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Ein Austausch mit Folgen

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Unfreiwillige Auszeit

Es war finster um mich herum. Dem Gefühl nach zu urteilen lag ich auf einem weichen Bett. Ich war außerdem zugedeckt, wie ich anhand meiner nackten Beine bemerken durfte, welche sich an Stoff schmiegten, als ich sie ein wenig bewegte. „Er kommt zu sich!“ Eine weibliche Stimme riss mich aus meinem dämmrigen Schlaf. Ihrer Tonlage entnahm ich, dass sie sehr aufgeregt war. „Joey, Yugi, Tristan!“ Erneut diese vertraute Stimme – ich hatte sie schon einmal wo gehört. Wo war ich eigentlich? Zu Hause? Nein, das konnte nicht sein, meine Wohnung war unbewohnt, mal abgesehen von mir. Das Rücken von Stühlen bewog mich schlussendlich dazu, meine Augen langsam zu öffnen. Ich brauchte einige Momente, um mich an das grelle Licht der Sonne zu gewöhnen, welche durch ein großes Glasfenster neben mir schien. Vorsichtig versuchte ich, mit der Hand meine Augen einigermaßen vor den Sonnenstrahlen zu schützen und sah mich um. Ein sauberer, fast schon steriler Raum. war wohl gerade mein Domizil. An meiner rechten Hand konnte ich mittlerweile ein unangenehmes Ziehen spüren, welches von einem Katheter kam. Ich war anscheinend in einem Krankenhaus.
 

„Hey, Alter, alles klar?“ Langsam drehte ich den Kopf nach links und blickte in die Gesichter von Yugi, Joey, Tristan und Tea, welche allesamt besorgt und erleichtert zugleich wirkten. „Was ist eigentlich los?“ Mir brummte der Schädel, und als ich versuchte aufzustehen, durchfuhr mich ein stechender Schmerz an der linken Seite meiner Brust. „Nach deinem Duell mit Kaiba hat dich wohl die Aufregung ausgeschaltet. Du bist bewusstlos geworden und hast dir dabei ein paar Schrammen im Gesicht zugezogen und eine Rippe angeknackst, hat zumindest der Arzt gesagt.“ Joeys Stimme hatte einen sehr weichen und schuldbewussten Unterton beigemengt, und ich konnte erkennen, wie er den Blick senkte, und die rehbraunen Augen von seinen Lidern bedeckt wurden. „Es ist meine Schuld. Mir sind die Nerven durchgegangen. Dieser Großkotz hat sich einfach zu oft über mich lustig gemacht…“
 

Fahrig streckte ich meine linke Hand aus und griff nach Joeys Arm, was diesen aus seinen Momenten des Schuldbewusstseins riss. „Schon okay, Joey. Er macht auf mich einen sehr kühlen und strengen Eindruck. Viel zu kontrolliert und selbstsicher. Du wirkst wie das genaue Gegenteil; chaotisch und lebensfroh. Dass es da Reibereien gibt, kann ich mir gut vorstellen. Mach dir mal keinen Kopf, ja? Ich hätte auch einfach Nein sagen können, oder aufgeben, bevor er mich in den Boden gestampft hat.“ Meine Mundwinkel wanderten ein wenig nach oben, bevor ich die Hand wieder zurückzog. Joey starrte kurz auf die Stelle, welche meine Hand umschlossen hatte, nur um dann lächelnd zu nicken. „Geht klar. Du hast dich aber gut geschlagen, das finden übrigens alle.“ Yugi, Tristan und Tea pflichteten ihm nickend bei. „Die ganze Schule spricht von deinem Duell mit Kaiba, und dass du die Herausforderung angenommen hast.“ Tristan grinste schief und boxte mir angedeutet gegen meine Schulter. „Es war eine einzige Blamage. Ich konnte nichts gegen Kaiba ausrichten, und als er dann den Weißen Drachen mit eiskaltem Blick gerufen hat, war mir kurz so, als müsste ich mir in die Hose machen.“
 

Ich wusste nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, den Vieren an meinem Bett vertrauen zu können. „Das ist total normal. Als ich das erste Mal im Königreich der Duellanten Kaibas neues Duellsystem ausprobiert habe, ging es mir genauso.“ Meine rechte Braue wanderte unfreiwillig in die Höhe, während ich Joey musterte. Dann musste ich unfreiwillig grinsen. „Eingenässt?“ Ich erntete schallendes Gelächter und einen gespielt säuerlichen Blick von Joey. „Sag mal, David, darf ich dich was fragen?“ Yugi sah neugierig zu mir herauf. Ich nickte knapp auf seine Frage hin. „Woher hast du denn so eine Karte wie den Schwarzen Rotaugendrachen?“ Da wehte der Wind her, ich verstand. Kaiba hatte eine ähnliche Bemerkung bei unserem Duell gemacht. „Meine Großeltern haben ihn mir zum siebzehnten Geburtstag geschenkt, kurz bevor mein Opa schwer krank wurde.“ Yugi senkte den Blick ein wenig, ehe ich hastig fortfuhr: „Es geht ihm mittlerweile wieder besser, sonst hätte ich nicht am Austauschprogramm teilgenommen. Er hatte einen Schlaganfall und ist seitdem mit der rechten Körperhälfte ein wenig eingeschränkt. Geduld und Übung kurieren ihn aber wieder. Wenn ich nach Hause fahre, ist er sicher wieder top fit.“ Ich musste unwillkürlich lächeln, als das Bild meiner Großeltern vor meinem geistigen Auge erneut erschien. „Du hängst sehr an deinen Großeltern, hm?“ Teas sanfte Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ließ das geistige Bild verpuffen.
 

„Ja, ich liebe sie sehr. Sie sind eigentlich die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Sie haben immer auf mich aufgepasst, als ich klein war, und heute versuche ich das Gleiche zu machen. Beide haben mich dann zu dem Austauschprogramm gedrängt, weil sie gewusst haben, wie sehr ich es mir gewünscht habe.“ Mein Blick wanderte nach links, auf einen kleinen Beistelltisch, wo sich nebst einer Kanne aus Aluminium, einigen Gläsern und einem Tablett mit Essen, ein Kartendeck stapelte. Langsam griff ich danach und zog instinktiv eine einzelne Karte aus dem Deck heraus und drehte sie um. Sanft strich ich mit dem Daumen über das Bild meines Schwarzen Rotaugendrachens. „Mir geht es dabei nicht um die Power der Karte, oder die Seltenheit. Mein Rotauge gehört zu mir, weil er mir von meinen Großeltern geschenkt wurde. Darum hat es auch so wehgetan, ihn sterben zu sehen.“ Mir wurde plötzlich bewusst, wie bescheuert sich meine Geschichte anhören musste. So an einer Karte zu hängen, und dann abzusacken, weil ihr holografisches Abbild zerstört wurde, war doch etwas krank. Als ich in die Augen meiner Besucher blickte, schlug mir aber weder Spott noch Abweisung entgegen, im Gegenteil: Yugi und Joey lächelten mir anerkennend zu, während Tristan und Tea sich an meinem Fußende auf dem Geländer abgestützt hatten.
 

„Das kann ich gut verstehen. Meinem Großvater geht es ähnlich.“ Überrascht blickte ich zu Yugi, welcher vorsichtig nach meiner rechten Hand griff und sie sanft drückte. „Du steckst dein ganzes Herz in den Kampf, das haben wir bemerkt. Du hast an deinen Schwarzen Rotaugendrachen geglaubt und er an dich. Duel Monsters ist weit mehr als nur ein simples Kartenspiel. Wer seine Kreaturen schätzt und gut behandelt, an sich und an sein Deck glaubt, der wird belohnt, glaube mir.“ Yugi ließ meine Hand los und strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie diese aberwitzige Frisur überhaupt halten konnte, war mir ein Rätsel. „Außerdem war ich damals auch am Boden zerstört, als Kaiba mein Rotauge eingestampft hat.“ Joey streckte seine Arme ein wenig, wobei ihm das T-Shirt über den Bauchnabel rutschte, und mir den Blick auf einen angedeuteten Sixpack ermöglichte. „Wo sind eigentlich Duke und Bakura?“ Ich sah fragend in die Runde. „Die holen dir gerade die Hausaufgaben und entschuldigen dich bei den Lehrern.“ Ich bekam Magenschmerzen bei dem Gedanken, welcher Ärger mir blühen würde, wenn ich gleich am ersten Tag schon ausfiel. „Keine Angst, wir haben das alles schon geregelt. Die Ärzte wollen dich bis Mitte nächster Woche hierbehalten. Solange bringen wir dir die Schulunterlagen vorbei und gehen sie gemeinsam mit dir durch. Herr Nakashima wünscht dir gute Besserung.“ Tea schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und drückte sich von meinem Bettgestell hoch. „Leute, das müsst ihr wirklich nicht machen.“ Ich war zugegebenermaßen ein wenig verwirrt. Wir kannten uns noch nicht einmal einen Tag, und doch bemühte sich die Clique rund um Yugi so um mich. War das in Japan usus?
 

„Laber nicht, Alter. Das machen wir gerne für unsere Freunde.“ Tristan tat es Tea gleich und zog sein Smartphone aus der Innentasche des braunen Mantels, welchen er trug. Hatte er gerade Freunde gesagt? Ich schrägte ein wenig den Kopf, als die anderen drei auch plötzlich ihre Handys in der Hand hatten. „Na los, hab dich nicht so! Wir brauchen deine Nummer.“ Joey sah mich auffordernd an, und hielt mir mein eigenes Handy entgegen. Wir tauschten so unsere Nummern aus, und ich bekam außerdem die von Duke und Bakura auch. Kraftlos legte ich mein Smartphone beiseite und drapierte mein Rotauge wieder auf dem Kartendeck. „Dann danke, Leute.“ Zögerlich starrte ich vom Tablett zu der Gruppe. Mein Magen meldete sich lautstark. Meine Arme fühlten sich mit einem Mal unendlich schwer an, außerdem waren nur Stäbchen beigelegt. „Da hat wer Hunger.“ Joey grinste breit und schob das Essenstablett auf meinen Bauch, während Tea und Tristan aus dem Zimmer eilten. „Wo gehen die beiden hin?“ fragte ich und blickte ihnen nach. „Duke und Bakura müssten mit deinen Sachen aufgekreuzt sein. Wir haben um vier ausgemacht.“ Joey zog die Stäbchen auseinander und fuhr damit in eine Schale voll klebrigem, weißen Reis. Ich quittierte seine Handlung mit einem fragenden Gesichtsausdruck. Wollte er mir das Essen vor meiner Nase klauen? Stattdessen schnappte er sich geübt einen Klumpen Reis und hielt ihn mir entgegen.
 

„Die Schwester hat uns gesagt, dass wir nicht länger als eine Stunde bleiben dürfen. Wir sind schon drei hier, und außerdem haben sie uns gesagt, dass du relativ kraftlos sein würdest, wenn du wach wirst.“ Yugi setzte sich an meine Bettkante während ich auf den Klumpen Reis schielte. „Na komm, mach den Mund auf. Der Reis wird nicht besser, wenn du ihn an der Luft trocknen lässt.“ Joey hatte wohl immer einen dummen Spruch auf Lager. Eigentlich war es meine Art, dementsprechend zu kontern, aber mir war gerade weder danach, noch traute ich mir zu, meine Gedanken so weit kreisen zu lassen. Wortlos öffnete ich meinen Mund und bekam den ersten Bissen Reis. Er war angenehm weich und schmeckte überhaupt nicht fade. Als ich den Klumpen hinuntergeschluckt hatte, wartete Joey schon mit dem nächsten vor meiner Futterluke. Schweigend nahm ich mein Abendmahl zu mir, oder wurde besser gesagt gefüttert. Insgeheim war ich froh darüber, dass man mir die Arbeit abnahm, denn ich merkte, wie mir alles ein wenig zu anstrengend wurde. Die angebrochene Rippe schmerzte außerdem schon eine ganze Weile. Als Joey den letzten Rest aus der Schüssel gekratzt hatte, räusperte ich mich: „Duke und Bakura holen meine Sachen, habt ihr gesagt? Woher wisst Ihr überhaupt, wo ich wohne?“ Das war in der Tat ein Aspekt, welcher mich interessierte. „Das war ganz leicht. Nachdem wir dich hierher gebracht haben, haben wir den Zettel mit deiner Adresse in deiner Brieftasche gefunden.“
 

Stimmt, ich hatte mir die Hausnummer und die Straße vorsorglich notiert, falls ich mich verlaufen sollte. Eigentlich war das komplett unnötig, im heutigen, virtuellen Zeitalter, wo jedes Handy Navi und GPS ersetzte, aber ich war teilweise einfach ein wenig altmodisch. „Meinen Wohnungsschlüssel habt ihr demnach auch entwendet?“ Ich lachte leise, was aber bald von meiner angeknacksten Rippe gestraft wurde. „Wir haben einfach deine Tür aufgebrochen. War ganz leicht.“ Duke stand plötzlich im Raum, eine Sporttasche unter dem Arm. Bakuras weißer Haarschopf tauchte neben ihm auf, und Sekunden später hörte ich, wie die Türe zu meinem Zimmer sich schloss und Tea mit Tristan die Gruppe komplettierte. „Ich schicke euch dann die Rechnung zu, ja?“ Meine trockene Antwort wurde von Duke und Bakura mit einem breiten Grinsen kommentiert. Joey füllte mir etwas Tee in ein Glas und hielt es mir an den Mund. Dankbar nippte ich an dem Getränk und leckte mir über die rissigen Lippen, als er das Gefäß von diesen nahm. „Joey? Tut mir Leid, dass ich es verbockt habe, und du jetzt den Babysitter mimen musst.“
 

Ich fühlte mich schuldig. Auch wenn Joey eigentlich selbst an der Misere schuld war, so hatte er doch großes Vertrauen in mich gesetzt. Es hätte natürlich auch sein können, dass er einfach schneller gehandelt als gedacht hatte. „Mach dir du auch mal keinen Kopf, ja? Das ist schon in Ordnung. Ich bin es gewohnt, ab und an auf Mokuba aufzupassen. So komme ich auch mal in den Genuss der neusten Games.“ Joey grinste breit und stellte das Glas auf dem Tischchen neben meinem Bett ab. „Wir müssen jetzt aber los, sonst wird die Stationsschwester noch sauer.“ Irgendwie war ich ein wenig enttäuscht. Ich mochte den Haufen wirklich. „Klar, Leute. Danke, für alles.“ Ich nickte dem Grüppchen zu. „Wir kommen dann morgen wieder, mit den Hausaufgaben.“ Yugi winkte zum Abschied und die Runde trappelte dann nach draußen. Müde schloss ich meine Augen und schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Der erste Tag war somit schon kein kompletter Reinfall gewesen.
 

Die Bande hielt tatsächlich ihr Wort. Pünktlich um halb vier schneiten sie herein, brachten mir die Aufgaben mit, und machten sie mit mir gemeinsam. Nach getaner Arbeit quatschten wir noch eine Weile. Ich lernte dabei, dass Joey wirklich der Chaot war, für den ich ihn anfangs gehalten habe. Tea war eine begnadete Tänzerin, und hoffte, irgendwann nach New York gehen zu können, an eine renommierte Tanzschule. Außerdem konnte sie exzellent backen, wie mir der Schokoladenkuchen, welchen sie am Dienstag mitgebracht hatte, bewies. Tristan zeigte mir einige Fotos von seinem Bike. Ich hörte nur Wörter wie Honda, Hubraum, Kubik und Zylinder. Mein Interesse an solchen technischen Aspekten war zugegebenermaßen begrenzt, ich musste aber eingestehen, dass er auf seinem Motorrad eine ausgezeichnete Figur machte. Ich durfte sogar vorab, mit den anderen, einige Clips begutachten, welche er in seiner Freizeit gedreht hatte. Sprünge über Schanzen und Autoreifen in einer Lagerhalle, Slalomparkours und das Fahren auf dem Hinterrad waren nur einige Übungen, welche er gefilmt hatte. Yugi entpuppte sich als ein sehr ruhiger und vernünftiger Zeitgenosse. Vor allem in Mathe schien er ein Ass zu sein, was mir sehr gelegen kam. Ich hasse Mathe heute noch. Duke erzählte mir von seinem eigens entwickelten Spiel: Dungeon Dice Monster. Es hörte sich ähnlich wie Duel Monsters an, dann aber doch nicht. Duke besaß außerdem einen eigenen Spieleladen, was mich sehr beeindruckte. Er konnte kaum älter sein als ich, und hatte es schon zu etwas gebracht. Bakura wirkte auf mich eher schüchtern. Er hielt sich meist im Hintergrund und war eher in sich gekehrt. Wenn er dann aber doch einmal lachte, so war es ein ansteckendes, glockenhelles Lachen. Es war aber nicht so, dass ich nur genommen hätte. Ich war in Englisch relativ gut, und konnte so mit ihnen gemeinsam lernen und üben. Vor allem Joey schien darüber sehr froh zu sein; Englisch war nämlich laut eigener Aussage „seine Achillesferse“. Das gleiche Spiel wiederholte sich Tag für Tag bis Sonntag.
 

Es war acht Uhr abends und ich tippte gerade in meinem Handy herum. Meine Eltern und Großeltern, genauso wie meine Freunde zu Hause, hatten natürlich Wind bekommen von dem Vorfall und waren alle besorgt um mich gewesen. Alle einmal zu beruhigen, hatte eine Weile gedauert. Dann war da noch Joey, der mir gerade seinen Text in Englisch abfotografiert hatte. Einige seiner Formulierungen muteten schon fast kriminell an. Ich versuchte auszubessern, ohne dabei den Verdacht der Lehrer zu erhärten, Joey hätte heimlich die Aufgabe von jemand anderem lösen lassen. (Frau Fujisa, unsere Englischlehrerin, hatte Joey vorgestern vor der Klasse gefragt, wer ihm denn helfen würde, weil sich sein Englisch bei den Hausaufgaben so deutlich verbessert hätte, in so kurzer Zeit) Gedankenverloren korrigierte ich einige Sätze, strich andere gänzlich heraus, als sich die Türe zu meinem Zimmer öffnete. Leise wurde sie wieder ins Schloss gedrückt. Stille. Ich sah von meinem Handy auf und versuchte um die Ecke zu spähen, welche den Blick auf die Tür unmöglich machte.
 

„Ist da wer?“ Weiterhin Stille. Ich war doch nicht komplett übergeschnappt. Es war bereits zehn Uhr abends, die Besuchszeit vorbei und das Licht in meinem Zimmer aus. Eine Schwester hätte sich gemeldet, oder zumindest das Licht angemacht. Nervös tastete ich nach dem Lichtschalter neben meinem Bett und drückte den Knopf. Die Leselampe an meinem Beistelltisch tauchte den Raum in ein unsympathisches Halbdunkel. Aus dem Schatten trat tatsächlich jemand hervor. Hoch gewachsen und gertenschlank. Die eisblauen Augen musterten mich von oben herab, wortwörtlich, während die Gestalt langsam auf mich zukam. Seto Kaiba trug einen kunstvollen, strahlend weißen Übermantel, ein schwarzes Shirt, enge, schwarze Hosen und hohe Stiefel, welche beinahe kein Geräusch machten. Seine Arme hatte der CEO vor der Brust verschränkt, als er an meinem Bett angekommen war. Der Blick war noch immer wie am Montag beim Duell: Herablassend und kalt. Andererseits hatte sich noch etwas Undefinierbares hinzugesellt. Ich sperrte mein Handy instinktiv und legte es auf meinen Bauch, während ich Kaiba fragend anstarrte. „Wie kommst du überhaupt hier her? Es ist nach zehn, und die Besuchszeit endet um sieben.“
 

Der Firmenchef schrägte den Kopf ein wenig und lächelte dann schmal: „Regeln sind dazu da, um zurechtgebogen zu werden.“ Interessanterweise hörte er sich dieses Mal fast schon ein wenig amüsiert an, wobei das ehrlich klang. „Ah ja? Was führt jemanden wie dich zu mir?“ Das schmale Lächeln auf Kaibas Zügen verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. „Die ganze Schule spricht über dich. Du hättest mir die Stirn geboten und nicht den Schwanz eingekniffen.“ Da war er wieder, dieser abfällige, widerliche Unterton. „Wir beide wissen natürlich, dass das alles nur Gerede ist. Du hattest Glück, egal was Muto und der Kindergarten dir einzutrichtern versuchen.“ Seine Haltung, seine Art wie er sich ausdrückte – ich war mir sicher, dass ein Seto Kaiba es gewohnt war, dass man ihm Folge leistete. „War das dein erstes Duell mit Hologrammen?“ Der Unterton war wieder verschwunden. Ich war zugegebenermaßen ein wenig verwirrt, versuchte aber, es mir nicht anmerken zu lassen. „Ja? Bei uns gibt es so etwas nicht. Wir legen die Karten normalerweise auf das Spielbrett und belassen es bei der Fantasie.“ Das entsprach auch der Wahrheit. Kaiba kommentierte meine Worte mit einem abfälligen Laut. „Mittelalterlich – ein Volk aus Ziegenhirten und Schweinezüchtern eben.“ Wie schnell konnte man eigentlich von einigermaßen erträglich, zu unsympathisch, und wieder zurückwechseln?
 

„Hat es dir gefallen?“ Ich nickte ein wenig und versuchte, seine bissigen Seitenhiebe auszublenden. „Du hast deinen Schwarzen Rotaugendrachen also das erste Mal so gesehen?“ Jetzt klang er wieder interessiert und fast schon sympathisch. „Ja“ war meine knappe Antwort. Was suchte der Kerl eigentlich um zehn Uhr abends hier? Hatte er nicht was Anderes zu tun, als mir seine Überlegenheit reinzudrücken? „Wie war es für dich?“ Ich wollte eigentlich bissig antworten, aber etwas in mir hielt mich davon ab. Stattdessen ließ ich mich zur Wahrheit hinreißen: „Das ist schwer in Worte zu fassen. Meine Lieblingskarte, das Herzstück meines Decks vor mir zu sehen, das war unglaublich. Als er die Flügel gespreizt hat, habe ich mich sicher gefühlt. Seine imposante Gestalt, dann der Laut, wenn er gebrüllt hat. Als er die Monster vernichtet hat, da war kurz das Gefühl von Überlegenheit, von Ruhe und Kraft in mir.“ Kaiba beobachtete mich genau, während ich sprach. Irgendetwas schien ihn brennend zu interessieren. Als er mich eine Weile lang schweigend angestarrt hatte, fuhr ich fort: „Natürlich war er mickrig neben deinem Weißen Drachen mit eiskaltem Blick, aber trotzdem, ich habe irgendwie an mein Rotauge geglaubt. Als er die Drachen-Klauen verpasst bekommen hat, fühlte ich mich plötzlich für einige Sekunden gleichauf mit dir, wie er es mit seinem großen Bruder war.“ Bei meinem letzten Satz zog Kaiba die Brauen in die Höhe. Ich rechnete schon mit einem saudummen Kommentar bezüglich „gleicher Augenhöhe“, wurde dann aber enttäuscht.
 

„Großer Bruder?“ Kaibas Finger trippelten auf seinen Oberarmen herum während er sprach. „Ja. Das mag albern klingen, aber ich glaube ein wenig daran, dass das Rotauge von deinem Weißen Drachen inspiriert wurde. Wie Geschwister. Der große Bruder passt auf den Kleinen auf, bis er voll ausgewachsen ist. Stellt er eine Bedrohung dar, bekämpfen sie sich. Am Ende raufen sich beide aber doch wieder zusammen und stehen Seite an Seite, Rücken an Rücken, nur um dann ihre Kraft zu bündeln.“ Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Kaiba dachte sowieso, ich wäre ein Vollidiot, was machte es da schon, wenn ich ihm meine Gedankengänge offenlegte? Vielleicht würde er dann bald wieder abhauen? „Ist der Schwarze Rotaugendrache das stärkste Monster in deinem Deck?“ Kaibas Blick wanderte zu meinem Kartenstapel am Beistelltisch. „Nein.“ Welches das war, würde ich Kaiba nicht auf die Nase binden. Wortlos, und bevor ich protestieren konnte, griff Kaiba nach meinem Deck und fächerte es auf. „Interessant. Du besitzt einige wirklich seltene Karten. Der Schwarze Rotaugendrache, der Beauftragte der Dämonen…“ Kaiba ging murmelnd mein gesamtes Deck durch. „Aus der Ecke lacht mich ein Schwarzer Magier an.“ Der CEO schrägte den Kopf ein wenig. „Der wirkt aber anders, als der von Muto.“
 

Ich lugte über den Kartenrand und betrachtete die spiegelverkehrte Variante meiner Karte. Das Cover zierte ein Schwarzer Magier mit verschränkten Armen. In der linken Hand hielt er einen grünen Zauberstab, in dessen Fassung eine grünliche Kugel schimmerte. Seine rote Rüstung verdeckte den Großteil seines Körpers, mit Ausnahme der gebräunten Hände, der pupillenlos wirkenden Augen und der weißen Haare, welche sein Gesicht umrandeten. „Mh, das ist wohl eine Sonderedition gewesen.“ Kaiba nickte leicht und schob das Deck wieder zusammen: „Der Rest deiner Karten besteht aber nur aus Müll. Deine Monster sind mies, deine Fallenkarten dürftig und deine Zauberkarten ebenso. Kein Wunder dass du verloren hast.“ In mir stieg ein wenig die Wut hoch. Was wollte der Typ eigentlich? Mich noch mehr beleidigen, als ohnehin schon? „Nur auf ein paar Monster zu hoffen, ist ein gefährliches Glücksspiel, Kleiner.“ Ich musste dem Drang wiederstehen, aufzuspringen und Kaiba ordentlich durchzuschütteln. „Ach ja? Und was ist mit den legendären Weißen Drachen? Deinem Markenzeichen? Dreht sich deine Taktik nicht nur um diese drei Karten?“ Kaiba kommentierte meine Frage mit einem knappen „Nein“, ehe er die Karten zurücklegte. „Ich bin ein Duellant ohne Makel, ohne Fehler und ohne Schwächen. Ich kann auch ohne meine geliebten Weißen Drachen auskommen.“
 

Etwas an seiner Formulierung machte mich stutzig. Mir fiel auf, dass ich ähnlich über meinen Schwarzen Rotaugendrachen dachte. „Jedenfalls ist unser Duell in der örtlichen Presse gelandet. Nicht dass mich das interessieren würde, aber Mokuba hat es mitbekommen.“ Mokuba war der Kleinere der Kaibabrüder, das wusste ich. „Er möchte dich kennenlernen. Außerdem hat Wheeler ihm wohl von dir erzählt und dich angehimmelt.“ Der CEO verdrehte seine Augen ein wenig: „Du hättest mir getrotzt. Vollkommener Schwachsinn, aber Kinder sind leicht zu beeinflussen. Du wirst Mittwoch entlassen?“ Woher wusste er das schon wieder? Ich konnte mir kaum vorstellen, dass einer meiner Freunde Kaiba meinen Entlassungstermin gesteckt hatte. „Ja?“ Mein Blick verfinsterte sich ein wenig. Der Typ meinte auch, er könnte einfach alles und jeden herumschubsen. „In Ordnung. Du wirst um drei Uhr abgeholt. Der Fahrer wird dein Gepäck holen, und dich dann zu uns bringen. Mokuba bleibt in der Regel bis zehn wach. Spiel mit ihm ein wenig und dann wird man dich nach Hause bringen.“
 

Ich schüttelte kurz ungläubig den Kopf. Um drei am Mittwoch würde ich wohin fahren? „Ähm, ich mache was?“ Kaiba zog die Augenbrauen ein wenig nach oben, so als ob ich eine sehr dumme Frage gestellt hätte. „Du wirst dich mit meinem Bruder beschäftigen. Wenn du es gut anstellst, und er dich mag, und es nicht nur eine Laune von ihm ist, hast du gute Chancen, dass du dir dein schmähliches Taschengeld aufbessern kannst.“ Damit drehte sich Kaiba um und verließ, ohne weitere Worte, mein Zimmer. Fassungslos ließ ich mich in das Kissen sinken. Ich musste träumen. Mein vibrierendes Handy, und ein verzweifelter Joey, welcher dringend die Korrektur für morgen brauchte, bestätigten mir, dass dem nicht so war.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese Ausführung des Schwarzen Magiers ist jene, welche Arkana bzw. Pandora in den Folgen 60 - 62 von Staffel 2 gegen Yugi verwendet hat. Komplett anzeigen

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