf ewig an Euch gekettet, Christian.“

„Ist das denn falsch?“

„Ich wähle die Freiheit, mein Leben selbst zu bestimmen, mit jenen Menschen denen ich vertraue und die ich liebe.“
 

Kaibas früheres Ich zog die Augenbrauen in die Höhe, und parierte den nächsten Angriff, um sich in ein Patt zu begeben. Die gekreuzten Klingen wurden fest gegeneinandergepresst, die Gesichter so nahe aneinander bewegt, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten.
 

„Habe ich Euch nicht gelehrt, dass Liebe eine Schwäche ist?“

„Das habt Ihr.“

„Warum habt Ihr Euch dann darauf eingelassen?“

„Weil Ihr im Unrecht seid.“
 

Elias nahm plötzlich den Druck von seiner Klinge und wich zurück. Christian strauchelte, stolperte nach vorne. Entgegen seines Gefährten, nutzte der schwarzgekleidete Ritter diesen einen Fehler gnadenlos aus. Mit dem ersten Schlag prellte der seinem Kontrahenten die Klinge aus der Hand, zog sie blitzartig zurück, um mit dem zweiten Schlag die Klinge über dessen Wange schrammen zu lassen.
 

Ein hauchdünner Schnitt bildete sich auf Christians Wange, fein genug, um ein paar Tropfen Blut preiszugeben. Eilig griff er nach seiner Schwertklinge und wollte zum nächsten Schlag ausholen, als er sich geistesgegenwärtig mit dem Handrücken über die Wange strich.
 

„Ihr habt verloren, Christian. Ich habe für Christopher gewonnen, zieht nun ehrenvoll von dannen.“

„Ihr werft Eure ganze Bestimmung fort, Elias!“

„Ich habe meine Bestimmung gefunden, für immer.“
 

Der junge Lord du Lac blickte hinter sich, zu Christopher, der auf seinem Pferd saß. Ein Lächeln umspielte seine Züge, als er den Blonden mit seiner gebrochenen Nase erblickte. Das war seine Liebe und sein Leben, und er würde für immer bei ihm bleiben, egal was kommen mochte, zumindest war er davon überzeugt.
 

Der Nebel verdichtete sich wieder, bevor er Joey komplett verschluckte.

„Für immer“, hallte es in seinem Kopf wider.

Ein anderer Joey

Ich wurde durch einen sanften Kuss geweckt. Als ich die Augen öffnete, lächelte mir ein Joey entgegen. Seine gute Laune war beinahe schon angsteinflößend.
 

„Ich könnte mich daran gewöhnen, öfter so geweckt zu werden“, schmunzelte ich.

„Ich auch“, grinste mein Freund und drückte mir einen weiteren Kuss auf, bevor er sich neben mich ins Bett legte und mich zu sich zog.
 

„Du bist aber heute kuschelbedürftig.“

„Freust du dich nicht darüber?“

„Natürlich, nur hatte ich mit was Anderem gerechnet.“

„Das da wäre?“
 

Nun, eigentlich hatte ich mit einem wütenden Joey gerechnet, der mir irgendetwas um die Ohren wirft, weil ich mit seiner Mutter gesprochen hatte. Mittlerweile kannte ich meinen Freund so gut um zu wissen, dass eine Erlaubnis seinerseits in solchen Fällen nichts an den emotionalen Ausbrüchen änderte, die er dabei meist erlitt.
 

„Wie wars mit Mum?“
 

Ich blinzelte perplex. Hatte er das wirklich gefragt? Sogar in einem normalen Ton? Was war denn mit dem passiert?
 

„Ganz okay, schätze ich.“

„Schätzt du?“

Joey schrägte den Kopf ein wenig.
 

„Ich weiß nicht, Joey. Sie war ganz nett.“

„Aber?“

„Keine Ahnung. Ich glaube, sie hat schon ein wenig die Hoffnung, dass du sie besuchst.“

„Würdest du?“
 

Ich verstand die Welt nicht mehr. Joey schien wie ausgewechselt zu sein. Er legte vorher auf meine Meinung durchaus großen Wert, aber nicht in der Form, als dass sie ihn umstimmen hätte können. Nun war die Frage, ob ich es auch tun würde. Ich kannte seinen Standpunkt, und ein wenig den von ihr. Serenity konnte man nicht befragen, war sie doch sehr befangen. Das waren beide Parteien zwar auch, aber es ging schließlich auch um sie. Joeys kleine Schwester war außerdem ein herzensguter Mensch, der in jedem das Gute sah.
 

„Hm, ich würde schon. Wenn es mir nicht gefällt, würde ich dann einfach gehen.“

„Würdest du auch mit mir hingehen?“

„Natürlich.“
 

Irgendetwas an Joey war anders. Er wirkte viel ruhiger, gelassener als noch heute Morgen. Ich mochte den verliebten Blick, den er mir schenkte, und auch die zärtlichen Berührungen. Er streichelte mir mit dem Daumen über den Handrücken, schmiegte seine Wange an meine – das hatte er zwar früher auch getan, aber nicht in diesem Ausmaß, so unbeschwert.
 

„Was hat Yugi mit dir angestellt?“, fragte ich und versuchte einen misstrauischen Blick aufzusetzen.

„Nichts“, lächelte der Blonde unschuldig.

„Am Lügen musst du wirklich noch arbeiten.“

„Muss ich nicht!“

„Musst du wohl!“
 

Bevor ich weiterprotestieren konnte, wurden meine Lippen mit einem Kuss versiegelt. Diese Unbeschwertheit musste einen Grund haben; für den Moment begnügte ich mich aber damit, einen glücklichen Joey vor mir zu haben.

Zögerlich erwiderte ich den Kuss, bevor ich mich gänzlich fallen ließ.
 

Ich lag keuchend und durchgeschwitzt auf meinem Liebsten, der mir durch die Haare strich. Unsere Klamotten lagen verstreut im Zimmer herum. Es war noch immer ein wenig seltsam, mit ihm zu schlafen, und es tat auch noch immer weh. Joey bemühte sich aber aus Leibeskräften, mir nicht unnötig Schmerzen zuzufügen.
 

„Hat es dir gefallen?“, fragte er und strich mit seinem Mund an meiner Schulter entlang zur Halsbeuge hinauf.

„Hat es“, lächelte ich und rollte mich herum, sodass ich gänzlich auf ihm lag. Eine angenehme Kombination: Joey, ich, Decke.
 

„Wenn du möchtest, kannst du auch einmal der sein, der…“

„Will ich nicht“, unterbrach ich ihn sofort.

„Warum?“

„Weil es so okay ist. Du hast bisher immer die Führung übernommen, und auch mehr Ahnung als ich.“
 

Ich schlug ein wenig die Augen nieder. Mir brannte etwas auf der Zunge, aber ich wollte den schönen Moment nicht zerstören.
 

„Was hast du denn?“, wollte Joey wissen und schob seinen Zeigefinger unter mein Kinn, damit ich aufsehen musste.

„Nichts.“

„Du musst aber auch am Lügen noch arbeiten, hm?“
 

Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf.
 

„Ich will nur den Moment nicht zerstören.“

„Wirst du nicht. Also, frag einfach.“
 

„Also gut, aber auf deine Verantwortung.“

„Jetzt zier dich nicht so“, brummte der Größere und rollte mit den Augen.

„Sag mal Joey… Ich war sicher nicht dein Erster. Wer war denn dein erster Freund, oder wer war bei deinem ersten Mal…“
 

Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte vermutet, dass er mit dieser Frage fast schon gerechnet hat. Joey wirkte nicht einmal überrascht.
 

Er überlegte nur kurz, bevor er zu sprechen begann: „Mein erstes Mal war mit einem Mädchen.“

„War es Mei?“

„Nein.“

„War es Tea?“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Ihr seid Freunde und habt vielleicht einmal rumprobiert?“

„Nein, es war auch nicht Tea“, schüttelte Joey schlussendlich den Kopf.

„Willst du es mir sagen?“

„Nein.“
 

Joey klang nicht abweisend oder gar böse, sondern einfach nur feststellend.
 

„War es schön?“

„Nicht so wie mit dir.“

„Obwohl ich ein Junge bin?“

„Obwohl du ein Junge bist“, bestätigte er.
 

Natürlich war ich neugierig, wer denn Joeys Erste war. Eigentlich auch, wer sein erster Junge war, aber mein Glück zu sehr herausfordern wollte ich auch nicht.
 

„Dass du mein Erster bist, das weißt du ja…“

„Ich weiß. Ich weiß auch, dass Mei dich gezwungen hat, falls du das vergessen haben solltest.“
 

Mir stieg die Röte ins Gesicht. Es war nicht nur peinlich, sondern bisher hatten wir dieses Thema stillgeschwiegen. Das war mir ganz Recht gewesen, weil ich Joey nicht belasten, und auch nicht meine ersten sexuellen Erfahrungen an die große Glocke hängen wollte.
 

„Wie war es eigentlich? Hat es dir gefallen? Also abseits der Tatsache, dass sie dich dazu gezwungen hat.“

„Ich, hm. Was machst du, wenn ich sage, ein wenig?“

„Nichts.“

„Du gehst nicht an die Decke?“

„Nö.“

„Warum?“

„Weil es normal ist. Mir hat es ja auch gefallen, zumindest am Anfang.“
 

Ich schmiegte mich noch mehr an Joey und schloss dann die Augen. Seine Brust war ein ideales Kissen, vielleicht ein wenig zu hart, aber alles in allem angenehm. Es roch vor allem nach ihm, was ich sehr mochte.
 

„Sie meinte, du hättest sie wegen mir verlassen.“

„Habe ich auch.“

„Aber…“

„Sch, du hast nichts zerstört, was nicht bereits kaputt gewesen wäre. Mei ist eine Bestie, genauso wie ihr Umfeld.“
 

Joey zog mich ein wenig nach oben und umarmte mich fest.
 

„Kannst du einmal etwas für mich sagen?“

„Das kommt darauf an. Was soll ich denn sagen?“

„Für immer.“
 

Nun schlug ich tatsächlich die Augen auf. Ich hatte auf ein „Ich liebe dich“, oder „Ich gebe dir mein gesamtes Erspartes“ getippt, aber nicht darauf.
 

„Warum?“

„Tu mir einfach den Gefallen, ja?“

„Wenn du willst. Für immer.“
 

Joey sah mich überlegend an.
 

„Betone es ein wenig anders.“

„Wie, anders betonen.“

„Entschlossener, ernster.“

„Willst du einen Schauspieler aus mir machen, oder was ist los?“

„Mach einfach. Bitte.“
 

Ich unterdrückte den Reflex, mit den Augen zu rollen.

„Für immer“, sagte ich dann bemüht ernst.
 

„Besser.“ Joey griff neben sich und las meine Boxershorts auf. Bevor ich mich wehren konnte, zog er sie mir, wie auch immer, an und tat bei sich selbst das Gleiche.

„Wir schlafen sonst auch immer im Pyjama oder in Schlafsachen“, beantwortete er meinen fragenden Blick.
 

„David?“

„Hm?“

„Tust du mir noch einen Gefallen?“

„Wenn ich kann, natürlich.“

„Im Finale, sollten wir uns gegenüberstehen, gibst du alles, in Ordnung?“

„Ich werde es versuchen.“
 

„Nicht versuchen“, meinte mein Freund kopfschüttelnd, „sondern auch machen.“

„Aber Joey, ich kann doch nicht…“

„Natürlich kannst du. Ich will, dass du dich so duellierst, als würdest du Kaiba gegenüberstehen“, unterbrach er mich.

„Schatz, das sind zwei verschiedene Dinge. Kaiba ist ein ganz anderer Mensch als du. Dich liebe ich.“

„Ihn magst du auch?“

„Schon, aber nicht so.“
 

Seltsamerweise stimmte ihn diese Antwort noch ein wenig glücklicher.
 

„Was machst du, wenn du gegen Yugi antreten musst?“

„Ich weiß nicht?“, murmelte ich unbehaglich.

„Auch da musst du alles geben. Wir beide wären enttäuscht, wenn du dich zurückhalten würdest.“

„Aber es hängt so viel davon ab, Joey. Außerdem, was, wenn ich echt auch so ein Göttermonster in meinem Deck habe?“

„Dann hat Yugi sicher auch eins, genauso wie Kaiba.“

„Und du?“
 

Joey hmte leise und schaute zur Decke.
 

„Ich werde wahrscheinlich keines haben, brauche es aber auch nicht“, sagte er nach einer Weile.

„Was, wenn ich die eine Karte bekomme, die dich damals ins Koma geworfen hat?“

„Ra?“

„Ja.“

„Was soll dann sein?“

„Joey, ich bin nicht blöd. Ich trage den Ring am Hals und dann auch noch das Monster, das du überhaupt nicht magst.“

„Dann soll es halt so sein. Ich glaube an dich, genauso wie an Yugi.“
 

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, küsste mein Freund mich auf die Nasenspitze.
 

„Mach dir nicht so viele Gedanken.“

„Das sagt der Richtige.“

„Ich mache mir ein wenig Sorgen um dich, das ist alles.“

„Sorgen?“
 

Nun stützte ich mich auf meinem Freund ab und schaute ihn neugierig an. Warum war Joey auf einmal bereit, so viel von sich preiszugeben? Das war doch sonst auch nicht der Fall? Er wusste um meine Ängste, auch, dass ich sie nicht aussprechen wollte. Da war doch mehr im Spiel als bloße Intuition, oder?
 

„Der Milleniumsring ist böse, genauso wie die Göttermonster böse sind.“

„Ich komme schon klar. Du hast mir versprochen, auf mich aufzupassen.“

„Das werde ich auch, trotzdem – du bist mein Freund, und vielleicht bin ich auch zu schwach?“

„Das glaube ich nicht, und selbst wenn, dann ist da noch immer Yugi.“

„Der aber auch nicht Wunder wirken kann. Ich bin noch immer besorgt, aber zuversichtlich, dass wir ein gutes Team sein werden, zu dritt.“
 

Ich ließ meinen Kopf wieder auf Joeys Brust sinken. Das sollte einer verstehen. Hatte Yugi ihm etwas von unseren Gesprächen erzählt? Eher nicht. Auch würde Mahad dem Pharao nicht verraten haben, was meine Ängste sind, und dieser es dann Yugi erzählt haben, der wiederum mit Joey gesprochen hatte. Da war etwas, aber ich kam nicht drauf. Auf mein geistiges Fragen hin blieb mein spektraler Gefährte ebenfalls stumm.
 

„Was hältst du von einer Pizza, die wir aufs Zimmer kommen lassen und Fernsehen?“

„Viel“, grinste ich und schob meine Gedanken beiseite. Ich würde schon noch dahinterkommen.

„Na dann, machen wir das so.“
 

Wir verbrachten den restlichen Tag im Zimmer, wobei wir dann irgendwann auch einmal die Duel Monsters Karten auspackten und ich gegen meinen Freund verlor. Dieser tadelte mich mehrfach, ich solle mich nicht zurückhalten und anständig spielen. Mein letztes Zögern konnte ich einfach nicht ablegen; für sein Selbstvertrauen war es nicht förderlich, wenn ich ihn aus dem Spiel fegte, was auch mit voller Kraft nicht so einfach gewesen wäre. Joey mauserte sich, und das rasend schnell. Vielleicht war es ja seine Bestimmung, mit Yugi im Finale zu stehen, und nicht meine.

Ein kurzes Intermezzo vor der Heimreise

Wir verbrachten die nächsten Tage gemeinsam mit den anderen, mit Ausnahme von Kaiba, der sich um andere Dinge kümmerte (laut Joey hatte der CEO einfach Angst vor ihm, was uns alle zum Schmunzeln brachte).
 

Auf mein Nachfragen hin, gab auch Yugi nicht preis, was mit Joey passiert war. Dieser wirkte nach wie vor wie ausgewechselt. Er lächelte, war fröhlich, fast schon überschwänglich glücklich. Ich hatte zuerst den Verdacht, er würde durchdrehen, doch seine Entscheidungen erschienen mir rational. So unbeschwert hatte ich ihn noch nie erlebt. Außerdem konnte er in privaten Momenten nicht die Finger von mir lassen.
 

„Wenn ich dich um einen Gefallen bitte, tust du ihn mir?“, fragte mein Freund, als wir gemeinsam im Bett lagen.

Unser Flug in die Heimat ging morgen. Die anderen waren noch einmal die Stadt erkunden gegangen, während Joey und ich beschlossen hatten, im Hotel bleiben zu wollen und ein wenig Zeit miteinander zu verbringen.

„Ich werde Kaiba nicht erschlagen, falls du darauf hinauswillst“, grinste ich und wurde sogleich mit einem der Kissen verhauen.

„Depp, das meinte ich nicht. Es geht um meine Mutter.“
 

Ich wurde sofort ernst, als das Wort „Mutter“ fiel. Joey hatte bisher immer noch wenig über sie preisgegeben, und ich hatte den Gedanken an sie ehrlich gesagt auch ein wenig verdrängt. Zu schön waren die gemeinsamen unbeschwerten Stunden gewesen.
 

„Was möchtest du denn?“, fragte ich vorsichtig.

„Dass du mich begleitest.“

„Wohin?“

„Ich treffe mich mit ihr in zwei Stunden“, sagte Joey leise und senkte den Blick ein wenig.

„Natürlich. Was versprichst du dir davon, wenn ich fragen darf?“

„Einen Abschluss.“
 

Zwei Stunden später saßen wir im Hotelrestaurant. Joey hatte sich fein herausgemacht – ein schwarzes Hemd, welches ihm außerordentlich gut stand, eine dunkle Jeans und seine Winterstiefel. Insgesamt verlieh ihm das ganze Outfit ein selbstsicheres Auftreten, welches durch den ernsten, aber entschlossenen Blick, noch verstärkt wurde.

Meine Wenigkeit war legerer bekleidet: Schwarzer Pulli, Jeans und Sneakers. Neben Joey wirkte ich ein wenig deplatziert, was aber niemanden im Restaurant zu stören schien. Kaiba bezahlte auch fürstlich für unser Unterkommen; ich hätte wahrscheinlich auch in Boxershorts hereinspazieren und einen frisch gefangenen Hummer verlangen können, ohne dass sich jemand beschwert hätte.
 

„Du wirkst ein wenig angespannt“, murmelte ich zu Joey und nippte an meinem Zitroneneistee.

„Das bin ich auch, ehrlich gesagt“, antwortete er und lehnte sich gegen die Banklehne hinter sich.

„Muss ich irgendetwas machen?“

„Nur da sein.“

Joey griff nach meiner Hand und drückte sie sanft.

„Das reicht mir völlig.“
 

Ich wollte etwas erwidern, als sich Joeys Mutter ankündigte. Mrs. Wheeler kam, adrett gekleidet, gleich ihrem Sohn passend, an unseren Tisch. Sie lächelte freudig. Ich warf meinem Freund einen spärlichen Blick zu, der seine steinharte Miene beibehielt.
 

„Joey, schön dich zu…“

„Setz dich, Mum, bitte“, fiel er ihr ernst ins Wort, wobei sich seine Augenbrauen ein wenig nach unten schoben. Die Euphorie von Mrs. Wheeler bekam einen jähen Dämpfer. Kurz zögerte sie, bevor sie der Aufforderung ihres Sohnes nachkam.
 

Wir schwiegen uns alle eine Weile lang an, wobei sich Joey damit begnügte, mir mit dem Daumen über den Handrücken zu streicheln, und dabei seine Mutter zu mustern. Ich kannte diesen Blick von ihm gar nicht; er wirkte nicht sauer, auch nicht enttäuscht, eher wie eine Mischung aus Beidem.
 

„Sind wir nur hier um uns anzuschweigen?“, brach Mrs. Wheeler die unangenehme Stille am Tisch.

„Ich überlege nur, wie ich anfangen soll“, entgegnete Joey.

„Ich dachte, du wolltest dich endlich mit mir aussöhnen?“

„Ich dachte, du würdest dich entschuldigen.“
 

Sowohl Joeys Mutter, als auch ich, waren ob seiner Kälte ein wenig perplex. Ich war tatsächlich nur ein Zuschauer, mehr nicht. So entschlossen wie Joey war, konnte ihn wohl nichts von seinem Vorhaben, worin dieses auch immer bestand, abbringen.
 

„Joey, Schatz, du weißt, dass ich dich liebe und…“

„Ich weiß, dass du mich von Serenity getrennt hast, und mich bei einem Säufer zurückgelassen hast“, fuhr er ihr erneut grob ins Wort.

„Ich weiß, dass du mir den Kontakt zu Serenity erschwert hast, dir hier ein schönes Leben aufgebaut hast, während ich in Japan beim Alten versauern durfte.“

„Aber, du weißt auch, dass…“

„Hör mir bloß auf mit Liebe und Zuneigung. Du hast dich in den letzten Jahren einen Dreck um mich gekümmert, und wusstest dabei von meiner Situation.“
 

Dem entsetzten und schuldbewussten Gesichtsausdruck von Mrs. Wheeler zu urteilen, hatte ihr Sohn wohl Recht. Man konnte ihr ansehen, wie etwas in ihr zu bröckeln begann, zu zerbrechen. Mein Blick pendelte zwischen Joey und seiner Mutter hin und her. Sie waren sich so ähnlich, beide gute Schauspieler, konnten wahrscheinlich sogar gut lügen, wenn es darauf ankam, aber, dieses Mal, da war jemand ertappt worden.
 

„Wo warst du all die Jahre, als ich dich gebraucht habe? Als mich der Alte verprügelt hat? Mein eigener Vater hat gemeint, es wäre besser gewesen, du hättest mich wegmachen lassen. Wahrscheinlich habt ihr sogar drüber nachgedacht, oder?“

„Aber Joey, das stimmt nicht! Ich habe dich genauso geliebt wie Serenity“, versuchte sich Mrs. Wheeler zu verteidigen.

„Das hast du nicht. Hättest du es getan, wäre ich nicht in Japan geblieben. Ihr habt euch das beide fein ausgedacht, er bekommt mich, und du das Mädchen. Habt ihr darüber verhandelt?“

„Joey…“

„Nein, du hörst mir nun zu, denn was ich dir zu sagen habe, brennt schon seit Jahren auf meiner Zunge.“
 

Mit jedem einzelnen Wort wurde der Druck auf meine Hand fester. Joey klammerte sich an mich, und ich war geneigt, etwas zu sagen, doch eigentlich hatte ich weder das Recht, noch die Pflicht, diese Eskalation zu unterbinden. Vielleicht war es für ihn heilsam, sich von der Seele zu reden, was ihn so lange belastete.
 

„In nicht einmal einem Jahr haben David und Yugi geschafft, was ich mir so sehr gewünscht habe: Frei zu sein. Ich bin nun niemandem gegenüber mehr verantwortlich oder verpflichtet. Zum ersten Mal kann ich in der Nacht durchschlafen, in einem Zimmer, das sauber ist. Keine Müllberge, die sich in der Wohnung häufen, kein Säufer, der mich ankeift und verletzt. Warum hast du das nicht getan?“
 

Der vorwurfsvolle Ton in Joeys Stimme war nicht zu überhören. Er funkelte seine Mutter an, die den Tränen nahe zu sein schien. Sie hatte wahrscheinlich mit einem erfreulicheren Treffen gerechnet, eventuell sogar mit der erwähnten Aussöhnung.
 

„Wie denn? Ich war in Amerika, hier. Dann hatte ich noch Serenity großzuziehen“, brachte sie brüchig hervor.

„Du hast nicht einmal das geschafft. Das Geld für die Operation musste ich erstreiten, gemeinsam mit Yugi. Ohne ihn wäre Serenity heute blind. Ohne David hätte ich sie wahrscheinlich in den nächsten Jahren nicht gesehen.“

„Natürlich hättest du deine Schwester sehen können. Sobald du 18 geworden wärst, hätte ich dich zu mir geholt.“

„Du hättest mich auch mit 25 nicht zu dir geholt. Ich war dir lästig, genauso wie der Alte. Du wolltest immer ein Mädchen.“
 

Zu meinem großen Erstaunen sagte Mrs. Wheeler darauf nichts. Ich schüttelte innerlich den Kopf. Wenn ich das als Schuldeingeständnis werten musste, dann hatte ich mich sehr in ihr getäuscht.
 

„Ich weiß auch, was du wirklich über mich denkst. Du schämst dich genauso wie er, dass ich mit David zusammen bin. Hast du dich nicht bei deinen Kollegen drüber ausgelassen, dass ich es nicht einmal auf die Reihe bekomme, mit einem Mädchen zusammen zu sein? Dass es eine Schande ist, so ein Kind zu haben?“
 

Die Augen von Joeys Mutter wurden immer weiter. Woher wollte Joey das überhaupt wissen? Hatte ihm Serenity etwas erzählt? Kannte er jemanden, der seine Mutter kannte? Waren das nur Vermutungen, die zufälligerweise genau in die richtige Richtung gingen?
 

„Du hast ihn belogen, du hast Yugi belogen, und auch Serenity. Ich hatte mir so gewünscht, dass ich mich irre, aber das tue ich nicht. Du bist dieses manipulative Monster, das ich immer schon in dir gesehen habe.“

„Das ist nicht wahr“, schluchzte Joeys Gesprächspartnerin und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

„Natürlich ist es wahr. Ihr beide schämt euch für mich. Ihr schämt euch für mich und meine Freunde. Was siehst du in Mokuba? Eine Möglichkeit, an Kaibas Geld ranzukommen?“
 

„Joey, ich glaube…“, fing ich leise an, wurde dann aber mit einer bestimmenden Geste zum Schweigen gebracht.

„Du begreifst allmählich, was du wirklich verbockt hast, Mum. Jetzt, wo es zu spät ist, scheinst du endlich zu bereuen. Du hast dich lange genug vor der Verantwortung gedrückt, die dir als Mutter zugekommen wäre. Nun brauche ich dich nicht mehr. Ich habe Menschen, die mich mögen und lieben.“
 

Joey stand auf und sah bedauernd auf seine Mutter hinab.

„Ich bin fertig mit dir, Mum. Daran hast du erst einmal zu knabbern, wie ich es tat.“

„Joey, ich glaube nicht, dass wir sie so hierlassen können. Die anderen Gäste gucken schon.“

„Das interessiert mich einen feuchten Dreck. Soll doch die ganze Welt wissen, was sie ihrem Sohn angetan hat.“
 

Ich war hin- und hergerissen. Mein Freund machte sich bereits auf den Weg zu gehen, und die heulende Mrs. Wheeler einfach alleine zu lassen. Sollte ich ihm folgen? War das richtig? Ich fühlte mich ein wenig schuldig.
 

„Aber Joey, sie hat dir sogar eine echt seltene Karte gegeben. Die wollte ich dir eigentlich schon vor einer Weile zeigen, aber, der Zeitpunkt hat nicht gepasst.“

„Als ob eine Karte ein verpfuschtes Leben ausgleichen würde.“
 

Ich sprang auf und lief Joey hinterher, der wütend in unser Zimmer stapfte.
 

„Ich kann ja verstehen, dass du sauer bist, aber, das war nicht okay.“

„Natürlich war es nicht okay. Ihr Verhalten aber auch nicht. Ich weiß jetzt endlich, woran ich bin, und dass ich abschließen kann.“

„Woher willst du das überhaupt wissen?“

„Weil ich es eben weiß“, lenkte der Blondschopf ab.

„Joey, bitte…“

„Nein. Sie war Serenity eine gute Mutter, aber mir nicht. Ich brauche sie nicht mehr, und ihn auch nicht.“
 

So wie mein Freund auftrat, war an dieser Entscheidung auch nicht mehr zu rütteln. Wenn stimmte, was er zu ihr gesagt hat, dann konnte ich seinen Zorn gut verstehen. Ich glaubte ihm sogar. Sie war eingeknickt, und hatte sich nicht gewehrt. Ein Zeichen von Schuld.
 

„Schatz…“

„Nichts Schatz, David. Das ist meine Entscheidung. Bitte respektiere das.“
 

Genervt riss sich Joey das Hemd vom Körper und warf es über einen Stuhl.
 

„Ich gehe jetzt eine Runde in die Mall. Es findet ein Anfängerturnier statt, bei dem ich zuschauen möchte, kommst du mit?“

„Hältst du das für eine gute Idee?“

„Halte ich, ja.“
 

Beim Anfängerturnier beruhigte sich Joey wieder. Er half einem Jungen, von etwa zehn Jahren, mit einigen hilfreichen Tipps, die mich selbst überraschten. Dass er so freundlich sein konnte, trotz der vorangegangen Situation, wunderte mich.
 

„Der Kleine hat wohl ein neues Idol gefunden“, schmunzelte ich, als wir uns wieder auf dem Heimweg befanden.

„Er hat mich sogar erkannt!“, strahlte Joey.

„Klar, du bist doch im Königreich der Duellanten auf den zweiten Platz gekommen, und im Battle City Turnier auch weit.“

„Trotzdem!“
 

Wir verbrachten unsere letzte Nacht in Amerika im Kreis der Freunde. Joey spielte mit Yugi, und Tea mit mir eine Runde Duel Monsters, unter den wachsamen Augen von Tristan, Serenity und Mokuba. Wir verloren, wenn auch nur hauchknapp. Dass Joey ihre Mutter so angefahren hatte, erwähnte er seiner Schwester gegenüber nicht. Ich hütete mich auch davor, dieses Thema anzuschneiden.

Heimreise

„Hast du soweit alles gepackt?“ Joey beobachtete mich, wie ich mich abreisefertig machte. Sein Gepäck war quasi nonexitent, was an seinem unfreiwilligen Ausflug nach Amerika lag.

„Ja doch“, murmelte ich leicht genervt und warf meine letzten Sachen in den Koffer.

„Nicht, dass du etwas vergisst.“

„Du bist manchmal schlimmer als meine Mutter“, seufzte ich gespielt und rollte mit den Augen.

„Nur manchmal?“, grinste mein Freund und küsste mich sanft auf die Lippen.

„Meistens“, korrigierte ich mich selbst mit einem frechen Unterton.
 

„Ich werde ein wenig schlafen, wenn das okay ist?“ Joey, der neben mir im Flugzeug saß, nickte und verwob seine Finger mit den Meinen. Kaiba hatte uns allen, sogar Joey, einen First Class Flug besorgt. Dementsprechend üppig war der Platz zum Ausstrecken der Beine. Der CEO unterhielt sich angeregt mit Yugi, während Mokuba mit Tristan und Tea ein neues Brettspiel aus der Spieleschmiede der KC ausprobierte. Obwohl die Messe unfreiwillig beendet worden war; das Interesse an Kaibas neuestem Game schien ungebrochen. Insgesamt war also die Reise nach Amerika ein voller Erfolg gewesen, auch wenn sie von einigen Vorkommnissen überschattet wurde.
 

Ich schloss die Augen und dachte nach. Da war zuallererst einmal die Geschichte mit Joeys Mutter. Wenn das stimmte, was er zu ihr gesagt hatte, dann war sie wirklich ein ziemlich mieser Mensch. Konnte ich mich so täuschen? Auf mich hatte sie einen distanzierten, aber freundlichen Eindruck gemacht. Ich hätte nicht geglaubt, dass sich hinter dieser Fassade eine egoistische, homophobe Frau versteckte. Meine Menschenkenntnis war eigentlich nicht so schlecht, als dass ich mit meinem Bauchgefühl nicht in der Lage gewesen wäre, mein Gegenüber einzuschätzen. Ausnahmen bestätigten andererseits nur die Regel; dennoch wollte es mir nicht ganz in den Kopf gehen, dass Mrs. Wheeler so ein schlechter Mensch war. Für Serenity hatte sie immerhin gesorgt, und tat es nach wie vor.
 

Woher wusste Joey von diesen Vorkommnissen? Er hatte seine Mutter, laut eigenen Aussagen, das letzte Mal bei der Operation seiner Schwester gesehen. Dass er ihr nachspioniert hatte, wagte ich zu bezweifeln. Er war in letzter Zeit außerordentlich gut informiert gewesen. Dazu noch die komische Bitte, ich solle bestimmte Worte wiederholen - etwas war faul. Ich mochte meinen Freund so unbeschwert, wie er derzeit war, doch er verheimlichte mir etwas. Sollte ich Yugi befragen? Schließlich war er mit Joey unterwegs gewesen, bevor er so glücklich zu mir ins Zimmer gekommen war.
 

Was mich mehr beunruhigte als die plötzliche Allwissenheit meines Freundes waren die Vorkommnisse in der VR gewesen. Selbst ich konnte beim besten Willen nicht mehr leugnen, dass dem Milleniumsring etwas Böses anhaftete. Oder war es am Ende ich selbst, der Böse war? Konnte diese fremde Macht, die mir unerträgliche Schmerzen zugefügt hatte, am Ende nur ein Auswuchs meiner bösen Seite sein?
 

Auch das glaubte ich ehrlich gesagt nicht. Ich war ein guter Mensch, freundlich, aufopfernd, hilfsbereit, ehrlich, loyal. Mokuba liebte mich, genauso wie Joey und auch meine restlichen Freunde. Das waren Menschen, die mich nicht mögen mussten, wie etwa meine Familie oder Verwandten. Konnten sich alle so sehr in mir täuschen? Das waren Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Ich hatte auch Angst davor, mein Innerstes zu ergründen.
 

Der Ring war ein äußerst mächtiger Gegenstand. Wenn es stimmte, was Joey und Yugi sagten, dann hatten der Pharao und Mahad damals nicht nur eine Projektion, ein Hologramm, sondern den echten Slifer in die VR geholt. Ohne Yugi wäre es nicht möglich gewesen, dieses Monster zu bändigen. Mir graute davor, was passiert wäre, wenn nur mein böses Ich in diesem Moment die Oberhand gewonnen hätte.
 

„Was denkst du denn, dass passiert wäre?“, fragte mich Mahad leise.

„Ich hätte uns wahrscheinlich alle umgebracht.“ Meine mentale Stimme war nicht mehr als ein Hauchen. Ich hatte den Gedanken an die Zeit in der VR bewusst verdrängt. Mittlerweile schämte ich mich. Was aus Johnson geworden war, wusste ich nicht, und wollte ich auch nicht wissen. In diesem Moment, als er mich vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, wollte ich nur eins: Ihn leiden sehen.
 

„Das ist eine natürliche Reaktion gewesen, David“, versuchte der Ägypter mich zu beruhigen.

„Was sie ausgelöst hat war aber nicht mehr natürlich. Ich habe diesen Menschen in den Wahnsinn getrieben, oder noch Schlimmeres mit ihm angestellt. Was, wenn mir das erneut passiert? Bei meinen Freunden, meiner Familie?“
 

Tatsächlich schwieg mein Begleiter nun. Ich konnte die Ratlosigkeit und Unruhe spüren, die von ihm Besitz ergriff. Auch er wusste keine Antwort auf die vielen Fragen, mit denen ich selbst zu kämpfen hatte. Joey wollte ich nicht damit belasten; dieser sollte seine unbeschwerte Zeit genießen. Yugi war der Einzige, dem ich mich anvertrauen konnte - Kaiba glaubte nicht an die Macht der Milleniumsgegenstände, Mokuba war zu klein und auch der Rest der Truppe hatte nicht die nötige Einsicht, um mir eine Hilfe zu sein.
 

„Denkst du, dass Johnson es verdient hat?“, fragte der Geist nach einer Weile.

„Nein“, antwortete ich sofort.

„Auch wenn er Mokuba oder Serenity etwas angetan hätte?“

„Ich…“, begann ich den Satz, brach ihn dann aber ab. Ich konnte keine befriedigende, ehrliche Antwort geben. Der Gedanke, den Kleinen nie mehr wiederzusehen, oder Serenity, und damit ein Stück weit Joey, zu verlieren, machte mich noch immer krank.
 

„Mahad, das ist nicht das Problem“, versuchte ich von der Frage abzulenken.

„Sondern?“, wollte mein Gesprächspartner wissen.

„Ich kann meine tiefsten Wünsche, selbst wenn sie aus Rachsucht und Hass geboren sind, mithilfe des Rings verwirklichen. Wenn ich früher jemandem etwas Schlechtes gewünscht habe, habe ich mich nachher dafür geschämt und die Sache war gegessen. Es ist nicht zwangsläufig etwas passiert. Nun scheint es aber so, dass ich in der Lage bin, solche Verwünschungen und Flüche wahr werden zu lassen.“

„Du klingst dabei so betreten“, stellte der Ägypter fest.

„Wärst du es nicht?“

„Nein, denn das Schicksal hat dir den Ring nicht ohne Grund zugedacht. Du bist der Verantwortung gewachsen, und hast starke Freunde an deiner Seite, die dich nötigenfalls wieder auf die richtige Bahn bringen.“
 

Das hörte sich so einfach an. Was aber, wenn sie nicht ausreichten, um mich wieder zur Besinnung zu bringen? Wenn ich am Ende komplett durchdrehte und alles zerstörte, was mir im Weg stand?
 

„Du musst ein wenig Vertrauen in dich selbst und deine Fähigkeiten haben.“

„Leicht gesagt, wenn man ein Geist ist.“ Mir taten meine Worte schon leid, als ich den Satz beendet hatte.

„Das war nicht so gemeint“, fügte ich hastig an.

„Schon in Ordnung. Ich an deiner Stelle würde wahrscheinlich genauso denken“, antwortete Mahad mit einer Nuance von Trauer in der Stimme.

„Ohne dich hätte ich sicher schon längst den Verstand verloren. Es ist ungerecht so zu denken“, entschuldigte ich mich bei meinem Weggefährten.

„Es ist menschlich und natürlich. Du bist 17 Jahre alt und trägst eine große Bürde auf den Schultern. Mit sich selbst und der Welt zu hadern ist in diesem Fall normal.“
 

Ich konnte Mahad lächeln sehen. Er war immer so verständnisvoll und freundlich. Insgeheim bewunderte ich ihn. In seinen früheren Leben war er Freund, Held und Gefährte gewesen. Ohne zu Zögern hatte er sein Leben gegeben, um dem Pharao zu helfen. Gleiches galt für die Rosenkriege. Wäre ich auch so mutig wie mein Begleiter, meine ganzen rhetorischen Fragen würden sich in Luft auflösen.
 

„Das bist du auch.“ Die sanfte Wärme nahe meinem Herzen beruhigte mich ein wenig. Mahad wusste genau, was er tun musste, um mich aufzuheitern.

„Bin ich nicht. Ich zögere so oft das Richtige zu tun.“

„Du bist 17 Jahre alt. Wenn du gleich handeln würdest wie ich, dann wäre das traurig und auch erschreckend.“

„Aber besser für meine Umwelt.“

„Fehler gehören zum Leben dazu. Höre auf mit dir selbst zu hadern. Blicke nach vorne.“
 

„Ich habe aber Angst davor“, gestand ich meinem Gesprächspartner, und auch mir selbst, ein.

„Wovor?“

„Vor allem. Den anstehenden Duellen, dem Finale, der Beteiligung an Kaibas Firma, etwas bei Joey zu verbocken, zuhause etwas zu versauen, wieder nach Hause zu gehen, ohne Joey - diese Liste lässt sich endlos fortsetzen.“

„Du machst dir eindeutig zu viele Gedanken“, beruhigte Mahad mich. „Das sind Dinge, die teilweise noch in weiter Ferne liegen. Außerdem bist du nie alleine; du hast mich und deine Freunde. Gemeinsam werden wir jede noch so schwierige Situation meistern, versprochen.“
 

Seine Worte machten mir erstaunlicherweise Mut und nahmen mir tatsächlich ein wenig die Angst vor den aufgezählten Dingen. Ich war wirklich nicht alleine. Da waren Yugi, Joey, Mokuba, meine Freunde, Kaiba, Mahad, der Pharao. Außerdem hatte ich wirklich einige Dinge zustande gebracht, auch ohne meinen geisterhaften Begleiter. Joey etwa zu einem Ausbruch aus seinem Gefängnis zuhause, oder Mei ein Schnippchen zu schlagen.
 

„Siehst du? Das hast du ohne uns geschafft. Mach dir nicht immer so einen Kopf. Ich weiß, wovon ich spreche“, tadelte mich der Ägypter lächelnd.

„Das habe ich wohl von dir, hm?“, grinste ich schief.

„Kann man so sagen“, nickte er.
 

Es war schwer vorstellbar, dass dieser stolze junge Mann und ich so viele Gemeinsamkeiten besitzen sollten. Er war so anders als ich und doch ähnlich. Manchmal war das Schicksal komisch. Ich hatte mir als Kind immer gewünscht jemanden zu haben, dem ich mich wirklich anvertrauen konnte, der war wie ich, so eine Art großer Bruder. Nun, da diesen Jemand hatte, war es schwer zu glauben, dass er existierte.
 

„Mahad? Darf ich dich etwas fragen?“

„Das hast du bereits, aber ja“, gluckste mein Gegenüber amüsiert.

„Hattest du eigentlich Kinder?“
 

Ich konnte ein Gefühl der Belustigung spüren, als ich meine Frage ausgesprochen hatte.
 

„Nein, hatte ich nicht.“

„Weil du keine Zeit hattest?“

„Eher, weil Joeys früheres Ich keine Kinder bekommen konnte.“

„Bitte?“
 

Mahads Amüsement war unverkennbar. Er kicherte leise und legte mir seine australe Hand auf die Schulter.

„Sagen wir einfach, dass Jono und ich uns sehr gerne hatten.“

„Jono?“, fragte ich verwirrt.

„Ja, Jono. Joeys erstes Leben, wenn du es so nennen möchtest, war in der Gestalt eines jungen Ägypters namens Jono.“
 

„Wir landen in Kürze, bitte schnallen Sie sich wieder an.“ Die Stimme der Stewardess riss mich aus dem Gespräch mit Mahad und ließ diesen verblassen, was ihn weitere Antworten schuldig bleiben ließ. Jono. Mir gefiel der Name irgendwie. Ich stellte mir seinen stolzen Ägypter vor, ähnlich meinem eigenen früheren Leben, der den Pharao beschützte.
 

„Ich werde es vermissen, in der Ersten Klasse zu fliegen“, seufzte Joey gespielt neben mir.

„Vielleicht hast du ja bald wieder die Gelegenheit dazu, wenn du Serenity besuchst?“

„Als ob. Meine Mutter wird sie sicher einmal aufstacheln. Die nächsten Wochen werden die reinste Hölle.“

„Glaubst du denn, dass sie damit durchkommt?“

„Eher nicht. Sie wird es aber versuchen.“
 

Ich beugte mich zu Joey hinüber, sodass ich nahe an sein Ohr kam und hauchte ihm zu: „Ich bin immer für dich, wie auch die anderen. Wir werden auch das überstehen. Ich liebe dich, Joey.“

Bei meinen Worten stahl sich ein Lächeln auf die Züge meines Freundes. Dieser drückte meine Hand fest, als wir zur Landung ansetzten. Gemeinsam würden wir auch das überstehen. Ich hoffte inständig, dass wir für immer zusammenbleiben konnten. Bisher schien es immer wieder darauf hinauszulaufen - Jono und Mahad, Christopher und Elias und jetzt Joey und David. Ein schöner Gedanke. Vielleicht würden wir unsere nächsten Leben auch beraten, und lächelnd von unserer gemeinsamen Zeit erzählen? Ich würde es mir wünschen.

Ein Freifach mit Einladung

Der nächste Schultag gestaltete sich deutlich anders, als die Vorherigen. Ich war, wie gewohnt, und was auch mittlerweile kein großes Ding mehr war, mit Kaiba in die Schule gefahren. Auch war es normal, dass sich eine Horde Leute darum prügelten, vom CEO ein Autogramm zu erhalten. Dieses Mal war es aber nicht nur Kaiba, den man belagerte.
 

„Hey, David - ein Autogramm bitte für meinen großen Bruder!“

Ich blinzelte erstaunt, als ein Vierzehnjähriger mit Zettel und Stift auf mich zukam.

„Ich eins für meine kleine Schwester!“

Ein Seitenblick zu Kaiba verriet, dass dieser süffisant schmunzelte.
 

Ich musste mich erst einmal durch zig Autogramme und kurze Gespräche, sowie Verbeugungen und auch Hände, welche geschüttelt werden wollten, kämpfen, bevor der Eingang zur Schule auch nur in greifbare Nähe rückte.
 

„Wie hältst du das den ganzen Tag aus?“, fragte ich Kaiba, der seine Aktentasche schulterte.

„Übung“, stellte er knapp fest.

„Mir geht das jetzt schon auf den Keks“, schnaubte ich genervt.

„Gewöhn dich lieber dran. Du bist jetzt ein Teil der Kaiba Corporation. Die Präsentation ist live übertragen worden.“
 

Ich schluckte schwer. Es war beim Duell mit Pegasus schon nicht auszuhalten gewesen, aber jetzt das. Wenn noch eine Horde weiblicher Groupies dazukam, konnte ich mir gleich die Kugel geben.
 

„Du siehst aus, als hätte man dich durch einen Fleischwolf gedreht. Schlecht geschlafen?“ Yugi grinste mir entgegen.

„Ich bin diesen Trubel um mich einfach nicht gewohnt. Dir und Kaiba scheint das ja nichts auszumachen.“

„Das wird schon, glaube mir. Komm, bevor wir zu spät in die erste Stunde kommen.“
 

Der König der Spiele und ich hatten uns für ein Freifach mit dem Thema „Schreiben und der Sprache einen Namen geben“ angemeldet. Die Teilnehmer entpuppten sich als bunter Haufen, vom Alter von 14 bis 18 Jahren. Ausnahmslos jeder schien Yugi und mich zu kennen, was mir zusätzlich unangenehm war.
 

„Damit sind wir ja vollzählig“, lächelte die Leiterin, Frau Masako und bedeutete uns allen Platz zu nehmen.

„Es freut mich sehr, dass sich dieses Jahr so viele für ein philosophisch-sprachliches Fach angemeldet haben. Im Rahmen der ersten Einheit möchte ich alle bitten, sich kurz vorzustellen, und was sie dazu bewogen hat, teilzunehmen.“

Wenigstens die Lehrerin drehte nicht durch.
 

Wir hatten alles dabei: Freigeister, Leute, die einen Ausgleich suchten, ein paar Draufgänger, bei einem Mädchen war ich mir sicher, sie war wegen Yugi im Kurs, einen Streber, der aber sehr nett wirkte…
 

„Mein Name ist Yugi Muto. Ich bin 17 Jahre alt und mein Großvater betreibt den Kame Gameshop. Ich nehme am Kurs teil, weil ich großen Spaß am Schreiben und Lesen habe, und außerdem einen Ausgleich zu Duel Monsters suche.“

Die Runde schenkte Yugi einen freundlich-ehrfurchtsvollen Blick, bis sich die gesamte Aufmerksamkeit auf mich richtete.
 

Ich stand zögerlich auf und räusperte mich: „Mein Name ist David Pirchner. Ich bin 17 Jahre und nehme als Austauschschüler an einem Programm teil. Eigentlich bin ich aus Österreich. Ich nehme am Kurs teil, weil ich sehr gerne schreibe, und in einem geschützten Raum gerne sachliche Kritik und Verbesserungsvorschläge erhalten möchte. Außerdem bin ich mit meinem besten Freund hier.“

Unweigerlich wanderte mein Blick zu Yugi, der leicht errötete. Irgendwie schien es ihm peinlich zu sein, dass ich ihn erneut in den Fokus rückte.
 

Wir wurden nach der Vorstellungsrunde in Paare eingeteilt, wobei ich mit Shin, dem 18-jährigen Kapitän der Schulfußballmanschaft zusammengesteckt wurde.

„Du bist also David. Freut mich.“ Der Schwarzhaarige verbeugte sich leicht.

„Freut mich auch, Shin. Ich habe schon von dir gehört. Die Mädchen schwärmen alle von dir.“

„Was ich nur zurückgeben kann“, grinste der Japaner.

„Manchmal könnte ich Kaiba erwürgen“, murmelte ich gedankenverloren.

„Mach das besser nicht, oder sein Fanclub killt dich.“
 

Ich griff mir an den Mund. Das hatte ich wohl eine Spur lauter gesagt, als gewollt.

„Andererseits, deine eigene kleine Fangemeinde kämpft bereits darum, dich genauso beliebt zu machen, wie den großen Kaiba“, lachte Shin und schob mir einen Stuhl mit dem Fuß zu.

„Setz dich, und zieh nicht so ein Gesicht, ja?“
 

Irgendwie mochte ich meinen Teampartner. Er war ganz anders als Yugi: Temperamentvoll, extrovertiert und er lachte außerordentlich gern. Dazu war er verboten hübsch. Nicht, dass ich Interesse gehabt hätte, ich war mit Joey glücklich, aber ich konnte die Mädchen ein wenig verstehen, dass sie so auf ihn flogen. Er war größer als ich, durchtrainiert, hatte eine noble Blässe, ein freches Grinsen und eine nette Art.
 

„Du bist sehr detailverliebt, hm?“, fragte mich Shin, als wir gemeinsam die gestellte Aufgabe, einen Charakter zu erstellen, bearbeiteten.

„Wie kommst du darauf?“

„Ich bin schon fertig, während du noch immer beim Eigenschaftsprofil sitzt.“

„Hm, kann sein“, zuckte ich mit den Schultern. „Wie heißt denn dein Charakter?“

„Liam Tomphson, ein Engländer, der in den brasilianischen Ghettos mit den dortigen Kindern Fußball spielt.“

„Ein Engländer?“, stellte ich verwundert fest.

„Ja, mein Vater kommt aus Wales.“
 

Ich kam nicht umhin, Shin eingehender zu betrachten. Die japanischen Gene seiner Mutter waren eindeutig dominant gewesen. Mir wäre nicht aufgefallen, dass es sich bei meinem Gegenüber um einen Mischling handelte.
 

„Und warum Brasilien?“

„Naja, gerade in den Slums und Ghettos kann ein wenig Ablenkung nicht schaden. Außerdem bringt Sport, und vor allem Fußball, die Menschen zusammen.“

„Mh, da ist was Wahres dran“, nickte ich beipflichtend.

„Und dein Charakter?“, wollte Shin wissen.
 

„Ist mies. Ich verwerfe ihn wieder, glaube ich.“

„Das weißt du doch noch gar nicht. Komm, erzähl.“ Der Halbjapaner rückte mit dem Stuhl näher heran und begutachtete neugierig mein Blatt.

„Soo-Ri, ein Biathlet aus Südkorea“, las er laut vor.

„Ich weiß, bescheuert, außerdem hat er noch nicht einmal einen Nachnamen.“

„Was genau ist daran bescheuert?“, fragte er und schrägte dabei seinen Kopf ein wenig.

„Weiß nicht, tappe auf der Stelle.“

„Na, es sind ja nur ein paar Kleinigkeiten. Alter, Aussehen und auch die meisten Eigenschaften hast du ja bereits. Interessierst du dich für Biathlon?“

„Ein wenig.“

„Läufst du auch selbst?“

„Ab und an, wieso?“
 

Shins Gesicht hellte sich schlagartig auf. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd.

„Wir haben in 14 Tagen einen Staffelbewerb mit den Schulen aus den Nachbarorten und uns fehlt noch ein Mann.“

„Da muss ich dich enttäuschen. Ich bin ein mieser Schütze. Außerdem habe ich meine Ausrüstung nicht dabei“, wiegelte ich gleich ab.

„Das ist kein Problem. Wir haben sicher was Passendes im Schulkeller. Das ist ein rein freundschaftliches Match“, versuchte mir Shin den Bewerb schmackhaft zu machen.

„Bis ich es versaue. Dann seid ihr alle angepisst“, blockte ich weiter ab.

„Ah komm, gib dir einen Ruck. Es wird ein großer Spaß und wäre für dich ein wenig Ablenkung von deinem Dasein als Duellant.“
 

Ich zog die Augenbrauen in die Höhe. Shin kannte mich außerordentlich gut. Das, oder ich war einfach in letzter Zeit sehr leicht zu lesen. Ich liebte diesen Sport tatsächlich sehr, weniger das Schießen, als das Laufen. Bei Letzterem war ich auch ganz gut. Zuhause war ich im Schulbewerb immer unter den ersten fünf Läufern gewesen.
 

„Naja, wenn es wirklich so dringend ist…“, gab ich schlussendlich nach.

„Ist es. Sonst können wir nicht starten.“

„Wenn es aber freundschaftlich ist, hättet ihr ja auch irgendwen fragen können?“

„Schon, aber blamieren wollen wir uns ja auch nicht“, gab Shin zu Bedenken.

„Also von mir aus“, seufzte ich und schlug bei meinem Partner ein.

„Cool. Ich werde dem Rest Bescheid geben. Hast du morgen Abend Zeit? Damit wir uns einmal um die Ausrüstung kümmern können.“

„Ich denke schon.“
 

Ich konnte einfach nicht nein sagen. Darüber beklagte ich mich auch bei Yugi, der nach der Stunde gemeinsam mit mir aus dem Klassenzimmer schlenderte.

„Du lächelst trotzdem, wenn du davon erzählst“, neckte mich mein Freund, der einen finsteren Blick kassierte.

„Tue ich nicht.“

„Tust du wohl.“

„Tue ich nicht.“

„Doch.“

„Gott, bist du kindisch“, schmunzelte ich und rollte mit den Augen.

„Ich passe mich nur dir an“, meinte Yugi und streckte mir die Zunge heraus.
 

Eigentlich freute ich mich wirklich auf morgen. Shin war echt nett gewesen, und ich mochte ihn. Wenn der Rest auch so drauf war wie er, dann würde mir das ganz gut tun. Einmal etwas ohne Duel Monsters oder Kaiba. Den Park der Kaibavilla kannte ich inzwischen auswendig, wenn ich meine Laufrunden am Abend drehte, genauso wie die umliegenden Straßen. Immer nur Eigengewichttraining und dröger Ausdauersport waren auch nicht erfüllend, zumal es sich dabei immer um den gleichen Ablauf handelte.
 

„Schade ist nur, dass meine Sachen zuhause sind.“

„Macht das so einen Unterschied?“ Yugi sah mich neugierig an.

„Schon, ja. Fast so, als würdest du mit einem fremden Deck spielen müssen“, stellte ich einen passenden Vergleich auf.

„Dann muss der Unterschied immens sein.“

„Ist er auch. Ich meine, das Gewehr ist mehr oder minder egal. Da kann ich in der Hand halten was ich will, es wird nicht besser werden, aber meine Skier, die bräuchte ich.“
 

Die Mittagspause verbrachten wir gemeinsam mit Tea, Joey, Tristan und Bakura, der inzwischen wieder aus England zurück war.

„Du hast dich echt mit Shin unterhalten? Der ist total schwierig zu fassen. Dass der ein Interesse an Literatur hat“, kommentierte Tea die Erzählung über unsere erste Stunde im neuen Freifach.

„Kam mir nicht so vor, im Gegenteil“, entgegnete ich und machte mich über mein Mittagessen her.

„Doch, ist er. Shin ist furchtbar wählerisch, was seinen Umgang angeht, in jeglicher Hinsicht. Duke und mich hat er nicht im Team haben wollen, obwohl wir sportlich gut drauf sind“, warf Tristan ein und nippte an seinem Eistee.

„Wohl wieder der Kaiba-Bonus“, seufzte ich genervt.

„So ist Shin nicht. Er kann Kaiba auch nicht sonderlich ausstehen“, meinte Bakula dann. „Die beiden streiten sich öfter, weil Seto unbedingt einige seiner besseren Bekannten in die Mannschaft bringen will. Er ist schließlich der Sponsor der ganzen Sportvereine an der Schule.“
 

Vielleicht wollte er Kaiba dann eins auswischen? Oder er wollte mich vorführen? Das glaubte ich aber nicht. Auf mich wirkte Shin eher unvoreingenommen und neutral. Meine Menschenkenntnis hatte mich aber bei Joeys Mutter anscheinend auch im Stich gelassen. Von daher traute ich meinem Werturteil nicht mehr sonderlich über den Weg.
 

Den restlichen Schultag verbrachte ich mit Joey und Tristan als Banknachbarn, denen ich beiden in Englisch unter die Arme griff. Joeys Defizite wurden aber von Mal zu Mal kleiner, was ihn sichtlich stolz machte. Seine Einstellung zur Schule generell schien sich verändert zu haben. Er war heute nicht zu spät gekommen, hatte sich im Unterricht eingebracht, und eine gute Note auf die Hausaufgabe erhalten.
 

„Schläfst du heute zuhause?“, fragte ich ihn, als wir gemeinsam über den Schulhof gingen.

„Hatte ich vor, jap“, nickte der Blondschopf. „Warum?“

„Ich mag es einfach nicht, wenn ich wach werde, und die Bettseite ist leer.“

„Dann hol dir Mokuba“, grinste mein Freund, der sich unter meiner flachen Hand hinwegduckte.

„Blödmann“, schnaubte ich belustigt.
 

Zuhause angekommen stellte ich fest, dass ich alleine war. Die beiden Hausherren waren ausgeflogen: Kaiba hatte noch ein wichtiges Meeting, während Mokuba sich mit Freunden ins Kino verzogen hatte. Das kam mir sogar ein wenig gelegen, weil ich so erstens das Menü für heute bestimmen konnte, und zweitens Zeit zum Ausspannen hatte.
 

„Was möchten Sie heute essen?“, fragte mich der Koch, als ich ins Esszimmer ging, und meine Schultasche neben meinem Stuhl abstellte.

„Wenn Sie dahaben, Lachs mit Bratkartoffeln und Reis.“

„Natürlich, wie Sie wünschen“, verbeugte er sich und verschwand dann wieder in sein Reich.
 

„Ich frage mich, was sich Shin davon erhofft, einen Fremden in sein Team zu holen“, murmelte ich gedankenverloren.

„Nun, vielleicht glaubt er an deine Fähigkeiten und Qualitäten?“, gesellte sich Mahad zu mir. Dessen durchsichtige Gestalt saß auf dem Stuhl gegenüber und lächelte mir freundlich entgegen.

„Das glaube ich kaum. Ich habe eher die Vermutung, er möchte Kaiba eins auswischen“, entgegnete ich.

„Hm, ich bezweifle das.“

„Warum?“

„Shin wirkte nicht so, als ob er eine solche Form der Demütigung nötig hätte.“

„Na dein Wort in Gottes Ohr, Mahad.“
 

Hungrig verschlang ich das Essen, mit einem Lob und Dank an den Koch, spülte es mit Mineralwasser hinunter, und zog mich dann in mein Zimmer zurück. Ich war inzwischen so weit, dieses Zimmer wirklich mein Eigen zu nennen. Hier störte mich niemand ungefragt; Kaiba kam selten zu Besuch, und wenn, dann klopfte sogar er an. Mokuba hatte auch gelernt, dass ich ein gewisses Maß an Privatsphäre brauchte und wollte. Müde ließ ich mich aufs Bett fallen und breitete die Arme aus. Die Decke war mit einem Poster des Schwarzen Magiers versehen worden.
 

„Dass ein Kartenspiel in der Lage war die ganze Welt zu verändern“, ging es mir durch den Kopf. Duel Monsters war nach wie vor ein tolles Spiel, das ich gerne spielte, vor allem, seitdem ich ein guter Duellant war. Mir gefiel nur nicht der Ernst, der diesem Hobby anhaftete. Zuhause, in der Schule, war es einfach nur ein Zeitvertreib gewesen; heute erschien es wie ein realer Kampf, jedes Mal, wenn man sein Deck in die Duel Disk schob.
 

Eine Frage schob ich immer wieder vor mir her. Was tat ich, wenn ich wirklich auf eine Götterkarte traf? Mein Gegner würde ein ausgesprochen guter Duellant sein, der um mehr spielte, als bloß einen Preis in einem Turnier.
 

„Alles zu seiner Zeit“, sagte ich zu mir selbst und stand auf. Gähnend fuhr ich mir durchs Gesicht und ging ins Badezimmer. Zuallererst stand Shins Staffel auf dem Tagesplan. Danach musste ich mich Kaiba und der Abstimmung widmen. Erst dann war es notwendig, sich über das Turnier den Kopf zu zerbrechen.

Nach meiner abendlichen Körperpflege schlüpfte ich in meine Schlafsachen und ging ins Bett. Im Fernsehen lief ein japanischer Zeichentrick, zu dem ich schlussendlich einschlief. Auf das Probetraining war ich gespannt, und welche Figur ich dabei abgeben würde.

Erstes Training

Ich traf mich am nächsten Tag mit Shin im Schulkeller. Der Kapitän der Fußballmannschaft wartete schon ungeduldig auf mich.
 

„Hey“, grinste er nervös und wippte mit den Fußballen vor und zurück, die Arme vor der Brust verschränkt.
 

„Hey Shin, schön dich zu sehen.“
 

„Dann wollen wir mal, hm?“
 

Im Schulkeller befanden sich allerlei Sportgeräte. Manche wirkten nicht sonderlich vertrauenserweckend, oder waren eingestaubt. Andere sahen aus, als würde man sie auf den Sperrmüll werfen können. Der Großteil schien aber in Ordnung zu sein, so auch die Ausrüstung, die mir Shin präsentierte.
 

Die Skier stellten sich als älteres Modell, wahrscheinlich aus den späten 90ern heraus, der Farbgebung zumindest. Sie waren komplett weiß, mit rosaner Schrift für die Marke, die mir gänzlich unbekannt war.

Das Alter sagte nichts aus, im Gegenteil: Gut eingelaufene Bretter waren Gold wert, das wusste ich von meinem Vater. Ich habe selbst auf seinen alten Skiern begonnen zu laufen, und muss bis heute sagen, dass sie einen unverkennbaren, einzigartigen Charme besaßen, genauso wie ein Profil, mit dem ich gut zurechtkam.
 

„Wundert mich, dass du nicht ob der Farbe jammerst“, schmunzelte Shin. „Welche Schuhgröße hast du denn?“
 

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung: „Ganz ehrlich, wer einen Ski anhand seiner Farbe beurteilt, der hat eh was versäumt. Einundvierzig, beziehungsweise zweiundvierzig.“
 

Es wurde schlussendlich die Größe 41. Schuhe und Skier machten einen guten Eindruck auf mich. Blieb nur noch das, was ich am Wenigsten mochte. Shin ging mit mir zu einer Reihe Spinde, von denen er leise murmelnd nach einer bestimmten Nummer suchte, die auf die Türen geklebt worden war, bevor er einen öffnete.
 

„Dafür ziehst du jetzt ein Gesicht“, kommentierte er mit einer Spur von Verständnislosigkeit mein Verhalten.
 

Das Gewehr war leicht, lag gut in der Hand, und, was ich auf den ersten Blick erkennen konnte, war es gut gewartet worden. Prüfend schaute ich durch das Visier. Auch das erschien mir nicht sonderlich problematisch. Das musste man dem Zeugwart, oder wer auch zuständig war, lassen: Jene Dinge, die Pflege bedurften, wurden dementsprechend behandelt. Das Visier war nicht eingesaut oder schmutzig.
 

„Bist du nicht zufrieden?“, wollte Shin nach einer Weile wissen.
 

„Nein, das ist es nicht. Das Teil ist schon ganz in Ordnung“, murmelte ich nachdenklich.
 

„Aber?“, bohrte der Schwarzhaarige nach.
 

„Das siehst du dann, Shin. Ich bin einfach ein miserabler Schütze“, seufzte ich laut.
 

„Zieh nicht so ein Gesicht. Probieren wir zuerst mal am Schießstand, was du so drauf hast.“
 

Der „Schießstand“ entpuppte sich als abgetrennter Bereich am Sportplatz. Mir waren die Zielscheiben noch nie aufgefallen, was auch gleich erklärt wurde.
 

„Habe ich extra aufgebaut“, erwähnte mein Begleiter beiläufig, während er noch ein wenig an den Zielen herumjustierte.

„Ist gut, du kannst loslegen.“
 

Nachdem Shin neben mir stand, nahm ich das Gewehr vom Rücken, legte den Gewehrkolben an meine linke Schulter und kniff das rechte Auge zusammen. Die Scheiben waren klar und deutlich zu erkennen. Innerlich zählte ich bis drei und atmete tief ein. Es war eigentlich wirklich nicht so schwer, zumal ich nicht ausgepowert war. Das markante Zittern nach der Anstrengung des Laufens fehlte.
 

Ich hielt die Luft an und führte den Zeigefinger an den Abzug. Langsam bewegte ich das Visier über das Ziel und drückte dann ab.

Das markante Klackern verriet mir, dass ich getroffen hatte. Dies gelang mir auch zwei weitere Male. Nummer vier verfehlte ich haarscharf, während bei Nummer fünf der Abstand schon deutlich größer war.
 

„Na, das war doch gar nicht so schlecht“, meinte Shin neben mir.
 

„Wenn ich nach dem Laufen zittere, treffe ich höchstens eine“, klagte ich und schulterte das Gewehr wieder.
 

„Ah, das wird schon. Mal sehen, wie gut du im Laufen bist.“
 

Ich sprang in meine Trainingssachen, bestehend aus einer schwarzen Sportjacke mit roten Ärmeln, einer Sporthose, dünnen Handschuhen, und einem schwarzen Stirnband. Shin zog sich den Dress der Schulmannschaft an. Ich schlüpfte in die Schuhe und Skier, band mir die passenden Stöcke um und wartete auf Shin, der sich sein Stirnband überzog.
 

„Zuerst einmal warm machen.“
 

Ich rollte ein wenig mit den Augen, grinste dabei aber. Natürlich war das wichtig, aber nicht unbedingt etwas, das ich gerne tat. Nach ein paar Übungen, die auch Dehnen beinhalteten, stellten wir uns auf der beschneiten Bahn nebeneinander.
 

„Ich würde sagen drei Runden, oder?“
 

„Von mir aus auch fünf“, grinste ich breit. Das Laufen bereitete mir viel mehr Spaß. Was ich beim Schießen vergeigte, konnte ich oftmals mit Ausdauer und Geschwindigkeit wettmachen. Oft hieß aber nicht immer.
 

„Na, mal sehen ob du echt so gut bist, wenn du schon so großspurig redest“, kicherte Shin und bedeutete mir, dass er herunterzählte. Drei, zwei, eins – los gings.
 

Skating war insgesamt etwas, das mittlerweile einfach routiniert ablief. Zu Beginn war es eine Katastrophe gewesen. Ich hatte unfreiwillig mit dem Gesicht, dem Bauch oder dem Rücken den Schnee geküsst. Der Ski schliff über den Schnee, ich verhakte mich irgendwo mit den Stöcken oder sonst etwas. Nun war es automatisiert, schwer zu beschreiben, fast so wie atmen.
 

Ski wegdrücken, die Stöcke benutzen, heranziehen. Das war es simpel gesagt. Natürlich gab es verschiedene Schrittarten, dann hing der Grip noch von der Pflege und der Vorbereitung des Skis ab, und eigentlich war es eine hochkomplizierte Angelegenheit, zu Beginn zumindest. Mittlerweile lief es wie von selbst.
 

Shin hatte in der ersten Runde einen deutlichen Vorsprung mir gegenüber, was auch daran lag, dass ich den Ski erst gewöhnt werden musste. Mein Kontrahent lief sauber und routiniert. Wenn alle in der restlichen Staffel so waren, verstand ich nicht, warum sie sich mit mir belasten wollten.
 

In der zweiten Runde holte ich schon auf. Das Equipment war gut. Ich lebte mich allmählich in die Sachen ein. Das Laufen war auch nicht das Problem, das wusste ich auch. Shin war in greifbarer Nähe, ich konnte sein Schnauben hören, genauso wie das markante Geräusch der Bretter, die auf den Schnee trafen, wo es notwendig war.
 

Runde drei sah nach Gleichstand aus. Mein Brustkorb hob und senkte sich mittlerweile angestrengt, während mein Atem über meinem Kopf jeweils eine kleine Wolke bildete. Ich konnte Shin begeistert lächeln sehen, als ich mit ihm gleichzog. Die letzten Meter bis zum Ziel waren wir gleichauf. Kurz davor schoben wir jeweils einen Ski nach vorne – Shin gewann um Haaresbreite.
 

„Das wiederum war sehr gut“, keuchte er und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab.
 

„Das Laufen wird auch nicht das Problem sein, Shin.“
 

„Na, das sehen wir, wenn es so weit ist. Hast du Lust, bis zum Turnier, zum Training zu kommen? Ich weiß, du hast bei Kaiba wahrscheinlich im Park mehr Platz, oder er hebt dir eine eigene Bahn aus, aber für das Mannschaftsgefühl wäre es gut. Außerdem wollen dich die Jungs kennenlernen.“
 

„Klar“, nickte ich begeistert. Mir hatte dieses kleine Training wieder vor Augen geführt, wie sehr mir ein Stück Heimat, das ich zweifelsohne mit diesem Sport verband, fehlte.
 

„Cool!“ Shin hielt mir die Hand hin und ich schlug ein.
 

Wir räumten gemeinsam noch die Sachen weg, er gab mir die Termine für die nächsten Einheiten, sprich morgen, Freitag und Samstag, bevor sich der Schwarzhaarige verabschiedete und wir uns auf den Weg nach Hause machten.

Ein unerwarteter Abschied

Kaiba und ich saßen am reichlich gedeckten Frühstückstisch der Kaibavilla. Der hauseigene Koch war dazu übergegangen, mir täglich frisches Brot und Toast zu backen. Es gab und gibt nichts Herzhafteres, als ofenwarmes, knuspriges Brot und gerösteten Toast zum Frühstück. Mein Gastgeber beschäftigte sich, wie jeden Morgen, mit der neuesten Ausgabe der Domino Express.
 

„Sag mal Kleiner, Wheeler hat sich mit seiner Mutter angelegt?“ Kaiba sah dabei nicht von seiner Zeitung auf, im Gegenteil: Er blätterte um, während seine Stimme einen belanglosen Ton annahm. „Ich weiß es von Mokuba, weil die gute Frau wohl haarscharf an einem dauerhaften Aufenthalt in der geschlossenen Station vorbeigeschrammt ist.“
 

Mir blieb das Frühstück im Hals stecken. Keuchend klopfte ich mir auf die Brust. Bitte was?
 

„Nun tu nicht so überrascht. Das war doch wohl abzusehen“, fuhr Kaiba ungerührt fort. „Sie hat wohl gehofft, mit einem netten Geschenk und einigen geheuchelten Worten wiedergutzumachen, was sie jahrelang verabsäumt hat.“
 

„Das ist dennoch hart. Stell dir mal vor, Mokuba würde so mit dir umspringen“, gab ich zu Bedenken und nippte an meinem Kakao.
 

„Ich gebe ihm für ein solches Verhalten keinen Grund. Eigentlich interessieren mich die familiären Angelegenheiten der Wheelers nicht, aber da ich nun wohl damit leben muss, dass zumindest temporär die kleine Wheeler mit Mokuba zusammen ist, muss ich zumindest so tun, als würde es mir nahe gehen.“
 

Wie eiskalt und abgebrüht der CEO doch war. Ich hatte weit mehr Grund, eine Abneigung gegen Mrs. Wheeler zu empfinden, und doch ging mir ihr Schicksal ein wenig nahe. Natürlich hatte sie Fehler gemacht, keine Frage, aber dass Joey sie so tief getroffen hatte, damit hatte ich auch nicht gerechnet.
 

Ich wollte etwas erwidern, als die Tür aufging und ein aufgebracht wirkender Roland hereinkam. Kaibas rechte Hand war mir mittlerweile ein Begriff. Vor allem an seinem markanten Schnauzbart konnte man einen der wichtigsten Männer der KC erkennen.
 

„Guten Morgen die Herrschaften“, begrüßte er uns verbeugte sich tief. Etwas schien ihm äußerst unangenehm zu sein, wie er an seinem Hemdkragen zupfte.
 

„Was ist denn Roland? Es ist Sonntag, und ich habe doch Anweisung gegeben, nicht gestört werden zu wollen“, murmelte Kaiba gedankenverloren und blätterte erneut um.
 

„Nun, wir…“, begann Roland, wurde aber sogleich unterbrochen.
 

„Spuck es schon aus, wenn es schon so wichtig ist, dass du entgegen meiner Anweisungen handelst.“ Der Jüngere bedachte den Älteren mit einem strengen Blick und faltete die Domino Express langsam zusammen.
 

„Sie erinnern sich sicher noch an das Mädchen, das behauptet hat, Ihr Gast hätte Sie, nun ja, missbraucht?“ Das Zupfen am Hemdkragen wurde immer stärker.
 

„Was ist mit Mei?“, mischte ich mich aufgeregt ins Gespräch ein. „Ich dachte, sie und ihre Familie wären außer Landes?“ Das brachte mir einen strengen Blick von Kaiba ein, der Roland mit einer Handbewegung bedeutete, weiterzusprechen.
 

„Nun, es ist so, sie, also ich weiß nicht wie ich sagen soll, aber sie steht vor unserer Tür.“
 

Sie tat bitte was? Kaiba teilte meine Verwunderung, denn er zog die rechte Braue in die Höhe. Für einen kurzen Moment lang schien er Roland mit seinem Blick vierteilen zu wollen, bevor sich seine Züge wieder normalisierten und der kalten, empathielosen Miene wichen, die er aufzusetzen pflegte.
 

„Darf ich fragen, warum sie noch nicht des Geländes verwiesen wurde?“ Das war keine Frage im herkömmlichen Sinne. Es schwang unmissverständlich Enttäuschung, wie auch Entrüstung in jeder einzelnen Silbe mit.
 

„Weil ihre Eltern darauf bestehen, dass sie mit Ihrem Hausgast sprechen dürfen“, fuhr Roland leise fort und senkte den Kopf dabei ein wenig.
 

„Seit wann erfüllen wir die Wünsche von Fremden, Roland?“
 

„Was wollen sie denn?“ Schlagartig richteten sich die Gesichter der Beiden auf mich. Ich verstand sowieso nicht, warum man mich noch immer als „Hausgast“ bezeichnete, wo ich doch eigentlich genauso ein Bewohner der Villa war, wie Mokuba und Kaiba es waren.
 

„Damit wollten sie nicht herausrücken. Ich habe sie aus dem triftigen Grund nicht abgewiesen, da es Ihre Entscheidung ist, genauso wie die Ihres Gastes, ob Sie sie anhören möchten, oder nicht.“
 

Diese Entschuldigung schien Kaiba zufriedenzustellen. Er nickte nur leicht und sah dann zu mir herüber, abwartend, nahezu schon auffordernd. Man stellte mir tatsächlich frei zu kneifen, oder nicht.
 

„Ich schätze, ich werde sie mir mal anhören. Vom Gelände werfen lassen, kannst du sie ja nachher immer noch, oder?“, hob ich die Schultern ratlos, und schickte mich an, aufzustehen.
 

„Roland, ich möchte, dass vor dem Tor mindestens zwei Personen Posten beziehen, zusätzlich zu den üblichen Sicherheitsleuten. Außerdem soll jemand in der Nähe sein, wenn wir mit ihnen sprechen.“
 

Wir? Ich blickte erstaunt zu Kaiba, der ebenfalls aufstand und mir bedeutete, ihm zu folgen. Rolands Reaktion wurde gar nicht abgewartet – der CEO vertraute wohl darauf, dass man seine Befehle ohne zu hinterfragen ausführte.
 

„Hast du eine Ahnung, was sie wollen könnten?“, fragte ich den Braunhaarigen, der nur mit dem Kopf schüttelte.
 

„Ich bin genauso ratlos wie du. Es kann alles sein, oder nichts. Rache, Schuldgefühle, vielleicht machen dich ihre Eltern für die prekäre Familiensituation verantwortlich, in der sie sich gerade befinden? Wer weiß?“
 

Vor der er Eingangstür angelangt, hielt Kaiba inne. Er schien zu zögern, was sich aber alsbald als Kulanz mir gegenüber herausstellte, ob ich denn nicht selbst aufmachen wollte. Sollte ich? Sie war zweifelsohne wegen mir gekommen, wahrscheinlich auch ihre Eltern. Dezent nervös nahm ich den Türgriff in die Hand und daran.
 

Auf dem weißen Eingangspodest stand die Familie Nakamura, allesamt adrett gekleidet. Ihr Vater, ein guter Mittfünfziger, mit Schnauzbart und Brille, trug einen grauen Anzug mit braun-weiß gestreifter Krawatte. Die Mutter war etwas jünger, wahrscheinlich am Ende ihrer 40er angelangt, in einem silbernen Hosenanzug. Mei wirkte etwas ungelenk, fast schon gepresst, in dem schwarzen Kleid, das sie trug. Die kleine Schwester, Sakura fehlte, wartete aber wohl im Auto, welches ich vor dem Tor parkend erkennen konnte. Ein luxuriöser Schlitten der gehobeneren Klasse, etwas, das Kaiba fahren würde, wenn er privat unterwegs wäre. Daneben fühlte ich mich direkt schäbig in Jeans, Kapuzenpulli und Sneaker.
 

Die Familie Nakamura verbeugte sich vor mir. Mei machte einen gequälten Gesichtsausdruck, der dadurch verstärkt wurde, dass ihre Eltern sie offen anfunkelten. Als das Mädchen keine Anstalten machte, zu sprechen, übernahm das ihr Vater, der eine ruhige und tiefe Stimme besaß.
 

„Guten Morgen. Ich hoffe wir stören Sie nicht“, begann er und verbeugte sich erneut. Ihm war die Scham direkt ins Gesicht geschrieben, als er wieder aufsah.
 

„Ähm, nein“, entgegnete ich unsicher und sah zwischen dem Dreiergespann unruhig hin und her. Was wurde das hier?
 

„Ich möchte mich in aller Form für das Verhalten meiner Tochter entschuldigen. Sie hat nicht nur Sie, sondern auch Herrn Kaiba auf das Übelste diskreditiert. Beinahe wäre Ihr guter Ruf wegen der Unfähigkeit meiner Tochter, die Wahrheit zu sagen, ruiniert worden.“ Die einzelnen Worte verließen nur schwer die Lippen des Mannes, der seiner Tochter bemüht heimlich einen Stoß mit der Hand in den Rücken versetzte. Mei zeigte noch immer kein Interesse am Gespräch.
 

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Herr Nakamura“, antwortete ich ehrlich und widerstand dem Drang, zurückzutreten und Kaiba das Feld zu überlassen, der hinter der Tür stand, sodass man ihn nicht sehen konnte.
 

„Ich hoffe, Sie können meiner Tochter, wie auch unserer Familie, noch einmal verzeihen. Mir ist bewusst, dass das sehr viel verlangt ist. Seien Sie sich versichert, dass es uns allen sehr unangenehm ist, Sie in solche Schwierigkeiten gebracht zu haben. Wir werden, aus beruflichen Gründen, unseren Familiensitz nach Hong Kong verlegen. Meine Frau und ich fanden es aber angebracht, Sie darüber persönlich zu informieren, bevor wir uns aus Japan zurückziehen, dass das Verfahren gegen Sie und Herrn Wheeler, wie auch gegen Herrn Kaiba eingestellt wurde.“
 

Dieses Mal verbeugten sich alle drei simultan. Meis Mutter lächelte gequält, und auch sie gab ihrer Tochter einen Stoß.
 

„Es…tut mir leid, was ich damals getan habe“, sagte sie halbherzig, nur um unter den Blicken ihrer Eltern kleiner zu werden.
 

„Schon okay, schätze ich“, murmelte ich überrumpelt.
 

„Es wird nichts an die Öffentlichkeit gelangen. Sowohl die Staatsanwaltschaft, als auch die Polizei, hat mir versichert, dass das eingeleitete Ermittlungsverfahren nicht den Medien bekannt gegeben wird. Sollten Sie es jedoch wünschen, würden wir uns bereit erklären, eine öffentliche Richtigstellung vorzunehmen.“
 

Ich wusste, was das für Herrn und Frau Nakamura bedeutete. Wenn sie mit der Story an die Öffentlichkeit gingen, war es das mit jeglichen Geschäftsbeziehungen und kostete sie wahrscheinlich ihre Jobs. Sollte ich darauf pochen, nur um Mei eins auszuwischen? Was würde Kaiba tun? Was würde Yugi tun? Was würde Joey tun?
 

„Ich denke nicht, dass das notwendig ist, Herr Nakamura. Es bedeutet mir sehr viel, dass Sie so über ihren Schatten springen wollen. Ich wünsche Ihnen noch alles Gute in Hong Kong, und hoffe, dass Sie und Ihre Familie dort glücklich werden.“
 

„Das ist sehr edel von Ihnen. Ich wünsche Ihnen ebenfalls alles Gute auf Ihrem weiteren Lebensweg.“ Einhellig verbeugte sich die Familie Nakamura vor mir, bevor sie sich umdrehten und in Richtung Eingangstor gingen. Ich konnte noch Meis Vater leise etwas Murmeln hören, von Enttäuschung und, dass sich nun einige Dinge gravierend ändern würden. Wortlos schloss ich die Tür und sah zu Kaiba auf, der amüsiert die Mundwinkel angehoben hatte
 

„Ich an deiner Stelle hätte darauf bestanden.“
 

„Ich bin aber auch nicht du“, nuschelte ich und ging auf mein Zimmer, wo ich mir mein Handy schnappte und Joeys Nummer wählte. Dieser hob tatsächlich ab und ich erzählte ihm, was gerade passiert war.
 

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, schloss er meine Erzählung ab. „Wenn du echt drauf bestanden hättest, wären sie alles losgeworden.“
 

„Hättest du denn?“, wollte ich wissen.
 

„Hm, ich denke nicht. Mei mag zwar ein Miststück sein, aber dass darunter die ganze Familie zu leiden hat, wäre auch falsch.“
 

Erleichtert atmete ich aus. Das war genau das, was ich hören wollte. Yugi dachte sicher ähnlich. Herr und Frau Nakamura erschienen mir zumindest ehrlich genug, als dass sie bereit waren, für die Fehler ihrer Tochter geradezustehen.
 

„Hast du etwas von deiner Mutter gehört?“, fragte ich nach einigen Momenten des Schweigens, die wieder in eine drückende Stille mündeten.
 

„Naja, ich weiß, dass sie sich für eine Psychotherapie angemeldet hat. Will wohl aufarbeiten, was ich ihr an den Kopf geworfen habe“, gab Joey kleinlaut durchs Handy zu.
 

„Überlege dir vielleicht einmal, dass du ihr schreibst. Einen Brief oder sowas. Du musst dich ja nicht entschuldigen, wenn du dich im Recht siehst, aber, ich würde das nicht so stehen lassen wollen.“
 

Zu meiner Überraschung erntete ich Zustimmung für meinen Vorschlag. „Das hat Tris auch gemeint. Ich denke drüber nach.“
 

Joey und ich quatschten noch eine Weile. Serenity ging es gut. Sie war inzwischen bei Freunden ihrer Mutter untergekommen, bis sich die psychische Lage dieser normalisiert hatte. Auf ihren Bruder war sie wohl nicht sauer, sondern nur einfach ein wenig verwirrt. Was ich so heraushörte, hatte Joey deswegen furchtbaren Bammel gehabt. Ein blaues Auge, würde ich einmal sagen. Nach dem Gespräch legte ich das Handy beiseite und warf mich nachdenklich aufs Bett. Verstehe einer die Welt – das Kind so ein verzogenes, falsches Gör, und die Eltern so vernünftig.
 

Ich rollte mich auf den Bauch und schnappte mir mein Deck aus der Nachttischschublade. Gezielt griff ich nach dem Schwarzen Magier und legte den Rest beiseite. Ob mein Alter Ego wohl auch so reagiert hätte? Ein warmes Gefühl in meiner Bauchgegend signalisierte mir Zustimmung auf meine unausgesprochene Frage. Vielleicht war ich ja doch kein schlechter Mensch, wenn ich so an den heutigen Tag dachte. Der Ring war vielleicht gar nicht böse, wenn ich mich beherrschen lernte. Intuitiv hatte ich das für mich Richtige getan, und darauf kam es an.

Ein (fast) normaler Nachmittag

Nach dem Training mit der Mannschaft und Shin, die sich allesamt als netter Haufen entpuppt hatten, traf ich mich mit Yugi im Einkaufszentrum. Wir hatten beschlossen, unseren Nachmittag dort zu verbringen; Joey war mit Tristan unterwegs, während sich Tea mit einer Freundin traf.
 

„Hey“, lächelte der Kleinere von uns und schloss mich warm in die Arme.
 

„Hey, Yugi“, grinste ich und setzte mich zu ihm an einen der unzähligen Plastiktische, wo schon zwei Milchshakes bereitstanden: Zitrone für mich und Erdbeere für ihn.
 

„Wie geht es dir?“, wollte mein Gegenüber wissen und zog an seinem Strohhalm. Irgendwie wirkte er dabei niedlich, fast schon süß. So unschuldig, als könne er kein Wässerchen trüben. Ganz anders, als in seinen Duellen.
 

„Ganz gut, und selbst?“
 

„Auch“, wurde meine Frage mit einem Lächeln beantwortet. „Was macht das Training?“
 

„Hm, kann nicht klagen. Die Jungs sind nett, und wir scheinen recht gut zu harmonieren. Shin ist von meinen läuferischen Fähigkeiten sehr angetan. Kompensiert wohl die miesen Trefferwerte beim Schießen.“ Um meine Aussage zu unterstreichen zuckte ich mit den Schultern.
 

„Dir ist hoffentlich klar, dass wir alle da sein werden, um dich anzufeuern, oder?“ Das verschmitzte Grinsen auf Yugis Zügen ließ nichts Gutes erahnen.
 

„Es würde euch nicht kümmern, wenn ich dagegen wäre, oder?“, sagte ich trocken, was mit einem entschiedenen Kopfschütteln abgelehnt wurde.

„Na, dann kann ich eh nichts machen.“
 

„Exakt“, nickte der König der Spiele.
 

„Wie macht sich Joey bei euch?“
 

„Ganz gut. Er und Großvater üben jetzt wieder mehr, was seinen Fähigkeiten als Duellant zugutekommt. Außerdem ist er in der Schule ja besser, wie du sicherlich bemerkt hast.“
 

Es war nicht nur das. Joey war generell fröhlicher, aufgeweckter, lebenslustiger. Den Brief an seine Mutter schob er noch ein wenig vor sich her, was ich verstand. Dafür schien der Rest gut zu passen. Er kam pünktlich mit Yugi in die Schule, hatte seine Hausaufgaben parat, war weniger Nervenbündel als sonst und machte insgesamt einen positiven Eindruck.
 

„Schon, ja“, antwortete ich halbherzig und stocherte mit meinem Strohhalm im Milchshake herum.
 

„Was hast du denn?“, erkundigte sich mein Freund mit einer Spur von Sorge in der Stimme. „Es geht ihm wirklich gut bei uns.“
 

„Das weiß ich doch, Yugi“, wich ich aus.
 

„Aber?“, bohrte er nach. Das konnte Yugi hervorragend. Damit bekam er mich auch immer rum, egal was er wollte.
 

„Hach, ich weiß nicht“, seufzte ich hilflos und schlug mit den Händen so fest auf den Tisch, dass dieser ein bedrohliches Knacken von sich gab.

„Ich habe einfach Schiss vor dem Turnier. Das wird einfach drauf hinauslaufen, dass ich mich mit meinen Freunden duellieren muss. Gewinne ich, zerstöre ich vielleicht sein Selbstvertrauen, verliere ich, ist Mahad enttäuscht, genauso wie der Pharao.“
 

„Habt ihr darüber noch immer nicht gesprochen?“
 

„Schon, aber…ich weiß nicht.“
 

Yugi griff nach meiner Hand und drückte sie ganz fest, was mich dazu bewog, in sein Gesicht zu schauen. Das war Yugi, mein Freund, mein bester Freund, nicht der Pharao, und doch wohnte seinem Blick jene Stärke inne, die ich bei Joey schon so oft beobachtet hatte.
 

„Joey versteht es, glaube mir. Im Königreich der Duellanten, im Finale, ist es uns beiden auch schwer gefallen. Wir waren beste Freunde, und sind es heute auch noch. Es ging für uns beide um alles. Trotzdem hat keiner nachgegeben, oder eine Sekunde lang daran gedacht, halbherzig zu kämpfen.“
 

„Das weiß ich Yugi.“ Ich erwiderte den Druck, umschloss Yugis Hand und lächelte schief: „Aber es ist eben etwas Anderes, wenn man seinem besten Freund gegenübersteht, oder seiner großen Liebe.“
 

Ich zögerte kurz, bevor ich nachsetzte: „Manchmal, da wünsche ich mir, den Ring nie bekommen zu haben. Alles ist so kompliziert geworden. Ich bin nicht du, der das mit dem Puzzle einfach so schaukelt. Dann bin ich wieder froh, dass Mahad in mein Leben getreten ist. Er ist da, passt auf mich auf, hilft mir, übernimmt, wenn es zu brenzlig wird.“
 

„Ich verstehe dich. Es war am Anfang für mich auch ein wenig komisch. Außerdem hatten und haben der Pharao und ich noch immer unsere Differenzen. Das ändert aber nichts an unserem Zusammenhalt. So wird es auch bei dir und Mahad sein, da bin ich mir ganz sicher.“
 

Yugi klang so überzeugt und einfühlsam. Ich bewunderte den kleinen, unscheinbar wirkenden Yugi Muto so sehr. Er verlor nie ein schlechtes Wort über Andere, hatte Mitleid und Verständnis sogar für Menschen wie Kaiba, versuchte sie zum Positiven zu verändern, ohne dabei selbst zu zerbrechen. Er brauchte den Pharao gar nicht. Er war bereits einzigartig.
 

„Mach dir einfach nicht immer so einen Kopf, ja? Du hast Joey, du hast mich, Tristan, Tea, Duke, Mokuba, sogar Kaiba, deine Freunde zuhause. Wir werden immer für dich da sein, egal was kommt, und zu dir stehen.“
 

Dieses Bekenntnis zauberte mir tatsächlich ein ehrliches Lächeln auf die Lippen. Wenn ich nur ein einziges Mal so entschlossen in die Zukunft schauen könnte wie Yugi. Herausragend, wenn man bedachte, dass er selbst einmal schüchtern und verschlossen gewesen war, zumindest seinen Erzählungen nach.
 

„Weißt du eigentlich, dass ich dich sehr bewundere? Nicht wegen deiner Erfolge in Duel Monsters oder anderen Spielen. Der Yugi, der gerade vor mir sitzt, ist ein so wundervoller Mensch, dass ich mich manchmal schäme, mit dir befreundet zu sein. So jemanden wie dich habe ich noch nie getroffen.“
 

Bei meinen Worten errötete er im Gesicht und räusperte sich mehrmals.
 

„Ich bin jedenfalls sehr glücklich, euch alle zu haben, besonders dich. Wenn du mich wirklich beim Wettbewerb anfeuerst, gebe ich mein Bestes, okay? Gleiches gilt für ein Duell. Ich hoffe natürlich, dass wir gemeinsam im Finale gegen jemanden antreten müssen, aber wenn nicht, und sollte ich so weit kommen, werde ich mich nicht zurückhalten.“
 

Yugi nickte, noch immer mit einer zarten rötlichen Note im Gesicht.
 

„Joey hat zu seiner Mutter etwas gesagt, das mich ein wenig zum Nachdenken gebracht hat“, wechselte ich das Thema.
 

„Was war da eigentlich los? Er lässt nur wenig durchblicken. Tristan weiß wohl mehr, erzählt uns aber nichts davon.“
 

Ich beschrieb Yugi die Szene im Restaurant, bis ins kleinste Detail. Angefangen vom ersten Treffen mit ihr und mir, über das Gespräch zwischen Joey und seiner Mutter, bis hin zu Mrs. Wheelers Nervenzusammenbruch.
 

„Joey hat ihr vorgeworfen, wir, du und ich, wären mehr um ihn bemüht, als seine eigene Mutter. Ich finde das schon hart“, schloss ich die Erzählung ab.
 

„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was da zwischen ihnen vorgefallen ist. Joey erzählt wenig über seine Vergangenheit oder seine familiäre Situation. Tristan ist mit einem eisernen Schweigen belegt worden, das er auch nicht bricht. Mir ein Urteil über dieses Gespräch anzumaßen steht mir nicht zu. Wie siehst denn du die Sache?“
 

Ich überlegte eine Weile, wobei ich mir die Schläfen mit Daumen und Zeigefinger massierte. Wenn ich ehrlich sein sollte, so konnte ich noch immer nicht glauben, dass Mrs. Wheeler eine so gute Schauspielerin war. Sie machte einen durchaus distanzierten, kühlen Eindruck, aber ihre Sorge um Joey schien echt zu sein.
 

„Yugi, mir stellt sich sowieso die Frage, woher Joey das alles wissen will. Er war auch danach recht komisch.“
 

„Komisch? Inwiefern? Du kennst Joeys Anwandlungen mittlerweile fast schon besser als wir.“
 

Ich machte mit der Hand eine abwägende Bewegung. „Ich weiß nicht, wie ich es dir beschreiben soll. Er hat mich gebeten, bestimmte Worte oder Satzfolgen zu wiederholen, die ihn beruhigten. Aber nicht so Dinge wie „Ich brauche dich“, oder „Ich liebe dich“, sondern „Für immer“…“
 

Der König der Spiele wirkte ertappt. In diesem Punkt war er so konträr zu Kaiba: Yugi sah man das schlechte Gewissen sofort an.
 

„Hast du was damit zu tun?“, fragte ich ruhig.
 

„Nicht direkt“, druckste mein Gegenüber herum.
 

„Aber?“ Meiner Stimme schwang zweifelsohne die Aufforderung bei, er möge endlich mit der Wahrheit herausrücken.
 

„Ich darf es dir nicht sagen. Es ist nichts Schlimmes, eher eine Art Glücksbringer für Joey. Etwas, woran er sich festhalten kann. Noch mehr auszuplaudern wäre unklug.“
 

„Yugi…“
 

„Vertrau mir einfach, okay?“
 

„Hör mal, du und Joey heckt etwas aus, und ich soll dir dabei noch vertrauen? Wenn es nicht du wärst, würde ich ganz anderes reagieren. Also nochmal: Was ist los?“
 

Die weichen Züge meines besten Freundes wichen einer härteren, strengen Miene. Ich erkannte sofort, dass er und der Pharao die Plätze getauscht hatten. Mahad meinte einmal, dass dies, wenn überhaupt, nur den Trägern von Milleniumsgegenständen auffiel.
 

„Also das ist jetzt unfair“, beschwerte ich mich ungehalten.
 

„Das ist mir durchaus bewusst. Ich bin nur Yugis Wunsch gefolgt. Vertraue ihm einfach. Es ist eine gute Tat gewesen.“
 

Zum ersten Mal stand ich dem Geist gegenüber, der mit Yugi den Körper teilte. Gut, das war gelogen, ich hatte ihn schon ein paar Mal neben mir, aber nur, wenn es brenzlig war, wie in der VR, oder gegen diese komischen Managertypen. Er war so anders, und dabei doch seinem Gefährten ähnlich. Ob das bei Mahad und mir auch so war?
 

„Wenn du hier bist, kannst du mir aber eine Frage beantworten, und zwar ehrlich.“
 

Der Pharao bedachte mich mit einem abschätzenden, fast schon strengen Blick. Hatte ich ihn beleidigt? Hätte ich ihn siezen sollen? Zu meiner großen Erleichterung wandelte sich der Gesichtsausdruck bald zu einem freundlichen Schmunzeln, verbunden mit einem Nicken.
 

„Denkst du auch, dass ich in der Lage bin, ein Göttermonster zu beschwören und davon abzuhalten, alles kurz und klein zu schlagen?“
 

„Ja“, war die überraschend schnelle und feste Antwort, die mir der Pharao entgegenbrachte.
 

„Trotz meiner Schwächen und Unzulänglichkeiten? Was, wenn der Ring mich übernimmt? Was, wenn ich am Ende dastehe und begreife, dass ich die Macht habe, einen Gott zu befehligen?“
 

„Du bist ein guter Mensch mit einer guten Seele. Tief in deinem Inneren wohnt eine Stärke, die du vielleicht erst noch vollständig ergründen musst, aber die Milleniumsgegenstände können nichts hervorrufen, was nicht schon da ist.“
 

„Das muss dann aber auch für das Böse gelten“, nuschelte ich bedrückt.
 

„Wichtig ist, was wir am Ende tun, und was unsere Motive dabei sind. Niemand ist ein absolut fehlerfreier Mensch. Wir haben aber die Wahl, uns dem Guten oder dem Bösen zuzuneigen.“
 

Der Pharao klang dabei so überzeugt von seinen Worten, dass ich selbst an meinen Befürchtungen zu zweifeln begann, nicht bereit zu sein. Er hatte nicht einmal bei seinen Worten geblinzelt oder gezuckt. Die Person vor mir log nicht.
 

„Ich…weiß ehrlich gesagt nicht, was ich sagen soll.“
 

„Yugi hat einen sehr guten Freund in dir gefunden, und damit auch ich. Glaube mir, ich weiß selbst, was es bedeutet, mit sich zu ringen. Du bist auf einem guten Weg, und ich freue mich bereits darauf, mit dir an meiner Seite kämpfen zu dürfen. Es wird eine genauso große Ehre sein, wie mit Joey.“
 

Verlegen schnappte ich mir meinen Milchshake und saugte ihn in einem Zug leer, was mit einer gehörigen Portion Hirnfrost belohnt wurde.
 

„Wie ich sehe, hat er mal wieder die richtigen Worte gefunden“, grinste Yugi breit und tätschelte mir die Schulter.
 

„Scheint so, hm?“
 

„Wollen wir noch eine Runde an den Arcade-Automaten?“
 

Die Runde, genauso wie die zehn darauffolgenden Kämpfe, verlor ich haushoch. Ich weiß bis heute nicht, wie Yugi es anstellt, in jedem Spiel der Beste zu sein. Für Betrug war er zu ehrlich, aber dass jemand so viel Glück hatte, oder Können, in jedem Bereich, das erscheint mir absolut unmöglich. Vielleicht komme ich eines Tages dahinter?

Das Rennen

Ich schaute auf mein Handy und fluchte innerlich. Wir standen im Stau, und das zum ungünstigsten Zeitpunkt. Normalerweise wäre ich ausgestiegen und gelaufen, aber das war nicht möglich. Im Kofferraum lag mein ganzer Krempel für den Schulwettbewerb. Wenn das so weiter ging, würde das Ganze ohne mich stattfinden.
 

Nervös trippelte ich mit den Fingern auf der Armlehne neben mir herum. Den Fahrer anzuschnauzen brachte gar nichts; heute, genau jetzt, musste ein Unfall passieren. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich war sowieso schon nervös genug, da brauchte ich nicht noch zusätzliche Probleme.
 

Aus fünf Minuten wurden zehn, aus zehn Minuten zwanzig. Ich weiß bis heute nicht, wie es der Chauffeur geschafft hatte, die Zeit einigermaßen aufzuholen, doch anstelle einer halben Stunde verspätete ich mich nur um fünfzehn Minuten. Hastig schnappte ich mir meine Sachen und rannte in das Freiluftstadion, das man eigens (auf Kaibas ausdrücklichen Wunsch hin), für den Bewerb präpariert hatte. An den Kartenverkäufern sprintete ich einfach vorbei. Sie riefen mir noch etwas nach, was mich aber nicht weiter kümmerte. Dafür hatte ich einfach keine Zeit.
 

In der Umkleidekabine angekommen, ließ ich meine Sachen fallen und atmete schwer aus. Shin, genauso wie die restlichen Jungs, warteten in der Umkleidekabine, schon fix fertig angezogen. Dem ernsten Gesichtsausdruck unseres Kapitäns nach zu urteilen, war er entweder sauer auf mich, oder etwas war passiert.
 

„Machen wir es kurz“, begann der Schwarzhaarige.
 

„Was? Sind wir disqualifiziert wegen mir?“ Bei meiner Frage rutschte mir bereits das Herz in die Hose.
 

„Das nicht, aber es gibt eine, oder sagen wir mehrere Überraschungen für dich.“
 

Ich zog die rechte Braue fragend in die Höhe und ließ mich auf die Bank der Umkleide fallen.
 

„Zuallererst, du wirst nicht bei uns laufen, sondern im zweiten Bewerb.“
 

„Bitte was?“
 

„Es gibt zwei Bewerbe. Einen für Biathlon, und einen für einen Sprint über 15 Kilometer.“
 

Hatte der Kapitän der Fußballmannschaft ein paar Kopfbälle kassiert, oder was war los?
 

„Du willst mich verarschen, oder?“, fragte ich fassungslos.
 

„Nein. So leid es mir tut, aber du bist beim Schießen echt eine Niete.“
 

Das war ja aufbauend.
 

„Dafür beim Laufen umso besser. Yugi meinte, du hättest ihm gesagt, das sei deine wahre Stärke. Der Meinung sind wir auch.“
 

Nun war ich endgültig verwirrt. Warum hatte sich Shin mit Yugi unterhalten. Diese Frage schob ich einmal beiseite. Das konnte ich noch aus ihm herausprügeln, wenn ich ihn nicht vorher erwürgt hatte.
 

„Wusstest du davon die ganze Zeit?“
 

„Ich habe es erst letzte Woche erfahren. Als wir davon wussten, haben wir gleich alles in die Wege geleitet.“
 

„Was in die Wege geleitet?“ Ich wurde zusehends ungehalten.
 

Shin trat beiseite, genauso wie der Rest der Mannschaft, und gab Blick auf etwas frei, bei dessen Anblick ich beinahe zu weinen anfing.
 

„Wie habt ihr das hinbekommen?“, fragte ich und sprang auf.
 

Da stand Yugi, breit lächelnd. Er nickte mir zu, links meine Skier haltend, rechts die Stöcke. Um seinen Hals hingen die dazu passenden Schuhe.
 

„Überraschung“, lachte er fröhlich.
 

Ich wusste gar nicht was ich sagen oder machen sollte. Zuerst fiel ich Shin um den Hals, danach Yugi, der Mühe hatte, nicht umzukippen.
 

„Hey, nicht so stürmisch“, grinste er breit.
 

„Aber Yugi, Shin, Leute, das ist unmöglich. Ich meine, selbst wenn sie zuhause früh genug weggeschickt worden wären, der Zoll…“
 

„Hideos Vater arbeitet zufälligerweise beim Zoll“, schmunzelte Shin. „Und Hirokis Mutter bei der Postleitstelle von Domino City.“
 

„Meine Adresse? Meine Eltern? Ich meine, mein Vater muss doch…“, begann ich verdattert, wurde aber sogleich unterbrochen.
 

„Liebe Grüße von deinem Vater. Er wünscht dir Glück, genauso wie deine Großeltern.“ Yugis Lächeln wurde noch breiter, als ich feuchte Augen bekam.
 

„Ja, aber…“
 

„Nichts aber. Tameo hat sie mit Samthandschuhen beim Präparieren angefasst. Sie müssten auf den eher harten und trockenen Schnee bestens abgestimmt sein.“
 

Ich befreite Yugi von meinen Sachen und ließ mich erneut auf die Bank fallen. Fassungslos drehte ich das Paar Skier in den Händen. Das waren meine, wirklich meine! Ich hatte sie von meinem Vater zum letzten Geburtstag bekommen. Wie ein kleines Kind zählte ich damals die Tage, bis es endlich Winter wurde, endlich schneite.
 

Grau, mit gelbem Schriftzug, leicht wie eine Feder, fragil anmutend, aber doch robust. Es waren natürlich nur normale Skier, aber so fühlte es sich an, sie in Händen zu halten. Gleiches galt für Schuhe und Stöcke. Mein Equipment.
 

„Ich hätte nicht gedacht, dass du so emotional reagierst“, riss mich Yugi aus meiner eigenen kleinen Welt. Wortlos hielt er mir ein Taschentuch hin, das ich ausgiebig benutzte.
 

„Du spinnst ja“, murmelte ich und wischte mir mit dem Jackenärmel über die Augen.
 

„Hop Männer, wir müssen raus“, klatschte Shin in die Hände, klopfte mir noch einmal auf die Schulter und scheuchte die Jungs nach draußen.
 

"Viel Glück draußen, und Danke!", rief ich ihnen noch hinterher, bevor ich mich dem König der Spiele zuwandte.
 

„Yugi…“, setzte ich an.
 

„Ich habe das Feuer in deinen Augen gesehen, als du von deinen Sachen erzählt hast. Wie bei deinen Duellen. Da war es doch das Mindeste, dass ich dir ermögliche, mit deinem eigenen Deck zu laufen, hm?“, schmunzelte mein bester Freund, der er nun zweifelsohne war.
 

Ich schnappte ihn mir und zog ihn in eine feste Umarmung.
 

„Danke“, nuschelte ich.
 

„Schon okay. Wenn du jetzt aber aufhören könntest, mich zu erdrücken, wäre ich echt froh“, ächzte er und klopfte mir auf den Rücken.
 

Ich schlüpfte in meine Ausrüstung und prüfte kurz das Profil der Skier. Shin hatte nicht untertrieben: Tameo kannte sich wirklich aus. Meine Sachen wachste mir normalerweise mein Vater, aber es sah genauso aus wie bei ihm. Nun musste nur noch das Wachs selbst zur Temperatur passen.
 

Yugi und ich standen am Ausgang und beobachteten, wie sich die Staffelbewerber schlugen. Den Anfang hatten wir verpasst, genauso wie ich jegliche Ansage ausgeblendet haben musste, die der Sprecher in sein Mikrofon bellte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich gegen die Mauer. Auf der großen Tafel konnte ich ablesen, dass Tameo eine Strafrunde kassiert hatte, genauso wie Hideo. Es gab nur eine Schule, deren Läufer jegliches Ziel getroffen hatten.
 

„Und? Was sagst du?“, fragte mich Yugi und sah zu mir herüber.
 

„Das ist nicht so schlimm. Tameo ist ein guter Läufer. Wenn Shin alles trifft und sich anstrengt, können sie mit den Spitzenreitern mithalten.“
 

„Und wenn nicht?“
 

„Dann werden wir wohl Zweiter.“
 

Wurden wir nicht. Shin brillierte in der letzten Runde, wie ich es noch nie gesehen hatte. Er traf mühelos und holte dabei gefühlt noch das auf, was die Anderen beiden nicht geschafft hatten. Wenn jemand diesen Sieg heimgeholt hatte, dann er.
 

Als die Gruppe, völlig fertig, aber glücklich, in die Umkleide kam, nickte ich ihnen anerkennend zu. Das war eine herausragende Leistung gewesen. Sie waren gut gelaufen, hatten gut geschossen und sich nicht entmutigen lassen. Das sagte ich ihnen auch genau so.
 

„So, jetzt musst du ran“, boxte mir Shin gegen die Schulter, hechelnd wie ein Hund.
 

„Wenn ich es versaue, köpft mich nicht, ja?“
 

„Du versaust es einfach nicht.“
 

Ich nickte laut schluckend, schnappte mir meine Sachen, und ging nach draußen.
 

„Du machst das schon“, rief mir Yugi noch hinterher.
 

Der Schnee knirschte unter meinen Schuhen. Hart und kalt. Ich würde also grob geschätzt, und wenn Taemo nicht gepfuscht hatte, was ich nicht glaubte, mit den Anderen gleich auf sein, was die Bedingungen anging.
 

Die Bahn war breit genug, dass alle Teilnehmer, sechs an der Zahl, Platz darauf fanden. Meine Mitbewerber stellten sich als bunt gemischt heraus. Einer war gefühlt ein Riese, zwei durchschnittlich, der Rest, mich eingeschlossen, eher klein. Das musste nichts heißen, aber es konnte das Zünglein an der Waage sein.
 

Ich ließ meinen Blick wandern, über die zum Bersten gefüllten Tribünen. Jede Schule hatte ihren eigenen Bereich zugeteilt bekommen, so auch die Domino High. Mein Herz machte einen Hüpfer, als ich meine Freunde entdeckte, oder eher das, was sie hochhielten: Ein breites Spruchbanner mit meinem Namen, auf das jemand einen Schwarzen Rotaugendrachen gemalt hatte. Ich kannte diesen Zeichenstil; das war Joeys Werk. Kaiba konnte ich nirgendwo ausmachen.
 

Wir wärmten uns alle noch ein wenig auf, bevor wir laut über ein Megafon aufgefordert wurden, Aufstellung zu nehmen. Vor uns war eine Ampel montiert, die drei rote Lichter zeigte. Ich stieg in meine Skier, schnallte mir die Stöcke um und atmete mehrmals tief ein und aus.

Das Wetter war akzeptabel. Die Sonne hatte sich hinter einigen Wolken versteckt, was mich aber nicht störte, im Gegenteil: Genau dieses Wetter liebte ich.
 

Laut wurde von drei heruntergezählt, während die Lichter auf der Ampel langsam erloschen. Die jubelnden Zuschauer blendete ich aus, genauso wie alles andere. Jetzt zählte nur das Rennen. Das war etwas, wobei mir Mahad nicht helfen konnte, genauso wenig wie Kaiba. Hier zählten nur ich und meine Fähigkeiten.
 

Als das letzte Licht ausging, drückte ich mich mit voller Kraft ab. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Man zählte auf mich: Shin, die Jungs, meine Freunde, die Schule. Jetzt kam es nur auf einen sauberen Stil, eine gute Krafteinteilung und einen kühlen Kopf an.
 

Ich war wie in Trance. Ich hörte das Geschrei der Menge fast gar nicht, genauso wie Zurufe und den Sprecher im Stadion. Es gab nur mich, meinen immer flacher gehenden Atem, und die anderen Bewerber. Das erinnerte mich an mein erstes Rennen, als ich noch ein kleiner Junge war. Ich war genauso aufgeregt gewesen.
 

Tameo hatte mir tatsächlich einen guten Dienst erwiesen. Ich glitt mühelos über den Schnee. An den Steigungen hatte ich genügend Halt um hinaufzukommen, während nach unten der Ski nachgab und ich Geschwindigkeit erhielt. Die ersten fünf Kilometer waren kein Problem gewesen. Schnell hatte sich das Feld auch getrennt.
 

Der Größte von uns, ein eher schmächtig wirkender Kontrahent und ich duellierten uns um die Führung, während die anderen beiden abgeschlagen hinter uns lagen. Das war noch kein Ausscheidungskriterium; viele Läufer machten auf den letzten Kilometern so viel wett, dass sie sich an die Spitze katapultierten, sofern der Abstand nicht zu groß war.
 

Die nächsten fünf Kilometer waren schon deutlich anstrengender. Mittlerweile hatten der Riese und ich auch den Anderen abgehängt. Mir schmerzten bereits Arme und Beine. Ihm musste es ähnlich ergehen. Ich konzentrierte mich darauf, möglichst sauber zu laufen und mich nicht davon verunsichern zu lassen, dass er langsam aber sicher davonzog.
 

Mit jeder Sekunde die verging, wurde das Brennen in meinem Körper stärker. Das Atmen fiel mir schwerer und in meinem Brustkorb machte sich allmählich ein unangenehmes Stechen breit. Die Strecke vor mir verschwamm und wurde wieder klar, genauso wie der Rücken des Führenden. Lange würde ich nicht mehr durchhalten können, das war mir bewusst. Wir hatten noch ungefähr drei Kilometer vor uns.
 

Ich verstand nicht, wie der Typ vor mir das machte. Er zog immer mehr davon. An meiner Ausrüstung konnte es nicht liegen, und ich war auch alles andere als untrainiert. Das war schon fast unheimlich. Aber es gab solche Talente. Wenn ich ihn nicht bald einholte, konnte ich mir den Sieg abschminken.
 

Für einen kurzen Moment fiel mir das Banner ins Auge. Der Schwarze Rotaugendrache starrte mir grimmig entgegen und ich meinte Joeys blonden Haarschopf zu erkennen. Das gab mir noch einmal den nötigen Auftrieb und die Entschlossenheit. Es war an der Zeit die letzten Kraftreserven zu mobilisieren und zu hoffen, dass sie bis zum Ziel ausreichen würden.
 

Innerlich zählte ich bis drei, bevor ich das Tempo anzog. Ich hatte das Gefühl, als würden mir meine Arme bald abfallen, und jemand mit spitzen Nadeln in meine Oberschenkel stechen. Mit zusammengebissenen Zähnen näherte ich mich dem Führenden. Ich konnte Blut in meinem Mund schmecken, ein sicheres Zeichen dafür, dass ich mich überanstrengte.
 

Jeden Meter den ich ihm näher kam, erkämpfte ich mir hart. Das Ziel kam in unser Sichtfeld. Nahezu zeitgleich sausten wir die Anhöhe hinab, stiegen mit Schwung in die Kurve und ich holte das Letzte aus meinem überanstrengten Körper heraus. Es war ein hin und her, einmal er vorne, einmal ich. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Nun war es so weit: Das Zünglein an der Waage.
 

Die Ziellinie war zum Greifen nahe. Hundert Meter, dann fünfzig, dann zwanzig, dann zehn. In mir rebellierte alles, mit dem Wunsch endlich aufzugeben. Ein Schwindelgefühl erfasste mich, kombiniert mit dem Bedürfnis, mein Frühstück herauszuwürgen.

Beide schoben wir den rechten Ski in einem Ausfallschritt nach vorne, bevor wir über die Linie stolperten und ich mich auf den Rücken fallen ließ.
 

Keuchend lag ich da, mit Ausblick auf die grauen Wolken. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, mir den Speichel vom Mund zu wischen. Schwer atmend, alle Vier von mir gestreckt, versuchte ich mich ein wenig zu beruhigen und meinem überanstrengten Körper etwas Ruhe zu gönnen. An Aufstehen war sowieso nicht zu denken.
 

Wie lange ich dort lag, konnte ich nicht sagen. Langsam kam ich wieder ein wenig zu Atem. Wer hatte eigentlich gewonnen? Stand das schon fest?
 

„Und der Gewinner ist…“, tönte es im gesamten Stadion.
 

Ich hielt den Atem an, genauso wie wahrscheinlich alle Zuschauer.
 

„Die Domino High!“

Die Siegesfeier

„Die Domino High!“
 

Ich glaubte taub zu werden bei dem Lärm, der im Stadion ausbrach. Hunderte Schüler, Lehrer, Zuschauer aus der ganzen Region, sprangen auf. Das Banner des Schwarzen Rotaugendrachens wurde gen Himmel gereckt. Ich konnte meinen Namen gut erkennen, der mittlerweile auch so laut geschrien wurde, dass ich Angst hatte, man könnte ihn zuhause noch hören.
 

Zu dumm nur, dass der Läufer der Domino High nicht in der Lage war auch nur einen einzigen Muskel zu rühren. Einzig ein schiefes Lächeln brachte ich zustande, vollgesabbert und mit dem warmen Geschmack vom Blut im Mund. Ein toller Held, wenn er nicht mal aufstehen konnte. Das war aber auch gar nicht nötig.
 

Shin und die Jungs stürmten auf mich zu, noch immer in ihren verschwitzten Sachen, die Haare an Stirn und Nacken klebend. Bevor ich protestieren konnte, wurde ich auf ihre Schultern gehoben und wie ein Pokal hochgehalten.
 

„Das war der absolute Wahnsinn!“, schrie mir Shin ins Ohr, während sich immer mehr Leute aus unserer Schule um die Mannschaft scharten.
 

„Das was du gemacht hast war der absolute Wahnsinn. Ich habe noch nie jemanden so verbissen laufen gesehen“, brüllte ich zurück.
 

Man feierte uns wie Helden. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht unwohl, wenn so viel Aufmerksamkeit auf mir lag. Wir hatten alle unser Bestes gegeben und waren dafür belohnt worden. Ich musste so viele Hände an mir ertragen, dass ich spätestens nach der Nummer fünfzig aufhörte zu zählen. Den anderen erging es ähnlich.
 

Der große Monitor mittig des Stadions zeigte noch einmal die Highlights der Bewerbe. Shin und ich waren auch dabei, genauso wie Tameo und der Riese. Ich war ehrlich gesagt Stolz, denn das hier hatte ich ohne fremde Hilfe geschafft. Wobei das nicht so ganz stimmte.
 

Mein Blick fiel auf meine Freunde, sprich Yugi, Tristan, Tea, Duke, Joey und Bakura die mich allesamt anstrahlten. Tristan und Duke zeigten mir zeitgleich ihre ausgestreckten Daumen, Yugi lächelte wie ein Honigkuchenpferd, Tea und Bakura hüpften händchenhaltend auf und ab, und für Joeys Gesichtsausdruck fehlten mir die Worte. Wenn seine Wangen noch mehr geglüht hätten, wäre er wahrscheinlich in Flammen aufgegangen.
 

Die Menge ging auseinander und Kaiba kam mit einem sehr seltenen Gast. Er war eher kurz gehalten, etwas dicklich und machte mit seiner Hornbrille und den kurzgeschorenen Haaren, sowie dem gepflegten Oberlippenbart, einen strengen Eindruck.
 

„Ich gratuliere Ihnen. Sie alle haben unserer Schule heute große Ehre gemacht. Ihre Wahl erscheint mir im Nachhinein als sehr richtig, Shin.“ Direktor Tanaka ließ sich zu einem Lächeln hinreißen, bevor er zurücktrat und Kaiba das Feld überließ.

Der CEO nickte uns allen knapp zu, und ich meinte, den Hauch eines Lächelns auf seinen Zügen erkennen zu können, bevor er sich umdrehte und mit unserem Direx wieder in der Menschenmenge verschwand, die uns erneut bedrängte, als gäbe es keinen Morgen mehr.
 

Wir waren noch mindestens eine halbe Stunde draußen, bevor man uns endlich in die Umkleiden und zum Duschen ließ. Beim Hineingehen konnte ich noch erkennen, wie jemand mein Banner an einem Fahnenmast befestigte.
 

„Kenta galt als der absolute Favorit. Er hat in den letzten Jahren immer wieder geglänzt. Wir waren schon glücklich, dass du eine Weile mit ihm mithalten konntest, aber ihn auch noch fertigzumachen“, sprudelte aus Shin nur so heraus, während er in seiner Sporttasche herumkramte.
 

„Halt die Klappe. Ihr alle seid echt großartig gewesen. Wie Tameo an dem einen Blonden vorbeigezogen ist. Außerdem war es sein gutes Gespür für die Gegebenheiten, dass ich mich an Kenta ranhängen konnte.“ Ich hatte bisher nicht einmal gewusst, wie mein Gegner geheißen hatte. Natürlich war sein Name kurz auf der großen Anzeigetafel aufgeblitzt, aber da war ich schon zu nervös gewesen, um mich mit solchen Trivialitäten zu beschäftigen.
 

Beim Duschen hatte ich immer ein wenig Angst, dass mir ein Missgeschick passieren könnte. Ich liebte Joey, und das von ganzem Herzen, aber in der Regel vermied ich es, gemeinsam mit den Anderen länger als nötig in der Umkleide zu sein. Vor allem Shin war ziemlich hübsch, und Hideo auch. Bisher hatte keiner nachgefragt, und es einfach auf Trödeln meinerseits geschoben, aber dieses Mal konnte ich nicht ausweichen. Das war schon im regulären Sportunterricht ein wenig problematisch gewesen, aber hier…
 

„Was machst du für ein Gesicht?“, fragte mich Shin und schnippte mir mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Erde an David, wir haben gewonnen?“
 

„Ich weiß, aber mir tut noch immer alles weh“, wich ich aus und zog eine Grimasse. „Das kennt der große Shin natürlich nicht.“
 

„Als ob“, lachte er schallend und boxte mir gegen die Schulter. „Komm, jetzt gib dir einen Ruck. Wir müssen nachher alle gemeinsam auf die Siegesfeier.“ Als er sein Shirt auszog biss ich mir auf die Zunge. Er war noch trainierter als Joey und ich. Natürlich hatte ich das schon ein paar Mal gesehen, aber heute fiel es mir besonders auf.
 

Zu meiner großen Erleichterung sagte er nichts ob meines Starrens, für das ich mich einen Dummkopf schalt. Bis vor einem halben Jahr hatte ich damit kein Problem gehabt, und jetzt... Das war einer der wenigen Momente, wo ich mir wünschte eine Frau zu sein.
 

Als ich drinnen meinen Namen hörte, zuckte ich zusammen. Es half alles nichts. Ich musste wohl oder übel dieses eine Mal überstehen, ohne mich zu blamieren. Mit zitternden Fingern kramte ich nach dem Duschgel in meiner Tasche und einem Handtuch, bevor ich aus den verschwitzten Sachen schlüpfte und mit gesenktem Blick in die Duschräume stapfte.
 

„Wenn du den Kopf noch tiefer hältst, ziehst du mit deiner Nase eine Furche“, lachte Tameo und massierte sich sein Shampoo in die Haare ein. Bloß nicht weiter nach unten starren.
 

Mit bis zum Zerreißen angespannten Nerven stieg ich unter die Dusche und drehte das Wasser voll auf. Draußen hörte ich die Jungs lachen und blödeln. Die halbe Miete war schon einmal geschafft. Jetzt musste ich nur wieder nach draußen kommen, ohne mich zu verraten. Ich überlegte schon, ob ich nicht einfach „nachhelfen“ sollte. Diesen Gedanken verwarf ich sogleich aber wieder. Erstens wäre das aufgefallen und zweitens erst recht peinlich gewesen.
 

Wohlweislich war ich schlau genug gewesen, mir meine Wechselunterwäsche mitzunehmen. Schnell in die Hosen geschlüpft, und niemand würde etwas bemerken.
 

„Habe ich auch noch nie gesehen, dass wer mit Unterhose aus der Dusche kommt“, neckte mich Hideo und rubbelte sich die Haare trocken.
 

„Soll eben auch schüchterne Menschen geben“, konterte ich scherzend.
 

„Das wäre ja was ganz Neues, du und schüchtern.“
 

Auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob sie kein großes Theater gemacht hätten, war ich froh, als alle, mich eingeschlossen, wieder in Kleidung unterwegs waren. Zurück nahm ich den Mannschaftsbus. Da war ich schon wieder ausgelassener und alberte mit dem Rest herum. Shin bedachte mich aber ab und an mit einem nachdenklichen Blick, so, als ob er etwas ahnen würde.
 

Beim Aussteigen umschwärmte man den Bus bereits. Die halbe Schule wartet am Tor auf uns. Die ersten Freundinnen sprangen in die Arme ihrer Liebsten. Schlussendlich blieben nur Shin, Tameo und ich übrig, die aber allesamt belagert wurden. Da war ich nun wieder froh, dass es nicht ich war, dem die Hauptaufmerksamkeit galt, sondern unserem Fußballkapitän.
 

Den Turnsaal hatte man in eine Art Disco verwandelt, was stark an den Weihnachtsball erinnerte. Aus Lautsprechern kam laute Musik, Tische mit Naschereien und Knabbergebäck waren aufgestellt worden, und eine Tanzfläche aufgezogen. Ich löste mich alsbald von den Anderen und machte mich auf die Suche nach Yugi und Co. Tristan zumindest konnte ich ausmachen, der angeregt mit einem Mädchen quatschte.
 

„Wie ich sehe angelt Sir Tristan?“, grinste ich breit und gesellte mich zu dem Pärchen. Beide liefen knallrot an.
 

„Tu nicht so. Nur weil du kein guter Fischer bist“, schnaubte der Riese amüsiert. „War übrigens echt eine coole Aktion von dir. Joey und Yugi haben sich fast überschlagen, als du ins Ziel gekommen bist. Außerdem muss Bakura wohl zum Arzt, so wie Tea seine Hand gequetscht hat.“
 

„Ich bin ein besserer Fischer als du und Duke es jemals sein werden“, antwortete ich frech. „Wo sind denn die Anderen?“
 

„Tea tanzen, wo denn sonst? Duke und Bakura irgendwo im Getümmel, wohl auch wen aufreißen. Joey und Yugi wahrscheinlich an der Bar.“
 

„Na, dann lasse ich euch zwei Turteltauben einmal wieder“, hob ich verabschiedend die Hand und kassierte einen vernichtenden Blick von Tristan, als sich sein vermeintliches Date anschickte abzuhauen.
 

Tea war schnell gefunden. Eine breite Traube hatte sich um sie gebildet, während sie im Scheinwerferlicht tanzte wie eine junge Göttin. Mir wurde beim Zusehen schon schwindlig, wie sie das aushielt war mir unbegreiflich Als sie mich ausmachte, bedeutete sie mir mit einer Handbewegung, zu ihr zu kommen. Mein entschiedenes Weigern wurde einfach dadurch hinweggewischt, dass sie mich auf die Tanzfläche zog.
 

„Das hast du mit Joey gemeinsam, der ist auch ein Tanzmuffel“, kicherte sie, als sie mich an den Händen packte und über das imaginäre Parkett zerrte.
 

„Na wenigstens da muss ich mir keine Sorgen machen“, murmelte ich und betete inständig, dass uns nicht zu viele Leute zusahen. Ich hasste Tanzen, fast so sehr wie Zeichnen, Geometrie und Mathematik.
 

„Oh, vielleicht ändert er sich ja noch?“, flüsterte sie mir verschwörerisch ins Ohr und zog mich zu einer, in meinen Ohren spanisch klingenden Musik, neben sich her.
 

„Sei nicht so frech“, zischte ich belustigt und machte halbherzige Anstalten mich aus ihrem Griff zu befreien.
 

„Was machst du denn sonst mit mir?“, wollte sie neugierig wissen.
 

Ich drehte meinen Kopf ein wenig und versuchte jemanden zu finden, der mir passend erschien. Bakura hatte sich verdrückt, der Feigling, und Duke war auch nicht zu sehen. Da blieb nur Shin übrig, zu dem ich mich gemeinsam mit Tea hinbewegte, ihn in einem günstigen Moment am Handgelenk packte, und ihm meine tänzerisch veranlagte Freundin in die Hand drückte.
 

„Er will mal übernehmen“, sagte ich trocken und schubste beide, bevor sie Einwände erheben konnten, lachend auf die Tanzfläche zurück. Gute Freunde sollten füreinander sterben, war ein berühmtes Zitat. Nun ganz so drastisch war meine Bitte zwar nicht, aber Shin passte besser zu Tea als ich. Zufrieden beobachtete ich beide, wie sie über die Fläche wirbelten.
 

Auf dem Weg zur Bar wurde ich hie und da angehalten. Manche wechselten ein paar Worte mit mir, andere gratulierten mir. Einige Autogrammanfragen waren auch dabei, was aber eher an meinen Erfolgen bei Duel Monsters lag.
 

Ich musste nicht lange suchen, um Joey und Yugi auszumachen. Sie standen beisammen, jeder einen Orangensaft in der Hand. Sollte ich mich anschleichen und ganz kitschig Joey die Augen zuhalten? Ich entschied mich für die normale Variante, die mit einem einfachen „Hey“ kombiniert wurde.
 

„Da ist ja der Held des Abends“, strahlte Joey.
 

„Lass mich bloß in Ruhe mit dem Mist. Es reicht eigentlich, wenn man mir dauernd wegen Duel Monsters am Hintern klebt“, warnte ich meinen Freund halbernst.
 

„Jung, erfolgreich, gutaussehend. Wobei, bei Letzterem bin ich mir nicht ganz so sicher“, neckte er mich mit einem breiten Grinsen.
 

„Pff“, rollte ich mit den Augen und drehte ihm daraufhin meinen Rücken zu. Yugis Gesichtsausdruck nach zu urteilen, der prustete nämlich unverhohlen, hatte ich wohl richtig reagiert. Ich musste gar nicht nach hinten schauen um zu wissen, dass Joey verunsichert war.
 

„Der große Joey Wheeler verliert einmal die Fassung, dass ich das noch erleben darf“, sagte ich zu meinem besten Freund und hatte dabei die größte Mühe halbwegs ernst zu klingen.
 

„Du bist viel zu frech“, hörte ich Joey hinter mir maulen.
 

„Kann ich zurückgeben.“ Beim Umdrehen wurde ich am Arm gepackt und hinter ihm hergezogen. Unter lauten Protesten schaffte man mich aus der Sporthalle. Yugi bedachte uns mit einem amüsierten Kopfschütteln, bevor wir nach draußen verschwanden.
 

„Wohin gehen wir?“, wollte ich wissen, während wir durch das leere Schulgebäude latschten. Es war mittlerweile dunkel geworden.
 

„An einen ganz geheimen Ort“, meinte Joey geheimnisvoll.
 

Dieser stellte sich als das Schuldach heraus. Ich war zugegebenermaßen ein wenig erstaunt gewesen, wie leicht mein Freund das Vorhängeschloss der Tür geknackt hatte. Dabei fiel mir auf, wie wenig ich von seiner Vergangenheit wusste. Hatte er sich das einmal in seiner „wilden“ Jugend angeeignet?

Oben bot sich uns jedenfalls ein malerischer Ausblick. Ein einziges Meer aus Lichtern über denen Kaibas Bürogebäude majestätisch thronte.
 

„Na, was sagst du?“
 

„Ein malerisches Bild. Ich hätte nie gedacht, dass die Stadt so schön sein könnte. Wie bist du darauf gekommen?“
 

„Mh, wir waren früher oft hier.“
 

„Wir?“, fragte ich neugierig und sah zu meinem Freund hoch.
 

„Lange Geschichte. Ich spreche nicht gerne darüber“, wimmelte mich Joey ab und zog mich dabei in seine Arme.
 

„Ich bin furchtbar stolz auf dich, weißt du das?“, flüsterte er mir ins Ohr.
 

„Ich auf dich auch“, hauchte ich zurück, bevor sich unsere Lippen trafen.
 

Wir setzten uns auf das Geländer und starrten nach unten. Die ersten Schüler wurden abgeholt oder gingen nach Hause. Ich ließ meine Füße baumeln und dachte nach. Das war der erste wirkliche Sieg, den ich ohne fremde Hilfe errungen hatte. Ohne Yugi und Co wäre ich aber aufgeschmissen gewesen. Hatte ich wieder nur gewonnen, ob der Fähigkeiten anderer?
 

„Du denkst schon wieder nach“, stellte der Blondschopf neben mir fest.
 

„Ja“, antwortete ich gedankenverloren.
 

„Worüber denn?“
 

„Joey, ich weiß, das mag sich blöd anhören, aber mich beschleicht immer wieder das Gefühl, dass ich nur aufgrund guter Freunde vorankomme. Yugi und die Mannschaft haben mir meine Sachen besorgt, du etwas gezeichnet, Tea geschrieben… Das fühlt sich auch in Duel Monsters so an. Ohne Mahad wäre ich komplett aufgeschmissen.“
 

„Das stimmt so nicht, und das weißt du auch“, entgegnete Joey. „Du bist ein guter Duellant, ein guter Sportler und auch ein guter Schüler. Jeder braucht Freunde. Wo wäre ich ohne dich, Yugi und Tristan?“
 

„Und wen hat Kaiba?“, gab ich zu bedenken.
 

„Mokuba, Yugi, dich.“
 

Ich sah verwundert auf. In Joeys Zügen schwang ein Hauch von Bedauern mit, genauso wie in seiner Stimme.
 

„Kaiba braucht mich nicht und wird mich auch nie brauchen. Er ist ein Einzelkämpfer.“
 

„Das siehst du so. Ohne Yugi könnte er nicht über sich hinauswachsen, ohne dich nicht auf der Spur bleiben und ohne Mokuba würde er gänzlich seine Menschlichkeit verlieren. Tief in deinem Inneren weißt du, dass ich Recht habe. Kaiba braucht dich genauso wie ich, Yugi, und die anderen. Hör auf immer zu glauben, du müsstest nur geben, und dürftest nie etwas nehmen.“
 

Ich atmete tief durch und dachte über Joeys Worte nach. War ich wirklich ein Stück von Kaibas Leben geworden? Wie oft saßen wir gemeinsam am Frühstückstisch und sprachen kein Wort miteinander? Zumindest bis Mokuba hereinkam. Verband uns nicht eigentlich nur der kleine Mann?
 

„Wer ein Teil von Mokubas Leben ist, der ist auch ein Teil von Kaibas Leben. Das ist einfach so. Ich habe aufgehört, ihn darum zu beneiden, dass er dich um sich hat.“
 

„Du beneidest Kaiba?“ Das Entsetzen in meiner Stimme konnte ich nicht ganz verbergen.
 

„Natürlich. Er hat viele Dinge, die ich nicht habe, genauso wie umgekehrt. Vielleicht beneidet er mich ja auch ein wenig? Ich habe schließlich dich.“
 

„Das klingt sehr romantisch, weißt du das?“ Meine Mundwinkel zuckten ein wenig, als Joey errötete.
 

„Wir sollten wieder runtergehen, bevor man uns vermisst“, stotterte mein Freund vor sich hin.
 

„Mh, sollten wir.“
 

Ich schwang mich über das Geländer und strich dabei über seinen Handrücken. Aus dem hässlichen Entlein wurde langsam ein wunderschöner Schwan. Ein interessanter Gedanke, war doch der Schwan einmal das Wappentier meines Vorfahren gewesen. Manche Dinge, wie auch Affinitäten und Beziehungen, hielten wohl doch über ein Leben hinaus.
 

Unser Fehlen war gar nicht aufgefallen. Wir mischten uns wieder unter die Leute und blieben, bis die Feier zu Ende war. Ich lud Joey und Yugi zu mir, oder besser gesagt zu Kaiba, ein. Tristan hatte wohl einen anderen Schlafplatz. Tea war mit einer Freundin verschwunden, Duke und Bakura wie vom Erdboden verschluckt.
 

Zuhause spielten wir noch gemeinsam mit Mokuba, der nicht müde wurde mir mein Rennen in jeder Einzelheit zu beschreiben (seine Klasse hat die Veranstaltung live über das Internet verfolgt), irgendeinen sinnlosen Shooter, wobei Yugi und ich dieses Mal gewannen, aber auch nur um Haaresbreite.
 

Im Bett, eng an Joey gekuschelt, ließ ich den Tag noch einmal Revue passieren. Nun war also auch diese große Hürde geschafft. Langsam wurde es eng mit dem Battle City Turnier. Üben oder vorbereiten wollte ich mich nicht. Wenn das Schicksal vorhergesehen hatte, dass ich ins Finale kam, wenn Yugi mich brauchte, dann würde ich das, gemeinsam mit Mahad, bewerkstelligen können.
 

„Geben und nehmen“, murmelte ich, bevor ich wegdämmerte.

Ein vollkommenes Herz

Ich lag auf Joey, der leise vor sich hin schnarchte. Ich selbst schlief auch erstaunlich ruhig. Mir war nämlich seit dem Rennen etwas bewusst geworden: Ich hatte tolle Freunde, wirklich motivierende Menschen, die sich um mich sorgten, mich auf meinem Weg begleiteten (und ich sie). Der Kernpunkt meines Begreifens aber lag darin, dass ich endlich verstand, dass ich auch ohne sie in der Lage war, meine Kämpfe zu bestreiten, falls notwendig.
 

Keiner von uns beiden sah den Ring auf meiner Brust glühen, gleiches galt für die Kette in Joeys Jeans, die dieser achtlos neben das Bett geworfen hatte.
 

Elias ritt gemächlich auf seinem rotbraunen Hengst dahin. Sein schwarzer Kapuzenumhang flatterte im Wind und verdeckte dabei das Gesicht. Es war, als würde ein dunkler Schleier über seinem Antlitz liegen und dieses verbergen. Er trug nicht einmal seine Rüstung, nur dunkle Kleidung und den Milleniumsring auf seiner Brust, der in der Nacht wie ein Leuchtfeuer wirkte. Sämtliche Spitzen waren auf die Burg vor ihm gerichtet, die sich aus der Dunkelheit schälte.
 

Er wurde begleitet von jemandem, oder besser, von etwas. Hinter dem jungen Lord du Lac brach die Erde auf, wurde spröde und rissig. Riesige Füße stapften hinter Ross und Reiter her, die Gestalt größer als die Festung selbst, welche die Ebene mühelos überragte.
 

Ein brennend heißer Wind begleitete das Wesen, um das Blitze einschlugen und Feuer auslösten. Ihr Weg war von einer Feuerspur gekennzeichnet. Die großen, steinernen Hände waren zu Fäusten geballt, während sich der leere Blick der roten Augen starr nach vorne gerichtet hatte. Die raubtierhaften Zähne ragten aus dem grinsenden Maul und das Juwel auf der Stirn glitzerte im Licht des Mondes, der die Nacht spärlich erhellte.
 

In die Wachsoldaten auf den Zinnen kam Leben. Sie legten Pfeile und Armbrüste an, zielten, zitterten aber wie Espenlaub. Noch nie hatte jemand von ihnen ein solches Wesen gesehen. Noch unheimlicher war aber der Reiter, dem das Monster zu folgen schien. Er machte keine Anstalten sich zu beeilen, im Gegenteil: Quälend langsam näherte er sich ihnen.
 

Elias hatte schon viele Verluste in seinem Leben verschmerzt: Das Sterben seines Vaters in der Schlacht, der Tod seiner Mutter, bedingt durch die Pocken, dann noch einen Vormund, der ihn vom Thron hatte stoßen wollen. Nichts hatte ihn aus der Bahn werfen können. Sogar der Verrat seines Liebsten war nicht genug gewesen, ihn völlig zu brechen.
 

Bei dem Gedanken an Chris´ warme Hände, die auf seiner Schulter ruhten, den zärtlichen Berührungen, die sie dereinst zaghaft ausgetauscht hatten, stahl sich ein Lächeln auf die spröden, aufgesprungenen Lippen, die unter der Kapuze nun hervorlugten. Sie wirkten kränklich, unnatürlich, leichenblass und von schwarzen Adern durchzogen.
 

Ohne die Exodia und den Schwarzen Rotaugendrachen war er eigentlich machtlos, zumindest wenn es um das uralte Spiel der Schatten ging, das Großbritannien so lange in seinem Bann gehalten hatte. Das dachte er zumindest, bis er das Flüstern vernommen hatte. Der Ring bot einen Ausweg, wenn man sich darauf einließ. Eine Macht, uralt und noch verheerender als die Exodia. Sein Streiter hatte im Laufe der Jahre viele Namen erhalten: Richter, Vollstrecker, Göttlicher Soldat…
 

In Hörweite der Schützen hielt er an. Sein Hengst schnaubte unruhig, folgte aber dem Willen des Reiters und beherrschte sich. Die ausdruckslose Kapuze, deren obere Hälfte von undurchdringlicher Schwärze gezeichnet war, richtete sich nach oben, zu den Wachen.
 

„Wo ist er?“, hallten Elias´ Worte über die Ebene.
 

Ein Schauer jagte über den Rücken der Wachmannschaft, die nur noch mit Mühe die Waffen in der Höhe halten konnte. Schweiß perlte von ihrer aller Stirn. Selbst die hartgesottensten Veteranen waren nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Dazu noch die Stimme des Reiters, verzerrt und völlig fremd, wie ein Dämon.
 

Die Reihen der Verteidiger lichteten sich, und ein dicker Mann, Mitte 50, betrat die Zinnen. Seine Rüstung war an einigen Stellen eingedrückt. Am Bauch hatte man sie ausgedengelt, damit die Plauze darin Platz fand. Der dunkelblonde Schnurrbart war verklebt von übermäßigem Bier- und Weinkonsum. Eine Glatze zeichnete sich ab und sein höhnisches Grinsen entblößte gelbliche Zähne, deren Reihen lückenhaft waren. Dazu stank er zehn Meter gegen den Wind nach Alkohol. Der Narr war betrunken, das, oder todesmutig.
 

„Wen haben wir da? Wenn das nicht der junge Lord du Lac ist? Ich dachte, der König würde eine ganze Legion seiner besten Soldaten schicken, stattdessen kommt Ihr, alleine. Wenn Ihr glaubt, Euer Hokuspokus kann mich einschüchtern, so täuscht Ihr Euch.“
 

„Nicht einmal jetzt, da Euer Ende naht, begreift Ihr, alter Mann. Der König schickt mich nicht. Wo ist er?“
 

Elias richtete sich im Sattel ein wenig auf. Der steinerne Soldat hinter ihm rührte sich nicht. Die hassverzerrte Fratze starrte nur aus glühenden Augen auf die Verteidiger hinab.
 

„Mein Ende?“, lachte der Dicke schallend und warf den Kopf dabei in den Nacken. „Wohl eher Eures. Selbst Euer Vater hat sich die Zähne an mir ausgebissen. Und der hatte eine ganze Armee hinter sich. Erschießt ihn Männer, los, dann verschwindet auch das Monster.“
 

Die letzten Worte waren ein Befehl, den die Soldaten aber nicht auszuführen wagten. Sie zögerten, und das aus gutem Grund. Ihr Kommandant war ein Tyrann, trinksüchtig und grausam, doch das Wesen vor ihnen, samt Reiter, war noch furchteinflößender. Es war, als würden sie in die Dunkelheit selbst starren, die nur darauf wartete, sie alle zu verschlingen.
 

„Ich will wissen, wo er ist“, formten die Lippen den Wunsch erneut.
 

„Er ist weit außerhalb Eurer Reichweite, und auch der des Königs. Ich habe ihm Verstand eingeprügelt, und nun wird er reingewaschen werden und für seine Taten büßen, genauso wie Ihr. Ihr habt ihn befleckt und Schande über mich und mein Haus gebracht. Und nun erschießt ihn!“, bellte der Kommandant und riss die Männer und Frauen aus ihrer Lethargie. Das Sirren von Pfeilen und Bolzen erfüllte die Nacht.
 

„Ich werde da sein, für immer“, geisterte das Versprechen, das er Chris dereinst gegeben hatte, durch Elias´ Schädel.
 

Leben kam in den steinernen Soldaten, der seinen rechten Arm ausstreckte und vor seinen Herren hielt. Ohne auch nur die geringste Wirkung zu zeigen, prallten die Geschosse an der Kreatur ab, sofern sie überhaupt so weit kamen. Die meisten von ihnen zerbröselten zu Asche, ehe sie ihr Ziel erreichten.
 

„Ihr seid doch alle nutzlos“, brüllte der Schnauzbartträger und wich zurück. Er hatte zwar gehofft, dass die Pfeile den Angreifer töten oder zumindest verwunden würden, doch für solche Fälle besaß er noch eine Art Ass im Ärmel.
 

Einen lauten Singsang anstimmend, zog er sechs Pergamentfetzen vom Gürtel und warf sie in die Höhe. Nach und nach fielen seine Soldaten leblos zu Boden. Was waren schon ein paar Leben im Vergleich zu seinem Fortbestehen? Christopher zu foltern und ihm dabei die gestohlenen Geheimnisse zu entlocken, war eine gute Entscheidung gewesen. In seiner gesamten Lebenszeit war der Junge nur eine herbe Enttäuschung gewesen, doch jetzt, zahlte es sich aus, ihn zumindest nicht gleich losgeworden zu sein.
 

Ein Kreischen erfüllte die Nacht. Aus den dunklen Wolken über ihnen erschien ein Drache. Schwarz geschuppt, breitete er die Flügel aus und öffnete das zahnbewehrte Maul. Die Hörner standen aufrecht in die Höhe, voller Stolz. Der Schwarze Rotaugendrache hielt im Sturzflug auf seinen ehemaligen Herren zu.
 

Es versetzte Elias´ einen Stich, als das steinerne Monster nach seinem Drachen griff. Mit einer einzelnen Handbewegung brach er der Bestie das Genick. Kreischend wandte sich das Wesen noch in der Faust des Göttlichen Soldaten, bevor es seinen Lebensgeist aushauchte und zermalmt wurde.
 

Mit großem Entsetzen beobachtete der dicke Mann, wie eines der mächtigsten Monster, das er jemals gesehen hatte, einfach ausgelöscht wurde. Langsam wich er zurück, der Singsang immer leiser werdend. Er befand sich inmitten des Burghofes und konnte nur das Kreischen seiner Soldaten vernehmen, die ihren Lebensgeist unfreiwillig aufgaben, um die Bestie zu beschwören.
 

Das Tor wurde aus den Angeln gerissen, bevor es sich mitsamt der vorderen Burgmauer verabschiedete. Gesteinsbrocken hagelten über den Innenhof und erschlugen Männer wie Frauen gleichermaßen. Der Koloss hatte einmal mit der Faust ausgeholt und seinem Herrn eine Bresche geschlagen, der langsam auf den Kommandanten zuritt.
 

„Was habt Ihr geglaubt? Dass ich mich davon aufhalten lasse?“
 

„Ich…“, murmelte der Ältere und wich weiter zurück. Er konnte den brennenden Wind auf seiner Haut spüren, an seinem Fleisch zerren fühlen. Vor ihm leuchteten die fünf Pergamentstücke in einem hellen Gelb.
 

„Auch dieses Monster wird Euch nicht retten. Ich will wissen wo er ist. Gebt mir was ich will, und vielleicht vermag mich das gnädig zu stimmen.“
 

Elias rutschte die Kapuze vom Kopf und entblößte ein entstelltes Gesicht. Seine Haut war aschfahl. Schwarze Adern verunstalteten sein Antlitz. Die dunkelblonden Haare hatten sich finster verfärbt und dem Grau-Grün der Augen war ein dunkles Rot gewichen, in dessen Mitte ein schwarzer Punkt hockte, einem schwarzen Loch gleichend, das alles um es herum zu verschlingen drohte.
 

„Er ist nicht mehr hier. Ich habe ihn fortbringen lassen. Ihr werdet ihn nie wiedersehen!“, rief der Alte verzweifelt und betete inständig, dass die Beschwörung erfolgreich sein mochte.
 

„Das ist eine Lüge“, entgegnete Elias ruhig.
 

„Was seid Ihr?“, flüsterte sein Gegenüber entsetzt.
 

„Etwas, das Euer Vorstellungsvermögen übersteigt, alter Mann.“
 

Ein gleißendes Licht erhellte den Innenhof. Fünf einzelne Pentagramme, in Orange, erschienen dort, wo die Pergamentfetzen geschwebt hatten. Aus deren Mittelpunkt schälten sich Arme und Beine, sowie ein Schädel, dessen Grinsen dem von Elias´ Begleiter in Nichts nachstand.
 

Dieser verzog keine Miene, als sich die Exodia langsam aus der Anderswelt herausbewegte. Das Rasseln der Arm- und Beinketten war ein Laut, den er ausblendete, genauso wie das tiefe Knurren, welches das Monster ausstieß. Sie war ungefähr gleich groß wie sein eigenes Monster und eine furchterregende Macht. Kein Sterblicher hatte sie jemals zu kontrollieren vermocht und es war töricht, dass der Alte glaubte, es tun zu können.
 

Der wähnte sich siegessicher. Ein triumphierendes Grinsen verdeckte die Furcht, die sein Herz umschlossen hielt. Wenn er den Jungen erst einmal aus dem Weg geräumt hatte, würde er sich um den König kümmern und danach ganz Großbritannien erobern.
 

„Ihr habt noch immer nicht begriffen“, kommentierte Elias das Grinsen.
 

„Ihr wohl auch nicht, Elias. Ich habe alle Trümpfe in der Hand. Mein Sohn war wohl keine komplette Enttäuschung. Er hat mir, wenn auch unfreiwillig, die Macht in die Hand gegeben, das Königreich zu beherrschen. Einmal beschworen, kann die Exodia nichts aufhalten. Aber wem erzähle ich das?“
 

Feixend beobachtete der Dickwanst, wie die Exodia brüllend mit dem rechten Arm ausholte und direkt in das Gesicht von Elias´ Begleiter schlug. Dessen Kopf wurde zur Seite gedrückt, als seine Wange getroffen wurde.
 

„Wahre Stärke kommt aus dem Herzen. Liebe mag sogar die verzehrende Dunkelheit zu beherrschen, sie zu leiten und zu formen. Kraft alleine verleiht nur Gewalt, die Liebe aber verleiht Macht. Sie gleicht einem Obelisken, strahlend hell, wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit.“
 

Beim Wort „Obelisk“ stemmte der blaue Steinriese seine Wange gegen die geballte Faust der Exodia und drückte diese zurück.
 

„Ich habe die Dunkelheit in meinem Herzen lange Zeit verleugnet. Ohne den König und Christopher dachte ich, würde ich wahnsinnig werden. Mich von ihr verzehren lassen, aber das stimmt nicht. Beide wohnen noch in meinem Herzen, einer als mein bester Freund, der Andere als mein Liebster. Auch wenn Kummer und Schmerz mich zerbrechen, so weiß ich, dass mich nicht einmal das Böse im Ring komplett verschlingen kann.“
 

Obelisk schlug den Arm der Exodia beiseite, bevor er mit der rechten Faust ausholte. Blaue Blitze zuckten um die gespannten Finger. Laut grollend versenkte er sie in der Brust des orangenen Riesen. Die Faust durchschlug die Panzerung und trat aus dem Rücken wieder heraus. Stöhnend zerfiel die Exodia zu Staub, der an Obelisks Arm hinabrann.
 

„Wie…“, stotterte Chris´ Vater und starrte ungläubig auf die zu Staub zerfallende Exodia.
 

„Indem man lernt, mit sich selbst und der Dunkelheit zu leben“, beantwortete Elias die unausgesprochene Frage.
 

„Ihr werdet Chris freilassen, wo auch immer er ist. Dazu werdet Ihr ihm die gestohlenen Pergamente geben und danach verschwindet Ihr aus England. Ich will Euch hier nie wieder sehen. Denkt nicht einmal daran, Euch aus dem Staub zu machen, ohne meinem Wunsch zu entsprechen. Obelisk hat sich den Beinamen „Der Peiniger“ gemacht. Solltet Ihr mich verraten, schält er Euch bei lebendigem Leibe das Fleisch von den Knochen und verstümmelt Eure Seele bis zur Unkenntlichkeit.“
 

Der Schnauzbartträger nickte stumm. Die Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, während er sich bückte und nach den sechs Pergamentstücken griff. Hastig drehte er sich um und lief davon, den dicken Bauch vor sich herschiebend.
 

Elias lächelte kurz und wartete, bis der Alte außer Sichtweite war. Dann endlich ließ er die Zügel los und fiel aus dem Sattel. Unsanft landete er auf der Erde, während Obelisk langsam verblasste. Er war den Einflüsterungen des Rings nicht erlegen. Trotz all der Warnungen und mahnenden Worte hatte sich der Göttliche Soldat seinem Willen unterworfen. Er konnte ihn beherrschen, auch wenn es ihn beinahe an den Rand des Todes gebracht hatte.
 

Ein einmaliges Ereignis. Im Laufe der Jahre verließ er sich auf andere Monster und versteckte das Geheimnis um dieses Wesen tief in seinem Innersten. Er war hart und verschroben geworden, ein erfolgreicher Feldherr, der geachtet und gefürchtet wurde. Christophers Verrat nagte an ihm, was ihn aber nicht davon abhielt, im entscheidenden Moment das Richtige zu tun. Er hatte sich für die Exodia entschieden und nicht Obelisk.
 

Die Exodia war an ihren Herren gebunden gewesen, im Zweifelsfall hätten seine Freunde sie irgendwie bannen können. Bei Obelisk war er sich nicht so sicher gewesen. Wer konnte schon einen Gott in die Knie zwingen?
 

„Nur wer die Dunkelheit in seinem Herzen annimmt, ist vollkommen. Nur jemandem mit ganzem Herzen und Eifer beugt sich Obelisk der Peiniger. Er unterwirft sich dem, der ihm seinen Willen aufzuzwingen vermag. Sein Urteil wird er vollstrecken und am Ende an der Seite seines Herren stehen.“

Eine (mutige) Entscheidung

Die Umgebung verschwamm. Dunkelheit umfing mich, wurde dann aber vom Schein einer Fackel abgelöst. Mit jeder Sekunde, die verging, konnte ich mehr und mehr um mich herum erkennen. Ich befand mich an einem Ort, der mir vertraut wirkte, und dabei doch völlig fremd.
 

Hohe Säulen stützten einen rechteckigen Raum, versehen mit fremdartigen Zeichen. Manche wirkten wie Vögel, andere wie Käfer, Katzen, Augen und Dinge, die ich nicht beschreiben konnte. Von der Decke hingen Feuerschalen, deren Flammen das Gemäuer erhellten.
 

„Wo bin ich?“, fragte ich mich selbst und wurde prompt mit einer Antwort belohnt.
 

„Ich glaube, wir befinden uns in einer Art Erinnerung, die aber die Realität widerspiegelt.“
 

Mahad erschien neben mir, zur Abwechslung einmal körperlich. Auch er sah sich verwundert um, berührte die Säulen und fuhr die Schriftzeichen nach. Die umliegenden Wände waren auch beschrieben.
 

„Das sagt jetzt gar nichts aus, Mahad“, rollte ich mit den Augen und beobachtete mein anderes Ich, wie es leise vor sich hin murmelte.
 

„Ich weiß. Es ist aber die beste Antwort, die ich dir geben kann, David. Das hier übersteigt sogar mein Wissen.“ Er klang besorgt.
 

„Warum hast du mir eigentlich nicht erzählt, dass du einmal im Besitz eines Göttermonsters gewesen bist?“
 

„Weil ich es selbst nicht wusste.“
 

Seine Antwort verblüffte mich. Wie soll das möglich sein? Mahad konnte sich doch an sein voriges Leben erinnern? England, Ägypten, und alles, was noch dazwischenlag. Oder etwa nicht?
 

„Manchmal habe ich das Gefühl, als würde ein dunkler Schleier über mir liegen. Ich kann mich noch so sehr anstrengen, die Erinnerung ist greifbar, entgleitet aber dann doch meinen Händen.“
 

„Und was machen wir jetzt? Hier Wurzeln schlagen interessiert mich ehrlich gesagt nicht.“
 

„Wir müssen aus einem bestimmten Grund hier gelandet sein.“
 

„Seid ihr auch.“
 

Eine dritte Stimme meldete sich zu Wort, die uns beide herumfahren ließ. Im Schatten der Fackeln klatschte jemand. Dazu erklang ein manisch anmutendes Gelächter. Mir wurde schwindlig und schlecht zeitgleich, als jemand aus der Dunkelheit vor uns trat. Das war…
 

„Das bin ja ich!“, rief ich.
 

Tatsächlich: Da stand eine exakte Kopie von mir, zumindest auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen wich ich zurück.
 

„Was hast du geglaubt, wie die Finsternis in deinem Herzen aussehen würde? Hübsch, anmutig und mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen?“, lachte mein verzerrtes Ebenbild.
 

Dunkle Ringe umrahmten pechschwarze Augen, die so finster waren, dass ich glaubte, mich darin verlieren zu müssen. Die Adern traten an Hals, Kinn und den Wangen hervor, gleiches galt für die Schläfen. Das diabolische Grinsen hatte Wahnwitziges, fast schon etwas Irres an sich.
 

„Egal wer du bist, verschwinde“, fauchte ich und klang dabei deutlich weniger überzeugend, als ich gehofft hatte.
 

„Ich kann nicht verschwinden, da ich ein Teil von dir bin“, säuselte die manifestierte Dunkelheit zärtlich.
 

„Das bist du nicht“, mischte sich Mahad ein und machte einen Schritt nach vorne.
 

„Ah ja, der große Mahad. Ich erinnere mich noch gut an unsere gemeinsame Auseinandersetzung. Du hattest tatsächlich geglaubt, mich bezwungen zu haben. Frei zu sein, als du dich für den Pharao geopfert hast.“
 

Mit einem Fingerzeig auf Mahad verblasste dieser. Er warf mir noch einen panischen Blick zu, bevor sein Antlitz endgültig verschwand.
 

„Was hast du gemacht?“, schrie ich mein Gegenüber an.
 

„Uns ein wenig Privatsphäre verschafft, das ist alles. Reg dich ab.“
 

Ich verspürte mit jedem Moment, der verging, immer mehr Hass auf das Ding vor mir. Das sollte ich sein? Das sollte ein Teil von mir sein? Niemals. Ich war nicht so hässlich, so abstoßend, so…
 

„Mächtig“, vervollständigte die Kopie meine unausgesprochenen Gedanken.
 

„Hast du nicht begriffen, was du erreichen kannst, wenn du dich der Dunkelheit hingibst? Was war Johnson schon für ein Gegner, als ich die Kontrolle bekommen habe? Wie war es, Slifer in die Welt zu holen?“
 

Unweigerlich machte ich einen Schritt nach hinten. Ich dachte an Johnson, der, geschunden und komplett wahnsinnig, aus dem Gerichtssaal gestürmt war. Daran, wie ich die gesuchten Antworten aus ihm herauspressen wollte, und es auch teilweise geschafft hatte. Wie Slifer den Götterdrachen vernichtete, mühelos.
 

„Ja, das ist es. Spürst du die Kraft, die deine Adern durchströmt? Johnson hatte so große Angst vor dir, dass er sich fast in die Hosen gemacht hat. Der Schwarze Totenkopfdrache hat ihn beinahe bei lebendigem Leib verbrannt, trotz der Tatsache, dass nur sein Geist in einer Welt existierte, die sich deinen Regeln und deinem Willen eigentlich gar nicht hätte beugen dürfen.“
 

Je länger das Ding mit mir sprach, desto weicher wurden seine Worte. Unweigerlich starrte ich auf meine rechte Hand, auf deren Rücken sich bereits dicke Linien abzeichneten, die unablässig pulsierten.
 

„Ich habe dir damals die Kontrolle nicht überlassen!“, rief ich und schüttelte energisch den Kopf.

„Das ist eine Lüge!“
 

Mein Spiegelbild warf lachend den Kopf in den Nacken.
 

„Wie man sich selbst nur so belügen kann. Die Angst, Mokuba, Serenity und auch damit Joey zu verlieren, gab mir Substanz, Kraft und Form. Du hast mich willig eingelassen, um Johnson zu bestrafen.“
 

Das stimmte nicht! Ich war ein guter Mensch. Johnson Schicksal bedauerte ich. Er tat mir leid, trotz all der Dinge, die er getan hatte. Ich verspürte auch Mitleid für andere, sogar für Kaiba. Dieses Monster versuchte nur mich zu verunsichern.
 

„Du hast also wirklich mit jedem Mitleid? Was ist mit Joeys Vater?“
 

„Das, das hat hier nichts zu suchen“, wiegelte ich kleinlaut ab und wich weiter zurück.
 

„Oh, habe ich da einen wunden Punkt gefunden? Du hast also mit dem Säufer, dem Taugenichts, dem Trunkenbold, der missratenen Existenz, die deinem Liebsten so viel Kummer bereitet, tatsächlich Mitleid? Du wünschst ihm also nicht, dass er genauso leiden muss wie Joey? Was ist denn mit Joeys Mutter?“
 

Mein Gegenüber machte einen Schritt nach vorne und grinste höhnisch.
 

„Für die hast du doch auch nicht viel übrig, wenn wir uns einmal ehrlich sind.“
 

Ich schüttelte erneut den Kopf. Das stimmte alles nicht. Klar verabscheute ich Joeys Vater, und, wenn es stimmte, was da vorgefallen war, dann auch seine Mutter, aber ich würde ihnen nie etwas Schlechtes wünschen! Niemals.
 

„Alles was dein ist, gehört rechtmäßig mir. Und mein soll es sein.“
 

Damit kam mein böser Zwilling auf mich zu, während ich immer weiter zurückwich. Die letzten Sätze beunruhigten mich noch mehr. Mein Puls raste. Ich wollte nicht, dass dieses Ding von mir Besitz ergriff, nicht noch einmal. Zu lebhaft waren die Schmerzen noch in Erinnerung, und das, was ich dabei angestellt hatte.
 

Als ich mit dem Rücken gegen eine Wand stieß, wurde mir erneut speiübel. Dieser Raum hatte keinen Ausgang, im Gegenteil: Alles hinter dem heranrückenden bösen Ich wurde von der Dunkelheit verschluckt.
 

Meine Finger versuchten sich panisch in den kalten Stein zu krallen, ihn zum Nachgeben zu bewegen, irgendwie Halt zu finden, doch ich konnte nicht. Er kam immer näher und grinste dabei höhnisch, genoss es, wie ich mich sträubte.
 

„Ich habe sehr lange darauf warten müssen, endlich wieder frei zu sein. Nun ist dieser Moment zum Greifen nahe. All die Jahre des Herumsitzens, wie Sandkörner in der Wüste zu zählen. Ein Augenblick glich einer Ewigkeit.“
 

Die widerlich anmutende Hand wurde ausgestreckt, bewegte sich auf mein Gesicht zu. Ich schloss die Augen und drückte meine Wange gegen den kalten Sandstein. Nur noch wenige Zentimeter trennten mich von einem dunklen Schicksal. Mein Herz hämmerte mir bis zum Hals. In mir verkrampfte sich alles. Ich wollte schreien, davonlaufen, konnte aber nicht.
 

„Wovor hast du Angst?“, fragte ich mich selbst.
 

Ich fürchtete mich, ein Monster zu werden, eine Abscheulichkeit, die mit ihrer Dunkelheit seine Freunde in den Abgrund riss. Mein Versprechen gegenüber Joey nicht halten zu können, gegenüber Yugi…
 

„Nur wer die Dunkelheit in seinem Herzen annimmt…“, ging es mir durch den Kopf.
 

In genau diesem Moment machte es Klick in meinem Schädel. Der Ring konnte nur Vorhandenes verstärken, nicht aus dem Nichts heraufbeschwören. Das vor mir war kein Monster, keine alles verschlingende Dunkelheit – das war einfach ich, ein Teil von mir. Das war tatsächlich ich. Vor mir musste ich mich nicht fürchten. Ob ich es gut fand oder nicht, das vor mir war einfach ein Stück meiner selbst. Ich konnte mich dagegen sträuben, wie ein Kind auf den Boden werfen, mit den Armen und Beinen strampeln, und hoffen, dass dem nicht so war, oder es einfach annehmen.
 

Langsam öffnete ich die Augen und wagte einen Blick auf mein Gegenüber. Das finstere Ich war zur Salzsäule erstarrt. Ungläubig wurde ich angeschaut, während die schwarzen Adern im Gesicht stärker zu pulsieren begannen.
 

„Unmöglich“, keuchte die Gestalt.
 

„Nein“, sagte ich entschlossen und schlug die ausgestreckte Hand beiseite. „Du irrst dich. Ich habe die Fehler in meinem Leben gesehen, und auch den Schatten, der mich verfolgt. Du bist ein Teil von mir und ich werde dich akzeptieren.“
 

Aus irgendeinem Grund wusste ich, was zu tun war.
 

Ich streckte den rechten Arm aus und eine uralte Apparatur erschien daran. Mit einem metallischen Laut fuhr die Gerätschaft aus. Das verblichene Gold glänzte matt im Schein der wiederaufkeimenden Fackeln. Eine Vertiefung war darin eingelassen worden, groß genug, um etwas darin erscheinen zu lassen, oder hineinzulegen.
 

„Mag sein, dass ich dich gefürchtet habe, doch das werde ich nicht länger tun. Ich werde auch keine Angst mehr vor der Zukunft haben, denn mich begleiten Freunde und meine Familie auf dem Weg, den ich gehen muss.“
 

Ich machte einen Schritt nach vorne und die Gestalt einen zurück.
 

„In siebzehn Jahren war ich so von Angst und Hass zerfressen, von Selbstzweifeln und Zorn. Du hast Recht, was ich mit Johnson angestellt habe, war falsch. Ich werde noch viele Fehler machen, die schlimm sein werden, schlimmer, als die der meisten anderen Menschen. Von meinen Entscheidungen hängt viel ab, sehr viel sogar. Aber ich werde aufhören in der Vergangenheit zu leben oder meinen Weg zu hinterfragen.“
 

Ein weiterer Schritt folgte. Die Apparatur, die mich nun stark an eine Duel Disk erinnerte, glühte hell auf. Das Licht wurde so hell, dass mein böser Zwilling sich stöhnend die ausgestreckte Hand vor die Augen hielt.
 

„Ich werde dich nicht mehr Herr über mich sein lassen. Nie wieder.“
 

Eine ungewohnte Kraft durchströmte mich. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich stark. Das hier musste ich alleine machen, und das würde ich. Diese Entschlossenheit und Stärke trieben mich an auch die nächsten Schritte mutig zu gehen.
 

„Ich habe immer daran gezweifelt, gut genug für andere zu sein. Mich an sie geklammert, wie ein Rettungsanker. Dabei brauche ich das gar nicht. Ich bin selbst ein Fels in der Brandung, eine Mauer, unerschütterlich. Wenn ich nicht gerade kleingehalten werde.“
 

Die Erde bebte. Stein und Staub rieselten von der Decke. Die Schriftzeichen an den Wänden glühten blau auf. Ich wusste nun auch wo ich war: In meinem Geist. Hier war ich der Herr, und ich bestimmte die Spielregeln.
 

„Du kannst nicht…“, krächzte mein böses Spiegelbild verzweifelt.
 

„Natürlich kann ich. Dies ist mein Geist, es sind meine Regeln und du bist ein Teil von mir.“
 

Ich streckte die Duel Disk in die Höhe. Der Lichtschein erhellte den Raum, füllte ihn gänzlich mit Energie und einer angenehmen Wärme aus. Blitze zuckten an meinem Arm entlang, gingen auf mich über. Mein ganzer Körper wollte sich verkrampfen, doch ich biss die Zähne zusammen und stemmte mich dagegen.
 

„Ich rufe eine Macht, so uralt, dass selbst die Finsternis sie fürchten muss. Ich werde seinen Beinamen verändern.“
 

Hinter mir bildeten sich tausende kleine blaue Funken, wie ein strahlender Nebel. Sie leuchteten heller als Sterne. Langsam nahmen sie Form und Gestalt an, bildeten das, was ich mir so sehr an die Seite wünschte.
 

„Er soll nicht mehr als Peiniger bekannt sein, sondern wieder als das, was er einst war: Ein göttlicher Soldat.“
 

Mit einem ohrenbetäubenden Brüllen spreizte Obelisk seine Flügel hinter mir und ballte die rechte Hand zur Faust. Der steinerne Krieger stand da, in all seiner Pracht. Ich fürchtete ihn nicht mehr, wusste ich doch, dass auch er ein Teil von mir war. Das war meine Karte, ein Stück meiner Seele, genauso wie der Schwarze Magier, der Schwarze Rotaugendrache und die Exodia. Nicht das Monster war böse, sondern die Hand, die sie führte. Obelisks schreckliche Kraft konnte auch Gutes bewirken.
 

„Du weißt, dass du ihn nicht kontrollieren kannst“, fauchte die personifizierte Dunkelheit und wich immer weiter zurück, den Arm vor ihr Gesicht geschlagen.
 

„Ich kann – Obelisk.“ Ich sah nach hinten, wie der Koloss ausholte. Blitze umspielten seine Faust, bevor diese auf mein Spiegelbild niedersauste, welches in tausend Teile zersprang. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Als ich sie wieder öffnete, wusste ich, dass sie pechschwarz waren.
 

„Man kann das Schicksal vielleicht nicht verändern, aber man kann dagegen ankämpfen.“
 

„Wer sich seiner Bestimmung willig ergibt, der ist ein Narr.“
 

Ich machte einen glücklichen Laut, als Mahad plötzlich wieder vor mir stand, mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre dem Ägypter in die Arme gesprungen.
 

„Das war äußerst mutig von dir.“ Ehrfürchtig sah Mahad zu Obelisk auf, der nun wieder, wie eine Statue, dastand. Mein stummer Wächter, mein Beschützer.
 

„Ähm, ja.“ Ich kratzte mich verlegen am Hals. Die Duel Disk an meinem Arm war verschwunden.
 

„Damit ist dir gelungen, woran viele Männer und Frauen vor dir gescheitert sind. Ich bin stolz auf dich.“
 

Die Szene verblasste und ich spürte Joeys warmen Atem auf meiner Haut. Das, und sein lautes Schnarchen. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Ich fühlte mich frei, als hätte man mir eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen.

Ein Stück Heimat

Ich saß auf meinem Bett, im Schneidersitz, und sortierte mein Deck. Endlich war ich zufrieden. Ich ging die Karten noch einmal durch. Die Exodia war nach wie vor fixer Bestandteil meiner Strategie, aber ich hatte mir Joeys und auch Yugis Ratschlag zu Herzen genommen, und mir alternative Möglichkeiten überlegt. Mein Deck war stark. Ich würde zweifelsohne eine Weile durchhalten, bevor jemand meine Monster zu Klump schlagen konnte.
 

Kaiba hatte in mir einem Duell (das ich übrigens verloren habe), eine interessante Kombination gezeigt. Der Meteor-Drache hatte nun auch seinen Platz in meinen Monstern gefunden und ergänzte mein Rotauge hervorragend.
 

„Du hast den gleichen Blick wie Seto, wenn er über seine Strategien nachgrübelt.“ Mokuba stand in meinem Zimmer, was mich eigentlich hätte verärgern müssen; ich hatte dem kleinen Quälgeist schon hundertmal gesagt, er möge doch gefälligst anklopfen. Anstatt ihn anzufahren, schenkte ich ihm ein breites Lächeln.
 

„Na, vielleicht sind wir ja doch miteinander verwandt?“, zwinkerte ich dem kleineren Kaiba zu und klopfte neben mir aufs Bett.
 

„Piesacken lässt du dich weitaus mehr als Seto.“ Mokuba streckte mir die Zunge heraus, bevor er sich an mich drückte und mir beim Karten sortieren zusah.
 

„Ich kann dich ja auch weggeben, wenn du zu lästig wirst“, neckte ich meinen kleinen Bruder und zerstrubbelte ihm die Haare.

„Alles klar bei dir?“
 

„Jap“, nickte er. „Wir bereiten natürlich nach wie vor alles für das große Turnier vor, aber ansonsten ist es zur Abwechslung mal ruhig. Seto ist auch deutlich entspannter als letztes Mal.“
 

„Wie meinst du das?“
 

„Naja, er hat mehr Ruhe. Natürlich ist da die gewohnte Euphorie und der Drang, sich zu beweisen, vor allem auch um Yugi zu schlagen, aber dieses Mal scheint es so, als wäre er gelassener. Kein Wunder, du bist schließlich auch im Turnier.“
 

„Und das ist positiv?“ Ich zog die Augenbrauen zusammen.
 

„Wenn du gewinnst, steht noch immer Kaiba auf dem Sieg drauf“, zuckte Mokuba mit den Schultern.
 

„Ah ja. Interessante Sichtweise.“
 

Ich schob mein Deck zusammen und legte es in meinen Nachttisch, bevor ich mich Mokuba vollends zuwandte.

„Mokuba, hör mal – wegen der Sache in der VR.“ Ich rieb mir verlegen den Nacken. Das Thema hatten wir eigentlich vermieden, bisher.
 

„Schon gut“, murmelte mein Gegenüber und schlang die Arme um mich.
 

„Sicher?“, fragte ich zweifelnd.
 

„Klar. Du würdest mir nie was tun, das weiß ich. Ich hab dich lieb.“
 

Ich ertappte mich dabei, wie ich unweigerlich lächeln musste. Hinter der erwachsenen Fassade eines Geschäftsmannes und Organisationstalents verbarg sich noch immer ein kleiner Junge. Irgendwie beruhigte es mich, dass Mokuba, trotz aller Widrigkeiten, an mich glaubte.
 

„Ich dich auch, Mokuba.“ Um meine Worte zu unterstreichen presste ich den kleinen Giftzwerg fest an mich und streichelte ihm behutsam über den Rücken.
 

„Du bist ein fester Bestandteil unserer Familie, weißt du das?“
 

Wer einmal in Mokubas tiefblaue Augen geschaut hat, der weiß, dass man ihn in diesen Momenten am Liebsten auffressen würde. Der Kleine wusste genau, wie er an das kam, was er wollte. In solchen Augenblicken fehlte es aber an einem Hintergedanken, und das rührte mich zutiefst. Ein kleiner Teil von mir war furchtbar stolz.
 

„Und ihr von meiner.“
 

Wie lange wir so dasaßen, konnte ich nicht sagen. Nach einer kleinen Ewigkeit lösten wir uns und überspielten den sentimentalen Moment damit, dass wir die Spielkonsole anwarfen und uns gegenseitig das virtuelle Hirn aus dem Schädel prügelten. Ich mochte Mokubas helles Lachen: Er war so unbeschwert und frei, und das, obwohl er Kaibas kleiner Bruder war, und große Verantwortung trug.
 

„Ach leck mich doch“, murrte ich und musste mich davon abhalten, den Controller nicht geradewegs in den Fernseher zu pfeffern.
 

„Übung“, grinste der kleine Frechdachs.
 

„Eher zu viel Freizeit“, schnaubte ich amüsiert und wollte ihn gerade zu einer Revanche auffordern, als es an meiner Tür klopfte.
 

„Herein.“
 

Eines der Dienstmädchen erinnerte uns daran, dass es in einer halben Stunde Abendessen geben würde. Auf meine Frage hin, was denn heute auf dem Speiseplan stünde, wurde mir nur ein schüchternes Lächeln geschenkt.
 

„So eine tolle Auskunft“, rollte ich mit den Augen und machte mich daran, Mokuba endlich einmal virtuell fertig zu machen. Erfolglos, wie ich anmerken möchte.
 

Das Abendessen stellte sich als eines meiner Leibgerichte heraus: Geschnittene Pfannkuchen in klarer Rinderbrühe, garniert mit frischem Schnittlauch.
 

„Wer von euch ist auf die Idee gekommen?“, fragte ich mäßig interessiert, kurz bevor ich den ersten Löffel im Mund versenkte.
 

„Herr Kaiba war der Meinung, Sie könnten, wie hat er es genannt, heimische Hausmannskost gut vertragen, nach den Erlebnissen der letzten Tage.“
 

Ich warf dem Butler in seinem Wrack einen fragenden Blick zu, dieser begnügte sich aber mit einem Lächeln. Irgendwie mochte ich den alten Mann. Er war sicher schon über 60, mit einem gepflegten, grauen Schnauzbart, der bereits von ersten weißen Strähnen durchzogen wurde und seiner schütteren Haarpracht.
 

„Und Sie haben damit rein gar nichts zu tun?“, bohrte ich nach, musste aber aufpassen, mich nicht zu bekleckern. Essen und Reden zeitgleich sind miteinander unvereinbare Tätigkeiten.
 

„Vielleicht ein bisschen“, schmunzelte der Alte und verbeugte sich tief.
 

Ich sah mich um. Von Kaiba war keine Spur, und wir waren alleine, mal abgesehen von Mokuba, der sein Essen anstarrte, als wäre es aus Gold.
 

„Warum holen Sie sich nicht einen Stuhl und setzen sich zu uns?“
 

„Aber, das wäre doch gegen die Etikette, junger Herr.“
 

„Die lassen wir mal außen vor. Kommen Sie. Und auch das restliche Küchenpersonal kann pausieren.“ Ich begutachtete die Kristallschüssel, in der sich ein Berg aus geschnittenen Pfannkuchen auftürmte. Das war mehr als genug für uns drei.
 

„Wenn Sie darauf bestehen.“
 

„Tue ich.“
 

Als er sich endlich zu uns gesellt hatte, und einen Teller Suppe löffelte, begann ich ihn, und auch Mokuba, auszuquetschen. Es stellte sich heraus, dass sein Name Sōsuke Ito war, und er schon für Kaibas Stiefvater gearbeitet hatte. Ein wenig erinnerte er mich an meinen Großvater, wie er so dasaß und seine Suppe löffelte. Der alte Mann wirkte genügsam, freundlich und ehrlich. Davon bekam ich ein wenig Heimweh.
 

„Herr Ito, wie kommt es, dass Sie so genau Bescheid wissen, über meine Leibspeise?“
 

„Nennen wir es einen siebten Sinn“, lächelte er geheimnisvoll.
 

Nach dem Essen verkrümelte sich Mokuba alsbald (er musste noch einen Aufsatz schreiben), und ich war mit Herrn Ito alleine im Esszimmer. Wir lächelten uns eine Weile lang schweigend an, bevor ich mich räusperte.
 

„Ich hoffe ich bin Ihnen nicht zu nahe getreten mit meiner Aufforderung. Ich weiß nicht, wie sie in der Hierarchie stehen, und ich bin mir sicher, dass Kaiba, ich meine Seto, es nicht gerne sieht, wenn das Personal am Esstisch mitisst.“
 

„Es war eine sehr nette Geste von Ihnen, Herr Pirchner. Damit fühle ich mich meinen Wurzeln auch ein Stück näher.“
 

„Wie meinen Sie das?“
 

Er lächelte verschmitzt und richtete sich sein Oberteil ein wenig: „Meine Großmutter stammt ursprünglich auch aus Österreich, wie Sie.“
 

„Was?“
 

Schlagartig hatte ich den alten Mann ins Herz geschlossen, mehr noch als vorhin. Herr Ito war mehrere Male im Heimatland seiner Großmutter zu Besuch gewesen. Wir tauschten uns eine ganze Weile aus, was wir mochten und was nicht (wobei unsere Meinungen teilweise auseinandergingen).
 

„Herr Ito, ich…“, murmelte ich ganz verlegen und wollte mich für seine Aufmerksamkeit bedanken. Obwohl ich mich bei den Kaibas heimelig fühlte, war da doch immer eine gewisse Distanz, vor allem zum Personal. Ich kannte nicht einmal alle beim Namen.
 

„Sch, keine Ursache. Falls es Sie beruhigt, Herr Pirchner, Ihre offene und herzliche Art schätzt das gesamte Personal. Sie sind ein Gegenpol zur reservierten Art von Herrn Kaiba.“
 

„Das freut mich zu hören“, lächelte ich.
 

„Nun sollten Sie aber zu Bett gehen, es ist schon spät, und Sie haben sicher noch Hausaufgaben zu erledigen.“
 

„Ehm“, grinste ich und verabschiedete mich.
 

Ein fast normaler Nachmittag war das gewesen, mit einem Stück Heimat und einem neuen Freund.

Die Vorbereitungen neigen sich dem Ende zu

Kaiba hatte mich angerufen, ich solle ihn um fünf Uhr in seinem Büro aufsuchen. Er war dabei erstaunlich freundlich gewesen. Meine Befürchtungen, diese Abstimmung zum Loswerden der ungeliebten Mitglieder im Vorstand beziehungsweise Aufsichtsrat, würde anstehen, hatte er beiseite gewischt. Den Weg zu seinem Büro fand ich mittlerweile ohne Probleme. Auch den Angestellten war ich kein Unbekannter mehr. Mokuba hatte mir gesteckt, dass die neue Praktikantin ein Auge auf mich geworfen hätte, was ich aber nur mit einem müden Lächeln abtat. Ich war eigentlich ganz glücklich mit Joey, der sich immer mehr machte. Er war noch immer das aufbrausende Großmaul, das mit dem Herzen kämpfte, aber, er wirkte so viel freier, glücklicher.
 

Kaiba erwartete mich bereits. Er saß hinter seinem Schreibtisch und tippte an seinem Laptop herum, ohne aufzusehen. Neben ihm stand ein länglicher Karton, sowie ein Tablett mit bernsteinfarbener Flüssigkeit: Whiskey. Heute musste es heiß hergehen, wenn er schon zu Beginn das gute Zeug bereithielt.
 

„Setz dich“, murmelte der Braunhaarige und schüttelte den Kopf, in seinen Laptop vertieft.
 

Eins musste man ihm lassen: Er verband stilistische Möbel mit Komfort. Mein Rücken war gut gepolstert, während ich geduldig darauf wartete, dass er endlich, womit auch immer, fertig wurde. So in seine Arbeit vertieft, wirkte der CEO fast harmlos. Man konnte ihm die Euphorie, trotz eines augenscheinlichen Problems, so wie er die Stirn in Falten legte, ansehen.
 

„So“, sagte Kaiba und klappte den Laptop zu. „Wie du dir denken kannst, geht es um das Turnier. Wir müssen zuallererst einmal die Formalitäten abklären. Wie das Ganze geplant ist. Das hier läuft anders ab als im Königreich der Duellanten, wo du auf eine Einladung hin vor Pegasus getreten bist.“
 

Ich nickte leicht und angelte mir ein Glas mit Whiskey, der übrigens wieder hervorragend schmeckte.
 

Mein Gegenüber schob die Finger ineinander und lehnte sich im Stuhl zurück: „Ich weiß nicht, wie sehr dich deine Kindergartengruppe und Mokuba über das letzte Turnier aufgeklärt haben, daher werde ich die wichtigsten Punkte noch einmal zusammenfassen. Das Regelwerk ist simpel: Es gilt Lokalisierungskarten zu erstreiten. Diese zeigen dir, wie Koordinaten, den Ort, wo das Finale stattfinden wird. Zusätzlich dazu sind die Spieler verpflichtet, ihre seltenste Karte zu setzen. Wenn du verlierst, bist du sie los. Hast du eine Lokalisierungskarten mehr, bist du raus. Noch Fragen?“
 

Bei Kaiba klang das so trivial. Ich wusste von Yugi und Joey, dass sie beim letzten Mal sechs Lokalisierungskarten gebraucht haben, jeweils, um ins Finale zu kommen, das auf einem Zeppelin stattgefunden hatte und auf dem Kaiba Tower. Joey hat sich dabei einige gute Karten erspielt: Jinzo, die Insektenkönigin, den legendären Fischer…
 

„Also an den Regeln wird es nicht hapern, Kaiba. Was hast du wegen der Raritätenjäger vor, und der Göttermonster?“
 

„Eine interessante Frage. Die offizielle Antwort wird sein, dass ich ein hochkomplexes Sicherheitssystem mit meinen eigenen Sicherheitsleuten kombiniere, um so maximale Sicherheit zu gewähren.“
 

„Und inoffiziell?“ Ich schob meine Augenbrauen nach oben und nippte an meinem Whiskey.
 

„Nun, inoffiziell lege ich es darauf an, dass sie sich mit uns anlegen. Es gibt bestimmte Duellplätze, abgeschieden natürlich, die weniger streng bewacht sind. Für dich, Yugi und mich wird das alles ein Zuckerschlecken. Sie werden es auf uns abgesehen haben.“
 

„Damit habe ich schon fast gerechnet“, entgegnete ich ruhig. Mahad schenkte mir ein flüchtiges Lächeln, als er neben uns erschien. Meine kleine Episode mit mir selbst hat unsere Verbindung nur noch mehr gestärkt. Jetzt waren wir wirklich ein Team.
 

„Ich gehe davon aus, dass die Götterkarten wieder ins Spiel gebracht werden, jeweils gegen einen von uns. Die Duel Disks sind alle mit einem Chip versehen, der die Signatur der Karten liest. Wir wissen also sofort, wenn jemand ein Göttermonster beschwört.“
 

„Hast du denn vor, mir zu helfen, wenn mich ein Raritätenjäger mit einem Gott aufmischt?“

Diesen bissigen Nachsatz konnte ich mir nicht verkneifen.
 

„Wenn du meine Hilfe brauchst, bist du des Monsters nicht würdig“, konterte Kaiba kühl.
 

„Na, das wollen wir doch nicht hoffen. Sonst hast du kein spannendes Finale, oder?“
 

„Hätte ich dich für eine Enttäuschung gehalten, wärst du nicht hier.“
 

Kaiba griff nach dem Karton und schob ihn mir zu. „Das ist für dich. Wenn du nicht gerade in den letzten Wochen zugelegt hast, dürfte sie passen.“
 

Kaum geöffnet, fiel mir auch schon eine Duel Disk entgegen, aber eine ganz besondere. Jene, für die Kaiba damals Maß genommen hatte. Sie sah in echt noch besser aus, als auf dem Papier. Schwarz, mit einem Drachenkopf, in dessen Maul man sein Deck schieben konnte. Vom Zentrum aus reckte sich ein Flügel, auf den man die Spielkarten legte. Sofort schnallte ich mir das vermeintliche Unikat um den rechten Arm und ballte meine Hand zur Faust. Sie passte wie angegossen. Der Riemen war nicht zu eng, aber auch nicht zu weit. Mit einem leisen Surren erwachte das Ding zum Leben. Die Lebenspunkteanzeige war rot, genauso wie die Augen des Drachens, die pulsierten.
 

„Wahnsinn“, entfuhr es mir fasziniert.
 

„Ich habe deine Duel Disk direkt mit dem Zentralserver verbunden. Wir können dich jederzeit orten, überall, auf der ganzen Welt, und wenn du dich auf dem Grund es Meeresbodens aufhältst, finden wir dich. Mokuba hat darauf bestanden, genauso wie Yugi und mir ist ehrlich gesagt auch…“
 

Sofort sah ich von der Duel Disk auf und konnte einen Hauch von Betroffenheit in Kaibas Zügen erkennen. Er hätte sich fast verplappert. Sorgte sich der CEO echt um mich? Waren wir Freunde geworden? Gehörte ich wirklich zur Familie?
 

„Bilde dir nichts drauf ein, Kleiner. Ich will nur nicht, dass die Götterkarte in die falschen Hände gerät.“
 

Für diesen lockeren Spruch hatte er eine Sekunde zu lange gebraucht, aber wer war ich schon, zu glauben, Seto Kaiba etwas zu bedeuten? Ich nickte nur und verbarg mühsam ein Schmunzeln, bevor ich wieder meine Duel Disk bestaunte. Das Ding war echt der Hammer.
 

„Ich bin rechtlich außerdem verpflichtet, dich zu fragen, ob deine Beteiligung beim Merchandise der Kaiba Corporation in Ordnung ist.“
 

„Meine was?“
 

Da war es wieder, dieses süffisante Grinsen, dass ich ihm so gerne aus dem Gesicht gewischt hätte. Der nette Kaiba kam wohl doch nur ganz selten zum Vorschein.
 

„Du hast, genauso wie Yugi und ich, eine Fangemeinde aufgebaut, aus der meine Firma Kapital schlagen wird. Ich sponsore dich, mehr oder weniger, daher ist es angebracht, dass ich auch etwas davon zurückbekomme.“
 

„Und wie sehen die Artikel aus? Beispielsweise?“
 

Kaiba drehte seinen Laptop zu mir herum. Auf dem Bildschirm flimmerten dutzende Sachen, alle mit mir drauf. Tassen, Shirts, Schals, Hoodies. Irgendjemand konnte verdammt gut zeichnen, wenn ich mir die Bilder so ansah. Mein Gesicht lugte aus einer Rüstung hervor, die wie die von Elias wirkte. Dann stand da einmal meine Wenigkeit, hinter ihm ein Rotauge, das sich aufbäumte, und so weiter.
 

„Du glaubst, den Krempel kauft wer?“, fragte ich wenig überzeugt.
 

„Natürlich. Wenn ich nicht deine Fanpost regelmäßig entsorgen würde, wäre der Briefkasten verstopft.“
 

„Ah ja stimmt, die Fanpost“, murmelte ich schuldig. Ich hatte mir nie wirklich Gedanken darum gemacht.
 

Kaiba griff unter den Schreibtisch und zog ein Formular hervor. Wortlos schob er es mir zu und machte sich wieder daran, in seinen Laptop zu starren und zu tippen. Ohne zu zögern unterschrieb ich den Wisch. Der Braunhaarige ließ ihn sogleich wieder verschwinden.
 

„Hast du noch Fragen?“
 

„Kaiba? Ich weiß davon, dass die Raritätenjäger damals Mokuba und Tea entführt haben. Gerade Mokuba wird eine Zielscheibe sein, weil er an uns Beiden hängt. Gleiches gilt für Joey und Yugis Großvater…“
 

„Ich habe schon Sorge dafür getragen, dass dem Zirkusverein nichts passiert.“
 

„Und wie?“
 

„Das kann ich dir nicht verraten.“
 

„Warum?“
 

„Betriebsgeheimnis.“
 

Mir lag etwas auf der Zunge, das ich mir aber verkniff. Wenn es schief ging, blieben noch immer Yugi und ich. Beide würden wir das Ding schon schaukeln (und Joey, wenn er nicht auch eine Zielscheibe war).
 

„Sonst noch etwas?“
 

„Nein, das wäre alles. Muss ich mich dann auch registrieren, zu Turnierbeginn?“
 

„Natürlich nicht.“ Kaiba klang fast ein wenig gekränkt. „Als ob du es nötig hättest, wie alle anderen anzustehen. Wie stünde ich da? Ist schon alles eingelesen. Ich habe als deine seltensten Karten den Schwarzen Magier sowie den Schwarzen Rotaugendrachen angegeben. Das wird die Raritätenjäger anlocken, ganz sicher.“
 

„Wenn der wüsste, hm?“, grinste Mahad neben mir.
 

„Wenn der wüsste“, nickte ich gedanklich und dachte an die Toon World. Ich trank meinen Whiskey aus und stand auf.
 

„Enttäusche mich nicht, ja?“, murmelte Kaiba und tippte wieder in seinem Laptop herum.
 

„Habe ich nicht vor“, grinste ich schief und drehte mich dann um. Na das konnte ja was werden.

Der Abend vor dem Turnier

Yugi, Joey, Herr Muto und meine Wenigkeit saßen gemeinsam im Wohnzimmer von Yugis Großvater, mit Plätzchen und Tee. Es war der letzte Abend vor Turnierbeginn. Ich war ehrlich gesagt weit weniger nervös, als ich befürchtet hatte. Natürlich, die Last der ganzen Welt lag auf meinen Schultern, aber hey – ich war wohl nicht ganz böse, und hatte starke Freunde, die an meiner Seite standen.
 

„Ich habe dein Duell damals mitverfolgt“, riss Herr Muto mich aus meinen Gedanken und schnappte sich lächelnd einen Keks. „Wie du gemeinsam mit Kaiba die Gebrüder Paradox besiegt hast, das war schon eine starke Leistung.“
 

„Wissen Sie, Herr Muto, ohne Yugi und Joey wäre ich dazu nie in der Lage gewesen. Sie haben mir vor Kaiba ein wenig die Angst genommen.“
 

Das stimmte auch so. Mittlerweile war ich in der Lage, mich auf Augenhöhe mit Kaiba zu bewegen, wenn wir uns unterhielten. Nicht, dass er mich nicht spüren ließ, dass ich nur ein geduldeter Gast in der Kaiba-Villa war, aber unser Verhältnis hatte sich doch verändert. Er schien mich ähnlich wie Yugi zu respektieren, und das galt auch umgekehrt. Wir würden nie enge Freunde werden, Kaiba und ich, aber der CEO war weit weniger schlimm zu mir, als zu Beginn. Außerdem war da noch Mokuba, und den wollte er nicht verärgern.
 

„Du wirst beim Turnier abräumen, bis du an mich gelangst“, tönte Joey großspurig und nippte an seinem Tee.
 

„Schatz, glaube mir, in deinem Duell hast du keine guten Karten gegen mich – welch Wortwitz“, lachte ich und schnappte mir die Hand meines Freundes. Vor Herrn Muto und Yugi schämte er sich nicht, und auch wenn der Schritt, sich zu outen, noch nicht erfolgt war, so ertappte ich den Blondschopf immer öfter, wie seine Finger zuckten, wenn wir nebeneinander durch die Stadt gingen, oder in der Schule gemeinsam an einem Tisch saßen.
 

„Du hast wohl was von Kaiba angenommen. Gewöhne dir das gleich wieder ab, sonst…“
 

„Sonst was?“, fragte ich herausfordernd und zuckte mit meiner rechten Augenbraue. „Soweit ich weiß, Mister Wheeler, bin ich der, der beim Vö…“
 

„Schon gut, es langt“, rief Joey und wurde puterrot im Gesicht.
 

„Das glaube ich auch“, schmunzelte ich und sah zu Yugi, der nur grinsend den Kopf schüttelte.
 

„Ich bin gespannt, wie die Raritätenjäger dieses Mal zuschlagen wollen“, lenkte Herr Muto das Gespräch wieder auf ein ernsteres Thema und knusperte dabei ein weiteres Plätzchen. Der alte Mann war ein hervorragender Zuckerbäcker. Seine Schokoladenplätzchen waren die Wucht.
 

„Ich will es gar nicht wissen. Kaibas Verhalten ist unverantwortlich. Es können sich auch andere Duellanten auch an diese semibewachten Orte verirren. Was ist dann?“ Das war sowieso etwas, das mir sauer aufstieß, aber Kaiba war von seinem Plan nicht abzubringen. Er wollte unbedingt, dass den Raritätenjägern die Gelegenheit dazu gegeben wurde, sich zu bedienen, oder uns zumindest aus der Reserve zu locken.
 

„Dann müssen wir eben einspringen“, murmelte Joey.
 

„Ich bereue es ein wenig, mich darauf eingelassen zu haben. Nichts gegen dich, Yugi“, fügte ich hastig an und erntete ein verständnisvolles Nicken. „Aber es ist schon verdammt viel gewesen dieses Jahr. Zuerst der Ring, dann die Sache mit Mei, Joeys Vater – ich möchte keine Sekunde missen, nur…“
 

Beinahe zeitgleich schlossen sich zwei weitere Hände um meine und die von Joey. Yugi und sein Großvater sahen mich entschlossen an, voller Wärme und Güte, genauso wie mein Freund, der meine Finger fest drückte.
 

„Hast du eigentlich noch etwas an deinem Deck optimiert, David? Yugi meinte, du würdest mit dem Herz der Karten kämpfen, was schon einmal gut ist.“ Herr Muto strich sich mit der freien Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
 

„Ich, nun… Ja und Nein, ich habe eine Karte noch hinzugefügt, oder mich eher dazu entschlossen, sie zu verwenden.“
 

Neugierig starrten mich drei Augenpaare gleichzeitig an, was mir zusehends unangenehm wurde. Ich hatte eigentlich nicht damit herausrücken wollen, aber, keine Ahnung warum, mir kam der Moment gerade richtig vor.
 

„Pegasus hat mir damals im Duell einen Wunsch freigestellt. Jede Karte dürfe ich mir aussuchen, sogar einen Weißen Drachen.“
 

„Du hast einen Weißen Drachen in deinem Deck?“, platzte es aus Joey heraus.
 

„Nein“, murmelte ich und zog mein Deck hervor. „Etwas noch viel Schlimmeres.“
 

„Was soll noch schlimmer sein als ein Weißer?“
 

Ich wusste seltsamerweise genau, wo die Karte steckte. Nur ungern löste ich meine rechte Hand aus der Verschränkung, die unser Team gebildet hatte, um die absolute Rarität aus meinem Deck zu präsentieren. Als ich die Karte umdrehte, schnappte Joey nach Luft, Yugi schrägte verwundert den Kopf und Herr Muto strich sich über das Kinn.
 

„Du hast was?“ Joey wirkte, als wäre er kurz davor gewesen, mich durchzuschütteln.
 

„Eine sehr seltene Karte, wahrscheinlich sogar ein Unikat.“ Herr Muto streckte seine Hand aus, zögerte aber, sie zu berühren. Erst auf mein Nicken hin schnappte er sich die Toon World und zog sie zu sich heran.
 

„Warum hast du nichts gesagt? Sie nie eingesetzt?“ Joey löcherte mich aufgeregt mit Fragen, die ich ausblendete. Yugi wirkte, als hätte ihn etwas getreten.
 

„Yugi?“
 

„Nichts, es ist nur…“
 

„Joey, halt mal bitte kurz den Mund ja“, brachte ich meinen Freund zum Verstummen und schenkte dem König der Spiele einen besorgten Gesichtsausdruck.
 

„Weißt du, genau an dieser Karte ist damals fast alles gescheitert. Mühelos hat Pegasus damit Kaiba die Seele rauben können. Seine Toons waren nahezu unterstörbar. Ohne mein Zusammenspiel mit dem Pharao…“
 

„Ich wollte sie eigentlich dir geben“, sagte ich nach einer Weile des Schweigens, das nur von einem gelegentlichen Brummen Herrn Mutos und einem Schlürfen Joeys unterbrochen wurde.
 

„Was?“
 

„Naja, Yugi, du bist mein bester Freund, und ich hege ein wenig Zweifel daran, dass ich ins Finale komme. Irgendwie muss ich dich unterstützen. Ohne dich wäre ich auch nie über meinen Schatten gesprungen und hätte in die Finsternis in meinem Herzen geschaut. Du hast mir meine Sachen für das Rennen organisiert, du warst immer da, als ich eine Stütze brauchte. Sogar mit Joey hast du mir geholfen. Dein Buster Blader hat mich in der VR stark genug gemacht, Mei zu besiegen. Du und der Pharao, ihr habt mich so geformt, so weit gebracht, dass ich in der Lage bin, hoch erhobenen Hauptes selbst Kaiba ins Angesicht zu schauen. Du hättest sie verdient, nicht ich.“
 

Yugi rieb sich peinlich berührt die Nase und entwickelte ein großes Interesse an seinen Füßen, die unter dem Tisch herumbaumelten.
 

„Natürlich haben mich auch die anderen aufgefangen, aber egal wie finster es auch gewesen sein mag, um mich herum, du und Joey habt mich immer wieder ins Licht zurückgebracht. Früher, heute und wahrscheinlich auch im nächsten Leben. Mit euch in meiner Nähe habe ich keine Angst, dass mich die Dunkelheit übermannt.“
 

Mein Blick wanderte zwischen Joey und Yugi hin und her. Mein Freund war inzwischen auch an dem Punkt angelangt, wo er mit dem Stuhl vor und zurückwippte. Einzig Herr Muto schien vollständig mit der Analyse der Toon World beschäftigt zu sein, und uns auszublenden.
 

„Ich hätte mir nie gedacht, dass ich einmal so weit kommen würde, mich so entwickeln würde. Ich habe zuhause gute Freunde, keine Frage, aber hier, in Japan, lebt mein bester Freund, und meine große Liebe. Für jeden von euch bin ich bereit, in den Duellen mein Bestes zu geben. Der Ring und ich sind jetzt wirklich eins, genauso wie Mahad und ich. Wir sind ein Team, wie du und der Pharao. Wenn ich dir helfen kann, sei es durch Karten oder meine Teilnahme im Turnier, dann soll es so sein.“
 

Mahad erschien hinter mir und legte mir sanft lächelnd die Hand auf die Schulter.
 

„Du hast dich sehr zum Positiven verändert, David. Ich bin weit weniger Mentor und Leitfigur, als zu Beginn.“
 

„Und du mir mehr Freund, als ich jemals zu hoffen wagte. Wir sind nicht mehr nur Geist und Hülle, wir sind eins. Ich glaube an dich, deine Fähigkeiten und deinen unbezwingbaren Willen. Wenn wir ins Finale kommen, wirst du den Pharao unterstützen, und ich Yugi. Gemeinsam halten wir die Finsternis davon ab, die Welt zu verschlucken, wenn es sein muss, mit unserer eigenen Dunkelheit.“
 

„Wisst ihr“, sagte Herr Muto und ließ uns alle drei zu ihm schauen. „Ich bin stolz auf euch drei. Ihr habt euch so gut entwickelt. Ich glaube, die Raritätenjäger haben keine Chance. Wenn ihr zusammenhaltet, kann euch nichts aufhalten.“
 

Breit lächelnd schob mir der alte Mann meine Karte wieder zurück. „Ich denke aber, du solltest sie behalten, David. Die Toon World hat sich dich als Besitzer ausgesucht, dich anerkannt. Pegasus muss auch etwas in dir gesehen haben, dass er dir diesen Wunsch erfüllt hat. Spiele sie, wenn du in Not gerätst und bestaune, was so ein Zeichentrick alles anrichten kann.“ Damit erhob er sich und drückte laut seufzend seinen Rücken durch. „Ich werde aber mal zu Bett gehen. Es ist schon spät, und ich bin nicht mehr so gut in Schuss wie ihr jungen Hüpfer.“
 

Ohne zu Zögern sprang ich auf und umarmte Yugis Großvater stürmisch. Er erinnerte mich so sehr an meinen eigenen Opa, und dass er Joey bei sich aufgenommen hatte, genauso wie die Vormundschaft, würde ich ihm nie vergessen.
 

„Schon gut, schon gut“, tätschelte mir Herr Muto den Rücken. „Mach mich einfach stolz, ja? Genauso ihr zwei. Wehe, ihr kommt nicht mindestens ins Finale.“
 

„Werden wir“, sagten Joey und Yugi wie aus einem Mund.
 

Ich setzte mich wieder an den Tisch und lächelte beide an. Mein bester Freund und meine große Liebe – konnte etwas schief gehen? Mahad an meiner Seite, mit dem Glauben an mich selbst. Meine Zweifel, ob ich ins Finale kommen würde, schmolzen langsam dahin. Ich würde Yugi zur Seite stehen, ganz sicher. Der Ring an meiner Brust glühte. Morgen würde das Schicksal seinen Lauf nehmen.

Von Walen und Fluten

Nun war es also soweit: Das Battle City Turnier war offiziell ausgerufen worden. Ich hatte erstaunlich gut geschlafen (was wohl auch daran lag, dass mein Kissen aus Joey bestanden hatte). Das Frühstück gemeinsam mit Herrn Muto, Yugi und Joey hatte mir noch einmal den nötigen Auftrieb gegeben, um mich, einigermaßen furchtlos, dem heutigen Tag stellen zu wollen. Es würde kein Zuckerschlecken werden, das war mir klar, denn schließlich kamen aus aller Welt die besten Duellanten, aber, und das stand auch fest: Ich war ebenfalls nicht zu unterschätzen.
 

Joey hatte sich noch anmelden müssen (was sich als kleine Katastrophe herausstellte, denn genügend andere waren genauso spät dran wie er). Nachdem diese Hürde aber gemeistert war, schlenderten wir durch die Stadt, in Begleitung von Herrn Muto, Tea und Tristan. Bakura hatte sich entschuldigen lassen – das letzte Turnier habe ihm gereicht. Duke würde nachkommen. Mokuba musste Schiedsrichter spielen, und Kaiba war wie vom Erdboden verschluckt. Entgegen meiner Erwartungen hatte es keine lange Rede vom CEO gegeben, in der er sich selbst hervorheben konnte – eine kurze Einführung, ein neuerliches Erklären der Regeln und dann war die gesamte Stadt zum Kampfgebiet erklärt worden. Jeder konnte jeden herausfordern. Verlor man seine Lokalisierungskarten, schied man aus.
 

„Mich juckt es so in den Fingern“, tönte Joey und sah sich wie ein wildgewordener Stier nach seinem ersten potentiellen Opfer um.
 

„War er im Königreich der Duellanten genauso drauf?“, fragte ich in die Runde und schüttelte schmunzelnd den Kopf.
 

„Noch viel schlimmer. Beim letzten Battle City Turnier wollte er gleich Kaiba herausfordern.“ Tristan tat es mir gleich.
 

„Schnauze, Tris – ich hätte mit Kaiba den Boden gewischt.“
 

„Oder er mit dir“, mutmaßte Tea und setzte einen neckischen Gesichtsausdruck auf. „Wie war das im Finale nochmal?“
 

„Joey, warte!“, rief Tristan und lief seinem besten Freund hinterher, der nun seine Schritte beschleunigte. Entweder ihm war ein geeigneter Duellant ins Auge gesprungen, oder Tea hatte seinen Stolz verletzt. Ich wollte schon nachsetzen, als mich Herr Muto lachend mit seiner rechten Hand zurückhielt.
 

„Lass sie nur. Joey kann gut auf sich selbst aufpassen, und mit Tristan an seiner Seite passiert ihm schon nichts.“
 

Ich war nicht so ganz überzeugt. Das Turnier war ein gefährliches Pflaster. Die Raritätenjäger konnten überall lauern. Außerdem rechnete ich damit, alsbald herausgefordert zu werden. Yugis Präsenz schien dem Ganzen aber einen Riegel vorzuschieben. Man zeigte auf uns, tuschelte, hielt sich aber zurück.
 

„Wenn wir die Raritätenjäger möglichst bald aufspüren wollen, sollten wir uns trennen“, schlug Yugi vor.
 

„Hältst du das wirklich für eine so gute Idee? Gemeinsam pusten wir sie von der Bildfläche und gut ist.“
 

„Sie würden uns aber nie im Team herausfordern, zumindest jetzt nicht. Außerdem brauchen wir Lokalisierungskarten fürs Finale. Was hältst du davon, wenn Großvater und ich uns auf den Weg machen, und Tea mit dir geht?“
 

Ich sah bei dem Vorschlag zu unserer Freundin, die wenig begeistert wirkte. Das wäre die ideale Möglichkeit gewesen, mit Yugi ein wenig Zeit alleine zu verbringen. Ich glaubte noch immer, dass sie auf Yugi oder den Pharao stand.
 

„Ich glaube eher, ich nehme Herrn Muto mit. Dir hat er schon alles beigebracht, mir kann er noch etwas lernen.“
 

Tea streckte mir die Zunge heraus, was ich mit einem breiten Grinsen konterte. Die Tatsache, dass sie ein wenig errötete, verhärtete meine Vermutung.
 

„Das halte ich tatsächlich für eine gute Idee. Na los, Yugi, mach dich auf den Weg.“ Herr Muto lächelte breit und klopfte seinem Enkel auf die Schulter.
 

„Aber Großvater, was wenn dir etwas passiert?“
 

„Ich passe auf ihn auf, versprochen.“
 

„Na gut“, meinte Yugi halbherzig, bevor er sich mit Tea durch eine Menschenmasse drängte und aus unseren Augen verschwand.
 

„Du weißt es auch, hm?“, fragte mich der alte Mann, während wir durch die rappelvollen Straßen von Domino City schlenderten. Ein Duell hatte ich bisher nicht zu Gesicht bekommen.
 

„Ich vermute es schon länger, Herr Muto. Wie Tea Yugi manchmal ansieht. Das erinnert mich stark an Joey, wenn er glaubt, ich würde ihn nicht beachten.“
 

„Jaja, die Liebe…“, seufzte der Alte verträumt. „Was hältst du davon, wenn wir ins Aquarium gehen? Ich würde mir so gerne einmal wieder die Vorstellung mit dem Killerwal ansehen. Der alte Connor ist nämlich auch nicht mehr der Jüngste, genauso wie ich.“
 

„Na ich weiß nicht, Herr Muto. Ich sollte allmählich einmal zur Potte kommen.“
 

„Denk dran: Wo viele Menschen sind, könnten sich auch Raritätenjäger aufhalten. Die würden auf dich aufmerksam werden.“
 

„Wenn Sie meinen.“ Ich konnte dem alten Herrn irgendwie keinen Wunsch abschlagen. Er war so lieb und nett, genau wie mein eigener Großvater.
 

Im Aquarium selbst drängten sich die Menschen dicht aneinander. Die Zuschauerplätze waren prall gefüllt und alle riefen im Chor einen einzigen Namen: Connor. Ich war ehrlich gesagt noch nie zu Gast bei einer solchen Aufführung gewesen. In meiner Heimat war ein Haifischbecken schon eine Attraktion gewesen, aber verglichen mit dem Schauspiel, das sich hier bot...
 

Die Sonne glitzerte auf der Wasseroberfläche und ließ das malerische Blau noch kräftiger und einladender wirken. In der Mitte des Beckens befand sich eine kreisrunde Plattform, wohl für den Dompteur des Killerwals, aber von Beiden fehlte jede Spur. Ich wollte Herrn Muto schon fragen, ob er sich nicht vielleicht geirrt hatte, was die Vorstellung anging (und die anderen Zuschauer wohl auch), als sich etwas im Wasser regte. Die Oberfläche waberte, bevor sie auseinanderstob und Wassertropfen wild durcheinanderspritzten.
 

Ein Tosen brach im Stadion aus. Connor der Killerwal war aus seinem Versteck in der Tiefe gesprungen und spritzte die nächstgelegenen Zuschauer nass. Das Tier war imposant, was mich aber weit mehr faszinierte, war die Tatsache, dass jemand auf ihm zu reiten schien. Der Kerl war deutlich größer als ich, braun gebrannt und hatte wildes, dunkelblaues Haar, das er nur notdürftig mit einem blauen Stoffband, auf dem ein weißes Wellenmuster eingestickt war, in Form hielt. Ein ärmelloses Hemd verbarg mehr schlecht als recht die durchtrainierte Brust und gab den Blick frei auf einen Bizeps, der mich neidisch machte. Unter dem Hemd lugte eine schwarze Taucherhose hervor. Ein weißer Gürtel hielt alles in Form.
 

„Domino City – ich bin es, Mako Tsunami, der Meeresduellant. Connor und ich haben beschlossen uns erneut zusammenzutun. Wer von Euch ist Mann oder Frau genug, sich mit mir, dem Meister des Wassers, zu messen?“
 

Mein Blick wanderte zu Herrn Muto, der amüsiert grinste. Darum hatte er mit mir ins Aquarium gehen wollen.
 

„Sie haben das von langer Hand geplant, oder?“, fragte ich und wurde nur mit einem spöttischen Blitzen in seinen Augen belohnt.
 

„Ich bin gespannt, wie du dich gegen ihn schlägst.“ Damit schubste er mich ein wenig nach vorne, legte die Hände an den Mund, mit denen er einen Trichter formte, und rief so laut er konnte: „Hier! Er!“
 

Ich blinzelte perplex, denn tatsächlich drehten sich Leute zu uns um. Bei dem Lärm, den die jubelnde Menge verursachte, hätte das Geschrei von Yugis Großvater eigentlich untergehen müssen. Eigentlich.
 

Mako tauchte erneut mit Connor unter, nur um wieder an die Oberfläche zu springen. Immer mehr Menschen starrten mich an, was mir zusehends unangenehm wurde. Ich mochte Wasser außerdem nicht gerne, zumindest nicht, wenn es mir in die Schuhe lief, oder meine Kleidung nass wurde.

Als sich gefühlt das gesamte Stadion meiner Wenigkeit zugedreht hatte, sprang Mako von Connor ab und landete, elegant auf beiden Beinen, inmitten des Beckens, auf der Plattform.
 

„Es scheint, wir haben einen Herausforderer!“, schrie der Fischerverschnitt und die Menge tobte erneut.
 

„Na los, geh schon!“, forderte mich Herr Muto auf und stieß mich dabei sanft nach vorne.
 

Langsamen Schrittes ging ich auf das Becken zu. Der Milleniumsring an meiner Brust glühte kurz auf, und ich verschmolz mit Mahad. Nach meiner kleinen Episode mit meinem bösen Selbst, hatte sich auch unser Teamwork verändert. Wir waren jetzt wirklich eins. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber Mahad hatte die Kontrolle, genauso wie ich. Mein Selbstvertrauen wuchs, als der Geist die Führung übernahm. Beim Lift angekommen, der zum Becken führte, verspürte ich ein Kribbeln in den Fingern: Genauso bescheuert wie Joeys Aussage vorhin. Ich musste dennoch grinsen, als ich nach oben fuhr. Zeit der Welt zu zeigen, dass ich nicht nur wegen Kaiba ein so hohes Ansehen genoss.
 

Das musste Kaiba Corporation Technologie sein. Die Liftplattform löste sich nämlich aus den Schienen ihrer Verankerung und brachte mich trockenen Fußes zur Plattform, wo Mako Connor, der den Kopf aus dem Wasser streckte, eingehend streichelte.
 

„Sieh mal an – wen haben wir denn da? Wer bist du?“ Der Fischer sah nicht einmal auf, dafür aber sein tierischer Begleiter, der freudig einen Wasserstrahl in die Luft spritzte.
 

„Ich bin David Pirchner“, antwortete ich ruhig, was die Menge für einen Moment zum Verstummen brachte. Meine Stimme hallte über das gesamte Stadion wider, und ich kapierte jetzt auch warum: Überall waren Lautsprecher eingebaut, und hier im Becken musste es ein Mikrofon geben. Hatte Herr Muto auch davon gewusst? Gab es auf den Tribünen auch so eine Vorrichtung?
 

„Ah ja, ich habe schon viel von dir gehört. Kaibas Schützling. Du musst ja verdammt gut sein, wenn Seto Kaiba dich trainiert hat.“ Mako stand auf und schenkte mir ein selbstsicheres Grinsen, wobei er schneeweiße Zahnreihen entblößte.
 

„Nicht nur der“, entgegnete ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
 

„Dann bin ich mal gespannt. Niemand kann dem Meer trotzen, merk dir das!“
 

„Dann werde ich wohl der Erste sein.“
 

Ich ballte meine rechte Hand zur Faust, was die Duel Disk an meinem Arm ausfahren ließ. Mako tat es mir gleich, hatte aber nur ein Standardmodell abgegriffen. Die großen Bildschirme in der Ost- und Westhälfte des Stadions flackerten auf, bis sie mich und Mako zeigten. Sofort brach wieder Jubel auf den Tribünen aus. Ich konnte Makos Namen hören, aber auch meinen eigenen.
 

„Duell!“, riefen wir und unsere Duel Disks zeigten 4.000 Lebenspunkte.
 

„Ich fange an und rufe gleich einmal die Amphibische Bestie aufs Feld.“
 

Mako legte eine Karte auf seine Duel Disk und wie aus dem Nichts erschien ein Wesen, das gut und gerne aus dem Film „Das Monster aus der Lagune“, adaptiert für das 21te Jahrhundert, stammen hätte können. Grünlich, mit Schwimmhäuten an den Füßen und Händen, starrte mich der humanoide Fischverschnitt an. 2.400 Angriffspunkte – das Ding war verdammt stark.
 

Ich begutachtete mein Blatt. Ich hatte nichts auf der Hand, was stark genug gewesen wäre, um es mit dem Vieh aufzunehmen. Die Zeremonie des Schwarzen Lichts war jetzt nicht gerade das, was ich gebrauchen konnte. Also entschied ich mich für eine Verteidigungsstrategie.
 

„Ich spiele Garoozis im Verteidigungsmodus.“
 

Vor mir erschien mein Echsenkämpfer mit der zweischneidigen Streitaxt und dem Horn auf der Stirn. Fauchend sank mein Monster auf die Knie.
 

„Außerdem spiele ich noch eine Karte verdeckt, und beende meinen Zug.“
 

Der Kettenbumerang würde mir ein wenig Luft verschaffen, wenn Mako denn angriff.
 

„Und um noch eins draufzusetzen, spiele ich die Zauberkarte Umi.“
 

Schlagartig stieg der Wasserpegel im Becken an. Das kühle Nass umschwappte meine Knöchel und ich rechnete schon damit, leise fluchen zu müssen, doch meine Sachen blieben trocken. Hologramme eben.
 

„Was ist los? Bist du wasserscheu?“, grinste Mako und ich sah, wie sein schleimiges Ding in den Fluten verschwand.
 

„Ich mag es nicht, wenn meine Kleidung nass wird“, murmelte ich und sah mich nach Makos Monster um. Wo war das Ding? Was mich aber noch mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass Garoozis, im Gegensatz zu mir, nicht bis zu den Knöcheln, sondern bis zum Hals im Wasser stand. Das Monster schnappte nach Luft und strampelte panisch mit den Armen.
 

„Die Rüstung wird deinem kleinen Freund wohl zum Verhängnis“, spottete mein Gegner und ich begriff, was er damit meinte. Garoozis ertrank einfach. Damit konnte ich meinen Plan mit dem Kettenbumerang knicken.
 

„Und jetzt wird dich meine Amphibische Bestie angreifen! Los, reduziere seine Lebenspunkte!“
 

Plötzlich sprang das Ding vor mir aus dem Wasser, verpasste mir einen Hieb mit seiner Klaue, und verschwand wieder. Ich stöhnte leise: Das hatte gesessen. Warum spürte ich etwas vom Duell? Was hatte Kaiba sich denn da wieder einfallen lassen?

Meine Lebenspunkteanzeige fiel auf 1.400. Moment, sein Monster hatte doch nur 2.400 Angriffspunkte gehabt, oder?
 

„Deinem angestrengten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, weißt du nichts ob der besonderen Fähigkeit von Umi: Sämtliche Monster vom Typ Wasser erhalten 200 Angriffs- und Verteidigungspunkte, solange sie auf dem Feld ist.“
 

Na bravo. Da verstand aber einer sein Handwerk. Mit 2.600 Angriffspunkte war das Ding stärker als mein Schwarzer Magier, und für die Exodia fehlten mir noch Teile. Ich musste auf Zeit spielen.

„Komm schon, Herz der Karten“, dachte ich mir und zog die nächste Karte. YES!
 

„Ich spiele…“, sagte ich und schob die Karte in den Schlitz meiner Duel Disk.
 

„Die Lichtschwerter!“
 

Vor mir baute sich eine Barriere aus leuchtenden Schwertern auf.
 

„Damit bin ich für die nächsten drei Runden sicher.“
 

„Die Verzögerungstaktik also. Du musst schon sehr verzweifelt sein“, grinste Mako und zog seine nächste Karte. „Dann rufe ich einen alten Freund herbei, den mächtigen Kairyu-Shin!“
 

Ein weiteres Monster, dieses Mal eine augenlose Riesenschlange, die mit ihrem riesigen Gebiss drohend vor meinen Lichtschwertern herumschnappte, bevor sie sich ebenfalls ins Wasser gleiten ließ. Mit dem Bonus von Umi hatte ich es mit einem zusätzlichen starken Monster zu tun.
 

„Nässt du dich schon ein?“
 

Ich hasste diese Wortspiele jetzt schon. Meine nächste Karte war mein Rotauge. Würde er auch in den Fluten versinken? Konnte ich es riskieren, ihn zu spielen? Da war wieder einmal Mahads Fachwissen und sein kühler Kopf, der meine Zweifel beiseiteräumte.
 

„Ich rufe den Schwarzen Rotaugendrachen aufs Feld!“
 

Aus einem Kaleidoskop an Farben schälte sich mein Drache. Brüllend spreizte er die Flügel und der damit verbundene Windstoß ließ zwei riesige Flutwellen entstehen, die das überschüssige Wasser von der Plattform verdrängte. Mit einem lauten Schnauben setzte er die krallenbewehrten Füße auf festen Untergrund und starrte drohend auf Mako hinab. Die Mengte tobte indes mehr denn zuvor.
 

„Nett. Eine so seltene Karte.“
 

„Eine meiner Seltensten.“
 

„Dann wirst du gleich etwas sehr Kostbares verlieren!“
 

Mako zog seine nächste Karte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen musste er etwas verdammt Gutes gezogen haben.
 

„Als nächstes rufe ich meine mächtigste Karte aufs Feld – Festungswal erscheine!“
 

Der Himmel verdunkelte sich, als über uns ein riesiger Wal erschien. Dagegen wirkte Connor wie ein kleines Baby. Auf seinem Rücken waren mehrere Geschütztürme montiert und aus seiner Nase wuchs ein riesiges Horn. Laut grollend schwebte das Monster in der Luft, bevor es ins Wasser hinabtauchte. Mit dem Umi-Bonus war das Ding auch stärker als mein Rotauge. Na fein.
 

„Zwei Runden noch“, setzte mich Mako unter Druck.
 

„Das reicht völlig aus“, murmelte ich gedankenverloren und zog meine nächste Karte. Salamandra – die hätte ich für Garoozis gebraucht.
 

„Ich passe.“
 

Mako schnappte sich seine nächste Karte und trippelte ungeduldig auf den Oberarmen herum. „Nächste Runde wird dich die Flut verschlingen“, versuchte er mich einzuschüchtern. „Ich beende meinen Zug.“
 

Als ich meine nächste Karte zog, verblassten die Lichtschwerter langsam. Drei Runden waren vorüber. Ich hatte auf den Beauftragten der Dämonen gehofft, aber etwas Anderes erhalten. „Meteordrache.“ Kaiba hatte mir eine interessante Verwendungsmöglichkeit für das mittelmäßige Monster gezeigt. Ich hätte nervös sein müssen, aufgebracht, weil mein ursprünglicher Plan nicht funktioniert hatte, nämlich den Schwarzen Totenkopfdrachen zu rufen, aber stattdessen blieb ich total ruhig. Ich blendete die Fans im Stadion aus, auch alle anderen Gedanken und konzentrierte mich voll und ganz auf das Duell.
 

„So wie ich den Typen einschätze, hat er sein gesamtes Deck rund um diese Umi-Karte aufgebaut. Wenn wir die vernichten, dann nehmen wir ihm jegliche Perspektive“, sagte ich zu Mahad in meinen Gedanken.
 

„Das denke ich auch. Ich weiß auch schon, wie wir das anstellen.“
 

„Als Erstes rufe ich den Meteordrachen aufs Feld, und zwar im Angriffsmodus!“
 

Neben meinem Rotauge erschien ein Steinbrocken, ein Meteorit um genau zu sein, aus dem sich Klauen, Schädel und Flügel zwängten.
 

„Jetzt fusioniere ich meine beiden Monster um den Schwarzen Meteordrachen zu rufen!“
 

Die Fusionskarte tat ihre gewünschte Wirkung. In einem wabernden Kreis verschmolzen meine beiden Monster. Zischend verfärbte sich der Körper meines Rotauges von Schwarz zu Lila. Hals- und Brustpanzerplatten wurden mit Meteoritengestein überzogen. Aus dem Nacken brachen Stacheln hervor, und pulsierende, rote Muster schillerten im Licht der Sonne. Lava tropfte aus dem Maul des neuen Drachen, genauso wie über seine Armklauen. Das Wasser rund um uns herum begann zu kochen.
 

„Was ist das?“, fragte Mako entsetzt und machte einen Schritt nach hinten.
 

„Der Sieg“, beantwortete ich seine Frage.
 

Der Fischer brauchte einen Moment, um sich zu fangen. „Du kannst trotzdem nicht angreifen. Umi beschützt meine Monster. Außerdem ist dein Drache vom Typ Feuer, er verliert 200 Angriffs- und Verteidigungspunkte.“
 

Tatsächlich wurde mein Schwarzer Meteordrache schwächer. Mit 3.300 Angriffspunkten war er zwar noch immer sämtlichen Monstern von Mako gewachsen, aber ich konnte nicht angreifen, da hatte er Recht. Dafür hatte ich mir aber auch schon etwas überlegt.
 

„Ich verstärke meinen Drachen mit der Zauberkarte Salamandra.“
 

Mein Drache reckte den Kopf zur Seite, als die Muster auf seinem gesamten Körper entflammten. Nach kurzer Zeit war mein Monster zu einem einzigen Feuerball mutiert. Dampfend löste sich das Wasser rund um uns herum auf. Heißer Wind schlug mir ins Gesicht und wirbelte die Bänder meines Pullis auf. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, während ich zusah, wie der holografische Teil des Beckens austrocknete.
 

„Aber…“, stotterte Mako.
 

„Salamandras Hitze vertreibt nicht nur das Wasser und zerstört damit auch Umi, es erhöht die Angriffspunkte meines Drachens um 700. Da deine Zauberkarte keine Wirkung mehr hat, erhält er seine ursprünglichen 200 Punkte ebenfalls zurück.“
 

Ein 4.200er Drache starrte auf Makos Monsterbrigade hinab, die in der Luft zappelten, mal abgesehen vom Festungswal, der noch immer erhaben vor sich hin schwebte.
 

„Wie hast du…?“, stammelte Mako und sah dabei zu, wie seine Umi-Karte in tausend Teile zersplitterte.
 

„Angst vor einem Sonnenbrand?“, grinste ich süffisant.
 

„Das ist unmöglich. Du hast in nur drei Runden ein Supermonster aus dem Hut gezaubert.“
 

„Wie du siehst, ist es möglich. Und nun, Schwarzer Meteordrache…“
 

„Das ist nicht nötig“, fiel mir Mako ins Wort und legte seine linke Hand auf das Kartenfach an der Duel Disk. Das Zeichen dafür, dass er aufgab. „Ich habe nichts in meinem Deck, das diesem Ungetüm gewachsen wäre.“
 

Ich hatte gewonnen, und das, ohne auch nur Makos Lebenspunkte anzukratzen. Im Stadion war es totenstill geworden. Die Hologramme verschwanden und für einen kurzen Moment wollte ich mir in den Arm kneifen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumte. Als ein Chor aus Stimmen meinen Namen rief, und Mako lachend auf mich zukam, kapierte ich, dass ich tatsächlich gewonnen hatte.
 

„Meinen Respekt. Du hast mich in meinem eigenen Terrain vorgeführt. Ich habe viel von dir gelesen, David, aber geglaubt, Kaiba hätte deine Fähigkeiten ein wenig auffrisiert. Ein Fehler, der mich das Duell gekostet hat. Ich habe dich unterschätzt.“
 

Grinsend streckte er mir die Hand entgegen, die eine durchsichtige Karte, sowie seinen Festungswal umschlossen hielt.
 

„Das kann ich nicht annehmen“, schüttelte ich den Kopf, die Arme noch immer vor der Brust verschränkt.
 

„So sind aber die Regeln. Hier, nimm sie. Meinen Ersten hat Joey an sich gerissen, da kommt es darauf auch nicht mehr an. Du hast mich schwer beeindruckt.“
 

„Du hast dich mit Joey Wheeler duelliert?“
 

„Klar, sogar hier, an dieser Stelle. Connor war etwas jünger, stimmts?“
 

Zur Bestätigung blies der Killerwal eine Fontäne in die Luft.
 

„Dann, danke Mako“, murmelte ich und nahm meinen Preis entgegen.
 

„Wer so furchtlos den Fluten trotzt, der hat es sich verdient, dass sie ihn tragen. Pass gut auf meinen Festungswal auf, ja?“
 

Mako zog mich grob in eine Umarmung, die für meinen Geschmack einen Ticken zu lang dauerte, bevor er sich wieder von mir löste. Er roch nach Salz, Schweiß und Meer. Außerdem war jetzt meine Kleidung feucht.
 

„Nur an deiner Einstellung müssen wir noch arbeiten“, grinste er, als er mein finsteres Gesicht bemerkte.
 

„Ich werde mir Mühe geben.“ Auf meine Lippen stahl sich ein schiefes Lächeln. Der Typ war weit weniger Aufschneider, als ich zuerst angenommen hatte. Das war einfach seine Art. Rau wie die See, oder so ähnlich.
 

Ich verabschiedete mich von Mako und begab mich, beschallt von einem Chor, der meinen Sieg besang, zu Herrn Muto. Der alte Mann lächelte stolz.
 

„Das ist auf ihren Mist gewachsen.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
 

„Ist es“, nickte er bekräftigend. „Du hast dich mehr als gut geschlagen. Ich weiß jetzt, was Yugi und Joey meinten. Letzterer hat sich an Mako fast die Zähne ausgebissen.“
 

„Ich habe meine noch alle, danke der Nachfrage.“
 

Herr Muto lachte schallend, und auch wenn ich es ihm ein wenig Übel nahm, dass er mich unter einem Vorwand ins Stadion geschliffen hatte (wahrscheinlich wusste er sogar von meiner Apathie gegen Wasser), so konnte ich ihm nicht lange böse sein. Mein erstes Duell war mehr als nur gut verlaufen. Von den Raritätenjägern fehlte jede Spur. War das gut oder schlecht?

Eine (folgenschwere) Verwechslung

Nach meinem ersten Duell lud ich Herrn Muto auf einen Milchshake ein. Yugis Großvater hegte die gleiche Vorliebe wie ich für die zuckerhaltigen Getränke. Wir unterhielten uns gerade darüber, was unsere Lieblingssorte ist, als uns drei Typen den Weg versperrten. Das Trio wirkte ein wenig komisch: Da war einmal ein Kerl, kleiner noch als ich, mit einem aschfahlen Gesicht und einer blauen Stachelfrisur, die der von Yugi Konkurrenz machen konnte. Er hatte eine Duel Disk am Arm.

Sein Freund trug eine pseudomäßige Sonnenbrille und dunkelrotes Haar. Sorgen machte mir nur der Riese, der nicht nur groß war, sondern auch breit wie ein Schrank. Alle drei starrten mich zeitgleich an.
 

„Ist etwas?“, fragte ich bemüht lässig.
 

„Das muss der Typ sein! Auch wenn er anders aussieht als beim letzten Mal“, kommentierte der Große. Stimme und Wortbetonung drängten mir sofort den Gedanken auf, dass er wahrscheinlich nicht das helle Köpfchen der Gruppe sein würde.
 

„Beim letzten Mal?“, fragte ich.
 

„Ja“, antwortete der Rothaarige.
 

„Egal, ich fordere dich zum Duell heraus“, kreischte der Kleine und schenkte mir einen hasserfüllten Blick.
 

„Jungs, seid ihr euch sicher, dass ihr mit mir kämpfen wollt?“ Ich schob mich reflexartig zwischen den Großen und Herrn Muto. Irgendetwas sagte mir, dass die Drei nicht fair spielen würden.
 

„Halt die Klappe und lass dich von Bonz fertig machen“, knurrte mein Gegenüber und knackte bedrohlich mit den Fäusten.
 

„Na, wie ihr meint“, murmelte ich. „Was halten Sie davon, wenn Sie uns inzwischen die Milchshakes holen, Herr Muto?“
 

„Das halte ich auch für eine gute Idee.“
 

„Nein, der Alte bleibt hier…das wird ein privates Duell.“
 

„Zygor, schon gut. Wir sind nur am Kleinen interessiert“, versuchte der Rothaarige seinen aufgebrachten Riesenfreund zu beruhigen.
 

„Nein, ich sage, wir behalten ihn als Faustpfand, falls er Mätzchen macht“, maulte Zygor und geriet mit seinem Partner heftig aneinander.
 

„Was sind das bloß für Pausenclowns?“, fragte ich mich in Gedanken und musste dem Drang widerstehen, den Kopf zu schütteln.
 

„Also, bringen wir es hinter uns, oder was? Ich bin durstig und ich mag es nicht, wenn man meine Begleitung bedroht“, mischte ich mich in das Streitgespräch ein und schob meine Augenbrauen nach unten. Um uns herum hatte sich bereits eine Traube an Schaulustigen gebildet. Für Yugis Großvater drohte damit schon mal keine Gefahr mehr – wenn nur ein paar Leute aus meinem Fanclub da waren, würden sie wohl mit drei so Witzfiguren fertig werden. Außerdem waren da noch immer Kaibas Aufpasser, die ja über die Stadt verteilt Dienst schoben.
 

„Da ist wer gierig drauf zu verlieren. Dann…“ Der kleine Knilch, Bonz, aktivierte seine Duel Disk, und ich tat es ihm gleich.
 

„Duell!“
 

„Beeile dich aber, ja? Ich bin nämlich auch durstig“, jammerte Herr Muto im Hintergrund.
 

Der Milleniumsring an meiner Brust glühte auf und ich verschmolz wieder mit meinem früheren Ich. Sofort erfasste mich eine angenehme Wärme, die sich, vom Schmuckstück ausgehend, in meinem gesamten Körper ausbreitete. Ich zog meine Karten und konnte aus dem Augenwinkel heraus beobachten, wie das Trio zeitgleich zurückschreckte.
 

„Lass dich nicht verunsichern, Bonz. Dieses Mal sind Leute anwesend“, sagte Sid und sah mich an, als wäre ich der Teufel in Person.
 

„Schon gut, ich fange an und spiele Zanki im Verteidigungsmodus.“ Bonz legte die erste Monsterkarte aufs Feld. Ein blauhäutiger Samurai in roter Rüstung, mit einem Katana bewaffnet, erschien auf dem Spielfeld, während sich immer mehr Menschen um uns drängten. Der Kämpfer hielt seine Waffe abwehrend vor sich.
 

„Damit beende ich meinen Zug.“
 

Ich zog meine rechte Braue in die Höhe. War das sein Ernst? Ein schwaches Monster, dazu keine verdeckte Karte? War der Typ ein Anfänger, oder was war los?
 

„Sicher, dass du fertig bist?“, erkundigte ich mich. Auch wenn ich sauer war, weil der Große geglaubt hatte, er könne Herrn Muto irgendwie als Pfand benutzen, so taten mir die drei irgendwie leid. Trotz ihrer komischen Art wirkten sie irgendwie verloren und deplatziert.
 

„Natürlich“, fauchte Bonz.
 

„Na, wie du meinst. Ich rufe Gaia den Ritter der Finsternis aufs Feld.“
 

Mit den Hufen scharrend erschien mein Ritter auf dem Feld. Die zwei roten Lanzen reckte er in die Höhe, während sein Ross wiehernd auf die Hinterbeine stieg. Schnaubend setzte sich das Pferd in Bewegung und Gaia durchbrach Zankis Verteidigung mühelos. Laut kreischend wurde der Samurai aufgespießt und zersprang dann in tausend Teile.
 

Bonz zog unbeeindruckt seine nächste Karte.
 

„Ich rufe den Kriechdrachen aufs Feld, ebenfalls im Verteidigungsmodus. Außerdem spiele ich die Karte Ödland.“
 

Während sich ein schwächlich anmutender Drache materialisierte, der aus milchig-trüben Augen zu Gaia hinaufschaute, verwandelte sich das Gebiet um uns herum in ein kahles, braches Ödland. Wo sich noch vor einem Augenblick die Parkanlage von Domino City befunden hatte, prangte nun ausgedörrtes, rissiges Erdreich. Hätte ich es nicht besser gewusst, wäre ich der irrigen Annahme unterlegen, wir hätten die Gegend gewechselt. Kaibas Hologramme waren wirklich täuschend echt.
 

„Kommt da noch was?“, fragte ich vorsichtig und schaute auf die Angriffs- und Verteidigungspunkte des Kriechdrachens. Mit seiner Ödlandkarte hatte sich exakt gar nichts verändert.
 

„Nein, ich bin fertig“, antwortete Bonz.
 

„Sehr gut, Bonz“, feuerte Sid seinen Kumpel an.
 

„Die haben wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank“, murmelte ich, zog meine nächste Karte und ließ Gaia auch den Kriechdrachen vernichten, der fauchend mit der Lanze des Ritters Bekanntschaft machte.
 

„Ich lege außerdem noch eine Karte verdeckt aufs Feld, und beende meinen Zug.“
 

„Sehr gut, und als Nächstes rufe ich den Krassen Clown aufs Feld, wieder im Verteidgungsmodus!“
 

Mit einem äußerst grotesk wirkenden Lachen erschien ein wirklich hässlicher Clown, der, mit einer Sense bewaffnet, auf einem zu groß geratenen Gummiball balancierte. Wieder ein so schwaches Monster. Was hatte der Typ vor?
 

„Jaja, ich weiß schon, du beendest deinen Zug“, seufzte ich und zog meine nächste Karte.
 

„Ich rufe Alligatorschwert aufs Feld.“
 

Zu meinem Ritter gesellte sich ein Alligator in Rüstung, mit einem großen Krummsäbel bewaffnet.
 

„Alligatorschwert, mach aus dem Clown Partyhäppchen, Gaia, greif danach Bonz´ Lebenspunkte direkt an.“
 

Gesagt getan. Der Clown wurde, unter dröhnendem Lachen seinerseits, in tausend Teile zerschlitzt, während sich Gaia auf den kleinen Duellanten stürzte, der sich nach der Attacke schwer keuchend auf den Beinen hielt. Noch so einen Angriff würde er nicht überstehen.
 

„So, und jetzt Bonz, mach ihn fertig!“ Zygor hatte die Hände in die Hosentasche geschoben.
 

„Noch einmal machst du mich nicht fertig. Ich spiele den Schrei der Untoten!“
 

Als die komische Fallenkarte die Duel Disk berührte, riss der vertrocknete Boden auf. Stöhnend kamen verrottete Gliedmaßen und Klauen zum Vorschein, zu denen sich passende Körper gesellten. Dem Clown fehlte ein Auge, Zanki hatte einige Pfeile im Rücken stecken und der Kriechdrache war jenseits von Gut und Böse. Einige der umstehenden Zuschauer schrien auf. Ich zog meine Augenbrauen zusammen – die Monster waren gleich schwach wie ihre lebenden Pendants. Was sollte das werden?
 

„Der Schrei der Untoten ist eine permanente Fallenkarte. Meine Monster kehren immer wieder zurück, unbeschadet, egal wie oft du sie angreifst. Außerdem steigen ihre Angriffspunkte um jeweils zehn Prozent pro Wiedergeburt. Um das Ganze ein wenig spannender zu gestalten rufe ich Pumpking, den König der Geister aufs Feld.“
 

Zu den drei schwachen Monstern gesellte sich ein riesiger Kürbis mit einem großen Auge auf der Stirn und einer Krone auf dem Haupt. Seine wild umherpeitschenden Ranken verbanden sich mit den anderen Zombies und pumpten irgendetwas in diese hinein. Der dabei verursachte Laut klang dermaßen widerlich, dass mir beinahe schlecht wurde.
 

„Pumpking, als König der Geister, hat die Spezialfähigkeit „Ektoplasmatische Fortifikation.“ Damit erhalten alle Zombiemonster zusätzlich zehn Prozent Angriffsstärke pro Runde. Ich spiele außerdem noch den Alptraumkäfig.“
 

Um mich und meine Monster herum bildete sich ein Konstrukt aus dicken Stahlstreben, die miteinander eine Art Käfig bildeten.
 

„Für die nächsten zwei Runden kannst du nicht angreifen.“
 

Bonz tat so, als hätte er irgendetwas erreicht oder schon gewonnen. Der Typ hatte echt keine Ahnung, was Duelle anging.
 

„Ah ja, gut. Du kannst mich aber auch nicht angreifen.“ Ich zog meine nächste Karte. Meine Lust auf dieses Duell hielt sich echt in Grenzen. Da war keine Spannung, wie bei Mako oder im Königreich der Duellanten.
 

„Ich opfere meine beiden Monster auf dem Feld um den Soldaten des Schwarzen Lichts zu rufen.“ Mittels Knopfdrucks an meiner Duel Disk drehte ich meine verdeckte Karte auf: Das Ritual des Schwarzen Lichts. Gaia und das Alligatorschwert wurden in zwei brennende Töpfe gesogen, deren Feuer grell aufflammte, bevor sich eine dunkle Eisentür aus dem Nichts schälte, auf der zwei gekreuzte Schwerter und ein prunkvoller Schild prangten. Mit einem Ruck wurde die Tür aufgestoßen und der grünhäutige, schwer gepanzerte Ritter trat daraus hervor. Drohend reckte er den Säbel gen Bonz´, der nur höhnisch lachte.
 

„Du kannst mich trotzdem nicht angreifen. Außerdem kommst du nie an meinen Monstern vorbei. Und jetzt, Pumpking, verstärke meine Monster!“
 

Wieder dieses widerlich pumpende Geräusch, kombiniert mit einem schmatzenden Laut und drei Monstern, die immer größer und auch stärker wurden. Darüber musste ich mir aber erst in einigen Runden Gedanken machen: Die Zombies waren noch immer entsetzlich schwach auf der Brust.
 

„Hör mal. Vielleicht hast du dir da echt den falschen Gegner ausgesucht? Ich meine, du hast bisher echt nichts vorzuweisen. Deine Monster sind total schwach, auf Fallen- und Zauberkarten scheinst du größtenteils zu verzichten – was wird das, wenn es fertig ist?“
 

„Wir wollen uns dafür rächen, was der weißhaarige Typ mit dem Ring uns angetan hat“, schnaubte Zygor, kassierte dafür aber gleich einmal von Sid einen Stoß gegen die Brust.
 

„Weißhaariger Typ? Was?“
 

„Halt die Klappe Zygor. Ich mache das schon.“
 

„Jungs, ich weiß nicht, was euch passiert ist, aber, ich habe damit nichts zu tun. Das muss der vorige Ringträger gewesen sein.“
 

„Mir egal. Wir werden das Ding nachher kaputt machen!“ Zygor reckte triumphierend die Hand in die Höhe.
 

„Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen.“
 

Meine Gedanken schweiften ab, während Bonz ein weiteres schwaches Monster, den Geist der Medusa, aufs Feld rief. Selbst mit dem Power-Bonus von Ödland waren seine Kreaturen bestenfalls eine mittelmäßige Verteidigung. Ihre Verteidigungsstärke lag bei null. Mir kam dieses Setting bekannt vor. Hatte nicht Joey einmal von so einem Duell erzählt? Was mich aber weit mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass Bakuras böses Ich, das nahm ich einmal schwer an, den Dreien übel mitgespielt haben musste. Das erklärte auch, warum sie sich vorhin kurz gefürchtet hatten, als ich mit Mahad verschmolzen war. Mein Mitleid mit den Dreien wuchs. Unter anderen Umständen hätte ich wohl aufgegeben und Bonz den Sieg überlassen, aber gerade jetzt konnte ich mir das nicht leisten.
 

„Na los! Greif mich an!“, forderte mich Bonz auf.
 

Ich zögerte.
 

„Was ist denn passiert, als ihr das letzte Mal mit dem vorigen Ringträger Bekanntschaft gemacht habt?“
 

„Ganz schlimme Dinge. Wir waren an einem Ort, da wo niemand hinwill. Ich will da nicht noch einmal hin. Die kriechenden Schatten und die ewige Dunkelheit… Los Bonz, mach den Typen fertig!“
 

Von was faselte dieser Zygor da?
 

„Der böse Bakura muss sie ins Reich der Schatten geschickt haben“, meldete sich Mahad zu Wort, während sich die drei wieder stritten, Zygor möge doch endlich seinen Mund halten.
 

„Was? Du hast mir einmal erzählt, dass es von dort keine Rückkehr gibt.“
 

„Das stimmt so nicht ganz. Es gibt durchaus Möglichkeiten. In dem Fall wohl, weil der Ring seinen Besitzer gewechselt hat.“
 

„Und was machen wir jetzt mit den drei Aufschneidern?“ Ich war zugegebenermaßen ratlos.
 

„Sie besiegen?“ Mahad zuckte innerlich mit den Schultern.
 

„Uns wird wohl nichts Anderes übrig bleiben…“
 

„Soldat des Schwarzen Lichts – greif Pumpking an.“
 

Der metallene Rahmen um mich herum löste sich auf. Kunstvoll ließ mein gepanzerter Streiter seine Waffe durch die Luft wirbeln. Ein violett-grünliches Feuer umzüngelte die Klinge, ehe sie sich in den Kürbiskopf fraß, der wehklagend auf den Kartenfriedhof wanderte. Blieben noch 600 Lebenspunkte für meinen Gegner.
 

„Was machst du da? Du sollst meine anderen Zombiemonster angreifen!“, zeterte Bonz und reihte wüste Beschimpfungen aneinander, während er mir mit der Faust drohte.
 

„Es tut mir leid, was euch passiert ist, aber dafür kann ich nichts. Der Ring gehört zu mir, das stimmt. Für die Taten seines vorigen Besitzers bin ich jedoch nicht verantwortlich. Eigentlich würde ich euch gewinnen lassen, aber das kann ich nicht.“
 

Ich spielte zwei Karten verdeckt und wartete auf die nächste Runde.
 

„So, aber jetzt! Als Erstes rufe ich Zoa aufs Feld und kombiniere ihn mit der Karte Metallmacht!“
 

Zu meinem großen Erstaunen kam nun tatsächlich ein starkes Monster zum Vorschein. Ein komisch anmutender, tierhafter Dämon von blauer Haut, mit großen Krallen, platzierte sich vor der Zombiearmee. Gleichzeitig wandelte sich sein Aussehen, wurde metallischer, maschinenhafter. Mit dem Feldbonus kletterten seine Angriffspunkte auf 3.200.
 

Das war schon eher ein gefinkelter Zug gewesen, aber auch nicht mehr als ein schwaches Aufbäumen seitens meines Gegners. Wie ein sterbender Schwan, oder so ähnlich.
 

„Metallzoa, greif an! Verwandle seinen Soldaten des Schwarzen Lichts in einen Blechhaufen!“
 

„Tut mir leid, aber daraus wird wohl nichts. Als Erstes aktiviere ich die Karte Königlicher Erlass. Diese Karte annulliert sämtliche Fallenkarteneffekte auf dem Feld, also auch deinen Schrei der Untoten.“
 

Bonz´ Augen wurden immer größer, als seine Zombiemonster wieder sterblich wurden. Zerstörtes Gewebe regenerierte sich, genauso wie schwärende Wunden sich schlossen. Die drei ehemals untoten Kreaturen schrumpften auf ihre ursprüngliche Größe zusammen, schwach wie eh und je.
 

„Jetzt decke ich meine zweite Karte auf – Schwarzes Loch. Sie zerstört automatisch alle Monster auf dem Feld.“
 

Ein weiteres Drücken an meiner Duel Disk drehte die andere verdeckte Karte auf. Der Himmel über uns verdunkelte sich. Ich musste mich mit aller Kraft gegen die Wirkung der Zauberkarte stemmen. Ein heftiger Wind zerrte an mir. Die Hologramme waren für meinen Geschmack einen Ticken zu echt. Unsere Monster wurden jedenfalls ausnahmslos in das Schwarze Loch gesogen.
 

„Du Idiot! Was hast du getan? Meine schönen Zombiemonster!“, jammerte Bonz.
 

„Gib einfach auf“, schlug ich vor und strich meinen Pulli glatt.
 

„Niemals! Ich lege eine Karte verdeckt ab und beende meinen Zug.“
 

Wie konnte man nur so stur sein? Ich zog meine nächste Karte, die das Spiel auch entscheiden würde.
 

„Dann tut es mir leid. Ich spiele Monsterreanimation und hole meinen Soldaten des Schwarzen Lichts vom Friedhof zurück.“
 

„Oh nein!“, rief Sid bestürzt.
 

„Königlicher Erlass ist noch immer aktiv – deine Fallenkarte, wie ich vermute, funktioniert daher nicht.“
 

Mein Krieger kehrte vom Friedhof zurück, mächtig wie die Runde zuvor. Herausfordernd schlug er sein Schwert gegen den Schild und wartete auf meinen Befehl zum Angriff, der auch gleich folgte. Einen sauberen Schnitt später fiel Bonz auf die Knie und ließ enttäuscht den Kopf hängen, als seine Lebenspunkteanzeige auf null wanderte. Die Hologramme lösten sich auf.
 

„Warum habe ich schon wieder verloren?“ Der Kleine hämmerte mit den Fäusten wie wild auf den zurückgekehrten Asphalt.
 

„Schon gut“, sagte ich und ging auf meinen Gegner zu. Die Leute um uns herum starrten, als wären wir die Hauptattraktion. Wahrscheinlich hielten sie Bonz für verrückt, genauso wie seine Freunde, oder einfach nur für sehr schlechte Verlierer.
 

„Nichts ist gut.“
 

„Doch. Du musst einfach aufhören, mit Wut und Hass im Herzen zu kämpfen.“
 

Warum sagte ich so etwas? Das klang absolut bescheuert, und doch fühlte es sich richtig an.
 

„Komm, steh auf.“ Ich streckte dem Kleinen die Hand hin, die dieser nur ungläubig anstarrte.
 

„Aber…“
 

„Du kannst auch deine seltene Monsterkarte behalten, wenn du mir versprichst, dass du dich darum bemühst, Duelle aus Spaß auszutragen, und nicht, um irgendwelche Rachegelüste zu befriedigen. Duelliere dich fair und mit Herzblut, dann wird es auch mit dem Gewinnen.“
 

Ich lächelte, als der kleine Zwerg meine Hand ergriff und ich ihn hochzog. Die drei wirkten noch immer wie eine abgehalfterte Straßengang, aber, das konnte ich ihnen zumindest teilweise nicht verdenken. Wenn sie wirklich im Reich der Schatten gewesen waren, durften sie so drauf sein.
 

„Warum bist du so nett?“, fragte Bonz und rieb sich mit dem Ärmel über feuchten Augen.
 

„Du hast mir doch nichts getan, oder?“, beantwortete ich seine Frage sanft.
 

„Der Chef hätte uns fallengelassen“, meldeten sich Sid und Zygor zu Wort, die auf uns zukamen.
 

„Ich aber nicht. Lasst es euch eine Lehre sein, Jungs. Wenn wir uns das nächste Mal duellieren, dann will ich eine echte Herausforderung, ja?“
 

„Klar!“, rief Bonz freudig und griff in seine Hosentasche. Er hielt mir eine Lokalisierungskarte entgegen.
 

„Die kann ich nicht annehmen“, schüttelte ich den Kopf.
 

„Natürlich kannst du. Du hast sie dir verdient.“
 

„In jedem noch so schlechten Wesen kann sich ein guter Kern befinden“, lächelte Mahad.
 

„Dann danke. Feuert ihr mich beim Finale an?“
 

„Klar!“, riefen alle drei wie aus einem Mund.
 

„Haltet die Ohren steif, ja?“, grinste ich und verabschiedete mich mit einem Handklatschen.
 

„Du weißt, dass sie Yugi und die anderen damals in der Höhle eingesperrt haben?“, fragte mich Herr Muto im Gehen.
 

„Natürlich, aber jeder hat einen Neuanfang verdient, denke ich zumindest.“ Mir war während des Duells schlussendlich eingefallen, um wen es sich handeln musste: Die Kumpanen von Bandit Keith. Joey hatte mir einmal davon erzählt. Ich schob meine Hände in die Hosentaschen und bemerkte, wie Yugis Großvater stolz lächelte. Wenn das so weiterging, würde mir der alte Mann wirklich ans Herz wachsen. Ein Stück Heimat, so fern von Japan, hier, gefunden in einem fast Fremden. Was ich jetzt wirklich wollte, das war ein Milchshake.

Ein schmucker Kompass

Herr Muto und ich standen gerade an um uns einmal Himbeere und Zitrone in Form eines Milchshakes zu bestellen, als mein Handy klingelte. Das Display zeigte Kaibas Namen, seine Privatnummer – das konnte nichts Gutes bedeuten.
 

„Ja?“, fragte ich und sah Yugis Großvater zu, wie er mit der jungen Verkäuferin anbändelte.
 

„Kleiner, wir haben ein Problem. Taylor und Mokuba sind entführt worden.“
 

„Was?“
 

„Yugi und ich sind beschäftigt. Du bist der Einzige der frei ist und fähig genug, dass ich ihm Mokuba anvertrauen würde.“
 

„Was ist bitte wichtiger als dein kleiner Bruder? Und wo steckt Yugi?“
 

Meine Fragen wurden beantwortet, als beinahe zeitgleich ein lautes Kreischen und ein raubtierhaftes Brüllen die Straßen von Domino City erzittern ließ. Slifers Körper verfinsterte im Westen den Himmel, während im Osten ein so grelles Licht aufleuchtete, dass ich für einen kurzen Moment glaubte, blind werden zu müssen. Obwohl ich die Karte noch nie gesehen hatte, wusste ich, dass es sich dabei um Ra handeln musste. Die Besucher des Turniers hielten das für besonders ausgeprägte Spezialeffekte. Wie sehr sie sich da mal täuschten. Das war keine Show, das war bitterer Ernst.
 

„Ich schicke dir einen Hubschrauber. Enttäusche mich nicht.“
 

Funkstille. War das sein verdammter Ernst? Eine Rettungsaktion? Alleine? Ihm war dieses Duell wichtiger als Mokuba? Ich hatte mich wohl doch schwer in ihm getäuscht. All die Veränderungen, seine gute Seite, weggewischt für ein Kartenspiel.
 

„Sei nicht so streng mit ihm. Er glaubt an dich, und vertraut dir den wichtigsten Menschen in seinem Leben an.“ Mahad erschien neben mir, durchsichtig und unsichtbar für die anderen um uns herum.
 

„Du hast gut reden. Ich würde ein Duell sofort abbrechen, um Joey oder Yugi zu finden. Dass du ihm jetzt noch hilfst, das verstehe ich überhaupt nicht.“
 

„Glaube mir einfach, wenn ich dir sage, dass Kaiba die Entscheidung nicht leichtgefallen ist.“
 

„Das fällt mir aber schwer“, war meine bissige Antwort. „Er hat sich das alles selbst eingebrockt. Ich war von Anfang an dagegen, dass er die Sicherheitsvorkehrungen für manche Bereiche der Stadt verringert.“
 

Gerade als Mahad etwas erwidern wollte, ertönte erneut das Brüllen von Slifer. Hoffentlich packte Yugi das. Beide sahen wir nach oben, als sich die Rotorengeräusche des Hubschraubers in die Laute des göttlichen Drachens mischte. Weiß, blankpoliert und mit dem KC-Logo versehen stand über uns ein Helikopter der Kaiba Corporation in der Luft. Eine Strickleiter wurde heruntergelassen. Ich nickte, und der Ring glühte auf.
 

„Herr Muto, bleiben Sie hier. Ich schicke jemanden, der Sie in Sicherheit bringt“, rief ich dem alten Mann noch zu, der mich mit offenem Mund, und unseren Milchshakes in den Händen, anstarrte, als ich nach der Leiter griff. Auch das wurde für einen Werbegag gehalten, was ich anhand der Wortfetzen, die ich mitbekam, schlussfolgerte. Ich kletterte nach oben, bis mir eine vertraute Hand entgegengestreckt wurde.
 

„Joey!“, rief ich und ließ mich von meinem Freund in den Helikopter ziehen.
 

„Ich hatte schon Schiss Kaiba würde auftauchen“, grinste der Blondschopf schief.
 

„Der hat keine Zeit. Was ist passiert?“
 

„Das erkläre ich dir auf dem Hinflug. Kaibas Fatzke will mit dir sprechen.“
 

Ich ging ins Cockpit während Joey die Tür zuzog. Ein mir unbekannter Pilot und Roland erwarteten mich tatsächlich bereits.
 

„Schön, dass Sie hier sind. Herr Kaiba hat uns angewiesen Ihren Anweisungen strikt zu folgen.“
 

Was? Meinen Anweisungen? War er jetzt von allen guten Geistern verlassen? Ich wusste ja nicht einmal was passiert war.
 

„Was ist denn überhaupt los? Kaiba meinte, Mokuba und Tristan seien entführt worden.“
 

„Das ist so auch korrekt. Herr Kaiba und Ihr Freund sind wie vom Erdboden verschluckt. Unser Satellitensystem kann sie nicht aufspüren. Wir haben schon alles versucht: Mokubas Laptop muss zerstört worden sein.“
 

Na bravo. Ich hielt mich an den Sitzen vom Piloten und einem nicht vorhandenen Co-Piloten fest, während ich nachdachte. Es war genau das eingetreten, was ich vermeiden hatte wollen: Unsere Freunde waren in diesen Wahnsinn mithineingezogen worden.
 

„Schicken Sie einen Trupp Wachleute hierher, die Herrn Muto an einen sicheren Ort bringen sollen. Ich werde kurz mit Joey sprechen. Fliegen Sie…“
 

Ja wohin denn? Die Stadt blind abzusuchen brachte nichts. Außerdem war da noch immer das Problem, dass sie für den Satelliten unsichtbar waren. Tristan trug keine Duel Disk, aber Mokuba hätte ein Signal von sich geben müssen.
 

„Fliegen Sie auf das Dach der Firma. Das ist der höchste Punkt in Domino City. Versuchen Sie weiterhin Mokubas Signal ausfindig zu machen. Wenn sich die Raritätenjäger melden, informieren Sie mich unverzüglich. Ich will außerdem, dass zwei weitere Hubschrauber losgeschickt werden, die Kaiba und Yugi abholen, sobald ihre Duelle abgeschlossen sind.“
 

„Jawohl!“
 

Hätte Roland noch salutiert, wäre ich mir vorgekommen wie Kaiba. Ich hatte wohl doch mehr von ihm angenommen, als mir bewusst war. Roland gab per Funk meine Anweisungen durch, als ich zu Joey zurückging, der auf einem der Stühle hockte und dabei wie ein aufgescheuchter Kanarienvogel wirkte.
 

„Joey? Du bist doch mit Tristan unterwegs gewesen?“
 

„Ja, war ich. Ich habe mich gerade mit einem von diesen Kuttenträgern duelliert und Tris hat mich angefeuert, als ein halbes Dutzend von denen aufgetaucht sind, und ihn in einen Kleinlaster gezerrt haben. Sie haben mir gedroht, dass ich ihn nie wiedersehe, wenn ich das Duell abbreche.“
 

„Schon gut, es macht dir keiner einen Vorwurf“, versuchte ich meinen Freund zu beruhigen und legte ihm meine Hand sanft auf die Schulter. „Was ist dann passiert?“
 

„Ich habe den Typen halt besiegt, aber da waren sie schon weg. Ich meine, was hätte ich tun sollen?“ Joey klang furchtbar enttäuscht und zornig.
 

„Nichts. Du hast richtig gehandelt. Keine Sorge, wir biegen das schon gerade.“
 

Das hörte sich weit zuversichtlicher an, als ich selbst war.
 

„Wo seid ihr denn gewesen?“
 

„Unten am Pier, da wo die neue Lagerhalle gebaut wird.“
 

Am Pier. Konnten sie vielleicht dort sein? Nein, das wäre zu einfach gewesen. Ich vermutete, dass sie sich irgendwo unter der Erde befanden, in einem Tunnel oder Keller, damit der Satellit Mokuba nicht orten konnte. Andererseits war Rolands Vermutung, dass sie den Laptop einfach zerstört hatten, auch naheliegend.
 

„Kannst du nicht versuchen sie mit deinem Ring zu orten?“
 

Joeys Frage riss mich aus meinen Gedanken.
 

„Wie meinst du das?“
 

„Naja, Bakura hat uns damit auch aus dem Labyrinth geführt, im Königreich der Duellanten.“
 

Der Ring baumelte an meiner Brust. Das konnte er? Wirklich?
 

„Einen Versuch ist es wert“, murmelte ich. „Funktioniert das überhaupt?“, fragte ich Mahad.
 

„Nun, ich weiß, dass man damit die anderen Milleniumsgegenstände aufspüren kann. Vielleicht hat der Ring im Laufe der Zeit, im Besitz von Bakura, diese Fähigkeit ein wenig adaptieren können?“
 

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich ganz auf Mokuba. An sein aufgewecktes Lachen, wie er mir um den Hals fällt, mir manchmal die Nerven raubt, seine Mädchenprobleme, als er das erste Mal zu mir „Bruder“ sagte.
 

„Es funktioniert!“, rief Joey aufgeregt.
 

Ich öffnete die Augen und tatsächlich: Die Stacheln des Ringes hatten sich aufgestellt und zeigten nach Norden.
 

„Schnall dich an“, sagte ich zu Joey und ging ins Cockpit zurück.
 

„Wir haben bisher noch nichts über den Aufenthaltsort von Mokuba und Ihren Freund herausfinden können.“ Roland klang geknickt.
 

„Schon gut, Roland. Wir fliegen nach Norden. Ich navigiere Sie.“
 

„Aber woher…“, fragte er, wurde aber sogleich von mir unterbrochen. „Vertrauen Sie mir einfach. Norden.“ Ich hielt den Ring in meiner Hand und gab die Richtung vor. Wir flogen im Zickzack durch die Stadt. Die Spitzen änderten immer wieder ihren Winkel. Entweder, das Ding funktionierte nicht, oder…
 

„Sie sind noch im Laster“, stellte ich fest.
 

„Was?“
 

„Natürlich. Darum bewegen wir uns. Wir folgen dem Straßenverlauf, schauen Sie doch.“
 

Ich deutete nach unten. Vor uns raste tatsächlich ein brauner Kleinlaster die Straße entlang. Der Fahrer musste entweder einen Bleifuß haben, oder er war auf der Flucht. Vor uns. Wir waren mittlerweile am Stadtrand angelangt, in der Nähe des alten Bürogebäudes der KC. Kaiba wollte es noch dieses Jahr dem Erdboden gleichmachen lassen, weil es eine Erinnerung an seinen Stiefvater darstellte.
 

„Das Bürogebäude ist ihr Stützpunkt. Ganz sicher. Bringen Sie uns aufs Dach. Danach verständigen Sie sofort Kaiba und Yugi, sowie den Sicherheitsdienst, oder wie heißt die Spezialeingreiftruppe? Kaiba Task Force?“
 

„Die Kaiba Force. Das würde aber für sehr viel Aufsehen sorgen. Herr Kaiba will sicher nicht, dass die Duelle dadurch unterbrochen werden.“
 

„Dann schicken Sie sie eben in zivil herum, oder mit dem Hubschrauber. Die Leute glauben doch sowieso, das hier sei alles ein weiterer Publicity Gag seitens der Kaiba Corporation.“
 

„Ich weiß nicht, ob ich das so genehmigen kann.“
 

„Das könne Sie. Erstens hat Kaiba Ihnen aufgetragen, meinen Anweisungen zu folgen, und zweitens bin auch ich ein Anteilseigner der Kaiba Corporation. Sehen Sie es als Auftrag von der dritthöchsten Stelle im Vorstand, oder so.“
 

„Natürlich“, fing sich Roland wieder. „Ihren Anweisungen wird entsprochen werden, Herr Pirchner.“
 

Joey saß noch immer wie auf heißen Kohlen in seinem Sitz herum. Einen Fallschirm hätte ich ihm jetzt nicht in die Hand gedrückt. Es wunderte mich, dass er noch nicht aus dem Hubschrauber gesprungen war.
 

„Wir haben sie gefunden, glaube ich.“
 

„Wirklich? Wo sind sie?“ Joey zerrte an seinem Gurt, ließ es dann aber bleiben, als ich mit dem Kopf schüttelte.
 

„Im alten Bürogebäude der Kaiba Corporation, beziehungsweise auf dem Weg dahin. Wir werden am Dach landen und uns um die Raritätenjäger kümmern. Ich habe schon Verstärkung angefordert. Kaibas Spezialtruppe wird den Laden auseinandernehmen. Hoffentlich können wir sie lange genug mit einem Duell beschäftigen.“
 

Ich hockte mich vor Joey hin und packte ihn an den Händen.
 

„Du versprichst mir, dass du keine Dummheiten machst, und wegläufst, wenn ich dir das sage?“
 

„Spinnst du? Ich lasse dich doch nicht alleine.“
 

„Du musst, sonst kann ich dich nicht mitnehmen.“
 

„Das…“
 

„Bitte“, sagte ich so leise, dass es unter dem ständigen Rattern des Hubschraubermotors unterging. Joey kämpfte sichtlich mit sich selbst, bis er schlussendlich nickte.
 

„Danke“, hauchte ich und küsste ihn zärtlich. Wer wusste, ob das nicht mein letzter Kuss sein würde? Den wollte ich wenigstens noch genießen.
 

Roland räusperte sich und wir lösten uns voneinander.
 

„Wir sind da“, murmelte er betreten.
 

„Danke Roland“, rief ich noch, als Joey die Tür aufzog und die Strickleiter ausrollte. „Ich weiß, warum Kaiba Sie schätzt. In den entscheidenden Momenten machen Sie das Richtige.“
 

Damit ließen wir uns auch schon nach unten, aufs Dach des Gebäudes, wo wir bereits erwartet wurden.

Masken sind etwas Grauenhaftes

Meterdicke Glasscheiben trennten uns von der allesverschluckenden Schwärze, die sich unter uns befand. Der Hubschrauber drehte bei und verschwand. Jetzt galt es auf Zeit zu spielen, bis die Kaiba Force eintraf. Lieber wäre mir natürlich gewesen, gleich herauszufinden, wo Mokuba und Tristan festgehalten wurden, doch da hatte jemand etwas dagegen.
 

„Sieh an, sieh an. Wir hatten wohl Recht, Lumis – Kaiba und Yugi sind zu beschäftigt um zu kommen, deswegen schicken sie ihre Handlanger.“
 

„Du hast wieder einmal voll ins Schwarze getroffen, Umbra. Dieses Mal sind wir aber noch besser vorbereitet.“
 

Das mussten Raritätenjäger sein. Beide waren in dunkle Kutten gekleidet. Ihr Gesicht war von einer Kapuze verdeckt, auf deren Stirn ein weißes Milleniumsauge prangte. Dazu zwei goldene Ketten am Kragen, die wohl die komisch anmutende Kluft zusammenhielt. Ihre jeweiligen Gesichtshälften waren von einer Maske verdeckt: Lumis der Kleinere trug eine weiße Maske, während Umbra das Gegenstück in schwarz und rot sein Eigen nannte.
 

„Wo sind Tristan und Mokuba?“ Joey hatte seine linke Hand zur Faust geballt.
 

„Gemach, gemach, kleiner Wheeler. Du wirst ihnen noch früh genug Gesellschaft leisten. Wir duellieren uns. Solltet ihr gewinnen, was nahezu unmöglich sein dürfte, verraten wir euch den Aufenthaltsort eurer Freunde. Verliert ihr aber…“
 

Umbra grinste breit und stampfte mehrmals mit dem Fuß auf.
 

„Dann werdet ihr im Reich der Schatten euer Dasein fristen. Fallen eure Lebenspunkte auf null, wird die Box neben euch das Glas zersplittern lassen und eine Existenz ewiger Qualen beginnt“, beendete Lumis den Satz seines Partners.
 

Da waren tatsächlich zwei kleine Kästchen, die die Zahl 4.000 anzeigten. Mein Gefühl sagte mir, dass das hier die Herausforderung werden würde, die ich im vorigen Duell vermisst hatte. Beide wirkten jetzt schon wie ein eingespieltes Team.
 

„Dann werden wir euch mal in den Hintern treten.“ Joey ballte seine rechte Hand selbstsicher zur Faust und ließ seine Duel Disk ausfahren.
 

„Moment, wer sagt, dass wir uns auf dieses Duell einlassen? Kaiba und Yugi werden bald hier sein“, entgegnete ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
 

„Ihr habt keine andere Wahl. Kaiba und Yugi sind zu beschäftigt. Sie kämpfen gerade um ihr Leben. Wir sind aber nicht an deinem Freund interessiert, sondern mehr an dem Ring an deiner Brust.“
 

Umbra deutete auf den Milleniumsring.
 

„Das ist egal. Ich werde mich mit David gemeinsam duellieren!“ So überzeugt hatte ich Joey schon lange nicht mehr erlebt.
 

„Ich befürchte, gegen die beiden werden wir Hilfe brauchen“, sagte ich zu Mahad.
 

„Sie sind äußerst gefährlich. Ich spüre etwas Uraltes und Mächtiges in ihrem Deck lauern.“
 

„Dann hoffen wir mal, dass wir gut genug sind.“
 

Ich ballte meine rechte Hand ebenfalls zur Faust und ließ meine Duel Disk zum Leben erwachen. Lumis und Umbra taten es mir gleich und zogen ihre Karten. Der Kleine erinnerte mich mit seiner plattgedrückten Nase und dem rundlichen Gesicht an ein vermenschlichtes Schwein. Dazu die kratzige, überhebliche Stimme…
 

„Nun denn, dann fangen wir an. Zuerst spiele ich, dann Joey, dann Umbra, dann du.“
 

„Na dann, Duell!“
 

Lumis grinste höhnisch, als er sein Blatt begutachtete.
 

„Da kommt Freude auf. Als Erstes spiele ich zwei Karten verdeckt und rufe dann gleich Alpha den Magnetkrieger im Angriffsmodus auf!“
 

Ich kannte dieses Monster. Yugi hatte es in seinem Deck. Eine Maschine, mit Schwert und Schild bewaffnet, auf dem ein Magnet prangte. Drohend schwenkte das Monster ungelenk seine Waffe und piepte dabei mechanisch. 1.400 Angriffspunkte – das war überschaubar.
 

„Das soll alles sein? Schwach. Jetzt werde ich euch mal zeigen, warum sich niemand mit Joey Wheeler anlegt. Ich lege eine Karte verdeckt ab und rufe Alligatorschwert auf, und zwar im Angriffsmodus!“
 

Alligatorschwert war stärker als Alpha, aber wir mussten auf der Hut sein. Mit den Kerlen war nicht gut Kirschen essen, und Lumis hatte bereits zwei verdeckte Karten gespielt.
 

„Der Tag wird immer besser, Lumis. Ich spiele ebenfalls eine Karte verdeckt und rufe Gamma, den Magnetkrieger aufs Feld.“
 

Zu Alpha gesellte sich Gamma, der rosane Magnetkrieger. Auf seiner Brust prangte ein blaues S und der Kragen seiner Rüstung bestand aus seinem Magneten. Zwei rudimentäre Flügel hielten das Monster in der Luft. 1.500 Angriffspunkte, mittelmäßig.
 

Mein Blatt war bescheiden. Ich hatte zwar ein vergleichsweise starkes Monster, die Rache des Schwertjägers, mit 2.000 Angriffspunkten auf der Hand, aber nichts, um gegen die verdeckten Karten vorzugehen. Gleich in der ersten Runde den Königlichen Erlass zu ziehen hätte uns viel Ärger erspart. So blieb mir nichts anderes übrig als Joeys Taktik zu verfolgen.
 

„Ich rufe die Rache des Schwertjägers aufs Feld.“
 

Vor mir erschien der furchterregende Schwertkämpfer mit dem großen Zweihänder und der Batman-Maske. Das Muskelpaket hielt die Waffe mit beiden Händen umklammert und fletschte die Zähne, während das Cape im aufkommenden Wind aufgebläht wurde.
 

„Außerdem spiele ich noch eine Karte verdeckt und beende meinen Zug.“
 

„Da sind zwei aber schon überfordert, wie mir scheint. Umbra, ich bin soweit. Spielen wir auf Nummer sicher, oder wollen wir Spaß haben?“
 

„Lumis, dieses Mal gehen wir auf Nummer sicher.“
 

„Könnt ihr zwei mal euer Kaffeekränzchen beenden, oder was ist los?“, zeterte Joey und wedelte mit seiner Faust. „Das ist ja nicht zum Aushalten.“
 

„Du hast es aber eilig ins Reich der Schatten zu kommen. Ich aktiviere die Zauberkarte Lichtschwerter. Die nächsten drei Runden könnt ihr uns nicht angreifen.“
 

Vor uns erschienen die mir bekannten und auch geschätzten Lichtschwerter, eine undurchdringliche Barriere.
 

„Dazu rufe ich außerdem noch Beta den Magnetkrieger aufs Feld.“
 

Auch der dritte Magnetkrieger erschien und hob drohend seine Magneten, die er als Waffen benutzte, in die Höhe. Mit 1.700 Angriffspunkten war deutlich stärker als Joeys Alligatorschwert, aber noch immer schwächer als meine Rache des Schwertjägers.
 

„Gemeinsam fusionieren sie zu Valkyrion, dem Superkrieger!“
 

Vor unserem Auge zerfielen die drei Magnetkrieger in ihre Einzelteile. Alpha, Beta und Gamma teilten sich, um ihre Bestandteile zu kombinieren. Alphas Schwert wanderte in eine gepanzerte Hand, während sich Betas und Gammas Schädelteile verbanden, miteinander verschmolzen und einen gelben Kopf bildeten. Gammas Flügel ragten aus dem Rücken des Superkriegers, der mit einer beängstigend hohen Angriffspunktezahl seine freie Faust ballte.
 

„Woah“, murmelte Joey. „Ich glaube, wir stecken in der Klemme.“
 

„Das ist erst der Anfang, kleiner Wheeler. Wir haben noch weit schlimmere Dinge in unserem Deck, die nur darauf warten, euch zu zerfleischen. Aber damit beende ich meinen Zug fürs Erste.“
 

Lumis genoss es, seine Überlegenheit zu demonstrieren. Wer konnte es ihm auch verdenken? Quasi aus dem Nichts hatten sie ein Wahnsinnsmonster gestampft, bei dem sogar ich mit meinen Karten stöhnte. Wenn Valkyrion wirklich nur eine von vielen Superkreaturen in ihrem Deck war, dann Gute Nacht.
 

„Okay, ich ziehe…“, sagte Joey und griff nach der nächsten Karte.
 

„Als Erstes rufe ich meinen Schwarzen Rotaugendrachen aufs Feld. Rotauge, erscheine!“
 

Es war ein wenig befremdlich, mein Monster in den Händen eines Anderen zu sehen. Natürlich war das Joeys Rotauge, das sich brüllend vor ihm aufbaute. Seine Karte, sein Beschützer, aber irgendwo versetze es mir einen kleinen Stich.
 

„Dazu lege ich eine weitere Karte verdeckt ab und beende meinen Zug.“
 

Mein Freund nickte mir zu. Unter normalen Umständen wäre das ein herausragendes Monster gewesen, zum Fürchten, doch in Anbetracht der Übermaschine vor uns – ich musste Joey einfach vertrauen.
 

„Na, dann wollen wir mal sehen, was mein Deck so hergibt. Sieh an, eine nette Karte, die ich mir für später aufhebe.“
 

Umbra grinste genauso fies wie Lumis, während er ein Monster aufs Feld rief.
 

„Also dann – ich rufe Leuchtender Abgrund im Verteidigungsmodus auf.“
 

Vor Umbra erschien eine Monsterkarte, die perfekt zu ihrem Herrn passte. Undurchschaubar, ohne wirkliches Gesicht, mit goldenen Metallflügeln und einem runden, blauen Körper. Das Wesen machte einen seltsamen Laut, wie ein schlecht geöltes Getriebe. Mit 1.600 Angriffspunkten wirkte sie ein wenig deplatziert, neben Valkyrion mit 3.500.
 

„Damit beende ich meinen Zug. Was wohl unser Ringträger aus dem Hut zaubert, hm, Lumis?“
 

„Das werden wir gleich sehen, Umbra. Sicher nichts, was es mit Valkyrion aufnehmen kann.“ Das Gackern des kleinen Giftzwergs ging mir jetzt schon auf die Nerven.
 

Meine nächste Karte war der Beauftrage der Dämonen. Ich hatte außerdem eine Fusionskarte auf der Hand. Der Schwarze Totenkopfdrache konnte es zwar in seiner Grundform nicht mit Valkyrion aufnehmen, aber vielleicht hatte Joey ja etwas in der Hinterhand, um ihn aufzupeppen. Er war jedenfalls ein besserer Schutzwall, als unsere einzelnen Monster.
 

„Als Erstes beschwöre ich den Beauftragten der Dämonen.“
 

Schillernd erschien der gehörnte Dämon mit den hervorstehenden Knochen und den nach unten gebogenen Hörnern. Grimmig bildete er mit den Klauen eine Art Trichter, der einen Blitz erzeugte.
 

„Dann fusioniere ich mein Monster mit dem von Joey um den Schwarzen Totenkopfdrachen zu erschaffen.“
 

Unsere beiden Kreaturen verschmolzen. Schwarze Panzerplatten wurden mit fauligem Fleisch ersetzt. Joeys Rotauge wuchs und wurde immer größer. Die Maserungen der Echse wandelten sich zu grünlichen Knochen, während sein Blick noch grimmiger wurde. Brüllend reckte das Wesen seinen Schädel in die Höhe.
 

„Spitzenzug, David!“
 

„Damit beende ich meine Runde.“
 

Wenn wir Glück hatten, verschaffte uns der Schwarze Totenkopfdrache ein wenig Zeit. Über kurz oder lang würde er uns aber auch nicht aus der Klemme helfen. Valkyrion war noch immer zu stark, und ich glaubte nicht, dass Lumis und Umbra logen, wenn sie behaupteten, noch stärkere Monster in ihrem Deck zu haben.
 

„Sieh an, Umbra. Ein wirklich starkes Monster. Kaiba und Yugi waren beim letzten Mal nicht so schnell, was die Teamarbeit anging, oder?“ Lumis´ Stimme triefte nur so vor Spott und Hohn.
 

„Woher denn, Lumis? Ich freue mich bereits darauf, ihren Teamgeist zu brechen.“
 

„Das wirst du nie schaffen, Großkotz. David und ich sind ein Team, genauso wie Yugi und ich!“ Joey zeigte sich kämpferisch. Eigentlich überspielte er damit nur seine eigene Unsicherheit, das wusste ich mittlerweile.
 

„Sei dir mal da nicht so sicher, Söhnchen. Was haben wir denn da? Ein weiteres Monster – ich rufe den Großen Tikki-Gott.“
 

Ein Monster mit einem dunklen Rock, mehreren Masken am Gürtel und einer schaurigen Fratze schwebte vor Lumis, der sich diebisch freute. Der Tiki-Gott wedelte mit seinen Händen herum, dass einem vom Zuschauen schwindlig wurde. Gleichstark wie Joeys Alligator-Schwert.
 

„Damit beende ich meinen Zug.“
 

„Euch gehen wohl doch die guten Monster aus, hm?“ Joey zog seine nächste Karte.
 

„Ich rufe den Flammenschwertkämpfer aufs Feld.“
 

Das war genau jenes Monster, das ich mit Joey verband. Groß, stark, mächtig, und muskulös stand der Flammenschwertkämpfer vor meinem Freund. Das orange Schwert wurde von Flammen umzüngelt, die die Klinge aufheizten.
 

„Das war es dann auch von mir.“
 

„Dein mickriger Schwertkämpfer wird dich nicht retten, Joey. Ich habe hier etwas auf der Hand, dass ihn ganz schön alt aussehen lässt. Willst du mal sehen?“
 

„Du bluffst doch nur, genauso wie du deine hässliche Fratze hinter einer Maske verstecken musst. Eigentlich hast du die Hose doch gestrichen voll.“
 

„Diese Arroganz, diese Überheblichkeit, köstlich. Wie du willst.“
 

Umbra schob eine Karte in seine Duel Disk.
 

„Ich spiele die Karte Zera-Ritual. Um sie zu aktivieren, opfere ich meinen Leuchtenden Abgrund, sowie den Großen Tiki-Gott von Lumis. Erzittert vor Zera Der Mant!“
 

Meine Augen wurden immer größer, als sich aus dem Opfer eine weitere Superbestie bildete. Das Monster erinnerte mich an Zoa, wenngleich auch deutlich furchteinflößender. Lange Krallen und Klauen verbanden sich mit einem knochigen Körper, der von schwarzem Fleisch durchzogen war. Ein spitziger Schwanz ragte unter dem Umhang hervor, der über den Rückenstacheln der Kreatur hing. Sein Schädel wirkte wie eine Mischung aus Alien und Riesenechse. Die Stirn ging gerade in den Kopf über. 2.800 Angriffspunkte starrten uns drohend entgegen.
 

„So, Ringträger – du bist dran. Der Meister freut sich schon darauf, dich persönlich kennenzulernen, nachdem du ihm so viel Ärger bereitet hast.“
 

Meister? Was?
 

„Ist Marik wieder böse geworden?“, fragte Joey und trippelte nervös auf seinem Oberarm herum.
 

„Nein, es hat sich jemand Anderer dazu entschlossen, die Raritätenjäger weiterzuführen. Du müsstest ihn gut kennen, Joey.“
 

„Was laberst du da für einen Scheiß, Alter? Ich kenne den Kerl sicher nicht, und wenn, dann würde ich ihm mal zeigen wo der Hammer hängt.“
 

„Ja, das habt ihr gemeinsam. Dieses störrische, aufbrausende.“
 

„Still, Lumis“, fiel Umbra seinem Gefährten ins Wort.
 

Ich schob etwaige Fragen und Gedanken beiseite. Wahrscheinlich wollten sie uns nur verwirren und vom Duell ablenken. Meine nächste Karte entpuppte sich als Topf der Gier, die ich auch sogleich spielte und zwei Karten nachzog. Die Zauberhüte und Salamandra. Wenn ich nur wüsste, was Joeys verdeckte Karte war. Einen Versuch war es wert, zumindest sein Alligatorschwert vor der Vernichtung zu retten. Die Lichtschwerter würden nämlich bald aufhören zu wirken.
 

„Ich lege eine Karte verdeckt ab und spiele die Zauberkarte Salamandra. Sie verschafft Joeys Flammenschwertkämpfer zusätzliche 700 Angriffspunkte.“
 

Joeys Flammenschwertkämpfer packte seine Klinge mit beiden Händen, um die sich nun eine drachenförmige Flamme bildete. Der Powerboost ließ die Angriffspunkte des Flammenschwertkämpfer auf 2.500 klettern. Ein kleiner Schub noch, und er würde zumindest Zera zerstören können.
 

„Außerdem versetze ich meine Rache des Schwertjägers in den Verteidigungsmodus und beende meinen Zug.“
 

Lumis zog seine nächste Karte und schüttelte den Kopf. „Da habe ich mir aber schon mehr erwartet. Der Meister meinte, du wärst nicht mehr als eine lästige Fliege, aber ich hatte doch auf eine kleine Herausforderung gehofft. Ich passe.“
 

„Die Herausforderung kommt schon noch, Kuttenträger. Ich spiele eine weitere Karte verdeckt und beende meinen Zug.“
 

Zwei verdeckte Karten. So wie ich Joey einschätzte, befanden sich darunter entweder die Teufels- oder Engelswürfel und der Kettenbumerang, oder beide Würfelkarten. Wenn wir gut würfelten, und die Karte mit dem Totenkopfdrachen verbanden, hatten wir eine Chance, Valkyrion in die Knie zu zwingen.
 

„Na denn, dann schauen wir mal, was ich sonst so noch hervorzaubern kann.“
 

Sie spielten mit uns, das war mir klar. Wir waren nicht Kaiba und Yugi. Uns musste schnell ein Plan B einfallen, falls der Totenkopfdrache in die Knie ging.
 

„Oh, Lumis, ich freue mich. Bald wird auch unser drittes Supermonster erscheinen, und dann zermalmen wir sie. Ich rufe Melchid, Bestie mit vier Gesichter im Verteidigungsmodus auf.“
 

Ein Zusammenschluss aus vier schaurigen Maskenfratzen drehte sich vor uns im Kreis und lachte, stöhnte, weinte und schrie dabei in einer Tour. Sicher ein weiteres Opfer für das nächste Monster. Ihre Decks ergänzten sich perfekt. Lumis wusste, was Umbra als Nächstes tun würde, und umgekehrt. Ich kannte Joey, und er mich, aber uns fehlte dieses Maß an Vertrauen. Energisch schüttelte ich den Kopf. Nein, ich vertraute meinem Freund und Duellpartner, wie ich es auch sonst tat. Ich brauchte etwas Starkes, oder die Exodia, die auf sich warten ließ. Wahrscheinlich hatten Lumis und Umbra sogar dafür Vorkehrungen getroffen. Meine nächste Karte waren die Drachenklauen. Das war zumindest etwas.
 

„Ich spiele die Karte Drachenklaue – sie verstärkt unseren Schwarzen Totenkopfdrachen um 600 Punkte. Damit ist er eurem Valkyrion überlegen.“
 

Schnaubend beobachtete der Drache, wie seine scheußlich anmutenden Krallen mit dicken Metallklauen überzogen wurden. Mit 3.800 Angriffspunkten war er das stärkste Monster auf dem Feld, doch das konnte sich bald wieder ändern.
 

„Mir schlottern die Knie, dir nicht auch, Umbra? Dann werden wir ihnen mal diesen Zahn ziehen. Ich rufe Sagi den Dunklen Clown auf, um ihn auch sogleich wieder zu opfern, gemeinsam mit dem Monster meines Mitspielers, um unser letztes Supermonster aufs Feld zu rufen. Erzittert vor der Maskierten Bestie Des Guardius!“
 

Und das dritte Supermonster erschien auf dem Feld. Ein rudimentär humanoider Körper mit dunkelfarbigen, klauenartigen Beinen, einem orangenen Oberkörper, dunklen Armen mit messerscharfen Krallen und drei Köpfen, jeder davon mit einer ausdruckslosen Maske versehen. Wir sahen uns nun drei Monstern gegenüber, die alle entweder an der 3.000er Marke kratzten oder deutlich darüberlagen. Nach meinem Zug würden sich die Lichtschwerter verabschieden und alles bis auf unser Totenkopfdrache vernichtet werden.
 

„Nett, aber unser Drache ist noch immer stärker als eure Monster. Ich versetze mein Alligatorschwert in den Verteidigungsmodus beende damit meinen Zug.“
 

„Ah, euer Drache ist Schnee von gestern. Pass auf!“
 

Umbra drückte einen Knopf an seiner Duel Disk und drehte seine verdeckte Karte auf.
 

„Das hier nennt sich die Maske der Brutalität. Sie erhöht die Angriffspunkte eines unserer Monster um 1.000. Ich wähle natürlich Valkyrion aus.“
 

Die Maske der Brutalität entpuppte sich als eine Art Tikki-Maske, mit einem reißzahnbewährten Maul, der Hände aus den Augen wuchsen. Sofort legte sie sich auf Valkyrion, der kurz daran zerrte, sogleich aber nachgab und mit Elektrizität aufgeladen wurde. Er hatte jetzt 4.500 Angriffspunkte – ein Monster vom Kaliber von Kaibas Ultradrachen.
 

„Gut, ich muss 1.000 Lebenspunkte pro Runde bezahlen, damit ich sie aufrechterhalten kann, aber, dafür ist mein Teampartner ja da, oder, Lumis?“
 

„Natürlich Umbra. Ich aktiviere die Zauberkarte „Maskierte Puppe“. Damit müssen wir nichts zahlen. Hach, wie Valkyrion diese Maske steht, oder?“
 

„Ihr beide seid völlig krank“, maulte Joey und ich bereitete mich auf den nächsten Zug vor. Ich hatte nichts in meinem Deck, das es mit diesem Ding aufnehmen hätte können. Der aufgepowerte Valkyrion hätte sogar Yugi und Kaiba Schwierigkeiten bereitet. Dazu noch dieses Des Guardius Monster und Zera. Es sah wirklich nicht gut aus.
 

„Ich passe“, sagte ich zähneknirschend. Mit den Zauberhüten würden wir wenigstens eine Runde überstehen können, hoffte ich zumindest.
 

„Ouh, jetzt ist es so weit.“
 

Die Lichtschwerter verblassten, während sich Lumis über die Lippen leckte.
 

„Zeit, anzugreifen, aber vorher…“ Er zog seine nächste Karte und legte sie sogleich auf die Duel Disk.
 

„Riesen-Trunade. Sämtliche Zauber und Fallenkarten wandern wieder auf die Hände ihrer Besitzer zurück. Nun, meine Lieben, es dauert nicht mehr lange, und der Ring wird uns gehören.“
 

Joey und ich hielten uns die Arme vors Gesicht, als der tosende Wind unsere verdeckten Karten wieder in unsere Hände zurückbeförderte. Jetzt saßen wir wirklich in der Klemme.
 

"Nun spiele ich die Maske der Brutalität aus - gut, dass wir zwei davon haben."
 

Valkyrion wurde wieder mit einer Maske überzogen, und seine Angriffstärke erhöhte sich wieder um 1.000 Punkte.
 

„Na dann, Valkyrion – greif an! Vernichte den Schwarzen Totenkopfdrachen mit einem Hieb deines Schwertes!“
 

Laut piepend setzte sich der maskierte Valkyrion in Bewegung und lud sein Schwert mit Elektrizität auf. Mit einem schmatzenden Geräusch fraß sich die Klinge in unseren Totenkopfdrachen, der kreischte und in tausend Teile zersplitterte.
 

„Scheiße“, murmelte Joey und ächzte schwer, genauso wie ich, als uns ein ordentlicher Batzen Lebenspunkte abgezogen wurde.
 

„Und nun, Maskierte Bestie Des Guardius, kümmere dich um Joeys Flammenschwertkämpfer.“
 

Mit einem einzigen mächtigen Krallenhieb hauchte Joeys Schwertträger sein Leben aus. Wieder ein Haufen Lebenspunkte. Jetzt stand da nur noch ein Alligatorschwert zwischen Sieg und Niederlage von Joey.
 

„Ich denke das reicht für den Anfang. Du bist dran, kleiner Wheeler.“
 

„Davon lasse ich mich nicht aufhalten“, keuchte Joey und riss seine nächste Karte aus dem Deck.
 

„Ich spiele den Zauberer der Zeit. Zeitroulette, los!“
 

Der uhrenförmige Magier zeigte mit seinem Stab in die Luft und der Zeiger im Szepter wanderte zwischen Totenkopf- und Zeitsprungefeld hin und her. Wenn wir Glück hatten, wären damit sämtliche Probleme gelöst.
 

„Alles von einem Zug abhängig machen, du Narr“, spottete Umbra und verschränkte die Arme vor der Brust, während wir angespannt warteten, wo das Zeitroulette stehen blieb. Und die Entscheidung fiel auf…
 

„Ein Totenkopf, wie schade“, lachte Lumis lauthals.
 

Am Himmel bildete sich ein waberndes Loch, in das meine Rache des Schwertjägers, genauso wie Joeys Alligatorschwert gezogen wurden. Jetzt waren wir vollends schutzlos und würden den nächsten Angriff nicht überstehen.
 

„Die vernichten sich selbst, das ist ja goldig“, stimmte Umbra in das Lachen seines Partners mit ein.
 

„S-Sorry, ich habe es verbockt“, stöhnte Joey, der sich im letzten Moment davor bewahren konnte, mit dem Gesicht auf dem Glasboden aufzuschlagen. Er hing mehr, als dass er stand, auf seinem Platz. „I-Ich spiele noch eine Karte verdeckt und beende meinen Zug.“
 

Wir hatten nur mehr 1.750 und 2.300 Lebenspunkte. Nun war Umbra an der Reihe und würde entweder Joey oder mich vernichten. Damit war das Duell gelaufen.
 

„Nun denn – Zera, greif an. Vernichte unseren Ringträger!“
 

Wild kreischend stürzte sich das Monster auf mich, die Klaue drohend erhoben. Ich schloss meine Augen und drehte den Kopf zur Seite.
 

„Teufelswürfel“, presste Joey hervor und drehte seine verdeckte Karte auf.
 

„Was?“, riefen Lumis und Umbra verärgert im Chor.
 

„Wenn, wenn wir eine Sechs würfeln, bleibt David im Spiel.“
 

Joeys Stimme klang entsetzlich schwach. Ich traute mich noch immer nicht hinzusehen. Vor meinem geistigen Auge zog mein Leben vorbei. Ich dachte an Yugi, Mokuba, meine Großeltern, Joey, sogar an Kaiba, die Clique, in der ich so freundlich aufgenommen worden war, Shin… Keinen würde ich wiedersehen. Ich hatte Yugi enttäuscht, genauso wie Kaiba und Mahad.
 

„Das gibt es doch nicht“, schrie Lumis erbost auf.
 

Der Krallenhieb zwang mich auf die Knie. Gefühlt tausend Messer bohrten sich in meinen Körper und rissen grob daran. Schwer atmend fing ich meinen Sturz mit den Händen ab. Jeder Atemzug löste ein Stechen in der Brust aus. Ich öffnete die Augen und wartete darauf, dass der Boden unter mir nachgeben würde, doch das tat er nicht.
 

„100 Lebenspunkte hat er noch. Die haben mehr Glück als Verstand.“ Umbra schüttelte den Kopf und knurrte laut.
 

"Ich spiele Maskierte Puppe, damit Lumis nicht 1.000 Lebenspunkte zahlen muss und beende meinen Zug."
 

„David? Alles okay bei dir?“ Joey klang nicht viel besser, als ich mich fühlte. Wenn es so weiterging, würde das wirklich mein letzter Zug werden. Wieso war Kaiba auf die bescheuerte Idee gekommen, die Hologramme Schmerzen übertragen zu lassen?
 

„Es…geht…schon“, presste ich hervor und keuchte laut. Nicht nur mir ging es dreckig, sondern auch Mahad, dessen Präsenz immer schwächer wurde.
 

„Komm schon, Herz der Karten“, betete ich und griff zitternd nach der nächsten Karte, die über Fortbestehen oder Niederlage entscheiden würde.
 

„Ich rufe…ich rufe…“ Meine Finger waren taub. Mir fiel die Karte fast aus der Hand. Den restlichen Satz sparte ich mir und tat einfach instinktiv, was richtig war.
 

„Das kann doch nicht sein.“ Lumis stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Der Kleine hat den Schwarzen Magier gezogen!“
 

In oranger Rüstung, mit grünem Stab, die Arme vor der Brust verschränkt, stand mein Schwarzer Magier vor mir. Die grau-weißen Haarsträhnen ragten aus seinem Helm hervor. Furchtlos betrachtete er seine Kontrahenten, die ihm allesamt überlegen waren.
 

„Na und? Was macht das schon“, tat Umbra meinen Zug unwirsch ab.
 

„I-Ich bin noch nicht fertig. J-Jetzt spiele ich die Z-Zauberhüte.“
 

Ein überdimensionaler Zylinder mit einem gelben Fragezeichen stülpte sich über meinen Schwarzen Magier. Sofort entstanden fünf Kopien, die sich über dem Spielfeld aufbauten. Jetzt war es eine Glücksfrage.
 

„Du Hohlkopf!“, schimpfte Lumis. „Hättest du Joey angegriffen, wäre das Duell gelaufen.“
 

„Hättest du besser gespielt, wären beide besiegt“, wehrte sich Umbra.
 

Ihr Teamgeist bröckelte. Das war unsere Chance. Nun lag es wirklich an Joey uns herauszureißen.
 

„Hach, egal. Valkyrion, Maskierte Bestie Des Guardius, die beiden äußeren Hüte angreifen.“
 

Ich konnte nicht einmal mehr den Kopf heben, um zu schauen, wie beide Zauberhüte aufgeschlitzt wurden. Mein Schwarzer Magier befand sich in der Mitte. Schwein gehabt.
 

„Das ist doch zum Haare ausreißen!“
 

„Tja, nun ist es wohl an mir“, murmelte Joey und zog.
 

„Zeit euch mal ein paar Manieren beizubringen. Niemand verletzt meine Freunde ungestraft.“
 

„Was willst du schon gegen unsere Supermonster ausrichten, Kleiner?“ Umbra klang nicht mehr ganz so selbstsicher, wie vorhin.
 

„Ich rufe mein mächtigstes Monster – Gilford der Blitz, erscheine!“
 

Was genau passierte, konnte ich nicht sagen, nur, dass eine männliche Stimme einen Kampfschrei ausstieß und Lumis und Umbra lauthals fluchten.
 

„Das war es dann wohl mit euren Monstern. Gilfords besondere Fähigkeit zerstört sämtliche gegnerischen Monster auf dem Feld. Ich würde sagen, wir haben die Nase damit vorne. Hast du gehört, David? Wir gewinnen!“
 

Mir tat jeder Knochen im Leib weh. Ich mobilisierte alle verbliebenen Kräfte, um mich wieder auf die Beine zu drücken und tief durchzuatmen. Joey hatte nicht gelogen: Ein Krieger mit prunkvollem Schwert bewaffnet, stand vor ihm. Von den Superbestien fehlte jede Spur. Gilford war sogar stärker als mein Schwarzer Magier.
 

„Und jetzt, Gilford – direkter Angriff auf Lumis´ Lebenspunkte. Das hast du davon, dass du uns ausgelacht hast, kleiner Zwerg.“
 

Lumis schrie lauthals, als die Schwertklinge ihn traf. Er keuchte ähnlich wie ich, sah aber noch ein ganzes Stück lebendiger aus.
 

„Das wirst du mir büßen.“
 

Wenn wir Umbras Zug noch überstanden, würde ich mit meinem Schwarzen Magier Lumis ausschalten können und das Duell wäre gelaufen.
 

„Ich denke, Lumis, das werde ich für dich übernehmen.“
 

Umbra starrte auf seine Karte und sah mich unheilvoll an. „Mit dieser Karte kann uns nichts mehr gefährlich werden. Seht und staunt, eine Macht, wie ihr sie noch nie zuvor gesehen habt!“

Oberisuku no Kyoshinhei

Als die Karte Umbras Duel Disk berührte, begann das ganze Gebäude zu zittern. Ein Erdbeben rüttelte an den Stützpfeilern. Der Himmel verdunkelte sich. Blitze peitschten durch schwarze Wolken. Ein Gewitter ohne Regen. Glühend heißer Wind zerrte an meiner Haut, drohte mir das Fleisch von den Knochen zu schälen. Bevor der Raritätenjäger aussprach, was er da rief, wusste ich bereits, um wen es sich handelte.
 

„Wie ironisch, dass die Karte, die mein Leben eigentlich beenden hätte sollen, es nun rächen wird. Ihr sollt das gleiche Schicksal erfahren, das mir bestimmt war. Seine Macht ist grenzenlos und er vergibt niemals. Blickt eurem Untergang entgegen – Obelisk der Peiniger!“
 

Aus den dunklen Wolken stieg ein blauer Lichtschein herab. Eine Heerschar aus leuchtenden Glühwürmchen formierte sich zu dem Monster, das beinahe einmal für den Untergang der Welt verantwortlich gewesen wäre. So musste sich Christophers Vater gefühlt haben, als ich ihn vor Jahrhunderten beschworen hatte. Ich wusste, unser Untergang war gekommen. Neben Obelisk war Gilford eine Mücke, die er nur zu gerne zerquetschen würde.
 

Langsam bildete sich der große Steinsoldat mit seinen roten Augen, die kalt und ausdruckslos auf mich und Joey hinabstarrten. Seine rudimentären Flügel sprangen auseinander und er grollte, gleich wie Slifer und Ra. Die Macht die Welt zu zerstören, in den Händen eines Wahnsinnigen.
 

„Wie ich sehe, ist dir deine großspurige Art vergangen, Kleiner. Wie ist es, wenn man weiß, gleich pulverisiert zu werden?“
 

Ich sah zu Joey hinüber, der langsam zurückwich. Seine Augen waren vor Angst geweitet. Ich konnte erkennen, wie ihm die Nackenmuskel hervortraten und er nach Luft rang. Er zitterte wie Espenlaub. Auch mein Freund hatte begriffen, dass wir verloren hatten.
 

„Machen wir es spannend. Obelisk – zerquetsche Gilford!“
 

Auf Umbras Befehl hin holte das Monster mit seiner Faust aus. Wie eine lästige Mücke zerquetschte Obelisk Gilford, der noch versuchte, sein Schwert dagegenzuhalten, aber erfolglos. Schreiend zersplitterte das Hologramm von Joeys bestem Monster, und seine Lebenspunkte schmolzen auf ein Minimum.
 

„Das hat gutgetan“, amüsierte sich Umbra. „Jetzt machen wir sie fertig.“
 

„Los, Kleiner, mach deinen Zug. Zögere das Ende nicht länger hinaus als unbedingt notwendig.“
 

Ich legte den Kopf schwerfällig in den Nacken und starrte nach oben. Das war er also: Obelisk der Peiniger. Ihm wirklich gegenüberzustehen war noch einmal ganz anders, als ihn in einer Erinnerung oder in einem real anmutenden Computerspiel zu sehen. Dieses Wesen war kein Hologramm, davon war ich überzeugt. Er atmete, und jeder seiner Atemzüge war eine unendliche Qual für alle, die seinen Zorn zu spüren bekamen. Diese unbeschreibliche Hitze ging von ihm aus, genauso wie ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Nichts konnte diese Bestie aufhalten.
 

Verzweiflung kroch in mir hoch, genauso wie Angst und Wut. Zwei so dahergelaufene Kuttenträger hatten es geschafft, mich von meinen Freunden und meiner neuen Familie zu trennen. Wenn ich hier versagte würde ich sie enttäuschen. Wer weiß, was aus Tristan und Mokuba werden würde? Mokuba…
 

Mein Blick wanderte zu Joey, der mittlerweile auf die Knie gefallen war, und sich die Haare raufte, unter dem höhnischen Gelächter von Lumis und Umbra. Was war ich bloß für ein Freund, dass ich zuließ, dass zwei Idioten ihn quälten? Was war ich bloß für ein Freund, Yugi im Stich zu lassen? Was war ich bloß für ein Bruder, Mokuba in den Fängen der Raritätenjäger zu lassen? Was war ich bloß für ein Mensch, wenn ich Kaiba nicht weiterhin auf seinem Weg begleiten konnte? Er hatte mir Mokuba anvertraut. Man brauchte mich, meine Familie, meine Großeltern, meine Freunde, sie brauchten alle mich.
 

Meine Augenbrauen wanderten nach unten. Der Milleniumsring auf meiner Brust glühte auf. Er zitterte, während ich langsam die Arme vor der Brust verschränkte. Die Bänder meines Pullis stoben zur Seite, wurden aufgewirbelt. Die Schmerzen ließen nach, genauso wie ich fühlen konnte, wie Mahad in mir wiedererstarkte. Die kriechende Dunkelheit aus dem Ring wanderte in meinen Körper und griff nach meinem Herzen.
 

„Nur wer die Dunkelheit in seinem Herzen annimmt, ist in der Lage, selbst einen Gott zu bändigen. Er unterwirft sich dem, der ihm seinen Willen aufzuzwingen vermag. Sein Urteil wird er vollstrecken und am Ende an der Seite seines Herren stehen.“
 

Ich erinnerte mich wieder an diese Worte. Ich war zornig, rasend vor Wut und erfüllt von Hass. Hass auf die Raritätenjäger, dass sie es wagten, Mokuba als Druckmittel zu benutzen, dass sie Joey quälten und ihm genauso jemand genommen hatten, damit er sich hier duellierte. Ich musste diese Gefühle nicht unterdrücken, sie verstecken oder wegsperren. Sie waren genauso ein Teil von mir, wie auch meine Liebe zu Joey und Yugi, meine Freundlichkeit und meine Hilfsbereitschaft. Ich würde nicht mehr davor weglaufen oder verleugnen, dass ich nicht immer nett und lieb war.
 

„Das reicht jetzt“, sagte ich mit fester Stimme.
 

„Was willst du denn machen? Um Gnade winseln?“, spottete Lumis höhnisch.
 

„Das, was ihr da so leichtfertig beschworen habt, gehört zu mir. Obelisk ist meine Karte, mein Monster. Ich habe ihn bereits einmal gebändigt, und ich werde es heute wieder tun. Das ist meine Bestimmung und mein Schicksal.“
 

Auf Obelisks Stirn erschien das Milleniumsauge, während sich die Stacheln des Rings auf ihn richteten. Ich würde sicher nicht gegen zwei so Witzfiguren verlieren. Monate der Entwicklung, des Lernens, verlieren, nur weil sie unfair spielten. Ich hatte Yugi versprochen ihm im Finale beizustehen und das würde ich auch tun. Mein bester Freund brauchte mich, Joey brauchte mich, vor allem aber brauchte mich gerade Mokuba.
 

Leben kam in den blauen Koloss. Langsam drehte er den Kopf zur Seite. Seine Bewegungen waren ungelenk, ruckartig, als würde er sich gegen unsichtbare Fäden stemmen, die an ihm zogen. Die roten Augen verloren an Glanz, verblassten allmählich. Der blaue Körper verfärbte sich gräulich, wurde immer dunkler. Obelisk wurde noch breiter. Ein Muster breitete sich auf seiner Brust aus. Wie blau zu grau wurde, so veränderte sich auch das Rot. Die Augen des Riesen wechselten zu einem schimmernden Gold.
 

„Was machst du da? Umbra, unternimm was!“ Lumis klang nun panisch. Nun war er es, der angsterfüllt zu Obelisk hinaufstarrte, nicht Joey.
 

„Was soll ich denn machen? Um Himmels willen!“
 

Die Duel Disk an Umbras Hand überhitzte. Hastig riss er sie von seinem Arm. Schlagartig verblassten die Zauberhüte und mit ihnen auch die Hologramme. Das Duell war zu Ende, trotzdem verharrte Obelisk an Ort und Stelle.
 

„Wie ist das möglich?“
 

Der Gott wurde durchsichtig, nur um dann hinter mir wiederaufzutauchen. Mit einem Mal war der sengende Wind verschwunden, genauso wie die Hoffnungslosigkeit und auch die Angst. Lumis und Umbra genossen dafür ihre eigene Medizin. Joey hielt sich die Schulter und humpelte zu mir herüber, den Blick auf die Raritätenjäger gerichtet, die sich ängstlich zusammenkauerten.
 

„Wo sind Mokuba und Tristan?“ Ich war selbst überrascht, wie fordernd und vor allem streng meine Stimme klang.
 

„Das können wir dir nicht sagen“, quiekte Lumis, was meinen Gedanken an das humanoide Schwein verstärkte.
 

„Nicht? Das werden wir herausfinden. Los, Obelisk – zerquetsche Umbra.“
 

Grollend streckte Obelisk seine linke Hand nach Umbra aus, der wie ein kleines Kind schrie.
 

„Ich sage es dir, ich sage es dir! Bitte, halte ihn auf!“
 

Etwas in mir wollte zusehen, wie mein Monster den Raritätenjäger ordentlich zurichtete. Sich an Lumis´ Angst und Leid ergötzen. Wie er winselte, weil er wusste, dass er der Nächste sein würde. Wäre ich dann nicht genauso schlimm wie sie? Hatte ich nicht zu Yugis Großvater gesagt, jeder verdiene eine zweite Chance?
 

„Obelisk – Stopp.“
 

Mit einem lauten Schnauben, der die Kutten der Raritätenjäger ordentlich aufwirbelte, hielt Obelisk inne, die Hand über Umbra ausgestreckt.
 

„Sie sind unten, im zweiten Stock. Ihr braucht den Zugangscode – er lautet 4 6 1 7. Bitte tu mir nichts.“
 

Dieses Flehen widerte mich an. Vor nicht einmal fünf Minuten hatten sie sich daran erfreut, uns eine reinzuwürgen. Das waren schlechte Menschen, Feiglinge, die ein Schicksal im Reich der Schatten verdient hatten. Obelisk konnte sie mühelos dorthin befördern. Er würde auch. Ich musste ihm nur den Befehl geben.
 

„Es ist genug.“ Joey hatte mir seine Hand auf die Schulter gelegt. „Du hast ihnen deine Position klar und deutlich gezeigt. Lass gut sein.“
 

Dass mein Freund einmal die Stimme der Vernunft sein würde, hätte ich auch nie für möglich gehalten.
 

„Na los, verschwindet.“ Mit einer Handbewegung scheuchte ich sie fort, was beide nur allzu gern taten. Wenn sie sich noch vor lauter Eile auf die Kutten gestiegen wären, hätte es auch gepasst. Obelisk verblasste langsam, genauso wie das pulsierende Glühen des Rings. Mein Blick fiel auf Umbras durchgeschmorte Duel Disk. Obelisks Monsterkarte lag, unbeschadet, auf dem Display. Ich ging auf das verkohlte Elektroteil zu und schnappte mir die Karte. Sofort durchfuhr mich eine schaurige Kälte, die aber sogleich von angenehmer Wärme abgelöst wurde. Ich drehte das Unikat in der Hand und stellte fest, dass sich beide Empfindungen, Wärme und Kälte, die Waage hielten. Wie Licht und Schatten.
 

„Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir deinen Namen ein wenig umändern, alter Freund. Du sollst ab heute wieder deinen wahren Namen tragen, Oberisuku no Kyoshinhei, Göttlicher Riesensoldat Obelisk. Wobei mir der gerechte Richter mehr gefallen würde“
 

Ein Lächeln stahl sich auf meine Züge, als ich die Karte in mein Deck schob. Jetzt fühlte es sich vollständig an, genauso wie ich. Ein Teil, der mir immer gefehlt hatte, unbewusst, schien an seinen Platz zurückgekehrt zu sein.
 

Ich wollte mich nach Joey umdrehen, als das Geräusch von zwei Hubschraubern meine Aufmerksamkeit erregte. Das würden Kaiba und Yugi sein. Sie hatten es also geschafft. Damit war es nur mehr eine Formsache, Mokuba und Tristan zu befreien.
 

„Danke Mahad“, murmelte ich und konnte spüren, wie der Geist lächelte. Er war stolz, und ich auch, denn ich war nicht weggelaufen, sondern hatte endlich begriffen, wer ich wirklich war: Hohepriester, Feldherr, Schüler, Freund des Pharaos – aber vor allem war ich ich selbst.

Eine kleine Lektion für Kaiba

Aus den jeweiligen Hubschraubern sprangen tatsächlich Kaiba und Yugi. Letzterer fiel Joey und mir sogleich um den Hals. Der CEO hingegen schenkte mir ein kurzes Nicken bevor er auf das KC-Logo an seinem weißen Trenchcoat drückte und sich abwandte.
 

„Alles in Ordnung mit euch?“ Mein bester Freund musterte Joey und mich besorgt.
 

„Ging schon mal besser“, gab der Blondschopf schief grinsend zu.
 

„Ja, das kann ich so nur bestätigen. Wie ist es dir ergangen? Hast du gewonnen?“
 

Yugi beantwortete meine Frage mit einem kurzen Nicken. „Wisst ihr wo sich Tristan und Mokuba befinden?“
 

Das war der feine Unterschied zwischen dem König der Spiele und dem CEO der Kaiba Corporation. Er sorgte sich um seine Freunde. Sie standen an erster Stelle. Ich war mir sicher, hätte Yugi nicht davon gewusst, dass Joey und ich uns um die Befreiung von Tristan und Mokuba kümmerten, er wäre sofort gekommen, ohne Slifer im Gepäck.
 

„Zweiter Stock. Wir haben auch den Code.“
 

Ich zögerte kurz. Joey sah wirklich nicht gut aus. Schlechter als ich. Außerdem hatte ich den Ring an meiner Brust. Das Teil mochte zwar verflucht sein, oder wie auch immer man diesen Zustand bezeichnen wollte, aber er hatte die Schmerzen zumindest weitestgehend vertrieben. Sollte ich Kaiba bitten, dass er sich um ihn kümmerte? Die Entscheidung wurde mir abgenommen als der CEO zurückkehrte.
 

„Wir haben sie. Mokuba und Taylor sind unversehrt. Meine Leute bringen sie gleich rauf. Du siehst aber nicht so aus als wärst du in Ordnung.“
 

Kaiba ignorierte Joeys Zustand völlig. Eine Furche bildete sich auf meiner Stirn während ich die Augenbrauen nach unten schob. Das war doch wohl der Gipfel. Mein Freund war genauso an der Rettung Mokubas beteiligt wie ich. Aber was erwartete ich mir von Kaiba? Dankbarkeit war ein Fremdwort für ihn.
 

„Ich habe schon medizinisches Fachpersonal angefordert. Ihr könnt euch nachher durchchecken lassen. Wie viele Lokalisierungskarten habt ihr?“
 

Hatte er wirklich gerade ihr gesagt? Schloss das Joey mit ein? Yugi sah nämlich nicht so aus als hätte er irgendeiner Form von Hilfe bedurft.
 

„Zwei“, sagte ich.
 

„Drei“, war Joeys Antwort.
 

„Drei und vier“, korrigierte uns Kaiba. „Ich nehme an, dass die Raritätenjäger euch keine Lokalisierungskarte überlassen haben. Das ist gegen die Regeln. Wheeler, dafür dass du David zur Hand gegangen bist bekommst du die Letzte. Du bist also damit im Finale. David, du musst noch ein Duell bestreiten.“
 

„Ich will von dir nichts“, fauchte Joey.
 

„Joey, bitte“, beschwor ich ihn leise. „Nimm sie an. Du kannst dich kaum noch auf den Beinen halten und ich möchte dich im Finale sehen.“
 

Yugi legte sich Joeys Arm um die Schulter: „Hör auf David. Ich bin auch der gleichen Meinung.“
 

Zu meinem großen Erstaunen widersprach der Blondschopf zur Abwechslung nicht. Das beunruhigte mich ehrlich gesagt. Wenn Joey sich einmal nicht mit Kaiba zanken konnte, musste es schlimm um ihn stehen.
 

Die Tür des Treppenhauses, wie ich vermutete, wurde aufgetreten und eine Horde Männer kam zum Vorschein die aussahen, als kämen sie direkt aus einem Kriegsgebiet. Tarnhosen, kugelsichere Westen, Visiere über den Helmen, Armeestiefel – dazu entweder ein Maschinengewehr oder eine Handfeuerwaffe. Jetzt verstand ich auch warum Roland sich zuerst dagegen ausgesprochen hatte die Kaiba Force einzuschalten. Die Kerle fielen wirklich auf.
 

Aus der Eskorte sprang sogleich Mokuba, der zuerst seinem Bruder in die Arme fiel,und sich dann sogleich daran machte, mich zu erdrücken. Ich konnte Kaiba einen kurzen Moment lang lächeln sehen. Tristan ging zu Yugi und nahm diesem Joey ab.
 

„Schön dich zu sehen Alter“, murmelte der Hüne. „Du siehst scheiße aus.“
 

„Danke. Jetzt musst dich nicht mehr so alleine fühlen.“
 

Ich schenkte meine Aufmerksamkeit nach dieser kleinen Episode zwischen den besten Freunden Mokuba, der sich an mich klammerte, als würde ich mich gleich in Luft auflösen.
 

„Hey Champ. Alles klar?“ Sanft wuschelte ich ihm durch die ungebändigte Haarmähne.
 

„K-Klar.“ Mokubas Stimme zitterte.
 

„Alles okay.“ Ich drückte ihn fester an mich. „Seto und ich sind da.“
 

Es war seltsam Kaibas Vornamen zu benutzen. Ich tat das eigentlich nie. Für mich war er immer Kaiba. Meine Aussage schien Mokuba ein wenig zu beruhigen und das war alles was zählte.
 

„Wir sollten uns allmählich aus dem Staub machen“, sagte ich und tat so als würde ich nicht sehen wie Mokuba sich mit dem Ärmel über die Augen fuhr.
 

Die Kompanie hatte sich inzwischen mit Kaiba unterhalten. Der nickte ihnen zu und gab dann die Anweisung sich in der Stadt zu verteilen, unauffällig. Dächer und Seitengassen. Plan Paladin des Weißen Drachen sei auszuführen, die Sicherheitsmaßnahmen würden auf ein Maximum hochgefahren.
 

Ich ging mit Mokuba an dem Trio aus Yugi, Joey und Tristan vorbei, die Zweiteren ablenkten, indem sie ihn zu seinen Duellen befragten.
 

„Du hast das alles von langer Hand geplant, oder?“
 

„Du enttäuschst mich, Kleiner. Es ging nur darum die Götterkarten bald in unsere Hände zu bekommen. Das Sicherheitspersonal steht schon lange bereit. Abteilung drei und sechs hat sich bereits um die ersten Raritätenjäger gekümmert, in Zivil natürlich. Das ist meine Stadt und mein Turnier. Keiner von diesen Witzfiguren wird sich noch einmal einmischen.“
 

Wenn er sich da mal nicht zu sicher war.
 

„Hast du schon eine Ahnung wo sich ihr Anführer befindet?“, fragte ich und legte Mokuba meine Hand auf den Rücken.
 

„Wissen wir noch nicht, aber das ist nur mehr eine Frage der Zeit. Sollte er sich erdreisten im Finale aufzutauchen, wird er sich wünschen niemals von mir gehört zu haben.“ Kaiba klang eiskalt. Das mit Mokuba ging ihm wohl doch näher als gedacht.
 

„Ich denke, du solltest mit ihm reden“, murmelte ich dem CEO zu und drückte ihm Mokuba in die Hand. Die Typen von der Kaiba Force waren verschwunden und Joey und Co mit sich selbst beschäftigt. Ich würde nicht ewig in Japan bleiben und kompensieren können, was Kaiba emotional verabsäumt hatte. Jetzt war die Gelegenheit zu zeigen, ob er sich wirklich geändert hatte. Um es ihm leichter zu machen wandte ich mich ab und ging zu meinen Freunden.
 

„Es war der helle Wahnsinn. Ohne David wäre ich verloren gewesen. Es war wie mit Yugi. Das gleiche Teamgefühl, wir bauten auf den Zügen des Anderen auf. Er spielt genauso wie du, Yugi. Der Schwarze Magier und die Zauberhüte.“
 

Meine Lippen wanderten ein wenig nach oben als ich Joeys Lobeshymnen auf mich hörte.
 

„Das gilt aber für dich auch, Joey. Gilford aus dem Ärmel zu schütteln war eine Meisterleistung.“
 

Tristan sah von Joey auf und klopfte mir gegen die Schulter. „Danke für die Rettung.“
 

„Kein Ding, Tris. Du hättest das Gleiche für mich getan.“
 

„Klar, wir sind ein Team. Freunde.“
 

„Kaiba kann sich warm anziehen. David und Yugi haben Obelisk und Slifer. Dagegen sieht sogar Ra alt aus“, grinste mein Freund. „Wo ist der reiche Pinkel überhaupt?“
 

Alle Blicke richteten sich auf die Kaibageschwister. Der Ältere hatte sich hingekniet und unterhielt sich angeregt mit dem Jüngeren. Das war schon einmal mehr als ich erhofft hatte. Mokuba wirkte wieder fröhlicher und aufgeweckter als vorhin.
 

„Wie habt ihr es eigentlich geschafft Obelisk zu besiegen?“, lenkte Yugi die Aufmerksamkeit von Mokuba und seinem Bruder wieder auf ein anderes Thema.
 

„Gar nicht. David hat ihn übernommen, wie Marik Ra damals.“ Joey schielte angestrengt auf den Ring an meiner Brust.
 

„Und er hat dir gehorcht?“ Yugi sah mich mit großen Augen an.
 

„Scheint so“, murmelte ich leise.
 

„Er hat ihn kontrolliert. Ihr hättet die Gesichter der Raritätenjäger sehen sollen. Umbra hat wie ein Mädchen geheult.“
 

„Joey, das ist nichts, worauf ich stolz bin“, entgegnete ich. „Ohne dich wäre ich der Versuchung erlegen ihn von Obelisk zertreten zu lassen.“ Ich sah an mir herab und fixierte den Milleniumsring. „Geht es dir auch so, Yugi? Hast du manchmal auch Probleme dich zu kontrollieren? So als würde etwas an dir nagen?“
 

„Der Ring ist schwer zu tragen. Du hast Umbra nicht ausgelöscht und das ist das Wesentliche. Mach dir nicht so viele Gedanken.“ Mein bester Freund tätschelte mir den Arm und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. „Ich bin froh, dass Obelisk bei euch ist. Der Pharao ist auch der gleichen Meinung.“
 

„Komm schon, wenn sogar der Pharao der Meinung ist.“ Joey ließ sich von Tristan zu mir führen und schob mir die Finger unters Kinn um mich zu küssen. Ein ganz flüchtiger Kuss. „Ich liebe dich, sogar mit dem Ding auf deiner Brust.“
 

„Darf ich die herzzerreißende Szene stören? Unsere Mitfahrgelegenheit kommt gleich“, meldete sich Kaiba zu Wort, mit einem durchaus süffisanten Grinsen auf den Lippen.
 

„Schnauze“, fuhr Joey Kaiba an.
 

„Schon gut“, wehrte ich ab. „Wir waren sowieso fertig.“ Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und drückte Joey einen Kuss auf die Wange.
 

In der Ferne waren bereits die vertrauten Geräusche eines Hubschraubers zu hören. Einer der Vorteile mit Kaiba befreundet zu sein: Man kam immer vom Fleck. Ich sah zu Mokuba, der bereits wieder lächelte. Das Gespräch mit seinem großen Bruder schien ihn aufgeheitert zu haben. Vielleicht lag Mahad richtig: Kaiba schien dazugelernt zu haben. Eventuell hatte auch ich einen guten Einfluss auf ihn, und umgekehrt.

Wieder kein Milchshake

Kaibas medizinische Hilfe stellte sich als Top-Allgemeinmediziner aus Russland heraus. Grigori Karoff war sein Name. Nicht, dass mir das irgendetwas gesagt hätte, aber er bezeichnete sich als „Koryphäe“ und war wohl einer der Leibärzte des CEO. Zugegebenermaßen, der leicht russische Akzent im Englischen beruhigte mich zwar nicht sonderlich, aber er schien zu wissen, was er tat. Mir verpasste er eine Spritze und Joey wurde zur Beobachtung ins Anwesen gebracht. Reine Vorsichtsmaßnahme, wie man mir und Yugi versicherte. Herr Muto war übrigens auch in die Kaiba-Villa gebracht worden, genauso wie Tea. Tristan blieb bei Joey. Kaiba, Yugi und ich brauchten noch eine Lokalisierungskarte.
 

„Eigentlich solltest du dich schonen.“ Yugi sah mich besorgt an.
 

„Keine Angst. Der Typ wusste schon was ich brauchte. Mir geht es einigermaßen gut. Für ein läppisches Duell reicht es schon. Trennen wir uns?“
 

„Ich weiß nicht.“ Mein bester Freund rieb sich den Nacken.
 

„Du musst dir echt keine Sorgen machen. Ich komme wirklich klar. Außerdem sind die Sicherheitsmaßnahmen jetzt auf ein Maximum erhöht worden, plus die Tatsache, dass ich Obelisk im Deck habe. Was soll mir schon passieren?“
 

„Da gäbe es einen Haufen Möglichkeiten“, entgegnete Yugi.
 

„Komm schon, vertrau mir. Wen es mir schlecht ginge, würde ich es dir schon sagen.“
 

„Na gut. Aber wenn etwas ist, ruf mich an.“ Der König der Spiele hielt sein Smartphone bedeutungsschwanger in die Höhe.
 

„Mache ich, und jetzt los! Wir müssen uns sputen.“
 

Worauf ich zuallererst aber mal wirklich Bock hatte war mein Milchshake. Meinen hatte Herr Muto wohl mit der netten Verkäuferin geteilt. Ich stellte mich also erneut an. Himbeere hörte sich verführerisch an, genauso wie Heidelbeere und Granatapfel. Es gab sogar die Auswahl zwischen Kuh-, Ziegen- und Schafsmilch. Zweiteres hörte sich interessant genug an, dass ich probieren wollte. Gerade als die Schlange einen Ruck machte, bemerkte ich, dass jemand an meiner Duel Disk zog. Ich hatte die rechte Hand in die Hosentasche geschoben gehabt, während ich mögliche Shake-Kombinationen in Gedanken durchging. Nachlässigerweise, wie mir gleich bewusst wurde.
 

„Hey!“, rief ich aufgebracht, als ein Junge mit türkisen Haaren, grauenhaftem Topfhaarschnitt, Brille und Knickerbockern davonlief. Er hatte etwas in der Hand, das verdächtig nach einer Duel Monsters Karte aussah. Meiner Karte.
 

„Bleib stehen!“, rief ich und lief hinterher. Was war denn das für ein Idiot? Klaute einfach eine Karte. Ich hatte nicht einmal Zeit nachzusehen welche. Obwohl er kleiner war als ich, legte der Dieb ein Tempo vor, dass ich Mühe hatte mitzuhalten. Dem würde ich heimleuchten, wenn ich ihn in die Finger bekäme.
 

Wir liefen quer durch die Stadt. Ich überlegte schon jemandem vom Sicherheitspersonal Bescheid zu geb, aber das wäre mir zu peinlich gewesen. Wie hätte das ausgesehen: Der beste Freund des Königs der Spiele und Kaibas Schützling schafft es nicht einen Dreikäsehoch zu stellen? An einer abgelegenen Grünfläche hielten wir an. Dann drehte sich der Mistkerl endlich um und ich erkannte sofort um wen es sich handelte.
 

„Willkommen in meinem Heim, sagte die Spinne zur Fliege.“ Weevil Underwood schob die Brille mit dem Käferbügel nach oben und grinste breit. Ich kannte ihn aus den Fachzeitschriften und von den Erzählungen seitens meiner Freunde.
 

„Gib sofort meine Karte zurück, Weevil, oder es wird dir leidtun.“
 

„Sei nicht so frech, sonst wirst du deine seltenste Karte niemals wiedersehen.“
 

Das Aas wedelte tatsächlich mit einer meiner Karten herum. Grinsend drehte er sie zwischen den Fingern: „Sieht nett aus. Unikat, hm?“
 

„Her damit, oder ich werde sauer“, knurrte ich. „Du kannst sie sowieso nicht benutzen.“
 

Das konnte er wahrscheinlich wirklich nicht. Was er da so freizügig präsentierte war Obelisk. Ob ich noch einmal so einen Zaubertrick wie bei Lumis und Umbra hinbekommen würde war zwar fraglich, doch die Vermutung lag nahe, dass der Gott sich weigerte, von Weevil benutzt zu werden.
 

„Du hast es noch immer nicht kapiert, oder?“ Um seiner Drohung mehr Eindruck zu verleihen, griff er in seine Hosentasche und zog ein Feuerzeug hervor, das er symbolisch unter die Karte von Obelisk hielt.
 

„Ich an deiner Stelle würde das lassen.“ Meine Augenbrauen wanderten nach unten. Was war das bitte für eine Arschgeige? Genauso schlimm wie Joey und Yugi ihn beschrieben hatten.
 

„Dann duelliere dich mit mir. Ich setze meine letzte Lokalisierungskarte und mein mächtigstes Monster.“
 

Ich schloss die Augen und verschmolz wieder mit Mahad. Dieses Duell würde anders ablaufen. Niemand vergriff sich an meinen Sachen. Ich würde diese Wanze zerquetschen und das vor aller Welt. Diese miesen Tricks mussten ein Ende haben.
 

Nachdem ich die Augen wieder geöffnet hatte, griff ich in meine Hosentasche nach meinem Handy.
 

„Was machst du da?“, fragte Weevil mit einem Anflug von Unsicherheit. Da hatte wohl wer Schiss, dass er mit seiner krummen Nummer nicht durchkam.
 

„Für Publikum sorgen“, war meine knappe Antwort. Ich suchte einen bestimmten Kontakt und rief sogleich an.
 

„Hey Mokuba, alles klar?“
 

„Natürlich! Geht mir schon viel besser! Ich bin gerade im Hauptquartier. Bist du schon fertig? Sollen wir dich abholen?“
 

„Nein, aber ich hätte gerne, dass ihr eine Liveübertragung schaltet. Die Grünanlage im Süden, wo ich dir einmal beim Skateboarden zugesehen habe, weißt du noch?“
 

„Klar! Ich schalte gleich um.“
 

„Du bist ein Schatz, danke.“
 

Mit einem Anflug von Genugtuung legte ich auf und schob mein Handy wieder in die Hosentasche. Weevil sah indes nicht mehr so selbstsicher aus wie vorhin noch. Rasch versteckte er Obelisk in seiner Jackentasche und aktivierte seine Duel Disk.
 

„Was ist los? Angst, dass ich dich disqualifizieren lasse?“ Ich grinste breit und tat es dem kleinen Mistkerl gleich.
 

„Selbst wenn; bis Kaibas Handlanger da sind, wäre ich schon längst über alle Berge. Also sei lieber schön ruhig. Du setzt deine drei Lokalisierungskarten und ich im Gegenzug meine. Wenn du gewinnst, was sehr unwahrscheinlich sein sollte, dann bekommst du dein Monster zurück.“
 

„Das werden wir ja sehen. Also, Duell!“
 

„Als Erstes rufe ich die Jagdspinne im Angriffsmodus aufs Feld.“
 

Bereits bevor das Monster auf dem Feld erschien, lief es mir eiskalt über den Rücken. Das konnte kein Zufall sein. Der Mistkerl wusste von meiner Angst vor Spinnen. Wahrscheinlich lauerten noch mehr von diesen Mistviechern in seinem Deck.
 

Die Jagdspinne stellte sich als große, behaarte Arachnide heraus, die sich mit zwei der acht schwarz-orangen Beinen aufrecht hielt. Sabber lief ihr aus dem Maul, das mit zwei Greifzangen versehen war und die bedrohlich klickten. Wenigstens hatte sie keine acht Augen, was das Ganze aber für mich nicht wirklich einfacher machte. Sie war mit 1.600 Angriffspunkten nicht mal stark, sondern sollte mich einfach aus dem Konzept bringen.
 

„Ich bin bei dir“, versuchte mich Mahad zu beruhigen.
 

„Ich weiß“, gab ich in Gedanken zurück und vermied den Blick zu dem Monster. In der VR war es doch auch geglückt Jirai Gumo zu besiegen. Warum zögerte ich heute schon wieder? Jetzt hatte ich Mahad auf meiner Seite, und gerade vorhin einen Gott gebändigt. Vor so einer trivialen, nahezu lächerlichen Aufgabe, ein Hologramm zu zerstören, da zögerte ich.
 

„Habe ich dich aus dem Konzept gebracht? Wie schade. Was wohl deine Zuschauer sagen werden, deine Fans, wenn du jetzt schon schlapp machst?“ Weevil war auf eine ganz andere Art herablassend als Kaiba. Er brachte mich noch weit mehr in Rage, weil er sich überhaupt nicht in der Position befand, mich so zu behandeln wie der CEO.
 

„Schnauze.“ Ich schüttelte den Kopf und legte eine Monsterkarte aufs Feld.
 

„Garoozis, kümmere dich um die Spinne.“
 

Fauchend erschien mein Echsenkrieger auf dem Feld. Er warf den gehörnten Kopf in den Nacken, packte die doppelschneidige Streitaxt und zersäbelte die Jagdspinne, die wild kreischend unterging. Ich vermied den Blick auf das Geschehen. Bisher war ich noch nicht umgekippt, ein gutes Zeichen.
 

„Das sollte mich wohl tief treffen, tut es aber nicht. Als Nächstes rufe ich Jirai Gumo aufs Feld. Die Karte dürfte dir genauso gefallen wie die Jagdspinne, hm?“ Das widerliche Kichern Weevils raubte mir jetzt schon den letzten Nerv.
 

Jirai Gumo erschien schützend vor dem Zwerg, der sich einen ablachte, als ich tatsächlich einen Schritt nach hinten machte. Ich kannte das Monster ja, wie es aussah, sich bewegte, verhielt, den zischenden Laut, den es machte. Trotzdem bekam ich eine Gänsehaut, als sich die klauenartigen Beine um Garoozis legten und diesen auf den Kartenfriedhof beförderte.
 

„Spinnen sind was Herrliches. Tolle Tiere, obwohl nicht einmal Insekten. Wusstest du, dass sie eine eigene Kategorie haben? Arachniden – für Arachnophobiker etwas ganz Schlimmes, oder?“
 

Das machte er mit Absicht. Woher wusste der Dreckskerl von meiner Angst? Egal, ich musste mich dieses Mistviehs entledigen. Meine nächste Karte war dafür auch ausreichend.
 

„Ich rufe den Schwarzen Magier aufs Feld.“
 

Wie üblich, mit einer kunstvollen Stunteinlage mit seinem Stab, tauchte mein Schwarzer Magier auf. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte missgünstig auf Jirai Gumo hinab.
 

„Schaff das Ding aus dem Weg“, befahl ich meinem Monster, das diesem Wunsch nur zu gern nachkam. Mit einer Handgeste ließ er Jirai Gumo in tausend Teile zerspringen.
 

„Das war aber gar nicht nett“, murmelte Weevil. „Genug jetzt von den Samthandschuhen!“
 

„Ich habe um keine Samthandschuhe gebeten“, warf ich dem Insektenfreak entgegen.
 

„Du wirst deine Worte noch bitter bereuen“, kicherte er. „Ich spiele ein Monster im Verteidigungsmonster und beende meinen Zug.“
 

Das war zu leicht. Er wollte, dass ich angriff. Ich hatte aber nichts auf der Hand um eine etwaige Fallenkarte zu entschärfen. Sollte ich angreifen? War er so überheblich? Daran glaubte ich nicht. Wenn aber mein Schwarzer Magier das Monster aus dem Weg räumte, und ich nächste Runde etwas wie mein Rotauge zog, wäre Weevil in arger Bedrängnis. Ich musste es riskieren.
 

„Schwarzer Magier – puste Weevils Monster vom Feld! Schwarze Magieattacke!“
 

Erneut streckte mein Monster seine Hand aus. Erneut griff es an. Doch im Gegensatz zu letztem Mal wurde der Gegner nicht zerstört. Stattdessen schoss ein mannshoher Wurm mit nur einem Auge und Flügeln am Kopf unter der Karte hervor und bohrte sich in den Schädel meines Schwarzen Magiers. Dieser stöhnte und schüttelte den Kopf.
 

„Trottel, du bist mir voll in die Falle gelaufen.“
 

„Was ist das für ein Ding?“
 

„Das ist mein fliegender Blutsauger Kiseitai – er verbindet sich mit dem Monster, das ihn angreift. Ich bekomme außerdem die Hälfte der Angriffspunkte als Lebenspunkte.“
 

Tatsächlich schossen Weevils Lebenspunkte in die Höhe. Er hatte jetzt 4.750 davon.
 

„Bis ich unangreifbar bin!“, lachte er. „Jetzt wird es aber Zeit, dass ich ernst mache. Als Erstes rufe ich meine kleine Mottenlarve aufs Feld – ist sie nicht süß?“
 

Wenn die kleine Raupe, die sich am Boden entlangwindete, süß war, hatten Weevil Underwood und ich ganz unterschiedliche Auffassungen ob der Definition dieses Wortes. Das war aber nur ein schwaches Monster. Mein Schwarzer Magier konnte noch angreifen. Was hatte er vor?
 

„Die Kleinen bedürfen besonderen Schutzes, aber das weißt du ja sicher. Du teilst mein Los“, führte Weevil weiter aus, was mich dazu bewog, meine linke Hand zur Faust zu ballen. Irgendwer musste dem Dreckskerl Insiderwissen zugespielt haben. So viele Glückstreffer, zuerst meine Arachnophobie, dann die Tatsache, dass ich nicht gerne auf meine Größe angesprochen wurde – das konnten keine Zufälle sein.
 

„Nun werde ich meine Mottenlarve in den Kokon der Evolution packen.“
 

Die Larve sponn sich selbst mit einem Fadennetz ein. Anstelle der schwächlichen Motte thronte ein großer Kokon vor Weevil. Mit 2.000 Verteidigungspunkten konnte ich das Ding aber trotzdem mit meinem Schwarzen Magier wegblasen.
 

„Und noch zwei Karten verdeckt.“
 

Meine nächste Karte war der Beauftragte der Dämonen. Sehr gut. Damit würde ich Weevil einen ordentlichen Schlag verpassen. Ein drittes starkes Monster und sein Blutsauger konnte nicht genug Lebenspunkte generieren.
 

„Ich rufe den Beauftragten der Dämonen aufs Feld.“
 

Weevil zuckte bei der Erwähnung dieses Namens kurz. Ich wusste was er vorhatte: Er wollte seine Supermotte beschwören. Die Taktik mit der Insektenkönigin war zu vergessen, denn die hatte ihm Joey abgenommen. Das war seine einzige Chance, und er hatte Angst, dass ich die Exodia-Teile vorher zusammenhatte.
 

„An den erinnerst du dich sicher noch, Weevil – er hat deine liebe Motte gegrillt.“
 

Knurrend erschien der Dämon auf dem Feld. Der knöcherne Körper knackte, als die klauenartigen Füße den Boden berührten und er seine Flügel spreizte. Der Geruch von Elektrizität erfüllte die Luft. Das waren jetzt fünftausend Angriffspunkte. Nächste Runde war er dran. Zuerst würde ich mich aber um seine Motte kümmern.
 

„Schwarzer Magier, greif an!“
 

Folgsam streckte mein Magier seinen Stab in Richtung des Kokons. Ein schwarzer Blitz sprang von der Spitze ab und hielt direkt auf das Ei zu.
 

„Das war es dann wohl mit deiner Motte, Weevil.“
 

„Na, wenn du dir da mal nicht zu sicher bist. Zeit dich endgültig in die Knie zu zwingen. Als Erstes decke ich meine verdeckte Karte auf, die sich Rücksichtsloser Parasit nennt. Damit wird die Parasitenkarte in deinem Deck aktiviert.“
 

Ich blinzelte kurz, hielt mir dann den linken Arm vor die Augen, als meine Duel Disk hell aufleuchtete.
 

„Eine Parasiten-Starterkarte, wie nett. Sieh sie als Ersatz für dein Supermonster an.“
 

Das kleine Aas zog tatsächlich die gleiche Nummer ab wie bei Joey. Er hatte mir eine Karte ins Deck geschmuggelt. Vier Tentakeln fuhren aus dem schwachen Monster und bohrten sich in den Rücken meiner eigenen Karten. Meinem Schwarzen Magier wuchsen schmetterlingsartige Flügel und er verbreitete Sporen, während der Beauftragte der Dämonen Greifscheren als Hände bekam und wie eine groteske Mischung aus Gottesanbeterin und Teufel wirkte.
 

„Meine nächste Karte kennst du sicher auch, oder? Insektenpanzer! Damit können mich keine Insektenmonster angreifen.“
 

Der Blitz meines Magiers prallte an einer leuchtenden Gitterbarriere ab.
 

„Scheußlich, wenn man einfach gleich blöd ist wie Wheeler. Kein Wunder, dass ihr euch gut versteht.“
 

Dieser arrogante Mistkerl. Ich war ihm genau in die Falle getappt. Wie konnte ich nur so dumm sein und meine Karten nicht vor dem Duell kontrollieren? Jetzt hatte ich den Salat. Mahad schüttelte innerlich den Kopf. Er war, genauso wie ich, von soviel Falschheit und Betrügereien angewidert.
 

„Ah ja, und da du dran warst, bekomme ich noch einmal einen netten Batzen Lebenspunkte. Mir gefällt es, dass unser Duell übertragen wird. Dann kann die ganze Welt sehen, wer die Nummer eins ist!“
 

Ich wollte ihm sein überhebliches Grinsen so sehr aus dem Gesicht wischen, doch ich war ehrlich gesagt ratlos. Mahad erging es ähnlich. Wir hatten nichts auf der Hand, das Weevil hätte aufhalten können. Meine größte Hoffnung war die Exodia, und von der hatte ich zwei Teile, nämlich beide Hände, sowie den Vertrag mit Exodia, im Blatt. Auch wenn ich nicht angreifen konnte, so waren meine Monster unüberwindbar, zumindest bis die Motte in fünf Zügen auftauchen würde.
 

„Dann muss ich wohl passen“, schnaubte ich wütend.
 

„Ah, ah, ah – ich habe natürlich auch für das Exodia-Problem vorgesorgt. Meine nächste Karte nennt sich Kartenzerstörung. Bei deinem Glück hast du mindestens ein Teil von ihr auf der Hand. Los, wirf dein Blatt ab!“
 

„Nein!“, schrie ich. Das war meine Chance auf den Sieg gewesen. Ohne den Vertrag mit Exodia konnte ich auch die Notfallstrategie wegschmeißen.
 

„Ooooh, habe ich dich so in die Ecke gedrängt? Wie schade.“ Weevil lachte höhnisch.
 

Meine nächsten fünf Karten bestanden aus meinem Rotauge, sowie zwei weiteren Exodia-Teilen und einer Fusionskarte. Es war einen Versuch wert.
 

„Ich rufe mein Rotauge aufs Feld und fusioniere ihn mit dem Beauftragten der Dämonen.“
 

Wenigstens blieb mir der Anblick erspart, wie sich mein Drache ebenfalls in ein Pseudo-Insekt verwandelte. Brüllend reckte der Schwarze Totenkopfdrache seinen Schädel in die Höhe und schlug mit den Flügeln so stark, dass Weevil Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Bitte, bitte, keine Infektion.
 

„Nett was du da aus dem Hut zauberst, aber…“
 

Er musste nicht zu Ende sprechen. Der Parasit fraß sich in meinen Drachen hinein und verschandelte ihn. Aus dem Maul ragte ein Tentakel und er bekam Flügel wie eine überdimensionale Fliege. Zischend ging er auf die Knie. Das konnte doch nicht wahr sein! Mich ergriff zunehmend ein Gefühl der Verzweiflung.
 

„Und wieder nette Lebenspunkte auf mein Konto. Du bist echt ein Trottel. Ich rufe inzwischen mein Urinsekt aufs Feld.
 

Eine große Heuschrecke machte sich neben dem Kokon breit. Schwach, mit 500 Angriffspunkten, aber wie ich Weevil einschätzte, würde er sie bald aufpowern. Seine Motte konnte meine Monster aus dem Weg räumen und das Kleinvieh meine Lebenspunkte direkt dezimieren, während ich dazu gezwungen war, zuzusehen.
 

„Du bist dran, und ich bekomme wieder einen Haufen Lebenspunkte – drei Runden übrigens nur mehr noch, dann wirst du der ultimativen Evolution gegenüberstehen.“
 

Meine nächste Karte war der Buster Blader, aber der würde mir wahrscheinlich auch nichts nützen. Ich musste irgendwie diesen Blutsauger loswerden. Nächste Runde würde Weevil an der 10.000er Marke kratzen. Ich brauchte einen Plan und zwar schnell.
 

„Ich rufe Buster Blader aufs Feld.“
 

Auch der Schwertkämpfer verwandelte sich in eine Insektenperversion. Sein Schwert verschmolz mit seinen Armen und aus seinem Rücken wuchsen zwei Greifarme, die an jene von Weevils Heuschrecke erinnerten.
 

„Mehr Futter für meine Motte, wie ich sehe. Sehr schön! Ich werde inzwischen mein Urinsekt mit dem Panzer Level Drei verstärken!“
 

Weevils Heuschrecke bekam eine Panzerkanone auf dem Rücken montiert, die ihm fünfhundert Angriffspunkte zusätzlich verlieh. Krieg der Cyberinsekten, oder wo war ich hier gelandet? Mir lief die Zeit davon. Zwei Runden noch. Zwei Runden, bis diese verdammte Motte mich platt machen würde.
 

„Und wieder einen Haufen Lebenspunkte für mich“, tönte mein Gegner. „Das ist ja noch leichter als bei Wheeler.“
 

Ich zog meine nächste Karte. „Joey hat dich geschlagen, und das werde ich auch tun. Jetzt ist Schluss mit deinem Lebenspunktegegeiere. Ich fusioniere nun Buster Blader und meinen Schwarzen Magier zum Schwarzen Paladin.“
 

Schwertkämpfer und Magier vermischten sich um den ultimativen Kämpfer zu erschaffen. Aus Orange wurde Schwarz, der Stab zu einer hellebardenartigen Waffe. Das dunkle Gesicht wurde grau, fast grünlich, während sich die Gesichtszüge meines Monsters verhärteten. Ein Magier in Gestalt eines Kriegers. Auch er blieb von einer Infektion nicht verschont. Sein Helm verwuchs mit dem Körper und erinnerte entfernt an einen Hirschkäfer, genauso wie er die Schmetterlingsflügel seines vorigen Daseins erbte.
 

„Damit ist zumindest dein Blutsauger Geschichte“, stellte ich zufrieden fest. „Außerdem erhält er für jeden Drachen auf dem Feld 500 Angriffspunkte. Damit sind wir bei 3.400 – knapp dran, deine Motte zu schlagen.“
 

Ich konnte kurz die Verärgerung, aber auch die Unsicherheit in Weevils Zügen erkennen. Er hatte wohl darauf gebaut, dass ich bereits winselnd vor ihm lag, aber diese Blöße würde ich mir nicht geben. Wenn ich untergehen musste, dann aufrechtstehend.
 

„Na und? Egal. Ich habe genügend Lebenspunkte um dich aus dem Weg zu räumen. Als Nächstes verstärke ich mein Urinsekt mit dem Power-Booster Level Zwei.“
 

Jetzt war auch noch eine Art Flugzeugdüse auf Weevils Riesenheuschrecke montiert worden. Damit hatte das Ding 1.700 Angriffspunkte. Ich musste entweder den Insektenpanzer loswerden, oder den Status meiner Monster als Insekten beheben. Aber wie? Da war guter Rat teuer. Das nächste Teil, der Kopf der Exodia, war ein schwacher Trost. Wo blieben denn Karten wie das Schwarze Loch oder der Königliche Erlass? Auch der Herr der Drachen wäre eine Möglichkeit gewesen, da er den Effekt von Weevils Parasiten-Starter auf meinem Totenkopfdrachen aufheben hätte können.
 

„Ich warte“, gab ich knurrend meine Untätigkeit zu.
 

„Für deinen Untergang ist bereits gesorgt. Ich muss ebenfalls nur mehr warten.“
 

Da hatte er mit seinem dreckigen Grinsen allerdings Recht. Nächste Runde würde seine Motte auftauchen und mich fertig machen. Ich brauchte jetzt etwas, dringend.
 

„Ich lege eine Karte verdeckt und beende meinen Zug.“
 

„Nun denn, endlich! Meine Perfekte Ultimative Riesenmotte – erscheine, meine Süße!“
 

Der Kokon brach auf und eine gigantische Motte bahnte sich ihren Weg daraus. Das Vieh schrie kreischend und hob mit ihren riesigen, blauen Flügeln, auf denen ein schnörkeliges Muster zu erkennen war, ab. Ihre Flügelschläge ließen eine Art Puder vom Himmel regnen. Dazu noch der Haufen Beine, ihre Hörner und die klickenden Zangen im Gesicht.
 

„Die vollkommene Evolution! Wie ist es, wenn man seinem Untergang ins Auge sieht? Du bist doch sicher auch so einer, der Insekten gnadenlos zertritt, anstatt sich an ihrer Schönheit zu erfreuen, oder? Das wird sich jetzt rächen! Riesenmotte, los – greif seinen Parasiten an!“
 

Verdammt! Ich hatte das Ding nicht in den Verteidigungsmodus gesetzt. Das musste ich schleunigst nachholen.
 

„Ich spiele die Zauberkarte Angriff annullieren.“
 

Die kreischende Motte prallte an einer unsichtbaren Barriere ab. Das passte meinem Gegenüber gar nicht. Wie wurde ich nur den gottverdammten Parasiten los?
 

„Ah, dann eben nächste Runde“, kommentierte Weevil seinen missglückten Angriff.
 

„Herz der Karten, jetzt wäre eine gute Gelegenheit mir aus der Patsche zu helfen“, sagte ich leise zu mir selbst. Ich schob Zeige- und Mittelfinger in mein Deck und zog die nächste Karte. Dabei war ich Kaiba und Yugi auch sehr ähnlich. Ihr Einfluss auf mich – unbestreitbar. Eine Zauberkarte. Weevil meinte doch, Obelisk wäre ein Unikat. Das traf zu, aber er war nicht das Einzige in meinem Deck.
 

„Wenn du unfair spielst Weevil, werde ich das auch machen. Ich habe hier etwas auf der Hand, das mich von deinem Parasiten befreit. Mehr noch: Meine Monster werden damit nahezu unangreifbar.“
 

„Ein Bluff, mehr nicht. Was soll denn das für eine Karte sein? Du hast dein Supermonster nicht mehr.“
 

„Ja, weil du es mir geklaut hast.“
 

„Na und? Wen interessiert das schon?“
 

„Die Kampfrichter“, hob ich meine Mundwinkel an. „Wir sind noch immer live, schon vergessen?“ Ich hoffte es zumindest.
 

Weevil wurde kreidebleich im Gesicht. Da hatte er sich verraten. Jetzt würde ich es ihm heimzahlen, dass er mich bestohlen hatte. Außerdem war da noch die Revanche für die Exodia-Karten von Yugis Großvater.
 

„Ich spiele die Toon-World!“
 

Als ich die Karte in die Duel Disk schob, leuchtete diese grell auf. Ein Regenbogen ging von ihr aus und ließ ein großes Buch mit grünem Einband erscheinen. Auf der einen Seite war eine Cartoon-Version von Ryu-Rans Kopf zu sehen, auf der anderen Seite der der Meerjungfrau mit Bogen. In farbigen Lettern stand groß „Toon World“ auf dem Buchdeckel. Dazu ertönte aus dem Nichts eine albern anmutende Musik, wie aus einem Gameboy Spiel der frühen Zweitausender. Das Buch öffnete sich und sog mit einem lauten Plopp meinen Schwarzen Totenkopfdrachen, sowie den Dunklen Paladin, hinein. Der Parasit leistete ihnen ebenfalls Gesellschaft. Dann klappte die Toon World wieder zu und es waren Laute zu hören, als würde sich jemand prügeln. Das Buch zitterte und bebte.
 

„Was, was ist das?“ Weevil machte einen Schritt nach hinten und rückte seine Brille zurecht.
 

„Du hättest besser zwei Karten geklaut Weevil. Jetzt werde ich dir mal etwas zeigen. Für diese Karte habe ich viel Lehrgeld bezahlen müssen.“
 

Der Buchband sprang auf und meine beiden Monster kamen zum Vorschein. Den Parasiten hatten sie wohl vermöbelt, dafür, dass er sie so sehr verschandelt hatte vorhin. Ob diese Existenz besser war, bezweifelte ich stark, aber gut.
 

Mein Schwarzer Paladin war deutlich kleiner und auch jünger geworden. Er kicherte albern, als er mit großen, roten Zeichentrickaugen zu Weevils Motte hinaufstarrte. Liebenswert, schüchtern aber mit einem gewissen Schalk im Nacken.

Dem Totenkopfdrachen war ein ähnliches Schicksal beschieden. Er war größer als sein Kollege, aber wirkte auch eher putzig. Seine übergroßen Augen fixierten die Motte und er hielt sich wahnsinnig lachend die Klauen vor sein Maul und schüttelte sich dabei.
 

„Du willst mich mit den Dingern fertig machen?“
 

„Natürlich, Weevil. Schwarzer Paladin – kümmere dich um sein Urinsekt.“
 

Laut lachend schoss mein Monster in die Höhe und umkreiste die Heuschrecke so schnell, dass diese mit dem Schauen nicht mehr hinterherkam. Ich hatte auf etwas halbwegs Würdevolles gehofft, doch den Gefallen tat mir mein Toon nicht: Nachdem er dem Urinsekt ein ordentliches Schwindelgefühl verpasst hatte, trat er ihm einfach mit den winzigen Füßen in die Nasenlöcher. Ein lautes Knacken ertönte und die Motte explodierte, während überall Worte wie „Kawoosh, Kaboom und Boing“ aufleuchteten.
 

„Du bist dran.“ Ich konnte mein Grinsen nicht verbergen.
 

„Na warte“, knurrte Weevil. „Los, Riesenmotte – greif seinen Schwarzen Paladin an!“
 

Die Motte setzte zum Sturzflug an, wurde aber von einem euphorischen Gegner dadurch gestoppt, dass er ihr einfach auf die Nase schlug. Als das Ungetüm sich zurückzog, wedelte er mahnend mit dem Zeigefinger, bevor er sich, kugelnd vor Lachen, den Bauch hielt.
 

„Was soll das? Meine Motte hätte ihn zerstören müssen.“
 

„Tja, Weevil – das habe ich auch auf die harte Tour lernen müssen. Du kannst Toons nicht zerstören, es sei denn du kümmerst dich um die Toon World.“
 

„Und der Parasit?“
 

„Der ist wohl verhauen worden.“ Auch wenn es wirklich grotesk war meine Monster so zu sehen, irgendwie bereiteten sie mir große Freude. Das hier war mal eine Abwechslung zum ernsten Kampf um die Welt, meine Freunde und jedem sonstigen Mist, den man mir auf die Schultern geladen hatte. Wie ein komplett sinnloser Zeichentrickfilm.
 

„Das geht doch nicht! Das kann nicht sein!“
 

„Natürlich. Und jetzt…“ Ich zog meine nächste Karte und grinste noch breiter. „Mache ich dich fertig, Weevil Underwood. Zeit deine Motte gebührend zu verabschieden. Ich spiele das Buch der Dunklen Künste – es verschafft meinem Schwarze Paladin zusätzliche dreihundert Angriffs- und Verteidigungspunkte. Da mein Totenkopfdrache noch immer als Drachenmonster gilt, heißt das…“
 

Pegasus´ Hang zu Cartoons wurde mir in dem Moment klar, als eine überdimensionale Fliegenklatsche vor meinem Paladin erschien, die dieser mit weit offenem Mund und großen Augen anstarrte. Freudig ergriff er sie und fuchtelte wild damit herum.
 

„Schwarzer Toon Paladin – knipse der Motte das Licht aus!“
 

Nun waren es Wörter wie „Klatsch, Zack und Knirsch“, die in grelloranger Farbe aufleuchteten, während der Paladin die Fliegenklatsche, die ihre Farbe mit jedem Treffer wechselte, Weevils Motte um die Ohren pfefferte.
 

„Was machst du da?“, rief Weevil entsetzt. „Meine schöne Motte!“
 

Diese hatte sich verabschiedet und der Schwarze Paladin reckte die Fliegenklatsche heroischer in die Höhe, als König Artus, als er das Schwert aus dem Stein gezogen hatte.
 

„Schwarzer Toon Totenkopfdrache – Angriff auf Weevils Lebenspunkte!“
 

Wie Superman streckte der Drache seine rechte Faust aus und hielt auf Weevil zu. Kurz vor dem Aufprall stoppte er und begann ihn zu verhauen. Seine Faust war überall und nirgends. Das hatte gesessen!
 

„Aber das ist unfair!“, schrie Weevil.
 

„Das ist genauso fair wie deine Spielweise. Los, mach deinen nächsten Zug.“
 

Weevil wurde in die Verteidigung gedrängt. Sämtliche seiner Monster fielen der Fliegenklatsche oder Faust meiner Zeichentrickfiguren zum Opfer. Dazu verlor er bei jedem Zug einen Haufen Lebenspunkte. Weder Fallen- noch Zauberkarten hatten einen Einfluss auf die Toons. Genüsslich befahl ich dem Schwarzen Paladin zum finalen Schlag auszuholen.
 

„Angriff!“
 

Mit der Fliegenklatsche schlug er Weevil so schnell gegen die Wangen, dass dieser aufschrie. Als krönender Abschluss verpasste er ihm einen Tritt gegen sein Schienbein und beförderte ihn mit einem letzten Hieb auf den Kopf zu Boden. Ich hatte gewonnen. Die Hologramme lösten sich auf, wobei meine Monster schadenfroh kicherten.
 

„Her mit meiner Karte, der Lokalisierungskarte und deiner Motte“, sagte ich und streckte die Hand aus.
 

„Du bekommst gar nichts von mir!“, schrie Weevil und wollte loslaufen, was ich aber einfach dadurch verhinderte, dass ich ihm auch gegen sein Schienbein trat, aber das andere.
 

„Au!“
 

„Nerv mich jetzt ja nicht. Her mit den Karten, oder ich werde wirklich sauer.“
 

„Hab Erbarmen! Lass mir wenigstens meine Motte!“
 

„Erbarmen? Mit dir? Sonst hast du sie aber schon noch alle? Her damit.“ Grob packte ich ihn am Kragen und zog ihn in die Höhe. „Oder ich sorge dafür, dass du nie wieder auch nur eine einzige Duel Monsters Karte in Händen halten wirst.“ Meine Gesichtszüge verhärteten sich. Jetzt war Schluss mit lustig.
 

„Ich kann dir etwas Anderes anbieten! Schau!“ Weevil griff in seine Jackentasche und holte Obelisk hervor, sowie eine durchsichtige Lokalisierungskarte und eine Zauberkarte. „Bitte, meine Motte…“
 

„Legendäre Evolution“ – die Zauberkarte zeigte einen Altar mit zwei Fackeln, hinter dem die Rüstung des Schwarzen Paladins stand. Was die Karte konnte war nicht ersichtlich.
 

„Hast du die auch geklaut?“
 

„Nein, habe ich nicht. Ich schwöre.“ Weevils Betteln war armselig. So leicht ließ ich ihn nicht vom Haken. Das schuldete ich Yugi.
 

„Gib deine Motte auch noch her, du Drecksack.“
 

„Aber…“
 

„Her damit, oder ich schiebe dir deine Brille mitsamt dem Nasenbein ins Hirn.“
 

Ich war eindeutig der Stärkere von uns. Ich hoffte, dass wir noch auf Sendung waren.
 

„Nein!“, wehrte er sich wie ein kleines Kind.
 

„Na dann“, hob ich die Schultern an und griff nach meinem Handy.
 

„Mokuba? Habt ihr alles mitbekommen?“
 

„Ja – Weevil wird disqualifiziert. Die Motte steht dir zu. Ich habe schon Leute losgeschickt. Sie sind gleich bei euch.“
 

Wie aufs Stichwort kamen zwei Schränke in Schwarz. Diese schnappten sich einen tobenden Weevil und verschafften mir obendrein die Karten, inklusive der Motte, der Larve und dem Kokon. Genüsslich tat ich das, was Kaiba mit dem Weißen Drachen von Yugis Großvater getan hatte: Ich zerriss die Perfekte Ultimative Motte vor Weevils Augen, der immer lauter schrie. Mitsamt seinem Parasiten-Starter warf ich ihm die Karten ins Gesicht.
 

„Sei froh, dass ich heute einen guten Tag habe, sonst wäre es dir ganz anders ergangen. Dafür, dass du die Exodia-Teile von Yugis Großvater damals im Königreich der Duellanten versenkt hast, müsste ich dich eigentlich an den Beinen aufhängen, oder dir ein Hornissennest in die Hose stopfen.“
 

Der weinend-zeternde Weevil schwor, dass er sich an mir rächen würde, während er von den Sicherheitsleuten weggebracht wurde. Ich würde es noch bereuen. Fürchterlich, widerlich, ekelhaft. Zur Abwechslung konnte ich mir ein schadenfrohes, süffisantes Lachen meinerseits nicht verkneifen. Das hatte wirklich gutgetan.
 

„Mokuba? Bist du noch dran? Kannst du mich abholen lassen? Ich bin fertig. Außerdem hätte ich jetzt dann wirklich gerne mal einen Milchshake, Himbeere mit Zitrone. Lässt sich da was machen?“
 

„Natürlich! Wir holen dich gleich ab!“
 

Zufrieden legte ich auf und schob mein Handy in die Hosentasche zurück. Mein Deck war wieder vollständig, ich hatte heute Yugi und Joey gerächt, einen unfairen Spieler aus dem Verkehr gezogen und obendrein bekam ich noch meinen Milchshake. Was wollte man mehr? Finale, ich komme.

Streit vor dem Finale

Kaum, dass ich aus dem Hubschrauber gesprungen war, hatte ich auch schon Mokuba am Hals, der mich gar nicht mehr loslassen wollte. Ich lächelte und legte dem kleinen Frechdachs die Arme um den Rücken.
 

„Das war sooooo cool. Wie du Weevil vorgeführt hast. Wahnsinn!“, plapperte er in einer Tour, während ich mit dem Kaiba-Bündel in den Armen in die Villa hineinging. Dort wurde ich auch schon von meinen Freunden, bestehend aus Yugi, Joey und Tristan erwartet. Zweiterem verpasste ich einen Kuss und ließ mich dann aufs Sofa fallen, nachdem ich Mokuba abgeladen hatte.
 

„Wie geht es dir?“, erkundigte ich mich besorgt.
 

„Ach, ich bin nicht kleinzukriegen. Wir sind im Finale, ist dir das klar?!“ Joeys Euphorie stand ihm ins Gesicht geschrieben.
 

„Ist mir durchaus bewusst“, schmunzelte ich und sah zu Yugi. „Du hast also auch noch ein Duell gepackt?“
 

„Natürlich“, nickte er mir lächelnd zu.
 

„Toll, ihr hattet alle Spaß, während ich Joey die Hand halten durfte“, maulte Tristan grinsend und wurde gleich verbal von seinem besten Freund angegangen, was ich aber ausblendete. Wenn Joey sich mit ihm fetzen konnte, war er wirklich nicht sonderlich angeschlagen.
 

„Yugi – tut mir leid, mir wäre irgendwie wohler gewesen, wenn ich es Weevil irgendwie heimzahlen hätte können, dafür, dass er dir die Exodia-Karten deines Großvaters genommen hat.“ Ich wollte noch etwas anfügen, als Mokuba mir meinen Milchshake vor die Nase hielt. Der Geschmack war himmlisch. Ich bedankte mich, wurde vom kleinen Kaiba mit einer weiteren Umarmung belohnt, bevor er sich wieder aus dem Staub machte.
 

„Wofür denn?“, lächelte Yugi und sah zu Tür, aus der sein Großvater trat.
 

„Es war mutiger, ihn gehen zu lassen, als ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen. Vielleicht beginnt Weevil Underwood ja jetzt sein Leben zu überdenken? Wer immer mit dem Kopf durch die Wand will, der kann nicht erwarten, dass andere sich ändern.“
 

Der alte Mann ließ sich neben mir auf dem Sofa nieder und murrte leise etwas von „alter Knochen“.
 

„Aber Herr Muto“, protestierte ich. „Dieser kleine Mistkerl hat betrogen, sie mehr oder weniger bestohlen…“
 

„Ich gräme ihm aber deswegen nicht mehr, oder wie sagt ihr jungen Leute heute? Ich bin nicht mehr sauer…“
 

Ich schüttelte den Kopf und nippte wieder an meinem Milchshake. Dann musste ich unweigerlich grinsen und schaute wieder zu dem alten Mann hinüber.
 

„Haben Sie wenigstens die Nummer der Verkäuferin ergattern können?“
 

„David!“, rief Yugi entsetzt und lief knallrot im Gesicht an.
 

„Oh, na das…“, grinste Herr Muto zurück und griff in seine Hosentasche. Das war mir Antwort genug.
 

Bevor ich noch etwas erwidern konnte, hatte mich Joey am Arm gepackt und zog mich hinter sich her. „Hey, mein Milchshake“ maulte ich noch, aber es war zwecklos. Amüsiert schauten mir Tristan, Yugi und Herr Muto hinterher.
 

Kaum, dass wir in meinem Zimmer waren, sperrte mein Freund die Tür hinter uns ab und zog mich fest in seine Arme. Ich blinzelte perplex, erwiderte dann aber die Umarmung. Ehe ich es mich versah, hatte mir Joey auch schon die Lippen mit einem Kuss versiegelt. Einen Moment lang stockte ich, dann ließ ich mich fallen und lächelte dabei selig. Bei meinem letzten Kuss hatte ich schon geglaubt, es würde mein letzter sein. Das hier war eine Belohnung, noch befriedigender als Obelisk wieder in den Händen zu halten.
 

„Ich hatte so Schiss da draußen“, murmelte Joey leise, als er sich widerstrebend von mir löste.
 

„Nicht nur du“, hauchte ich zurück. „Das war mir fast eine Nummer zu groß. Du hast gut gespielt, weißt du das eigentlich?“
 

„Klappe“, murrte Joey halbernst und küsste mich erneut, wobei er mich aufs Bett bugsierte. Dort angekommen drehte er mich herum, zog mich in seine Arme und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Bettgeländer. Ich erschauderte, als er mir mit den Lippen über den Nacken strich, zum Ohr hin. Sanft knabberte er an meinem Ohrläppchen.
 

„Joey, das…“, begann ich, wurde aber sogleich unterbrochen, als er mir einen Finger auf die Lippen legte.
 

„Keine Angst, ich will gerade nicht mit dir schlafen, falls du das meinst. Es geht nur darum, deine Nähe zu spüren. Das geht niemanden etwas an, außer dich und mich. Ich schäme mich nicht für dich, im Gegenteil, ich bin stolz auf dich, stolz darauf, dein Freund sein zu dürfen, und auch, dass wir gemeinsam gekämpft haben. Die anderen sollen uns aber nicht stören. Außerdem schäme ich mich, wenn mir jemand dabei zusieht, wie ich eventuell flenne.“
 

Ich seufzte innerlich, nickte dann aber. Joey hatte noch immer das Gefühl, dass er mich beschützen musste, oder so ähnlich, dabei war das eigentlich mein Part. Ich lehnte mich einfach gegen ihn und schloss die Augen, wobei ich ihm über die Oberarme strich.
 

„Hast du Angst?“, fragte er mich nach einer Weile, in der ich es einfach genossen hatte, ihn bei mir zu haben.
 

„Ja“, antwortete ich ohne zu zögern.
 

„Das musst du nicht“, hauchte er mir entgegen und ich konnte dabei heraushören, wie er lächelte. Einer seiner Arme löste sich aus meiner Streichelbehandlung und wanderte nach oben, um mir durchs Haar zu wandern. „Du bist mutig, stark und selbstsicher. Ich habe keine Sekunde daran gezweifelt, dass wir gewinnen würden.“
 

„Du bist ein schlechter Lügner“, schmunzelte ich und schmiegte mich an seine Halsbeuge. „Du hast genauso geglaubt zu verlieren, als Umbra Obelisk aufs Feld gerufen hat.“
 

„Nein“, erwiderte Joey fest. „Nicht eine Sekunde.“
 

„Warum?“, fragte ich und öffnete die Augen.
 

„Weil ich denke, dass es an der Zeit ist, dir etwas zu gestehen.“ Joeys rehbraune Augen sahen auf mich herab und ich konnte ein gewisses Maß an Schuld darin erkennen.
 

„Was?“
 

„Du erinnerst dich doch nach daran, dass ich wusste, was meine Mutter alles über mich erzählt und gedacht hat? Genauso wie über dich?“
 

„Ja?“, fragte ich vorsichtig nach.
 

„Das liegt daran, dass ich auch ein Schmuckstück habe“, begann er langsam. „Yugi hat sie mir gegeben…“
 

Ich zuckte mit dem rechten Auge ein wenig, bevor ich mich aus Joeys Umarmung befreite und mich ihm gegenüber hinsetzte.
 

„Du hast was?“, fuhr ich ihn an.
 

„Ich habe auch einen Milleniumsgegenstand“, murmelte mein Freund und wurde unter meinem wütenden Blick immer kleiner.
 

„Das war ein Umstand, den du nicht für wichtig genug erachtet hast, um ihn mir mitzuteilen?“, schnaubte ich aufgebracht.
 

„Schon, aber… mir hat es doch auch nicht gefallen dich zu belügen. Wobei ich dich ja nicht einmal belogen habe. Außerdem war es Yugi, der…“
 

„Lenk jetzt ja nicht dein eigenes Unvermögen, mir die Wahrheit zu sagen, auf Yugi. Warum hast du es mir nicht gesagt?“ Meine Stimme bebte. Ich wusste nicht einmal, warum ich so sauer auf Joey war. Fühlte ich mich hintergangen? Verraten?
 

„Ich wollte halt auch etwas haben, weil ich Schiss davor hatte, dass du böse wirst wie Bakura“, murmelte Joey kleinklaut und knickte vollends ein.
 

„Bitte?“ Mir entglitten die Gesichtszüge, als der Blondschopf mir das ins Gesicht sagte. „Du glaubst also noch immer, ich wäre böse, oder würde böse werden?“
 

„Nein, ich…“, stammelte Joey vor sich hin. „Versteh mich doch! Wir alle haben so viel mit Bakura mitgemacht. Dazu ist die Situation so ähnlich der, wie damals. Außerdem wollte ich dich nicht verlieren.“
 

„Du vertraust mir nicht“, stellte ich fest. „Du glaubst, ich kann den Ring nicht bändigen.“ Mahad wollte sich gerade mental melden, aber das unterdrückte ich gekonnt. Ich war in Rage. Mein Freund glaubte nicht an mich, vertraute mir nicht.
 

„Doch, natürlich!“, rief Joey bestürzt. „Ich habe mich nur schlecht gefühlt, weil alles an Yugi hängen blieb.“
 

„Was blieb an Yugi hängen?“, fauchte ich.
 

„Wenn du durchgedreht wärst, hätte er dich besänftigen müssen.“
 

„Wenn ich durchgedreht hätte? Sag mal Joey, hörst du dir selbst zu?“ Meine Finger krümmten sich nach innen und ich rutschte ein wenig von ihm weg. Das tat verdammt weh.
 

„Was hätte ich denn machen sollen?“, schrie er mich verzweifelt an. „Wenn du auch böse geworden wärst, das hätte ich nicht ertragen. Du kannst die gleichen Sachen wie Bakura – der Ring kann dich leiten, du kannst Duel Monsters in die Realität holen…“
 

„Und? Ich esse genauso wie Bakura es muss, oder schlafe, oder keine Ahnung was. Das hat dir als Grund gereicht, eine Art Rückversicherung zu brauchen, um mich zu gängeln, oder was?“
 

„Jetzt hör mir doch bitte einmal zu“, flehte Joey.
 

„Was kommt denn noch alles? Willst du mir eventuell noch was unterstellen? Dass ich mit Kaiba was hatte, oder mit Yugi?“
 

„Mach dich doch nicht lächerlich.“ Joeys Augen verengten sich und auch er wurde langsam wütend.
 

„Ich mich lächerlich machen? Wer von uns hat dem anderen unterstellt, er wäre ein geisteskranker Wahnsinniger, der alsbald rumläuft und Leute mittels Duel Monsterskarten vermöbelt?“
 

„Das habe ich doch gar nicht gesagt!“ Mein Freund sprang auf und ging händeringend im Zimmer umher. „Du weißt nicht, wie das war, im Reich der Schatten zu sein. Als Bakura unsere Seelen in Duel Monsters Karten gesperrt hat, oder, als er sich mit Yugi duellierte. Wie Marik mit Mai umgegangen ist – außerdem, warum bist du eigentlich nur auf mich sauer, und nicht auf Yugi?“
 

Meine Augen wurden allmählich zu Schlitzen und ich ballte die Hände zu Fäusten.
 

„Weil ich mir von meinem Freund“, wobei ich das Wort Freund extra betonte, „etwas anderes erwarte als von meinem besten Freund. Du hast eine ganz andere Seite von mir gesehen, als Yugi. Bei dir war ich verletzlicher, schwächer.“
 

„Ich doch bei dir auch!“ Joey warf die Hände hilflos in die Höhe.
 

„Habe ich deswegen angefangen dir zu misstrauen? Weißt du eigentlich wie verdammt weh das gerade tut?“ Ich starrte auf den Ring an meiner Brust. „War es das, warum du später bei mir schlafen konntest, ohne dass du dich dauernd am Ring gestört hast? Die Kette? Was kann das Ding überhaupt?“
 

„In die Zukunft sehen, wie auch in die Vergangenheit“, murmelte Joey kleinlaut.
 

„Du hast sie auch benutzt, oder?“
 

„Ja“, gestand er ein.
 

Mir kamen dutzend Möglichkeiten in den Sinn. Joey hätte mein ganzes Leben sehen können, Dinge die mir peinlich waren, sogar private, intime Dinge.
 

„Hast du völlig den Verstand verloren?“, tobte ich. „Bist du noch ganz dicht?“
 

„Das war nur ganz selten und…“, begann Joey, wurde aber sogleich von mir unterbrochen.
 

„Du hast mein ganzes Leben sehen können? Alles von mir. Ohne mich zu fragen. Das ist ja fast noch schlimmer, als hättest du mit jemand anderem geschlafen.“
 

„Das kann ich mir wohl kaum auf die Kappe schreiben, eher du.“
 

Ich brauchte einen Moment um zu begreifen, was er damit meinte. Meine Emotionen schwappten über. Anstatt laut zu werden und zu toben, senkten sich nur meine Augenbrauen nach unten und ich sprach, mit erstaunlich leiser Stimme: „Dafür, dass ich meinen Kopf hingehalten habe, wirfst du es mir vor?“
 

Joeys Augen weiteten sich. Er hatte wohl kapiert, was er mir gerade unterstellt hatte.
 

„Das ist dein Ernst, oder?“, fuhr ich fort und stand auf. „Bist du eifersüchtig, weil du nicht mein Erster warst?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Halt jetzt ja die Klappe, Joey. Zur Abwechslung bin mal ich dran.“
 

Mein Freund zuckte zusammen wie ein getretener Hund.
 

„Ich war es, der bei Kaiba zu Kreuze kriechen durfte, dass er dir hilft. Meine Wenigkeit hat sich verkauft an den Menschen, den du so abgrundtief hasst. Ich habe dich nie bedrängt, ich wollte nie wissen, wer dein Erster war, und es interessiert mich auch heute nicht. Deine Probleme mit deinem Vater habe ich aus dem Weg geräumt, mit Kaibas Hilfe. Ich habe dieses lächerliche Spielchen mit „Ich darf mich nicht outen“ mitgespielt. Ich bin in die VR gegangen und habe dich da herausgeholt. Ich war sogar so krank im Kopf, und habe mit einer fremden Psychopathin geschlafen, damit sie dein Geheimnis nicht verrät. Du willst mir ernsthaft vorwerfen, dass ich mit Mei geschlafen habe? Wirklich?“
 

Meine Stimme zitterte.
 

„Du bist eifersüchtig, stimmts? Rasend eifersüchtig. Ich wette, du glaubst wahrscheinlich sogar, ich würde mit Kaiba ins Bett steigen, oder?“
 

„Das, nein…“ Joey warf seinen Kopf hin und her und vermied es, mir in die Augen zu sehen.
 

„Hat dich deine Kette nicht davor gewarnt, dass ich auszucken würde? Was hat sie dir noch gezeigt? Was ich denke? Was ich fühle? Vielleicht lache ich mir ja Yugi an…“ Ich tippte mir gespielt nachdenklich ans Kinn. „Nein, Kaiba ist die bessere Wahl. Der hat mehr Kohle.“
 

„Hör auf!“, schrie Joey und hielt sich die Hände an die Ohren. „Ich will das nicht mehr hören!“
 

„Sicher? Vielleicht…“ Ich schluckte den Rest hinunter und schüttelte den Kopf. Das wäre unfair gewesen. Stattdessen ging ich zur Tür, entsperrte sie, riss sie auf und marschierte aus dem Zimmer. Mahads Versuche, mich zu bremsen, ignorierte ich gekonnt. Ich war nicht einmal wirklich sauer auf Joey, sondern einfach nur enttäuscht. Er glaubte, ich sei ein Monster, oder würde es werden. Ich hatte mich ihm anvertraut, ihm meine verletzlichste Seite gezeigt, und das war der Dank dafür. Er brauchte mir fürs Erste nicht unter die Augen zu treten. Kurz überlegte ich noch, ob ich Yugi zusammenfalten sollte, aber, irgendetwas hinderte mich daran. Ich war zwar auch von meinem besten Freund enttäuscht, aber so wie ich ihn einschätzte, hatte er sich nur um Joey gesorgt. Yugi und der Pharao glaubten daran, dass Mahad und ich in der Lage waren, das Böse im Ring in Schach zu halten.

Eine ungewöhnliche Versöhnung

Ich machte einen großen Bogen ums Wohnzimmer, wo ich meine Freunde schnattern hören konnte und ging stattdessen auf die überdachte Glasterasse. Kaibas Geschmack war formidabel. Man fühlte sich wie in einem prunkvollen Gewächshaus ohne Pflanzen. Rattansessel gesellten sich zu einem kleinen Tisch. Der Boden war gefliest worden und erstrahlte in einem blankpolierten Weiß. Es regnete außerdem, was mir sehr gelegen kam. Ich mochte regnerisches Wetter lieber als Sonnenschein und lauschte dem beständigen Platschen der Tropfen, die auf das Glasdach schlugen.
 

Joeys Verhalten schmerzte mich. Er hatte mich belogen und das die ganze Zeit. Mein eigener Freund glaubte nicht an mich, dachte, ich sei eine Abscheulichkeit. Er verglich mich mit Bakura. Nicht, dass ich Bakura für ein Monster gehalten hätte, aber ich kannte ein paar der Schauermärchen, die über ihn im Umlauf waren, oder besser gesagt seine schlechtere Hälfte. Bisher hatte ich noch keinen von ihnen verletzt und Mahad wirkte außerdem nicht böse, im Gegenteil.
 

„So aufgewühlt habe ich dich ja noch nie erlebt“, meldete sich der Geist zu Wort und manifestierte sich neben mir. Gemeinsam starrten wir in den wolkenverhangenen Himmel.
 

„Wie würdest du dich fühlen, wenn dir dein Freund ins Gesicht sagt, er brauche eine Rückversicherung, dass du nicht überschnappst?“
 

„Es würde mir weh tun“, stellte Mahad nüchtern fest.
 

„Na, dann weißt du, wie es mir geht.“ Ich schob meine Hände in die Hosentaschen und seufzte leise. „Weißt du, ich verstehe ihn ja, bis zu einem gewissen Grad. Es verletzt mich aber dennoch. Er unterstellt ja nicht nur mir ein Monster zu sein, sondern auch dir.“
 

„Da tust du ihm Unrecht. Er hat nur Angst davor dich zu verlieren.“ Die Stimme des Ägypters war sanft und ruhig, so wie ich ihn gewohnt war.
 

„So verliert er mich ganz sicher“, bemerkte ich trocken.
 

„Du siehst das falsch.“
 

„Dann erleuchte mich, oh weiser Mahad“, rollte ich mit den Augen und bissiger Stimme.
 

„Sie haben alle viel mitgemacht. Bakuras böser Geist war ein Monster, aber Bakura nur ein Freund für Joey, nicht mal ein sonderlich guter. Sie kannten sich eben. Dich liebt er, vergöttert er. Wenn du eine Abscheulichkeit werden würdest, das wäre viel schlimmer zu ertragen. Er müsste dich bekämpfen, oder sogar aufgeben.“
 

Ich seufzte und zog meine rechte Hand aus der Hosentasche, um mir mit Daumen- und Zeigefinger die Schläfen zu massieren. Natürlich hatte Mahad Recht, wie immer, aber es schmerzte dennoch. Ich fühlte mich verraten und verkauft, und das von dem Menschen, dem ich, neben meinem besten Freund, bedingungslos vertraute.
 

„Natürlich ist es schwer, aber sei gnädig mit ihm. Joey hat es aus Liebe getan.“ Mahad legte mir eine Hand auf die Schulter und augenblicklich durchströmte mich eine angenehme Wärme. „Wo Yugi und du spielen, das ist eine ganz andere Liga. Der Pharao begleitet ihn, und ich dich. Joey hat niemanden. Niemanden außer sich selbst. Keine Magie, keine besonderen Fähigkeiten. Yugi und du hingegen…“
 

„Stopp“, hielt ich meinen Begleiter auf. „Nimm ihn ja nicht in Schutz. Es war scheiße, dass er mich nicht eingeweiht hat.“
 

„Natürlich war es das“, gab Mahad zu. „Du siehst das aber falsch. Wie würdest du dich fühlen, wenn Joey an deiner statt den Ring tragen würde? Wenn du ihn abgöttisch liebst und er dir zu entgleiten droht? Würdest du nicht auch nach dem einzigen Strohhalm greifen, der sich dir bietet?“
 

Ich wollte hitzig etwas erwidern, klappte meinen Mund dann aber zu. Natürlich würde ich das auch tun. Trotzdem waren das ganz andere Maßstäbe. Im Gegensatz zu Joey war ich mir durchaus meiner Situation bewusst; ich hatte das Böse bisher in Schach halten können und zweifelte auch nicht daran weiterhin standhalten zu können. Zumal ein Teil von mir begriffen hatte, dass in jedem von uns ein Stück Dunkelheit steckt, derer man sich nicht zu schämen brauchte.
 

„Es geht nicht darum sich zu schämen oder etwas zu bedauern: Du hast dich ganz anders entwickelt als Joey. Darum bist du der Ringträger, nicht er. Gib dir einfach einen Ruck. Yugi und der Pharao denken da sicherlich ähnlich.“
 

Ich seufzte leise und ließ den Kopf hängen. Natürlich würden die zwei genauso denken. Mein bester Freund war ein herzensguter Mensch. Er hätte Joey jetzt schon verziehen. Ich war furchtbar grob zu ihm gewesen. Eigentlich war seine Besorgnis ja ganz süß, sogar imponierend.
 

„Störe ich?“
 

Ich drehte mich um und sah Yugi, wie er, mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen, im Türrahmen stand.
 

„Nein“, antwortete ich leise und ließ mich in einen der Rattanstühle fallen.
 

Yugi tat es mir gleich und legte die Hände im Schoß zusammen. Mein bester Freund war ein äußerst miserabler Schauspieler. Ich wusste jetzt schon, dass Joey mit ihm gesprochen hatte. Nach einigen Minuten der Stille rollte ich mit den Augen.
 

„Du hättest mir ruhig Bescheid geben können“, murrte ich und konnte den König der Spiele dabei beobachten, wie er im Stuhl immer kleiner wurde.
 

„Joey hat es mir verboten“, murmelte er kleinlaut.
 

„Ich…“, begann ich und biss mir auf die Unterlippe. Nein, Yugi zusammenzustauchen war genauso wenig fair, wie Joey sämtliche Schuld zu geben. Mahad hatte mir zwar nicht den Kopf gewaschen, aber doch ein wenig die Augen geöffnet. Ich war zwar noch immer sauer, aber jetzt, in Ruhe betrachtet, hatten sie es ja nur gut gemeint.
 

„Tut mir leid“, setzte Yugi nuschelnd nach. „Ich wusste mir einfach nicht zu helfen. Joey hatte so große Angst um dich. Er ist völlig fertig gerade. Musst ihn ganz schön angefahren haben.“
 

Ich tippelte unruhig mit den Schuhspitzen auf dem gefliesten Boden herum, bevor ich aufstand und mich zu einem Lächeln zwang. „Schon okay, Yugi. Nächstes Mal sagt mir sowas einfach, ja?“
 

„Wo willst du hin?“
 

„Mich mit meinem Freund aussöhnen. Vor dem Finale kann ich sowas nicht gebrauchen. Außerdem wäre es ganz nett, wenn er sich ordentlich mit mir duellieren würde.“ Ich hob die Mundwinkel an und knetete die Finger meiner linken Hand ein wenig. „Eigentlich bin ich froh, dass ihr euch alle so um mich sorgt“, gab ich zu. „Unnötigerweise zwar, aber…“ Ich fuhr mir durch die Haare und seufzte erneut. „Weißt du, Yugi, es hat einfach weh getan, von meinem Freund wie ein Monster behandelt zu werden. Ich fühle mich wie ein wildgewordener Stier, den man mit Mühe und Not bändigen kann. Das ist alles.“
 

Natürlich war das nicht alles. Es nagte noch viel mehr an mir, aber das schob ich einfach einmal geflissentlich beiseite.
 

„Das ist aber nicht alles“, bohrte Yugi vorsichtig nach.
 

„Wenn dir dein Freund ins Gesicht sagt, dass er eigentlich angepisst auf dich ist, weil du eine Psychopathin geknallt hast, wegen seines bescheuerten Versteckspiels, wie würdest denn du reagieren?“ Mir lag noch ein weiterer bissiger Kommentar auf der Zunge, den ich mir schlussendlich aber verkniff.
 

„Wahrscheinlich ähnlich.“
 

„Eben. Das war eigentlich der Grund aus dem ich völlig ausgezuckt bin.“
 

„Kannst du ihm denn das überhaupt verzeihen?“
 

Das war eine gute Frage. Ich musste es zumindest versuchen. Eine leise Stimme in mir riet mir davon ab, denn dieser Vertrauensbruch sei zu groß gewesen – diese dämpfte ich mit der einfachen Erkenntnis, dass ich Joey trotz allem noch liebte und er mein Freund war.
 

„Das dauert sicher noch. Wichtig ist jetzt einmal, dass er sich nicht den Kopf zerbricht. Sollte ich im Finale ausfallen, dann brauchen du und der Pharao Unterstützung. Kaiba würde ich dahingehend nicht als Hilfe bezeichnen, bleibt also nur Joey. Er hat das Herz am rechten Fleck und ist neben mir dein bester Freund. Ich biege das dann mal gerade.“
 

Joey saß auf meinem Bett, das Gesicht in den Händen vergraben. Er hatte geheult, eindeutig, tat es sogar immer noch. Na da hatte ich ja mal wieder ganze Arbeit geleistet. „David, du bist ein Hohlkopf“, ging es mir durch den Schädel.
 

„Warum weinst du?“, fragte ich leise und mein Freund schreckte hoch.
 

„Weil…“, begann er und raufte sich die Haare. „Das war scheiße von mir, tut mir leid.“
 

„War es“, nickte ich bekräftigend, woraufhin Joey wie ein geschlagener Hund zusammenfuhr. „Es war aber auch von mir falsch, so zu reagieren.“
 

„Nein, war es nicht. Du hattest vollkommen Recht“, entgegnete Joey.
 

„Joey“, setzte ich sanft an, „es ist in Ordnung. Ich finde es zwar noch immer nicht gut, aber ich begreife, warum du es getan hast. Das wird zwar noch an mir nagen und mich belasten, doch ich glaube, dass du eine gute Absicht hattest. Das reicht mir, okay?“
 

Ich bemühte mich zu einem schiefen Lächeln und streckte die Arme aus. „Jetzt komm her und wir versöhnen uns, okay?“
 

Mein Freund zögerte und wich einen Schritt zurück. „Das kaufe ich dir nicht ab.“
 

„Joey, wir haben nicht den Luxus sauer zu sein aufeinander. Wenn ich ausfalle, musst du Yugi unter die Arme greifen.“
 

„Hier geht es aber um unsere Beziehung!“
 

„Hier geht es vor allem darum, dass ich über meinen Schatten springe, ja? Ich bin noch immer sauer auf dich aber habe begriffen, dass es nichts bringt, wenn ich böse auf dich bin. Du hattest einen guten Grund und das respektiere ich.“
 

„Jetzt tust du so, als wäre alles meine Schuld.“ Joey verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte mich an.
 

Ich seufzte leise und rollte mit den Augen. „Was ist denn dein Problem? Ich biete dir die Hand an und du schlägst sie aus.“
 

„Weil du es nicht freiwillig tust.“
 

„Joey, noch einmal: Auf unseren Schultern lastet ein ähnlich großes Gewicht wie auf denen von Yugi. Es schmerzt mich, dass du so denkst und ich bedauere es, so reagiert zu haben, doch ich kann nicht kämpfen, wenn du sauer auf mich bist. Gleiches gilt wohl auch umgekehrt.“
 

„Und du glaubst damit würdest du das Problem aus der Welt schaffen?“ Mein Freund blies die Backen auf.
 

„Nein, aber ich kann es ein wenig nach hinten verschieben. Nach dem Finale können wir uns so ausgiebig und lange unterhalten wie du willst. Von mir aus tagelang, nur jetzt, gerade jetzt, so kurz vor dem entscheidenden Moment, kann ich mir das nicht leisten und du auch nicht.“
 

„Nein“, zischte Joey wütend.
 

„Rede du mit ihm“, murrte ich zu Mahad.
 

„Nein, das ist deine Angelegenheit“, lehnte der Geist ab.
 

„Jetzt hör aber auf. Er ist genauso ein Teil von dir wie von mir“, fauchte ich aufgebracht. „Ich bin 17 und du ein paar Tausend Jahre alt. Jetzt gib dir einen Ruck und hilf mir aus der Patsche.“
 

„Nein“, wiederholte sich der Geist.
 

Hatten sich heute alle gegen mich verschworen? Wie war ich eigentlich von der Position des Jägers in die des Gejagten gerutscht? Innerlich keimte bereits erneut Wut in mir auf. Irgendwie musste ich ihn aus der Reserve locken. Dann kam mir eine Idee.
 

„Duellieren wir uns – ganz altmodisch, ohne Hologramme. Nur die Karten.“
 

Joey blinzelte kurz und schrägte den Kopf: „Wie meinst du das?“
 

„Gewinne ich, verzeihen wir uns gegenseitig auf meine Art, gewinnst du, kannst du haben was du willst.“
 

Der Blondschopf rückte seinen Schädel wieder gerade und nickte: „Einverstanden.“
 

Wir schnappten uns zwei Stühle und meinen Nachttisch, den ich vom Wecker befreite und zogen unsere Decks hervor. Ein Duell ohne Druck, ohne Angst, dass irgendetwas schiefgehen würde, sollte ich verlieren. Genau das brauchte ich jetzt. Joey erging s ähnlich, das wusste ich. Wir zogen beide unsere ersten fünf Karten und grinsten. Mein Freund fing an.
 

„Ich rufe den Flammenschwertkämpfer im Angriffsmodus und dazu lege ich die Zauberkarte Salamandra – dadurch erhält mein Monster 700 zusätzliche Angriffspunkte.“ Zusätzlich legte er noch eine Karte verdeckt ab.
 

Ein 2.500er Monster aus dem Hut zu zaubern und das im ersten Zug war hervorragend. So wie ich Joey kannte, war seine verdeckte Karte wahrscheinlich eine Würfelzauberkarte. Ich verstehe bis heute nicht, wie ihn sein Glück nahezu niemals im Stich lassen konnte. Mir wäre diese Spieltaktik viel zu unsicher gewesen.
 

„Okay, dann spiele ich Garoozis im Angriffsmodus und lege dazu zwei Karten verdeckt.“ Eine simple Taktik, auf die er sicher nicht hereinfallen würde. Garoozis war viel zu schwach, und ich hatte ihn mit zwei Fallen abgesichert, dem Kettenbumerang und Angriff annullieren. Dennoch hoffte ich, dass er mich angreifen würde, oder eine bestimmte Zauberkarte verbraten.
 

Joey zog seine nächste Karte und grinste breit. „Yes! Genau darauf habe ich gewartet – Riesentrunade! Dadurch werden sämtliche Zauber- und Fallenkarten vom Feld gewischt. Jetzt ist dein Garoozis schutzlos. Bye bye, Garoozis.“
 

Ich hob die Mundwinkel an. Joey war so berechenbar. Er freute sich diebisch, mich 700 Lebenspunkte gekostet zu haben, hatte dafür aber auch seine Würfelkarte geopfert, nahm ich zumindest an. Ein Supermonster zu rufen würde bei Joey wenig bringen, da er mit seinem Zauberer der Zeit in der Regel beim Zeitroulette gewann. Ich verfolgte einen anderen Plan.
 

„Als Nächstes rufe ich den Herrn der Drachen aufs Feld und benutze die Drachenrufferflöte, um mein Rotauge zu beschwören.“ Zwei weitere Monster, die schwächer waren als der Flammenschwertkämpfer. Ich musste nur aufpassen, dass Joey sich weiterhin in Sicherheit wiegte und ich nicht zu viele Lebenspunkte verlor.
 

Mein Freund stutzte kurz, zog dann die nächste Karte und grinste siegessicher. „Sehr gut. Ich vernichte dein Rotauge und beende damit meinen Zug.“
 

3.200 Lebenspunkte hatte ich noch. Das war mehr als genug. Meine nächste Karte war Buster Blader. Genau den brauchte ich auch um meine Taktik zu vervollständigen.
 

„Ich spiele ein Monster verdeckt und versetze meinen Herrn der Drachen in den Verteidigungsmodus.“
 

Buster Blader mit 2.300 Verteidigungspunkten im Verteidigungsmodus zu spielen war sinnlos, wo er doch 2.600 Angriffspunkte hatte, zumal er durch mein Rotauge zusätzliche Punkte bekommen hätte. Joey hätte den Braten sofort gerochen.
 

Der Blondschopf zog seine nächste Karte und grinste noch breiter. So losgelöst war er schon lange nicht mehr gewesen. Ich musste selbst lächeln. Mein Ärger war verraucht. Beim Duellieren freute er sich wie ein kleines Kind und das fand ich unheimlich süß.
 

„Du bist wohl nicht ganz auf der Höhe, was?“, stichelte mein Freund. „Als Erstes beschwöre ich Babydrache im Angriffsmodus. Dazu spiele ich eine Karte verdeckt und vernichte dein verdecktes Monster mit meinem Flammenschwertkämpfer.“
 

„Sehr schön, Joey, du tappst in meine Falle“, dachte ich. Als ich Buster Blader auf den abgelegten Kartenstapel legte, zog mein Freund kurz die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf.
 

„Warum spielst du so scheiße?“, wollte er wissen.
 

„Ich bin wohl neben mir“, schmunzelte ich und zog meine nächste Karte. Yes, der Schwarze Magier, ich hatte nahezu alles, was ich brauchte.
 

„Ich spiele als Nächstes Topf der Gier und ziehe zwei weitere Karten.“ Jetzt war ich bereit.
 

„So, als Erstes spiele ich meinen Schwarzen Magier und kombiniere ihn mit dem Buch der Dunklen Künste. Dadurch erhält er dreihundert zusätzliche Angriffspunkte. Ich switche mit meinem Herrn der Drachen in den Angriffsmodus und greife deinen Babydrachen an.“
 

Ich hatte Joey längst durchschaut. Mein Herr der Drachen, wie auch sein Babydrache, waren gleichstark. Sie würden sich gegenseitig zerstören, wenn er nicht eingriff. Das musste er aber, denn sonst wäre seine Strategie im Eimer gewesen.
 

„Ich benutze die Zauberkarte Teufelswürfel…“ Wir benutzten mein Smartphone mit einem Würfelprogramm und mein Herr der Drachen verlor 200 Angriffspunkte, womit er sich selbst zerstörte.
 

„Dann greife ich mit meinem Schwarzen Magier an und zerstöre deinen Flammenschwertkämpfer. Dazu spiele ich noch eine Karte verdeckt und beende meinen Zug.“
 

So, ich hatte noch 3.100 Lebenspunkte und Joey 3.700. Wenn er jetzt den Zauberer der Zeit zog und beim Roulette gewann, hatte ich gewonnen.
 

Mein Freund schnappte sich die nächste Karte und atmete erleichtert aus. „Schwein gehabt! Zeitzauberer, los, Zeitroulette!“ Wir warfen eine Münze, Joey sagte Kopf und natürlich hatte er Glück. Sein Babydrache wurde ein Monster mit 2.400 Angriffspunkten, während mein Magier auf 100 Punkte zusammenschrumpfte.
 

„Du hast verkackt, David. Im Gegensatz zu Yugi hast du keinen Magischen Sprühregen, den du spielen kannst, um dich zu retten. Wenn ich dich jetzt angreife hast du fast keine Lebenspunkte mehr.“
 

Ich brauchte Makio nicht um zu gewinnen. Yugi hatte mir von seinem Duell mit Joey im Königreich der Duellanten erzählt und daher wusste ich auch ob der besonderen Fähigkeiten des Weisen im Schwarzen Gewand, der entstand, wenn der Zeitzauber auf einen Schwarzen Magier traf.
 

„Ich aktiviere die besondere Fähigkeit meines neuen Monsters. Tut mir leid, Joey, du hast verloren“, lächelte ich und drehte meine verdeckte Karte auf: Macht des Spiegels.
 

„Was?“, schrie Joey bestürzt auf. „Ich dachte, ich hätte vorhin Macht des Spiegels erwischt.“
 

„Hast du nicht“, stellte ich ruhig fest. „Ich werde jetzt die Zauberkarte Dimensionsfusion nutzen und 2.000 Lebenspunkte zahlen. Wir zwei müssen nun so viele Monster wie möglich vom Friedhof beschwören. Das wären in meinem Fall Garoozis, der Buster Blader, der Schwarze Rotaugendrache und der Herr der Drachen.“ Damit hatte ich fünf Monster auf der Hand.
 

Joey tat es mir gleich: Sein Flammenschwertkämpfer und sein Tausendjähriger Drache kamen zurück.
 

„Okay, dann werden wir das jetzt beenden. Als Nächstes spiele ich die Zauberkarte Polymerisation und benutze sie um mein Rotauge mit dem Beauftragten der Dämonen auf meiner Hand zu verschmelzen. Der Schwarze Totenkopfdrache gilt, genauso wie mein Rotauge auf dem Friedhof und dein Tausendjähriger Drache, als Drachenmonster, was meinem Busterblader zusätzliche 1.500 Angriffspunkte verleiht. Busterblader und der Totenkopfdrache kümmern sich um deine zwei Monster, während der Herr der Drachen und Garoozis deine Lebenspunkte direkt angreifen. Du hast verloren“, legte ich meine Züge dar und schlussfolgerte das Ergebnis.
 

Joey ließ den Kopf hängen nur um dann breit zu grinsen. „Gut gespielt.“ Ehe ich es mich versah hatte ich ihn auch schon am Hals, wobei er mich aufs Bett drängte und mich leidenschaftlich küsste. „Joey, nicht“, öffnete ich die Lippen um zu sprechen, wurde aber sogleich von seiner Zunge bedrängt. Wenn jetzt jemand reinkam würde es peinlich werden. Einige Momente lang hielt mein Widerstand noch an, ehe ich mich fallen ließ und Joey mir den Pulli vom Kopf zog. Ich hoffte einfach, Yugi hatte die anderen darüber aufgeklärt, dass wir ungestört sein wollten, weil wir etwas zu klären hatten. Das war auch mein letzter Gedanke, denn als ich Joeys Hände an meinem Hosenknopf spürte verscheuchte ich sämtliche Bedenken, legte ihm die Finger meiner rechten Hand in den Nacken und zog ihn an mich. Das würde ein langer Nachmittag werden.

Ein konfrontierendes Frühstück

Ich wurde am nächsten Morgen durch ein Knabbern an meinem Ohrläppchen wach. Murrend schlug ich die Augen auf und starrte einem grinsenden Joey entgegen, der widerlich fröhlich war. Ein Blick auf meinen digitalen Wecker im Würfelformat zeigte an, dass es kurz vor 9 Uhr war. Welcher normale Mensch stand schon so früh auf? Katastrophe.
 

„Guten Morgen“, trällerte Joey und verpasste mir einen Kuss.
 

„Leck mich“, grummelte ich, was von einem lauten Lachen meines Freundes begleitet wurde.
 

Wir waren gar nicht mehr aus dem Zimmer gekommen. Ich hatte das Dienstmädchen angewiesen uns etwas zu Essen zu bringen. Eine kurze Nahrungsaufnahme bevor wir wieder in die Federn gestiegen waren. Versöhnungssex war wirklich eine der schönsten Arten überhaupt. Ich hatte davon mal im Netz gelesen und es stimmte. Joey war zwar mein Erster, aber er war so zärtlich und liebevoll, vor allem gestern gewesen, dass ich mir nichts Besseres vorstellen konnte, zumindest in sexueller Hinsicht.
 

„Gestern warst du noch ganz anders drauf“, neckte mich Joey und fuhr die Maserungen meiner Bauchmuskeln nach. Knapp über dem Nabel hielt er inne und sah mich verführerisch an.
 

„Übertreibs nicht mit deinem Glück, Joseph Wheeler“, schnaubte ich amüsiert und biss mir auf die Unterlippen. Das gestern war zu schön gewesen und ich hätte es gerne wiederholt, aber wir hatten dafür keine Zeit. Heute würden wir uns zum Finale treffen. Wir waren dafür sogar zusätzlich zum normalen Turnier von der Schule freigestellt worden, und ja ich weiß, ich habe mich vorhin noch über die frühe Uhrzeit beschwert.
 

Der Blondschopf zog eine Schnute um sich gleich darauf ins Bad zu verdrücken. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken ihm zu folgen, entschied mich dann aber dafür, die Sauerei, die wir hinterlassen hatten, zu beseitigen. Nicht, dass ich nicht drauf Acht gegeben hätte, mein Bett nicht zu verunstalten, es ging mehr um die Gummis und das Gleitgel. Die Haushälterinnen würden zwar kein Wort sagen, denn Diskretion wurde im Hause Kaiba großgeschrieben, aber mir war das einfach peinlich. Es ging niemanden etwas an. Natürlich wussten alle warum wir nicht mehr aus dem Zimmer gekommen waren, trotzdem kam es mir entwürdigend vor. Joey sah das wohl ein wenig anders, denn er hatte die Dinger alle sauberst neben meinem Bett verteilt. Wenigstens war er so intelligent gewesen sie zu verknoten.
 

„Was machst du da?“, fragte er mich und kam, in frischen Boxershorts (er hatte vorsorglich immer Wechselsachen bei mir deponiert), aus der Dusche und rubbelte sich die Haare mit einem Handtuch ab.
 

„Die Sauerei beseitigen, die du hinterlassen hast“, maulte ich und drängte mich an ihm vorbei ins Badezimmer. Nur nicht starren, David, sonst würdest du ihm doch verfallen. Ganz sicher. Drinnen schnappte ich mir eine Rolle Toilettenpapier und begann, unter dem verwirrten Blick Joeys, die Kondome einzuwickeln.
 

„Machst du das immer?“, wollte er neugierig wissen.
 

„Natürlich.“
 

„Warum?“
 

„Weil es entwürdigend ist, wenn das Hauspersonal das machen muss. Ich weiß nicht, wie du es bei dir zuhause oder bei Yugi hältst, Joey, aber ich finde es peinlich, wenn Fremde die Körperflüssigkeiten meines Freundes, gut verpackt, wegräumen.“
 

Kurz schaute mein Freund betreten drein, dann grinste er breit: „Als ob die nicht alle wüssten, was wir hier getrieben haben. Du warst gestern nicht gerade leise.“
 

„Halt die Schnauze“, schmunzelte ich und sammelte die Teile auf. Ich zählte vier Stück. Joey war gar nicht zu bremsen gewesen gestern. Mittlerweile bestand ich auf Gummis, einfach, weil es einem viel Sauerei ersparte. Es ekelte mich vor Joey nicht, war mehr eine Sache der Bequemlichkeit.
 

„Das klang aber noch ganz anders? Wie war das?“, neckte er mich weiter. „Joey, fester, genau da, hör bloß nicht auf“, imitierte er meine Stimme.
 

„Meine Güte, bist du ein selbstverliebter Pfau. Narzissten könnten von dir noch was lernen. Was willst du hören? Eine Lobeshymne auf deine Fähigkeiten im Bett?“, rollte ich mit den Augen und musste ein Seufzen unterdrücken, als er mir die Haare zerstrubbelte.
 

„Wäre angebracht, denke ich.“
 

„Spinner.“
 

Nachdem ich sicher war, dass die Dinger nicht mehr als Verhütungsmittel identifiziert werden konnten, warf ich sie in den Mülleimer. Der war bereits befüllt mit ähnlichen Papierkugeln, die meine eigene Sauerei enthielten. Im Gegensatz zu meinem Freund war ich ja in der Lage sowas alsbald zu erledigen und nicht danach einzupennen wie ein Hochleistungssportler nach einem Marathon. Ein prüfender Blick auf die Matratze verriet mir, dass wir keine sichtbaren Flecken hinterlassen hatten. Damit ging ich selbst ins Badezimmer und stellte mich unter die Dusche. Ich wusste gar nicht warum ich mich so anstellte. Wahrscheinlich lag es daran, dass Mokuba und Kaiba keinen Damenbesuch mitbrachten. Der Kleine war sowieso noch zu jung dafür, und hatte außerdem Serenity, und der werte CEO hatte für so gefühlsmäßige Bindungen eh keine Zeit.
 

Nachdem ich mich frisch gemacht und mir ein Outfit für heute ausgesucht hatte (bestehend aus meinem anthrazitfarbenen Pulli, einem weißen T-Shirt, einer hellbraunen Hose sowie meinen üblichen Sneakers), gingen wir ins Esszimmer, wo Kaiba bereits über seiner morgendlichen Zeitung brütete. Von Mokuba war weit und breit nichts zu sehen, genauso wie von unseren Freunden.
 

„Morgen, Pinkel“, begrüßte Joey den Gastgeber.
 

„Guten Morgen, David“, ignorierte Kaiba meinen Freund gekonnt und nippte geistesgegenwärtig an seinem Tee.
 

„Morgen, Kaiba“, murmelte ich und setzte mich. Joey tat es mir gleich. Ich griff nach einem Teller und belud ihn mit bereits bestrichenem Vollkorntoast mit Honig. Dazu gab es eine Tasse lauwarmen Kakaos und eine Schüssel mit Granatapfelkernen.
 

Joey griff ungeniert zu und häufte auf seinem Teller einen kleinen Berg an Fressalien auf.
 

„Wie ich sehe hat der Pavian Hunger“, stellte Kaiba fest und blätterte gelangweilt um.
 

„Pavian?“, fragte ich und biss von meinem Toast ab. Es war eindeutig Joey gemeint.
 

„Dein Freund stöhnt beim Geschlechtsverkehr wie ein Pavian, der sich gegen seine Betäubungsspritze wehrt“, kommentierte Kaiba nüchtern und nippte erneut an seinem Tee.
 

Mir blieb der Toast im Halse stecken und Joey wurde bereits puterrot im Gesicht. Au weh, das würde kein gutes Ende nehmen. Mir drängte sich zuerst einmal die Frage auf, ob wir so laut gewesen waren? Das konnte unmöglich sein. Ich hatte zwar nicht besonders darauf geachtet, aber eigentlich war mein Zimmer nicht in der Nähe von Kaibas Büro.
 

„Wenigstens können wir miteinander schlafen, du mieser Lauscher. Du hast ja niemanden“, fuhr Joey auf und zeigte ein triumphierendes Grinsen. Ich seufzte leise. Warum legte er sich unbedingt mit Kaiba an? Der war einfach eine Nummer zu groß für ihn. Meine Wenigkeit zog es vor zu schweigen und sich aus diesem Disput herauszuhalten – war mir eh schon peinlich genug, dass Kaiba mich gehört hatte, was dieser wohl ausblendete.
 

„Diese Aussage beweist, dass ich dir mit dem Vergleich mit einem Pavian mehr Intelligenz zuspreche, als du besitzt. Ich könnte mir so viele Frauen aussuchen, Supermodels, von denen du nur träumen kannst, Wheeler.“
 

Mein Freund brauchte einen Moment um sich ein Argument zurechtzulegen. So würde er Kaiba verbal nie in die Knie zwingen. Auch wenn Joey nicht dumm war, der CEO spielte rhetorisch in einer ganz anderen Liga. Kaiba durfte man nicht vom Haken lassen, das hatte ich gelernt.
 

„Trotzdem hast du niemanden wie David! So einen würdest du nie bekommen.“
 

Ich zog die rechte Braue in die Höhe und sah zu Kaiba. Das stimmte, hatte aber wahrscheinlich den einfachen Grund, dass der CEO nicht schwul- oder bisexuell war. Ich meine, draußen liefen Millionen von Menschen rum, wahrscheinlich auch Kerle, die für ein Date mit ihm sogar ihre Mutter verkauft hätten. Leute, die hübscher waren als ich, deutlich. Wahrscheinlich hätte er sich sogar wen aus dem Katalog bestellen können. Ich war einfach nur ein siebzehnjähriger Junge, der zwar ganz hübsch war, in meinen bescheidenen Augen zumindest, aber halt kein Supermodel.
 

„Wenn ich es drauf anlegen würde schon“, konterte der Braunhaarige kühl und blätterte erneut um.
 

„Als ob er sich für so ein Charakterschwein wie dich interessieren würde! Du hast ja wohl eine Meise. Nur weil du reich bist, glaubst du, das würde ausreichen? Schon mal was von inneren Werten gehört?“, redete sich Joey in Rage.
 

„Die ja bei dir bezeichnend sind, Wheeler. Was hast du ihm denn schon zu bieten? Mittelmäßige Duellfertigkeiten, ein bestenfalls durchschnittliches Schulzeugnis, das sich aber auch nur durch seine Mitwirkung verbessert hat, sowie eine große Klappe, hinter der nichts steckt als heiße Luft.“
 

Kaibas ruhige Art machte Joey wahnsinnig, das wusste ich. Gleich würde er komplett explodieren, ganz sicher. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln. Ich überlegte schon einzugreifen, als Joey, entgegen meiner Erwartungen, einfach nach meinem Gesicht griff und mir einen ausgiebigen Kuss verpasste. Wenn das hier Reviermarkieren war, dann musste ich gestehen, es zu genießen.
 

„Wenn mich das beeindrucken soll, hast du dich getäuscht. Wobei ich es von deiner Warte aus schon verstehen kann, Wheeler. Eine Niete hält sich natürlich immer an einem Rettungsanker fest. Das ist aber auch der Grund, warum dein Freund eine ägyptische Götterkarte in Händen halten darf, während du mit solchen Anfängermonstern wie Gilford dem Blitz und dem Zauberer der Zeit herumlaufen musst. Zumal, würde ich es wirklich drauf anlegen, würde dein Freund jetzt an mir kleben und nicht an dir.“
 

Moment mal! Das ging mir jetzt schon ein wenig zu weit. Ich meine, Kaiba war ganz ansehnlich: Groß, durchtrainiert und er hatte so viel Geld, dass ich es wahrscheinlich nicht ausgeben konnte, aber er war ein eiskalter Gefühlsklotz. Mich in ihn zu verlieben war nahezu ausgeschlossen. Ich drückte Joey von mir und mein Blick verfinsterte sich.
 

„Jetzt ist es dann aber genug“, sprang ich für Joey in die Bresche und trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein, er möge jetzt den Mund halten.
 

„Willst du etwa bestreiten, dass ich, wenn ich dich mit Geschenken überhäuft hätte und dir Zärtlichkeiten gezeigt hätte, keine Chance bei dir gehabt hätte?“ Kaiba faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. Breit grinsend beobachtete er wie Joey aufstand, mir noch einen Kuss auf die Wange gab, etwas von „Dummer Wichser“ murmelte und davonstapfte.
 

„War das denn nötig?“, wollte ich seufzend wissen.
 

„Er muss sich in meinem Haus, als mein Gast, nicht so aufspielen. Zumal ich es nicht mag, wenn er glaubt, mir überlegen zu sein. Wheeler hat nur Glück, dass ich für solche Trivialitäten wie Liebschaften keine Zeit habe.“
 

„Würde dir aber mal guttun“, murmelte ich und biss in meinen Toast. Joey würde noch ein wenig in meinem Zimmer schmollen. Ihn dafür zu belohnen, Kaiba wieder auf den Leim gegangen zu sein, das lag mir auch fern, deswegen durfte er alleine sein.
 

„Es gibt fast niemanden den ich so an mich heranlassen würde“, meinte er daraufhin unwirsch und nippte wieder an seinem Tee.
 

„Das heißt?“, fragte ich und sah interessiert von meinem Frühstück auf. Fast niemand bedeutete, dass sogar Seto Kaiba so etwas wie menschliche Gefühle zeigen konnte. Das, oder er verarschte mich gehörig, was bei ihm auch sein konnte.
 

„Nur einen Rivalen kann man wirklich lieben. Das, oder sich selbst. Ein Ebenbild meinerseits“, meinte er nach einem Moment des Schweigens. „Wheeler gehört jedenfalls nicht dazu“, fügte er auf meinen fragenden Blick hin an.
 

„Du hast doch ein Rad ab“, grinste ich und verputzte die restliche Scheibe Toast.
 

„Was gefällt dir eigentlich so an Wheeler? Du hättest jeden anderen haben können.“
 

Ich blinzelte und zog die Brauen zusammen. Was wurde das hier? Ein Verhör über meine persönlichen Präferenzen? War ihm langweilig oder war Kaiba etwa gar nervös und wollte sich ablenken? Smalltalk gehörte nicht gerade zu seinen Stärken und das was er hier wissen wollte war auch nicht gerade das tägliche Gespräch übers Wetter.
 

„Wie meinst du das?“ Die erste Frage überging ich geflissentlich.
 

„Es wären mehr Kandidaten zur Auswahl gestanden. Die ganze Schule. Die Mädchen reißen sich um dich. Wahrscheinlich sind auch ein paar Homosexuelle dabei, die insgeheim für dich schwärmen. Gleiches gilt für deine Fangemeinde. Ich bin mir auch sicher, du hättest Shin herumbekommen oder Yugi, wenn du es versucht hättest.“
 

Ich schüttelte den Kopf und räusperte mich. Heute war er wirklich komisch. Was war in Kaiba gefahren? Muffensausen ob des Finales? Er? Der große Seto Kaiba sollte Schiss haben? Nein, das konnte es nicht sein. Da musste mehr dahinterstecken, sehr viel mehr. Nun war meine Neugierde geweckt.
 

„Ich glaube kaum, dass Shin schwul ist, genauso wenig wie Yugi.“ Über die persönlichen Vorlieben meines besten Freundes hatte ich mir eigentlich nie Gedanken gemacht. Außerdem war ich noch immer davon überzeugt, dass Tea auf ihn stand und er auch ein wenig für sie schwärmte. Shin schloss ich kategorisch aus – Fußballer und schwul passte nicht. Schon irgendwie, ich war ja schließlich nicht verkappt, aber soweit ich wusste, hatte er mittlerweile wieder eine Freundin.
 

„Du gibst dich mit Schmutz ab der dich behindert. Ohne Wheeler wärst du auf dem gleichen Level wie Yugi und ich. Seine Probleme zu lösen kostet Kraft und Zeit. Wenn du ihn loslassen würdest, dir jemand anständigen suchen, der zu dir passt…“
 

Ich holte tief Luft: „Kaiba? Ganz ehrlich? Mittlerweile bist du erträglich geworden, wirklich. Ich mag dich sogar irgendwie, aber mein Liebesleben geht dich einen feuchten Dreck an. Mag sein, dass deine Psychospielchen bei Joey ziehen, aber bei mir funktioniert das nicht mehr. Ich bin zufrieden mit meiner Beziehung, so wie sie ist. Mit dem schreienden Pavian. Er ist liebevoll, zärtlich und kümmert sich um mich, wenn es mir schlecht geht.“
 

„Das tut Yugi doch auch, oder?“
 

„Willst du mich verkuppeln, oder was?“, fragte ich leicht ungehalten. „Ich bin fast 18 und kann sehr gut selbst entscheiden, wen ich an mir heranlasse und wen nicht. Wenn er mich durch das gesamte Zimmer vögelt kann es dir auch egal sein, denn, wenn du nicht gerade lauschst, dürfest du davon kaum etwas mitbekommen. Ich achte außerdem sorgsam darauf, dein Personal nicht mit derlei Nichtigkeiten zu belästigen.“
 

Entgegen meiner Erwartungen wurde nicht gekontert, was mich nur noch mehr bestärkte, ihm wieder einmal gehörig die Meinung zu geigen. Außer von Yugi vertrug er das nur von mir.
 

„Ist ja rührend wie du dich um mich sorgst, aber ich bekomme mein Privatleben sehr gut alleine auf die Reihe, ohne deine Hilfe. Stell dir vor, es gibt Dinge, bei denen du nicht der Beste bist, und Beziehungen gehören eindeutig dazu. Wenn du einfach mal deine beschissen-narzisstische Art ablegen könntest und ein wenig Gefühle zeigen, wärst du echt eine gute Partie. So ekelt sich einfach nur jeder vor dir und heuchelt höchstens Interesse, in der Hoffnung das große Los zu ziehen.“
 

Ich hielt kurz inne und wartete, ob er mir über den Mund fahren würde, bevor ich weitermachte: „Weißt du, wir wären ein echt gutes Team, würdest du nicht dauernd auf Joey herumhacken. Dann würde ich dich wirklich mögen. Jetzt, wo ich mich gut duellieren kann, wären wir ein gefährliches Pairing. Ich spiele nicht gänzlich so wie du, aber ich ergänze dich sehr gut. Im Gegensatz zu den anderen Menschen auf diesem Planeten kann ich deine Züge ungefähr erahnen und sie unterstützen. Mein Deck enthält genügend Monster und Zauberkarten, die deine pushen. Natürlich braucht ein Seto Kaiba niemanden, das wäre ja ein Frevel, und trotzdem bist du froh, wenn Yugi oder ich an deiner Seite stehen. Streite das jetzt ja nicht ab. Ich habe eine Weile gebraucht um zu schnallen, was Pegasus damals gemeint hat, aber jetzt geht mir ein Licht auf: Du erträgst meine Gegenwart, weil ich mich ähnlich duelliere wie du.“
 

Ja, das hatte ich jetzt erst wirklich geschnallt. Kaiba zu zähmen war nicht möglich. Ihn zu bändigen glich einem Frontalangriff gegen einen Weißen Drachen. Man konnte aber versuchen mit ihm auszukommen, sich neben ihn einzureihen. Das war mir wohl gelungen.
 

„Du bist nicht gänzlich nutzlos, nein“, meldete sich der CEO und nippte wieder an seiner Teeschale. „Darum ist es unverständlich, warum du dir jemanden wie Wheeler ausgesucht hast. Du besitzt Talent, siehst passabel aus und hast sogar den Faktor des Geldes auf deiner Seite, wie du es so schön ausgedrückt hast, weil du Anteile an meiner Firma hältst. Bist du erst einmal 18 Jahre, stehen dir alle Möglichkeiten offen. Gleich wie Yugi. Ich halte meine Hand über euch, weil ich großes Potential in euch sehe und euch br…“ Das letzte Wort blieb unausgesprochen.
 

„Wie gnädig, Herr Kaiba. Sie halten Ihre Hand über uns. Und du wunderst dich, dass du keine abbekommst?“
 

„Vergreif dich mal nicht im Ton“, zischte der CEO ungehalten.
 

„Das willst du doch – jemanden, der sich mit dir misst. Yugi ist gerade nicht da, bleibe also nur ich. Ja, du brauchst uns. Alle beide. Wir sind dein Rettungsanker. Das, was dich am Leben erhält. Der Gedanke uns zu verlieren ist unerträglich. Dass wir verlieren könnten genauso. Nur du darfst uns besiegen, in die Knie zwingen. Wir sind, gemeinsam mit Mokuba, der Mittelpunkt deines Lebens. Darum hast du mich so gerne um dich. Weil ich dir schon bei der ersten Begegnung die Stirn geboten habe. Jetzt habe ich dich durchschaut, Seto Kaiba.“
 

Ich trank meine Tasse leer und schob den Stuhl zurück.
 

„Ein bisschen ein anderes Verhalten, etwas mehr Wärme und ernste Sorge, die nicht aus Selbstsucht geboren ist, und du wärst echt eine gute Partie. Man könnte dich als echten Freund haben wollen, sogar als festen Freund, würdest du nur einmal in deinem Leben über deinen Schatten springen. Das ist das Ätzende an dir, Kaiba. Darum ist auch Yugi mein bester Freund und nicht du. Ihm würde ich mein Leben blind anvertrauen, genauso wie dir, nur mit dem Unterschied, dass Yugi es beschützen würde, weil er mich liebt, wie ein echter Freund, du nur aus Eigennutz und Selbstsucht.“
 

Damit drehte ich mich um und ließ ihn alleine. Warum konnte er einfach nicht sein blödes Maul halten und Joey in Ruhe lassen? Vor allem: Warum hatte ich mich schon wieder eingemischt? Etwas an dem, was ich gesagt hatte, versetzte mir einen kleinen Stich. Ich mochte Kaiba nämlich mittlerweile wirklich gerne. Blendete man seine großkotzige Art und sein „Ich bin der Beste“ einmal aus, so war er wirklich erträglich. Mir war außerdem bewusst, dass er an mir hing, wie auch an Yugi. Uns beiden erging es ähnlich. Was mich aber weit mehr störte war die Frage, was wohl gewesen wäre, hätte Kaiba sich ähnlich verhalten wie Joey. Würde dieser dann gar nicht oben im Zimmer sitzen und weiter sein Dasein bei einem Säufer fristen, während ich mit Geschenken überhäuft worden wäre? Ich schüttelte den Kopf und vertrieb diesen Gedanken, genauso wie die Frage, ob Yugi und ich ein gutes Paar geworden wären. Das konnte ich jetzt, so kurz vor dem Finale, gar nicht gebrauchen.

Ein kleines Duell

Ich überlegte was ich jetzt machen sollte. Laut Kaiba würde unser Hubschrauber (warum auch normal reisen?) erst nach dem Mittagessen bereitstehen. Mir hatte sich die Frage aufgedrängt, warum ich denn Lokalisierungskarten brauchte, wenn mich der Turnierveranstalter persönlich herumkutschierte? Wahrscheinlich nur ein kleiner Test, ob ich wirklich den Anforderungen eines Seto Kaiba entsprach. Seine Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Wenn er es darauf angelegt hätte, wären wir zusammengekommen. Was sollte das bedeuten? Dass er auf mich stand? Wohl kaum. Ich war mir bewusst, dass ich ihm wichtig war. Seine kranke „Du bist mein Ebenbild-Nummer“ hatte in seinem Kopf wohl den Eindruck hinterlassen, ich sei sowas wie sein Eigentum, und dabei noch ein Stück Yugi, den er vergötterte, weil er ihm die Stirn bieten konnte. Für mich klang das stark nach „Ich will dich besitzen“. War er eifersüchtig, weil Joey etwas besaß, das er nicht hatte: Mich?
 

Ich war beim Nachdenken durch die Villa gewandert und dabei unweigerlich vor dem Holoraum gelandet. Das war sowas wie Kaibas Heiligtum. Dort drinnen konnte man sich duellieren und zwar nahezu lebensecht. Ein Dutzend Techniker arbeiteten Tag und Nacht, dass der Projektor lief und auch die KI konnte sich mit den Besten der Besten auf dieser Welt messen. Kaiba hatte mir einmal erzählt, dass er sämtliche Duellanten von Rang und Namen eingespeichert hatte. Das bedeutete, er selbst würde sicher einmal als Gegner existieren, gleiches galt für Yugi. Ob ich wohl auch dabei war? Ich zögerte kurz, bevor ich die Tür aufstieß und sich mir ein nahezu leerer Raum darbot. Es wirkte wie so eine Bluebox, die man in Filmen für die Animationen verwendete oder wie in einer Gummizelle, nur eben ohne Gummi. Hatte ich mich im Raum geirrt? Es brannte Licht, aber das war auch schon alles. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und ich schaute mich um. Hier also verbrachte Kaiba seine Freizeit? Hier übte er?
 

„Guten Tag“, meldete sich eine weibliche Stimme aus dem Nirgendwo, was mich zusammenzucken ließ. „Bitte autorisieren Sie sich.“
 

„Ähm.“ Ich kratzte mich am Hals. Autorisieren? Was sollte ich jetzt machen? Etwas sagen?
 

„Stimmanalyse abgeschlossen. Subjekt David Pirchner – persönlicher Gast von Seto Kaiba. Herzlich Willkommen, Herr Pirchner. Sie wünschen?“
 

Ich zog die Augenbrauen zusammen. Persönlicher Gast? Na das war ja mal eine nette Beschreibung. Ich hatte schon mit was ganz anderem gerechnet. Das bedeutete aber, dass Kaiba davon ausging, dass ich diesen Raum einmal nutzen würde. Interessant. Wie funktionierte dieses Ding jetzt? Wenn es von Kaiba gebaut worden war, dann würde es wohl auf Befehle reagieren.
 

„Ich möchte mich gerne duellieren“, stellte ich in den Raum.
 

„Wie Sie wünschen. Schwierigkeitsgrad, Gegner und eigenes Deck auswählen“ forderte mich die Frauenstimme auf.
 

„Hm“, überlegte ich. „Höchster Schwierigkeitsgrad, Gegner Seto Kaiba, Deck von David Pirchner.“
 

„Mahad?“, fragte ich und sah staunend dabei zu, wie sich der Raum in eine Art Arena verwandelte. Um uns herum jubelten tausende Menschen, reckten die Hände in die Höhe und brüllten irgendetwas. Das war ja fast wie in einem Fußballstadion.
 

„Ja?“, meldete sich mein Begleiter sofort zu Wort.
 

„Wollen wir mal herausfinden, ob wir Kaiba schlagen können?“
 

„Natürlich“, nickte der Geist und verschmolz beim Aufglühen des Rings mit mir. Sofort spürte ich wieder diese angenehme Wärme und wie jemand meine Bewegungen führte.
 

Vor mir erschien ein holografisches Abbild von fünf Karten aus meinem Deck. Gleiches passierte auf der Gegenseite.
 

„Ziehe Karte“, sagte die weibliche Stimme. „Spiele Herr der Drachen im Angriffsmodus. Benutze Zauberkarte Drachenruferflöte. Beschwöre zwei Weiße Drachen mit Eiskaltem Blick.“
 

Ich blinzelte und starrte entgeistert nach vorne. Was? Tatsächlich erschien der Herr der Drachen auf dem Feld und in seiner Hand eine goldene, gebogene Flöte, deren Ende zu einem Drachenmaul geformt war. Die Rubine, die als Augen für den Drachenkopf dienten, glühten auf, als der Herr der Drachen in das Horn stieß und sich neben ihm brüllend zwei Weiße Drachen mit Eiskaltem Blick materialisierten. Sie reckten die Hälse in die Höhe und kreischten ohrenbetäubend, um dann auf mich herabzustarren.
 

„Das ist nicht sein Ernst, oder?“, fragte ich Mahad.
 

„Ich habe ehrlich gesagt schon mit so etwas gerechnet“, lächelte der Ägypter.
 

„Wie meinst du das?“
 

„Höchster Schwierigkeitsgrad bedeutet bei Kaiba, dass es nahezu unmöglich ist den Gegner, vor allem ihn selbst, zu besiegen.“
 

„Du meinst, beim Turnier blüht uns sowas auch?“, war meine entgeisterte Frage.
 

„Natürlich. Jetzt warte mal ab.“
 

Eine sechste Karte materialisierte sich und wir tippten zwei davon an.
 

„Ich spiele Rache des Schwertjägers im Verteidigungsmodus, sowie eine Karte verdeckt.“
 

Vor uns erschien der Schwertkämpfer mit Cape und Batmanmaske. Er hielt sein Schwert in einer abwehrenden Position. Links von uns lag eine verdeckte Karte.
 

„Ziehe nächste Karte. Benutze Drachenruferflöte um Weißen Drachen mit Eiskaltem Blick zu beschwören. Kombiniere drei Weiße Drachen mit Eiskaltem Blick um Blauäugigen Ultradrachen zu erschaffen.“
 

Ich wich einen Schritt zurück, als ein dritter Drache erschien, der sich sofort mit seinen Brüdern vereinte. Aus dem massigen Leib, dessen Schuppen im Lichte der virtuellen Sonne, die auf uns herabschien, erstrahlte, ragten drei Köpfe. Alle drei waren mit einem schwarzen Mal auf der Stirn versehen und starrten gierig auf uns herab. Ich wusste, das war Kaibas stärkstes Monster, von seiner neuesten Eroberung einmal abgesehen. Vor diesem Ding hatten schon Duellanten von ganz anderem Kaliber kapitulieren müssen.
 

„Blauäugiger Ultradrache greift nun Rache des Schwertjägers an.“
 

Die drei Schädel steckten ihre Köpfe zusammen, rissen die Mäuler auf und in jedem von ihnen bildete sich ein Lichtblitz. Der Boden der Arena begann zu knacken. Tiefe Risse zeigten sich im Duellring. Das Erdreich brach auf während das Monster seine Attacke vorbereitete. Der Ultradrache spreizte seine Flügel und ballte die Klauen zu Fäusten. Die drei Kugeln wurden immer größer, bis sie eins wurden und zu einem großen Strahl zusammenfanden. Dieser löste sich von den Mäulern und fraß sich, von gigantischem Druck begleitet, über das Feld. Ich hörte Gestein krachen und konnte Brocken an mir vorbeifliegen sehen während die Menge noch lauter jubelte.
 

„Ich aktiviere die Fallenkarte Angriff annullieren!“ Meine verdeckte Karte wurde aufgedeckt und ein wabernder Schild schluckte den Strahl des Ultradrachens. Das rettete uns für diese Runde, aber nicht für die nächste.
 

„Was machen wir jetzt?“, fragte ich und eine neue Karte erschien auf unserer Seite des Feldes.
 

„Auf Zeit spielen“, erklärte mir Mahad und ich wählte unter seiner Hilfe zwei weitere Karten aus.
 

„Nichts in unserem Deck ist stark genug es mit dem Ding aufzunehmen.“
 

„Doch, es gibt eine Karte“, korrigierte mich Mahad. „Ich rufe selbst den Herrn der Drachen aufs Feld, im Angriffsmodus, und benutze dazu die Drachenruferflöte um meinen Meteordrachen zu beschwören.“
 

„Bist du wahnsinnig?“, wollte ich entgeistert von Mahad wissen, der den Kopf schüttelte. Die Monster waren im Angriffsmodus. Das würde einen Haufen Lebenspunkte kosten.
 

„Vertrau mir.“
 

Ich beendete meinen Zug und wartete angespannt auf die nächste Runde.
 

„Ziehe nächste Karte. Blauäugiger Ultradrache greift Herr der Drachen an.“
 

Die Szene von voriger Runde spielte sich erneut ab. Mein Herr der Drachen verschwand im digitalen Nirvana und obwohl der Angriff nicht mir direkt galt, so hatte ich Mühe auf den Beinen zu bleiben. Unsere Lebenspunkte waren auf 700 zusammengeschrumpft. Noch so eine Attacke würden wir nicht überstehen. Eine Niederlage, ganz klar.
 

„Und jetzt?“, fragte ich.
 

„Hoffen wir auf das Herz der Karten“, nickte Mahad und wir zogen unsere nächste Karte.
 

Ich kannte dieses Monster, auch wenn ich es noch nie gespielt hatte. Sie war anders als sämtliche andere Karten in meinem Deck. Komplett in Blau gehalten, mit mehr Sternen als alles, was ich bisher vorzuweisen hatte, schwebte da meine seltenste Karte, meine größte Errungenschaft. Mit 4.000 Angriffspunkten war Obelisk dennoch zu schwach. Der Ultradrache schien sogar den Göttern überlegen zu sein.
 

„Du täuschst dich“, stellte Mahad meine Vermutung in Frage. „Wir sprechen hier von einem Gott aus uralten Zeiten. Obelisk der Peiniger ist eines der mächtigsten Wesen. Seine Kraft ist nahezu grenzenlos.“
 

„Mahad, er hat 4.000 Angriffspunkte. Ich bin zwar schlecht in Mathe, aber das bekomme ich noch geradeso hin. 500 Punkte fehlen, dann hätten wir erst ein Patt. Kann man Göttermonster überhaupt verstärken?“
 

„Das ist nicht notwendig. Sieh zu und lerne.“
 

„Ich rufe Obelisk den Peiniger aufs Feld.“
 

Sobald ich das Hologramm der Karte berührt hatte, begann die Erde zu beben. Die gesamte Arena erzitterte und das Jubeln der Meute wurde noch lauter. Ich taumelte von links nach rechts und konnte wieder diesen unangenehmen, heißen Wind aufziehen spüren. Die Bänder meines Pullis wurden aufgewirbelt, genauso wie der Ring an meiner Brust. Während ich versuchte das Gleichgewicht zurückzuerlangen ertönte ein tiefes Grollen. Etwas verdunkelte die Sonne und ließ einen gigantischen Schatten über mir entstehen. Ich legte den Kopf in den Nacken und konnte in das Gesicht meines Streiters, meines mächtigsten Monsters, starren. Er sah ganz anders aus als auf der Karte. Keine roten Augen, sondern golden, breiter und mit dem Streifenmuster versehen, das er nach meiner Übernahme von Lumis und Umbra bekommen hatte. Der große blaue Steinsoldat stand einfach nur da und wartete.
 

„Ich opfere Rache des Schwertjägers und Meteordrache um die Angriffspunkte von Obelisk der Peiniger zu steigern“, sagte ich unter Mahads Anweisung und warf diesem erneut einen fragenden Blick zu.
 

Leben kam in den Göttlichen Soldaten. Er packte die beiden Monster, die sich in seinen Händen windeten. Diese lösten sich in einem grellweißen Blitz auf, der jeweils zu Obelisks Stirnjuwel hin schoss. Schnaubend drehte der blaue Koloss den massigen Schädel wie unter Zwang zur Seite. Eine digitale Anzeige erschien neben ihm und ich bestaunte mit offenem Mund, wie die Angriffspunkte bereits weit über die 10.000er Marke geklettert waren, Tendenz steigend.
 

„Warnung. Angriffspunkte von Obelisk der Peiniger zu groß. Warnung!“, rief die weibliche Stimme.
 

„Was soll das bedeuten zu hoch?“ Mittlerweile hatten wir die 60.000 überschritten.
 

„Was hast du geglaubt, David? Dass Kaiba ein Monster in seinem Deck haben wollte, das dem Ultradrachen nicht gewachsen ist?“, gluckste Mahad amüsiert.
 

„Hört das irgendwann auf?“
 

Erst als das Zeichen für unendlich auf der Tafel erschien, verblasste diese langsam.
 

„Das ist ein Scherz, oder?“
 

„Nein, ist es nicht. Für das Opfer zweier Monster ist Obelisk in der Lage eine Runde lang seinen Angriff zu steigern und zwar auf eine Ebene, die kaum ein anderes Monster erreichen kann“, erklärte mir Mahad. „Obelisk, zerschmettere den Blauäugigen Ultradrachen!“
 

Der Göttliche Soldat holte mit der rechten Hand aus, ballte sie zur Faust und ließ sie in den Ultradrachen fahren. Das Monster kreischte so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Gelbe Blitze prasselten über alle drei Hologramme und die Arena verschwand, machte dem leeren, weißen Raum Platz, nur um dann wieder abgehackt in die virtuelle Realität überzugehen.
 

„Warnung. System defekt. Warnung“, meldete sich die Frauenstimme, nur um dann komplett zu verstummen.
 

Ich hörte es laut krachen und hatte den Geruch von verbrannter Elektronik in der Nase. Es qualmte und rauchte um mich herum und ich hielt mir den Ärmel vor Mund und Nase um nicht husten zu müssen. Was war hier los? Sämtliche Monster, mit Ausnahme Obelisks, lösten sich laut zischend auf. Die Arena verschwand komplett und ich befand mich wieder in der eigentlichen Realität. Nein, das konnte nicht sein, denn mein Streiter stand noch immer da, die Faust ausgestreckt. Ein Hologrammfehler?
 

„Du hast ihn also benutzt.“
 

Ich fuhr herum und konnte zwischen Obelisks Beinen Kaiba erkennen, der zu meinem Göttermonster hinaufstarrte. Dabei war ein Glanz in seinen Augen, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Fast schon ehrfürchtig betrachtete er sein ehemaliges Monster.
 

„Ich habe wohl auch deine Anlage geschrottet“, stellte ich fest, nachdem Mahad mir die Kontrolle zurückgegeben hatte.
 

„Das ist mir auch schon passiert“, wiegelte Kaiba unwirsch ab. „Du hast nicht gezögert. Nicht so wie Yugi.“
 

„Was?“, fragte ich verwirrt.
 

„Du hast ihn benutzt, deine Monster geopfert. Du weißt wie er funktioniert.“ In der Stimme des CEOs lag etwas Verträumtes.
 

Obelisk verschwand dann auch im digitalen Nichts und ließ uns in einem vollkommen verwüsteten Raum zurück. Die Kacheln und Fliesen waren teilweise komplett herausgerissen, Kabelsalat hing von der Decke und überall knisterte und blitzte es. Dieses Ding, Obelisk, war mit einem Faustschlag in der Lage gewesen die komplette Anlage zu zerlegen. Wenn Slifer und Ra von einem ähnlichen Kaliber waren, fragte ich mich, wer uns im Finale überhaupt gewachsen sein wollte.
 

„Tut mir leid“, nuschelte ich und schob die Hände in die Hosentasche.
 

„Was?“, fragte mich Kaiba und schüttelte den Kopf, so als hätte ich ihn aus seinen Gedanken gerissen. „Das hier? Mach dich nicht lächerlich. Die Techniker haben versagt, mehr nicht. Dafür werden sie Überstunden machen müssen. Mein System muss perfekt sein.“
 

Ich schrägte den Kopf. Drehte Kaiba völlig durch? Ich hatte seinen Trainingsraum demoliert und er hielt mir nicht mal eine Moralpredigt? Was? Entweder er war besessen oder… Diesen Gedanken wollte ich gar nicht fertigspinnen.
 

„In einer halben Stunde gibt es essen“, war es nun er, der mich aus meinen Gedanken riss.
 

„Dafür kommst du selbst?“
 

„Nein, das System hat gemeldet, dass jemand sich duelliert. Da nur du und Yugi einen Zugang besitzen, wollte ich wissen wer und wie er sich schlägt. Komm jetzt, bevor du dir noch ernsthaft weh tust.“
 

Das sollte einer verstehen. Ich war überfordert. Mahad hielt sich auch zurück, außer dass er grinsend neben mir herging. Tolles früheres Ich. Dafür streckte ich ihm die Zunge heraus und folgte Kaiba, der nun vollends mit sich selbst beschäftigt schien. Verrückte Welt. Mit dieser Karte in meinem Deck und Mahad an meiner Seite musste ich mich jedenfalls vor den anderen unbekannten Teilnehmern nicht fürchten, ganz sicher nicht.

Auftritt der Finalisten

Das Mittagessen war erstaunlich gesittet abgelaufen. Kaiba und Joey hatten sich zurückgehalten während Yugi und Mahad mich jeweils zu beruhigen versuchten. Nun war es also so weit: Das Finale stand an. Ich hatte Obelisk in Aktion gesehen und war mir sicher in der Endrunde zu stehen, doch meine etwaigen Gegner bereiteten mir Sorgen. Dass ich mich eventuell mit Joey duellieren musste schob ich einmal beiseite. Gemeinsam bestiegen wir alle den Hubschrauber der uns zum Austragungsort bringen sollte. Ich war ehrlich gesagt froh, dass uns unsere Freunde, alle bis auf Bakura, begleiteten. Die Erinnerungen an das letzte Battle City Turnier schmerzten Bakura wohl noch zu sehr, als dass er sich beteiligten wollte.
 

„Du bist ja ganz grün im Gesicht“, meinte Tea, die sich neben mich gesetzt hatte.
 

„Erinnerst du dich noch, Tea, als ich mich das erste Mal mit Kaiba duelliert habe?“, fragte ich und rieb mir mit dem Handrücken über meine Nase.
 

„Als wäre es erst gestern gewesen“, lächelte sie.
 

„Damals war der Weiße Drache etwas Furchterregendes. Er stellte die Spitze der Evolution dar. Als Kaiba ihn gerufen hat, da habe ich mir fast in die Hosen gemacht. Ich weiß nicht, ob mir das nicht lieber hätte sein sollen. Was ich heute mache, das ist den Traum anderer leben; ich stehe an der Spitze der Top-Duellanten, mit einem Monster in meinem Deck, das die Erde erzittern lässt. Der Ring an meiner Brust beherbergt einen Geist, der mir Selbstvertrauen geschenkt hat. An meiner Seite stehen Freunde wie ich sie noch nie hatte. Warum bin ich denn dann nervös?“
 

Ich konnte erkennen wie Tea schmunzelte, bevor sie mir mit der Hand die Haare zerstrubbelte.
 

„Was ist nur aus dem schüchternen, zurückhaltenden David geworden?“, gluckste sie.
 

„Wie meinst du das?“
 

„Du hast Recht: Als wir dich kennenlernten, da warst du einfach ein liebenswerter, aber etwas zurückhaltender Junge. Heute, da haben wir es mit einem echten Freund zu tun. Keiner von uns wird vergessen, was du für Joey getan hast. Du bist Yugis bester Freund und hast sogar Seto Kaiba ein wenig handzahm gemacht. Du duellierst dich heute ja nicht nur mit Fremden, sondern auch mit deinen Freunden. Egal wie das ausgeht, wir werden hinter dir stehen.“
 

Ich musste unweigerlich lächeln. Tea war immer so etwas wie die gute Seele der Truppe gewesen. Sie schimpfte zwar, aber am Ende hatte sie die richtigen Worte parat. Kein Wunder, dass Yugi (ich glaubte noch immer daran) für sie schwärmte.
 

„Dabei hat alles mit Joeys großer Klappe angefangen“, grinste ich.
 

„Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass es so etwas wie Schicksal gibt. Es war kein Zufall, dass wir uns kennengelernt haben. Wir haben dich gebraucht und du uns. Yugi freut sich schon darauf an deiner Seite kämpfen zu dürfen. Das hat er mir selbst erzählt. Ich glaube sogar Kaiba würde dich im Team wissen wollen. So habe ich ihn noch nie erlebt.“
 

„Wie meinst du das?“, fragte ich und legte den Kopf ein wenig schräg.
 

„Diese Euphorie, das Zucken seiner Finger, während er so unbeteiligt aus dem Fenster schaut. Die Geschichte scheint sich einfach zu wiederholen, aber mit einer Komponente, die alles verändert: Dir.“
 

„Und wenn ich es versaue?“ Ich klang dabei bedrückt.
 

„Wirst du nicht. Du bist so weit gekommen, David. Ich habe gesehen was du mit Weevil angestellt hast, du hast sogar Pegasus besiegt. Das ist bisher nur Yugi gelungen; hör endlich auf dir so viele Gedanken zu machen. Ich kann es zwar nicht so ganz nachvollziehen, aber, Yugi und Joey geht es beim Duellieren vorwiegend um den Spaß. Ist das bei dir nicht so?“
 

Ich dachte nach. Das hier war kein stupides Kartenspiel mehr: Es ging um so viel mehr. Ich musste kämpfen und durfte mir keine Fehler erlauben. Machte aber nicht erst das den Reiz von Duel Monsters aus? Mich als risikofreudigen Spieler zu bezeichnen wäre falsch gewesen, aber als jemand der die Herausforderung scheute konnte ich mich auch nicht mehr ansehen. Mir beugte sich eine der mächtigsten Karten in Duel Monsters, ich hatte bisher fast nie verloren und war umgeben von Freunden und Vertrauten. Was also sollte wirklich schiefgehen?
 

„So gefällst du mir schon mehr.“ Tea schenkte mir ein strahlendes Lächeln.
 

„Weißt du Tea, wäre ich nicht mit Joey zusammen…“, grinste ich und entlockte meiner Freundin eine dezente Röte im Gesicht.
 

„Lass ihn das bloß nicht hören oder er dreht durch“, schmunzelte sie.
 

„Tea?“, fragte ich so leise, dass es fast im Geräusch der Hubschrauberrotoren unterging.
 

„Hm?“
 

„Bleiben du, Tristan und Duke in unserer Nähe?“
 

„Natürlich.“ Sie nahm meine Hand und drückte sie fest. „Wir sind schließlich Freunde.“
 

„Danke“, nickte ich und starrte aus dem Fenster.
 

Der Helikopter setzte uns in einem riesigen Stadion ab. Das Gebäude erinnerte stark an die Arena aus Kaibas Trainingsraum. Der CEO stellte sich neben mich und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Finger trippelten unruhig auf den Oberarmen herum. Tea hatte Recht gehabt: Er war wirklich nervös. Neben mir erschienen Yugi und Joey.
 

„Worauf warten wir?“, wollte ich wissen.
 

„Auf die restlichen Finalisten“, klärte mich Kaiba auf.
 

„Und warum sind die noch nicht da?“
 

„Weil sie jetzt auftauchen.“
 

Wir wandten uns alle dem Nordeingang zu. Tatsächlich schälten sich Leute aus dem Schatten. Das waren Gestalten, die ich zum größten Teil nicht in meiner Nähe haben wollte. Ein Hüne mit blasser Haut, verschlagenem Gesicht, dazu einer albern wirkenden Mütze, die sein Haar ähnlich wirken ließ wie das eines Clowns und dunkler Kleidung fixierte sofort Yugi, der ein betretenes Gesicht machte.
 

„Ein Freund von dir?“, fragte ich und nahm Kaibas Haltung ein.
 

„Das ist Panik. Ich habe ihn damals im Königreich der Duellanten besiegt, nachdem er Mai unfair aus dem Turnier befördert hat. Eigentlich dürfte er gar nicht mehr herumlaufen: Der Pharao hat seinen bösen Geist zersplittert.“
 

„Das klingt ja bezaubernd“, hob ich die Mundwinkel an und stellte mich demonstrativ neben meinen besten Freund.
 

„Panik mache ich dieses Mal fertig, Yugi. An dem musst du dir nicht die Finger schmutzig machen“, meldete sich Joey zu Wort und tat es mir gleich. Der König der Spiele wurde jetzt von seinen besten Freunden flankiert, was ihm ein wenig Mut zu machen schien.
 

Der nächste Teilnehmer war ein Typ mit Maske, was bei mir sofort die Alarmglocken läuten ließ: Raritätenjäger! Er trug einen orange-roten Anzug, samt Zylinder und schwarzen Lackschuhen. Das weiße, aufgeknöpfte Hemd ragte unter dem Sakko hervor. Auch er fixierte Yugi sogleich.
 

„Und das ist?“, erkundigte ich mich.
 

„Arkana – den hat Marik benutzt, um sich mit mir gefahrlos zu duellieren“, erklärte Yugi.
 

Das Duo wurde durch einen dritten Mann komplettiert: Schmutzige, blonde Haare, die unter einem Bandana in den Farben der amerikanischen Flagge, hervorlugten, dazu Bartstoppeln und eine Sonnenbrille. Auch ohne Lederjacke, sandfarbene Cargo-Shorts und Armeestiefel hätte ich ihn erkannt: Das war Bandit Keith, einst ein begnadeter Duellant, bis Pegasus ihn vorgeführt hatte.
 

„Na sieh mal an – der Lackaffe, Yugi und Kaibas neuestes Spielzeug. Wie nett. Auf den Kleinen freue ich mich besonders.“
 

Keith grinste breit und bedachte mich mit einem geringschätzigen Blick. Panik indes lächelte boshaft. Einzig Arkana hielt sich zurück, die Hände in die Hosentaschen geschoben.
 

„Ich habe dich schon einmal fertig gemacht, Keith, also nimm den Mund nicht zu voll“, brauste Joey auf und ballte die Hände zu Fäusten.
 

„An dir bin ich nicht interessiert, Lackaffe. Nur der Kleine von Kaiba…“
 

„Ich habe Erstens einen Namen und Zweitens denke ich nicht, dass du eine Herausforderung darstellst, Keith, zumindest nicht, wenn du fair spielst. Nicht, dass es notwendig wäre – drittklassige Duellanten sind kein Hindernis für die Weltspitze.“ Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, denn Keiths Grinsen wurde zu einer wütenden Fratze.
 

„Nimm den Mund mal nicht zu voll, Hosenscheißer. Was du über Duel Monsters glaubst zu wissen, das habe ich schon längst wieder vergessen.“
 

„Mir schlottern die Knie“, spottete ich.
 

„Du kleiner mieser…“, begann er loszuschimpfen, wurde aber unter Kaibas strengem Blick äußerst kleinlaut.
 

„Reg dich ab, Keith – das Großmaul übernehme ich.“ Panik hatte eine dunkle, rauchige Stimme. Er war deutlich größer und breiter als ich und sein Gesichtsausdruck zeugte von Sadismus und Grausamkeit. „Angst im Dunkeln, Kleiner?“
 

„Schade, dass die Partnerduelle erst fürs Finale gedacht sind. Euch zwei hätte ich alleine fertig gemacht.“
 

Joey lachte schallend und Yugi zog mich vorsichtig am Arm, während ich mich verbal mit unseren neuen Freunden duellierte.
 

„So kleine Kinder fertigzumachen war mir immer eine besondere Freude. Sie schreien so schön, wenn der Schatten sie verschlingt“, konterte Panik höhnisch.
 

„Wünsch dir die Dunkelheit nicht herbei.“ Ich zog die Augenbrauen zusammen und schaute auf den Milleniumsring an meiner Brust. Panik schreckte tatsächlich zurück.
 

„Woher hast du so ein Ding?“
 

„Das finden wir im Finale heraus. Dich zu zerlegen wird mir besonders viel Freude bereiten, Panik. Solche Menschen wie du, die sich im Elend anderer suhlen, die widern mich an. Hoffentlich sind wir das erste Pairing. Mal sehen was ich so mit dir anstellen kann.“ Ich hob die Mundwinkel amüsiert an, als der Riese vor mir nach hinten stolperte. „Schlechte Erfahrungen gemacht, was?“
 

Unser verbaler Schlagabtausch wurde von einer jungen Frau unterbrochen: Lange, blonde Haare, roter Lippenstift und ein dazu passendes, modisches Outfit.
 

„Mai!“, rief Joey glücklich und winkte fröhlich.
 

„Das war ja klar, dass du es auch ins Finale geschafft hast.“
 

Das musste Mai Valentine sein. Meine Freunde hatten mir viel von ihr erzählt. Sie sei zwar anstrengend, aber habe das Herz am rechten Fleck. Außerdem hat sie Joey im Königreich der Duellanten die Zugangskarte geschenkt, nachdem Keith seine geklaut hatte.
 

„Hey, Mai!“ Tea lief auf sie zu und fiel ihr sogleich um den Hals.
 

„Auch schön dich zu sehen, Tea“, lächelte die Blondine und tätschelte ihr den Rücken.
 

Ich sah zu Joey, der Mai förmlich anglühte. Mein Blick wanderte zu der Frau. Sie war hübsch, das eindeutig, aber kein Fall für mich: Zu wenig natürlich, geschminkt und aufgetakelt. Meine Finger krallten sich in meine Pulliärmel, als auch Joey ihr um den Hals fiel. Das wirkte so vertraut, fast schon ein wenig verliebt, zumindest von Seiten meines Freundes. Was war das für ein komisches Gefühl in meiner Magengegend? Eifersucht? Bevor ich etwas sagen konnte, lösten sie sich auch schon voneinander und zwei weitere Finalisten betraten die Arena.
 

Einer von ihnen war klein, mit einer roten Mütze, braunen Haaren und ich konnte ihn sofort als Weevils Anhängsel identifizieren: Rex Raptor, der Dino-Duellant. Seine Begleitung stellte sich als ein Junge mit türkisen Haaren heraus, der entgegen seines Partners einen freundlichen Eindruck machte. Er winkte Joey fröhlich zu und dieser erwiderte die Geste. Yugi flüsterte mir ins Ohr, dass es sich dabei um Espa Roba handelte, einen Bekannten. Rex wurde einfach übergangen.
 

Meine Laune sank erst wirklich, als die letzten zwei Duellanten die Arena betraten. Einer von ihnen war offenkundig ein Raritätenjäger: Eine schwarze Kutte verdeckte seine Körpermaße, die Kapuze war tief ins Gesicht gezogen und man konnte einzig eine rot-schwarze Maske mehr schlecht als recht erkennen. Auf seine Kapuze war ein Drache mit fünf Köpfen eingestickt. Er schritt erhaben, gemächlich, fast schon ein wenig edel neben seinem Partner her.

Der war ein Mann Mitte der 40er: Rabenschwarzes Haar, gepflegter Schnauzbart, Seitenscheitel und in einen schwarzen Anzug samt Krawatte und weißem Hemd gekleidet. Er wirkte auch nicht als wäre mit ihm gut Kirschen essen. Dieser stechende Blick aus den rehbraunen Augen fixierte zuerst Kaiba, dann mich.
 

„Das muss der Raritätenjägerheini sein! Kaiba, disqualifiziere ihn!“, rief Joey und deutete auf den vermummten Fremden.
 

„Wheeler, du solltest vorsichtig sein, mir Befehle zu erteilen, sonst wirst gleich du disqualifiziert. Ohne Yugi und David hättest du es nicht einmal ins Finale geschafft, also halte die Klappe“, entgegnete Kaiba leise.
 

Stumm bildete das fremde Duo in gehörigem Abstand zu uns die letzte Gruppe. Ich schaute abwartend zu Kaiba, der mir zunickte. Damit waren wir wohl vollzählig. Zu meiner großen Überraschung reckten alle ihre Köpfe in die Höhe: Quasi aus dem Nichts schälte sich ein Zeppelin.
 

„Was?“, fragte ich ungläubig.
 

„Mir hat der Luftschiffkampf das letzte Mal sehr gut gefallen“, sagte Kaiba.
 

„Und die Arena hier?“
 

„Ein kleines Spektakel, mehr nicht. Vielleicht für das nächste Turnier.“
 

Der Zeppelin landete und Roland, begleitet von einer ganzen Heerschar an Anzugträgern, kamen heraus. Kaibas rechte Hand trug wie immer eine Sonnenbrille. Er räusperte sich lautstark.
 

„Damit wir sichergehen können, dass Sie sich alle ordnungsgemäß zum Finale des Battle City Turnier Finales qualifiziert haben, bitte ich Sie nun Ihre Lokalisierungskarten in die Höhe zu halten!“
 

Ich griff in meine Hosentasche und hielt die Karten in die Höhe, wie auch der Rest von uns. Roland kontrollierte die Anzahl bei jedem von uns bis er schlussendlich zufrieden nickte.
 

„Ich gratuliere Ihnen allen damit recht herzlich. Die Finalpairings werden auf dem Luftschiff bekannt gegeben. Für Ihr leibliches Wohl ist gesorgt. Wenn ich Sie dann bitten dürfte…“ Roland deutete einladend auf den Zeppelin.
 

„Moment Mal“, mischte sich Keith ein. „Und was macht die Zirkustruppe da?“ Er deutete auf Duke, Tea und Tristan.
 

„Die Zirkustruppe, wie du sie nennst, sind unsere Freunde“, schnaubte ich.
 

„Und darum dürfen sie mit? Ich verlange…“
 

„Was du verlangst, ist unerheblich. Die einzigen beiden Personen die bestimmen dürfen sind Kaiba und ich. Wenn dir etwas nicht passt gehst du nach Hause, haben wir uns verstanden?“
 

Ich warf dem CEO einen Seitenblick zu, dessen Mundwinkel nach oben wanderten. Ich hatte meine Befugnis und wohl auch meine Grenzen nicht überschritten. Das, oder… Den Gedanken wollte ich gar nicht zu Ende führen.
 

„Was bildest du dir ein?“ Keith ballte die rechte Hand zur Faust.
 

„Die Frage stellt sich mir auch gerade. Halt den Mund, Keith, das ist das Beste für alle.“
 

Damit wandte ich mich ab und folgte Kaiba, gemeinsam mit meinen Freunden. Irgendwie war es ein verdammt gutes Gefühl, zur Abwechslung einmal die Zügel in der Hand zu halten. Vielleicht hatte es doch einen Vorteil an Kaibas Firma beteiligt zu sein? Nicht, dass ich in seinem Schatten stehen wollte, aber ich war ähnlich unantastbar wie er und Yugi. Das gute Gefühl verschwand schlagartig, als sich der Raritätenjäger in mein Sichtfeld drängte. Das war also die große Herausforderung, die Yugi und ich bestreiten mussten. Der Kloß in meinem Hals, der sich gebildet hatte, wollte auch nach mehrmaligem Schlucken nicht verschwinden. Jetzt gab es kein Zurück mehr!

Erste Pairings

Das Luftschiff stellte sich als geräumiges Fortbewegungsmittel heraus. Die Innenwände waren mit weißem Blech beschlagen und reichhaltig verziert worden. Ich erkannte überall Kaibas Handschrift. Symmetrie, Eleganz und dabei doch ein gewisses Maß an Schlichtheit: Das Ding hatte er selbst entworfen, ganz sicher.
 

„Letztes Mal hat das Teil aber nicht so ausgesehen“, murmelte Joey und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
 

„Dein Sinn für Ästhetik ist ja bemerkenswert, Wheeler“, spottete der CEO.
 

„Was soll denn das wieder heißen?“
 

„Dass du dich um das anstehende Duell kümmern solltest und dich nicht mit Fragen beschäftigen, die weit über deinen Intellekt hinausgehen.“
 

„Du mieser…“ , begann Joey, wurde aber gleich von Kaiba mit einer Handgeste abgewürgt.
 

„Lass gut sein, Wheeler. Ich habe dafür gerade keinen Kopf.“
 

„Sag mal, Kaiba“, lenkte ich seine Aufmerksamkeit auf mich. „Hast du die ersten Pairings schon ausgelost?“
 

„Nein, das übernimmt der Computer. Ich möchte nicht, dass es heißt, ich würde irgendwie beeinflussend in das Turnier eingreifen. Meine Wenigkeit ist ein normaler Teilnehmer wie ihrr. Natürlich bin ich der Veranstalter und habe eine gewisse Entscheidungsbefugnis, da ich Regeln aufgestellt habe, aber den Schiedsrichter werden Mokuba und Roland machen.“
 

„Und wenn eine dieser Witzfiguren unfair spielt?“
 

„Das entscheidet sich von Fall zu Fall. Dir, Yugi und mir gegenüber dürfen sie das. Ich erwarte mir von euch beiden, dass ihr in der Lage seid auch mit solchen Situationen umzugehen, sonst seid ihr es nicht wert ins Finale zu kommen. Beim Rest sieht das ein wenig anders aus.“
 

Ich hob die Brauen an und zuckte dann mit den Schultern. Nicht, dass ich mit etwas Anderem gerechnet hätte. Kaiba war so besessen und fixiert auf Yugi und mich, dass er wohl auch dieses Hindernis zwischen uns sehen wollte, damit wir uns als würdig erwiesen, mit ihm kämpfen zu dürfen. Dieses Verhalten war zwar ein wenig altmodisch, aber wenn er unbedingt wollte.
 

Wir betraten das Deck des Luftschiffs, das sich als breit und geräumig, sofern man dieses Wort für eine offene Fläche verwenden wollte, herausstellte. Zwei Hebebühnen, die verstellbar waren, und das Kampffeld für die Duellanten begrenzten, hatten neben einem riesigen Bildschirm Platz gefunden. Es gab auch einen separaten Bereich für den Schiedsrichter, den, zu meiner großen Freude, Mokuba und Roland gemeinsam eingenommen hatten. Ich lächelte ihm zu und wurde mit einem freudigen Winke begrüßt.
 

„Meine Damen und Herren“, begann Roland nachdem wir uns alle auf dem Deck versammelt hatten. „Die Pairingauswertung findet per Zufallsgenerator statt. Jeder von Ihnen wird sich in zwei Einzelduellen messen. Das Finalduell findet dann in einem Partnerduell statt.“
 

„Moment mal“, mischte sich Keiths krächzende Stimme in Rolands Ansprache. „Davon war aber nie die Rede. Ich teile meinen Gewinn sicher nicht, und den Titel auch nicht.“
 

„Dies ist ein ausdrücklicher Wunsch unseres Veranstalters. Herr Kaiba möchte, dass sich im Finale die Besten der Besten gegenüberstehen und ihr Können auch mit unbekannten Partnern unter Beweis stellen. Wer sich dieser Aufgabe würdig erweist, der kann sich mit Fug und Recht als erstklassiger Duellant bezeichnen.“ Rolands rechte Hand rückte die Sonnenbrille ein wenig zurecht. „Ob Sie sich nachher mit Ihrem Partner duellieren wollen, das ist Ihnen überlassen.“
 

„Und die Karten?“, knurrte Keith. „Wie werden die aufgeteilt?“
 

„Hör mal, Keith“, schaltete sich Kaiba an. „Hier geht es nicht darum die mächtigsten Karten abzugreifen. Wenn du ein guter Duellant bist, dann schaffst du es auch ohne, wenn nicht, dann tu uns allen einen Gefallen und zieh Leine. Das ist ja kaum zum Aushalten, dieses Gejammere.“
 

Unter Kaibas kaltem Blick wurde Bandit Keith immer kleiner, genauso wie seine beiden Kumpanen, die sogleich verstummten. Der Rest hielt sich bedeckt. Ich sah zu Roland, der auf Kaibas Kopfnicken wartete, um fortzufahren.
 

„Die Pairings werden nun auf dem Bildschirm bekannt gegeben. Die angezeigte Reihenfolge definiert auch die Reihenfolge der Kämpfe.“
 

Yugi, Joey und ich schauten gemeinsam auf den großen Bildschirm, der nun hell aufleuchtete. Bilder von den jeweiligen Finalisten erschienen auf dem Display und wanderten in Ecken. Danach wurden jene herausgefischt, vergrößert und mit einer gelben Linie miteinander verbunden. Es dauerte einige Momente und dann standen die Finalpairings für die erste Runde fest.
 

„Ich habe den Clown“, murmelte ich und sah zu Panik hinüber, dessen Grinsen etwas sehr aufgesetzt wirkte. „Und bin wohl auch der Erste.“
 

„Ich habe das Großmaul“, schnaubte Joey und deutete auf das Bild von Keith.
 

„Eine Revanche, wie köstlich“, lachte Keith.
 

„Wie das letzte Mal, hm?“, meinte Joey mit einem breiten Grinsen auf den Lippen.
 

„Ich duelliere mich wohl mit Mai“, lenkte Yugi unsere Aufmerksamkeit auf ihn . „Das wird ein harter Kampf.“
 

Kaiba hatte Arkana gezogen. Damit blieben noch der Raritätenjäger übrig, dessen Gesicht auch auf dem Bildschirm von der Maske verdeckt war und der fremde Anzugträger – beide duellierten sich jeweils mit Rex Raptor und Espa Rober.
 

„Nun bitte ich die ersten beiden Finalisten ihre jeweiligen Positionen einzunehmen.“
 

Ich seufzte leise und wurde durch ein gemeinsames Schulterklopfen von Yugi und Joey aufgemuntert.
 

„Du packst das“, meinte mein Freund und lächelte mich an.
 

„Natürlich, wir stehen hinter dir“, nickte Yugi und ich hob die Mundwinkel an.
 

„Danke Leute.“
 

Damit machte ich mich auf den Weg zur Hebebühne und zum ersten Duell.

Ein legendäres Monster

„Schon Angst, Kleiner?“, grinste Panik höhnisch, auch wenn es deutlich gekünstelter wirkte als zu Beginn unseres Aufeinandertreffens.
 

„Vor dir? Wohl kaum“, antwortete ich selbstsicher und wurde mit der Hebebühne auf Augenhöhe zu Panik gebracht.
 

„Du wirst mich fürchten lernen.“
 

„Oder du mich.“
 

Ich schloss die Augen und verschmolz mit Mahad. Von meinem Herzen ging wieder diese wohlige Wärme aus und strahlte in meinen gesamten Körper aus. Ich ballte meine rechte Hand zur Faust und die Duel Disk an meinem Arm aktivierte sich. Mahad und ich waren eins und wir würden diesem Großmaul so in den Hintern treten, dass Panik sich wünschen würde, niemals mit uns in Berührung gekommen zu sein.
 

„Duell!“, riefen wir zeitgleich und zogen unsere ersten fünf Karten.
 

„Sieh einer an, das kommt mir ja wie gerufen…“
 

Panik legte seine erste Karte auf die Duel Disk.
 

„Ich beschwöre die Burg der Finsteren Illusionen…“
 

Über ihm erschien eine steinerne Burg mit fünf Türmen. Um diese spannte sich ein Ring und in der Mitte prangte auf einer einzelnen schwarzen Scheibe das japanische Zeichen für Finsternis. Die Burg hatte 1.930 Verteidigungspunkte und war damit sicher ein guter Einstieg, aber meinen Karten nicht gewachsen.
 

„Außerdem lege ich noch eine Karte verdeckt ab.“
 

Die Burg hätte mich weniger gestört als das, was jetzt folgte. Im Nu war das Spielfeld auf der Seite von Panik von einem undurchdringlichen Schleier aus Finsternis bedeckt. Es war mir kaum möglich ihn zu sehen, geschweige denn die verdeckte Karte, die er gespielt hatte.
 

„Das ist die gleiche Nummer, die er bei Yugi abgezogen hat. Pass bloß auf!“, rief mir Joey von der Zuschauertribüne aus zu.
 

„Ja, da hat der Blondschopf recht“, kicherte Panik. „Die lähmende Dunkelheit, die an einem entlangkriecht.“
 

„Halt die Klappe“, murrte ich und zog meine nächste Karte. Ich hatte mit Rache des Schwertjägers eine gute Karte auf der Hand, die in der Lage war, die Burg in ihre Einzelteile zu zerlegen, aber mir war bewusst, dass Panik sicher eine Falle ausgespielt hatte. Den Königlichen Erlass hatte ich nicht gezogen und zwei Exodia-Teile waren auch zu wenig. Sollte ich angreifen oder abwarten? Ohne Monster auf dem Feld war ich schutzlos und so wie ich Panik einschätzte, würde er mir so einen Fehler nicht verzeihen.
 

„Ich spiele Rache des Schwertjägers im Angriffsmodus.“
 

Vor mir materialisierte sich der Schwertkämpfer mit der Fledermaus-Maske, dem schwarzen Umhang und dem riesigen Breitschwert. Er fletschte die Zähne und hielt die Waffe von sich gestreckt.
 

„Damit beende ich meinen Zug.“
 

„Spitzenanfang!“, rief Joey wieder.
 

„Dein Fanclub scheint ja ganz schön von dir überzeugt zu sein, aber…“ Paniks Stimme nahm einen amüsierten Unterton an, „weißt du, damit wirst du nicht gewinnen. Ich spiele ein Monster und lasse es sogleich angreifen.“
 

Ich hörte das Kreischen der Kreatur, die Panik beschworen hatte, konnte sie aber nicht sehen. Das musste zu seiner Taktik gehören: Den Gegner verunsichern. Dazu dieses Gefasel von der Dunkelheit, dass er sich auf seiner Seite des Spielfelds verbarg und so weiter. Wenn ich ehrlich sein sollte: Als die Schwärze sich um meinen schreienden Schwertkämpfer legte, und mir 200 Lebenspunkte abgezogen wurden, da verstand ich, warum sich andere Duellanten vor jemandem wie ihm fürchteten. Er beunruhigte mich jetzt weit weniger als etwa Kaiba, aber es würde kein Honigschlecken werden, zumal meine nächste Karte sich als Garoozis herausstellte. Diesen spielte ich auch im Verteidigungsmodus. Die gepanzerte Echse kniete vor mir, die Axt an die Brust gelegt.
 

„Ah, die Verteidigungstaktik. Wie Yugi. Daran erinnere mich noch gut. Mai war genauso. Ihr wisst nicht, was ihr machen sollt. Meine Burg schwebt unangreifbar über dir und du kannst nichts machen.“
 

„Ich würde meinen Mund nicht so weit aufreißen, Panik. Mit nicht mal 2.000 Verteidigungspunkten kann ich deine Burg mühelos in Schutt und Asche legen“, entgegnete ich.
 

„Noch spuckst du große Töne, Kleiner. Ich rufe ein weiteres Monster aufs Feld und lasse beide angreifen. Zuerst deinen jämmerlichen Garoozis erledigen und dann…“
 

Noch ein kreischendes Monster, wieder legte sich der Schatten um Garoozis, der von der Finsternis verschluckt wurde und dann ging es mir an den Kragen. Irgendetwas krallte sich in meine Brust, zog und zerrte an meinem Pulli und ich glaubte einen fauligen Atem zu riechen, bevor sich das Ding zurückzog und ich mich mit den Händen am Geländer abstützen musste. Das waren jetzt exakt 2.200 Lebenspunkte gewesen. Damit hatte ich noch 1.600 übrig während sich Panik bester Gesundheit erfreute. Vor meinen Augen verschwamm kurz alles.
 

„Ist der große Held von Kaiba doch nicht so gut wie behauptet, hm? Einmal mit der Finsternis konfrontiert und schon klappst du zusammen.“ Der Hohn in Paniks Stimme war nicht zu überhören.
 

„Ich bin aber noch nicht fertig. Meine nächste Karte nennt sich „Gemeinsam sind wir stark und ich kombiniere sie mit meiner Burg der Finsteren Illusionen. Für jedes offene Monster auf dem Feld erhält sie dadurch zusätzlich 800 Angriffs- und Verteidigungspunkte. Das macht 1.600 Verteidigungspunkte oben drauf… 3.530.“ Ein schallendes Lachen drang an meine Ohren. „Nicht einmal Kaibas Weiße Drachen könnten meiner Burg jetzt noch etwas anhaben. Du bist dran, Kleiner.“
 

Ich räusperte mich und drückte mich nach kurzer Zeit vom Geländer ab. Schwer atmend griff ich nach meiner nächsten Karte. Die Anfeuerungsrufe meiner Freunde blendete ich einmal aus und konzentrierte mich auf den folgenden Zug. Paniks erstes Monster hatte 2.200 Angriffspunkte. Wie stark das zweite war konnte ich nicht sagen, wahrscheinlich aber schwächer, denn sonst hätte er damit nicht Garoozis angegriffen. Das hieß für mich, ich brauchte ein Monster mit 2.300 Angriffspunkten oder mehr.
 

„Komm schon, Herz der Karten“, murmelte ich und zog die Karte aus meinem Deck. Ich hoffte auf etwas wie mein Rotauge, bekam aber nur Gaia in die Hand. Mit 2.200 Angriffspunkten würde ich aber zumindest ein Patt erreichen.
 

„Ich rufe Gaia, Ritter der Finsternis aufs Feld, und zwar im Angriffsmodus.“
 

Wiehernd und schnaubend schälte sich das Ross aus dem digitalen Nichts, gefolgt vom Reiter auf dessen Rücken, mit den zwei roten Kurzlanzen bewaffnet. Gaias Pferd scharrte mit den Hufen und tänzelte unruhig umher. Die Frage war nun, ob ich Paniks zweites Monster angreifen konnte, oder nicht. Ich sah es nicht und meine einzige Verteidigung zu riskieren lag mir fern. Auf Nummer sicher spielen also.
 

„Damit beende ich meinen Zug.“
 

„Schlau, Kleiner. Unsere Monster sind gleichstark. Sie würden sich gegenseitig zerstören. Du spielst auf Zeit. Ich weiß auch warum.“
 

Ich konnte Paniks Gesicht zwar nicht sehen, aber das Grinsen bei seinen Worten war unverkennbar.
 

„Das funktioniert aber bei mir nicht. Zuallererst werde ich dir mal die Chance nehmen, deine heißgeliebte Exodia einfach so zusammenzuraffen. Ich spiele… Kartenzerstörung! Wir werfen also unser aktuelles Blatt ab und ziehen so viele Karten, bis wir wieder die gleichen Anzahl in unserer Hand halten wie zu Beginn.“
 

Ich seufzte leise und tat wie mir geheißen. In meiner Hand waren das fünf neue Karten.
 

„Und jetzt spiele ich die Zauberkarte Chaosschutzschild. Alle meine Monster werden in den Verteidigungsmodus versetzt, erhalten dafür aber auch 500 Verteidigungspunkte zusätzlich. Das schließt auch meine Burg der Finsteren Illusionen mit ein.“
 

Damit war das Ding stärker als Obelisk. Seine restlichen Monster konnten diese Runde nicht angreifen. Warum aber erhöhte der Typ seine Verteidigung immer mehr? Das war doch sinnlos? Nur mit Verteidigen konnte man kein Duell gewinnen. Es sei denn…
 

„Verwirrt, Kleiner? Du bist am Zug und das schon eine ganze Weile“, riss mich Panik aus meinen Gedanken.
 

Er wollte gar nicht verteidigen, sondern angreifen. Natürlich. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Mit einer Schwert- und Schildkarte würde er die wahnsinnige Verteidigung seiner Burg in Angriffsstärke verwandeln. Gleiches galt wohl auch für die restlichen Monster. Ich rieb mir mit Daumen und Zeigefinger über die Schläfe. Jetzt saß ich in der Patsche.
 

„Du zögerst. Wo ist deine große Klappe von vorhin?“, spottete Panik.
 

„Lass dich nicht verunsichern, du packst das“, rief mir Tristan zu.
 

„Genau!“, stimmte Tea mit ein.
 

Ich kratzte mich hinter dem Ohr und schaute zu meinen Freunden, die mich allesamt anfeuerten, alle bis auf Yugi und Kaiba. Letztere schenkten mir einen neutralen, fast schon abschätzenden Blick. Bei Yugi war das ungewöhnlich, also musste es sich um den Pharao handeln. In Kaibas Augen leuchtete es förmlich. War da so etwas wie Freude zu erkennen?
 

„Gibst du auf oder was wird das?“
 

Ich legte meinen Blick wieder auf die Karten in meiner Hand und bedachte gemeinsam mit Mahad kurz unsere Möglichkeiten. Ich hatte den Schwarzen Magier gezogen, nebst einer Angriff annullieren Karte und einer eigenen Schwert- und Schildzauberkarte. Damit konnte man durchaus was machen. Es kam nur auf das Timing an. Außerdem beschlich mich bei Panik ein mieser Gedanke. Ich schaute wieder zu Yugi, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und mir zunickte. Wir hatten uns doch einmal über diesen Panik unterhalten, oder?
 

„Schiri? Mein Kontrahent ist handlungsunfähig. Ich glaube, wir sollten das Duell beenden, bevor wir…“
 

„Bin ich nicht“, fuhr ich Panik ins Wort. „Ich weiß jetzt, was du vorhast.“
 

„So? Was denn?“
 

„Du willst in den nächsten Runden mittels einer Schwert- und Schildzauberkarte deine Burg zu einer Waffe ummodellieren.“
 

„Schlau, Kleiner. Nur wird dir diese Erkenntnis kaum etwas nützen. Meine Burg ist unangreifbar und sogar stärker als deine Götterkarte. Zumal es nicht so aussieht, als würdest du sie gezogen haben. Du hast verloren.“
 

„Das habe ich erst, wenn meine Lebenspunkte auf 0 gefallen sind“, entgegnete ich ruhig und dankte dabei innerlich Mahad, der die aufkeimende Panik (welch ein Wortwitz) in mir verdrängte. Wir konnten ganz routiniert weiterspielen. Außerdem erinnerte ich mich jetzt wirklich an mein Gespräch mit Yugi. Dieser Panik arbeitete mit ganz miesen Tricks.
 

„Ich brauche Obelisk auch gar nicht um dich fertigzumachen. Es genügt eine einzige Zauberkarte.“
 

„Was?“ Unmöglich“, fauchte Panik.
 

„Oh doch. Willst du sie sehen?“
 

„Noch einmal falle ich auf diesen Trick mit den Lichtschwertern nicht herein. Außerdem nützen sie dir nichts in diesem Fall.“ Er klang schon nicht mehr ganz so selbstsicher.
 

„Lichtschwerter? Wohl kaum. Was würdest du sagen, wenn ich selbst eine Schwert- und Schildkarte in meinem Deck habe? Sie eventuell sogar auf der Hand habe?“
 

„Dann lache ich dich aus, denn sie ist nirgendwo sicher. Ich habe in meinem Deck eine weitere Kartenzerstörungskarte, zumal in der Dunkelheit nächste Runde noch etwas Besonderes auf dich lauert.“
 

„Ich kann es mir schon denken. Aber ich brauche nur mehr einen weiteren Zug.“
 

„Wie bitte?“
 

Ich konnte mir bildlich vorstellen wie Paniks Gesichtszüge entgleisten.
 

„Ja. Es ist ganz simpel, Panik. Als Erstes lege ich meine Schwert- und Schildkarte aufs Feld und spiele außerdem mein Rotauge im Angriffsmodus.“
 

Brüllend spreizte der Schwarze Rotaugendrache neben Gaia seine Flügel. Er kreischte lauthals und starrte zur Burg der Finsteren Illusionen hinauf.
 

„Du bist ja völlig irre. Wie willst du denn etwas gegen mich ausrichten?“
 

„Das wirst du schon sehen.“
 

Ich lächelte und nickte dabei auf die verdeckte Karte auf dem Spielfeldrand.
 

„Er dreht durch“, seufzte Mai und schüttelte den Kopf. „Der gleiche Anfängerfehler wie ich gemacht ha…“ Sie wurde von Joey mit einem Rippenboxer zum Schweigen gebracht.
 

„Na dann, Kleiner“, lachte Panik. „Dein Ende naht!“ Er lachte erneut höhnisch. „Jetzt kommt mein persönlicher Liebling. Der Sensenmann der Karten. Verabschiede dich schon einmal von deinem Sieg, du Trottel.“
 

Damit hatte ich gerechnet. Ich verzog nicht einmal eine Miene, als der Sensenmann in seiner Kutte aus dem Schatten hervortauchte. Seine leuchtenden Augen und der weit aufgerissene Mund richteten sich auf die verdeckte Karte. Mit seiner Sense holte er aus und beförderte sie auf den Kartenfriedhof. Zuvor wurde sie aber noch aufgedeckt: Meine Schwert- und Schildkarte.
 

„Der Trottel hat sie echt gespielt. Wahnsinn. Das war ein Bluff mit meiner zweiten Kartenzerstörung.“ Panik frohlockte. „Ich habe gewonnen. Wirklich.“
 

„Siehst du? Dein Freund hat die Nerven verloren. Er hat dem Druck nicht standgehalten“, kommentierte Mai die Aktion.
 

„Hat er nicht. David hat sicher einen Plan“, fuhr Joey sie an.
 

„Sieh ihn dir doch an. Er starrt auf seine Karten. Das war ein billiger Anfängerfehler. Er ist viel zu nervös und hält dem Druck nicht stand.“
 

„Mai, ich warne dich…“, setzte Joey an.
 

„Schon gut“, murmelte ich und alle Blicke richteten sich auf mich. „War wohl doch ein dummer Anfängerfehler. Ich hätte mich dem Turnier nie anschließen sollen. Wenn nicht einmal Mai Valentine glaubt, ich sei diesem Druck gewachsen.“ Meine Mundwinkel wanderten dabei nach oben. „Freust du dich schon auf Obelisk, Panik?“
 

„Gibst du auf?“, fragte er überrascht.
 

„Ob du dich freust, mit miesen, schmierigen Tricks gewonnen zu haben? Mit den Ängsten anderer zu spielen?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. „Wie oft hast du die Nummer schon abgezogen? Wie viele Duellanten sind dir schon zum Opfer gefallen?“
 

„Mit dir mehr als ich zählen kann“, tönte er. „Ich mag es einfach, wenn ich Anfängern wie dir eins auswischen kann. Ihr gehört nicht in Duelle, ihr gehört an den Rockzipfel eurer Mami.“
 

„So?“ Ich konzentrierte mich. Jetzt brauchte ich das Herz der Karten und Vertrauen in mich. Mahad nickte mir geistig zu. Als ich die Augen wieder öffnete glühte der Milleniumsring an meiner Brust. „Dann wollen wie gut es dir gefällt, wenn du ans andere Ende der Nahrungskette versetzt wirst und selbst mit deinen schlimmsten Ängsten konfrontiert wirst.“
 

„Das zählt nicht. Mit diesem Ding zu arbeiten ist Betrug!“ Paniks Stimme zitterte vor Angst.
 

„Keine Angst, so schlimm wird es nicht. Ich habe den Ring einigermaßen beherrschen gelernt. Der Hokuspokus zeigt nur, wie schwach und feige du wirklich bist. Ich besiege dich ganz sauber und legal. Pass auf.“
 

Das Glühen des Rings erlosch und schob meine erste Karte in den Schlitz der Duel Disk. „Ich spiele Topf der Gier und kann zwei weitere Karten ziehen.“ Die Karte deckte sich vor mir auf und ich schnappte mir zwei weitere. Genau das, was ich gebraucht hatte.
 

„So, nun spiele ich die Zauberkarte Rote Medizin. Ich gebe gleich 2.000 Lebenspunkte auf um ein Fusionsmonster aus meinem Deck und zwar… den Schwarzen Paladin.“
 

Meine Lebenspunkte kletterten nach oben und fielen sogleich auf 100. Die Dimensionsfusionskarte erschien vor mir, leuchtete grell auf und der Schwarze Paladin entsprang dem Licht. Er gesellte sich neben mein Rotauge und Gaia. Die Arme vor der Brust verschränkt schwebte er neben meinen anderen Monstern, den Blick auf die Burg gerichtet.
 

„Für jedes Drachenmonster auf dem Feld und auf dem Friedhof erhält der Dunkle Paladin weitere 500 Angriffspunkte. Ich habe vorhin meinen Meteordrachen abgeben dürfen und mit meinem Rotauge sind das 1.000 Punkte zusätzlich.“
 

Damit hatte er knapp 150 Punkte zu wenig.
 

„Das reicht aber noch nicht für meine Burg“, wähnte sich Panik nun wieder siegessicher.
 

„Doch. Denn ich opfere jetzt Gaia, den Ritter der Finsternis und auch meinen Dunklen Paladin…“
 

Meine beiden Monster lösten sich auf und wurden in meine nächste Karte gesogen aus der ein weißer Marmoraltar entsprang. Ein violettes Tuch war darübergelegt worden. Links und rechts davon standen zwei längliche Feuerschalen in denen jeweils eine helle Flamme weiß brannte. Die Intensität der Flammen nahm zu, so sehr, dass sie die Dunkelheit vom Kampffeld vertrieb. Paniks Monster hielten sich die Pranken vor die Augen und brüllten schmerzerfüllt auf, wie auch er es tat.
 

„Dieses Licht, das ist ja noch greller als die Lichtschwerter.“
 

„Ich rufe nun den Legendären Schwarzen Paladin!“
 

Über dem Altar erschien wieder mein Schwarzer Paladin, doch er wirkte anders, noch erhabener, noch schöner und noch gefährlicher. Seine Rüstungsteile schimmerten schwarz-golden, sein Teint war ein wenig heller geworden und die Rüstung insgesamt feiner ausgearbeitet. Die Hellebarde war größer und breiter geworden. Er drehte die Waffe kunstvoll in seinen Händen.
 

„Mit dem Boost von meinem Meteordrachen und meinem Rotauge hat der Legendäre Dunkle Paladin nun 4.700 Angriffspunkte. Mehr als genug um deine Burg vom Himmel zu holen. Los!“
 

Der Magier-Krieger folgte meinem Befehl und drückte sich mit einem eleganten Sprung vom Altar in die Höhe. Ein einzelner, gut platzierter Schnitt teilte die Burg entzwei. Sie brach auseinander und fiel mit einem ohrenbetäubenden Laut auf Paniks Monster, die sich gegen das schimmernde Kraftfeld, welches vom Chaosschutzschild ausging, pressten. Schutt und Geröll regnete auf das Kampffeld und ich konnte Panik verzweifelt „NEIN!“, schreien hören. Ich wartete die Animation gar nicht mehr ab. Der Weg war frei für Paniks restliche Lebenspunkte.
 

„Rotauge, Angriff!“
 

Brüllend reckte mein Rotauge seinen Kopf in die Höhe und formte den glühend roten Energieball, der von schwarzen Blitzen umkreist über das Kampffeld flog. Er traf die Hebebühne auf der Panik stand und dieser wurde von den Füßen gerissen. Seine Lebenspunkteanzeige kletterte auf Null.
 

„Der Sieger des Duells ist damit David!“, verkündete Roland unter dem ohrenbetäubenden Jubel meiner Freunde.
 

„Danke, Mahad“, lächelte ich und sah dabei auch zum Legendären Dunklen Paladin auf, der ebenfalls die Mundwinkel angehoben hatte. Ich hatte tatsächlich gewonnen. Mein Blick sprang sofort zu Kaiba, der für einen kurzen Moment zufrieden wirkte, bis er seine Gefühle wieder hinter einer stoischen Miene versteckte. Er war zufrieden und dem Lächeln des Pharaos nach zu urteilen dieser auch. Ich war echt in der nächsten Runde!

Ein Ausflug ins Reich der Schatten

Ich sprang von der Hebebühne und ging zu meinen Freunden. Mein Puls raste noch immer. Die erste Hürde war geschafft. Ich hatte weder Yugi, noch Joey, noch Kaiba enttäuscht. Bei meinen Freunden angekommen, wurde ich sogleich von Tristan gedrückt und Joey konnte es gar nicht lassen jeden meiner Spielzüge zu loben.
 

„Ist ja gut“, keuchte ich und schob Tristan von mir. „Ich möchte gerne noch die nächste Runde erleben“, stöhnte ich und schnappte grinsend nach Luft.
 

„Wenn du so weitermachst, dann hat Yugi es echt schwer im Finale“, lächelte der braunhaarige Riese und klopfte mir noch einmal so fest auf die Schulter, dass ich glaubte, in die Knie gehen zu müssen.
 

„Na, so einfach ist das dann aber doch nicht.“
 

Ich fuhr herum und sah zu dem Grüppchen rund um den Raritätenjäger. Dieser hatte sich vor seine Leute gestellt. Panik wirkte hinter ihm entsetzlich klein, obwohl er deutlich größer war. Er schien den Fremden in seiner Kutte fast schon zu fürchten.
 

„Was soll das heißen?“, blaffte Joey ihn an.
 

„Dass dieser Ausgang für meine Pläne nicht zuträglich ist“, entgegnete er langsam und legte dabei den Kopf ein wenig schief, was mir in Anbetracht der Maske einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Der Typ hatte etwas Furchteinflößendes an sich. Diese dunkelbraunen Augen, welche aus den Sehschlitzen der Maske hervorschauten und mich fixierten. Er hatte es eindeutig auf mich abgesehen.
 

„Und wen interessiert das?“ Joey und Tristan stellten sich vor mich.
 

„Mich und meine Begleiter.“
 

Ich sah zu Kaiba hinüber, der die Arme noch immer vor der Brust verschränkt hatte. Er hob die rechte Augenbraue ein wenig an, sagte aber sonst nichts. Alle Augenpaare hatten sich auf uns gerichtet, mit Ausnahme von Yugi, der sich zu mir gesellte.
 

„Ich habe da ein ganzes mieses Gefühl“, murmelte er.
 

„Nicht nur du.“
 

Der Raritätenjäger griff hinter sich und augenblicklich stellten sich meine Nackenhaare auf. In mir läuteten sämtliche Alarmglocken. Ich rechnete mit einer Waffe, einer Pistole, doch es kam viel schlimmer.
 

„An deiner Stelle würde ich das lassen“, rief Tristan und ballte die Hände zu Fäusten. „David hat fair gewonnen. Wenn dein Freund nicht verlieren kann, dann ist das sein Problem.“
 

„Dummkopf“, lachte der Raritätenjäger und zog die Hand hinter seinem Rücken hervor. Ich blinzelte perplex und begriff, wie wohl auch Yugi, einen Moment zu spät, was er da in Händen hielt. Das Artefakt richtete sich auf Joey und Tristan, die wirkten, als würden sie unter Zwang stehen oder gegen irgendetwas ankämpfen. Ihre Bewegungen waren seltsam verrenkt und wirkten so, als würde sie jemand als lebensgroße Marionetten missbrauchen. Sie machten Platz und gaben das Sichtfeld auf mich und Yugi frei.
 

„Raritätenjäger“, meldete sich Kaiba zu Wort. „Lass diese Taschenspielertricks besser sein.“
 

„Sonst was?“ Der Kuttenträger hielt den goldenen Stab von sich gestreckt, das Milleniumsauge an der Spitze glühte hell. „Zeit dieses Turnier ein wenig anders zu gestalten.“
 

„Dann disqualifiziere…“, begann Kaiba, wurde aber sofort unterbrochen.
 

„Mach ruhig. Mir schlottern schon die Knie“, höhnte der Raritätenjäger. „Denk gar nicht dran, dass du dich hier aufspielst. Meine Leute haben das Luftschiff bereits in Besitz genommen. Jetzt spielen wir nach meinen Regeln.“
 

Wohl um seinen Worten Ausdruck zu verleihen, neigte sich das Luftschiff um gefühlte 45 Grad. Wir alle taumelten und hatten Mühe uns auf den Beinen zu halten. Alle, mit Ausnahme der Gruppe um den Raritätenjäger.
 

„Und jetzt“, meinte er und richtete seinen Blick auf mich. „Wird es Zeit dich aus dem Rennen zu nehmen.“
 

Ich machte einen Schritt nach hinten als sich der Milleniumsstab auf mich richtete. Der Milleniumsring an meiner Brust glühte auf und ich wollte mit Mahad verschmelzen, als ein brennender Schmerz durch meinen Körper schoss. Mir war als würde ich innerlich verglühen. Ich schrie auf und griff mir an die Stirn. Meine Fingernägel kratzten an den Schläfen entlang. Ich hörte Yugi etwas rufen und den Raritätenjäger schallend lachen. Jede Faser meines Körpers tat weh. Der Schmerz wurde immer intensiver und desto verzweifelter ich versuchte dagegen anzukämpfen, desto weiter breitete er sich aus. Jeder einzelne Herzschlag fühlte sich wie ein Messerstich in der Brust an. Ich bekam kaum noch Luft, zerrte an meinem Pulli, von dem ich das Gefühl hatte er würde mich erdrosseln wollen, aber es war zwecklos. Um mich herum wurde es schwarz und ich bekam noch mit wie ich nach vorne fiel.
 

Ich machte die Augen auf und sah absolut nichts. Um mich herum herrschte drückende Schwärze. Diese wurde ab und an von einem dunklen Streifen von Rosa durchbrochen. Trotz der Tatsache, dass ich im Nichts zu stehen schien, hatte ich festen Halt unter meinen Füßen. Ich richtete mich vorsichtig auf und schaute mich um. Wo war ich gelandet? Der Raritätenjäger hatte mit seinem Stab herumgefuchtelt und dann war es finster geworden.
 

„Wir sind im Reich der Schatten“, stellte Mahad fest. Er tauchte plötzlich neben mir auf. Seine Gestalt war zur Abwechslung einmal nicht durchsichtig und er trug etwas, das entfernt an eine Rüstung erinnerte. Edler Kopfschmuck bedeckte sein Haupt und zahlreiche goldene Armreife komplettierten das Bild eines ägyptischen Würdenträgers oder eines hohen Beamten.
 

„Und wie kommen wir wieder in die reale Welt zurück?“ Ich machte mir gar nicht die Mühe zu fragen wie wir wirklich hierhergelangt waren oder warum.
 

„Eigentlich gar nicht“, war seine ernüchternde Antwort.
 

„Das ist ein Scherz, oder?“
 

„Ich fürchte nicht.“
 

„Und was machen wir jetzt?“
 

„Ich bin überfragt.“
 

Es hatte sich noch immer nichts getan. Die Dunkelheit schien alles zu verschlucken. Außer Mahad existierte niemand an diesem finsteren Ort. Ich fragte mich, warum der Raritätenjäger das nicht gleich getan hatte, wenn er die Macht dazu besaß. Dann wäre ich ausgefallen und Panik weitergekommen. Blieb die Zeit eigentlich stehen während wir uns im Reich der Schatten aufhielten?
 

„Nein, sie läuft weiter, wenn auch in anderen Bahnen“, beantwortete Mahad meine unausgesprochene Frage. „Du hast aber einen interessanten Punkt angesprochen. Er hätte uns gleich aus dem Spiel nehmen können. Warum hat er es also nicht getan?“
 

„Weil es vielleicht bequemer war? Vor allem: Warum hat der Ring nichts dagegen gemacht? Ich meine, wir selbst tragen auch so ein Ding und du meintest einmal, der Ring sei neben dem Puzzle der mächtigste Milleniumsgegenstand.“
 

„Ich weiß es nicht“, seufzte Mahad leicht frustriert.
 

„Wird man im Reich der Schatten nicht mit seinen schlimmsten Ängsten konfrontiert?“
 

„Nein, das muss nicht sein. Es ist eine hochkomplexe Angelegenheit überhaupt hierherzugelangen. Noch viel schwieriger ist das Entkommen. Ich habe mit einer Art Wächter gerechnet. Jemanden den man bekämpfen muss. Irgendetwas. Dass hier gar nichts ist erscheint mir ungewöhnlich.“
 

Uns lief jedenfalls die Zeit davon. Wenn wir hier nicht auf alle Ewigkeit versauern wollten musste uns etwas einfallen und zwar schnell. Mahads Gesichtsausdruck nach fehlte ihm aber eine zündende Idee und ich hatte von dem Magiekrams sowieso keine Ahnung. Ich schaute nach unten und schnippte mit dem Finger gegen den Milleniumsring an meiner Brust.
 

„Kann uns der Ring nicht wieder in die reale Welt zurückbringen?“
 

„Doch, nur reagiert er nicht, fast so als würde er wollen, dass wir hierbleiben.“
 

„Das sind ja rosige Aussichten“, rollte ich mit den Augen.
 

Ich wollte mich gerade anschicken einfach drauf loszugehen, da hielt mich Mahad mit seinem Arm zurück. Er wirkte besorgt, fast schon alarmiert.
 

„Was ist?“, fragte ich.
 

„Jemand kommt. Es ist eine vertraute Präsenz.“
 

„Vertraut?“
 

Vor uns erstrahlte ein so helles Licht, dass ich kurz glaubte blind zu werden. Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab und schloss sie. Der Zauber dauerte wenige Sekunden, dann war er auch schon wieder vorbei.
 

„Wie ist das möglich? Mein Pharao!“, rief Mahad und ich öffnete die Augen wieder. Da stand tatsächlich ein großer Yugi, nur dass auch er seltsam gekleidet war. Er war noch prunkvoller als Mahad angezogen, mit mehr Schmuck und einem Diadem, welches das Milleniumsauge zeigte.
 

„Hört zu, wir haben nicht viel Zeit.“ Der Pharao schaute einen Moment lang irritiert an sich herab, bevor er sich wieder uns zuwandte.
 

„Was ist denn passiert?“, wollte ich wissen.
 

„Später“, winkte er ab. „Für euch zwei mögen nur wenige Minuten vergangen sein, aber in der realen Welt sind wir bereits im Finale angelangt. Der Raritätenjäger und sein Freund haben alle besiegt. Alle bis auf Yugi und mich.“
 

„Moment mal“, unterbrach ich den Redeschwall des Pharao. „Kaiba soll aus dem Turnier geflogen sein? Wie denn?“
 

„Ja, doch. Das ist kompliziert. Ich erkläre euch das alles, wenn wir wieder in der realen Welt sind.“
 

„Und wie wollen wir hier herauskommen?“
 

„Wir werden jetzt die Macht des Rings mit der meines Puzzles kombinieren und so wieder in die Realität zurückkehren. Danach musst du mit mir gemeinsam gegen den Raritätenjäger und seien Freund antreten. Du bist der Einzige der mir helfen kann.“ Er sah dabei zu Mahad, was mir einen kleinen Stich versetzte.
 

„Natürlich, mein Pharao“, nickte er ergeben.
 

„Erschreckt aber nicht, wenn ihr unsere Gegner seht.“
 

„Was soll das heißen?“
 

„Ich…“ Der Pharao schlug die Augen nieder. „Es wird ein harter Kampf werden. Kommt jetzt.“
 

„Was sollen wir überhaupt machen?“
 

„Konzentriert euch darauf mir zu folgen.“
 

Ich unterdrückte einen genervten Laut. Einmal normale Angaben. Anweisungen mit denen man etwas machen konnte. Der Pharao verblasste vor unseren Augen und ich rief noch „Hey“, bevor der Ring an meiner Brust aufglühte und Mahad die Führung übernahm. Ich versuchte noch etwas zu sagen, aber es war zu spät: Auch mein Körper löste sich in Luft auf und ich hatte das Gefühl ewig durch die Finsternis zu fallen.

Das Finale

Als ich dieses Mal die Augen wieder öffnete konnte ich etwas erkennen. Meine Sicht war zwar verschwommen, doch ich war eindeutig wieder auf dem Luftschiff. Rund um mich herum lagen Leute: Tristan, Tea, Mai… Sie wirkten alle als würden sie schlafen. Langsam stemmte ich mich in die Höhe und schüttelte den Kopf. Drei Personen standen noch: Yugi bzw der Pharao und…
 

„Joey? Kaiba?“, fragte ich ungläubig.
 

Auf der Stirn meines Freundes thronte das Milleniumsauge und Kaiba wirkte auch verändert. Er schien neben sich zu stehen. Seine Bewegungen und Gesten die er machte waren nicht die, die ich von ihm gewohnt war. Dazu dieses eiskalte Lächeln. Es wirkte noch schneidender als das vom CEO und bösartiger.
 

„Du hast ihn also tatsächlich zurückgeholt“, sagte Joey, dessen Stimme verzerrt war. „Erstaunlich. Ich hätte gedacht sie würden bis in alle Ewigkeit im Reich der Schatten versauern.“
 

„Offenkundig nicht“, meinte Kaiba spottend. „Deine Fähigkeiten sind wohl auch nicht als zuverlässig einzustufen, hm?“
 

„Halt den Mund. Außerdem ist es egal: Sie haben keine Chance. Du hast Ra noch immer in deinem Besitz.“
 

„Ich hoffe es für dich. Diesen Körper gebe ich sicher nicht mehr auf.“
 

„Was ist hier los?“, wollte ich wissen und hätte dabei fast wieder Bekanntschaft mit dem Boden gemacht, wenn der Pharao mich nicht gestützt hätte.
 

„Ah ja? Du hast es also nicht kapiert. Joey hat einen Fehler gemacht sich in dich zu verlieben.“
 

Ich runzelte die Stirn. Hatte Joey Halluzinationen oder warum sprach er von sich in der dritten Person.
 

„Das ist nicht Joey“, flüsterte der Pharao.
 

„Nein, bin ich nicht. Ich bin jemand anderer. Nennen wir mich einen…“ Joey hielt kurz inne und schien nachzudenken. „Einen liebenden Vater?“
 

„Was?“, platzte es aus mir heraus. „Sie wollen Joeys Vater sein?“
 

„Ja, das bin ich“, nickte er. „Bevor du fragst: Die Gefängnisse von Domino City sind bei Weitem nicht so ausbruchssicher wie man meinen mag.“
 

In mir verkrampfte sich alles. Das war also der Mistkerl, der Joey jahrelang misshandelt hatte.
 

„Und wer ist dann er?“, wollte ich wissen und nickte zu Kaiba hinüber.
 

„Oh, ich bin auch ein liebender Vater. Nur, dass mein Stiefsohn nicht so nett war wie Joey zu seinem Vater.“ Kaibas Gesicht verzerrte sich für einen Moment vor Zorn, bevor er sich wieder entspannte. „Jedenfalls ist es an der Zeit, dass wir euch zwei Rotzgören aus dem Weg schaffen.“
 

„Genau. Wenn wir euch in einem Duell schlagen, gehören uns eure Milleniumsgegenstände“, meldete sich Joey wieder zu Wort. „Machen wir es kurz und bringen wir es hinter uns.“
 

Der Ring an meiner Brust glühte auf und Mahad übernahm die Führung. Ich wurde in den Hintergrund gedrängt und auf die Position eines Zuschauers degradiert. Dieses Mal war ich es, der neben meinem Gefährten stand, nicht umgekehrt. Das Gleiche galt für Yugi, der lächelnd zu mir heraufschaute.
 

„Schön dich wieder bei uns zu haben“, meinte er und klopfte mir auf die Schulter.
 

„Finde ich auch“, lächelte ich. „Denkst du, sie schaffen es?“
 

„Davon bin ich überzeugt“, nickte Yugi.
 

Mahad und der Pharao betraten gemeinsam eine Hebebühne, Joey und Kaiba die andere. Auch Roland lag herum. Auf meine Frage hin, ob wir ihnen helfen können, schüttelte Yugi nur den Kopf und meinte, dass sie fürs Erste nur schlafen würden.
 

„Wir machen es kurz und schmerzlos“, meinte Joey, der seine Duel Disk aktivierte.
 

„Ja, das denke ich auch“, nickte Kaiba und tat es ihm gleich.
 

Mahad und der Pharao nickten sich zu und ballten ihre linke Hand zur Faust.
 

„Duell!“, riefen alle vier gleichzeitig und das Finale begann damit.
 

„Ich benutze als erstes die Zauberkarte Lichtschwerter und halte euch zwei damit drei Runden lang in Schach.“ Joey legte die Karte auf seine Duel Disk und vor dem Pharao und Mahad erschienen die leuchtenden Schwerter. „Damit beende ich auch meinen Zug.“
 

„Ein guter Zug“, nickte Kaiba und schaute abwartend zu Mahad.
 

„Ich spiele eine Karte verdeckt und beende damit meinen Zug.“
 

„Wie herausfordernd“, kicherte der CEO und zog die nächste Karte. „Also gut – ich rufe den Herrn der Drachen aufs Feld und zwar im Angriffsmodus. Dazu kombiniere ich ihn mit zwei Drachenruferflöten. Ich kann damit jeweils zwei Drachenmonster aus meinem Deck aufrufen. Ich entscheide mich für die drei Weißen Drachen sowie mein Lieblingsmonster: Den Fünf-Götter-Drachen.“
 

Mir blieb die Luft weg als er die Kombination ankündigte. Ich zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub, als sich aus dem digitalen Nichts zuerst der Herr der Drachen schälte, dann brüllend drei weiße Drachen erschienen und am Ende der Fünf-Götter-Drache mit seinen Mäulern auf Mahad und den Pharao hinabstarrten.
 

„Nimm den Mund mal nicht zu voll“, entgegnete der Pharao und zog ebenfalls eine Karte. „Ich lege eine Karte verdeckt ab und rufe den Schwarzen Magier aufs Feld.“
 

Vor dem Pharao erschien Yugis Schwarzer Magier. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ab.
 

„Können wir dann fortfahren?“, fragte Joey. „Ich spiele als Nächstes die Zauberkarte Kartenzerstörung. Damit werfen wir alle unser Blatt ab und ziehen ein Neues.“
 

Das war ärgerlich aber zu verschmerzen. Mahad hatte Obelisk nicht auf der Hand gehabt und der Pharao auch nicht Slifer. Zwei Göttermonster würden wohl mit dem Götterdrachen fertig werden und die Weißen stellten dann auch keine Gefahr dar.
 

„Ich spiele eine weitere Karte verdeckt und beende damit meinen Zug“, sagte Mahad und verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust.
 

„Sehr schön. Dann bin wohl ich wieder dran. Ich opfere gleich meine drei Weißen Drachen um den Geflügelten Drachen des Ra zu rufen.“
 

Als Kaiba die Karte auf seine Duel Disk legte zuckten gelbe Blitze darum. Die drei Weißen Drachen zersplitterten kreischend in tausend Teile und eine goldene Kugel erschien am Himmel. Sie strahlte ein noch intensiveres Licht aus als das Glühen der Milleniumsgegenstände. Kaiba sagte dazu etwas auf Ägyptisch und die Kugel öffnete sich. Kreischend spreizte Ra seine Extremitäten und schaute grimmig auf uns herab. Das Ding hatte 9.000 Angriffspunkte. Fauchend hielt sich das Monster mit einem Flügelschlag in die Höhe der gefühlt die Hitze der Sonne beinhaltete.
 

„Wie ist es, wenn man seinem Ende entgegenstarrt?“, lachte Kaiba.
 

„Ich rufe als Nächstes das Schwarze Magiermädchen aufs Feld, im Angriffsmodus“, setzte der Pharao seinen nächsten Zug an, ohne dass er auf Kaibas Worte einging. Sowohl er als auch Mahad wirkten absolut sicher, routiniert und sie wankten nicht. Was hatten sie bitte vor?
 

Neben Yugis Magier erschien das Schwarze Magiermädchen. Lächelnd nickte sie dem Pharao zu, bevor sie sich den Drachenhorden zuwandte.
 

„Nun, dann bin wohl ich wieder dran.“ Joey grinste und zog seine nächste Karte. „Ich rufe den Schwarzen Rotaugendrachen im Angriffsmodus.“ Brüllend erschien der Drache und spreizte vor Joey die Flügel. „Dann decke ich meine verdeckte Karte, Monsterreanimation auf. Ich hole mir den Meteordrachen von Davids Deck und kombiniere ihn sogleich mit einer Fusionskarte.“ Vor uns verschmolz der Meteordrache mit Joeys Rotauge und bildete den Schwarzen Meteordrachen. Das imposante Monster reckte den Kopf in die Höhe. „Damit beende ich meinen Zug.“
 

Mahad zog seine nächste Karte und lächelte. „Ich passe.“
 

Bitte was? War Mahad von allen guten Geistern verlassen? Er hatte Obelisk gezogen und spielte ihn nicht. Wenn sie eine Chance auf einen Sieg in dem Duell haben wollten, dann mussten sie doch sofort ihre Götterkarten aufs Feld holen.
 

„Vertrau ihnen“, meinte Yugi.
 

Kaiba zog seine nächste Karte und nickte. „Ich passe ebenfalls.“
 

Der Pharao tat es ihm gleich und auch seine Mundwinkel zuckten. Er hatte Slifer gezogen. „Ich passe auch.“
 

In mir breiteten sich Unmut und Unverständnis aus. Wenn sie noch eine weitere Kartenzerstörung vor die Nase gesetzt bekamen, dann würden sie um ihre sämtlichen Monster umfallen. Was das bedeutete war klar.

Joey zog wieder und sein Gesicht hellte sich noch ein wenig mehr auf. „Sieh an, eine weitere Kartenzerstörung!“ Die Karte wurde auf die Duel Disk gelegt und holografisch aufgedreht. Wieder warfen alle Spieler ihr Blatt ab und damit auch die Göttermonster.
 

Mahad nickte dem Pharao zu, so als würden sie sich absprechen. Das war wortlose Kommunikation vom Feinsten. Ich wusste zwar nicht, was sie vorhatten, doch ihre Zusammenarbeit war unübertroffen. Mehr noch als meine und die von Kaiba. Jeder einzelne Duellzug schien auf dem des anderen aufzubauen. Mahad hatte kein Monster auf dem Feld, schien aber auch keins zu brauchen. Ich wusste nicht einmal was seine verdeckten Karten waren. Er ließ mich an seinem Plan nicht teilhaben, genauso wie Yugi keine Ahnung von der Strategie des Pharaos hatte.
 

„Der Zwerg vertraut seinem Freund wohl, hm?“, höhnte Kaiba. Er zog seine nächste Karte und passte wieder. „Nächste Runde machen wir euch fertig.“
 

„Da wäre ich mir nicht so sicher“, meinte Yugi. „Ich passe wieder.“
 

Die Lichtschwerter verblassten und damit war wohl die finale Runde gekommen. Wie die zwei gegen diese Monster bestehen wollten, zumal sie selbst nur vergleichsweise schwache Monster auf dem Feld hatten, war mir ein Rätsel.
 

„Dann mache ich einmal den Anfang. Ich attackiere Davids Lebenspunkte direkt. Los, mein Drache!“ Joey streckte die Hand aus und der Schwarze Meteordrache setzte zum Angriff an.
 

„Ich aktiviere die Fallenkarte ‚Angriff anullieren‘.“ Der Feuerstrahl des Monsters wurde von einem Schutzschild gefressen.
 

„Du zögerst das Unvermeidliche nur hinaus.“
 

„Das werden wir ja sehen“, sagte Mahad und zog seine nächste Karte. „Ich spiele als Erstes die Zauberkarte ‚Angriff blockieren‘ und wende sie auf den Fünf-Götterdrachen an. Damit ist sein Zug für diese Runde passé. Des Weiteren spiele ich ein Monster im Verteidigungsmodus.“
 

Kaibas Gesicht verzerrte sich vor Zorn, als Garoozis kniend vor Mahad erschien.
 

„Das ist ein schlechter Scherz, oder? Wie lange wollt ihr euch noch winden? Ra, Angriff auf Garoozis!“
 

Der Phönix schwang sich in die Höhe und ein gleißender Blitz traf Garoozis, der in tausend Teile zersprang.
 

„Nächste Runde dann.“
 

„Es wird keine nächste Runde geben“, sagte der Pharao und lächelte nun breit.
 

„Wie meinst du das?“, fragten Kaiba und Joey wie aus einem Munde.
 

„Ihr habt uns genau in die Hände gespielt.“
 

„Was?“
 

„Ja“, nickte Mahad. „Es war klar, dass ihr so spielen würdet. Daher haben wir gleich eine Gegenstrategie entwickelt. Mein Pharao…“ Er drehte sich dabei zum Pharao. „Es war mir eine Freude dieses Duell mit euch zu bestreiten.“
 

„Mir auch, alter Freund“, lächelte der Pharao. „Ich aktiviere die Zauberkarte Ragnarok.“
 

„Und ich decke die Karte Copy-Cat auf“, meinte Mahad. „Sie wird ebenfalls zu Ragnarok.“
 

Kaibas und Joeys Augen wurden immer größer.
 

„Was macht diese Karte“, wollte ich von Yugi wissen.
 

„Sie ruft alle Monster aus dem Deck des jeweiligen Anwenders und lässt sie gemeinsam los.“
 

Ich schaute mich um und tatsächlich: Sämtliche Monster von Yugi und meinem Deck erschienen. Sie waren zwar durchsichtig, aber sie waren da. Zum Rotauge, meinem Schwarzen Magier, dem Schwarzen Paladin, dem Legendären Schwarzen Paladin, Garoozis, der Rache des Schwertjägers, meinem Rotauge, dem Meteordrachen, dem Angriffs-Nija und Gaia gesellte sich auch Obelisk, der grollend seine rudimentären Flügel spreizte und den Boden erzittern ließ. Gleiches galt für Slifer, der kreischend hinter uns erschien.
 

„Nein!“, schrien Kaiba und Joey im Chor.
 

„Oh doch“, antworteten Mahad und der Pharao einstimmig. „Angriff!“
 

Die gesamte Monsterhorde setzte sich in Bewegung. Gemeinsam warfen sie sich auf den Götterdrachen, auf den Meteordrachen und auf Ra. Jedes der drei Monster schrie und kreischte. Sogar Kuriboh teilte ordentlich aus. Es dauerte keine fünf Sekunden und das Spektakel war vorbei. Die Monster zersplitterten in tausend Teile. Unsere verblassten und einen Moment später waren Yugi und ich wieder in unseren Körpern. Joey schrie auf und fasste sich an die Stirn. Ich lief zu ihm und fing ihn auf. Kaiba taumelte einen Moment und fing sich dann wieder. Um uns herum kam Leben in die Leute. Ein kurzer Blick zu Yugi, der mir zunickte, und ich schenkte meine ganze Aufmerksamkeit Joey. Vorsichtig ging ich in die Knie und nahm ihn dabei mit mir.
 

„Hey“, lächelte ich. „Alles in Ordnung?“
 

„Ich… wo bin ich?“
 

„Eine lange Geschichte. Sagen wir, du hast dich sehr gut geschlagen, okay?“ Ich strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste ihn dann sanft. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir von diesem Schiff runterkommen.“
 

„Hast du… habt ihr gewonnen?“, krächzte Joey.
 

„Haben wir“, nickte ich und schaute zu Kaiba auf. „Kannst du dieses Ding lenken? Ich weiß nämlich nicht, was mit dem Piloten ist.“
 

Er schenkte mir einen Moment lang einen kalten Blick, bevor er nickte und sich aufmachte. Ich blieb inzwischen bei Joey und nach und nach komplettierte sich unsere Gruppe. Jeder schien unversehrt, bis auf Joeys Vater und Kaibas Stiefvater. Diese lagen noch immer regungslos da. Der Kuttenträger hatte den Milleniumsstab in der Hand. Es dauerte noch eine Stunde, dann waren wir sicher am Boden und machten uns sogleich auf den Weg zur Kaibavilla. Dass mein schwierigstes Duell gar nicht von mir bestritten werden würde, hätte ich nicht gedacht. Beleidigt war ich aber ob dieses Umstandes ehrlich gesagt nicht. Mir war viel erspart geblieben, unter anderem, dass ich mich mit Joey hätte duellieren müssen.

Eine letzte Momentaufnahme

Das restliche Schuljahr verlief, gemessen an unseren bisherigen Erlebnissen, ruhig. Was auf dem Luftschiff passiert ist, wurde unter Verschluss gehalten. Offiziell hatten Joey und ich gemeinsam den zweiten Platz erstritten. Kaiba und Yugi waren die Sieger und damit die Könige der Spiele. Der CEO hatte laut offiziellen Angaben auf ein Match gegen Yugi notgedrungen verzichtet, weil sich bei der Eröffnung Kaiba-Lands in Korea einige Schwierigkeiten aufgetan hatten und er dementsprechend vor Ort hatte sein müssen.
 

Ich und Yugi wurden wirklich beste Freunde. Er hing so oft es ging gemeinsam mit Joey und Tristan bei mir ab. Tea hatte sich Shin geangelt und Mokuba war mit Serenity zusammen. Dukes Spiel Dungeon Dice Monsters wurde ein voller Erfolg. Wir waren sogar zur internationalen Veröffentlichung in Belgien eingeladen worden. Einzig Bakura hielt sich von uns fern, wenn auch mit der Begründung, er müsse noch verarbeiten, dass er den Ring los sei.
 

Joeys Vater kam in eine psychiatrische Anstalt. Er hatte irgendwie den Verstand verloren, nachdem Mahad und der Pharao ihn geschlagen hatten. Kaibas Stiefvater, oder besser gesagt dessen Wirtskörper, wurde vom CEO persönlich in einer eigens für ihn gebauten Hochsicherheitszelle festgehalten. Zeitweise kam Gozaburo, wie der Mann hieß, zu sich. Ein spezielles Forscherteam hatte sich daran gemacht ihn auf Herz und Nieren zu untersuchen.
 

Ich blieb die Sommerferien über noch in Japan und wurde dann vor die Wahl gestellt, ob ich dort bleiben wollte oder nicht. Kaiba hatte sich mir gegenüber ein wenig verändert: Er war weit weniger distanziert als früher. Yugi und ich waren eben doch seine wichtigsten Bezugspersonen. Dementsprechend war mir auch ein Zimmer in der Kaibavilla angeboten worden, nebst der Wohnung, die mir durch meine Arbeit an seinem Computerspiel zustand. Ich hatte lange Zeit überlegt und mich schlussendlich für eine Japanpause entschieden. Ein Anruf würde aber genügen und der Privatjet stünde bereit. Ein letztes Mal besuchte ich noch unsere Schule. Die Sonne beschien den Hof und ich ließ das Jahr noch einmal Revue passieren. Es war so viel passiert, Wahnsinn. Seufzend stieß ich mich vom Gittertor ab und drehte mich um, da stand plötzlich ein kleiner Junge vor mir. Er starrte mich mit großen Augen an.
 

„Du bist doch David, oder? Der, der im Battle-City Turnier Zweiter wurde?“
 

Ich gluckste und nickte dann. „Ja, der bin ich.“
 

„Kann ich ein Autogramm haben?“
 

„Hast du denn einen Stift dabei und was zum draufschreiben?“
 

Der kleine Zwerg nickte eifrig und zog einen Filzstift sowie eine Monsterkarte aus den Untiefen seiner Hosentaschen. Er plapperte auf mich ein und erklärte mir, er wäre gerade Sachen für die Schule einkaufen gewesen, unter anderem Hefte und einen Filzstift. Dabei fiel mir erst jetzt die Plastiktüte an seinem anderen Arm auf. Ich bedachte die Monsterkarte mit einem neugierigen Blick: Die Panzerechse. Schmunzelnd unterschrieb ich und reichte sie dem Jungen wieder, der sich tausendmal bedankte und davonhüpfte. Ich schaute noch ein letztes Mal auf die Domino High und ging dann. Der Ring an meiner Brust klimperte dabei. Das war mein Souvenir, das ich auch behalten würde.
 

„Ein Austausch mit Folgen?“, fragte ich schmunzelnd, als Mahad meinen Körper übernahm.
 

„Das kannst du laut sagen“, lächelte er und wir gingen in Richtung der Innenstadt. „Ich bin schon gespannt auf deine Freunde und deine Familie.“
 

„Ich auch“, stimmte ich in das Lächeln ein. „Ich auch.“
 

Ich würde verändert heimkehren: Mit einer Fernbeziehung, einem Göttermonster und einem ständigen Begleiter. Den Millenniumsstab hatten wir dem ägyptischen Museum übergeben bzw Kaiba, der auch Ra behielt. Ich würde wohl im nächsten Jahr wieder bei einem Battle City Turnier antreten müssen. Bis dahin blieb aber noch genügend Zeit sich zu entspannen, vorzubereiten und ein wenig normalen Alltag zu pflegen. Ich freute mich wirklich auf zuhause, auf alle und ich war nicht mehr alleine: Mahad war bei mir und würde es auch immer sein. Dieser Gedanke beruhigte mich. Und wo Mahad war, da war auch der Pharao nicht weit und damit Yugi. Vielleicht würde ich sie in den Winterferien besuchen? Das stand alles noch in den Sternen, irgendwie. Ich würde es aber auf mich zukommen lassen, denn jetzt hatte ich keine Angst mehr.
 

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – alles nur Momentaufnahmen. Die Zeit konnte man nicht beeinflussen, genauso wenig wie das Schicksal. Man konnte sich aber dagegen wehren und am Ende sagen, man hätte es versucht. Das war es, was ich gelernt hatte. Wie auch, dass in mir weit mehr steckte als ich glaubte: Priester, Feldherr und Schüler. Vor allem aber war ich eins: Ein guter Freund. Und ich würde meine Freunde vermissen, ganz sicher.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese Ausführung des Schwarzen Magiers ist jene, welche Arkana bzw. Pandora in den Folgen 60 - 62 von Staffel 2 gegen Yugi verwendet hat. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die verwendeten Monster in diesem Kapitel sind:

Schwarzer Magier (Arkana)

Flammenschwertkämpfer

Mauerschatten

Elfenschwertkämpfer

Jirai Gumo Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Pegasus´ Fähigkeit, die Karten seiner Gegner zu sehen, genauso wie das Deck der Kontrahenten, war im Anime durch sein Milleniumsauge bedingt. Er hatte erst Probleme, seine Fähigkeiten zu nutzen, als Yugi und Yami Yugi hin und her switchten. Er konnte auch die Gedanken anderer lesen - Yugi und Yami Yugi kannten beide ihr Deck in- und auswendig. David und Mahad nicht, da es unter anderem neu zusammengewürfelt war, und sie ob der Funktion von Herrn Mutos Geschenk nichts wussten. Pegasus konnte diese "Strategie", die auf glücklichen Fügungen, gepaart mit seinem Drang, Gegner bloßzustellen (er wollte das Opfer beschwören), nicht sehen, weil ihre beiden Anwender davon auch nichts wussten.

Im Anime war die Stelle mit dem Wechsel für mich ein wenig unklar. Pegasus hat gemerkt, dass er es mit zwei Persönlichkeiten zu tun haben muss, da sie beide unterschiedliche Gedanken hatten, und der eine nicht wusste, was der andere gespielt hatte. Dieses System hatte aber eine gravierende Lücke: Yugi und Yami Yugi mussten sich abwechseln. Wenn er jeweils in der darauffolgenden Runde die Gedanken des Anderen gelesen hätte, wäre ihm seine Taktik "erneut" aufgegangen. Yugi und sein Counterpart haben nicht dauernd gewechselt, und selbst wenn, wäre es sinnlos gewesen: Yugi wusste um seine gespielten Karten, genauso wie Yami Yugi.

Hier hat Pegasus es erst gar nicht versucht, zumal er gemerkt hat, dass David und Mahad nicht wie Yugi und sein Gegenstück handeln. Beide sind nicht auf die Idee gekommen, regelmäßig zu tauschen. Einzig die Aussage: "Du betrügst auch", sollte darauf hinweisen, dass auch ihm bewusst war, dass er es hier wieder mit zwei Persönlichkeiten zu tun hatte.

Die Szenen sind sehr stark an das legendäre Duell von Yugi und Pegasus angelehnt, wobei ich aber einige Dinge ausgelassen/umgeändert habe. David ist nicht der König der Spiele, und ohne Glück, gepaart mit Pegasus´ falschem Selbstvertrauen, wäre es ihm nie möglich gewesen, ihn zu schlagen. Außerdem existieren einige Karten nicht/so nicht, außerhalb des Animes. Daher war es für die Immersion förderlicher, sie auszuklammern. Pegasus muss sich nicht solcher besonderen Tricks bedienen, oder Vorkehrungen treffen, um David zu besiegen.

Im Duell wird auch nicht ganz klar, ob ein stärkeres Monster nicht wirklich einen Toon zerstören kann, oder nicht. (Yugi versucht es nachher nicht mehr) Erst im Duell zwischen Kaiba und Alister, der sich als Pegasus ausgibt, wird klar, dass sie mit herkömmlichen Methoden nicht vernichtet werden können. (Der geschrumpfte Toon Blue Eyes hat den Angriff seines großen Bruders unbeschadet überstanden)

Pegasus hatte auch noch ein Ass im Ärmel, um die Beschwörung der üblichen Exodia sicher zu verhindern. Darum hat er auch ruhig abgewartet. Es war nicht das "Schicksal", welches ihn dazu bewogen hat, ruhig in der Phase mit den Lichtschwertern zu warten. Trotz allem ist Maximilien Pegasus ein exzellenter Duellant, der auch ohne sein Auge ein gefährlicher Gegner ist. Er ist kalt und berechnend, und weiß genau, was er tut.

Exodia Necross wäre einfach auszbooten gewesen: Eine Monsterreanimation hätte ausgereicht, um sie vom Feld zu holen. Pegasus benutzt aber im Anime nur seinen Doppelgänger - der ein Monster maximal kopieren kann, nicht aber vom Friedhof holen. Seine Toons musste er nicht zurückholen, da sie sowieso nicht zu zerstören waren (es war nur Yugi gelungen, und der hatte deutlich mehr Talent, als der derzeitige Gegner). Folglich hätte Pegasus diese Karte sicher als reine Platzverschwendung angesehen, und sie nicht in sein Deck aufgenommen.

Der Clash Exodia Necross vs. Toon World wurde auch bewusst gewählt: Exodia Necross ist prinzipiell unzerstörbar, genauso wie es die Toon World ist. Im Gegensatz zur Zauberkarte selbst, lässt Exodia Necross auch bspw. eine Riesentrunade kalt; lange Rede, kurzer Sinn - ich wage zu behaupten, dass Exodia Necross über der Toon World steht, und ein Duell durch andauerndes Karten nachziehen, bis Pegasus keine mehr hätte aufnehmen können, sicher nicht diesem einen Moment gerecht geworden wäre. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wem das Zitat bekannt vorkommt: Avatar Roku hat die gleichen Worte gegenüber Aang benutzt, als er auf ihre gemeinsame Freundschaft zu Mönch Gyazo hingewiesen hat. Ich finde, die Worte passen ganz gut, denn Atem und Mahad sind beide mehr als nur Freunde, und sie schienen sogar bereit gewesen zu sein, ihr Leben für den jeweils anderen zu geben. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Zeichnung spiegelt https://yugioh.fandom.com/wiki/Palladium_Oracle_Mahad_(anime) wider. Das Bild ist aus dem Kinofilm Darkside of Dimensions übernommen, wobei es auch eine offizielle Karte dazu gibt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich möchte hier einen sehr interessanten Punkt ansprechen, der mir selbst ein wenig Kopfzerbrechen bereitet, und für den ich auch keine eindeutige Quelle gefunden habe.

Kaiba beschwört im Film Darkside of Dimenions Obelisk den Peiniger, ein Göttermonster. Außerdem führt er ja im Anime mehrmals eben dieses Monster ins Feld. In der japanischen Version spricht Diva davon, dass Obelisk der Peiniger nur dem Pharao gehorchen würde, mal abgesehen von der Tatsache, dass er gar nicht mehr existieren dürfte, da nach dem zeremoniellen Duell mit Atem die Göttermonster aus dieser Welt verschwunden sind.

Auch im Anime selbst wird an manchen Stellen erwähnt, dass die Göttermonster nur vom Pharao kontrolliert werden können. Hier stellen sich einige Fragen, da nicht nur Yugi die Sangenshin nutzt.

Kaiba ist als Nachfahre von Seth, einem Cousin von Atem, folgerichtig königlichen Blutes, und wird außerdem nach Atems Opfer der nächste Pharao. Ihm ist es, wenn man dieser Logik folgt, durchaus gestattet, Obelisk den Peiniger zu befehligen.

Dann wäre da noch Marik, der als Grabwächter, soweit ich informiert bin, auch sehr entfernt königlichen Blutes ist. Er benutzte aber Strings, um Slifer den Himmelsdrachen auszuspielen. Strings wurde Marik kontrolliert, und eigentlich war er nur ein Medium, eine Art Stellvertreter Mariks.

Selbst, wenn man dieser Ansicht konsequent folgt, bleibt eine Lücke bezüglich Bakura, der ja Ra beschwören, aber nicht wirklich nutzen konnte. Kaiba konnte, selbst ohne Milleniumsgegenstand, die Inschrift auf der Kartenoberfläche lesen.

Es gab sogar einen Ausreißer, in der vierten? Staffel, der Obelisk mithilfe des Siegels von Orichalcos kontrollieren konnte, aber nur unter großen Schmerzen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Es sollte möglich sein, gerade für Mahad, die Monster zumindest zu kennen und auch nutzen zu können. Dass ihm natürlich einige Funktionen verwehrt bleiben, allen voran die Fusion zu Horakhty, sei einmal außer Frage gestellt.

Logisch und richtig erscheint mir persönlich, entweder herauszulesen, dass Yugi Kaiba damals erlaubt hat, gegen Diva Obelisk zu befehligen, oder dass es an der Verbindung einer Person zur Vergangenheit liegt.

Dies sei einfach mal nur in den Raum geworfen, um meine Gedankengänge ein wenig zu sortieren. Außerdem wird im späteren Verlauf des Animes ein wenig das Zögern Yugis ausgeblendet, wie damals im Duell gegen Yami Bakura, wo er nur mithilfe von Slifer gewinnen konnte. Er zögerte, den Himmelsdrachen zu beschwören, und Ishizu meinte zu Kaiba, dass die Göttermonster leicht außer Kontrolle geraten können. Für mich indiziert dies, dass ein besonders starker Duellant notwendig ist, um sie effektiv aufs Spielfeld zu bringen und sie auch zum gehorchen zu zwingen. Die Karten leben ja, wie man anhand von Odion sehen konnte, der für das Spielen der Kopie von Ra gestraft worden ist. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe den Ring persönlich immer, entgegen dem Puzzle, als Chance, wie auch als Last, empfunden. Bakuras Geist war nicht gut, wie der von Mahad, was aber nichts an der grundsätzlichen Eigenschaft dieses Schmuckstücks ändert. Der Ring war schon vor der Beherbergung von Yami no Bakura böse. Wenn ich korrekt informiert bin, so spürte Mahad schon damals, vor seinem Tod, die Finsternis dieses Gegenstandes, die an ihm nagte. Nur Personen mit einem starken Willen können ihn nutzen, ohne dabei vollständig korrumpiert zu werden. Man denke dabei an den Kinofilm Darkside of Dimensions, wo der Milleniumsring Diva/Aigami böse werden lässt.

Selbst ein guter Geist wie Mahad kann nicht elementare Eigenschaften, die einen Menschen ausmachen, ausradieren. David ist von Natur aus ein hitzköpfiger, nachtragender Charakter ( seine Konfrontationen mit Kaiba, seine Gedanken über Joeys Vater oder Mei).
Wenn dazu noch eine Extremsituation kommt, wie die Aussicht, Mokuba verloren zu haben, dann schwappt das Gute in Böses um. Hass, Zorn, Wut - alles kommt in diesem Moment zusammen und nimmt Überhand.

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich möchte an dieser Stelle mit einem Zitat von Francis Bacon enden, das, wie auch dieses Kapitel, ein wenig zum Nachdenken anregen soll.

"Damit das Licht so hell scheinen kann, muss es auch Dunkelheit geben."

Eine schöne Woche euch allen! :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Der Gedanke zu einem Teil dieses Kapitels kam mir, als ich das Duell zwischen Atem und Bakura gesehen hatte.

Bakura war ja schwer verletzt, was seinen bösen Counterpart wenig gestört hatte. Yami no Bakura hat den Angriff von Slifer überleben können, während das beim verwundeten Bakura nicht der Fall gewesen wäre (den eigenen Aussagen nach). Im Umkehrschluss hat das für mich bedeutet, dass auch Mahad die körperliche Belastbarkeit von David in diesem Fall erhöhen kann.

Die nächste, eventuell auftretende Frage, die ich klären möchte, ist die, ob Slifer denn wirklich den Götterdrachen der Big Five in die Knie zwingen kann. Ich glaube ja, wenn ich an die Referenz denke, die der Kinofilm Darkside of Dimensions geliefert hat.
Obwohl Diva/Aigami eindeutig festgestellt hat, dass Kaiba keine Spezialfähigkeit eines Monsters nutzen kann, hat dieser es dennoch getan. Auf die Worte (man verzeihe mein schlechtes Japanisch, bzw. die Übersetzung davon) "Unmöglich, du kannst keine Monsterfähigkeiten nutzen", antwortet Kaiba lapidar "Das ist kein Monster, es ist ein Gott."

Dem folgend, halte ich es für wahrscheinlich, dass eine Gottheit wie Slifer der Himmelsdrache durchaus in der Lage ist, den Götterdrachen aus dem Spiel zu nehmen. Außerdem sprechen wir hier von einem zumindest ansatzweise realen Wesen, während der Götterdrache so nur in der VR existiert hat.

Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen - schöne Woche! :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich persönlich glaube, dass selbst aus Bösem Gutes erwachsen kann. Dafür haben wir Beweise - Kaiba, Pegasus, sogar Atem. Warum also sollte es hier anders sein? Es gibt genügend gute Kräfte, die einen Gegenpol zum etwaigen Bösen darstellen - Freunde, Familie und Joey.

Wenn man sich die Götterkarten ansieht, lässt sich dieser Schluss ebenfalls ziehen. In den Händen von Marik und auch Dartz waren sie nicht mehr als Rachewerkzeuge, während Yugi und der Pharao sie zum Guten genutzt haben.

Ich empfinde es persönlich als wichtig auch aufzuzeigen, dass Yu Gi Oh nicht nur ein Kartenspiel ist, wo man eben ein paar Monster aufs Feld klatscht und die Welt rettet. Auch soll der OC nicht als alleiniger Retter der Welt gefeiert werden; er hat Macken und Schwächen und ohne starke Freunde wäre er ein eher durchschnittlicher Charakter, mehr nicht. Die Gemeinschaft, die Freundschaft zu Yugi und die Liebe zu Joey sind die Stütze und der Ankerpunkt, den er braucht, um wirklich eine Hilfe zu sein.

In einem Interview meinte Kazuki Takahashi einmal, Joey sei der stärkste Charakter in Yu Gi Oh, weil er weder Magie noch Geld brauche, um seine Ziele zu erreichen. Ich würde ihn zwar nicht als so stark einordnen, aber sicher auf einer Stufe mit Yugi und Kaiba. Jedenfalls soll dieses Kapitel zwei Dinge zeigen: Joey braucht nicht immer Hilfe, er bietet sie auch (erfolgreich) an, und der unbrechbare Wille aus der Serie, der ist auch hier, trotz dem Joch der Vergangenheit, noch immer vorhanden.

Eine schöne Woche allen! :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe mich bei der Toon-Version der Karten an folgenden Bildern orientiert:

Dunkler Toon Paladin: https://i.etsystatic.com/6965336/r/il/86f097/2057884581/il_570xN.2057884581_tfdv.jpg

Schwarzer Toon Totenkopfdrache: https://encrypted-tbn0.gstatic.com/images?q=tbn%3AANd9GcTAzV8jWGfEbMKixCtZpaiDk5hRKQDAOY9EUg&usqp=CAU

Ich nehme mal an, Letzterer ist von Zakaria 2018 gezeichnet worden. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Damit ist meine erste große Fanfiction beendet. Auf diesem Weg möchte ich mich noch bei meinen treuen Freunden und auch Weggefährten bedanken, wie auch meinen Lesern. Ihr werdet jetzt sicher alle ein wenig erstaunt sein: Das Ende ist da? Ja, es kam schnell und unerwartet. Warum fragt ihr euch sicher oder? Die Antwort ist denkbar einfach: Mir ist im Dezember etwas klar geworden. Es sind in der Adventszeit auf vielen Plattformen Yu-Gi-Oh Werke wie aus dem Nichts emporgesprossen. Die meisten davon haben sich mit Puppyshipping beschäftigt, genauso wie viele Fanfictions auf Mexx. Dabei werden meist triviale und weniger triviale Alltagsprobleme behandelt. Die Duelle und der Kern von Yu-Gi-Oh geht dabei für meinen Geschmack irgendwie verloren, zumal ich das Pairing überhaupt nicht (mehr) abkann. Das hat mir fehlendes Interesse signalisiert, wie auch der Fakt, dass ich nicht in der Lage bin, den Nerv der Zeit zu treffen, was das Drama angeht. Ich habe die Charaktere sicherlich auch ein wenig gebogen, aber nicht in dem Ausmaß, wie viele andere es machen. Wenn das natürlich der Mehrheitswunsch ist, dann freut mich das für die Mehrheit, aber ich kann diesem Trend leider nicht folgen und will es auch nicht. Es war ein großer Spaß für mich die Story auszufeilen und daran zu arbeiten und meine Unterstützer wissen, wie sehr ich mich in manchen Bereichen hineingekniet habe. Es ist Zeit einmal Abstand von Yu-Gi-Oh zu nehmen. Ich hätte das Duell sicher noch ausstaffieren können, doch irgendwie fand ich es so passend. Nicht der OC, sondern Mahad hat das Finale bestritten, gemeinsam mit dem Pharao, als unaufhaltsame Macht. Ein, wie ich finde, gutes Ende.

An dieser Stelle wünsche ich allen ein frohes neues Jahr 2021 und hoffe, dass ich euch die Zeit ein wenig versüßen konnte.

SuperCraig Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (89)
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Von:  Satra0107
2020-07-19T19:56:15+00:00 19.07.2020 21:56
Sehr schön wie du die Unterschiede zwischen den Charakteren ausgearbeitet hast.
Kaiba mit seiner unterkühlten Art, aber wenn es um Mokuba geht sieht man eine andere Seite.
Und David hat da wirklich eine schwere Bürde mit dem Ring zu tragen. Aber mit seinen Freunden bleibt er schon auf der richtigen Spur. 😊

LG Satra
Antwort von:  SuperCraig
19.07.2020 21:59
Na, was für ein Zufall, bin ich gerade da und dann ploppt dein Kommi auf :D.

Freut mich, dass es dir aufgefallen ist. Kaiba soll ein wenig menschlicher werden, zumindest, wenn es sinnvoll erscheint, also eh nur bei Mokuba ;D.

Mittlerweile geht es mit dem Ring, auch durch seine Freunde, wie du korrekt erkannt hast. Wer sich selbst annimmt, der kommt damit besser zurecht, denke ich. Das kann sich aber bald ändern.

Das nächste Kapitel wird sich dann wieder mit einem Duell befassen ;). Ein altbekannter "Freund", der sich immer durch eine sehr "faire" Spielweise hervorgetan hat.

LG
SuperCraig
Von:  Satra0107
2020-07-14T18:33:13+00:00 14.07.2020 20:33
So geil! Es hat sich ja schon angedeutet das Obelisk zu David kommen wird.
Ich finde das sehr passend und gleichzeitig bin ich auf ein Duell von Kaiba mit Ra zusammen gespannt. 😊
Das neue Bild ist wirklich mega 😁
Ich freue mich auf die nächsten Duelle 😀
LG Satra
Von:  Satra0107
2020-07-14T18:18:53+00:00 14.07.2020 20:18
Ein Doppelduell - das ist ja cool.
Und sehr gut von dir durchdacht.
Bin gespannt was da auf die beiden zukommt.
Antwort von:  SuperCraig
16.07.2020 00:42
Danke, das freut mich.

Doppelduelle sind in der Regel ein wenig problematischer, weil für vier Leute gedacht werden muss. Also es geht vor allem um die Wechselwirkung der Zauber- und Fallenkarten :D. Aber scheint ja gut geklappt zu haben. ;)
Von:  Satra0107
2020-07-14T11:41:35+00:00 14.07.2020 13:41
Wow, das ist ein Vertrauensbeweis von Kaiba! Mokuba muss gerettet werden und Kaiba und Yugi in duellen mit Götterkarten. das ist mega spannend!
Antwort von:  SuperCraig
14.07.2020 14:18
Ich würde es eher eine logische Auswertung der vorhandenen Ressourcen nennen.

Wenn Kaiba das Duell abbräche verlöre er die Möglichkeit auf seine Götterkarte. Im besten Fall bekommt er beides: Mokuba und das Monster. Aber ja, ein wenig Vertrauen ist dabei. Seine Marionette, die sich stark von ihm gelöst hat, ist einer der wenigen Menschen, denen er so etwas Kostbares anvertrauen würde.

Außerdem würde sich David ja selbst auch einen schlechten Dienst erweisen, wenn er bei Mokubas Rettung versagt. Von daher erscheint mir das, aus der Sicht eines Seto Kaiba, als die logischste Konsequenz. :D

Danke für deinen Kommi! :)
Antwort von:  Satra0107
14.07.2020 14:25
Du drückst das genau richitg aus: Ressourcen Auswertung :D
Mir fehlen da immer die richtigen Worte für, in was für eine Beziehung man mit Kaiba sein kann. ;)
Aber dennoch vertraut Kaiba nicht jedem die Sicherheit seines Bruders an.
Von:  Satra0107
2020-07-14T11:33:34+00:00 14.07.2020 13:33
Oh, Yami-Bakura war echt ein grausamer Typ, kein Wunder das die drei Schiss vor David hatten.
Den Milchshake hat er sich jetzt verdient. :)

LG Satra
Antwort von:  SuperCraig
14.07.2020 14:15
War er - das hat mir auch so an ihm gefallen. Der schüchterne, zurückhaltende Bakura und sein böses Gegenstück. Yami Bakura war eine meiner Lieblingsfiguren im Anime (vor allem in Season 0).

Eigentlich hätten es Bonz, Sid und Zygor verdient wieder ins Reich der Schatten geschickt zu werden. Sie waren zweimal alles andere als faire Duellanten, auch wenn ihnen das Schicksal übel mitgespielt haben mag. Schlussendlich bringe ich es aber nicht übers Herz jemanden so leiden zu lassen. Vielleicht ändern sie sich ja noch? Mal sehen.
Antwort von:  Satra0107
14.07.2020 14:22
Ich kann mich an die drei Typen kaum erinnern. :D
Wenigstens bist du mal nett zu ihnen und gegen David haben sie ja mal zum Glück nicht so beschissen ;)

Antwort von:  SuperCraig
14.07.2020 14:23
Die Anhängsel von Bandit Keith? :D

Der, der mit der Schild- und Schwertkarte zerlegt worden ist? Sagen wir mal, sie waren von der gleichen Sorte wie Weevil Underwood, das sollte ausreichen. ;)
Antwort von:  Satra0107
14.07.2020 14:27
An Bandit Keith kann ich mich erinnern, der im Original Pegasus mit einer Waffe bedrohte und in der Ami Version nur eine Zeigefinger zeigen durfte :D aber die drei Typen sind weg, ist einfach zu lange her, das ich den anime gesehen habe.
Von:  Satra0107
2020-07-14T11:20:41+00:00 14.07.2020 13:20
Ein spannendes Duell. Acuh wenn es dann ganz plötzlich entschieden war.
Mir gefallen deine Beschreibungen der monster immer sehr.

Das neue Bild für deine FF ist ja mal mega, gerade das erste Mal gesehen.

Ich freue mich sehr auf die nächsten Duelle.

LG Satra
Antwort von:  SuperCraig
14.07.2020 14:13
Hey!

Ja, ich wollte dann gleich mal losstarten, weil es sich sonst unnötig gezogen hätte. Zäh wie Kaugummi. :D

Das mit dem Bild - also meine zweite gute Fee hat sich da selbst übertroffen. Ich war schwer geflasht. Wie sie es angestellt hat, keine Ahnung, aber es sieht hervorragend aus.

Danke für deinen Kommi! :)
Antwort von:  Satra0107
14.07.2020 14:21
Sag deiner guten Fee, das Bild hat mich von den Socken gehauen. :)
Ein tolle Künstlerin, ich nehme auch so ein gleies Bild einmal bitte. ;)
Von:  Satra0107
2020-07-07T05:41:36+00:00 07.07.2020 07:41
Es geht bald los mit dem Turnier und ich bin nach dem Kapitel jetzt auch aufgeregt 😊
Ich bin auf die Duelle gespannt 😁
LG Satra
Von:  Satra0107
2020-06-10T17:49:05+00:00 10.06.2020 19:49
Ohne Kaiba kann so ein Essen wesentlich entspannter laufen. 😁
Witzig, dass der Butler auch schon Davids Heimat bereist hat.
Von:  Satra0107
2020-06-10T14:10:30+00:00 10.06.2020 16:10
Wow,ein geiles Kapitel! 😮

Das war sehr spannend und super geschrieben, wie David da mit dem bösen Ich umgeht.
Ist das böse im Ring jetzt verschwunden?

Jetzt ist er hoffentlich bereit für das Turnier.


Antwort von:  SuperCraig
11.06.2020 23:14
Ich will nicht zu viel verraten, aber nein, es ist nicht verschwunden.

Einen Wesenszug, einen Teil von sich selbst auszulöschen, das geht nicht, oder nur sehr schwer, und hinterlässt eine Lücke, die gefüllt werden muss.

Er hat eher gelernt, zu akzeptieren, dass er, wie jeder andere auch, eine "Schattenseite" hat, und dass es nichts Verwerfliches ist, sowas zu haben.

Danke für deinen Kommi! :D
Von:  Satra0107
2020-05-16T18:54:08+00:00 16.05.2020 20:54
Oh, hätte nicht gedacht noch mehr von Elias zu lesen, auch wenn es ihm nicht so gut geht 😮
So so, Elias hatte schon Obelisk und Exodia.
Wird dann Kaiba etwa in der Gegenwart nicht noch einmal Obelisk bekommen? 🤔 ich bin gespannt.
LG Satra
Antwort von:  SuperCraig
18.05.2020 15:39
Hey!

Das Kapitel ist mir spontan eingefallen. Ich hatte noch zwei andere Versionen rumflattern, die hat mir aber am Besten gefallen.

Ich empfand es sowieso als ein wenig traurig, dass die Götter auf drei Karten reduziert wurden (mehr oder weniger). Im Kinofilm kam Obelisk ohne Karte zu Kaiba, und hat sich gegenüber jeglichen Regeln durchgesetzt, was stimmt, denn wie Kaiba sagte: "Kein Monster, ein Gott."

Vielleicht bekommt Kaiba ihn ja doch? Oder Slifer? Oder Ra? ;)

Mir persönlich gefällt Obelisk jedenfalls für David am Besten, da er rohe, ungebändigte Kraft darstellt, die Führung braucht, wie auch er selbst. Außerdem ist er nicht der Typus, der vor Yugi geht, oder über ihm steht, sondern neben ihm.

Einer von Obelisks Beinamen im Japanischen ist "Göttlicher Soldat", was gut passt, denn Mahad war zwar auch ein Freund des Pharao, aber auch einer seiner besten Männer.

Dazu kommt noch, dass die Sonne normalerweise die Finsternis verbrennt, und sich ihr nicht anschließt (sehen wir mal Staffel 3 als Ausnahme, mit Marik und Ra). Die Sonne selbst in Händen zu halten und auch noch zu führen, ist eine Sache, die ich mir als schwer bis unmöglich vorstelle.

Ich bin noch stark am Überlegen, wer welche Karte am Ende bekommt, habe dazu aber schon etwas im Kopf. Es könnte auf ein Rennen hinauslaufen. Kaiba hat ihn in der Vergangenheit einmal besessen, gleiches gilt für David - was, wenn Obelisk sich selbst entscheidet, wem er seine Faust leihen will?

Danke für deinen Kommi!

LG
SuperCraig
Antwort von:  Satra0107
20.05.2020 10:02
Ich bin gespannt wie du das dann machst,
Obelisk passt gut zu beiden.
Aber Ra finde ich passt nicht zu Kaiba. Aber Ra könnte die Dunkelheit von David vertreiben 🤔
Recht schwierig. Am Ende gehören sie eh alle zum Pharao 😁
Ich freue mich auf mehr 😊


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