Brothers von Karma ================================================================================ Kapitel 1: Die Eröffnung ------------------------ "Seto, Mokuba, kommt ihr mal bitte ins Wohnzimmer? Ich muss mit euch sprechen." Die Stimme ihres Vaters riss die beiden ungleichen Kaibabrüder – den achtzehnjährigen Seto und den fünfzehnjährigen Mokuba – aus ihrer Beschäftigung. Der Ältere der beiden ließ das Mathebuch seines jüngeren Bruders sinken und strich sich eine Strähne seines braunen Haars aus dem Gesicht, bevor er antwortete. "Wir kommen sofort, Vater", rief er dann, klappte das Buch zusammen und legte es beiseite. "Den Rest erkläre ich dir dann später, Mokuba", wandte er sich an den schwarzhaarigen Jungen, der auf seinem Schreibtischstuhl saß und gerade dabei war, sein Heft zuzuklappen und seinen Bleistift zur Seite zu legen. Mokuba nickte. "Ist gut, Seto", gab er zurück, sprang von dem Stuhl auf und rannte nach unten ins Wohnzimmer zu seinem Vater. Seto seufzte und folgte seinem jüngeren Bruder etwas langsamer. Unten angekommen sah er einen Vater, den er bereits um beinahe zwei Zentimeter überragte, abwartend an. Gozaburo Kaiba, seines Zeichens CEO der Kaiba Corporation, zwirbelte die Enden seines Schnurrbarts und Seto hob eine seiner fein geschwungenen Brauen. Er kannte seinen Vater lange genug um zu wissen, dass er diese Eigenart nur an den Tag legte, wenn er nervös war. "Setz dich bitte, Seto", wurde der Achtzehnjährige gebeten. Etwas skeptisch leistete er der Aufforderung seines Vaters Folge und nahm neben seinem jüngeren Bruder auf der Couch Platz. Mokuba hatte sich im Schneidersitz auf der Hälfte der Sitzfläche ausgebreitet und zerdrückte vor lauter Spannung eines der Couchkissen zwischen seinen Händen. "Was ist denn los, Vater?", platzte er heraus und Gozaburo atmete tief durch, bevor er sich in einen der Sessel gegenüber der Couch sinken ließ. Mehrere Minuten lang schwieg er und betrachtete seine beiden Söhne abwechselnd. Mokuba wurde unter den Blicken seines Vaters immer hibbeliger und aufgeregter. Seto hingegen lehnte sich zurück, schlug seine Beine übereinander und sah seinen Vater ruhig und abwartend an. Was auch immer er zu sagen hatte, würde er ihnen schon mitteilen. "Wie ihr beide ja wisst, bin ich seit dem Tod eurer Mutter vor elf Jahren alleine gewesen", brach Gozaburo letztendlich das Schweigen und wartete das Nicken der beiden Jungen ab, bevor er weitersprach. "Nun, vor ungefähr sechs Monaten habe ich eine sehr nette Frau kennengelernt und ... Nun ja, ich … habe mich verliebt", fuhr er fort. Sein Jüngster hielt den Atem an und seine blauen Augen wurden groß. "Du willst uns also sagen, dass du beabsichtigst, wieder zu heiraten. Das ist es doch, oder, Vater?", fragte Seto nach und der Kopf seines Bruders ruckte zu dem Älteren herum. "Wirklich, Nii-san?", wollte er wissen und blickte dann wieder zu seinem Vater. "Ist das wahr, Vater?", hakte er nach und Gozaburo nickte. "Ja, es stimmt. Ich habe Yukiko gebeten, meine Frau zu werden, und sie hat zugestimmt", antwortete er und hob die Hand, bevor Seto oder Mokuba etwas dazu sagen konnten. "Ich weiß, dass Yukiko nicht eure Mutter ist. Sie wird auch nicht versuchen, sie zu ersetzen oder zu verdrängen. Dennoch hoffe ich, dass ihr beide ihr eine Chance gebt und sie erst einmal kennen lernt, bevor ihr sie ablehnt", fügte er hinzu und sah genau in die blauen Augen seines ältesten Sohnes. Seto strich sich eine braune Strähne aus dem Gesicht und senkte den Blick. Er schwieg einen Augenblick lang und atmete tief durch, bevor er seinen Vater wieder ansah. "Selbstverständlich, Vater. Wann werden wir sie kennen lernen?", erkundigte er sich höflich und neutral. Ihm war nicht wirklich anzusehen, was er von den Neuigkeiten hielt. Dennoch atmete Gozaburo unwillkürlich auf. Er wusste, dass es seinem Ältesten nicht leicht fallen würde, sich an den Gedanken einer neuen Frau im Leben seines Vaters – und somit einer Stiefmutter für Mokuba und sich – zu gewöhnen, denn er hatte seine leibliche Mutter sehr geliebt. Gerade deshalb rechnete er ihm die Tatsache, dass er sich dazu durchgerungen hatte, sich kein voreiliges Urteil zu bilden, sondern Yukiko erst einmal kennen zu lernen, hoch an. Gozaburo lag viel an der Meinung seines Sohnes und er wusste genau, dass er – sollte Seto Yukiko wirklich vollends ablehnen – auf eine Heirat verzichten würde, denn das Glück seiner Söhne war ihm wichtiger als sein eigenes. Seto schloss die Augen und bemühte sich, weiterhin ruhig zu atmen und sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die Ankündigung seines Vaters getroffen hatte. Seit dem Tod seiner Mutter war kein Tag vergangen, an dem er nicht an sie gedacht hatte. Unzählige Male hatte er die alten Fotoalben herausgekramt und Mokuba von ihr erzählt, damit weder er noch sein kleiner Bruder die Frau, die sie beide geboren hatte, jemals vergaßen. Da Mokuba erst vier Jahre alt gewesen war, als sie gestorben war, kannte er seine Mutter fast nur aus den Erzählungen seines Vaters und seines älteren Bruders, aber Seto selbst erinnerte sich auch nach all den Jahren noch sehr gut an ihr Gesicht, ihr Lächeln, ihren Duft und die Wärme ihrer Hände, wenn sie ihm abends im Bett über die Haare gestreichelt hatte. Einerseits kam ihm die Eröffnung seines Vaters, dass er sich in eine andere Frau verliebt hatte und diese sogar heiraten wollte, daher wie ein Verrat an seiner über alles geliebten Mutter vor. Andererseits jedoch konnte ein Teil von ihm auch verstehen, dass sein Vater auch nur ein Mensch war, der sich nach Liebe sehnte – nach einer Art von Liebe, die ihm seine Söhne nicht geben konnten. Ich werde ihr eine Chance geben – so, wie Vater es sich wünscht, nahm der Seto sich vor, öffnete die Augen wieder und rang sich ein kaum wahrnehmbares Lächeln ab, von dem sein Vater genau wusste, wie viel Überwindung es ihn gekostet haben musste. "Danke, Seto", murmelte Gozaburo und sein Sohn nickte leicht. Mokuba hatte seinen Vater und seinen Bruder aufmerksam beobachtet. Ihm war weder die Anspannung seines Vaters noch dessen Erleichterung über Setos Reaktion entgangen. Der Fünfzehnjährige, der unbewusst den Atem angehalten hatte, stieß diesen geräuschvoll aus und griff im Schutz des Couchkissens nach der Hand seines Bruders, umschloss sie und drückte die eiskalten Finger kurz, bevor er seinen Vater wieder ansah. "Wann treffen wir sie denn nun, Vater?", wollte auch er wissen und Gozaburo lächelte leicht, als er das vor Eifer und Aufregung gerötete Gesicht seines Jüngsten sah. Er war froh darüber, dass sich Mokuba über die Aussicht, eine neue Mutter zu bekommen, so sehr freute. Wie oft hatte die Begeisterung des kleinen Wirbelwinds für eine Sache seinen älteren Bruder schlussendlich überzeugt und mitgerissen? Einen Moment lang hatte Gozaburo befürchtet, Mokuba würde sich Setos Skepsis anschließen, doch ganz offenbar tat er das nicht. Im Gegenteil, er wirkte regelrecht aufgekratzt und zappelte unruhig auf der Couch herum. Dennoch entging ihm keineswegs, dass der Junge die Hand seines Bruders hielt und sie beruhigend streichelte. "Ich würde sie euch gerne morgen Abend beim Abendessen vorstellen. Ich habe bereits einen Tisch für fünf Personen reserviert", beantwortete Gozaburo die Frage seiner Söhne und Mokuba wedelte aufgeregt mit dem Couchkissen, dass er immer noch festhielt. "Das ist ja klasse!", freute er sich und bemerkte in seinem Überschwang nicht, dass sich die langen, schlanken Finger seines Bruders bei diesen Worten etwas fester um seine Hand schlossen. "Für fünf Personen, Vater?", hakte Seto nach und Gozaburo nickte. "Ja. Yukiko hat selbst auch einen Sohn. Ihr werdet also noch einen Bruder bekommen", erklärte er und Seto hob eine Braue, während Mokubas Augen zu leuchten begannen. "Einen Bruder? Ist er jünger oder älter?", wollte er aufgeregt wissen und Gozaburo lächelte erneut. "Nun, jünger als Seto und älter als du. Ryuuji ist siebzehn, soweit ich weiß", gab er zurück und Mokuba zog einen Flunsch. "Das ist gemein. Dann bleibe ich ja der Jüngste. Ich hatte gehofft, ich kriege vielleicht einen kleinen Bruder", murrte er und Seto wuschelte ihm durch die langen schwarzen Haare. "Sei nicht beleidigt. Man kann eben nicht immer alles haben, was man will, otouto. Und jetzt komm, deine Hausaufgaben warten", murmelte er, stand auf und sah seinen Vater an. "Wo und wann treffen wir uns morgen?", fragte er, denn er war ziemlich sicher, dass der CEO gleich vom Büro aus zum Restaurant fahren würde. "Ich werde um sechs Uhr zu Hause sein und gemeinsam mit euch zum Restaurant fahren. Wir treffen Yukiko und Ryuuji dort", antwortete Gozaburo und die blauen Augen seines ältesten Sohnes weiteten sich überrascht. "Du kommst vorher nach Hause, Vater?", hakte er nach und der Angesprochene nickte. "Das ist toll, Vater!", freute sich Mokuba, packte die Hand seines Bruders und zog ihn hinter sich her. "Komm, Nii-san, du musst mir die Aufgaben noch erklären. Ich muss das bis morgen früh verstanden haben!", drängte er und der Ältere gab sich geschlagen. "In Ordnung, Mokuba. Aber deshalb musst du mir keinesfalls den Arm ausreißen", tadelte er, doch der Fünfzehnjährige reagierte erwartungsgemäß nicht darauf, sondern zerrte im Gegenteil noch stärker an ihm. "Komm endlich, Seto!", quengelte er dabei und ließ seinen Bruder erst los, als sie in dessen Zimmer ankamen. Dort ließ er sich wieder auf den Schreibtischstuhl plumpsen, kramte seinen Bleistift heraus und schlug sein Heft auf. Seto zog sich einen zweiten Stuhl heran, klappte das Mathebuch wieder auf und nahm seine Aufgabe, seinem kleinen Bruder die Formeln zu erklären, genau dort auf, wo er sie zuvor unterbrochen hatte. "Jetzt habe ich es verstanden", verkündete Mokuba knappe zwei Stunden später, stand auf, gähnte und streckte sich. Dann begann er, seine Sachen zusammenzupacken. "Danke und gute Nacht, Nii-san", murmelte er und gähnte erneut. Seto erhob sich ebenfalls und wuschelte dem Jüngeren noch einmal durch die Haare. "Gern geschehen. Vergiss es nur nicht wieder, otouto. Und ich wünsche dir auch eine gute Nacht", erwiderte er, sah zu, wie Mokuba in sein Zimmer hinüber ging, und schloss dann die Tür. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit gönnte sich der Seto an diesem Abend jedoch keine Stunde mehr, um den Tag mit seiner Lieblingsmusik ausklingen zu lassen, sondern zog sich gleich aus, schlüpfte in seinen Pyjama und löschte das Licht. Seufzend kroch er unter seine Bettdecke, rollte sich auf den Rücken und starrte mit unter dem Kopf verschränkten Armen nachdenklich an die Zimmerdecke. An Schlaf war nach der Eröffnung, die sein Vater im Wohnzimmer gemacht hatte, nicht zu denken. Eine Stiefmutter und ein Stiefbruder, sinnierte Seto und schloss abgrundtief seufzend die Augen. Sicher, er hatte versprochen, der neuen Liebe seines Vaters eine Chance zu geben – und er war ein Mensch, der immer zu seinem gegebenen Wort stand –, aber er hatte dennoch ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Ich bin nur aufgeregt, das ist alles, versuchte er, sich selbst zu beruhigen, aber so ganz gelang ihm das nicht. Er konnte die Ahnung, dass etwas auf ihn zukam, das er lieber vermeiden wollte, einfach nicht abschütteln. Mokuba hatte, nachdem er in sein Zimmer gegangen war, schnell seine Schulsachen für den nächsten Tag zusammengepackt und war dann in sein Badezimmer hinübergegangen. Während sein Bruder in seinem Zimmer bereits im Bett lag, putzte der Fünfzehnjährige seine Zähne und zog seinen Pyjama an. Dann schlüpfte er ebenfalls unter seine Decke und kuschelte sich in seine Kissen. Eine neue Mutter und ein neuer Bruder, dachte er und zog sich die Bettdecke bis zum Kinn – nur um sich gleich darauf wieder frei zu strampeln, denn zum Schlafen war er viel zu aufgeregt. Wie die beiden wohl sind? Hoffentlich sind sie nett. Und hoffentlich mag Seto sie. Ich hätte gerne eine Mutter – so wie fast alle in meiner Klasse. Mokuba schämte sich für diesen Gedankengang, doch er konnte nichts dagegen tun. Sicher, er hatte eine Mutter gehabt, aber im Gegensatz zu seinem Bruder konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie es war, von ihr ins Bett gebracht zu werden oder sich von ihr umsorgen zu lassen, wenn er krank war. So lange er denken konnte, hatte das entweder Seto, sein Vater oder Isono, ihr ›Mädchen für Alles‹, erledigt. Wie es sich wohl anfühlte, einen Gutenachtkuss von einer Frau zu bekommen? Vielleicht tut sie das ja, wenn sie und Vater erst verheiratet sind und ich sie darum bitte. Hoffentlich ist Seto mir deswegen dann nicht böse. Mit diesem Gedanken, einem abgrundtiefen Seufzen und nur noch halb zugedeckt schlief Mokuba eine gute Stunde später schließlich doch endlich ein. Seto hingegen lag immer noch wach. Er war unruhig, hellwach und hätte am liebsten einen Spaziergang gemacht, um seine Gedanken zu ordnen, doch ein Blick auf die Leuchtanzeige seines Weckers sagte ihm, dass es inzwischen schon nach elf Uhr war und sein Vater das auf keinen Fall mehr erlauben würde. Da er jedoch nicht liegen bleiben konnte, stand er auf und ging in das gegenüberliegende Zimmer, um nach seinem Bruder zu sehen. Mokuba lag ausgestreckt auf dem Rücken, seine Bettdecke war halb vom Bett gerutscht und er schnarchte leise. Unhörbar seufzend hob Seto die Decke auf und legte sie über den Fünfzehnjährigen. Eine Weile blieb er reglos neben dem Bett stehen, dann strich er dem Schlafenden einmal kurz durch die Haare, verließ das Zimmer wieder und schloss die Tür leise hinter sich. "Kannst du nicht schlafen, Seto?", erklang die Stimme seines Vaters in seinem Rücken und der Brünette zuckte erschrocken zusammen. "Nein, Vater", antwortete er wahrheitsgemäß und drehte sich um, um seinen Gesprächspartner anzusehen. Gozaburo betrachtete seinen Ältesten und seufzte. "Ich weiß, dass das gerade für dich besonders schwer ist, Seto, aber bitte versuch, mich zu verstehen", bat er und sein Ältester nickte. "Das tue ich, Vater", versicherte er und unterdrückte mühsam den Impuls, sich an Mokubas Zimmertür zu lehnen. "Es ist nur ... Ich brauche etwas Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sich in unserer Familie etwas ändert", setzte er hinzu und sein Vater nickte verstehend. "Das weiß ich doch. Ich erwarte ja auch nicht von dir, dass du Yukiko mit offenen Armen empfängst. Ich wünsche mir nur, dass du sie kennen lernst. Sie wird deine Mutter niemals ersetzen können. Ayane war meine erste Liebe und die Mutter meiner Söhne. Nichts und niemand kann das ändern. Und das will Yukiko auch nicht. Sie ist selbst Mutter und weiß, was das bedeutet. Ich habe ihr viel von euch erzählt und sie ist schon sehr gespannt darauf, euch kennen zu lernen." Während des Gesprächs hatte Gozaburo Seto wieder ins Wohnzimmer gelotst und sich dort mit ihm auf die Couch gesetzt. Der Achtzehnjährige zog ein Bein an, faltete seine Hände in seinem Schoß und sah seinen Vater an. Dieser lächelte innerlich, denn so locker und ungezwungen gab sich sein Ältester sonst nur äußerst selten. Der frühe Tod seiner Mutter hatte den Jungen, der damals erst sieben Jahre alt gewesen war, tief getroffen. Er hatte sich in sich selbst zurückgezogen und es sich zur Aufgabe gemacht, sich um seinen kleinen Bruder zu kümmern – eine Tatsache, die ihn früher hatte reifen lassen als andere Kinder. Im Gegensatz zu den meisten Gleichaltrigen, die sich herumtrieben, ihren Eltern Sorgen bereiteten und nichts anderes als Parties, Spaß und Mädchen im Kopf hatten, war Seto ein sehr ernsthafter junger Mann, der nur selten einmal ausging – meistens nur dann, wenn sein bester Freund Yami vorher mindestens eine Woche auf ihn eingeredet hatte und ihn förmlich mitschleifte. "Was ist mit ihrem Sohn? Ryuuji, oder?" Mit diesen Worten riss Seto seinen Vater aus seinen Grübeleien. Gozaburo wandte seinem Sohn wieder seine volle Aufmerksamkeit zu. Die blauen Augen – die gleichen Augen, die auch Ayane gehabt hatte und die sie ihren beiden Söhnen vererbt hatte – des Achtzehnjährigen waren abwartend auf seinen Vater gerichtet und dieser lehnte sich etwas zurück. "Ich kenne ihn auch noch nicht persönlich, sondern nur von Fotos oder aus Yukikos Erzählungen. Du musst wissen, Yukiko und Ryuujis Vater, ein Amerikaner, sind bereits seit Jahren geschieden, sind aber übereingekommen, sich das Sorgerecht für ihren Sohn zu teilen. Deshalb verbringt der Junge die eine Hälfte des Jahres bei seiner Mutter in Japan und die andere Hälfte in Amerika bei seinem Vater", erklärte er und seufzte. "Yukikos Worten nach ist Ryuuji ein sehr offener, fröhlicher Junge. Sein Verhalten wird dir möglicherweise hin und wieder etwas seltsam vorkommen – immerhin hat fast er sein halbes Leben in den Vereinigten Staaten verbracht –, aber ich bin sicher, Mokuba und du werdet euch daran gewöhnen. Außerdem werdet ihr nicht sehr viel mit ihm zu tun haben, da er ja nicht die ganze Zeit in Japan bei uns leben wird." Seto lehnte sich ebenfalls an die Rückenlehne der Couch und ließ sich die Worte seines Vaters durch den Kopf gehen. Vielleicht würde die ganze Sache doch nicht so schlimm werden. Er würde sich schon irgendwie mit dem neuen Teil seiner Familie arrangieren. Sein Vater hatte es schließlich verdient, glücklich zu werden. Und falls er wider Erwarten doch nicht mit seiner Stiefmutter und seinem Stiefbruder zurechtkommen sollte, wäre das auch nicht weiter schlimm. Immerhin waren es für ihn nur noch sechs Monate bis zu seinem Oberschulabschluss. Danach sollte es kein Problem sein, in ein Studentenwohnheim zu ziehen, falls das nötig sein sollte. Warum mache ich mir eigentlich jetzt schon Gedanken darüber, was alles schief gehen könnte? Noch kenne ich die beiden doch nicht einmal. Seufzend schüttelte Seto über sich selbst den Kopf, ging aber nicht weiter auf den fragenden Gesichtsausdruck ein, mit dem sein Vater ihn für diese Aktion bedachte. Stattdessen warf er einen Blick auf die Wanduhr, die gegenüber der Couch hing, und stand dann auf. "Es ist schon spät. Ich sollte langsam schlafen gehen. Gute Nacht, Vater." Gozaburo erhob sich ebenfalls. "Gute Nacht, Seto. Schlaf gut", wünschte er seinem ältesten Sohn und dieser nickte ihm noch einmal zu, bevor er das Wohnzimmer verließ, um ins Bett zu gehen. Immerhin war es inzwischen schon beinahe Mitternacht und in ein paar Stunden musste er schon wieder aufstehen. Gozaburo sah Seto einen Augenblick lang nach, als dieser die Treppe nach oben ging, dann löschte er das Licht im Wohnzimmer und machte sich auf den Weg in sein eigenes Schlafzimmer, denn auch er hatte einen langen Tag vor sich. Kapitel 2: Ein ganz normaler Tag -------------------------------- Um sechs Uhr am nächsten Morgen wurde Seto vom Piepsen seines Weckers aus seinen Träumen gerissen. Etwas verschlafen streckte er sich und ging hinüber in sein Badezimmer, um zu duschen. Dann zog er seine Schuluniform an und klopfte pünktlich um halb sieben an der Zimmertür seines Bruders. "Aufstehen, Mokuba!", rief er laut genug, dass der Fünfzehnjährige ihn gehört haben musste, öffnete aber dennoch die Tür und betrat den dahinter liegenden Raum, ohne eine Antwort abzuwarten. Wie jeden Morgen hatte Mokuba sich auch heute die Decke über den Kopf gezogen, so dass nur noch ein paar schwarze Strähnen darunter hervorlugten. "Komm schon, otouto, steh auf. Wir kommen sonst noch zu spät zur Schule." Als auch diese freundliche Aufforderung keinerlei Wirkung zeigte, schlich sich ein Grinsen auf das Gesicht des Brünetten. Er trat an das Fußende des Bettes, packte die Bettdecke seines Bruders und zog sie ihm mit einem Ruck weg. "Steh auf, du Schlafmütze." Derart rüde aus dem Schlaf gerissen – oder vielmehr beim Versuch, weiterzuschlafen, gestört –, warf Mokuba seinem Bruder einen ärgerlichen Blick zu, den dieser jedoch gekonnt ignorierte. Immerhin lief das Weckritual bei ihnen jeden Morgen auf die gleiche Weise ab, denn der Fünfzehnjährige war ein ziemlicher Langschläfer, wenn es möglich war, und ansonsten ein ausgeprägter Morgenmuffel. "Lass mich in Ruhe, Seto!", maulte er seinen älteren Bruder auch gleich wenig freundlich an, doch das beeindruckte Seto keineswegs. Ungerührt ging er hinüber in Mokubas Badezimmer und kam kurz darauf mit einem nassen Waschlappen wieder. Derart ›bewaffnet‹ stellte er sich neben das Bett des Jüngeren und schwenkte sein Mitbringsel so, dass sein kleiner Bruder von einigen kalten Wassertropfen im Gesicht getroffen wurde. "Wenn du jetzt nicht freiwillig aufstehst, dann helfe ich nach, Mokuba", drohte Seto und sein Bruder gab sich murrend geschlagen. "Ich mach ja schon", grummelte er, hievte sich ächzend aus dem Bett und warf dem Größeren noch ein Kissen und ein '"Brutalo!" an den Kopf, bevor er maulend im Badezimmer verschwand. Über Setos Lippen huschte ein kurzes Grinsen, ehe er das Kissen zurück auf das Bett und den Waschlappen auf den Nachttisch seines Bruders legte. Dann verließ dessen Zimmer, um schon mal nach unten zum Frühstück zu gehen. Wie üblich war sein Vater bereits außer Haus, so dass er im Esszimmer nur von Isono, dem persönlichen Assistenten seines Vaters und ›Mädchen für Alles‹ der Familie Kaiba bereits erwartet wurde. "Guten Morgen, Seto-san", begrüßte dieser den älteren Sohn seines Chefs, erntete jedoch – wie jeden Morgen – nur ein stummes Nicken, bevor der Achtzehnjährige Platz nahm. Keine fünfzehn Minuten später erschien auch Mokuba – frisch geduscht, hellwach und bestens gelaunt – im Esszimmer. "Guten Morgen, Seto. Guten Morgen, Isono-san", grüßte er fröhlich in die Runde, ließ sich auf seinen Platz fallen und wartete noch das obligatorische "Guten Morgen, Mokuba-san" von Isono ab, bevor er sich über sein Frühstück hermachte. "Du, Nii-san ...", wandte er sich nach ein paar Minuten kauend an seinen Bruder und ignorierte geflissentlich die missbilligende Miene des Angesprochenen, "... was meinst du, wie Yukiko so ist? Und ihr Sohn? Bist du auch schon so gespannt auf heute Abend wie ich?" Der Fünfzehnjährige rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum, was ihm einen weiteren tadelnden Blick seitens Seto einbrachte. "Das werden wir schon früh genug erfahren, Mokuba. Und jetzt benimm dich bitte.", rügte dieser und Mokuba nickte. "Ja, natürlich. Entschuldige, Nii-san", murmelte er, beendete sein Frühstück gesittet und verließ dann zusammen mit seinem Bruder das Haus. Gemeinsam stiegen die beiden in die wartende Limousine und ließen sich von Isono zur Schule fahren. Seto lehnte sich in den bequemen Polstern zurück und wollte gedanklich gerade das Referat, das er in der dritten Stunde zu halten hatte, noch einmal durchgehen, als Mokuba am Ärmel seiner Schuluniformjacke zupfte und so seine Aufmerksamkeit auf sich zog. "Nii-san? Nii-san, was meinst du, wie es wird, wenn wir noch einen Bruder bekommen? Und eine Mutter? Weißt du, ich kann mich fast nicht mehr daran erinnern, wie unsere Mutter war. Meinst du, Yukiko ist nett? Das wäre schön. Ich hätte gerne eine richtige Mutter – so, wie die anderen in meiner Klasse", plapperte er drauflos und Seto hatte Mühe, nicht genervt aufzuseufzen. Er wollte bis zum Abend möglichst nicht mehr an das bevorstehende Treffen denken. Musste sein Bruder ihn also unbedingt daran erinnern? Und musste er so neugierig sein? Sah Mokuba denn nicht, dass er nicht darüber nachdenken – geschweige denn darüber reden – wollte? Bevor Seto jedoch dazu kam, seinen Bruder zurechtzuweisen, hielt der Wagen und kurz darauf öffnete Isono die Tür. "Wir sind da. Einen schönen Tag wünsche ich, Mokuba-san", sagte er und der Fünfzehnjährige griff nach seiner Schultasche. "Wir reden später weiter, Seto. Bis nachher. Und viel Spaß!", verabschiedete er sich von seinem Bruder. Der Brünette nickte nur und sah dem Jüngeren nach, der aufgeregt auf seine besten Freunde Yuugi und Ryou zurannte. Erst als der Schwarzhaarige bei den beiden angekommen war, gab Seto Isono das Zeichen, zu seiner Schule weiterzufahren. Zehn Minuten später, nachdem auch er mit einem "Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Seto-san" verabschiedet worden war, betrat der Brünette den Schulhof seiner Schule und ließ sich dort auf einer abseits stehenden Bank nieder, wo ihn niemand stören würde. Er schloss die Augen, legte den Kopf zurück und genoss die frühmorgendlichen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Gerade, als er sein Referat noch einmal rekapitulierte, stellte sich ihm urplötzlich jemand genau in die Sonne. Das war eigentlich eine absolute Todsünde und etwas, das nur zwei Personengruppen – Lebensmüde und Yami, ein Klassenkamerad und gleichzeitig Setos bester Freund – wagten, denn mit Seto war am Morgen vor der Schule nicht gut Kirschen essen. "Guten Morgen, Seto", grüßte der Störenfried fröhlich und damit war klar, dass es niemand Lebensmüdes war, sondern Yami. Der Angesprochene brummte nur und öffnete eins seiner Augen, um den Sprecher anzusehen. Schwarze Haare mit violetten Spitzen und einigen blonden Strähnen – eine mehr als ungewöhnliche Frisur, die er mit seinem kleinen Bruder Yuugi gemeinsam hatte – umrahmten ein fein geschnittenes Gesicht und obwohl es derzeit im Schatten lag, hatte der Brünette das Gefühl, die violetten Augen des vor ihm Stehenden ebenso deutlich sehen zu können wie sein Lächeln. "Du störst, Yami", beschwerte Seto sich, doch sein bester Freund ignorierte diese Aussage. Immerhin kannte er Seto lange genug um zu wissen, dass diese Unfreundlichkeit eine allmorgendliche Eigenart von ihm war und nichts, was er persönlich nehmen musste. "Hast du Dein Referat fertig?", erkundigte er sich stattdessen und ließ sich neben dem Brünetten auf die Bank fallen. Der Angesprochene nickte nur und seufzte abgrundtief. Yami beobachtete ihn einen Moment lang und wartete, ob er vielleicht von selbst eine Erklärung für die seltsame Stimmung bekam. Als das jedoch nicht der Fall war, tippte er seinen besten Freund an. "Was ist los, Seto?", erkundigte er sich neugierig und der Angesprochene seufzte erneut, bevor er seinen Freund ansah. "Mein Vater will wieder heiraten. Heute Abend sollen wir sie treffen. Mokuba freut sich schon und ist ganz aufgeregt, aber ich ..." "Du weißt nicht, ob dir das gefällt.", beendete Yami seinen Satz und Seto nickte stumm. Yami legte nachdenklich die Stirn in Falten und schwieg eine Weile. Er kannte Seto seit Jahren und wusste, wie sehr dieser an seiner Mutter gehangen hatte. Verständlich, dass ihm der Gedanke an eine neue Frau an der Seite seines Vaters nicht besonders zusagte. "Du musst sie ja nicht gleich ›Mutter‹ nennen, wenn du nicht willst. Warte ab, wie sich der Abend entwickelt, und entscheide dann, wie es weitergeht", riet er dem Brünetten nach kurzem Grübeln und Seto nickte. "Das habe ich vor. Ich habe es Vater versprochen", murmelte er, stand auf und wartete, bis sein Freund es ihm gleichgetan hatte. Dann machte er sich gemeinsam mit Yami auf den Weg zu ihrem Klassenzimmer. Dabei verdrängte er alle Gedanken an das bevorstehende Treffen am Abend in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. Jetzt wollte er einfach nur den Schultag hinter sich bringen und nicht daran denken, was später sein würde. Dafür hatte er nach der Schule noch genug Zeit. oOo "Soll ich euch mal was ganz Tolles erzählen?", fragte Mokuba seine Freunde Yuugi und Ryou, kaum dass er den Schulhof betreten hatte. Er zappelte aufgeregt herum und die beiden hatten Mühe, ihn zumindest so weit zu beruhigen, dass er sich wenigstens vernünftig artikulieren konnte. "Mein Vater will heiraten! Seto und ich kriegen eine neue Mutter!", platzte es aus dem Schwarzhaarigen heraus und Yuugi, der beinahe die gleiche Frisur hatte wie sein älterer Bruder Yami, strahlte Mokuba an. "Das ist ja toll!", freute er sich und der Angesprochene nickte mit hektisch geröteten Wangen. "Finde ich auch. Vater will sie uns heute Abend vorstellen. Sie heißt Yukiko und hat einen Sohn. Ich glaube, er heißt Ryuuji, wenn ich mich nicht irre – ich hab nicht so genau zugehört. Ist ja auch egal. Ich bekomme jedenfalls noch einen Bruder. Zwar einen älteren – Vater hat gesagt, er sei siebzehn oder so –, aber egal. Das wird bestimmt super!", hibbelte er. Ryou strich sich eine weiße Strähne hinter sein linkes Ohr und legte nachdenklich den Kopf schief. "Und was hält dein Bruder davon?", wollte er wissen. Sein schwarzhaariger Freund stellte seine Zappelei ein und sein Gesicht wurde ernst. "Ich weiß nicht. Ich glaube, er ist nicht ganz so begeistert davon, aber er gewöhnt sich bestimmt daran. Und dann findet er es bestimmt auch gut, wieder eine Mutter zu haben. Ich freue mich jedenfalls schon darauf. Sie ist bestimmt nett", mutmaßte er und hakte sich bei seinen Freunden ein, als es zum Unterricht klingelte. "Wenn du meinst, Mokuba", murmelte Ryou, aber der Ausdruck seiner braunen Augen blieb skeptisch. Ebenso wie Yuugi kannte er den Dickkopf von Mokubas Bruder, doch er war augenscheinlich der Einzige, der Komplikationen befürchtete, denn seine beiden Freunde planten bereits, was sie nach der Hochzeit alles mit dem ›neuen‹ Bruder des Schwarzhaarigen unternehmen wollten. Na, hoffentlich gibt das kein böses Erwachen für Mokuba, dachte Ryou. Er sagte jedoch nichts dazu, denn er wollte Mokuba seine Freude keinesfalls verderben. Immerhin wusste er genau, wie sehr und wie lange sein schwarzhaariger Freund sich schon eine Mutter wünschte. oOo Seto brachte den Schultag hinter sich, ohne allzu viel zu grübeln. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit beteiligte er sich für seine Verhältnisse mehr als rege am Unterricht – etwas, das er eigentlich nicht nötig hatte, aber am heutigen Tag war ihm jede Ablenkung recht. Auf keinen Fall wollte er zu viel über das nachdenken, was am Abend auf ihn zukam. Yami, der dieses Verhalten durchaus verstand – auch wenn er es nicht unbedingt guthieß, denn Verdrängung war seiner Meinung nach keine Lösung –, unterstützte seinen besten Freund, indem er ihn immer sofort in ein Gespräch verwickelte, wenn Seto den Anschein erweckte, in seine Gedanken abzudriften. Der Brünette sagte zwar nichts dazu, doch Yami wusste, dass er dankbar für diese Intervention war. Wer mit Seto befreundet sein wollte, musste sehr gut darin sein, zwischen den Zeilen zu lesen, denn Seto war einfach kein Freund vieler Worte. oOo Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte Mokuba den ganzen Tag über kein anderes Thema als das bevorstehende Treffen am Abend. Er plante und plapperte wie ein Wasserfall, malte sich zukünftige Familienausflüge in den schillerndsten Farben aus und war so euphorisch, dass ihm nicht einmal ein Überraschungstest in Englisch, auf den er in keinster Weise vorbereitet war, die Laune verderben konnte. In der zweiten Pause schließlich hatte er nicht nur Yuugi, sondern auch Ryou mit seiner guten Laune so weit angesteckt, dass sie zu dritt überlegten, was Mokuba mit seiner neuen, erweiterten Familie unbedingt unternehmen musste. Die letzten beiden Stunden verbrachten die Drei statt mit der Gruppenarbeit, die ihr Japanischlehrer Hayate-sensei ihnen gestellt hatte, damit, eine Liste von Orten zu machen, die die bald fünfköpfige Familie Kaiba definitiv gemeinsam besuchen sollte. Mehrmals entgingen sie nur ganz knapp der Entdeckung durch ihren Lehrer, doch auch das konnte den Enthusiasmus der drei Fünfzehnjährigen nicht stoppen. Noch immer bestens gelaunt verabschiedete sich Mokuba nach dem Ende des Unterrichts von seinen Freunden, rannte zu der wartenden Limousine und riss die Tür auf, um seinem Bruder die Liste zu zeigen. Zu seiner Enttäuschung saß Seto jedoch nicht im Wagen. "Wo ist mein Bruder?", wandte sich der Junge an Isono und dieser rückte die dunkle Brille, die er immer trug und ohne die Mokuba ihn gar nicht kannte, zurecht. "Ihr Bruder ist noch mit Muto-kun unterwegs. Er bat mich, Ihnen auszurichten, dass es später wird. Er hat mir allerdings zugesichert, dass er auf jeden Fall rechtzeitig zu Hause sein wird", antwortete er dann und der Schwarzhaarige seufzte. "Dann zeige ich ihm die Liste eben später oder morgen", murmelte er, faltete das Papier zusammen und schob es in seine Hosentasche. Dann stieg er in die Limousine, um sich von Isono nach Hause fahren zu lassen. Immerhin hatte er für den Abend ja noch eine Menge zu tun. oOo Seto war unterdessen gemeinsam mit Yami zu diesem nach Hause gegangen, denn er wollte auf keinen Fall jetzt alleine in seinem Zimmer sitzen oder sich gar Mokubas freudige Erwartung antun. Dafür war er nach wie vor nicht in der Stimmung. Sicher, ein Teil von ihm verstand seinen kleinen Bruder sehr gut, aber trotzdem sperrte sich etwas in ihm dagegen, sich der Begeisterung des Jungen vorbehaltlos anzuschließen. Das seltsame Gefühl, dass er am vorigen Abend gehabt hatte, ließ ihn einfach nicht los. "Jetzt lass dich doch nicht so runterziehen, Seto. So kenne ich dich ja gar nicht." Yami, der seinen besten Freund bereits seit geschlagenen zehn Minuten beobachtete, legte seinen Stift zur Seite – die beiden saßen im Zimmer des Bunthaarigen und beschäftigten sich mit ihren Hausaufgaben – und seufzte. "Wenn du so negativ an die ganze Sache herangehst, wird auf jeden Fall etwas schief gehen. Niemand erwartet von dir, dass du dich darauf freust wie ein kleines Kind auf den nächsten Geburtstag, aber du solltest dich wenigstens bemühen, das Ganze neutral und gelassen zu betrachten. Komm schon, Seto. Sonst schaffst du es doch auch, Abstand zu Dingen zu halten, die du nicht an dich heranlassen willst." Der Angesprochene schlug sein Buch zu, lehnte sich zurück und schloss seine blauen Augen. "Ich weiß doch selbst nicht, was mit mir los ist. So etwas hatte ich noch nie. Es ist wie eine böse Vorahnung, Yami", murmelte er und seufzte abgrundtief. Eigentlich war er ganz und gar nicht der Typ Mensch, der an so etwas glaubte. Er war noch nie abergläubisch gewesen, aber dieses Mal … Entschlossen schüttelte Seto den Kopf. Er würde sich nicht verrückt machen und fertig. "Aber Du hast Recht. Ich mache mir wahrscheinlich wirklich unnötige Sorgen. Außerdem kann ich notfalls in spätestens sechs Monaten ausziehen, wenn ich mein Studium beginne", fügte er hinzu und sein bester Freund nickte. "Das sage ich doch. Und jetzt lass uns das hier noch eben fertigmachen, ja?", gab er zurück und widmete sich wieder den Hausaufgaben. Seto seufzte erneut und tat es seinem Freund dann gleich, denn er hatte seinem Bruder schließlich von Isono-san ausrichten lassen, dass er pünktlich zu Hause sein würde. oOo Während Seto und Yami sich gemeinsam mit ihren Hausaufgaben beschäftigten, tigerte Mokuba unruhig durch die Villa. Er hatte versucht, sich auf seine eigenen Hausaufgaben zu konzentrieren, aber das war ihm nicht gelungen. Gegessen hatte er auch noch nichts, denn er bekam vor lauter Nervosität keinen Bissen herunter. Stattdessen lief er bereits seit geschlagenen zwei Stunden durch die Flure, erschreckte versehentlich das Personal zu Tode und trieb den armen Isono mit seinen ständigen Fragen – "Wo bleibt Seto denn?", "Wie spät ist es?", "Müsste Vater nicht bald kommen?", "Warum ist Seto denn immer noch nicht hier?" – beinahe in den Wahnsinn. Um halb fünf schließlich fiel dem Fünfzehnjährigen siedend heiß ein, dass er noch nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte, was er am Abend anziehen sollte, also stürmte er an einem völlig verschreckten Hausmädchen vorbei nach oben, riss seinen Kleiderschrank auf und war die nächste halbe Stunde vollauf damit beschäftigt, sein Zimmer bei der Suche nach passender Kleidung in ein Schlachtfeld zu verwandeln. oOo Als Seto um kurz nach fünf die Villa betrat – er hatte darauf verzichtet, Isono anzurufen, denn er hatte lieber einen Spaziergang machen wollen, um seine Gedanken zu ordnen – und zu seinem Zimmer gehen wollte, erwartete ihn im Raum gegenüber totales Chaos und ein verzweifelter Mokuba, dem die Erleichterung über die Rückkehr seines Bruders mehr als deutlich anzusehen war. "Seto!" Sofort, als er seinen Bruder sah, stürzte der Schwarzhaarige auf ihn zu, packte sein Handgelenk und zerrte ihn hinter sich her. "Du muss mir unbedingt helfen! Was soll ich bloß anziehen? Ich will doch unbedingt einen guten Eindruck machen!", flehte er. Der Brünette seufzte abgrundtief und schüttelte den Kopf, als er den riesigen Haufen Kleidung und den fast leeren Kleiderschrank des Jüngeren sah. "Haben in deinem Zimmer irgendwelche Kampfhandlungen stattgefunden, von denen ich wissen sollte? Es sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen", kommentierte er die Unordnung, doch Mokuba winkte ab. "Ist doch jetzt egal. Hilf mir lieber, Nii-san. Was soll ich denn nun anziehen?", quengelte er und warf seinem Bruder seinen besten Bettelblick zu. Seto gab sich seufzend geschlagen. "Also gut", murmelte er und machte sich daran, gemeinsam mit dem Jungen nach einem passenden Outfit für den Abend zu suchen. Kapitel 3: Das erste Treffen ---------------------------- Eine Dreiviertelstunde und mehrere Beinahe-Nervenzusammenbrüche später hatten die beiden Brüder endlich etwas gefunden, das Mokubas Ansprüchen genügte. Er hatte sich für eine blaue Jeans und ein weißes Hemd entschieden – nicht zu leger, aber auch nicht allzu spießig. "So. Nachdem das jetzt geklärt ist, werde ich mich auch umziehen, wenn du gestattest, otouto.", murmelte Seto und stand vom Bett seines Bruders, auf dem er bis gerade gesessen hatte, auf. Der Fünfzehnjährige, der sich einen Augenblick zuvor noch höchst zufrieden in seinem großen Spiegel betrachtet hatte, nickte und legte dann den Kopf schief. "Tu das, Nii-san. Aber sag mal, meinst du nicht, das schwarze Shirt wäre vielleicht doch ...", setzte er an, doch der Größere unterbrach ihn, bevor er seinen Satz beenden konnte. "Mokuba, wenn du mich jetzt noch ein einziges Mal fragst, ob du nicht vielleicht doch lieber etwas Anderes anziehen sollst, hole ich eine von Vaters Krawatten und erwürge dich eigenhändig damit, das schwöre ich dir!", drohte er. Der Jüngere schluckte und erbleichte sichtlich. Dieser Tonfall seines Bruders verhieß nichts Gutes. "Äh ... schon gut, Nii-san. Das war nur ein Scherz. Das Hemd ist völlig in Ordnung", versicherte er hastig und der inzwischen nervlich reichlich angeschlagene Brünette nickte. "Geht doch", sagte er, ließ Mokuba in seinem Chaos stehen und ging hinüber in sein eigenes Zimmer, um sich selbst ebenfalls umzuziehen. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich in sein Bett zu verkriechen und sich krank zu stellen, um dem Treffen zu entgehen. Bevor er diese Option jedoch allzu ernsthaft in Erwägung ziehen konnte, fiel ihm sein Versprechen vom Vortag wieder ein. Ich habe Vater zugesagt, dass ich ihr eine Chance gebe, erinnerte er sich und seufzte abgrundtief. Drücken konnte er sich also definitiv nicht, denn das ließen sein Gewissen und sein Ehrgefühl einfach nicht zu. Reiß Dich zusammen, Seto. Es ist nur ein Abendessen, nichts weiter, versuchte er, sich selbst zu beruhigen, aber das ungute Gefühl wollte einfach nicht vollständig weichen. Über sich selbst den Kopf schüttelnd ging Seto zu seinem Kleiderschrank und warf einen Blick hinein. Nach kurzem Überlegen entschied er sich für eine schwarze Hose und ein dunkelblaues Rollkragenshirt. Zufrieden mit seiner Wahl – die Kleidung war für den Anlass durchaus angemessen; er würde weder over- noch underdressed wirken – zog er sich um und machte sich wieder auf den Weg zum Zimmer seines Bruders. Als er die Tür öffnete, war Mokuba gerade damit beschäftigt, ein weißes T-Shirt über einen schwarzen Longsleeve zu ziehen. Seto lehnte sich an den Türrahmen, verschränkte die Arme vor seiner Brust und hob eine Braue. "Was tust Du da, otouto?", fragte er vielleicht eine Spur zu ruhig und der Fünfzehnjährige zuckte erschrocken zusammen. "Ich ... äh ... ach, weißt du, Seto ... na ja, das war so ... ich dachte einfach ...", stammelte er und der Ältere massierte sich die Nasenwurzel – ein sicheres Indiz dafür, dass er nicht erfreut war von dem, was er sah. Bevor er allerdings dazu kam, seinem kleinen Bruder seine Meinung zu sagen, wurde die Haustür geöffnet und die Stimme ihres Vaters, der offenbar mit Isono sprach, unterbrach den aufkommenden Streit der beiden Brüder, noch bevor er wirklich beginnen konnte. Mokuba, der wohl in seinem ganzen Leben noch nie so froh über die Heimkehr seines Vaters gewesen war, quetschte sich blitzschnell an seinem großen Bruder vorbei und rannte nach unten. Seto blickte ihm nach und war sich nicht sicher, ob er verärgert oder belustigt sein sollte. Schlussendlich entschied er sich für nichts von beidem, sondern folgte dem Schwarzhaarigen einfach nur nach unten, um seinen Vater ebenfalls zu begrüßen – deutlich gesitteter als sein Bruder. Gozaburo sah irritiert zwischen seinem Jüngsten, der sich schutzsuchend hinter seinem Rücken versteckte, und Seto, der gerade die Treppe herunterkam, hin und her. "Was ist hier los?", fragte er, denn die gereizte Stimmung seines Ältesten war beinahe greifbar. "Seto will mich umbringen!", quietschte Mokuba aus seinem Versteck heraus und der Beschuldigte schnaubte. "Völlig zu Recht. Noch einmal mache ich das nicht mit, Mokuba", grollte er. "Und jetzt solltest du nach oben gehen und deine Kleidung wieder ordentlich in deinen Schrank packen, meinst du nicht auch? Immerhin hast du dieses Chaos selbst veranstaltet." Der Fünfzehnjährige zog einen Flunsch, beschloss aber nach einem Blick auf seinen Bruder, dessen Aufforderung besser so schnell wie möglich Folge zu leisten. Er flitzte die Treppen hoch, rannte in sein Zimmer und machte sich dort entgegen seiner sonstigen Gewohnheit widerspruchslos daran, aufzuräumen. "Was ist denn passiert?", erkundigte sich Gozaburo bei seinem Ältesten, während er sein Jackett aufhängte und Isono seinen Aktenkoffer übergab, damit dieser ihn in sein Arbeitszimmer brachte. "Mokuba konnte sich nicht entscheiden, was er anziehen sollte", antwortete der Achtzehnjährige knapp und sein Vater begann, herzhaft zu lachen. "Ganz wie Ayane. Sie hat mich auch immer stundenlang in den Wahnsinn getrieben." Seto sah seinen Vater an und ein schmales Lächeln schlich sich auf seine Lippen. "Ich erinnere mich noch, dass Mutter in einem Jahr an Weihnachten nicht mit uns ausgehen wollte, weil sie ihrer Meinung nach nichts anzuziehen hatte", sagte er und Gozaburo nickte. "Daran erinnere ich mich auch noch sehr gut. Erst deine Idee, Mokuba zu nehmen und vorzutäuschen, wir würden ohne sie gehen, brachte sie schließlich dazu, doch noch mitzukommen", murmelte er und lächelte ebenfalls bei der Erinnerung an diesen Tag. "Das war unser letztes Weihnachtsfest mit Mutter", flüsterte Seto kaum hörbar und sein Vater legte ihm tröstend eine Hand auf den Arm. "Ich weiß. Und glaub mir, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke und sie vermisse. Ich werde sie, auch wenn ich jetzt Yukiko habe, niemals vergessen. Immerhin hat sie mir zwei wunderbare Söhne geschenkt, auf die ich sehr stolz bin." Bei diesen Worten seines Vaters huschte ein kurzes Grinsen über das Gesicht des Brünetten. "Wirst du etwa sentimental, Vater? So kenne ich dich ja gar nicht.", spöttelte er und Gozaburo zwinkerte ihm zu. "Vielleicht? Und warum auch nicht? Außerdem ist es wahr, was ich gesagt habe. Ich bin sehr stolz auf euch beide", erwiderte er und genoss das sekundenlange freudige Aufblitzen in den blauen Augen seines Sohnes, das ihm zeigte, dass diesem seine Worte – allen Spötteleien zum Trotz – doch etwas bedeuteten. "So, ich bin fertig, Nii-san. Alles aufgeräumt. Fahren wir dann jetzt, Vater?", platzte Mokuba, der inzwischen wieder heruntergekommen war, in das Gespräch der beiden und hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere. Gozaburo wuschelte dem Jungen durch die Haare und nickte. "Wir fahren gleich. Gib mir noch zehn Minuten, Mokuba", antwortete er und der Schwarzhaarige warf einen Blick auf seine Armbanduhr. "Okay. Aber sei pünktlich. Wenn wir zu spät kommen, macht das einen sehr schlechten Eindruck, Vater", mahnte er und der Angesprochene schüttelte den Kopf und ging schmunzelnd in sein Schlafzimmer, um sich ebenfalls umzuziehen. "Bist du mir noch böse wegen vorhin, Nii-san?", wandte sich Mokuba kleinlaut an seinen Bruder, als er mit ihm alleine im Flur stand. Der Brünette seufzte abgrundtief und schüttelte dann den Kopf. "Nein, bin ich nicht, Mokuba", murmelte er und lehnte sich an das Treppengeländer. Der Fünfzehnjährige lehnte sich ihm gegenüber an die Wand und legte nachdenklich den Kopf schief. "Bist du denn böse auf mich, weil ich mich auf heute Abend freue? Weil ich ... weil ich mir eine neue Mutter wünsche?", wollte er wissen, kaute auf seiner Unterlippe herum und wagte nicht, seinen Bruder anzusehen. Seto schwieg eine Weile, bevor er langsam den Kopf schüttelte. "Nein, otouto." Wie hätte er Mokuba auch dafür böse sein können, dass dieser sich wünschte, was für die meisten seiner Altersgenossen vollkommen normal und selbstverständlich war? "Ich verstehe dich ja. Es ist nur nicht so einfach für mich. Du erinnerst dich zwar nicht mehr an sie, aber ich schon. Das ist unangenehm, verstehst du?", fragte er zurück und Mokuba nickte nach kurzem Überlegen. "Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Aber sieh mal, Yukiko will Mutter doch nicht ersetzen. Das hat Vater doch auch gesagt", argumentierte er und nun war es an Seto zu nicken. "Ich weiß. Trotzdem ist diese Situation unschön. Aber ich habe Vater versprochen, sie kennenzulernen, und ich stehe zu meinem Wort." Bei diesen Worten seines Bruders begann Mokuba zu grinsen. "Weiß ich doch, Nii-san", antwortete er und tippte nachdenklich mit seinem rechten Zeigefinger gegen seine Nase. "Was meinst Du, wie ihr Sohn so ist? Glaubst du, er ist nett?", wollte er wissen und der Achtzehnjährige deutete ein Achselzucken an. "Ich weiß es genauso wenig wie du, otouto. Du wirst wohl oder übel warten müssen, bis wir ihn kennen lernen", gab er zurück und der Fünfzehnjährige zog einen Flunsch. "Ich weiß, aber ich bin doch so gespannt!", schmollte er und sein Bruder wuschelte ihm lächelnd durch die Haare. Er hatte zwar immer noch ein seltsames Gefühl, aber die Begeisterung des Fünfzehnjährigen war in gewisser Weise ansteckend. "So, ihr Zwei, ich bin fertig." Gozaburo, gekleidet in einen überaus eleganten dunkelgrauen Nadelstreifenanzug, trat zu seinen Söhnen und nickte ihnen aufmunternd zu. Sofort begannen Mokubas blaue Augen zu leuchten und er fasste seinen Bruder und seinen Vater an der Hand, um sie zur Haustür zu ziehen. "Dann los. Beeilen wir uns. Man lässt eine Dame schließlich nicht warten", belehrte er die beiden so altklug, dass Gozaburo schmunzelte. "Man könnte meinen, wir wären auf dem Weg zu einem Omiai und Dein Bruder wäre der Kuppler", wandte er sich an seinen Ältesten und Seto nickte. "Allerdings.", pflichtete er seinem Vater bei und für einen Sekundenbruchteil huschte ein Grinsen über sein Gesicht. "Kommt schon, ihr Zwei. Sonst seid ihr doch auch nicht so langsam", drängte Mokuba, ohne auf das Amüsement seines Vaters und seines Bruders zu achten, und riss die Tür der Limousine auf, bevor Isono dazu kam, sie wie üblich für seinen Arbeitgeber und dessen Söhne zu öffnen. "Alles einsteigen!", kommandierte der Fünfzehnjährige und wartete ungeduldig, bis Vater und Bruder seiner Aufforderung Folge geleistet hatten. Dann stieg er selbst auch ein und rutschte auf die Bank den beiden gegenüber. Isono schloss die Tür, stieg auf der Fahrerseite ein und startete den Wagen. Mokuba rutschte unruhig auf der Bank hin und her. Er war so aufgeregt, dass er einfach nicht still sitzen bleiben konnte – bis Seto ihn darauf hinwies, dass sein Gezappel seine Kleidung verknitterte, was wiederum einen schlechten Eindruck machen würde. Diese Aussage entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber sie erfüllte ihren Zweck, denn der Schwarzhaarige blieb den Rest der Fahrt ruhig sitzen. Gozaburos Blicke wanderten zwischen seinen Söhnen hin und her. Wie meistens benahmen sich die beiden auch jetzt vollkommen gegensätzlich. Sein Jüngster war sichtbar aufgeregt – obwohl er mit der Zappelei aufgehört hatte, waren seine Wangen gerötet und in seinen Augen leuchteten Neugier und Vorfreude –, sein Ältester hingegen war ruhig und gelassen, beinahe schon kühl. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und blickte scheinbar desinteressiert aus dem Fenster der Limousine. Einzig seine defensiv vor der Brust verschränkten Arme zeigten, dass er innerlich nicht so ruhig war, wie er zu sein vorgab. Seto beobachtete seinen Bruder aus dem Augenwinkel, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete. Es war bereits dunkel draußen – nicht verwunderlich, immerhin war es schon halb sieben durch – und so war nicht viel zu erkennen, doch das war ihm egal. Innerlich seufzend versuchte er, sich mental auf das bevorstehende Treffen vorzubereiten. Und obwohl er es sich nicht eingestehen wollte, war er inzwischen – dank Mokubas permanenter Neugier – doch selbst auch ein wenig gespannt auf die zukünftige Frau seines Vaters und auch auf ihren Sohn. Vater sagte gestern Abend, sie war mit einem Amerikaner verheiratet. Ihr Sohn ist also ebenfalls zur Hälfte Amerikaner, rekapitulierte er gedanklich, was er am Vortag erfahren hatte. Ich werde schon mit ihnen zurechtkommen, nahm er sich vor und schreckte aus seiner Versunkenheit auf, als Mokuba ihn antippte. "Kommst du, Nii-san? Wir sind da.", informierte der Fünfzehnjährige ihn und Seto nickte. Er stieg aus dem Wagen und folgte seinem Vater und seinem Bruder in das Restaurant. Die Familie Kaiba war hier wie überall in der Stadt wohlbekannt und so wurden die Drei auch gleich ausgesucht höflich begrüßt und zu dem Tisch geführt, den Gozaburo hatte reservieren lassen. Mokuba setzte sich auf den Stuhl zwischen seinem Bruder und seinem Vater und warf einen verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr. Noch zwanzig Minuten, seufzte er innerlich und bemühte sich, nicht allzu offensichtlich herumzuzappeln, doch das gelang ihm mehr schlecht als recht. Seto schüttelte innerlich den Kopf über die Aufregung des Jüngeren. Sicher, das heutige Treffen würde ihr gesamtes zukünftiges Leben verändern, aber mit seiner Zappelei erreichte Mokuba doch nichts – außer die Nerven seines ohnehin schon angespannten Bruders noch mehr zu strapazieren. "Mokuba, würdest Du bitte wenigstens so tun, als ob Du so etwas wie Manieren kennen würdest?", zischte der Achtzehnjährige den Schwarzhaarigen nach fünf Minuten des Herumzappelns an und der Angesprochene fuhr aufgrund des scharfen Tonfalls erschrocken zusammen. "Ja, natürlich. Entschuldige, Seto", murmelte er und senkte betreten den Kopf. Es gab kaum etwas, das er mehr hasste, als wenn sein großer Bruder böse auf ihn war. "Mokuba hat es sicher nicht absichtlich getan", stellte sich Gozaburo auf die Seite seines Jüngsten und dieser nickte zaghaft. "Genau. Ich wollte dich nicht ärgern, Nii-san. Es tut mir wirklich leid", entschuldigte sich der Fünfzehnjährige noch einmal und Seto seufzte. "Schon gut, otouto. Aber bitte benimm Dich jetzt", mahnte er und Mokuba nickte erneut. "Selbstverständlich, Nii-san. Ich werde ...", fing er an, kam jedoch nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden, denn sein Vater erhob sich und verließ den Tisch. Die beiden Jungen folgten ihm mit ihren Blicken. Das muss sie sein, dachten sie beide beinahe zeitgleich, als sie sahen, wie ihr Vater einer hübschen, zierlichen schwarzhaarigen Frau aus dem Mantel half. "Sie sieht hübsch aus, findest Du nicht auch, Nii-san?", flüsterte Mokuba seinem Bruder zu. Dieser hob jedoch lediglich eine Braue, denn Yukiko – um niemand anderen konnte es sich der Begrüßung nach handeln – kam alleine. Sollten wir nicht auch ihren Sohn kennen lernen?, sinnierte Seto. Nun, vielleicht gab es einen triftigen Grund dafür, dass die Verlobte seines Vaters alleine kam. Ob ihr Sohn möglicherweise nicht mit der geplanten Heirat einverstanden war und dem Treffen deshalb fernblieb? Was es auch war, es ärgerte Seto. Er selbst war immerhin hier, obwohl er von der Aussicht auf eine Stiefmutter und einen Stiefbruder nicht sehr angetan war. Konnte Ryuuji da nicht wenigstens diesen einen Abend mit ihnen verbringen? Das gebot doch allein schon die Höflichkeit. Seto schnaubte leise, bemühte sich aber, sich seine stark gesunkene Laune nicht anmerken zu lassen. Immerhin war er hier, um die zukünftige Frau seines Vaters kennenzulernen. Yukiko war sicher nicht daran schuld, dass ihr Sohn es vorzog, nicht zu erscheinen. Mokuba starrte seine zukünftige Stiefmutter aus großen blauen Augen an, als sein Vater ihr seinen Arm bot und sie zu ihrem Tisch geleitete. Yukiko war wirklich mehr als hübsch. Ihre Haut war so weiß wie kostbares Porzellan, ihr tiefschwarzes Haar – das fast die gleiche Farbe hatte wie seines – hatte sie ordentlich hochgesteckt und ihr fein geschnittenes Gesicht mit einem Paar warmer dunkelbrauner Augen wirkte durch ihr Lächeln gleich noch hübscher. Sie trug ein elegantes rotes Kostüm, das hervorragend mit ihrem Teint und ihrem Haar harmonierte. Wow! So eine hübsche Mutter hat nicht jeder, dachte der Fünfzehnjährige und begann, über sein ganzes Gesicht zu strahlen. Das war seine zukünftige Mutter! Er war so in seine Betrachtung versunken, dass ihn erst ein dezentes Räuspern seines Bruders darauf aufmerksam machte, dass es die Höflichkeit gebot, aufzustehen, bis die Dame Platz genommen hatte. Eilig tat der Schwarzhaarige es Seto nach, erhob sich und verbeugte sich eine Spur hastiger als der Achtzehnjährige. "Otogi Yukiko, das sind meine Söhne Seto und Mokuba", stellte Gozaburo die Drei einander vor, nachdem er den Stuhl seiner Verlobten zurechtgerückt hatte und alle wieder Platz genommen hatten. "Freut mich, euch beide endlich kennenzulernen, Seto-kun, Mokuba-kun", sagte Yukiko und lächelte die beiden Jungen an. "Die Freude ist ganz auf unserer Seite, Otogi-san", erwiderte Seto ausgesucht höflich und Mokuba nickte heftig. "Mein Bruder hat Recht. Sie sind wirklich wunderschön, Otogi-san", pflichtete er dem Älteren bei und strahlte, als seine zukünftige Mutter errötete. "Danke für das Kompliment, Mokuba-kun. Aber bitte seid doch nicht so förmlich. Nennt mich Yukiko", bot sie an und das Strahlen des Fünfzehnjährigen nahm an Intensität noch zu. Gozaburo lächelte leicht. Scheinbar war die erste Hürde bereits genommen. Nun, nach der Aufregung seines Jüngsten hatte er auch nichts anderes erwartet, aber er war dennoch froh, dass wenigstens Mokuba Yukiko bereits auf den ersten Blick so offensichtlich ins Herz geschlossen hatte. Andererseits war von Anfang an nicht er das Problem, sondern Seto. Und dieser schien nach wie vor skeptisch zu sein. Seine ganze Haltung deutete, wenn man ihn gut genug kannte, darauf hin, dass er sich offensichtlich mit der Bildung eines Urteils noch zurückhielt. Seto warf der Verlobten seines Vaters einen forschenden Blick zu, von dem sie sich jedoch nicht abschrecken ließ. Im Gegenteil, sie erwiderte seinen Blick offen und mit einem freundlichen Lächeln, in dem der Brünette zwar eine Spur Anspannung, aber keinerlei Falschheit erkennen konnte. "Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen, Yukiko-san?", erkundigte er sich höflich und sie nickte. "Selbstverständlich, Seto-kun", erwiderte sie und sah ihn abwartend an. "Sollte Ihr Sohn heute Abend nicht auch hier sein?" Bei Setos Frage hielt Mokuba den Atem an. Stimmt ja! Wie hatte er nur vergessen können, dass er nicht nur einen neue Mutter, sondern auch noch einen Bruder bekommen sollte? Aber wo in aller Welt war dieser neue Bruder? Warum war er nicht hier? Kam er vielleicht erst später? Vielleicht hatte er ja erst noch etwas Wichtiges zu erledigen, bevor er herkommen und seine neue Familie kennenlernen konnte. "Nun ja, Ryuuji kann heute leider nicht kommen, denn er ist noch gar nicht in Japan. Die Maschine, mit der er fliegen sollte, wurde ersatzlos gestrichen und er wird erst übermorgen hier ankommen. Ich fürchte also, ihr werdet euch möglicherweise erst auf der Hochzeit kennen lernen", antwortete Yukiko ein wenig verlegen auf die Frage ihres zukünftigen Stiefsohnes. Ihr war keineswegs entgangen, dass Seto die Begeisterung seines jüngeren Bruders darüber, dass seine Familie sich in absehbarer Zeit vergrößern würde, nicht vorbehaltlos teilte. Seto nickte nur auf die Erklärung für das Fernbleiben seines künftigen Stiefbruders, doch Mokuba war die Enttäuschung über das soeben Gehörte mehr als deutlich anzusehen. "Och, schade. Ich hatte mich schon so auf ihn gefreut.", murmelte er und zog einen Flunsch. "Ryuuji wird dir nicht weglaufen, Mokuba", wandte sich Gozaburo an seinen Jüngsten und der nickte. "Du hast Recht, Vater. Aber schade ist es trotzdem", erwiderte er und wandte seine Aufmerksamkeit wieder seiner zukünftigen Mutter zu. Insgeheim beglückwünschte er seinen Vater zu seiner Wahl. Yukiko war wirklich eine schöne Frau und sie schien zudem noch sehr nett zu sein. Ausserdem behandelte sie ihn nicht wie ein kleines Kind, sondern nahm ihn und seine Fragen offenbar genauso ernst wie seinen Vater und seinen Bruder – eine Tatsache, die den Fünfzehnjährigen unheimlich stolz und glücklich machte. Seto wird sie ganz bestimmt auch mögen. Das wird sicher toll, wenn wir erst einmal alle eine Familie sind, dachte der Schwarzhaarige und warf seinem älteren Bruder einen verstohlenen Seitenblick zu. Es war offensichtlich, dass Seto noch nicht genau wusste, was er über Yukiko denken sollte, aber Mokuba war sich sicher, dass er ihn schon davon würde überzeugen können, sie zu mögen. Bevor er sich jedoch damit befasste, wollte er erst einmal so viel wie möglich über seine neue Mutter wissen. Also begann er damit, ihr Fragen über Fragen zu stellen. Seto hielt sich während des Gesprächs, das sein kleiner Bruder mit der Verlobten ihres Vaters führte, zurück. Er wollte sich kein vorschnelles Urteil erlauben, doch er konnte nicht umhin festzustellen, dass Yukiko ein angenehmes Wesen besaß. Sie war weder laut und aufdringlich noch still und verschüchtert, sondern plauderte ganz natürlich mit Mokuba. Und dem Achtzehnjährigen entging keinesfalls das Leuchten in ihren Augen, wenn sie seinen Vater ansah – das gleiche Leuchten, das auch in den Augen seines Vaters lag, wann immer seine Blicke auf seiner zukünftigen Frau ruhten. Es war nicht zu übersehen, wie sehr die beiden einander mochten. Innerlich seufzend rang Seto sich ein kaum wahrnehmbares Lächeln ab. Zumindest scheinen die beiden glücklich miteinander zu sein. Und wie sagte Yami heute Morgen? Nichts verpflichtet mich dazu, sie gleich ›Mutter zu nennen, sinnierte er. Gozaburo warf seinem Ältesten während der ganzen Zeit, in der Yukiko Mokubas Fragen beantwortete, immer wieder verstohlene Seitenblicke zu. Er war erleichtert, dass Seto seiner Verlobten gegenüber offenbar nicht allzu negativ eingestellt war. Sicher, sie war nicht seine Mutter, doch das wollte er auch gar nicht. Nein, Yukiko war vom Wesen her völlig anders als Ayane, seine erste große Liebe. Ayane war fröhlich, temperamentvoll und begeisterungsfähig gewesen – Eigenschaften, die sie beinahe alle ihrem jüngsten Sohn vererbt hatte, denn Mokuba war ihr in vielen Dingen sehr ähnlich, auch wenn er das nicht wusste. Yukiko hingegen war zwar freundlich, aber kein solcher Wirbelwind wie Ayane. Sie war ruhig und besonnen; jemand, auf den man in jeder Situation vertrauen konnte und der einfach immer da war – Qualitäten, die sicher auch Seto so nach und nach an seiner Stiefmutter zu schätzen lernen würde. "Wollen wir bestellen?" Mit dieser Frage riss Seto seinen Vater aus seinen Grübeleien und Yukiko und Mokuba aus ihrem Gespräch. Der CEO nickte und die Vier beschäftigten sich in den nächsten Minuten mit der Auswahl der Speisen. Mokuba, der als Erster fertig war, legte die Speisekarte beiseite und tippte seinen Bruder so unauffällig wie möglich an. "Sie ist toll, findest du nicht?", fragte er flüsternd und mit leuchtenden Augen. Der Ältere nickte leicht, sagte aber nichts. Gozaburo winkte dem Kellner und gab die Bestellung für alle auf. "Wie ist Ryuuji denn so?", erkundigte sich Mokuba neugierig, während sie auf das Essen warteten. Yukiko wollte dem Fünfzehnjährigen gerade antworten, doch sie wurde unterbrochen, bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte. "Did I hear my name?" Beim Klang der fremden Stimme fuhren alle Köpfe am Tisch herum. Seto hob eine Braue, nachdem er den Sprecher kurz, aber gründlich gemustert hatte. Das war also Yukikos Sohn? Nun, zumindest sah man ihm gleich auf den ersten Blick an, dass er kein Japaner – jedenfalls kein ganzer – war, denn er war für den Anlass absolut unpassend gekleidet. Die enge schwarze Hose saß so tief auf der Hüfte, wie der Brünette es sonst nur von Mädchen kannte und unter seiner schwarzen Lederjacke, die er gerade auszog, trug er ein schwarz-weiß geringeltes Netzshirt mit langen Ärmeln. Und war das, was da um seinen Bauchnabel sichtbar wurde, als er sich streckte, etwa eine Tätowierung? War er nicht erst siebzehn? Na, das kann ja heiter werden, dachte Seto und bemühte sich, sich seine Gedankengänge nicht anmerken zu lassen. Seine Blicke wanderten weiter nach oben und er nahm sich einen Augenblick Zeit, um das Gesicht seines künftigen Stiefbruders zu mustern. Und was er da sah, ließ ihn auch noch die zweite Braue heben. Dieser Kerl ... schminkte sich? So unauffällig wie möglich sah Seto noch einmal genau hin. Tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht. Ryuuji, der das gleiche tiefschwarze Haar hatte wie seine Mutter – im Gegensatz zu ihr trug er es jedoch mehr als schulterlang und zudem offen –, hatte seine Augen – smaragdgrün, ganz offenbar das Erbe seines amerikanischen Vaters – mit schwarzem Kajal betont. Hoffentlich ist das nur ein schlechter Scherz, dachte der Brünette und zuckte kaum merklich zusammen, als sein kleiner Bruder seine eigene Meinung zu ihrem Stiefbruder nicht gerade leise kundtat. Mokuba hatte sich gemeinsam mit allen anderen am Tisch umgedreht, als er die fremde Stimme in seinem Rücken gehört hatte. Und als er das Outfit seines neuen Bruders – denn so viel Englisch verstand er, dass er sich zusammenreimen konnte, wer der Schwarzhaarige war – sah – schwarze Hose, ebensolche Lederjacke, schwarz-weiß geringeltes Netzshirt, das den Blick auf eine stilisierte Sonne, die um seinen Bauchnabel tätowiert war, freigab –, fiel ihm nur ein einziges Wort ein, dass dieses Aussehen treffend beschreiben konnte: "Cool!" Ryuuji warf dem Jüngsten am Tisch einen Blick zu und grinste ihn an, bevor er sich lässig auf den freien Stuhl setzte und die drei Kaibas der Reihe nach kurz musterte. "Ihr seid also die neue Familie, ja?", wandte er sich in akzentfreiem Japanisch – eine Tatsache, die Seto doch sehr erstaunte – an die Drei. Mokuba, der sich als Erster von allen wieder gefasst hatte – sowohl seinem Vater als auch seinem Bruder stand die Überraschung über Ryuujis Auftritt zumindest für ihn offensichtlich ins Gesicht geschrieben –, nickte heftig. "Ja. Das sind mein Vater Gozaburo und mein Bruder Seto. Ich bin Mokuba.", stellte er sie alle vor und der Blick des Siebzehnjährigen wanderte erst zu Gozaburo, bevor er an Seto hängen blieb. Der Achtzehnjährige fühlte sich unter dem intensiven, musternden Blick aus den grünen Katzenaugen mehr als unwohl, doch er gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. "Na hallo!", murmelte Ryuuji und sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter. "Benimm dich bitte, Ryuuji", mahnte seine Mutter und der Angesprochene nickte, ohne sie anzusehen. "Ich doch immer, Mum", erwiderte er, doch Seto hatte das Gefühl, dass diese Worte nicht im Geringsten so gemeint waren, wie sie klangen. Bevor er jedoch etwas dazu sagen konnte, schaltete sich sein Vater in das Gespräch ein. "Möchtest du auch etwas essen, Ryuuji-kun?", fragte er seinen zukünftigen Stiefsohn, doch dieser schüttelte den Kopf. "Nein, danke. Ich hab schon im Flieger gegessen", antwortete er und sah seine Mutter an. "Und bevor du fragst, Mum: Ich weiß, ich sollte erst in zwei Tagen hier landen, aber Dad hat umgebucht, damit ich das Familientreffen heute nicht verpasse. Ich bin vor ner Dreiviertelstunde gelandet und hab mir gleich vom Flughafen aus ein Taxi genommen. Du hattest mir ja gesagt, wo wir uns treffen wollten", erklärte er und beugte sich zur Seite, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben – eine Geste, die Seto mit einem kaum wahrnehmbaren Heben seiner Braue quittierte. Dieser Junge war eindeutig seltsam. "Hi erst mal, Mum. Alles fit?", erkundigte sich Ryuuji gerade und Seto warf seiner zukünftigen Stiefmutter einen kurzen Blick zu. Ganz offensichtlich war ihr der Auftritt ihres Sohnes mehr als nur ein bisschen unangenehm und der Brünette kam nicht umhin, sich zu fragen, ob sein zukünftiger Stiefbruder wohl immer so war wie im Augenblick. Wenn ja, dann hatten sie möglicherweise ein Problem. "Mir geht es gut. Wie geht es Deinem Vater?", erkundigte sich Yukiko und ihr Sohn grinste. "Wie sollte es ihm schon gehen? Blendend, wie immer. Schlechten Menschen geht's doch immer gut. Wohl ein Grund, warum's mir so gut geht", antwortete er mit einem Zwinkern in Mokubas Richtung. Der Fünfzehnjährige begann zu kichern und sein älterer Bruder hob eine Braue. Es war nicht zu übersehen, dass der Junge ganz begeistert von diesem Störenfried war, der ihr Stiefbruder werden sollte. Das konnte ja wirklich heiter werden. Mokuba konnte gar nicht so breit grinsen, wie er es gerne getan hätte. Er war sich jetzt schon absolut sicher, dass sein neuer Bruder und er eine Menge Spass miteinander haben würden, denn Ryuuji mochte ihn ganz offenbar auch auf Anhieb. Das wird sooo toll, freute sich der Fünfzehnjährige. Er konnte es kaum erwarten, Ryou und Yuugi am nächsten Tag in der Schule alles über den heutigen Abend, Yukiko und vor allem Ryuuji zu erzählen. Das war ja so aufregend! Seto sah das Ganze weniger positiv. Auch wenn sich Ryuuji den Rest des Abends benahm und sich zurückhielt, angenehm waren ihm die Seitenblicke, die er zwischendurch auffing, dennoch nicht wirklich. Seto fühlte sich auf unerklärliche Weise unwohl, wenn Ryuujis grüne Katzenaugen auf ihm ruhten. Für seinen Geschmack waren die Blicke eine Spur zu intensiv, um ihm zu gefallen. Zudem hatte er das unbestimmte Gefühl, dass Ryuuji das absichtlich tat – so, als wüsste er, dass es ihm unangenehm war, so gemustert zu werden. "Echt? Du bist auch nicht so gut in Mathe?", fragte Mokuba gerade und diese Worte lenkten die Aufmerksamkeit seines Bruders wieder auf das Gespräch zurück. Ryuuji schüttelte den Kopf. "Nicht wirklich. Ich hasse diesen ganzen Zahlenkram. Das ist todsterbenslangweilig", antwortete er und verdrehte die Augen. Die Wangen des Fünfzehnjährigen nahmen eine hektische rote Färbung an. "Das finde ich auch. Aber wenn Seto es mir erklärt, verstehe ich es nach einer Weile doch. Bestimmt kann er Dir auch helfen", sagte er und tippte seinen großen Bruder an. "Das kannst Du doch, oder, Nii-san? Immerhin seid ihr ja sowieso in der gleichen Klassenstufe", wandte er sich an den Älteren und dieser fand sich im nächsten Augenblick im Zentrum des Interesses eines grünen und eines blauen Augenpaares wieder. "Du bist also ein Mathegenie, ja?", hakte Ryuuji nach und ein leichtes Grinsen legte sich auf seine Lippen. "Na, vielleicht könntest Du mir ja wirklich Nachhilfe geben. Ginge das, Seto?", fragte er und der Angesprochene räusperte sich kurz. Bevor er jedoch antworten konnte, hatte Mokuba schon genickt. "Bestimmt", antwortete er im Brustton der Überzeugung für seinen Bruder und sah diesen dann mit seinem besten Bettelblick an. "Oder, Nii-san?" Seto sah den Jungen kurz an und gab sich dann mit einem innerlichen Seufzen geschlagen. Diesem Augenaufschlag hatte er einfach nichts entgegenzusetzen. "Ich denke, das wird sich einrichten lassen", erwiderte er und sein kleiner Bruder strahlte ihn an, während Ryuuji sich schmunzelnd zurücklehnte. Die nächsten sechs Monate versprachen sehr, sehr unterhaltsam zu werden. Zumindest mit seinen beiden zukünftigen Stiefbrüdern würde er sicher eine Menge Spaß haben. Kapitel 4: Streitigkeiten ------------------------- "Dein Vater ist Pilot bei der Air Force?" Mokuba staunte seinen zukünftigen Stiefbruder mit offenem Mund an. Ryuuji nippte an seiner Cola und nickte dann. "Ja, ist er. Ab nächsten Monat ist er wieder im Einsatz", antwortete er und strich sich ein paar seiner schwarzen Strähnen hinter sein rechtes Ohr, so dass der Blick auf seinen Hals frei wurde. "Dann hat er bestimmt nicht besonders viel Zeit für Dich, oder?", bohrte der Fünfzehnjährige nach und sein künftiger Stiefbruder nickte erneut. "Stimmt, er ist viel unterwegs. Aber das macht nichts. Erstens bin ich's ja so gewöhnt und zweitens bin ich auch kein kleines Kind mehr. Ich brauche niemanden, an dessen Rockzipfel ich ständig hängen muss. Ich kann inzwischen ganz gut auf mich selbst aufpassen", gab er zurück und grinste den Jungen an. Seto beobachtete das Gespräch der beiden Jüngeren mit gemischten Gefühlen. Er war sich nicht sicher, was er von Yukikos Sohn halten sollte. Sie selbst wurde ihm im Laufe des Abends immer sympathischer – er hatte sich tatsächlich dazu durchgerungen, sich mit ihr zu unterhalten, und dabei erstaunt feststellen müssen, dass sie durchaus über einen klugen Kopf verfügte –, aber was Ryuuji betraf, fiel sein Urteil weit weniger positiv aus. Auch wenn der Siebzehnjährige sich mit Mokuba auf Anhieb scheinbar blendend verstand – Seto weigerte sich, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass ihn vielleicht gerade diese Tatsache gegen seinen zukünftigen Stiefbruder einnahm –, so war er selbst doch meilenweit davon entfernt, bezüglich Ryuuji ebenso enthusiastisch zu sein wie sein kleiner Bruder. Mokuba lauschte den Erzählungen seines neuen Bruders mehr als interessiert. Er klebte förmlich an Ryuujis Lippen. Zu Beginn des Abends hatte er noch versucht, Seto in ihr Gespräch mit einzubinden, doch nachdem dieser offenbar kein Interesse daran gehabt hatte – er hatte sich lieber mit Yukiko und ihrem Vater unterhalten –, hatte er es irgendwann aufgegeben. Stattdessen fragte er Ryuuji jetzt alleine Löcher in den Bauch – was diesen jedoch nicht im Geringsten zu stören schien, denn er beantwortete alle Fragen ausführlich und machte auch nicht den Eindruck, als wäre ihm die Neugier seine Person betreffend in irgendeiner Form unangenehm. Sobald die Vier ihre Mahlzeit beendet hatten, ließ Gozaburo sich die Rechnung bringen, beglich sie und stand auf, um den Mantel seiner Verlobten zu holen. "Wir bringen euch noch nach Hause", entschied er und Yukiko lächelte dankbar. "Das ist wirklich nett von euch, Gozaburo", erwiderte sie und auch Ryuuji nickte. "Allerdings. Vielen Dank, Gozaburo-san", sagte er höflich und deutete eine leichte Verbeugung an, bevor er seine Jacke wieder überzog. Gemeinsam verließen die Fünf das Restaurant und der Siebzehnjährige staunte nicht schlecht, als er die Limousine sah, die vor der Tür wartete. "Wow! Netter Schlitten!", entfuhr es ihm und Mokuba strahlte, als würde der Wagen ihm gehören. Ryuuji konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als Isono die Tür öffnete. "Ganz vornehm, was?", grinste er den jüngeren seiner beiden künftigen Stiefbrüder an und dieser kicherte, während Seto nur die Augen verdrehte. Ryuujis große Klappe ging ihm jetzt schon gewaltig auf die Nerven. Na ja, ich muss ihn ja nur ein halbes Jahr lang ertragen. Das sollte doch zu schaffen sein, motivierte er sich selbst und warf dem Jüngeren einen kühlen Blick zu, als er bemerkte, dass dieser ihn schon wieder musterte. Im Gegensatz zu den meisten anderen schien Ryuuji von diesem Blick jedoch nicht im Geringsten eingeschüchtert zu sein. Stattdessen schmunzelte er nur und seine grünen Augen funkelten amüsiert. Er rutschte auf den Platz neben Mokuba und saß Seto somit genau gegenüber. Während der gesamten Fahrt ruhten seine Blicke auf dem Brünetten und ein kaum wahrnehmbares, schwer zu deutendes Lächeln umspielte seine Lippen, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, Mokubas scheinbar endlose Fragen zu beantworten. Nach knapp zehnminütiger Fahrt hielt Isono die Limousine an, stieg aus und öffnete die hintere Tür. Gozaburo stieg aus und half Yukiko aus dem Wagen. Ryuuji grinste die beiden Kaibabrüder an. "Na dann, wir sehen uns", sagte er und umarmte erst den völlig überrumpelten Mokuba und dann den ebenso perplexen Seto, bevor er den beiden noch einmal zuzwinkerte und mit einem "Bis dann, ihr Zwei" verschwand. Mokuba sah seinen großen Bruder leicht verwirrt an. "Macht man das in Amerika so?", wollte er wissen und Seto zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht, otouto", antwortete er und bemühte sich, sich seinen Unmut über diese Aktion nicht anmerken zu lassen. Mit Ausnahme seiner Mutter und seines kleinen Bruders – und früher auch seines Vaters, aber das war inzwischen schon Jahre her – erlaubte er es niemandem, ihm so nahe zu kommen. Das tat nicht einmal Yami und der war immerhin sein bester Freund. Was in aller Welt also fiel diesem Kerl ein, ihn einfach so zu umarmen? Auch wenn das in Amerika gang und gäbe sein mochte, sie waren hier immerhin in Japan! Wehe, er kommt auch nur auf die Idee, sich das zur Gewohnheit zu machen!, dachte Seto und knirschte unhörbar mit den Zähnen. Sollte sein zukünftiger Stiefbruder ihm noch einmal ungefragt zu nah kommen, würde er sein blaues Wunder erleben. Mokuba, dem der Ärger seines großen Bruders nicht entging, zog den Kopf ein und presste seine Lippen fest aufeinander. Auf keinen Fall wollte er jetzt etwas Falsches sagen oder tun, denn dann, das wusste er, würde er die schlechte Laune des Brünetten ausbaden müssen. Wenn ich ihm jetzt sage, dass ich Ryuuji nett finde, bringt er mich um, dachte der Schwarzhaarige und warf einen Blick aus dem Fenster der Limousine. Von seinem neuen Bruder war allerdings bereits nichts mehr zu sehen und auch Yukiko schickte sich gerade an, das Haus, in dem die beiden offenbar derzeit wohnten, zu betreten. Sein Vater sah ihr noch einen Moment lang nach, dann stieg er wieder in den Wagen und gab Isono das Zeichen, sie nach Hause zu fahren. oOo "Du hast dich wirklich unmöglich benommen, Ryuuji." Yukiko hängte ihren Mantel auf und warf ihrem Sohn einen tadelnden Blick zu. Der Angesprochene, der gerade damit beschäftigt war, sein noch im Flur befindliches Gepäck in sein Zimmer zu bringen, stellte seinen Koffer ab und verschränkte die Arme vor der Brust. "Was hätte ich Deiner Meinung nach denn machen sollen, Mum? Gar nicht kommen? Oder hätte ich mich vorher noch umziehen sollen? Dann hätten die Drei nur nen völlig falschen Eindruck von mir bekommen. Und spätestens nach der Hochzeit hätten sie doch eh gemerkt, wie ich wirklich bin. Aber danke, ich freu mich auch, wieder hier zu sein", erwiderte er und strich sich seine Haare aus dem Gesicht, bevor er seinen Koffer wieder aufhob, ihn in sein Zimmer trug und die Tür etwas lauter zutrat, als es nötig gewesen wäre. Willkommen in Japan, Duke ... ach nein, hier ist es ja wieder Ryuuji, dachte er bitter, stellte den Koffer ab und ließ sich auf seine Couch fallen. Er verschränkte die Arme unter dem Kopf, starrte an die Zimmerdecke und seufzte abgrundtief. Eigentlich war ihm ja klar gewesen, dass seine Mutter so reagieren würde, aber das machte es auch nicht besser. Hier ist es meine Art und drüben genauso, sinnierte er und seine Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Grinsen. Das war schon immer sein Problem gewesen. Für einen Japaner benahm er sich nicht japanisch genug – was seine Mutter immer seiner Zeit in Amerika bei seinem Vater anlastete – und für einen Amerikaner war er nicht amerikanisch genug – was sein Vater immer seiner Mutter und ihrer japanischen Erziehung zuschrieb. Wie er es auch drehte und wendete, er gehörte nirgends wirklich dazu. Und mit der neuen Familie wird's auch nicht anders sein. Ryuuji war die Ablehnung seines künftigen Stiefbruders Seto ebenso wenig entgangen wie die vorsichtige Zurückhaltung seines baldigen Stiefvaters Gozaburo. Nur Mokuba, der Jüngste der drei Kaibas, hatte durchweg positiv auf ihn reagiert. Bleibt abzuwarten, was passiert, wenn sie erfahren, dass ich schwul bin, dachte Ryuuji, stand auf und machte sich seufzend daran, seinen Koffer auszuräumen. Seiner Mutter zuliebe würde er den Mund über seine sexuellen Vorlieben halten. Es lag ihm zwar nicht, etwas zu verschweigen, aber er wollte es ihr auch nicht unnötig schwer machen. Immerhin hatte sie schon auf sein Outing im letzten Jahr besser reagiert, als er erwartet hatte, also war er ihr diese kleine Notlüge schuldig. Außerdem würde er ja in sechs Monaten ohnehin wieder zu seinem Vater fliegen. So lange sollte es ihm doch möglich sein, diese eine Sache für sich zu behalten. oOo Abgrundtief seufzend stieg Gozaburo vor der Kaiba-Villa aus der Limousine und wartete auf seine Söhne. Die Rückfahrt war schweigend verlaufen und es war nicht zu übersehen gewesen, dass etwas vorgefallen sein musste, denn selbst Mokuba hatte geradezu verbissen geschwiegen und den Saum seines Shirts, den er unaufhörlich zwischen seinen Fingern gedreht hatte, angestarrt, als wäre er das Interessanteste, was diese Welt zu bieten hatte. Seto hatte während der ganzen Fahrt aus dem Fenster gestarrt und auch jetzt war scheinbar keiner der beiden bereit, über den Abend oder das, was sie so offensichtlich beschäftigte, dass selbst Isono die beiden jungen Herren verwundert musterte, zu reden. Erneut seufzend lotste der CEO seine Söhne ins Wohnzimmer und wartete, bis sie wie am Vorabend auf der Couch Platz genommen hatten. "Und? Was denkt ihr?", fragte er dann und setzte sich ebenfalls wieder in den Sessel, in dem er am vorigen Abend auch gesessen hatte. "Yukiko-san scheint sehr nett zu sein", antwortete Seto nach einem Moment des Schweigens und schlug die Beine übereinander. Mokuba nickte bestätigend. "Ja, allerdings. Außerdem ist sie wirklich sehr hübsch", pflichtete er seinem Bruder bei. "Und Ryuuji ist ...", setzte er an, brach dann aber nach einem Blick auf seinen großen Bruder ab und räusperte sich. "Also, ich finde ihn nett. Er ist zwar ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe, aber ich glaube, ich mag ihn trotzdem." Seto schwieg zu Mokubas Worten. Zwar hatte sich seine schlechte Vorahnung in Bezug auf seine künftige Stiefmutter nicht erfüllt, aber was Ryuuji betraf, sah die ganze Sache schon wieder vollkommen anders aus. Die seltsam intensiven Blicke des Siebzehnjährigen ließen sich ebenso wenig verdrängen wie das verwirrende Gefühl, das er gehabt hatte, als er von jemandem außerhalb seiner Familie plötzlich und ohne Vorwarnung umarmt worden war. "Nun, er wird sowieso nur sechs Monate lang bei uns wohnen. Ich denke, so lange werden wir uns wohl arrangieren können", sagte Seto so neutral wie möglich und Gozaburo seufzte erneut. "Ich habe dir gestern Abend schon gesagt, dass sein Verhalten dir möglicherweise seltsam vorkommen könnte", erinnerte er seinen Sohn und dieser nickte. "Ich weiß, Vater", gab er zurück. Verwirrt und auch ein bisschen verletzt blickte Mokuba zwischen seinem Vater und seinem Bruder hin und her. Sein Vater hatte mit Seto am Vortag schon über Ryuuji gesprochen? Warum hatte ihm niemand etwas davon erzählt? Warum hatte ihn sein Bruder am frühen Abend angelogen und behauptet, er wisse auch nichts über ihren neuen Bruder? "Nun, er ist sehr ... direkt, scheint mir", sagte Seto gerade und sein Vater nickte. "Diesen Eindruck hatte ich allerdings auch", stimmte er seinem Ältesten zu und Mokuba zog einen Flunsch. Er hatte sich den ganzen Abend glänzend mit Ryuuji unterhalten und nun taten sein Vater und sein Bruder so, als wäre das Verhalten des Siebzehnjährigen absolut untragbar gewesen. Sicher, er war sehr unkonventionell gekleidet gewesen und auch die Sache mit der Umarmung zum Abschied war vielleicht ungewohnt, aber dennoch hatte Mokuba plötzlich das Gefühl, seinen zukünftigen Bruder verteidigen zu müssen. Wenn Ryuuji sich unmöglich benommen hatte, hatte er das dann in den Augen seiner Familie etwa auch getan – nur, weil er sich mit ihm gut verstanden hatte? "Ich weiß nicht, was ihr so schlimm findet. Ihr kennt ihn doch noch gar nicht richtig", begehrte er daher auf und die beiden Älteren wandten ihm ihre Aufmerksamkeit zu. "Das ist nicht das Problem, otouto", murmelte Seto und erntete einen verärgerten Blick. "Und was ist dann das Problem? Etwa, dass er uns zum Abschied umarmt hat? Vielleicht ist er das einfach so gewöhnt. Und so schlimm war das nun auch wieder nicht. Ich finde ihn jedenfalls nett. Wenn du nicht umarmt werden möchtest, dann sag ihm das, aber rede nicht schlecht über ihn, wenn er nicht da ist. Das zeugt von schlechten Manieren." Mokuba funkelte seinen Bruder böse an. Er verstand dessen offensichtlich völlig grundlose Abneigung wirklich nicht. Ryuuji hatte ihm doch nichts getan, also was in aller Welt störte ihn nur so an ihrem zukünftigen Bruder? So voreingenommen war Seto doch sonst nicht. "Es ist schon reichlich spät. Ich glaube, ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht, Vater. Gute Nacht, Seto." Mit diesen Worten stand der Fünfzehnjährige auf, rauschte mit hoch erhobenem Kopf aus dem Wohnzimmer und warf die Tür seines Zimmers so laut ins Schloss, dass Seto und Gozaburo gleichzeitig eine Braue hoben. Der Achtzehnjährige seufzte. Er hatte seinen kleinen Bruder ganz sicher nicht verärgern wollen. Dennoch, auch wenn es Mokuba nicht gefiel und er es nicht verstand, er selbst würde sich so weit wie möglich von Ryuuji fernhalten, denn der Siebzehnjährige kratzte auf eine Weise an seiner Selbstbeherrschung, die Seto selbst fremd war. Immer wieder musste er an die seltsamen, undeutbaren Blicke aus den grünen Katzenaugen seines zukünftigen Stiefbruders denken. Auch wenn er es sich nicht gerne eingestand – diese Blicke hatten ihm Schauer über den Körper gejagt, von denen Seto nicht wusste, ob sie ihm angenehm oder unangenehm waren. "Ich denke, ich sollte jetzt auch schlafen gehen. Gute Nacht, Vater", murmelte der Achtzehnjährige und stand auf. Gozaburo nickte und erhob sich ebenfalls. "Das wünsche ich Dir auch, Seto", antwortete er und sein Ältester verließ das Wohnzimmer und ging schweigend die Treppen nach oben. Vor Mokubas Zimmertür blieb Seto unschlüssig stehen. Sollte er versuchen, jetzt noch mit seinem Bruder zu sprechen? Nach kurzem Überlegen schüttelte er den Kopf und ließ seine Hand, die er zum Klopfen erhoben hatte, unverrichteter Dinge wieder sinken. Nein, das machte jetzt keinen Sinn. Wenn Mokuba böse auf ihn war, war es das Beste, ihm etwas Zeit zu geben, um sich wieder zu beruhigen. Morgen. Ich werde morgen mit ihm reden, nahm Seto sich vor und seufzte abgrundtief. "Gute Nacht, otouto", murmelte er leise und ging hinüber in sein eigenes Zimmer, um sich schlafen zu legen. Mokuba saß in seinem Zimmer auf dem Bett und zerknüllte eines seiner Kissen zwischen seinen Händen. Er hatte die Worte seines großen Bruders durchaus gehört, aber er war im Augenblick nicht in der Stimmung, um ihm zu antworten oder gar mit ihm zu sprechen. Dazu war er viel zu aufgebracht. Nicht nur, dass sein Vater Seto ganz offenbar mehr vertraute als ihm – immerhin hatten die beiden ja wohl ohne sein Wissen über Ryuuji gesprochen und es nicht für nötig gehalten, ihn einzuweihen –; nein, sie redeten auch noch über seinen neuen Bruder, obwohl sie ihn beide kein bisschen kannten. Und besonders die Tatsache, dass der sonst so auf Fairness bedachte Seto sich offenbar schon jetzt darauf freute, dass Ryuuji in sechs Monaten wieder für ein halbes Jahr zu seinem Vater nach Amerika fliegen würde, störte ihn. Was war denn an Ryuujis Verhalten so schlimm gewesen? Sicher, er hatte sich nicht besonders japanisch benommen und auch seine Kleidung war nicht unbedingt dem Anlass entsprechend gewesen, aber war das wirklich ein Grund, ihn nicht zu mögen? Er hatte doch erklärt, dass er gleich vom Flughafen aus zum Restaurant gekommen war – offenbar in dem Versuch, sich nicht allzu sehr zu verspäten. Konnten Seto und sein Vater ihm wirklich einen Vorwurf daraus machen, dass er sich nicht umgezogen hatte? Grübelnd kaute Mokuba auf seiner Unterlippe herum. Oder lag die Abneigung seines Bruders wirklich an Ryuujis Umarmung? Sicher, damit hatte der Siebzehnjährige auch ihn völlig überrumpelt, aber so schlimm war es doch nun auch wieder nicht gewesen. Der Fünfzehnjährige schloss die Augen und rief sich das Gefühl wieder in Erinnerung, das er gehabt hatte, als Ryuuji ihn für einen Moment an sich gedrückt hatte. Sicher, im ersten Moment war er überrascht gewesen. Danach aber war es eigentlich sogar recht angenehm gewesen, denn es hatte ihn daran erinnert, dass sein großer Bruder und auch sein Vater ihn oft umarmt hatten, als er noch jünger gewesen war. Die beiden wuschelten ihm zwar heute noch hin und wieder durch die Haare, aber das war einfach nicht dasselbe. Nachdenklich legte Mokuba seine Stirn in Falten. Es musste ungefähr drei Jahre her sein, dass er das letzte Mal von einem der beiden – es war Seto gewesen, wenn er sich recht erinnerte – kurz in den Arm genommen worden war. Seufzend ließ sich Mokuba nach hinten fallen, stopfte das Kissen unter seinen Kopf und zog sich seine Bettdecke bis unters Kinn. Vielleicht, grübelte er, würde sich das ja ändern, wenn sein Vater und Yukiko erst einmal verheiratet waren. Mit einem leichten Lächeln und dem Vorsatz, Yuugi und Ryou am nächsten Tag ausführlich zu erzählen, wie der heutige Abend gelaufen war, schlief der Fünfzehnjährige schließlich ein. oOo "Darf ich reinkommen, Ryuuji?" Das Klopfen und die leise Stimme seiner Mutter vor seiner Zimmertür rissen den Schwarzhaarigen aus seinen Gedanken. "Come in", antworte er, ohne sich umzudrehen. Yukiko betrat das Zimmer ihres Sohnes und schloss die Tür leise hinter sich. Sie ließ ihren Blick kurz durch den für einen Jungen seines Alters unnatürlich ordentlichen Raum schweifen, bevor ihre Augen an ihrem Sohn hängen blieben. Er saß auf der Fensterbank, hatte die Beine angezogen und mit den Armen umschlungen. Seinen Kopf hatte er auf seine Knie gestützt und sein Blick war aus dem Fenster gerichtet. "Was ist, Mum?", erkundigte er sich, ohne seine Mutter anzusehen. "So, wie es vorhin geklungen hat, habe ich meine Worte nicht gemeint", sagte Yukiko leise und Ryuuji seufzte. "Schon okay. Das weiß ich doch", gab er zurück und spürte im nächsten Moment, wie seine Mutter ihm zärtlich über die schwarzen Haare streichelte. "Sie sind ziemlich lang geworden", stellte sie dabei fest und lächelte leicht. "Offenbar hat dein Vater dich immer noch nicht dazu bewegen können, sie dir abschneiden zu lassen." Ryuuji schüttelte den Kopf. "Nö. Wieso auch? Ich mag meine Haare so, wie sie sind." Sie sehen aus wie Deine, Mum, fügte er in Gedanken hinzu, sprach es aber nicht laut aus. "Dad hat mir zwar angedroht, mich zum Friseur zu schleppen, aber als ich ihm gesagt hab, dass ich mir dann ne Dauerwelle machen lasse, hat er Ruhe gegeben", erzählte er stattdessen und grinste bei der Erinnerung an das Gesicht seines Vaters. Das war wirklich zum Schießen gewesen. "Und er hat einfach so klein beigegeben?", hakte Yukiko schmunzelnd nach und ihr Sohn schüttelte erneut den Kopf. "Nicht sofort. Er hat mir gedroht, er würde sie mir notfalls selbst schneiden – nachts, wenn ich schlafe –, falls ich nicht freiwillig zum Friseur gehe. Da hab ich ihm gesagt, dass ich ihn wegen Körperverletzung verklage, wenn er sich das wagt. Danach war das Thema vom Tisch. Das war vor knapp zwei Monaten. Ich glaub, Dad bereut immer noch, mir mit dem Jurastudium so in den Ohren gelegen zu haben", erwiderte er und sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter, als seine Mutter leise zu lachen begann. Das hat mir gefehlt, dachte Ryuuji und blinzelte kurz, um die Feuchtigkeit aus seinen Augen zu vertreiben. Yukiko atmete mehrmals tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Sie war eigentlich nicht hierhergekommen, um mit ihrem Sohn über seinen Vater zu sprechen. Nein, ihr lag etwas vollkommen Anderes auf dem Herzen. "Sag, Ryuuji, was denkst du über Gozaburo und seine Söhne?", fragte sie leise und hielt unwillkürlich den Atem an. Ryuuji ließ sich einen Augenblick Zeit, um über ihre Frage nachzudenken. "Liebst Du ihn?", wollte er dann wissen und sah seine Mutter prüfend an. Yukiko stieß den angehaltenen Atem aus und nickte ernst. "Ja, das tue ich. Ich war sehr, sehr glücklich, als er mich gebeten hat, seine Frau zu werden", antwortete sie und Ryuuji lächelte leicht. "Das sieht man. Du strahlst richtig, wenn du von ihm sprichst", stellte er fest und sein Lächeln wurde zu einem Grinsen, als sie errötete. "Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ich denke, er ist ein netter Mensch – zumindest, soweit ich das nach den paar Stunden heute beurteilen kann. Und er hat nicht nur Geschmack, sondern auch verdammtes Glück, so eine tolle Frau wie dich zu kriegen", fuhr Ryuuji fort und lehnte seinen Kopf gegen das Holz des Fensterrahmens. "Und was seine Söhne betrifft: Mokuba ist wirklich niedlich. Den hätte ich echt knuddeln können." Dass er das zum Abschied auch getan hatte – bei Mokuba ebenso wie bei Seto – verschwieg er lieber. Er wusste, dass seine Mutter diese Vertraulichkeiten bei Fremden nicht besonders schätzte. "Ich glaub, mit ihm werd ich mich prima verstehen. Kam mir vor, als wäre er mindestens so aufgedreht wie ich." Bei diesen Worten grinste der Siebzehnjährige seine Mutter an. "Ich wollte zwar eigentlich nie Geschwister, aber mit so nem süßen kleinen Bruder wie ihm kann ich gut leben, denke ich", fügte er hinzu und Yukiko legte fragend den Kopf schief. "Und was ist mit Seto?", wollte sie willen und ihr Sohn seufzte. "Seto?" Ryuuji wandte den Blick wieder aus dem Fenster und dachte nach. Ihm war die mangelnde Begeisterung des Brünetten über sein Auftauchen ebenso wenig entgangen wie seine offensichtliche Weigerung, mehr als das Nötigste mit ihm zu reden. "Hm, Seto ... Ich glaub, der wird mehr Probleme mit mir haben als Mokuba. Ich hatte nicht den Eindruck, als würde er mich mögen. Aber vielleicht ist das auch nach ein paar Stunden zu viel verlangt. Immerhin kennen wir uns kaum. Das wird sicher anders, wenn wir uns erst besser kennen." Ryuuji hoffte inständig, seine Mutter möge ihm das abkaufen, was er gesagt hatte. Sein zukünftiger älterer Stiefbruder hatte auf ihn nicht den Eindruck gemacht, als würde er seine einmal gefasste Meinung so schnell wieder ändern. Und was Seto über ihn gedacht hatte, war ihm praktisch ins Gesicht geschrieben gewesen. Oft genug hatte er diesen Blick, der förmlich ›elender Halbjapaner‹ geschrien hatte, schon gesehen. Schade, dass er solche Vorurteile hat, aber wahrscheinlich nicht zu ändern, dachte Ryuuji und seufzte innerlich, bevor sich wieder ein Grinsen auf seine Lippen schlich. Den allerersten Gedanken, der ihm bei Setos Anblick durch den Kopf gegangen war, würde er besser für sich behalten. Dass seine Mutter wusste, dass er auf Jungs stand, bedeutete noch lange nicht, dass sie auch wissen musste, dass einer ihrer zukünftigen Stiefsöhne ihrem leiblichen Sohn mehr als nur ein bisschen gefallen hatte. Das war nun wirklich kein Thema, das man ausgerechnet mit seiner Mutter besprach. Yukiko seufzte leise. "Gozaburo sagte bereits, dass Seto ein etwas schwieriger Mensch ist. Er hat seine Mutter sehr früh verloren und ihr Tod war sehr schmerzhaft für ihn, deshalb ist er so verschlossen. Er hat sie sehr geliebt", murmelte sie und Ryuuji nickte. "Dann versteh ich das. Er ist wohl kaum besonders begeistert davon, jetzt plötzlich ne neue Familie aufs Auge gedrückt zu kriegen – und das auch noch so kurzfristig. Ging ja alles ziemlich schnell bei euch", gab er zurück, stand von der Fensterbank auf und drückte seine Mutter kurz. "Wir werden schon klarkommen, Mum. Ich geb mir Mühe, brav zu sein.", sagte er und zwinkerte ihr zu. Yukiko legte skeptisch den Kopf schief, lächelte aber dann. "Du bist wirklich unmöglich, Ryuuji", erwiderte sie und der Angesprochene fing an zu lachen. "Komisch, das sagen alle. Warum bloß?", fragte er gespielt nachdenklich, bevor er ihr einen Kuss auf die Wange gab. Seine Mutter seufzte ebenso gespielt, doch dann fiel ihr etwas ein. "Ich habe vorgestern Deine neue Schuluniform abgeholt. Warte, ich hole sie eben." Mit diesen Worten ließ sie ihren Sohn stehen und verschwand aus seinem Zimmer. Ryuuji lehnte sich rücklings an die Fensterbank und seufzte abgrundtief. Er hatte vollkommen vergessen gehabt, dass Schuluniformen in Japan Pflicht waren. Na toll. Hoffentlich haben die inzwischen die Farbe geändert. Dieses Braun letztes Jahr war echt verdammt hässlich, dachte er und atmete erleichtert auf, als seine Mutter mit etwas Blauem über dem Arm wieder hereinkam. Schwarz wäre ihm zwar lieber gewesen, aber Blau tat es zur Not auch. "Wenigstens ist das Ding nicht wieder braun", entfuhr es ihm und Yukiko schüttelte den Kopf. "Natürlich nicht. Durch den Umzug, der uns bevorsteht, wirst du für das letzte halbe Jahr die gleiche Schule besuchen wie Seto. Ich habe dich schon angemeldet und auch alle deine Zeugnisse vorgelegt", erklärte sie und ohne sein bewusstes Zutun legte sich ein Grinsen auf Ryuujis Lippen. In ein paar Wochen würde er achtzehn werden, also war die Wahrscheinlichkeit, dass er in der Klasse oder zumindest in einer der Parallelklassen seines baldigen Stiefbruders landen würde, recht hoch. "Na, das wird sicher lustig", grinste Ryuuji und seine Mutter warf ihm einen fragenden Blick zu, bekam aber keine Antwort. "Am besten stehst Du morgen etwas früher auf, damit ich dich vor der Arbeit noch hinfahren kann. Schließlich musst du noch einen Einstufungstest machen", murmelte Yukiko und drückte ihrem Sohn die Uniform in die Hand, damit er sie anprobieren konnte. "Passt perfekt, Mum", stellte Ryuuji ein paar Minuten später fest. "Aber wenn du vorhast, mich morgen schon in der Schülerfolteranstalt – entschuldige, ich wollte natürlich Schule sagen – abzuliefern, dann sollte ich jetzt langsam schlafen gehen, meinst du nicht auch?", fragte er dann, drückte seiner Mutter noch einen letzten Kuss auf die Wange und schob sie mit einem "Gute Nacht, Mum" aus seinem Zimmer. Er schloss die Tür hinter ihr, zog sich um und krabbelte in sein Bett. Na, dann bin ich doch mal gespannt, was Seto davon hält, wenn er mich schon so schnell wiedersieht. Ob er schon weiß, dass ich auf die gleiche Schule gehen werde wie er?', sinnierte er und rief sich die blauen Augen und das unleugbar attraktive Gesicht seines künftigen älteren Stiefbruders wieder vor Augen. Bis morgen, ›Brüderchen‹, war Ryuujis letzter bewusster Gedanke, bevor er einschlief. Kapitel 5: Der Neue ------------------- Wie am Vortag stand Seto auch an diesem Morgen pünktlich um sechs Uhr auf und klopfte exakt eine halbe Stunde später frisch geduscht und fertig angezogen an der Zimmertür seines kleinen Bruders. "Aufstehen, Mokuba", rief er laut genug, um den Schwarzhaarigen zu wecken, doch er erhielt wie üblich keine Antwort. "Na gut, dann wecke ich dich eben persönlich.", murmelte Seto und öffnete die Tür, um genau das auch zu tun. Als er den Raum jedoch betreten hatte, hob er verwundert eine Braue, denn Mokuba war nicht mehr in seinem Bett. Von seiner Dusche war auch nichts zu hören, also war er scheinbar auch nicht in seinem Badezimmer. Dennoch klopfte Seto dort an die Tür und steckte kurz seinen Kopf hinein, als er keine Antwort erhielt. Nanu, wo ist er denn?, fragte er sich, als er seinen Bruder auch dort nicht fand, schloss die Tür wieder und ging nachdenklich nach unten. Und völlig entgegen seiner sonstigen Gewohnheit fand Seto zu seinem Erstaunen nicht nur Isono, sondern auch Mokuba im Esszimmer vor. "Guten Morgen, Seto-san", grüßte Isono und auch der Schwarzhaarige rang sich ein "Morgen" ab, sah seinen älteren Bruder dabei jedoch nicht an. Dieser seufzte. Ganz offenbar war Mokuba immer noch böse auf ihn. Was für ein wunderbarer Start in den Tag! "Guten Morgen. Hör mal, otouto, wegen gestern ...", begann Seto, doch noch bevor er ausreden konnte, stand der Jüngere von seinem Platz auf. "Sie müssen mich heute nicht zur Schule fahren, Isono-san. Ich werde zu Fuß gehen", wandte er sich an den Chauffeur und verließ dann mit einem "Bis nachher" das Esszimmer – noch immer, ohne seinen großen Bruder auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Seto sah ihm schweigend nach. Er nimmt mir meine Worte von gestern Abend wirklich übel, stellte er fest und seufzte abgrundtief. Wenn Mokuba nicht mit ihm sprach, wie sollte er ihm dann begreiflich machen, was genau ihn an Ryuuji so sehr gestört hatte? Sinnierend lehnte sich Seto zurück und sein Blick schweifte aus dem Fenster, ohne dass er wirklich etwas von dem wahrnahm, was draußen vor sich ging. Was genau hatte ihn eigentlich so an seinem zukünftigen Stiefbruder gestört? Seine Blicke. Die ganze Art, wie er mich angesehen hat, dachte der Brünette. Aber was genau hatte ihm daran nicht gefallen? War es die intensive Musterung gewesen? Die unglaublich grünen Katzenaugen Ryuujis? Oder war es die Tatsache gewesen, dass er die Blicke – und die Absichten dahinter – nicht hatte deuten können? Das ist doch auch egal. Ich werde mich Mokuba zuliebe mit ihm arrangieren. Immerhin scheint er Ryuuji aus irgendeinem Grund zu mögen. Mit diesem Vorsatz stand Seto vom Tisch auf, ohne wirklich etwas gegessen zu haben. "Fahren Sie auf dem Weg zur Schule bei Yami vorbei und holen Sie ihn ab", wies er Isono an, denn er wollte auf keinen Fall die ganze Fahrt über mit seinen Gedanken alleine sein. Der Chauffeur nickte. "Wie Sie wünschen, Seto-san", erwiderte er und ging voraus, um die Tür der Limousine für den Sohn seines Chefs zu öffnen. Mokuba war unterdessen schon zu Fuß auf dem Weg zu Ryou, um diesen abzuholen und gemeinsam mit ihm dann Yuugi, der von ihnen Dreien am nächsten an der Schule wohnte, einzusammeln. Immer wieder kickte der Schwarzhaarige unterwegs nach kleinen Steinchen, die auf seinem Weg lagen. Noch immer nagte das Verhalten seines Bruders und seines Vaters vom Vorabend an ihm. Was denken die sich eigentlich? Ich bin doch kein kleines Kind mehr, das man von seinen Gesprächen ausschließen muss. Ich bin fünfzehn, verdammt!, grummelte er innerlich und erst ein verwundertes "Mokuba? Was machst du denn hier?", ließ ihn aufsehen – direkt in die dunkelbraunen Augen seines Freundes Ryou, der gerade das Haus, in dem er mit seinem Vater wohnte, verlassen hatte. "Wie? Oh, guten Morgen, Ryou. Ich wollte dich und Yuugi abholen.", murmelte Mokuba und der Weißhaarige legte fragend den Kopf schief. "Zu Fuß und ganz alleine? Das machst du nur, wenn du Streit mit deinem Bruder hast, Mokuba. Was ist passiert?", wollte er wissen und der Angesprochene seufzte. "Das erzähle ich dir, wenn wir Yuugi abgeholt haben, okay?", fragte er zurück und sein Freund schüttelte den Kopf. "Yuugi kommt heute nicht zur Schule. Seine Mutter hat vorhin bei uns angerufen und mich gebeten, ihm nachher die Hausaufgaben vorbeizubringen. Er hat wohl Fieber", erklärte er und Mokuba nickte. "Gut, dann komme ich nachher mit, wenn du zu ihm gehst. Je später ich zu Hause bin, desto besser", grummelte er und hakte sich bei Ryou ein. Dieser legte fragend den Kopf schief. "Okay, dann schieß mal los, Mokuba: Was ist gestern passiert?", erkundigte er sich und der Schwarzhaarige grinste ihn an. "Yukiko ist toll. Und sie ist so unglaublich hübsch!", schwärmte er und zog seinen weißhaarigen Freund die Straße entlang. Ryou dachte einen Augenblick lang nach. "Wenn sie nicht das Problem ist, dann ist es ihr Sohn, oder?", schlussfolgerte er, doch Mokuba schüttelte den Kopf. "Nein, Ryuuji ist nicht das Problem. Zumindest nicht direkt. Das Problem sind Seto und mein Vater. Sie mögen ihn nicht, obwohl sie ihn noch gar nicht richtig kennen", murrte er und seufzte dann. "Weißt du, er ist Halbamerikaner und nicht so, wie sie erwartet haben. Aber er ist total nett. Gut, seine Kleidung war vielleicht nicht so ganz passend für so einen Abend, aber er ist gleich vom Flughafen aus zum Restaurant gekommen und hatte keine Zeit mehr, sich vorher umzuziehen. Aber das fand ich gar nicht so schlimm. Er sah total cool aus", fügte er hinzu und beschrieb seinem Freund dann ausführlich das Outfit seines zukünftigen Stiefbruders. Ryou kicherte. "Wenn er so rumläuft, dann glaube ich gerne, dass dein Vater und dein Bruder nicht allzu begeistert von ihm sind", antwortete er und Mokuba schüttelte erneut den Kopf. "Das ist noch nicht alles. Gestern Abend vor dem Treffen hat Seto mir gesagt, er wüsste auch nichts über Ryuuji, aber das war gelogen. Vater und er haben sich vorgestern ohne mich über ihn unterhalten. Sie behandeln mich wie ein kleines Kind, dabei werde ich dieses Jahr schon sechzehn", murrte er und der Weißhaarige seufzte. "Sie meinen das bestimmt nicht böse. Mein Bruder ist auch so. Er glaubt, ich wäre immer noch der kleine Junge, der weint, wenn man ihm sein Spielzeug wegnimmt. Er will auch einfach nicht einsehen, dass ich inzwischen älter geworden bin", gab er zu bedenken und Mokuba tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an die Lippen. "Ja, aber dein Bruder sieht dich auch nur selten. Da ist es normal, dass er nicht bemerkt, wie du dich veränderst. Seto sieht mich aber jeden Tag. Oder benehme ich mich etwa so kindisch, dass man mit mir nicht normal reden kann?", fragte er, während sie gemeinsam auf den Schulhof einbogen. Ryou schüttelte den Kopf. "Nein, das tust Du nicht. Yuugi hat das gleiche Problem. Für unsere großen Brüder werden wir wohl immer die Kleinen bleiben, die sie vor allem und jedem beschützen wollen", erklärte er und sein Freund nickte zustimmend. "Das wird's sein. Na, ist ja auch egal. Weißt du was? Ryuuji hat sogar ein Tattoo! Dabei ist er erst siebzehn!" Inzwischen wieder mit leuchtenden Augen schleppte Mokuba Ryou zu ihrem Klassenraum und plapperte dabei munter auf ihn ein. oOo "So, das ist deine neue Schule, Ryuuji." Yukiko stieg vor dem genannten Gebäude aus ihrem Wagen und ihr Sohn tat es ihr gleich. Etwas unglücklich zupfte er an seiner Schuluniform herum und ließ dann seinen Blick über das Gebäude und den noch vollkommen leeren Schulhof schweifen. "Ich kann dich wohl nicht überreden, es dir noch mal anders zu überlegen, oder, Mum?", fragte er wenig hoffnungsvoll und seufzte abgrundtief, als seine Mutter den Kopf schüttelte. "Hätte ja sein können. Na, dann bleibt mir wohl nur, das Beste draus zu machen. Sind ja nur noch sechs Monate bis zum Abschluss", feuerte er sich selbst an und grinste dann, als ihm einfiel, wem er ab heute wohl täglich begegnen würde. Na, so schlimm wird das schon nicht werden, dachte Ryuuji und folgte seiner Mutter, die bereits vorausgegangen war, in das Gebäude hinein. oOo "Du holst mich ab? Wie komme ich denn zu der Ehre?" Yami grinste seinen besten Freund an, während er in die kaibasche Limousine kletterte. "Mokuba nicht hier? Habt ihr wieder mal Streit?", fragte der Bunthaarige dann und ließ sich Seto gegenüber in die Polster sinken. Der Angesprochene seufzte. "So könnte man es nennen, ja. Ich fürchte, meine mangelnde Begeisterung für unseren zukünftigen Stiefbruder missfällt ihm", erklärte er und Yami sah ihn neugierig an. "Ist er denn so schlimm?", wollte er wissen und Seto seufzte erneut. "Nun, Otogi Ryuuji ist jedenfalls vollkommen anders, als ich erwartet hatte", antwortete er so diplomatisch wie möglich und sein bester Freund begann, sehr breit zu grinsen. "Mit anderen Worten: Du kannst ihn nicht leiden", übersetzte er die höfliche Antwort und Seto schnaubte. "Sagen wir es so: Ich bin froh, dass er nur sechs Monate lang bei uns wohnen wird. Danach fliegt er zurück zu seinem Vater nach Amerika und bis er zurückkommt – falls er überhaupt wieder zurückkommt –, werde ich bereits studieren und muss ihm nicht mehr begegnen, wenn ich nicht will", entgegnete er und Yami hob eine Braue. Eine derart feste, negative Meinung von einem anderen Menschen war selbst für die Verhältnisse seines besten Freundes mehr als ungewöhnlich. Na ja, es gibt eben nicht nur Liebe, sondern auch Antipathie auf den ersten Blick, sinnierte er und beschloss nach einem Blick in die ärgerlich zusammengekniffenen blauen Augen des Größeren, dieses Thema lieber schnell fallen zu lassen und ein neues aufzugreifen. "Und seine Mutter? Wie ist es mit ihr gelaufen?" Die Stimme seines Freundes riss Seto aus seinen Grübeleien darüber, was die Blicke Ryuujis am Vorabend wohl zu bedeuten hatten. "Yukiko-san? Oh, sie war sehr nett, ausgesprochen höflich und ich hatte den Eindruck, dass Vater und sie gut zusammenpassen. Mokuba mag sie bereits sehr und ich denke, auch ich werde mich an sie gewöhnen können", erwiderte er und schloss einen Moment lang die Augen. Sicher, seine leibliche Mutter würde die neue Frau seines Vaters ihm nie ersetzen können, aber dennoch war Seto froh darüber, dass seine künftige Stiefmutter eine nette und vernünftige Person war. Mit ihr würde er sich sicher arrangieren können. Außerdem war es bestimmt nicht ihre Schuld, dass ihr Sohn derartig verzogen war. Immerhin lebte er nur sechs Monate im Jahr bei seiner Mutter. Und aus dem, was er am Vortag von dem Gespräch mitbekommen hatte, das Mokuba und Ryuuji geführt hatten, hatte dessen Vater ihn ganz offenbar nicht besonders gut im Griff. Aber was sollte man von einem Amerikaner auch erwarten? Yami grinste seinen besten Freund an. "Ich habe dir gleich gesagt, gib ihr eine Chance. Dein Vater war lange einsam. Er hat ein bisschen Glück wirklich verdient", sagte er und Seto nickte. "Ich weiß. Und ich denke, er hätte eine wesentlich schlechtere Wahl treffen können als Yukiko-san", gab er zurück. Ich wünschte nur, ihr Sohn wäre nicht so ... so ... Dafür gibt es keine Worte. Jedenfalls keine höflichen, grummelte er innerlich und zog wie fröstelnd die Schultern hoch, als er sich wieder an die intensiven grünen Katzenaugen, das undeutbare Lächeln und die plötzliche Umarmung Ryuujis erinnerte. Yami, er seinen besten Freund sehr genau beobachtete, hob fragend eine Braue. Allerdings sagte er nichts, denn das war überflüssig. Er wusste, wenn Seto über seine Gedanken würde sprechen wollen, wäre er der Erste, der das erfahren würde. Wobei er vor sich selbst durchaus zugab, nach den wenigen Informationen, die er bekommen hatte, doch reichlich neugierig auf Setos baldigen Familienzuwachs zu sein. oOo "Bitte nehmen Sie doch Platz, Otogi-san. Du auch, Otogi-kun." Yamanaka-san, der Direktor der Domino Highschool, bot Yukiko und ihrem Sohn einen Platz an, doch Yukiko schüttelte den Kopf. "Ich fürchte, ich habe keine Zeit, Yamanaka-san. Ich wollte meinen Sohn an seinem ersten Tag nur herbringen", entschuldigte sie sich, reichte dem Sprecher noch kurz ihre Hand und ließ die beiden dann nach einer kurzen Verabschiedung von ihrem Sohn alleine. Sobald seine Mutter gegangen war, musterte Yamanaka-san seinen neuen Schüler ausgiebig und Ryuuji biss sich auf die Unterlippe, um nichts Falsches zu sagen. Wie er diese Blicke, die ihn und seine ganze Erscheinung kritisierten, ohne ihn wirklich zu kennen, doch hasste! "Nun, dann sollten wir wohl mit deinem Einstufungstest beginnen, damit du nicht zu viel Stoff in deiner neuen Klasse verpasst.", murmelte der Direktor, nachdem er seine Musterung beendet hatte, und Ryuuji nickte. "Selbstverständlich, Yamanaka-san.", antwortete er pflichtschuldigst, stand auf und schenkte dem Mann auf dem Weg in den Nebenraum, in dem er besagten Test offenbar ablegen sollte, ein freundliches Lächeln, dem man nicht ansah, wie viel Mühe es ihn kostete. Gleichzeitig schluckte er eine andere, wesentlich unfreundlichere Antwort herunter, die ihm wahrscheinlich gleich am ersten Tag eine Menge Ärger eingebracht hätte. "Du hast bis zur ersten Pause Zeit, Otogi-kun. Falls du Fragen hast, findest du ich in meinem Büro.", erklärte Yamanaka-san, nachdem sein zukünftiger Schüler sich gesetzt hatte. Der Blick, mit dem er den Jungen bedachte, sprach Bände, doch Ryuuji sagte nichts dazu. Er nickte nur, kramte einen Bleistift aus seiner Tasche und begann damit, sich die Aufgabenblätter durchzulesen. Dass der Direktor die Tür schloss und ihn mit den Aufgaben und seinen Gedanken – Bevor ich dich nach Hilfe frag, du alter Knacker, erstick ich lieber! und ähnlich schmeichelhaften Dingen – allein ließ, bekam er nur am Rande mit. oOo Während sein zukünftiger Stiefbruder über seinem Einstufungstest brütete, saßen Seto und Yami in ihrem Klassenzimmer und bemühten sich, dem unglaublich langweiligen Geschichtsunterricht ihrer Lehrerin Hara-sensei zu folgen. Die junge Frau hatte das seltene Talent, derart monoton zu reden, dass es jeden ihrer Schüler binnen weniger als fünf Minuten ins Reich der Träume beförderte. So war es auch kaum verwunderlich, dass die gesamte Klasse zehn Minuten nach Unterrichtsbeginn hart mit der Müdigkeit kämpfte. Als die Tür zum Klassenraum allerdings ohne Vorwarnung aufgerissen wurde, waren alle jedoch schlagartig wieder hellwach. Ein weißer und ein blonder Schopf samt dazugehörigen Schülern versuchten, sich gegenseitig zur Seite schubsend, gleichzeitig den Klassenraum zu betreten und Hara-sensei seufzte unisono mit Seto und Yami genervt auf. "Kinoshita-kun, Jounouchi-kun. Warum wundert es mich nicht, dass ihr zu spät kommt?", fragte sie und zum ersten Mal an diesem Tag konnte man aus ihrer Stimme ein gewisses Maß an Emotionen – Resignation, um genau zu sein – heraushören. Immerhin kamen diese beiden Störenfriede mit schöner Regelmäßigkeit zu spät zum Unterricht. "Das ist alles nur Bakuras Schuld. Er hat mich nicht geweckt", murrte Jounouchi Katsuya, der Blondschopf, wofür er einen wütenden Blick des Weißhaarigen erntete. "Meine Schuld, ja? Wer hat denn schon wieder den Wecker geschrottet, hä? Wenn das Teil nicht im Arsch gewesen wär, hätte ich dich auch wecken können, du Vollspast!", maulte Kinoshita Bakura zurück und die Augen des Blonden funkelten kampflustig. "Vollspast? Ich geb dir gleich Vollspast, du dämlicher ...", setzte er an, wurde aber von Hara-sensei daran gehindert, seinem Beinahe-Bruder einige sicherlich sehr fantasievolle Beleidigungen an den Kopf zu werfen. "Setzt euch sofort hin, ihr Zwei. Und hört auf zu streiten", verlangte sie. Die beiden Angesprochenen beeilten sich, ihrer Aufforderung umgehend nachzukommen. Dass sie sich dabei grinsend zuzwinkerten – immerhin hatten sie es durch ihren fingierten Streit wieder einmal geschafft, um eine Strafe für ihre Verspätung herumzukommen –, bemerkte außer Yami und Seto augenscheinlich niemand. "Die werden es wohl nie lernen", flüsterte der Bunthaarige und Seto folgte dem Blick seines Freundes zu dem Chaotenduo. "Wahrscheinlich nicht", pflichtete er ihm ebenso leise bei. "Aber wie auch, wenn die Lehrer nicht merken, dass das nur Schauspielerei ist?" Gegen seinen Willen schlich sich ein Grinsen auf Yamis Gesicht. "Vielleicht sollten wir die Zwei mal in der Theater-AG anmelden", schlug er vor und Seto nickte. "Keine schlechte Idee. Da können sie ihre Schmierenkomödie wenigstens sinnvoll einsetzen und ein großes Publikum damit unterhalten", erwiderte er und Yami biss sich auf die Unterlippe, um ein Lachen zu unterdrücken. "Dabei ist Kinoshitas kleiner Bruder ein wirklich netter Junge. Erstaunlich, wie unterschiedlich Geschwister sein können", murmelte Seto und nun nickte sein bester Freund. "Allerdings. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte Ryou-kun die ganzen guten Eigenschaften bekommen und sein Bruder das, was übrig war", stimmte er zu und riss seine Aufmerksamkeit von dem Weißhaarigen mit den unergründlich dunklen Augen los, um sich wieder auf den Unterricht zu konzentrieren. oOo "Verzeihung, Yamanaka-san, ich bin fertig." Ryuuji reichte dem Direktor seine Arbeitsblätter und setzte sich nach einer knappen Handbewegung des Mannes wieder auf den Stuhl, auf dem er am Morgen schon gesessen hatte. Er ließ desinteressiert den Blick schweifen, während der Rektor die Aufgaben durchsah und sich Notizen dazu machte. Kurz nach dem Ertönen der Pausenklingel verschwand er und ließ seinen neuen Schüler in seinem Büro alleine. Seufzend lehnte Ryuuji sich zurück und strich sich eine störende schwarze Strähne, die sich aus seinem Zopf gelöst hatte – er hatte seine Haare am Morgen zusammengebunden, denn lange offene Haare waren an japanischen Schulen gerade bei Jungen nicht gerne gesehen –, hinters Ohr. Hoffentlich sind die Lehrer hier nicht alle so ätzend, dachte er und seufzte erneut. Eigentlich hätte er wirklich nichts dagegen gehabt, noch einen oder zwei Tage zu Hause zu bleiben, aber seine Mutter hatte das etwas anders gesehen. War ja eigentlich klar, dass Mum mich so schnell wie möglich wieder an der Schule anmeldet, sinnierte er und zwirbelte die eben noch beiseitegeschobene Strähne, die ihm wieder ins Gesicht gefallen war, um seinen rechten Zeigefinger. Mal sehen, wie die neue Klasse so ist. Als wäre sein Gedanke das Stichwort gewesen, wurde die Tür des Direktorats wieder geöffnet und Yamanaka-san winkte Ryuuji, ihm zu folgen. Gemeinsam holten sie die Bücher ab, die der Siebzehnjährige brauchen würde, und gingen dann, da es bereits geklingelt hatte, zu seinem zukünftigen Klassenraum. Dort bedeutete der Direktor ihm, vor der Tür zu warten, während er selbst den Raum nach kurzem Anklopfen betrat. Die gesamte Klasse sah auf, als Yamanaka-san, der Direktor, den Klassenraum betrat. Er wechselte ein paar leise Worte mit Kayashima-sensei, ihrem Klassenlehrer, und wandte sich dann an dessen Schüler. "Ihr werdet ab heute einen neuen Mitschüler bekommen. Bitte komm herein, Otogi-kun", sagte er und ließ Kayashima-sensei mit seiner Klasse und dem neuen Schüler allein. Seto, der schon bei Yamanaka-sans Erscheinen eine Braue gehoben hatte, fuhr zusammen, als er den Namen seines neuen Klassenkameraden hörte. Otogi? Oh nein, bitte nicht! Nicht ausgerechnet er!, flehte er innerlich, doch seine Gebete wurden nicht erhört. "Na wunderbar", entfuhr es ihm, als er den neuen Schüler zu Gesicht bekam. Das Universum, die Götter oder das Schicksal mussten ihn wirklich hassen. Yami, dem die Reaktion seines Sitznachbarn nicht entgangen war, warf seinem besten Freund einen fragenden Blick zu, doch er kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen. "Ryuuji!" Bei Katsuyas Aufschrei zuckte nicht nur Seto zusammen. Bevor irgendjemand etwas unternehmen konnte, war der Blondschopf auch schon aufgesprungen, nach vorne gesprintet und dem Schwarzhaarigen stürmisch um den Hals gefallen. "Was machst du denn hier, Alter?", fragte er und grinste seinen lange vermissten Freund an. Ryuuji erwiderte das Grinsen mit gleicher Münze. "Na, was wohl? Ich warte auf den Bus", erklärte er todernst und Katsuya begann zu lachen. "Jounouchi-kun, würdest du dich bitte wieder auf deinen Platz setzen?", unterbrach Kayashima-sensei das Wiedersehen mit einer gewissen Schärfe in der Stimme und der Blondschopf löste schnell seine Arme von seinem Freund. "Oh ... ähm ... klar, Sensei", murmelte er, tapste zurück zu seinem Platz und stieß Bakura, der den Neuen mit nicht gerade freundlich zu nennenden Blicken musterte, seinen Ellbogen in die Rippen. "Kuck nicht so böse, Kura. Ich hab dir doch von ihm erzählt", flüsterte er und der Weißhaarige nickte langsam. Ja, Kats hatte ihm von seinem Freund aus Amerika erzählt. Aber wie eng diese Freundschaft ganz offenbar war, hatte er wohl zu erwähnen vergessen. "Und du, Otogi-kun, solltest dich vielleicht kurz vorstellen." Mit diesen Worten riss Kayashima-sensei seine Schüler wieder aus ihrer Versunkenheit in ihre eigenen Probleme. Ryuuji deutete eine leichte Verbeugung in Richtung des Lehrers an, dann wandte er sich an seine neue Klasse. "Ich bin Otogi Ryuuji, noch siebzehn Jahre alt, und werde für die nächsten sechs Monate eure Klasse besuchen", erklärte er und ließ seinen Blick über seine neuen Mitschüler schweifen, bis dieser schlussendlich an einem Paar bekannter blauer Augen hängen blieb. Na hoppla! Was für ein Zufall, dachte Ryuuji und schmunzelte leicht. "Gut, Otogi-kun. Setz dich bitte auf den freien Platz rechts neben Jounouchi-kun. Und ich dulde keine Störung meines Unterrichts. Ihr könnt euch in der Pause unterhalten. Dann kannst du, Jounouchi-kun, deinem Freund auch die Schule zeigen." Mit diesen Worten entließ Kayashima-sensei seinen neuen Schüler und Ryuuji ging durch die Klasse zu dem angegebenen Platz. Auf dem Weg dorthin ließ er es sich nicht nehmen, Seto kurz zuzuzwinkern, bevor er sich setzte und so tat, als wäre nichts gewesen. Seto kochte innerlich, obwohl er äußerlich so ruhig und gelassen wie immer erschien. Musste es ausgerechnet diese Schule sein? Und dann auch noch meine Klasse? Das darf doch nicht wahr sein!, dachte er und richtete seinen Blick nach vorne zur Tafel. Das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb jedoch – auch dann noch, als er sich durch einen raschen Seitenblick davon überzeugt hatte, dass Otogi Ryuuji nicht ihn ansah, sondern seine Aufmerksamkeit ganz Kayashima-senseis Unterricht widmete. Yami, dem der Stimmungswechsel seines besten Freundes nicht entgangen war, warf, sobald es ihm sicher genug erschien, einen kurzen Seitenblick zu ihrem neuen Mitschüler und fand sich gleich darauf plötzlich mit einem Paar grüner Katzenaugen konfrontiert, die ganz offenbar auf Seto gerichtet gewesen waren, sich jetzt allerdings ihm zuwandten. Und obwohl er ganz offensichtlich dabei ertappt worden war, Seto zu beobachten, machte der Schwarzhaarige nicht den Eindruck, als wäre ihm seine Musterung peinlich. Im Gegenteil, er setzte sie ungeniert bei Yami fort und dieser kam nicht umhin, sich zu fragen, ob es vielleicht ebendiese Unverfrorenheit war, die Seto an seinem zukünftigen Stiefbruder – dem Namen nach konnte der Neue einfach niemand anders sein – zu schaffen machte. Otogi Ryuuji ... Na, das verspricht, interessant zu werden, dachte Yami und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Unterricht zu. Ryuuji konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, als der Sitznachbar seines zukünftigen Stiefbruders sich wieder dem Japanischunterricht Kayashima-senseis widmete. Die violetten Augen des Bunthaarigen – der eine wirklich außergewöhnliche Frisur hatte, das musste der Neid ihm lassen – waren wirklich faszinierend gewesen. Als der Blick des Schwarzhaarigen jedoch wieder auf den kaum merklich versteiften Rücken Setos fiel, seufzte er unhörbar. Das kann ja heiter werden, dachte er, ohne zu ahnen, dass dem Brünetten zeitgleich ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. "Mensch, Alter, warum hast du mir denn nicht gesagt, dass du auf unsere Schule kommst?" Katsuya, der Ryuuji gemeinsam mit Bakura in der Pause durch das Schulgebäude führte, warf seinem Freund einen vorwurfsvollen Blick zu und der Angesprochene seufzte. "Weil ich das bis heute Morgen selbst nicht wusste, Kats", gab er zurück. "Meine Mum hat mir nur gesagt, dass ich ab jetzt die gleiche Schule besuchen werde wie einer meiner Stiefbrüder", fügte er hinzu und erntete einen neugierigen Blick aus schokobraunen Augen. "Und? Hast Du ihn schon getroffen?", erkundigte er sich und Ryuuji grinste. "Allerdings. Und Du kennst ihn sogar. Er geht in unsere Klasse", antwortete er und seine grünen Augen funkelten vor Vergnügen, als der Blondschopf ihn verwirrt ansah. "Hä? Echt? Wer ist es denn?", wollte Katsuya wissen und Ryuujis Grinsen wurde noch eine Spur breiter. "Kaiba. Kaiba Seto." Nach diesen Worten wurden sich die schokobraunen Augen seines besten Freundes groß, während Bakura, der bisher geschwiegen hatte, einen leisen Pfiff ausstieß. "Glückwunsch. Die Kaibas haben so einen großen Haufen Kohle, dass er locker für fünf Leben reicht", murmelte er. Der Blondschopf hingegen schüttelte sich. Allein die Vorstellung reichte schon vollkommen aus, dass ihm ganz anders zumute wurde. "Ich würd nicht für alles Geld der Welt freiwillig mit dem unter einem Dach leben wollen!" Ryuuji seufzte innerlich, winkte aber gleich darauf ab. "Ach, das wird schon. Der Kleine, Mokuba, ist jedenfalls ein ganz Süßer", sagte er und erzählte den beiden vom vergangenen Abend. "Du hast Kaiba echt umarmt? Den Kaiba? Den Eisklotz, der nie auch nur eine Miene verzieht?", fragte Katsuya ungläubig, nachdem sein bester Freund geendet hatte, und Ryuuji nickte. "Wenn ich's dir doch sage. Du hättest sein Gesicht sehen sollen!", lachte er, wurde dann aber wieder ernst. Er hatte sich vorgenommen, es seiner Mutter nicht unnötig schwer zu machen, also sollte er sich wohl bemühen, sich mit seinem zukünftigen Stiefbruder zu vertragen. Und es war offensichtlich gewesen, dass dieser ihm die Umarmung vom Vorabend ziemlich übel genommen hatte. Ich sollte mich wohl besser bei ihm entschuldigen, dachte der Schwarzhaarige und seine grünen Augen suchten den Schulhof ab, bis sie schlussendlich Denjenigen gefunden hatten, nach dem sie Ausschau gehalten hatten. "Entschuldigt mich kurz, ja?", wandte Ryuuji sich an seinen blonden Freund und Bakura, ließ die beiden stehen und sprintete zu Seto und seinem bunthaarigen Freund hinüber, die gemeinsam an einer der Bänke standen und sich unterhielten. oOo Als es zur Pause klingelte, hatte Seto es ungewohnt eilig, den Klassenraum zu verlassen. Auch als er bereits den Schulhof betreten hatte, hatte er immer noch das Gefühl, die Augen seines zukünftigen Stiefbruders in seinem Rücken zu spüren – ein Gefühl, das ihm während des Unterrichts einen Schauer nach dem anderen über den Körper gejagt hatte. Verdammt, warum musste Otogi von allen Schulen in ihrer Stadt ausgerechnet diese besuchen? Das durfte doch einfach nicht wahr sein! "Nicht genug damit, dass er auf diese Schule und in unsere Klasse kommt; nein, er muss auch noch ausgerechnet mit Jounouchi Katsuya, dieser blonden Plage auf zwei Beinen, befreundet sein." Seto knirschte hörbar mit den Zähnen und Yami beobachtete ihn interessiert. "Der geht dir echt unter die Haut, was?", fragte er und sein bester Freund schnaubte abfällig. "Ganz bestimmt nicht! Es passt nur einfach zu ihm, mit dieser Nervensäge von Jounouchi befreundet zu sein. Einer schlimmer als der Andere!", gab er zurück und Yami bemühte sich, das Zucken seiner Mundwinkel zu unterdrücken. Es war einfach zu komisch, wie sein bester Freund beinahe schon krampfhaft versuchte, das Thema Otogi Ryuuji zu vermeiden – nur, um letztendlich doch wieder auf ihn zu sprechen zu kommen. Ob Seto selbst das eigentlich bemerkte? Offensichtlich nicht, denn sonst hätte er sicher kein weiteres Wort mehr darüber verloren. "A propos Nervensäge: Mir scheint, unser Neuer steuert gerade genau auf uns beide zu, Seto." Durch die Worte aufmerksam gemacht, wandte sich der Angesprochene um und stöhnte innerlich. Musste dieser Kerl ihn jetzt auch noch in der Schule belästigen? Konnte er nicht bei dem Köter und dem Kleinkriminellen bleiben und ihn in Ruhe lassen? "Entschuldige, wenn ich störe, Seto, aber kann ich dich kurz sprechen?", wandte sich Ryuuji an den Brünetten und Yami wollte aufstehen, um die beiden alleine zu lassen. Ein leichter Wink Setos ließ ihn jedoch bleiben, wo er war. Ganz offenbar wollte sein bester Freund – aus welchem Grund auch immer – nicht mit seinem zukünftigen Stiefbruder alleine sein. Ryuuji, der die Geste ebenfalls gesehen hatte, runzelte kurz die Stirn, sagte aber nichts dazu. Wenn Seto wollte, dass sein Freund ihrem Gespräch beiwohnte, bitteschön. Das war nicht sein Problem, sondern einzig und allein Setos. "Was kann ich für dich tun?", fragte Seto gerade und der kühle Unterton in seiner Stimme ließ Ryuuji leicht schmunzeln. Jetzt verstand er auch, warum Katsuya den Brünetten als Eisklotz bezeichnet hatte. Mit diesem Tonfall konnte man ja wirklich Leute einfrieren. Ob Seto wohl einen Waffenschein dafür hatte? "Ich wollte mich eigentlich nur für gestern Abend entschuldigen. Wir hatten ja wohl keinen besonders guten Start. Ich hoffe, du hast keinen allzu schlechten Eindruck von mir. Aber na ja, so bin ich nun mal. Du musst mich nicht mögen, aber wir sollten – unseren Eltern zuliebe – versuchen, wenigstens irgendwie miteinander auszukommen", beantwortete Ryuuji die Frage und sah genau in die faszinierenden blauen Augen seines Gesprächspartners. Dieser hob eine Braue und schwieg einen Moment, bevor er langsam nickte. Vielleicht – auch wenn der Schwarzhaarige schon wieder geschminkt war – konnten sie sich ja doch irgendwie miteinander arrangieren. Immerhin klang sein Vorschlag durchaus vernünftig und durch seine Entschuldigung zeigte Otogi ja durchaus seinen guten Willen. Und hatte er selbst sich nicht am Morgen vorgenommen, sich Mokuba und seinem Vater zuliebe zusammenzunehmen? "Ich denke, das sollte möglich sein", stimmte er deshalb zu und Ryuuji streckte ihm lächelnd seine rechte Hand hin. Seto ergriff sie nach kurzem, kaum wahrnehmbaren Zögern und aus dem Lächeln des Schwarzhaarigen wurde ein breites Grinsen. "Du musst keine Angst haben, Seto. Ich beiße schon nicht. Ich werd dich auch nicht mehr umarmen. Versprochen!" Mit diesen Worten und einem letzten Zwinkern ließ Ryuuji die Hand seines zukünftigen Stiefbruders wieder los und sprintete zurück zu Katsuya und Bakura, um die unterbrochene Führung durch die Schule fortzusetzen. Sprachlos und bebend vor unterdrücktem Zorn sah Seto ihm nach. Dieser ... dieser ...! Wie kann er so etwas vor Yami sagen?, brodelte er innerlich und ignorierte dabei geflissentlich die Tatsache, dass er selbst es gewesen war, der seinen besten Freund am Gehen gehindert hatte, um nicht allein mit Otogi sprechen zu müssen. "Was hat er gerade gesagt? Ich werd dich auch nicht mehr umarmen? Habe ich das richtig verstanden? Und du hast ihn am Leben gelassen?", streute Yami auch gleich Salz in die Wunde. Seto schnaubte nur, doch sein Schweigen war für Yami Antwort genug. Ganz offenbar hatte ihr neuer Klassenkamerad seinen besten Freund tatsächlich umarmt. Und ebenso offensichtlich hatte diesen das nicht unberührt gelassen. Na, dieser Otogi traut sich ja was, grinste Yami und tippte Seto an. "Komm, lass uns reingehen. Es hat geklingelt und du weißt doch, dass Yamato-sensei nicht gerne wartet." Seto nickte und folgte seinem besten Freund zu ihrem Klassenraum, doch mit seinen Gedanken war er nicht bei der folgenden Doppelstunde Mathematik, sondern bei dem frechen Schwarzhaarigen mit dem unverschämten Grinsen und den grünen Katzenaugen, der einfach nicht aus seinem Kopf verschwinden wollte, so sehr er sich das auch wünschte. Kapitel 6: Die Einladung ------------------------ Für den Rest des Schultages strafte Seto seinen zukünftigen Stiefbruder mit eisiger Nichtachtung, doch das schien Ryuuji erstaunlich wenig zu stören – was vielleicht auch einfach nur daran lag, dass er voll und ganz damit beschäftigt war, sich mit Katsuya und Bakura zu unterhalten und deshalb von Setos Unmut nicht wirklich etwas mitbekam. Die Tatsache jedoch, dass gegen den frechen Schwarzhaarigen offenbar nicht einmal seine beste Waffe – völlige Ignoranz – etwas nützte, verschlechterte Setos Laune unerklärlicherweise nur noch mehr. Wie konnte Ryuuji es nur wagen, nicht einmal zu bemerken, dass er ignoriert wurde? Er hatte sich gefälligst darüber zu ärgern wie jeder andere auch, dem so etwas schon einmal passiert war, und nicht einfach weiter mit dem Köter und dem Kleinkriminellen herumzualbern, als wenn nichts geschehen wäre! Verdammt, jeder andere ärgerte sich doch auch, wenn er ihn nicht beachtete! Warum war ausgerechnet der Schwarzhaarige scheinbar immun dagegen? Yami beobachtete seinen besten Freund für den Rest des Schultages sehr aufmerksam und so entging ihm nicht, wie schlecht Setos Laune war – was augenscheinlich an seinem zukünftigen Stiefbruder lag. Andererseits hatte auch der Bunthaarige noch nie erlebt, dass es irgendjemandem ganz offenbar völlig egal war, ob Seto ihn beachtete oder nicht, daher konnte er nicht umhin, Otogi Ryuuji so etwas wie Respekt zu zollen. Wer sich nicht an Setos Benehmen störte, musste schon ein sehr dickes Fell haben. So versunken, wie Seto in sein Schmollen – anders konnte man das, was er tat, nun wirklich nicht mehr nennen, aber laut aussprechen würde Yami das ganz sicher nicht – war, bemerkte er nicht einmal, dass irgendwann nach dem Ende des Unterrichts eines der Mädchen aus ihrer Klasse – Himura Midori-chan, um genau zu sein – mit zwei weißen Briefumschlägen auf sie zukam. "Ich ... ich würde euch beide gerne zu meiner Geburtstagsparty am Samstagabend einladen. Es ist ein Maskenball und ich würde mich wirklich freuen, wenn ihr kommen würdet, Kaiba-kun, Muto-kun", murmelte sie leise und Yami lächelte ihr dankend zu, als sie ihm die Einladungen schüchtern entgegenstreckte. "Seto und ich werden da sein. Ganz bestimmt", versprach er und das Mädchen errötete, bevor sie sich entfernte, um weitere Einladungen unter ihren restlichen Klassenkameraden zu verteilen. Da ihm Seto im Augenblick nicht ansprechbar zu sein schien – rein äußerlich machte er den Eindruck, als wäre er kalt wie immer, aber seine ärgerlich zusammengekniffenen blauen Augen sprühten Funken, wann immer er auch nur den kleinsten Zipfel seines künftigen Stiefbruders sah oder dessen Stimme hörte –, schob Yami beide Einladungen in seine Tasche. Er würde seinem besten Freund seine eigene später geben. Und er würde dafür sorgen, dass Seto auch wirklich zu der Party kam. Auch ein Kaiba Seto brauchte hin und wieder mal etwas Abwechslung. oOo "Jounouchi-kun, Kinoshita-kun, bitte wartet einen Moment!" Die Stimme ihrer Klassenkameradin Himura ließ die beiden Angesprochenen und auch Ryuuji innehalten, als sie nach dem Unterricht gemeinsam das Schulgelände verlassen wollten. Mit fliegenden braunen Haaren und geröteten Wangen kam das Mädchen auf die Drei zu gerannt, zwei weiße Briefumschläge in der Hand, und blieb schließlich etwas außer Atem vor den Jungen stehen. "Ich ... wollte euch zu meinem Geburtstag einladen. Ich feiere am Samstagabend und ich würde mich freuen, wenn ihr kommen würdet." Mit diesen Worten streckte sie dem Blonden und dem Weißhaarigen jeweils einen Umschlag entgegen und wandte sich dann mit einem schüchternen Lächeln an ihren neuen Klassenkameraden, der neben den beiden stand. "Leider wusste ich nicht, dass wir heute einen neuen Mitschüler bekommen würden, aber ich hoffe, du nimmst auch eine mündliche Einladung von mir an, Otogi-kun. Ich würde mich freuen, wenn du ebenfalls am Samstagabend kommen würdest", murmelte sie und errötete aufs Heftigste, als der gutaussehende Schwarzhaarige, dem bereits einige Mädchen aus der Klasse hoffnungslos verfallen waren, sie anlächelte. "Wenn du so nett fragst, kann ich doch gar nicht Nein sagen. Du kannst also darauf zählen, dass ich komme", versprach er und Katsuya nickte hektisch. "Kura und ich kommen auch. Ist doch wohl Ehrensache!", klinkte er sich ein und der Weißhaarige schnaubte zwar, widersprach aber nicht. Immerhin kannte er seinen Beinahe-Bruder inzwischen gut genug um zu wissen, dass Widerworte sowieso keinen Sinn machten. Wenn Kats sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte ihn nichts und niemand daran hindern, das auch durchzuziehen – eine manchmal etwas nervige Eigenschaft, die Bakura allerdings durchaus mochte, obwohl er das niemals freiwillig zugegeben hätte. Midori lächelte erneut. "Das freut mich sehr. Bis morgen dann", verabschiedete sie sich dann mit geröteten Wangen und ließ die drei Jungen alleine. Kaum, dass sie weg war, riss Katsuya den Umschlag auf, zog die Einladung heraus und las sie durch. "Eine Kostümparty. Wie geil!", freute er sich und seine Augen wurden groß, als er sah, wo seine Klassenkameradin zu feiern gedachte. Bakura, der dem Blondschopf über die Schulter gesehen hatte, zuckte nur mit den Schultern, als er die Einladung überflogen hatte. "Was hast du erwartet, Kats? Ihre Eltern haben Kohle. Klar, dass die für den achtzehnten Geburtstag ihrer kleinen Prinzessin gleich ne große Halle mieten", murmelte er und wandte sich ab. Dadurch entging ihm der forschende Blick, den Ryuuji ihm zuwarf. Ryuuji starrte nachdenklich auf Bakuras Rücken, nachdem dieser sich zum Gehen gewandt hatte. Da Kats allerdings keine Anstalten machte, dem Weißhaarigen zu folgen, blieb auch er stehen und sah stattdessen wieder zu seinem blonden Freund, der sich noch immer wie ein Schneekönig über die Einladung zu freuen schien. "Sag mal, ist Kinoshita immer so?", erkundigte er sich und Katsuya schob die Einladung in seine Tasche. Dann blickte er auf und legte den Kopf schief. "Kura? Meistens", beantwortete er die Frage und grinste leicht. "Er ist etwas schwierig, wenn man ihn nicht kennt, aber eigentlich ist er ein guter Kerl. Er zeigt das eben nur nicht. Aber er hat auch seine Gründe dafür, dass er so ist, wie er nun mal ist", fuhr er fort, lieferte aber keine weitere Erklärung. Das, was er über Bakura wusste, war sehr privat und er hatte versprochen, mit niemandem darüber zu sprechen. Und niemand beinhaltete nun einmal auch seinen besten Freund, den er jetzt sechs Monate lang nicht gesehen hatte. "Na, wenn du das sagst.", murmelte Ryuuji und schüttelte kurz den Kopf. "Ich hatte nur den Eindruck, dass er nicht gut auf Leute zu sprechen ist, die Geld haben", teilte er seinem blonden Freund seine Vermutung mit und dieser nickte seufzend. "Stimmt schon. Aber wie gesagt, er hat seine Gründe dafür. Vielleicht erzählt er's dir ja irgendwann mal von selbst", erwiderte er und Ryuuji verstand, was Katsuya ihm damit sagen wollte. Ganz offenbar wusste er Bescheid, hatte aber sein Wort gegeben, nichts zu verraten. "Ist schon okay", beruhigte er den Blondschopf daher, grinste ihn an und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. "Und was machen wir zwei Hübschen jetzt?", wollte er dann wissen und nun grinste auch Katsuya. "Jetzt gehen wir in die Stadt. Ich muss mich eh noch wegen einem Kostüm für Samstag umsehen, da kannst du auch gleich mitkommen und mich beraten. Es sei denn, du hast keine Lust, Ryuuji." "Was für ein Unsinn! Klar bin ich dabei", gab der Angesprochene zurück und ließ sich von seinem Freund den Weg von seiner neuen Schule zur Innenstadt zeigen. Er selbst wusste schon ganz genau, was er an dem entsprechenden Samstagabend anziehen würde. Schließlich hatte sein Halloween-Kostüm im vergangenen Jahr in den Staaten ganz schön für Furore gesorgt und das würde es hier in Japan sicher auch. Er musste nur darauf achten, dass seine Mutter es nicht sah, denn sie wäre davon sicher nicht so begeistert. oOo "Midori-chan hat uns beide zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen, Seto." Die Stimme seines besten Freundes riss Seto aus seinen Gedanken. Er sah den Bunthaarigen an und nahm ihm nach kurzem Zögern den weißen Briefumschlag ab, mit dem dieser vor seinem Gesicht herumgewedelt hatte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. "Himura?", hakte er noch einmal nach, während er bereits die Einladung überflog. Yami nickte und grinste ihn an. "Genau die", antwortete er und der Brünette schnaubte. Er kannte die Familie des Mädchens, denn sein Vater hatte hin und wieder geschäftlich mit den Himuras zu tun. "Nun ja, das ist schön für sie", murmelte er und hob eine Braue, als sein bester Freund nach seinen Worten demonstrativ den Kopf schüttelte. "Was denn?" "Ich weiß genau, was du damit sagen willst, Seto. Ich kenne dich. Aber so leid es mir tut, ich habe schon zugesagt – für uns beide. Wenn du nicht so damit beschäftigt gewesen wärst, dich über Otogis Verhalten zu ärgern, hättest du sicher sogar mitbekommen, wann sie uns die Einladungen gegeben hat. Und dann hättest du ihr gleich absagen können. Aber wenn du das jetzt noch tust, blamierst du dich nur", trumpfte er auf und Seto grummelte leise. Unglücklicherweise hatte Yami durchaus Recht, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er klein beigab. "Ich kann mich immer noch wegen Krankheit entschuldigen lassen", erklärte er etwas von oben herab und Yami seufzte abgrundtief. "Komm schon, Seto. Jetzt hab dich doch nicht so. Es wird dich nicht gleich umbringen, wenn du ab und zu mal ausgehst und etwas Spaß hast. Gib dir einen Ruck, Seto. Mir zuliebe", bat er, doch ein Blick in das Gesicht seines Freundes machte ihm deutlich, dass es besser war, jetzt nicht mehr darüber zu reden. Seto gab dem Anderen keine Antwort mehr, sondern ging in Richtung der Limousine, die gerade auf dem Schulparkplatz gehalten hatte. "Kommst du?", fragte er Yami dabei über seine Schulter hinweg und dieser grinste leicht. Ganz offenbar wollte sein bester Freund im Augenblick nicht mit seinem kleinen Bruder alleine sein. Aber nett, wie er nun einmal war, würde er Seto den Gefallen tun und ihn begleiten. Immerhin war er mit der Limousine wesentlich schneller zu Hause als wenn er den Bus nahm. Isono, der inzwischen ausgestiegen und um den Wagen herumgegangen war, hielt die Tür für den Sohn seines Chefs und dessen Freund auf. "Guten Tag, Seto-san. Guten Tag, Muto-kun", grüßte er und Seto nickte ihm kurz zu, bevor er einen Blick ins Innere der Limousine warf, wo er zu seiner Überraschung allerdings nicht seinen kleinen Bruder vorfand, sondern nur gähnende Leere. "Wo ist Mokuba?", erkundigte er sich und der Chauffeur räusperte sich, bevor er antwortete. "Mokuba-san ist noch mit Kinoshita Ryou-kun unterwegs. Er bat mich, auszurichten, dass er noch nicht genau weiß, wann er nach Hause kommt, aber dass es möglicherweise spät werden könnte", erklärte er und Seto seufzte unhörbar. Also war sein kleiner Bruder immer noch böse auf ihn. Wunderbar. "Mokuba schmollt also noch?", fragte Yami aus dem Inneren der Limousine und Seto stieg ebenfalls ein, damit Isono die Tür schließen und losfahren konnte. "Es sieht ganz danach aus", murmelte er, kaum dass die Tür hinter ihm geschlossen worden war. "Das tut mir leid für dich, Seto. Aber der Kleine kriegt sich schon wieder ein. Schließlich schmollt er doch nie lange. Er kann dir doch gar nicht wirklich dauerhaft böse sein", versuchte er, seinen Freund aufzuheitern. Seto seufzte nur, doch dann fiel ihm wieder ein, was Yami bezüglich der Einladung Himuras zu ihm gesagt hatte. "Ich habe mich übrigens nicht über Otogi geärgert", stellte er klar und erntete einen belustigten Blick aus den violetten Augen seines Gegenübers. Natürlich nicht, Seto. Du doch nicht, dachte dieser ironisch, beschloss aber, das lieber nicht laut auszusprechen. Schließlich wollte er keinen Streit provozieren. "Wenn du das sagst", erwiderte er daher nur und Seto sah ihn misstrauisch an. Machte Yami sich etwa lustig über ihn? Er klang nicht unbedingt so, als würde er ihm glauben. Dabei war das, was er gesagt hatte, durchaus die Wahrheit. Er hatte sich wirklich nicht über das Verhalten seines zukünftigen Stiefbruders geärgert. Oder zumindest kaum. oOo Mokuba und Ryou waren nach der Schule – für sie beide waren heute glücklicherweise wegen einer außerordentlichen Lehrerkonferenz die letzten drei Stunden ausgefallen – gleich zu ihrem gemeinsamen Freund Yuugi gegangen, um diesem ihre Hausaufgaben zu bringen. Da der bunthaarige Junge allerdings gerade geschlafen hatte und noch von seinem Fieber geschwächt gewesen war, hatten sie seiner Mutter nur schnell die Aufgabenblätter übergeben, sich höflich wieder verabschiedet und waren dann übereingekommen, dass sie ja gemeinsam noch etwas in die Stadt gehen könnten – ein Vorschlag Ryous, dem Mokuba nur zu begierig zugestimmt hatte, denn nach Hause hatte er einfach noch nicht gewollt. Miteinander schwatzend und lachend waren die beiden Fünfzehnjährigen gemeinsam durch die Innenstadt gebummelt, hatten sich die Schaufenster angesehen und sich nach einer Weile dafür entschieden, erst einmal einen Zwischenstopp bei Burgerworld, ihrem Lieblings-Fastfood-Restaurant, einzulegen, um sich ein bisschen zu stärken, bevor sie ihre Tour fortsetzten. Mokuba wollte gerade heißhungrig in seinen Burger beißen, als er draußen am Fenster eine ihm bekannte Gestalt vorbeilaufen sah – oder eigentlich sogar zwei, wenn man Jounouchi Katsuya, einen Klassenkameraden seines großen Bruders, mit einrechnete. Sofort legte der Fünfzehnjährige sein verspätetes Mittagessen zurück auf sein Tablett, sprang auf und rannte nach draußen, einen vollkommen verdutzten und überrumpelten Ryou hinter sich zurücklassend. "Ryuuji!" Eine helle Stimme, die seinen Namen rief, unterbrach Ryuujis Gespräch mit seinem blonden Freund. Ziemlich überrascht drehte er sich um und sah sich im nächsten Moment mit einem über das ganze Gesicht strahlenden Mokuba konfrontiert. Ganz offenbar war es also sein zukünftiger jüngerer Stiefbruder gewesen, der ihn gerufen hatte. "Hallo, Ryuuji. Und hallo, Jounouchi-kun", grüßte Mokuba und die beiden Angesprochenen grüßten zurück, bevor sie sich suchend umsahen. "Sieh an, der kleine Kaiba", grinste Katsuya. "Bist du alleine hier?", fragte er gleich und der Junge schüttelte den Kopf. "Nein. Ich bin mit Ryou unterwegs", erklärte er und der Blondschopf nickte. Immerhin kannte er Bakuras kleinen Bruder und wusste, dass dieser mit dem jüngeren der beiden Kaibas befreundet war. "Und was macht ihr hier?", wollte Mokuba wissen und Katsuya wedelte mit der Tüte, in der sich alles befand, was er für sein Kostüm am Samstagabend brauchen würde. "Wir waren shoppen", antwortete er und die blauen Augen des Jüngsten im Bunde wurden groß. "Ihr Zwei kennt euch?", fragte er das Offensichtliche und Katsuya und Ryuuji nickten beinahe zeitgleich. "Schon ewig.", beantwortete dieses Mal Ryuuji die Frage und warf dann einen Blick auf das Schild von Burgerworld. "Wie sieht's aus, Kats, machen wir ne Pause? Ich glaub, ich könnte was zu essen vertragen", schlug er vor und der Blondschopf nickte heftig. "Gute Idee. So langsam verhungere ich nämlich!", verkündete er und der Schwarzhaarige lachte. "Du hast dich echt nicht verändert, Kats. Kein Stück", stellte er dann schmunzelnd fest und legte jedem der beiden einen Arm um die Schultern, um sie durch die Tür zu lotsen. "Ryou und ich sitzen da hinten. An unserem Tisch ist noch Platz. Ihr könnt gerne zu uns kommen, wenn ihr wollt.", bot Mokuba an und wartete noch das Nicken der beiden ab, bevor er zu seinem weißhaarigen freund zurückflitzte. "Das da drüben ist Ryuuji", erklärte er Ryou strahlend, sobald er sich wieder auf seinen Platz hatte fallen lassen. "Ich hab ihn und Jounouchi-kun eingeladen, zu uns rüberzukommen. Du hast doch nichts dagegen, oder, Ryou?", schob er dann etwas kleinlaut hinterher und atmete sichtbar auf, als sein Freund ihn anlächelte und den Kopf schüttelte. "Das ist schon in Ordnung", erwiderte Ryou. In der Tat war das für ihn sogar mehr als in Ordnung, denn so hatte er die Gelegenheit, Jounouchi Katsuya mal ein bisschen über seinen älteren Bruder auszufragen. Immerhin wohnten der Blondschopf und Bakura zusammen, seit Jounouchis Vater und seine und Bakuras Mutter eine Beziehung miteinander angefangen hatten. Jounouchi, dachte Ryou mit einem Anflug von Traurigkeit, sah seinen großen Bruder also weitaus öfter als er selbst. Nachdem Ryuuji und Katsuya ihre Bestellungen aufgegeben und das Gewünschte erhalten hatten, balancierten sie ihre Tabletts zu dem Tisch, an dem Ryou und Mokuba saßen. Die zwei Fünfzehnjährigen rutschten ein Stück zur Seite und schufen so Platz, so dass die beiden Älteren ihr Essen auch auf dem Tisch abstellen konnten. Kaum, dass sie sich gesetzt hatten – Ryuuji hatte den Platz neben Mokuba genommen, was der Schwarzhaarige mit einem weiteren Strahlen quittiert hatte –, wandte sich Ryou auch schon an den Blonden. "Wie geht es meinem Bruder?", platzte er heraus und hielt sich dann erschrocken eine Hand vor seinen Mund. "Oh, entschuldige bitte, Jounouchi-kun. Ich wünsche dir erst einmal guten Appetit. Und dir auch, Otogi-kun", haspelte er und die Ryuuji und Katsuya grinsten unisono, als das Gesicht des Weißhaarigen krebsrot anlief. "Schon okay, Ryou. Kein Thema, echt", wiegelte Katsuya ab. "Und Kura geht's gut", schob er noch hinterher und der Angesprochene nickte. Dabei fühlte er einen leisen Stich. Früher war er der Einzige gewesen, der seinen großen Bruder Kura hatte nennen dürfen. Ganz offenbar gab es inzwischen noch jemanden, der dieses Privileg genoss. Irgendwie tat das weh. "Du bist Kinoshitas kleiner Bruder, oder?", erkundigte Ryuuji sich und schüttelte gleich über sich selbst den Kopf. "Klar. Blöde Frage, sorry. Ist ja eigentlich nicht zu übersehen. Ihr seht euch ziemlich ähnlich", stellte er fest und Ryou lächelte gleich wieder, als er das hörte. Auch, wenn sein Vater es nicht mochte, ihm selbst gefiel es, mit seinem älteren Bruder verglichen zu werden. Egal, wie selten sie sich sahen und wie kurz der Kontakt auch jedes Mal sein mochte, er liebte seinen großen Bruder einfach. Daran hatte auch die Trennung ihrer Eltern vor zwei Jahren nichts ändern können. "Ja, Bakura ist mein Bruder, Otogi-kun.", beantwortete er überflüssigerweise die Frage des Schwarzhaarigen und erntete dafür einen nachdenklichen Blick aus dessen intensiven grünen Katzenaugen. "Wie gesagt, sieht man. Ihr habt die gleichen Augen. Nur der Blick ist anders", erwiderte dieser und grinste den Jüngeren an. "Aber du musst nicht so förmlich sein. Nenn mich Ryuuji, das reicht völlig", bot er an und Mokubas Grinsen wurde gleich noch breiter. "Hab ich dir nicht gesagt, dass er total nett ist?", entfuhr es ihm und gleich darauf wurde er ebenso puterrot wie Ryou kurz zuvor. Himmel, war das peinlich! So etwas konnte er doch nicht einfach so sagen! Was mochte Ryuuji jetzt von ihm denken? Hoffentlich hielt er ihn jetzt nicht für einen totalen Vollidioten! Und hoffentlich war er ihm nicht böse, weil er einfach so mit Ryou über ihn gesprochen hatte! Das wäre ganz sicher das Schlimmste, was ihm passieren könnte. Anstatt böse zu sein, grinste Ryuuji allerdings nur und auch Katsuya konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. "Scheint, als würde der Kleine dich mögen.", stellte er fest und Ryuuji drückte den Jungen neben sich kurz – eine Geste, die Mokubas Herz um ein Vielfaches schneller schlagen ließ. "Das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich hab dir ja gesagt, er ist süß", erinnerte er seinen blonden Freund und die Wangen des Fünfzehnjährigen nahmen eine noch dunklere Färbung an. Ihn hatte noch nie jemand süß genannt – zumindest niemand, der so cool war wie sein zukünftiger Stiefbruder. "Fi-Findest Du? Da-danke.", stammelte Mokuba und wäre im nächsten Moment am liebsten vor Scham im Erdboden versunken. Seit wann klang seine Stimme denn so piepsig? Wie peinlich war das denn? Er war doch kein kleines Kind mehr! Und er war schon gar kein Mädchen. Mädchen quietschten, wenn sie Komplimente bekamen, aber Jungs taten so etwas doch nicht! Das war schließlich ganz und gar unmännlich. Außer ihm schien sich allerdings niemand an seinem Fiepen zu stören, denn Ryuuji, der ihn inzwischen wieder losgelassen hatte, und Katsuya unterhielten sich über den Tisch hinweg über irgendeine Party, auf die sie wohl beide gemeinsam am Samstagabend gehen wollten. Allerdings bekam Mokuba nur sehr wenig von dem Gesagten wirklich mit, denn in seinen Ohren rauschte das Blut und sein Herz raste noch immer – und das nur wegen eines kleinen, beiläufigen Kompliments von einem älteren Jungen. Was hatte das nur zu bedeuten? Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, schüttelte der Fünfzehnjährige den Kopf. Solche komischen Gedanken sollte er sich besser nicht machen. Nein, das war nicht gut. Ryuuji würde bald sein Bruder sein, so wie Seto. Beim Gedanken an seinen leiblichen Bruder, verzog Mokuba das Gesicht. Wann hatte Seto ihn das letzte Mal in den Arm genommen? Wann hatte er ihm das letzte Mal etwas Nettes gesagt? Wann hatte er ihn das letzte Mal angelächelt? "Blödmann", nuschelte Mokuba und fand sich gleich darauf im Zentrum der Aufmerksamkeit eines grünen Augenpaars – Katsuya und Ryou unterhielten sich gerade angeregt miteinander über irgendetwas – wieder. "Über wen ärgerst du dich denn so, hm?", erkundigte Ryuuji sich und Mokuba lief wieder rot an. Irgendwie war es ihm furchtbar peinlich, dass er sich so schlecht im Griff hatte. Aber hatte Ryuuji andererseits nicht ein Recht zu erfahren, was Seto und sein Vater sich erdreistet hatten? Einen Augenblick lang zögerte Mokuba noch, dann gab er dem auffordernden Blick seines zukünftigen Stiefbruders nach. "Über meinen Bruder", antwortete er und seufzte abgrundtief. "Seto spinnt. Er hat gestern Abend ein paar Sachen über dich gesagt, die nicht nett waren. Außerdem haben Vater und er sich heimlich über dich unterhalten und dann hat mein Bruder so getan, als wüsste er von nichts. Sie behandeln mich wie ein kleines Kind", beschwerte er sich und hielt dann erschrocken inne. Eigentlich gehörte sich so etwas doch gar nicht. Wie hatte er Ryuuji nur damit belästigen können? Bei den Worten des Kleinen huschte kurz ein Schatten über Ryuujis Gesicht, doch er hatte sich schnell wieder gefangen. Das, was Mokuba gerade gesagt hatte, hatte schließlich nur seine Befürchtungen bestätigt, mehr nicht. Was hatte er denn erwartet? Mit offenen Armen empfangen zu werden – gerade von jemandem wie Seto? Das war ja wohl eine absolut utopische Vorstellung. Der Brünette hatte sich eine Meinung über ihn gebildet und die würde er ganz sicher auch nicht mehr revidieren. Schade, aber nicht zu ändern. Mehr als widerwillige Duldung seiner Existenz konnte er von Seto wohl nicht erwarten – ebenso wenig wie von seinem zukünftigen Stiefvater. "Ist doch nicht so schlimm", wiegelte Ryuuji daher ab und grinste den neben ihm Sitzenden an. "Mich hat's noch nie interessiert, was irgendjemand hinter meinem Rücken über mich sagt. Außerdem: Solange über mich geredet wird, bin ich wenigstens noch interessant", fügte er hinzu und bemühte sich, einen möglichst unbekümmerten Eindruck zu machen. Dadurch, dass der Kleine ihn offenbar mochte, stand er in seiner Familie scheinbar derzeit auf ganz verlorenem Posten. Armer Junge! Mokuba staunte seinen Gesprächspartner mit offenem Mund an. Er hatte alles erwartet – Ärger, Enttäuschung, vielleicht sogar Traurigkeit –, aber dass Ryuuji die Meinung seines Vaters und seines Bruders einfach mit einem Schulterzucken abtat, als wäre das nichts Besonderes, vergrößerte seine Bewunderung für seinen zukünftigen Stiefbruder nur noch. "Und das macht dir wirklich gar nichts aus?", hakte er nach und Ryuuji grinste noch etwas breiter, bevor er den Kopf schüttelte. "Quatsch! Warum denn? Mir reicht's vollkommen, wenn du mich magst." Dass ihn das alles doch störte – gerade bei Seto –, behielt Ryuuji lieber für sich. Der Kleine musste nun auch nicht alles wissen. "Denk da einfach nicht weiter drüber nach, okay, Mokuba?" Der Angesprochene nickte und begann dann wieder zu strahlen. Ha, sein neuer Bruder war ja noch viel, viel cooler, als er gedacht hatte! Ryuuji ließ sich weder von Seto noch von seinem Vater unterkriegen, sondern ignorierte deren Meinung einfach. Wenn das nicht cool und bewundernswert war, was war es dann? Ryou, der sich die ganze Zeit über mit Katsuya über seinen Bruder unterhalten hatte – der Blonde hatte ihm inzwischen angeboten, ihn ebenso wie Ryuuji ganz unkonventionell beim Vornamen zu nennen –, hatte trotzdem aus dem Augenwinkel beobachtete, wie Mokuba mit seinem zukünftigen Stiefbruder gesprochen hatte. Und der Blick, mit dem sein Freund Ryuuji bedachte, gefiel dem Weißhaarigen ganz und gar nicht. Warum himmelte Mokuba Ryuuji bitteschön so an? Was war denn so toll an ihm? Sicher, er sah gut aus und war scheinbar auch ganz nett, aber das war doch nun wirklich kein Grund für solche Blicke, oder? "So, ich bin fertig. Kommst du, Ryuuji?", riss Katsuya seinen besten Freund aus dessen Gespräch mit Mokuba und der Angesprochene nickte. "Klar", erwiderte er und wandte sich wieder an die beiden Jungen. "Also dann, wir sehen uns, Mokuba. Und denk dran, was ich dir gesagt hab, okay? Auf Wiedersehen, Ryou", verabschiedete er sich und drückte seinen künftigen Stiefbruder noch mal kurz, bevor er dem Blondschopf nach draußen folgte. Mokuba sah den beiden Älteren nach, bis sie außer Sichtweite waren. Dann drehte er sich mit leuchtenden Augen wieder zu Ryou um und strahlte seinen Freund an. "Ist er nicht total cool?", fragte er und blinzelte irritiert, als der Weißhaarige einfach nur aufstand und ihre Tabletts abräumte. "Lass uns gehen, Mokuba", nuschelte er danach säuerlich, doch Mokuba fiel dieser Unterton nicht auf. Er war noch immer viel zu beeindruckt davon, wie souverän sein neuer Bruder mit Dingen umging, die viele Andere ewig lange beschäftigt hätten. oOo Seto war, nachdem Isono Yami bei den Mutos abgesetzt hatte, inzwischen seit Stunden mit seinen Hausaufgaben und allem, was er sonst noch zu tun gefunden hatte, fertig. Er hatte nach Ewigkeiten mal wieder seine Bücher sortiert und schlussendlich unten im Wohnzimmer sogar eines davon zu lesen versucht, um nur nicht mehr über Ryuujis fehlende Reaktion auf seine Ignoranz oder Mokubas Verhalten nachdenken zu müssen. Beides war ihm jedoch mehr schlecht als recht gelungen, daher war er froh, als er die Haustür zuschlagen hörte und kurz darauf die Schritte seines kleinen Bruders im Flur erklangen. Mit einem Ächzen erhob Seto sich von der bequemen Wohnzimmercouch, auf der er gesessen hatte, legte sein Buch zur Seite – er war nicht einmal über die ersten hundert Seiten hinausgekommen, obwohl er bereits seit Stunden las – und trat in den Flur, um seinen Bruder zu begrüßen. Vielleicht konnte er ja jetzt endlich in Ruhe mit ihm reden. Jedenfalls hoffte er das. "Du kommst spät, otouto." Mokuba, der gerade seine Schuhe auszog, sah auf, als er statt einer Begrüßung gleich eine Rüge hörte. Komisch, schoss es ihm durch den Kopf. Ryuuji, der nicht einmal wirklich mit ihm verwandt war, hatte ihn herzlich begrüßt und sich ganz offenbar wirklich darüber gefreut, ihn zu sehen. Er hatte sich ganz normal mit ihm unterhalten und ihn sogar noch als süß betitelt – ein Kompliment, dass dem Fünfzehnjährigen gleich wieder das Blut in die Wangen trieb, als er sich daran erinnerte. Und was tat sein leiblicher Bruder? Anstatt sich für sein unmögliches Benehmen zu entschuldigen, das er am Vortag gezeigt hatte, hatte Seto nichts Besseres zu tun, als ihn gleich wieder darauf hinzuweisen, was er seiner Meinung nach falsch gemacht hatte. Das war so typisch für ihn, dass Mokuba sämtliche guten Vorsätze, die er bezüglich einer Versöhnung mit dem ihm gehabt hatte, gleich wieder fallen ließ. "Na und?", fauchte er seinen Bruder stattdessen an und pfefferte seine Schuhe heftiger in den Schuhschrank, als es nötig gewesen wäre. "Ist doch nicht schlimm. Ich hab ja schließlich Bescheid gesagt, wo ich bin und dass es später wird", fügte er hinzu und sah den Brünetten böse an, als dieser einfach nur eine Braue hob und die Arme vor der Brust verschränkte. "Und bevor du fragst: Ja, ich habe meine Hausaufgaben bereits gemacht, und nein, ich habe keinen Hunger mehr. Ryous Vater war so nett, mich zum Essen einzuladen, und ich habe angenommen. Du kannst also von mir aus alleine essen. Mir egal. Und jetzt entschuldige mich. Ich würde jetzt gerne in mein Zimmer gehen und noch etwas lernen." Mit diesen Worten stolzierte Mokuba hoch erhobenen Hauptes an seinem Bruder vorbei, rannte die Treppe hoch und warf die Tür seines Zimmers so laut ins Schloss, dass Seto das Krachen bis unten hörte. Abgrundtief seufzend sah er seinem Bruder hinterher. Irgendwie hatte er sich das Gespräch mit ihm vollkommen anders vorgestellt. So wütend hatte er Mokuba noch nie erlebt. Und bisher hatte er auch noch nie so mit ihm gesprochen. Noch nie waren seine Worte – ob gewollt oder nicht – so verletzend gewesen. Vielleicht sollte ich ihm noch einen Tag Zeit lassen und morgen mit ihm reden, sinnierte Seto und schrak zusammen, als Isono sich in seinem Rücken leise räusperte. "Das Abendessen, Seto-san", erinnerte er den ältesten Sohn seines Arbeitgebers, doch dieser schüttelte nur den Kopf und ging dann ebenfalls nach oben in sein eigenes Zimmer. Nach den Worten seines kleinen Bruders war ihm der Appetit gründlich vergangen. oOo "Mum, ich bin wieder da!", rief Ryuuji in die stille Wohnung hinein, als er die Tür aufschloss. Katsuya hatte wie früher immer auch heute darauf bestanden, ihn bis vor die Haustür zu bringen, aber er hatte nicht mit reinkommen wollen, sondern sich mit der Bitte, sein Freund möge seine Mutter herzlich von ihm grüßen, verabschiedet, um selbst auch endlich nach Hause zu kommen. Immerhin, hatte er erklärt, würden sein Vater und dessen Freundin – Kinoshita Anna, die Mutter von Bakura und Ryou – sicher schon auf ihn warten. "Du bist spät dran. Musstest du nachsitzen?", erkundigte Yukiko sich aus der Küche und Ryuuji verdrehte die Augen. Warum erwarteten seine Eltern eigentlich beide unabhängig voneinander immer das Schlimmste von ihm? Hatte er irgendwo ein für ihn selbst unsichtbares Schild über seinem Kopf, auf dem in neonfarbenen Leuchtbuchstaben groß und unübersehbar ›Sündenbock‹ stand? "Nein, Mum, musste ich nicht. Ich war mit Kats in der Stadt", erwiderte er und trat in die Küche zu seiner Mutter, um sich dort an den Tisch zu setzen und ihr bei der Zubereitung des Abendessens zuzusehen. "Du hast Katsuya getroffen?", fragte Yukiko überrascht und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass ihr Sohn grinsend nickte. "Allerdings. Kats ist sogar in meiner Klasse – genau wie Seto übrigens", erzählte er, lehnte sich bequem auf dem Küchenstuhl zurück und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. "Und wie war dein erster Schultag?", wollte seine Mutter wissen und grüne Augen begannen zu funkeln, während Ryuujis Grinsen noch eine Spur breiter wurde. "Ein voller Erfolg, wenn man so will. Ich bin gleich für Samstagabend auf die Geburtstagsparty einer Klassenkameradin eingeladen worden. Außerdem hab ich meinen neuen Englischlehrer so richtig auflaufen lassen. Der Typ ist echt unfähig, aber egal. Jedenfalls haben Kats und ich dann am Nachmittag auch noch Mokuba und seinen Freund Ryou getroffen. Echt, der Kleine ist wirklich niedlich." Yukiko seufzte und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber ihrem Sohn nieder, um ihm über den Tisch hinweg in die Augen sehen zu können. "Hattest du mir nicht versprochen, dich zu benehmen?", tadelte sie leise und nun war es an Ryuuji zu seufzen. "Hab ich doch, Mum. Das mit Takeda-sensei war nicht meine Schuld. Was kann ich denn bitteschön dafür, dass ich nun mal fließender Englisch spreche als er? Hätte ich mich dumm stellen sollen?", brauste er auf, beruhigte sich allerdings gleich wieder, als seine Mutter ihm eine Hand auf den Arm legte. "Nein, natürlich nicht. Ich möchte doch nur nicht, dass du dir auf deiner neuen Schule auch gleich wieder Ärger einhandelst, Ryuuji", murmelte sie, stand auf und strich dem Jungen noch einmal kurz über die Haare, bevor sie sich wieder den Töpfen zuwandte. "Mach ich schon nicht, Mum. Die letzten sechs Monate krieg ich ohne Stress rum. Versprochen", versicherte er seiner Mutter und legte dann fragend den Kopf schief. "Was ist mit Samstagabend? Ist es okay für Dich, wenn ich zu dieser Geburtstagsparty gehe? Kats wird auch da sein." Yukiko drehte sich wieder zu ihrem Sohn um und lächelte. "Habe ich dich jemals davon abgehalten, dich zu amüsieren?", fragte sie zurück und Ryuuji schüttelte den Kopf. "Nein, hast du nicht, Mum.", antwortete er, stand auf und drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange. "Du bist eben einfach die beste Mum der Welt." Yukiko lächelte ihren Sohn an. Auch, wenn er manchmal einfach etwas zu impulsiv war, hatte er doch trotz allem ein gutes Herz. Er war eben immer noch ihr Junge. Ihr ganzer Stolz, auch wenn sie ihm das wahrscheinlich viel zu selten sagte oder zeigte. Während Ryuuji den Tisch für das gemeinsame Abendessen deckte, beobachtete sie ihn und machte einen Schritt auf ihn zu, stockte dann aber und blieb stehen. Sicher, sie freute sich jedes Mal, wenn ihr Sohn sie von sich aus umarmte, aber sie selbst brachte es einfach nicht über sich, über ihren Schatten zu springen und dem Jungen zu sagen, dass sie ihn liebte. Aber bestimmt wusste Ryuuji das selbst. Das wusste er doch, oder? Ryuuji, dem das Zögern seiner Mutter nicht entgangen war, seufzte innerlich. Seine Mutter konnte ihre eigene Erziehung einfach nicht überwinden. Ihre Eltern waren recht konservativ und streng und Dinge wie spontane Umarmungen oder gar ein freundlicher Satz, der ihre Zuneigung ausdrückte, waren von seinen Großeltern nicht zu erwarten. Damit hatte er sich im Laufe der Jahre auch abgefunden, aber dass es seiner eigenen Mutter immer noch schwer fiel, ihn von sich aus in den Arm zu nehmen, tat schon weh. Dennoch beschloss er, sich davon nichts anmerken zu lassen. Er kannte seine Mutter gut genug, um den inneren Kampf, den sie ausfocht, an ihren Augen ablesen zu können, deshalb trat er, nachdem er den Tisch gedeckt hatte, zu ihr und umarmte sie seinerseits. Wenn der Prophet nicht zum Berg kam, dann musste der Berg eben zum Propheten gehen. "Ich hab dich lieb, Mum." Die leisen Worte ihres Sohnes schnürten Yukiko die Kehle zu. Wie gerne hätte sie ihrem Jungen jetzt das Gleiche gesagt? Doch sie konnte es nicht. Die Worte blieben ihr ungesagt förmlich im Hals stecken und sie musste ihre Augen schließen, um die Tränen wegzublinzeln. Das Einzige, was sie tun konnte, war, ihren Sohn jetzt ebenfalls zu umarmen und ihm kurz über die glänzenden schwarzen Haare zu streichen, die ihren eigenen so ähnlich waren. "Setz dich bitte schon mal hin, Ryuuji. Das Essen ist gleich fertig", murmelte sie und löste sich aus der Umarmung ihres Sohnes. "Alles klar, Mum", erwiderte dieser, setzte sich auf seinen Platz und lächelte vor sich hin. Auch, wenn es vielleicht für andere nicht unbedingt nachvollziehbar war, er hatte die unausgesprochene Botschaft hinter den Worten seiner Mutter durchaus verstanden. Das war einfach ihre Art, ihm zu zeigen, dass er ihr doch etwas bedeutete. Kapitel 7: Brüdergespräche -------------------------- Wenn Seto erwartet hatte, dass sich Mokubas Verhalten ihm gegenüber in den nächsten Tagen ändern würde, so hatte er sich gründlich geirrt. Der Fünfzehnjährige sprach auch zwei Tage nach ihrem ›Streit‹ noch immer nur das Allernötigste mit ihm. Jeden Morgen stand er auf, frühstückte, ohne Bescheid zu sagen, und verließ alleine das Haus, um sich mit Ryou und, nachdem dieser wieder gesund war, auch mit Yuugi zu treffen und gemeinsam mit ihnen zu Fuß zur Schule zu gehen. Auch an den Nachmittagen lief es für Seto nicht wirklich besser. Wenn sein kleiner Bruder denn mal zu Hause war, dann ignorierte er ihn und verbrachte seine Zeit entweder in seinem Zimmer oder aber im Garten. Wann auch immer Seto versuchte, mit ihm zu reden, wich sein Bruder ihm aus oder wimmelte ihn mit einer fadenscheinigen Ausrede ab. Und als wäre all das nicht schon genug, war zu allem Überfluss auch noch seine Stellung als Einserkandidat in allen Fächern in Gefahr. Durch den nun schon tagelang andauernden Streit hatte Seto tatsächlich bei dem überraschenden Test in Englisch am Donnerstag Konzentrationsschwierigkeiten gehabt – etwas, das ihm vorher in seiner ganzen schulischen Laufbahn noch nicht passiert war. Selbstverständlich hatte er trotz allem nicht total versagt, aber dennoch war er nicht wie üblich Klassenbester gewesen, sondern hatte sich mit dem zweiten Platz begnügen müssen – was an sich schon schlimm genug für sein Ego gewesen wäre. Durch die Tatsache allerdings, dass ihm ausgerechnet sein zukünftiger Stiefbruder absolut mühelos den Rang abgelaufen hatte, wurde diese kleine Niederlage zu einer persönlichen Demütigung – vor allem dann, als am Freitag die Ergebnisse verkündet worden waren und Jounouchi, diese blonde Flohschleuder, sich vor der gesamten Klasse darüber lustig gemacht hatte, dass ein Anderer besser gewesen war als er. Kein Wunder. Schließlich ist sein Vater Amerikaner und er selbst lebt sechs Monate im Jahr bei ihm in den Vereinigten Staaten. Da ist es ja wohl nur zu verständlich, dass Ryuuji absolut fließend Englisch spricht. Dennoch, auch diese logisch durchaus nachvollziehbaren Gedanken konnten den vergeigten Test nicht ungeschehen machen. Am Freitagnachmittag schließlich, als seine Frustration ihren Höhepunkt erreichte, griff Seto genervt seufzend zum Telefon und wählte Yamis Nummer. Inzwischen war er verzweifelt genug, um wirklich jede Art von Ablenkung dankbar anzunehmen – auch, wenn diese in dem Besuch der Geburtstagsparty samt kindischem Maskenball einer Klassenkameradin bestand. "Muto", meldete Yami sich nach kurzem, für Seto allerdings beinahe ewig anmutendem Klingeln und der Brünette atmete noch einmal tief durch und seufzte abgrundtief, bevor er sich schlussendlich dazu durchrang, seinem besten Freund den Grund seines Anrufs zu enthüllen und damit seinen Samstagabend zu besiegeln. "Wann soll ich dich morgen Abend abholen kommen?" Jetzt musste er auf die Schnelle nur noch irgendetwas finden, das sich als Kostüm eignete. oOo Yami schmunzelte, als er das schnurlose Telefon nach seinem Telefonat mit Seto wieder auf die Ladestation stellte. Ganz offenbar hatte sein bester Freund sich nach dieser Woche, in der für ihn ja nun wirklich so gut wie gar nichts so gelaufen war, wie er es sich gewünscht hatte, doch dafür entschieden, sich zumindest einen Abend lang Spaß zu gönnen. Ich wusste es doch, dachte Yami zufrieden und zerzauste die ohnehin schon wilde Frisur seines jüngeren Bruders, der ihn ob seiner verdächtig guten Laune verständnislos ansah. "Warum bist Du denn so fröhlich, Nii-chan?", erkundigte dieser sich neugierig und der Ältere lächelte hintergründig. "Ich hab dir doch von dieser Party morgen Abend erzählt, oder, otouto?", fragte er zurück und Yuugi nickte. Noch immer wusste er nicht, worauf sein Bruder hinauswollte, aber Yami würde ihm das schon erzählen. Allerdings hatte er manchmal einfach den unverständlichen Drang, um das, was er eigentlich sagen wollte, einen sehr wortreichen Bogen zu machen, bevor er schlussendlich doch noch zum Punkt kam. "Ja, das hast du. Aber was hat das mit deiner guten Laune zu tun?" Im Augenblick war der Fünfzehnjährige einfach nicht in der Stimmung dafür, so lange auf eine Erklärung zu warten. Yamis Lächeln wurde noch eine Spur tiefer und amüsierter und er zerzauste die dreifarbige Haarpracht, die sein kleiner Bruder mit ihm gemeinsam hatte, noch etwas mehr, bevor er sich entschloss, den Jungen nicht länger auf die Folter zu spannen. "Seto hat sich entschieden, morgen Abend doch mitzukommen." "Dann muss er aber sehr, sehr schlechte Laune haben", kommentierte Yuugi und grinste – eine beinahe perfekte Imitation des siegessicheren, zufriedenen Grinsens, das sein großer Bruder bis zur Vollkommenheit beherrschte. Der Ältere nickte und begann selbst auch zu grinsen. "Allerdings", bestätigte er. "Er hatte eine ziemlich schlechte Woche. Da kann ihm etwas Abwechslung nicht schaden." Für so etwas nahm Seto sich, zumindest seiner Meinung nach, einfach generell zu wenig Zeit. "Ist doch seine eigene Dummheit. Er müsste sich nur bei Mokuba entschuldigen. Seto ist doch selbst schuld, dass sein Bruder böse auf ihn ist." Yuugi zuckte mit den Schultern und Yami seufzte. "Ich weiß. Aber du kennst ihn doch. Du weißt doch, wie er ist", gab er zurück und sein kleiner Bruder schüttelte verständnislos den Kopf. Diese Seite an Yamis bestem Freund verstand er einfach beim besten Willen nicht. Was war denn so schlimm daran, sich zu entschuldigen, wenn man einen Fehler gemacht hatte? Yami seufzte erneut. Er hatte in den letzten Tagen mehrfach versucht, auf seinen besten Freund einzuwirken, damit sich dessen Verhältnis zu seinem über alles geliebten kleinen Bruder wieder entspannte, aber alle seine Ratschläge waren auf taube Ohren gestoßen. Entweder hatte Seto seine Worte einfach überhört oder sie ignoriert – so lange, bis Yami schließlich aufgegeben hatte. Irgendwann würde der Brünette schon zur Vernunft kommen. "Dabei ist Ryuuji echt nett. Und total lustig", riss Yuugis Stimme seinen älteren Bruder aus dessen Grübeleien. Verwundert sah Yami den Jungen an. "Und woher weißt du das jetzt schon wieder, du Wiesnäschen?", erkundigte er sich neugierig und sein Bruder kicherte, denn diesen Spitznamen hatte er schon ewig nicht mehr gehört. "Ich hab ihn mal getroffen. Zusammen mit Mokuba und Ryou. Und ich verstehe wirklich nicht, was Seto gegen ihn hat. Wie gesagt, er ist wirklich nett. Er hat mir gleich angeboten, ihn beim Vornamen zu nennen. Sonst würde er sich so alt vorkommen, hat er gesagt", erzählte Yuugi und Yami runzelte nachdenklich die Stirn. Sein kleiner Bruder hatte also Setos zukünftigen Stiefbruder getroffen. Wann und wo mochte das gewesen sein? "So ganz verstehe ich auch nicht, wo Setos Problem liegt", gestand er schließlich und sah seinen Bruder wieder an. Gut, er hatte zumindest die eine oder andere Ahnung, was genau seinen besten Freund an Otogi Ryuuji störte, aber sein kleiner Bruder musste noch lange nicht alles wissen. "Ich glaube allerdings, dass er nicht so begeistert davon ist, dass Mokuba sich so gut mit ihm versteht." Yuugi schüttelte den Kopf und seufzte abgrundtief. "Seto könnte sich doch auch mit ihm verstehen, wenn er nur wollte. Aber so, wie Mokuba erzählt, will er das ja gar nicht. Und genau das ärgert Mokuba eben ganz furchtbar", erklärte er und schenkte seinem älteren Bruder einen fragenden Blick aus seinen großen violetten Augen. "Und was ist mit dir? Verstehst du dich mit Ryuuji?", wollte er wissen und ließ sich neben Yami auf die Couch fallen, als dieser sich hinsetzte. "Ich hatte bisher noch keine wirkliche Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Seto, Du verstehst.", antwortete Yami auf die Frage seines Bruders. Er konnte nicht leugnen, dass er Otogi zumindest interessant fand und sich gerne einmal mit ihm unterhalten hätte. Allerdings bewegten sie sich durch ihren unterschiedlichen Freundeskreis – Seto auf seiner und Jounouchi und Kinoshita auf Otogis Seite – sozusagen in völlig verschiedenen Welten. Na, wenn Setos Vater und Otogis Mutter erst einmal verheiratet sind, wird das auch anders aussehen. Dann werde ich sicher noch des Öfteren die Gelegenheit haben, mit ihm zu sprechen, sinnierte Yami und begann völlig automatisch damit, den bunten Schopf seines kleinen Bruders zu kraulen, als dieser sich gemütlich auf der Couch ausstreckte und den Kopf auf seinem Schoß bettete. Yuugi schnurrte zufrieden. Er genoss es wirklich, wenn sein Bruder ihn so sanft kraulte. Irgendwie hatten diese Berührungen immer etwas sehr Angenehmes an sich. Yami war ein guter Krauler, so viel stand schon mal fest. "Na, ist ja auch egal. Jetzt mal zu etwas viel, viel Wichtigerem, Nii-chan: Was willst du denn morgen Abend zu der Party eigentlich genau anziehen?" oOo "Jetzt verrat mir doch endlich, was du morgen Abend anziehen wirst, Ryuuji!" Katsuya, der bäuchlings auf dem Bett seines besten Freundes lag, strampelte ungeduldig mit den Beinen und schenkte dem Schwarzhaarigen seinen allerbesten, patentierten ›Du musst mir jetzt sofort und auf der Stelle alles verraten, weil ich sonst ganz furchtbar traurig bin und weine‹-Blick, doch der prallte absolut wirkungslos an Ryuuji ab. "Vergiss es, Kats", winkte er ab und lachte, als der Blondschopf schmollend die Unterlippe vorschob. "Dein Hundeblick zieht bei mir schon lange nicht mehr. Lass dich doch einfach überraschen. Du wirst morgen Abend schon sehen, wie mein Kostüm aussieht. Bin ja mal gespannt, ob du mich überhaupt erkennst." Ryuuji grinste bei dem Gedanken an die Verkleidung, das er für den nächsten Abend vorgesehen hatte. Auf der Halloweenparty im letzten Jahr hatte das Kostüm eingeschlagen wie eine Bombe und er war sich sicher, dass es am nächsten Abend nicht anders sein würde. Für einen kurzen Moment schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass das, was er anzuziehen gedachte, vielleicht keine so gute Idee war, doch er schob seine Bedenken schnell wieder zur Seite. Hey, es war doch immerhin eine Kostümparty, oder? Und in dieser Verkleidung würde ihn so schnell sicher niemand erkennen, denn damit würde garantiert kein Mensch rechnen – nicht einmal Kats, der ihn schon seit dem Erhalt der Einladung damit nervte, dass er in Erfahrung bringen wollte, als was sein bester Freund sich denn nun verkleiden würde. Der Blondschopf setzte sich auf, verschränkte seine Arme vor der Brust, schob beleidigt seine Unterlippe noch etwas weiter vor und schmollte. Unglücklicherweise schien jedoch auch diese neue Taktik nicht wirklich von Erfolg gekrönt zu sein, also gab er schließlich seufzend auf. "Nur dass du's weißt: Du bist fies. Verdammt fies sogar", grummelte er und der Schwarzhaarige ließ sich laut lachend rücklings auf sein Bett fallen. "Du hast dich echt nicht verändert, Kats. Kein bisschen. Und du hast mir verdammt gefehlt", gestand er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. Der Angesprochene nickte und seufzte leise. "Du hast mir auch gefehlt, Ryuuji. Ich bin echt froh, dass du endlich wieder da bist", gab er zu und boxte dem Jüngeren freundschaftlich in die Seite. "War wirklich ganz schön öde hier ohne dich, das letzte halbe Jahr." "Na, aber wenigstens bist du nicht ganz einsam gewesen während der letzten sechs Monate. Oder willst du mir etwa ernsthaft weismachen, dass zwischen Kinoshita und dir nichts läuft? Das glaub ich dir nämlich nicht, Kats." Ryuuji rappelte sich wieder auf und sah seinen besten Freund forschend an. Der Blondschopf erwiderte seinen Blick und grinste schief. "Merkt man das echt so sehr?", fragte er und der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. "Nein, eigentlich nicht. Aber ich kenn dich schließlich schon fast mein ganzes Leben lang, Kats. Ich weiß, wie ich die Blicke deuten muss, die du ihm zuwirfst, wenn keiner hinsieht." Schließlich hast Du mich auch mal so angesehen, fügte er in Gedanken hinzu, sprach es aber nicht laut aus. Das, was zwischen ihnen beiden im letzten Jahr gelaufen war, war vorbei. Und so, wie Katsuya aussah, war das auch besser so. immerhin schien ihm viel an Kinoshita zu liegen. Sehr viel sogar. Katsuya seufzte leise. Seinem besten Freund konnte er einfach nichts vormachen. "Ja, okay, du hast Recht. Kura und ich ... Da läuft was. Ich kann dir nicht sagen, ob wir wirklich zusammen sind oder was das überhaupt genau ist, was da zwischen uns abgeht, aber ich mag ihn sehr. Vielleicht sogar mehr als das. Viel mehr. Ich ... Anfangs, als er mit seiner Mutter bei meinem Vater und mir eingezogen ist, dachte ich noch genau wie alle Anderen aus unserer Klasse, dass er sogar noch verschlossener ist als Kaiba. Aber so nach und nach haben wir uns eben gegenseitig besser kennengelernt und ... Er ist jedenfalls kein schlechter Kerl, auch wenn er manchmal vielleicht so rüberkommt. Er ... er hat seine Gründe dafür, dass er so ist." Ryuuji hörte sich diese Worte des Blondschopfs schweigend an und begann dann wieder zu grinsen. "Wenn du ihn so sehr verteidigst, dann bedeutet er dir wirklich ne Menge.", stellte er fest und sein Grinsen wurde noch breiter, als sich die Wangen seines Gegenübers tatsächlich leicht röteten. Wie lange war es jetzt her, dass er seinen großmäuligen besten Freund, der sonst immer einen flapsigen Spruch auf den Lippen hatte, das letzte Mal so verlegen gesehen hatte? Knapp ein Jahr, erinnerte Ryuuji sich und schüttelte den Kopf. Vorbei war vorbei. Kats hatte jetzt einen Anderen gefunden, der ihm viel bedeutete. Und das war auch gut so. immerhin war ihnen beiden ihre Freundschaft einfach zu wichtig gewesen, um sie für eine Beziehung aufs Spiel zu setzen, die damals wie heute sowieso keine Chance gehabt hätte, wirklich dauerhaft zu sein. Dennoch konnte Ryuuji nicht umhin zuzugeben, dass er seinen besten Freund zumindest ein kleines bisschen beneidete. Auch, wenn Bakura vielleicht etwas schwierig sein mochte, so schien doch auch er mehr für den Blondschopf zu empfinden. Immerhin durfte dieser ganz offen den Spitznamen verwenden, den, wie der Schwarzhaarige inzwischen in Erfahrung gebracht hatte, bisher nur der jüngere Bruder des Weißhaarigen hatte benutzen dürfen. Für jemanden wie Bakura war das schon so etwas wie ein Eingeständnis, dass ihm die Person, der er das erlaubt hatte, eine Menge bedeutete. Ryuuji seufzte leise und versuchte, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken – weg von azurblauen Augen, die ihn in den letzten Tagen förmlich verfolgt hatten. Unglücklicherweise, das hatte er sich inzwischen eingestehen müssen, hatte er in den letzten Tagen eine ziemliche Schwäche für einen seiner zukünftigen Stiefbrüder entwickelt. Das würde jedoch eine einseitige Schwärmerei bleiben, das wusste er genau. Egal, wie er es auch drehte und wendete, Seto mochte ihn einfach nicht. Ist wahrscheinlich auch besser so. Wenn er mich wenigstens ein bisschen mögen würde, würde ich's ihm früher oder später wahrscheinlich sagen. Und das muss nun wirklich nicht sein. Das gäbe nur Probleme. Mum hat's mit mir auch so schon schwer genug. Nein, nahm Ryuuji sich vor, er würde schön die Klappe über seine sexuellen Vorlieben halten – zumindest so lange, bis er in sechs Monaten wieder zu seinem Vater fliegen würde. Falls er dann noch einmal nach Japan zurückkehren würde, würde er in einem Hotel oder etwas Ähnlichem unterkommen und dann wäre es ihm egal, ob seine neue Familie von seiner Homosexualität erführe oder nicht. Aber solange er mit den Kaibas unter einem Dach leben müsste, würde er sich, seiner Mutter zuliebe, in Zurückhaltung üben. Katsuya, dem die seltsam grüblerische Stimmung seines besten Freundes nicht entgangen war, wollte gerade nach dem Grund dafür fragen, doch ein leises Klopfen an Ryuujis Zimmertür hielt ihn davon ab. "Du kannst ruhig reinkommen, Mum", forderte dieser seine Mutter auf, denn außer ihr konnte schließlich niemand da sein. Yukiko öffnete die Tür und lächelte ihren Sohn und seinen blonden Freund an. "Guten Abend, Katsuya-kun", grüßte sie und der Angesprochene lächelte zurück. "Guten Abend, Yukiko-san. Sie sehen wieder mal umwerfend aus. Wie immer eigentlich", schmeichelte er der Mutter seines besten Freundes und Yukiko errötete leicht, während Ryuuji dem Blondschopf insgeheim beipflichtete, nachdem er seine Mutter kurz, aber gründlich gemustert hatte. In dem himmelblauen Kostüm, das sie heute trug, sah sie in seinen Augen einfach nur bezaubernd aus. "Danke, Katsuya-kun", murmelte Yukiko und blickte dann zu ihrem Sohn. "Ich wollte eigentlich nur Bescheid sagen, dass Gozaburo mich gleich abholt. Wir wollen zusammen Essen gehen und noch die letzten Details wegen der Hochzeit besprechen. Das Abendessen steht im Kühlschrank. Es sollte eigentlich auch für euch beide reichen", erklärte sie und Ryuuji stand auf, um seine Mutter kurz zu drücken. "In Ordnung, Mum. Dann wünsch ich dir nen schönen Abend. Amüsier dich gut, ja? Bis nachher", verabschiedete er sie und Yukiko nickte erst ihm und dann Katsuya noch einmal zu, bevor sie die beiden Jungen wieder allein ließ. "Deine Mutter ist echt glücklich mit Kaiba, oder?", fragte der Blondschopf und Ryuuji nickte, bevor er sich wieder auf sein Bett fallen ließ. "Ja, allerdings. Sie strahlt jedes Mal, wenn sie von ihm spricht. Ich glaub, die Zwei passen gut zusammen. An dem Abend, als ich ihn kennengelernt hab, machte er den Eindruck, als ob er wirklich der Richtige für sie wäre. Ich wünsch den beiden jedenfalls alles Gute. Mum hat's echt verdient, endlich glücklich zu werden", murmelte er und Katsuya legte den Kopf schief. "Und für dich ist das echt okay? Ich meine, du musst immerhin mit dem Eisklotz zusammenleben, wenn eure Eltern erst mal verheiratet sind. So, wie der sich im Augenblick aufführt, wird das sicher nicht einfach", vermutete er und Ryuuji seufzte. "Ich weiß. Aber daran kann ich nichts ändern. Wir müssen uns ja nicht mögen oder so. Hauptsache, wir vertragen uns. Und irgendwie werden wir uns schon arrangieren können. Jedenfalls hoffe ich das." oOo "... und wenn Deine Eltern ..." Gozaburo hielt inne und sah seine Verlobte über den Tisch in dem Restaurant, in das er sie eingeladen hatte, hinweg an. Im Augenblick machte sie auf ihn den Eindruck, als wäre sie gar nicht bei der Sache. "Ist irgendetwas nicht in Ordnung?", erkundigte er sich daher besorgt und Yukiko lächelte entschuldigend. "Bitte entschuldige, Gozaburo. Ich mache mir nur etwas Sorgen um Ryuuji. Ich habe den Eindruck, irgendetwas stimmt nicht mit ihm", erklärte sie und der Angesprochene nickte. "Ich verstehe. Denkst du, es liegt an der Hochzeit?", fragte er, doch Yukiko schüttelte den Kopf. "Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, es ist etwas anderes. Irgendetwas bedrückt ihn, das spüre ich. Aber er scheint nicht darüber reden zu wollen. Jedenfalls nicht mit mir", murmelte sie und Gozaburo nickte erneut. Im Moment hatte er mit seinen beiden Söhnen ein ähnliches Problem. "Bei Seto und Mokuba ist es im Augenblick ähnlich. Ich weiß nicht genau, was vorgefallen ist, aber seit ein paar Tagen schweigen sie sich gegenseitig förmlich an und sprechen nur das Nötigste miteinander." Dass Mokuba sich ihm selbst gegenüber seit seinem Ausbruch nach dem Kennenlernen genauso verhielt und er deshalb zumindest ahnte, was mit seinem Jüngsten los war, behielt Gozaburo allerdings für sich. Immerhin hätte seine Verlobte sicher kein Verständnis dafür, wenn er ihr sagte, dass seiner Meinung nach zumindest im weitesten Sinne ihr Sohn Schuld an dem angespannten Verhältnis seiner Söhne war. "Nun ja, vielleicht klärt sich das ja von selbst. Immerhin sind sowohl Ryuuji als auch Seto und Mokuba inzwischen alt genug, um mit jemandem über ihre Probleme zu reden, denkst du nicht auch?" "Ich hoffe es." Yukiko seufzte leise, lächelte aber dann wieder. Ryuuji war im Augenblick ja nicht alleine zu Hause. Vielleicht gelang Katsuya ja das, was ihr selbst nicht gelang, und ihr Junge redete mit ihm. Jedenfalls hoffte sie das ganz stark. "Aber genug davon." Yukiko wollte nicht, dass die Sorge um ihre Söhne – denn bald würden ja auch Seto und Mokuba zu ihrer Familie gehören – den ganzen Abend überschattete. Um die Probleme der drei Jungs konnten sie sich auch morgen noch kümmern. "Ich glaube, wir hatten da noch ein paar Dinge wegen der Hochzeit zu besprechen, oder?" Gozaburo nickte und lächelte ebenfalls. Diese kluge, wunderschöne Frau, die ihm im Augenblick gegenübersaß, war neben seinen Söhnen eindeutig das Beste, was ihm sein Leben in den letzten Jahren zu bieten gehabt hatte. oOo "Paps, ich bin zu Hause." Katsuya schloss die Wohnungstür auf, doch in der Wohnung war alles dunkel. "Alle ausgeflogen, was?", murmelte er mehr zu sich selbst und trat die Tür hinter sich mit dem Fuß zu. Dann kickte er seine Schuhe in die Flurecke, in der er sie immer deponierte, und ging durch den dunklen Flur in Richtung des Zimmers, das er sich mit Bakura teilte. Für diesen Weg brauchte er kein Licht, denn immerhin wohnte er schon mehr als sein halbes Leben in dieser Wohnung. Zu seiner Überraschung fand er, als er die Zimmertür öffnete, seinen Beinahe-Bruder mit unter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Bett liegend vor. Bakura starrte so verbissen an die Decke, als versuchte er, allein mit seinem Blick und schierer Willenskraft ein Loch in das Mauerwerk zu brennen. Diese Stimmung, das wusste der Blondschopf, war brandgefährlich. Wenn er jetzt einen falschen Ton von sich gab, war es gut möglich, dass der Weißhaarige ausflippte. "Kura?", fragte Katsuya deshalb so leise wie möglich. Der Angesprochene reagierte jedoch nicht, so dass Katsuya sich nicht einmal sicher war, ob Bakura ihn nun gehört hatte oder nicht. Unschlüssig blieb er stehen und lehnte sich mit dem Rücken an das Holz der Zimmertür, die er mittlerweile wieder geschlossen hatte. Dabei kaute er unsicher auf seiner Unterlippe herum. Sollte er zum Bett gehen oder nicht? Was war besser? "Komm her", riss Bakuras Stimme den Blondschopf schließlich nach einer zumindest gefühlten scheinbaren Ewigkeit aus seinen Grübeleien und Katsuya kam der Aufforderung langsam und zögerlich nach. Neben dem Bett blieb er stehen, doch als Bakura seinen linken Arm nach ihm ausstreckte – noch immer, ohne seinen Blick von der Zimmerdecke zu nehmen –, rutschte er gehorsam auf die Matratze, streckte sich neben ihm aus und bettete seinen Kopf auf dessen Schulter. Bakura versank wieder völlig in Schweigen, doch zuvor hatte er noch seinen Arm um die Schultern des Blonden geschlungen – ganz so, als befürchtete er, dass dieser sonst plötzlich wieder aufstehen und gehen könnte, wenn er ihn nicht fest genug hielt. "Du warst bei ihm, oder?", fragte er nach einer Weile und seine Stimme klang so rau, als hätte er sie seit mehreren Stunden schon nicht mehr benutzt. "Redest du von Ryuuji? Ja, ich war bei ihm", bestätigte Katsuya und drehte sich leicht in Bakuras Arm, bis er sein Kinn auf dessen Brustkorb abstützen und ihn ansehen konnte. "Warum fragst du, Kura?" "Was ist da zwischen euch?", erkundigte der Angesprochene sich, ohne auf Katsuyas Frage einzugehen. Noch immer sah er ihn nicht an und der Blondschopf seufzte leise. "Er ist mein bester Freund. Wir kennen uns schon ewig, aber er ist immer nur für sechs Monate in Japan. Den Rest des Jahres verbringt er bei seinem Vater in Amerika. Hat irgendwas mit der Scheidung seiner Eltern und geteiltem Sorgerecht zu tun", erklärte er und wartete, aber noch immer verriet Bakura weder den Grund für seine Fragen noch den für seine schlechte Stimmung. Mehrere weitere Minuten verstrichen in brütendem Schweigen. Katsuya bemühte sich, in der Dunkelheit des Zimmers das Gesicht des Anderen zu erkennen, aber das Einzige, was er wirklich deutlich sehen konnte, waren Bakuras weiße Haare. Sein Gesicht war nur ein heller Fleck, der sich kaum von den Haaren und dem Laken, auf dem sie beide lagen, abhob. "Hattet ihr Sex?" Die Frage kam ohne Vorwarnung und der Blondschopf zuckte erschrocken zusammen, bevor er langsam nickte. "Ja. Aber das ist lange her. Letztes Jahr, als er hier war, waren wir für ein paar Wochen zusammen und haben auch miteinander geschlafen, aber seitdem ist absolut nichts mehr zwischen uns gelaufen", antwortete er wahrheitsgemäß und legte eine Hand auf Bakuras Brustkorb. Unter seinen Fingerspitzen konnte er mehr als deutlich fühlen, wie angespannt der Andere war. Wieder versank das Zimmer in Stille, doch bevor Katsuya noch etwas sagen konnte, um diesen Umstand zu ändern, fand er sich auch schon rücklings auf der Matratze wieder, von Bakuras Gewicht noch zusätzlich in die Laken gepresst. Die dunkelbraunen Augen des Weißhaarigen wirkten im Zwielicht beinahe schwarz und der Blondschopf hielt unwillkürlich den Atem an. Diesen intensiven Blick, mit dem Bakura ihn gerade bedachte, hatte er bei ihm vorher noch nie gesehen. "Wenn er dich noch mal anfasst, bring ich ihn um. Du gehörst mir", flüsterte Bakura heiser und verschloss die Lippen des unter ihm Liegenden mit seinen, bevor der Blonde protestieren oder überhaupt irgendetwas dazu sagen konnte. Und erst in dem Moment, in dem er den hungrigen Kuss zu erwidern begann, begriff Katsuya, warum Bakura ihm all diese Fragen über sein Verhältnis zu Ryuuji gestellt hatte: Kura war eifersüchtig. Binnen weniger Minuten war sämtliche Kleidung, die sie gerade noch getragen hatten, auf dem Boden verstreut und Bakura liebte den Blondschopf mit einer Leidenschaft, die schon beinahe an Verzweiflung grenzte. Als Katsuya in dem Augenblick, in dem er den Gipfel erreichte, seinen Namen schrie, biss Bakura ihm in die Schulter, um ihn ein für allemal als sein Eigentum zu kennzeichnen. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass irgendjemand ihm Katsuya wegnahm. Der Blonde gehörte ihm und nur ihm – mit Leib, Seele und allem, was ihn sonst noch ausmachte. Knapp zwei Stunden später, als er Bakura bereits eingeschlafen wähnte, schlich Katsuya sich leise aus dem Bett und ging hinüber ins Bad. Nachdem er dort einem nur allzu menschlichen Bedürfnis nachgegangen war, warf er einen Blick in den Badezimmerspiegel und fuhr dann mit den Fingerspitzen ganz vorsichtig über die Bisswunde an seiner Schulter. Der Schmerz ließ ihn scharf die Luft einziehen, aber seltsamerweise lächelte sein Spiegelbild trotzdem ein mehr als zufriedenes Lächeln – eins, das man beinahe schon als glücklich bezeichnen konnte. Wenn er sich am Nachmittag bei Ryuuji auch bezüglich Bakuras Gefühlen noch nicht sicher gewesen war, inzwischen war er es. Bakuras Worte – und mehr noch das, was er getan hatte – hatten endgültig alle seine Zweifel beseitigt. "Tut's weh?" Katsuya schrak zusammen, als sich urplötzlich Bakuras Spiegelbild zu seinem gesellte. Er hatte gar nicht gehört, dass dieser aufgestanden war. Andererseits war es eine Angewohnheit des Weißhaarigen, sich so unheimlich leise zu bewegen, dass man ihn kaum hörte. "Nicht wirklich", beantwortete der Blondschopf die Frage und schüttelte den Kopf. "Jedenfalls nicht sehr. Ich wollte dich nicht wecken, Kura", fügte er leise hinzu, doch dieser schien ihm nicht zuzuhören. Stattdessen öffnete er den Arzneischrank und kramte darin herum, bis er Desinfektionsmittel gefunden hatte. Damit wollte er sich um die Wunde kümmern, die er selbst verursacht hatte, doch Katsuya hielt seine Hand fest, bevor er dazu kam. "Das ist nicht nötig. Ich hab doch gesagt, es tut nicht weh. Das heilt schon von selbst wieder", versuchte er, den Anderen aufzuhalten. Bakura neigte den Kopf leicht zur Seite und hob eine Braue. "Das gibt ne Narbe, wenn's nicht behandelt wird", sprach er das Offensichtliche aus und der Blondschopf grinste ihn an. "Na und? Mir doch egal", erwiderte er achselzuckend, nahm Bakura das Desinfektionsmittel aus der Hand und stellte es wieder zurück in den Medizinschrank. Dabei sah er aus den Augenwinkeln im Spiegel, dass für den Bruchteil einer Sekunde ein kaum wahrnehmbares Lächeln über das Gesicht des Weißhaarigen huschte. Scheinbar war seine Botschaft also bei diesem angekommen. Genau das hatte er gehofft. oOo Obwohl es eigentlich längst Zeit zum Schlafen gewesen wäre, war Seto kurz vor Mitternacht immer noch wach. Knapp eine Stunde zuvor war sein Vater von seinem Essen mit seiner Verlobten zurückgekehrt und hatte kurz mit ihm über die bevorstehende Hochzeit gesprochen, aber seit einer halben Stunde war er wieder alleine. Und genau diese halbe Stunde hatte er damit verbracht, unruhig in seinem Zimmer auf und ab zu gehen. Verflucht, es konnte doch nicht sein, dass Mokuba immer noch schmollte! So lange hatte er sich noch nie zurückgezogen. Das war alles nur die Schuld von diesem schwarzhaarigen Notendieb, eindeutig! Nur wegen Ryuuji benahm sich sein kleiner Bruder, als wäre er plötzlich ein Monster oder etwas ähnliches. Es war einfach zum aus-der-Haut-fahren! Nachdem Seto sich zum sicherlich hundertsten Mal alleine am heutigen Tag davon abgehalten hatte, sich selbst die Haare zu raufen, gab er sich schließlich einen Ruck und verließ sein Zimmer, um zum gegenüberliegenden Raum – Mokubas Zimmer – hinüberzugehen. Irgendwann musste Mokuba doch endlich wieder mit ihm reden, da war dieser Zeitpunkt so gut oder schlecht wie jeder anderer auch. Seto klopfte kurz an die Tür, wartete aber keine Aufforderung ab, sondern betrat den Raum gleich und schloss die Tür hinter sich wieder. Mokuba, der gerade telefonierte, sah überrascht auf, doch als er seinen älteren Bruder erkannte, verfinsterte sich seine Miene gleich wieder – kein gutes Zeichen in Setos Augen, aber für einen Rückzieher war es jetzt zu spät. Kneifen würde er nicht. Mokuba hingegen beschloss, seinen Bruder einfach weiterhin zu ignorieren, also wandte er sich wieder seinem Gespräch zu. "Ja, finde ich auch. Das würde bestimmt Spaß machen. Ich wollte mich am Sonntag ja sowieso mit ihm treffen, dann frag ich ihn mal, was er davon hält. Er kommt ganz bestimmt mit. Schließlich ist er bisher ja auch für jeden Spaß zu haben gewesen", sprach er in den Hörer und schmunzelte, als er die Antwort seines Gesprächspartners hörte. "Genau. Kann ja nicht jeder so eine Spaßbremse sein wie gewisse andere Leute, die keinerlei Respekt vor der Privatsphäre ihrer Geschwister haben, ungefragt deren Zimmer betreten und sogar noch deren Telefonate belauschen", stichelte er und sein älterer Bruder kniff ärgerlich die Lippen zusammen, machte aber keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Er hatte sich vorgenommen, heute noch mit dem Jungen zu sprechen, und genau das würde er auch tun. "Wie? Ja, der ist hier. Ja, genau das dachte ich auch gerade." Mokuba kicherte leise. "Und wie! Total sauer sogar. Du solltest mal sein Gesicht sehen!", informierte er seinen Gesprächspartner und genau in diesem Moment reichte es Seto. Sein ohnehin schon kurzer Geduldsfaden riss endgültig und er trat zum Bett, auf dem sein Bruder saß, nahm diesem das Telefon aus der Hand und legte mit einem knappen "Ihr könnt morgen weitertelefonieren" auf, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, herauszufinden, mit wem Mokuba da eigentlich gerade gesprochen hatte. Einen Augenblick lang starrte Mokuba Seto fassungslos an, dann riss er ihm das Telefon aus der Hand, ließ es neben sich aufs Bett fallen und verschränkte trotzig seine Arme vor der Brust, bevor er seinen Bruder aus zu schmalen Schlitzen verengten blauen Augen böse anfunkelte. Dass er damit schon ziemlich nahe an den eisigen Blick herankam, mit dem dieser gewöhnlich Leute einzuschüchtern pflegte, fiel ihm nicht auf. Seto hingegen bemerkte das durchaus, doch er sagte nichts dazu. Stattdessen ließ er sich unaufgefordert auf dem Schreibtischstuhl seines jüngeren Bruders nieder, schlug die Beine übereinander und kämpfte mühsam den Drang nieder, seine Arme ebenso zu verschränken wie Mokuba es getan hatte. Derartiges Verhalten würde ihn hier nicht weiterbringen, das wusste er genau, also legte er seine Hände in seinen Schoß und verschränkte dort einfach nur seine Finger miteinander. "Ich würde gerne mit dir reden, otouto", setzte er an, doch ein wütendes "Ich will aber nicht mit dir reden!" unterbrach ihn, bevor er wirklich beginnen konnte. Seto seufzte unhörbar und atmete tief durch, um weitersprechen zu können, ohne seinem Frust Luft zu machen und seinen Bruder anzuschreien. Das wäre im Augenblick absolut kontraproduktiv, dessen war er sich voll und ganz bewusst. "Das ist mir durchaus aufgefallen, Mokuba. Immerhin schweigst du mich jetzt ja schon seit mehreren Tagen an", erwiderte er stattdessen und sah den Jüngeren geradeheraus an. "Und das gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht, um ehrlich zu sein.", räumte er dann ein, doch wenn er erwartet hatte, dass sein Bruder ihm jetzt entgegenkommen würde, so musste er einsehen, dass er sich getäuscht hatte. "Ist doch nicht mein Problem", fauchte Mokuba aufgebracht und seine Haltung wurde, sofern das möglich war, sogar noch etwas trotziger. "Mir gefällt auch so einiges nicht, was du tust, aber du tust es trotzdem. Warum sollte ich es also anders halten? Was du kannst, kann ich schon lange, Seto", schob er noch hinterher und der Ältere seufzte abgrundtief. "So kommen wir nicht weiter", murmelte er, doch Mokuba ging nicht darauf ein. "Wenn Vater und du schon der Meinung seid, ihr müsstet mich wie ein Kind behandeln und hinter meinem Rücken über Ryuuji sprechen, bitteschön. Aber dann erwartet nicht, dass ich mich erwachsen benehme. Wenn ich für euch noch ein Kind bin, dem man nichts erzählen muss, dann werde ich mich auch genauso verhalten. Das habt ihr euch also selbst zuzuschreiben. Ich bin fast sechzehn, aber ihr tut so, als wäre ich erst drei!", machte er seinem Ärger Luft und ballte seine Hände zu Fäusten. Setos Augen weiteten sich kaum merklich, als er die Worte seines Bruders hörte. Also war es gar nicht um sein Verhalten ihrem zukünftigen Stiefbruder gegenüber gegangen – jedenfalls nicht direkt –, sondern vielmehr darum, dass ihr Vater mit ihm über Ryuuji gesprochen hatte, mit Mokuba allerdings nicht? Das war das ganze Problem? Der Jüngere fühlte sich zurückgesetzt? "Wir haben nur über ihn gesprochen, weil ich in dieser Nacht noch länger wach war. Du warst schon im Bett, otouto, aber ich konnte nach Vaters Ankündigung, dass er wieder heiraten will, einfach nicht schlafen. Wir haben uns im Wohnzimmer unterhalten und ich habe Vater nach Yukiko-san und Ryuuji gefragt", erklärte er und sein Bruder schnaubte. "Und warum hast Du dann am nächsten Abend behauptet, du wüsstest auch nichts über ihn?", wollte er aufgebracht wissen und Seto seufzte erneut. "Weil es stimmte. Ich wusste doch selbst auch nicht viel mehr über ihn als du. Vater wusste auch nur, dass Yukiko-san mit einem Amerikaner verheiratet war, aber er hatte Ryuuji auch noch nie getroffen. Ich habe dir nichts davon erzählt, weil es nicht wichtig war. Ich wollte mir selbst eine eigene Meinung bilden. Genau das solltest du schließlich auch tun", nahm er die nächste Frage gleich vorweg. Mokuba sah seinen Bruder nachdenklich an. "Trotzdem war das, was Vater und du über Ryuuji gesagt habt, nicht besonders nett", beharrte er und entlockte seinem Bruder damit ein weiteres Seufzen. "Das mag durchaus sein, aber daran kann ich nichts mehr ändern. Was geschehen ist, ist geschehen." Ganz davon abgesehen, dass sich seine Meinung über Otogi Ryuuji in den letzten Tagen nicht wirklich gebessert hatte. Aber das behielt Seto lieber für sich. "Ich habe Ryuuji übrigens erzählt, was ihr gesagt habt", unterbrach die Stimme seines Bruders Setos Grübeleien. "Ich dachte, er hätte ein Recht zu wissen, was hinter seinem Rücken über ihn geredet wird", fuhr der Junge fort und Setos Gedanken überschlugen sich. Mokuba hatte ihrem zukünftigen Stiefbruder tatsächlich davon erzählt? "Und weißt du, was er dazu gesagt hat? Er hat gelacht." Mokuba beobachtete seinen Bruder genau, aber er konnte an dessen Gesicht nicht ablesen, was er dachte. "Er hat einfach darüber gelacht. Und dann hat er gesagt, solange über ihn geredet würde, wäre er wenigstens noch interessant." Eine Reaktion, für die er selbst Ryuuji auch nachträglich noch eine Menge Respekt zollte. Nicht einmal sein großer Bruder war so cool, dass er sich überhaupt nicht um die Meinungen Anderer scherte. "Verstehst Du, Seto? Er war kein bisschen böse auf euch. Es ist ihm vollkommen egal, was ihr von ihm denkt. Das interessiert ihn alles überhaupt nicht. Kein bisschen." Die Worte seines jüngeren Bruders drangen nur wie durch Watte an Setos Ohren. "Schön für ihn. Gute Nacht, otouto. Schlaf gut", murmelte er, erhob sich aus dem Schreibtischstuhl und verließ beinahe schon fluchtartig das Zimmer seines jüngeren Bruders. "Gute Nacht, Nii-san", erwiderte Mokuba perplex und starrte dem Brünetten verwirrt hinterher. Was war denn jetzt los? Warum hatte Seto es denn plötzlich so eilig? Hatte er nicht noch reden wollen? Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens zuckte Mokuba mit den Schultern. Versteh einer seinen großen Bruder! Manchmal war Seto einfach komisch. Mokuba warf noch einen kurzen Blick auf seine Uhr. Für die Fortsetzung seines Telefonats mit Yuugi war es bereits zu spät, also beschloss er, stattdessen ins Bett zu gehen. Mit seinen Freunden telefonieren konnte er auch am nächsten Tag noch. Seto hingegen überquerte den Flur und schlug die Tür seines eigenen Zimmers hinter sich zu. Dann lehnte sich von innen rücklings gegen das Holz und schloss die Augen. Mokuba hatte Ryuuji tatsächlich erzählt, was er über ihn gesagt hatte. Warum in aller Welt war er dann nicht wütend geworden? Warum hatte er ihn nicht angeschrieen? Warum hatte er keine Erklärung für diese Worte gefordert? Ist ihm das etwa wirklich egal? Interessiert es ihn denn tatsächlich nicht, was ich über ihn denke? Lässt es ihn etwa wirklich vollkommen kalt, was ich sage und tue? Seto konnte es nicht fassen, aber er hatte auch keinen Grund, an den Worten seines kleinen Bruders zu zweifeln. Ryuuji störte sich offenbar wirklich nicht daran, was er von ihm hielt – eine Tatsache, die Seto so gar nicht gefiel. Woran das allerdings genau lag, wusste er nicht zu sagen. War er selbst dem Schwarzhaarigen etwa auch vollkommen egal? Und warum in aller Welt irritierte ihn diese Vorstellung bloß so sehr? Kapitel 8: Maskenball I ----------------------- Um zwanzig vor acht Uhr am Samstagabend stand Seto in seinem Zimmer vor dem Spiegel und richtete seine Kleidung, bevor er noch einen abschließenden Blick auf sein Kostüm warf und dann zufrieden nickte. Es war eine gute Idee gewesen, Isono um Rat zu fragen. Der Assistent seines Vaters kannte ihn inzwischen bereits sein ganzes Leben lang und so war es ihm ein Leichtes gewesen, ihm bei der Auswahl der richtigen Verkleidung zu helfen. Ein letztes Mal zupfte Seto noch die Ärmel des Rüschenhemdes zurecht, das er trug, dann schlüpfte er in den zu seinem Kostüm gehörigen Gehrock und knöpfte diesen zu. Just in dem Moment, in dem er endgültig fertig war, klopfte es an seine Zimmertür und nach einem "Ja, bitte?" öffnete Isono die Tür. "Ich habe den Wagen vorgefahren, Seto-san", informierte dieser den Sohn seines Chefs und der Angesprochene nickte knapp. "Gut. Ich komme sofort runter", gab er zurück und Isono schloss die Tür wieder, um schon vorzugehen und unten am Wagen zu warten. Seto schob das kleine Präsent, dass er am Morgen noch schnell – ebenfalls auf Isonos Anraten – für das Geburtstagskind besorgt hatte, in seine Tasche, dann verließ er sein Zimmer und ging nach unten. Schließlich hatte er seinem besten Freund versprochen, ihn pünktlich um acht Uhr abzuholen. Auf keinen Fall wollte er sich verspäten, denn das machte einfach einen schlechten Eindruck. Isono hielt dem Brünetten die Wagentür auf, schloss sie hinter ihm und stieg dann selbst auf der Fahrerseite ein. Sein Chef benötigte seine Dienste heute nicht mehr, also würde er dessen ältesten Sohn und seinen besten Freund zu der Geburtstagsparty fahren und dann dort warten, bis die beiden jungen Männer wieder nach Hause gebracht zu werden wünschten. oOo "Du siehst toll aus, Nii-chan. Richtig echt und so. Total stylisch." Etwas neidisch beobachtete Yuugi seinen großen Bruder dabei, wie dieser letzte Hand an seinem Kostüm anlegte. Manchmal war es wirklich einfach nur unfair, erst fünfzehn Jahre alt zu sein. Er wäre zu gerne mit auf die Party gegangen, aber leider war er ja nicht eingeladen worden. Ganz schön fies eigentlich. "Meinst du wirklich, otouto?" Yami drehte sich einmal um seine eigene Achse, bevor er die goldenen Armreifen, die seine Verkleidung vervollkommnen würden, anlegte. Yuugi musterte ihn noch einmal kritisch und zupfte das Gewand aus weißem Leinen, das sein Bruder anhatte, ein wenig zurecht. Dann richtete er die schwere goldene Kette, die dieser um den Hals trug, trat zurück und betrachtete zufrieden sein Werk. "Und wie. Das steht dir super. Es ist echt nett von Großvater, dass er dir den Schmuck für heute Abend leiht, finde ich." Yami drehte sich wieder zum Spiegel und warf noch einen kritischen Blick hinein. "Finde ich auch. Dafür hat er wirklich was gut bei mir. Aber ohne das ganze Gold sähe es einfach nicht echt aus", bestätigte er und griff zu dem bereitliegenden schwarzen Kajalstift, um seine Augen damit zu betonen – so, wie es die Menschen im alten Ägypten getan hatten. "Manchmal ist es doch wirklich mehr als praktisch, einen Ägyptologen in der Familie zu haben", murmelte er dabei und schmunzelte. Es war wirklich ein Glücksfall, dass Yuugis und sein Großvater in seiner Jugend Archäologe und Ägyptologe gewesen war und noch immer einen großen Fundus an echtem und nachgebildetem Schmuck und anderen Artefakten sein Eigen nannte. Es hatte ihn zwar eine Menge Überredungskunst gekostet, ihren Großvater davon zu überzeugen, ihm die Stücke für die Kostümparty seiner Klassenkameradin zu leihen, aber schließlich hatte Muto Sugoroku den flehenden Blicken aus zwei violetten Augenpaaren – Yuugi war von der Idee seines großen Bruders ganz begeistert gewesen und hatte diesem nach Kräften beim Betteln geholfen – nichts entgegenzusetzen gehabt und zugesagt. Yuugi beobachtete, wie routiniert sein Bruder sich schminkte, und grinste still vor sich hin. Früher, als sie beide noch Kinder gewesen waren, waren sie oft den ganzen Tag oder manchmal sogar die ganze Woche lang bei ihrem Großvater gewesen, weil ihre Eltern viel und lange gearbeitet hatten. Damals hatte der alte Mann seine beiden Enkel mit seiner Faszination für das alte Ägypten angesteckt. Wie oft hatten sie sich damals wie Ägypter gekleidet, geschminkt und so getan, als würden sie vor mehreren tausend Jahren leben? Yami entging der nostalgische Gesichtsausdruck seines jüngeren Bruders nicht. "Denkst du an früher?", erkundigte er sich und Yuugi nickte. "Ja, schon. Weißt du noch, wie oft wir uns als Ägypter verkleidet haben? Wir haben sogar das Hieroglyphenalphabet gelernt und Großvater hat uns beigebracht, wie man Papyrus macht", erinnerte er sich und Yami lächelte. "Und er hat immer unheimlich spannende Geschichten erzählt", fügte er hinzu und sein kleiner Bruder nickte erneut. "Stimmt. Das war immer echt toll." Alleine für seine Geschichten hatten sie beide ihren Großvater wirklich abgöttisch geliebt, obwohl dieser im täglichen Leben schon damals manchmal recht kauzig gewesen war. Trotzdem besuchten sie ihn auch heute noch regelmäßig mindestens einmal pro Woche, denn der alte Mann wollte das Haus, in dem er beinahe sein ganzes Leben verbracht hatte, wenn er nicht gerade wegen Ausgrabungsarbeiten im Ausland gewesen war, einfach nicht aufgeben. Die Türklingel unterbrach das Gespräch der beiden Brüder. "Das wird Seto sein. Mach du dich ruhig fertig, ich geh schon", rief Yuugi seinem Bruder zu, während er schon dabei war, nach unten zu rennen und die Tür für Yamis besten Freund zu öffnen. Da dieser sich erst kurzfristig entschieden hatte, mit Yami auf die Party zu gehen, wusste keiner der beiden Mutos, was für ein Kostüm Seto tragen würde – eine Tatsache, die Yuugi augenblicklich zu ändern gedachte. Ja, er war neugierig, aber was machte das schon? "Guten Abend, Seto. Komm doch rein." Geradezu enthusiastisch wedelte der kleine Bruder seines besten Freundes mit seiner Hand vor Setos Nase herum, nachdem er die Haustür der Mutos schwungvoll aufgerissen hat. "Yami ist auch gleich fertig. Dein Kostüm sieht übrigens klasse aus", plapperte der Junge drauflos und Seto hätte um ein Haar über den Eifer des Kleinen gegrinst, konnte es sich aber im letzten Moment noch verkneifen. "Ich warte hier draußen", erwiderte er stattdessen auf Yuugis Begrüßung und dieser zog einen Flunsch, bevor er sich halb umdrehte. "Yaaaaamiiiiiiii!! Dein Fahrservice ist hier. Beeil dich mal ein bisschen, du Lahmarsch!", brüllte er nach oben und grinste breit, als von dort ein ebenso lautes "Jaja, ich bin ja schon fertig!" zurückschallte. Keine Minute später erschien Yami auch schon auf dem Treppenabsatz und hastete nach unten. "Siehst Du, otouto, ich bin schon da." Mit diesen Worten wuschelte er dem Jüngeren durch die Haare und wandte seine Aufmerksamkeit dann seinem besten Freund zu. "Du siehst gut aus, Seto. Das Kostüm steht dir", sagte er nach einer gründlichen Musterung. In der Tat war die Verkleidung, für die der Brünette sich entschieden hatte – Kleidung im Stil des europäischen Adels des 17. Jahrhunderts – wie für ihn gemacht. Seto musterte seinen besten Freund seinerseits und nickte dann. "Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Das ägyptische Gewand passt perfekt zu dir", erwiderte und Yuugi, der noch immer neben der Tür stand, nickte heftig. "Nicht wahr, Seto? Siehst du, Nii-chan, ich hab's dir ja gesagt", mischte Yuugi sich in das Gespräch der beiden Älteren ein und schob seinen Bruder dann aus dem Haus. "So, und jetzt wünsche ich euch beiden viel Spaß. Bis nachher, Nii-chan. Und bis dann, Seto", verabschiedete er sie und schlug die Tür hinter ihnen zu. "Frag mich bitte nicht, was Yuugi heute gegessen hat, Seto. Ich habe keine Ahnung, ehrlich." Yami grinste seinen besten Freund an und dieser grinste zurück. Vielleicht würde der heutige Abend ihm ja doch mal ganz gut tun. Immerhin hatte er ja schon recht vielversprechend angefangen. "Solange du dich nicht genauso benimmst, kann ich damit leben, denke ich", erwiderte er und der Bunthaarige begann zu lachen. "Ich werde versuchen, nicht ganz so nervig zu sein. Versprochen, Seto", gab er zurück und stieg in den Wagen, dessen Tür Isono wie immer aufhielt. Seto tat es ihm gleich und lehnte sich in den bequemen Polstern zurück. Die musternden Blicke seines besten Freundes ob seiner guten Laune entgingen ihm nicht und so beschloss er, Yami zu erzählen, was am Vorabend vorgefallen war. Das, was Mokuba ihm über Ryuuji erzählt hatte, behielt er dabei allerdings für sich. "Ich habe dir doch gesagt, ihr würdet euch wieder vertragen, wenn du nur den ersten Schritt machst, Seto", trumpfte Yami auf und der Angesprochene seufzte leise, bevor er schließlich nickte. "Nun ja, das Ganze war ja auch nur ein Missverständnis. Nichts von Bedeutung", murmelte er leise und wich dem Blick seines besten Freundes aus. Darüber, dass das, was sein kleiner Bruder über Ryuujis Gleichgültigkeit gesagt hatte, ihn die ganze Nacht und auch den Großteil des heutigen Tages beschäftigt hatte, wollte er nicht sprechen – mit niemandem, auch nicht mit dem Bunthaarigen. Yami blickte seinen besten Freund fragend an. Es war nicht zu übersehen, dass diesen irgendetwas beschäftigte, aber scheinbar wollte er nicht darüber reden. Nun gut, zwingen konnte er Seto wohl nicht. Aber falls der Brünette sich doch noch entschließen sollte, sein Schweigen zu brechen, würde er da sein, das nahm Yami sich fest vor. Dafür waren Freunde schließlich da. oOo "Kura, das ist eine Kostümparty! Kostüm wie Verkleidung, verstehst Du?" Frustriert sah Katsuya seinen Freund – nach dem, was am Vorabend passiert war, hatte seiner Meinung nach jedes Recht, den Weißhaarigen so zu bezeichnen – an, doch dieser störte sich nicht an dem Blick des Blondschopfs. "Du willst doch, dass ich mitgehe, oder?", fragte er stattdessen nur und Katsuya nickte. "Dann musst Du mich so mitnehmen. Ich verkleide mich nicht." Vor allem würde er sich ganz sicher nicht in so ein unglaublich albernes ›Kostüm‹ werfen wie der Blondschopf. Das sprach Bakura allerdings nicht laut aus. Katsuya warf ihm noch einen kurzen Blick zu und seufzte dann resigniert. Wenn Bakura ihm so kam, war nichts mehr zu machen. Andererseits waren die schwarze Lederhose, der schwarze Longsleeve und der schwarze Ledermantel auch nicht unbedingt schlecht. Eigentlich sah Bakura darin sogar unbestreitbar heiß aus. Wie immer eben. Katsuya überlegte einen Moment, ob sie noch Zeit für einen kleinen Zwischenstopp im Bett hatten, schob diesen Gedanken allerdings schnell wieder beiseite. Sex konnten sie auch später noch haben, wenn sie erst mal wieder zu Hause waren. Im Augenblick freute er sich zum einen viel zu sehr auf die Party und war zum anderen viel zu gespannt auf das Kostüm seines besten Freundes, als dass er noch länger als unbedingt nötig zu Hause bleiben wollte. "Okay, von mir aus. Hilfst du mir dann eben kurz mit dem Halsband? Ich krieg das nicht zu", gab er sich geschlagen und hielt Bakura das schwarze Lederband mit dem Metallring bittend entgegen. Der Weißhaarige nickte grinsend und trat hinter den Anderen, um es zu befestigen. Dann drehte er Katsuya zu sich um und dessen Augen weiteten sich überrascht, als er das leise Klicken hörte, mit dem Bakura eine lederne Leine in den Ring seines Halsbandes einhakte. "Woher ...?", setzte er an, doch ein kurzer Ruck an der Leine, der ihn gegen Bakuras Brust fliegen ließ, unterbrach seine Frage. "Du hast mir dein Kostüm doch gleich gezeigt. Ich hatte also genug Zeit, um eine Leine zu besorgen. Soll ja schließlich niemand auf die Idee kommen, dass du ein Streuner wärst", erklärte er und Katsuya lächelte glücklich. Ganz offenbar hatte Bakura das, was er am Vorabend gesagt hatte – "Du gehörst mir" – vollkommen ernst gemeint. "Ist gebongt", erwiderte er und grinste den Weißhaarigen von unten herauf an. "Aber darüber musst du dir echt keine Sorgen machen. Hunde sind doch treu", fügte er in Anspielung auf sein Kostüm hinzu und Bakura zupfte kurz an den Hundeohren, die Andere in seinen blonden Haaren befestigt hatte. Ansonsten trug er eine schwarze Jeans und ein ebensolches Shirt, aber an der Jeans hatte er die zu den Ohren passende Rute befestigt. "Hoffentlich", brummte der Weißhaarige und zog Katsuya an der Leine hinter sich her aus der Wohnung, so dass dieser aufpassen musste, um nicht zu stolpern. "Wenn du nicht zu spät kommen willst, dann beeil dich mal nen Schlag", kommandierte er dabei. "Jaja, schon gut. Zerr doch nicht so", murrte der Blondschopf zurück und Bakura warf ihm über seine Schulter hinweg ein Grinsen zu. "Bei Fuß", kommandierte er und Katsuya streckte ihm die Zunge heraus. Das Kommando befolgte er allerdings trotzdem, denn eigentlich mochte er es ja sogar mehr als gerne, wenn Bakura so mit ihm sprach. oOo "So, Mum, ich bin dann weg. Bis später!" Ryuuji drückte seiner Mutter noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann warf er sich den Rucksack, in der sich sein Kostüm befand, über die Schulter und verließ die Wohnung, ohne ihr die Möglichkeit zu einer Erwiderung zu lassen. Unten vor dem Haus stieg er in das wartende Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse. Umziehen würde er sich erst, wenn er da war. Wenn seine Mutter wüsste, was er anzuziehen plante, würde sie ihn nämlich ganz sicher nicht zu der Party gehen lassen. Als der Fahrer an der angegebenen Adresse hielt, bezahlte Ryuuji ihn, stieg aus und huschte in einem Pulk von Leuten – scheinbar würde diese Party wirklich eine ziemlich große Sache werden – in die Halle hinein. Dort machte er sich gleich auf die Suche nach einer Toilette, in der er sich ungestört würde umziehen können. Es dauerte nur ein paar Minuten, dann wurde er fündig. Nach einem kurzen Blick nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass er vollkommen ungestört war, schlüpfte er durch die Tür mit der Aufschrift ›Personaltoilette‹ und verriegelte diese von innen, nachdem er auch hier gecheckt hatte, dass er wirklich alleine war. Dann stellte er seinen Rucksack auf den Boden, holte seine Verkleidung heraus und beeilte sich, sich umzuziehen. Nachdem er den Reißverschluss seines Kostüms geschlossen hatte, kramte Ryuuji die fehlenden Accessoires aus seinem Rucksack und schminkte sich sorgfältig. Danach zog er das Haargummi aus seinen Haaren und bürstete diese, bis sie ihm in glänzenden schwarzen Wellen über die Schultern fielen. Zum Schluss folgten noch ein paar braune Kontaktlinsen, die verhindern sollten, dass er zu früh erkannt wurde. Immerhin war seine eigene Augenfarbe ja doch recht auffällig. Als er mit seinen Vorbereitungen fertig war, warf er einen abschließenden Blick in den Toilettenspiegel, betrachtete sich prüfend von allen Seiten und lächelte schließlich. Doch, mit dem Ergebnis war er mehr als zufrieden. Und er war sich absolut sicher, dass nicht einmal sein bester Freund Katsuya ihn so erkennen würde, wenn er ihn nicht von selbst ansprach und sich zu erkennen gab. Ryuuji schloss die Toilettentür wieder auf, spähte in den Gang hinaus und machte sich dann auf den Weg in Richtung des Saales, in dem die Party stattfinden sollte. Unterwegs gab er seinen Rucksack noch an der Garderobe ab und lächelte dem braunhaarigen Jungen hinter dem Tresen, der in etwa so alt sein musste wie er selbst, kurz zu. Und als dieser sein Lächeln nicht nur erwiderte, sondern ihm auch noch zuzwinkerte, war Ryuuji sich sicher, dass seine Verkleidung wirklich absolut perfekt war. oOo "Sag mal, hast du Ryuuji schon irgendwo gesehen, Kura?" Katsuya renkte sich beinahe den Hals aus bei dem Versuch, aus der Ecke, in der sein Freund und er standen, über die doch ziemlich beachtliche Menge der Feiernden zu spähen, um nach dem Schwarzhaarigen Ausschau zu halten. Verdammt, wenn er wenigstens eine kleine Ahnung hätte, als was sein bester Freund sich verkleidet hatte, dann wäre es sich er leichter, ihn zu finden! Aber Ryuuji hatte ihm ja nichts verraten wollen. Fies! Bakura brummte nur und ließ seinen Blick ebenfalls schweifen, aber auch er konnte ihren neuen Klassenkameraden nirgendwo erkennen. Dafür entdeckte er allerdings eine andere bekannte Gestalt – oder eigentlich sogar zwei, wenn er genau hinsah. "Noch nicht. Aber sieh mal da hinten rüber. Kaiba ist auch hier", informierte er seinen blonden Freund und dieser folgte seinem Blick, bis auch er den Brünetten erblickte. "Tatsache. Krass. Ich hätte nicht gedacht, dass der sich echt zu so was herablässt", staunte der Blondschopf und musterte den 'wandelnden Eisblock', wie er seinen Mitschüler gerne nannte, von oben bis unten. "Der wirkt in dem Zeug nicht mal verkleidet", stellte er dann mit einem leisen Anflug von Neid in seiner Stimme fest und seufzte. Tatsächlich stand Kaiba, diesem arroganten Mistkerl, sein Kostüm wirklich gut. Nicht mal das weiße Rüschenhemd, das er zu der anthrazitfarbenen Hose und dem gleichfarbigen Gehrock trug, wirkte lächerlich. "Das ist doch echt unfair", schmollte Katsuya, doch bevor er sich noch weiter beschweren konnte, wickelte Bakura sich die Leine um seine rechte Hand und zwang den Anderen so, näher zu ihm zu kommen – so lange, bis ihre Gesichter kaum mehr zwei Zentimeter voneinander entfernt waren. "Vergiss Kaiba", murmelte er und nur eine Sekunde später vergaß der Blondschopf seinen brünetten Klassenkameraden ebenso wie den Rest der Partygäste tatsächlich – zumindest für die zwei Minuten, während derer der Weißhaarige ihn küsste. oOo Nachdem Seto der Höflichkeit Genüge getan, dem Geburtstagskind gratuliert und ihr sein Geschenk überreicht hatte, hatte er sich gemeinsam mit Yami von der Mädchentraube um Himura Midori – die sich für ein zartrosa Kleid und ein schmales, silbern glänzendes und mit ebenso zartrosa Steinen verziertes Diadem entschieden hatte und ganz offensichtlich eine Prinzessin darstellen wollte – entfernt und sich in eine etwas ruhigere Ecke zurückgezogen, von der aus er die Menge der Gäste gut überblicken konnte. Seto seufzte unhörbar. Er hatte durchaus bemerkt, dass die Mädchen alle erwartet hatten, dass er das Geburtstagskind zum Tanzen auffordern würde, aber dazu hatte er so gar keine Lust. Er hatte zwar nichts gegen Himura Midori, aber deshalb musste er noch lange nicht mit ihr tanzen. Natürlich war ihm die Enttäuschung der ›Prinzessin‹ nicht entgangen, aber er hatte sich einfach nicht dazu durchringen können, sie auch nur zu einem Höflichkeitstanz aufzufordern. "Warum tanzt du eigentlich nicht, Seto?" Yami, der gerade von seinem eigenen Ausflug auf die Tanzfläche zurückkam – er hatte bis vor einer knappen halben Minute noch Masaki Anzu, die Klassensprecherin ihrer Parallelklasse, die eine unübersehbare Schwäche für den Bunthaarigen hatte und am heutigen Abend als Krankenschwester verkleidet war, dort herumgeschwenkt –, sah seinen besten Freund fragend an, doch dieser schnaubte nur abfällig. "Du weißt, dass ich nicht gerne tanze", antwortete er und der Angesprochene seufzte abgrundtief. "Seto, das hier ist eine Party. Tanzen gehört einfach dazu. Außerdem hat Midori-chan dich doch hauptsächlich deshalb eingeladen, weil sie gehofft hat, du würdest wenigstens ein einziges Mal mit ihr tanzen." "Denkst du, das wüsste ich nicht? Aber es ändert nichts daran, dass ich im Augenblick nun mal keine Lust zum Tanzen habe", murrte Seto leicht verärgert und Yami winkte ab. "Ist ja gut. Ich dachte nur, dass du vielleicht ...", setzte er an, doch sein bester Freund unterbrach ihn, bevor er seinen Satz beenden konnte. "Gut, wenn du unbedingt willst, dass ich tanze, dann werde ich das tun. Aber nicht jetzt und auch ganz sicher nicht mit Himura. Meine Tanzpartnerin suche ich mir immer noch selber aus." Nach diesen Worten ließ er seinen Gesprächspartner einfach stehen und verschwand in der Gästeschar. Erneut seufzend schüttelte Yami den Kopf. Irgendetwas beschäftigte Seto, das war nicht zu übersehen. Er hatte zwar recht gute Laune gehabt, als er ihn abgeholt hatte, aber nach dem Gespräch im Auto war seine Stimmung geradezu rapide gesunken – so weit, dass Yami schon für einen Moment befürchtet hatte, sein bester Freund würde es sich anders überlegen und doch nicht mit auf die Party gehen. Glücklicherweise war das zwar nicht der Fall gewesen, aber wirklich amüsieren tat Seto sich dennoch nicht. Es muss irgendetwas mit seinem Gespräch mit Mokuba zu tun haben, sinnierte Yami und kräuselte nachdenklich die Stirn. Vielleicht sollte er warten, bis Setos Unmut sich ein wenig gelegt hatte, und dann noch einmal versuchen, mit ihm zu reden. Es war ja immerhin möglich, dass er sich dieses Mal dazu herabließ, von selbst über sein Problem zu sprechen. Einen Versuch war es jedenfalls wert. oOo Ryuuji, der gerade die Halle betrat, sah sich staunend um. Okay, er hatte sich getäuscht. Diese Feier war noch viel, viel größer und pompöser, als er erwartet hatte. Was bitteschön war Himura? Eine Prinzessin? Die Tochter eines Multimillionärs? Nun, irgendetwas in der Art musste sie sein, denn sonst wäre die Party zu ihrem Geburtstag sicherlich nicht derart bombastisch. Hoffentlich find ich Kats und Bakura hier in dem Wust von Leuten überhaupt. Da kann man sich ja zu Tode suchen, schoss es dem Schwarzhaarigen durch den Kopf und er entschloss sich, erst einmal stehen zu bleiben und in aller Ruhe die Lage zu sondieren. Einfach blindlings draufloszustürmen und nach seinem blonden Freund und dessen weißhaarigem Anhängsel zu suchen, erschien ihm keine besonders kluge Strategie zu sein. Innerlich brodelnd, äußerlich kühl und gefasst wie immer, stapfte Seto durch die Menge der Feiernden in Richtung Ausgang. Er brauchte frische Luft, sonst würde er heute ganz sicher noch etwas sagen oder tun, was er später bereuen würde. Außerdem musste er sich einen Moment lang sammeln, denn das Gespräch, das er auf der Herfahrt mit Yami in der Limousine geführt hatte, hatte alles, was er am Vorabend über seinen zukünftigen Stiefbruder erfahren hatte, wieder aufgewühlt. Ich bin ihm egal. Alles, was ich sage oder tue, ist ihm vollkommen egal, dachte Seto und schüttelte leicht den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden. Noch immer verstand er nicht, warum ihn diese Tatsache so sehr störte. Eigentlich konnte es ihm doch vollkommen egal sein, was mit Otogi Ryuuji war. Aus irgendeinem Grund allerdings, den er selbst nicht verstand, war es ihm nicht gleichgültig. Im Gegenteil, es ärgerte ihn maßlos, dass dieser einfach so über seine Worte gelacht hatte. Warum war er nicht wütend geworden? Seto hatte den Ausgang beinahe erreicht, blieb kurz vorher jedoch wie angewurzelt stehen. Wer war denn diese schwarzhaarige Schönheit in dem langen, tiefroten Kleid, die dort an der Eingangstür stand und sich umsah, als würde sie jemanden suchen? War das eine von Himuras Freundinnen, die nicht auf ihre Schule ging? Eine andere Erklärung dafür, dass er dieses Mädchen noch nie vorher gesehen hatte, wusste er nicht. Hatte Yami vorhin nicht vorgeschlagen, ich solle tanzen?, erinnerte Seto sich und nickte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Gab es eine bessere Möglichkeit als einen Tanz, um einem hübschen Mädchen näher zu kommen? Wohl kaum. Zumindest fiel ihm keine ein, also ging er kurz entschlossen zu der Schwarzhaarigen hinüber und hielt ihr seine Hand entgegen. Ryuuji, der über die Musik und seine Suche nach seinem besten Freund überhaupt nicht bemerkt hatte, dass sich ihm jemand genähert hatte, zuckte erschrocken zusammen, als sich urplötzlich eine Hand in sein Blickfeld schob. Und als eine Stimme, die er nur zu gut kannte, "Darf ich um diesen Tanz bitten?" fragte, erstarrte er und seine Augen wurden groß. Nein! Nein, oder? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein! Ein Blick zu dem Jungen, der ihn um den Tanz gebeten hatte, überzeugte ihn allerdings schnell davon, dass es kein Scherz war. Vor ihm stand wirklich sein zukünftiger Stiefbruder Seto, der ihn gerade zum Tanzen aufgefordert hatte und scheinbar auf eine Antwort wartete. Ganz offenbar hatte er ihn in der Verkleidung bisher nicht erkannt. Scheiße! Was mach ich denn jetzt? Ryuujis Gedanken überschlugen sich, aber während er noch nach einer Ausrede suchte, um nicht mit Seto tanzen zu müssen, hatte dieser ihm schon seinen Arm angeboten und er selbst war vollkommen automatisch der stummen Aufforderung gefolgt, hatte sich bei dem Anderen eingehakt und ließ sich von diesem auf die Tanzfläche führen. Dabei betete er im Stillen, dass er sich nicht durch einen dummen Zufall doch noch verraten würde, denn das konnte nur peinlich für alle Beteiligten werden. Seto, der von den Sorgen seiner Tanzpartnerin nichts bemerkte, lächelte leicht und zog sie an sich, bevor er sie über die Tanzfläche zu führen begann. Einen Augenblick lang kam es ihm so vor, als würde sie sich losreißen und flüchten wollen, aber das war sicher nur Einbildung. Warum hätte sie das auch tun sollen? Immerhin war das hier nur ein einfacher Tanz, nicht mehr. Ryuuji hingegen hatte tatsächlich für einen Moment mit dem Gedanken gespielt, Seto einfach stehen zu lassen und im Gedränge unterzutauchen, doch dann hatte er sich dagegen entschieden. Seine Verkleidung saß perfekt. Seto hielt ihn für ein Mädchen, also warum in aller Welt sollte er einen harmlosen Tanz mit dem Schwarm aller Mädchen ihrer Schule ausschlagen? Würde nicht genau das seltsam wirken? Dass bei seiner Entscheidung die Tatsache, dass er so die Gelegenheit hatte, Seto wenigstens ein einziges Mal ganz nah zu sein und in seinen Armen liegen zu können, eine nicht ganz unwesentliche Rolle spielte, verdrängte er schnell. Das hier würde eine absolut einmalige Sache bleiben. Seto hasste ihn nun mal, aber für die paar Minuten, die dieser Song dauern würde, konnte er sich zumindest einreden, dass es nicht so wäre. "Wie ungemein passend", murmelte Seto leise, als die Schwarzhaarige sich an ihn schmiegte und sich seiner Führung überließ. Doch, stellte er fest, ›Lady In Red‹ passte im Augenblick wirklich perfekt zu seiner Tanzpartnerin. Immerhin trug sie ein bodenlanges, tiefrotes Kleid. Für einen Moment war Seto beinahe versucht, an so etwas wie Schicksal zu glauben, aber dann schüttelte er innerlich über sich selbst den Kopf. Was waren das denn für seltsame Gedanken? Das rote Kleid und das Lied waren ein Zufall, nichts weiter. Während er gemeinsam mit seinem zukünftigen Stiefbruder über die Tanzfläche schwebte und von mehr als einem neidischen Augenpaar mit absolut tödlichen Blicken verfolgt wurde – so ziemlich jedes Mädchen auf der Party beneidete die ›Tanzpartnerin‹ des Brünetten im Augenblick –, schloss Ryuuji die Augen und seufzte. Verdammt, er hätte weglaufen sollen, als er noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Nach dem heutigen Abend würde er diesen Song ganz sicher nie wieder hören können, ohne dabei an Seto denken zu müssen. So tief wie möglich atmete der Schwarzhaarige den Duft des Anderen ein. Wenn er sich vorher noch sicher gewesen war, dass die Sache mit Seto nur eine kurze Schwärmerei seinerseits war, spätestens hier und jetzt bemerkte er, dass er sich diesbezüglich ganz gewaltig getäuscht hatte. Das war keine einfache Schwärmerei mehr. Nein, er hatte sich Hals über Kopf in seinen zukünftigen Stiefbruder verliebt. Das war und blieb allerdings eine einseitige und von vornherein zum Scheitern verurteilte Sache, da machte er sich keine Illusionen. Seto hasste ihn. Punkt und aus. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Aber auch wenn die Erinnerung an diesen Tanz alles nur noch schlimmer machen würde, hätte er dennoch um nichts in der Welt darauf verzichten wollen. So konnte er sich wenigstens ein einziges Mal vorstellen, wie es sich wohl anfühlen könnte, von ihm gehalten zu werden. Seto brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass der Song zu Ende war. Ein Teil von ihm bedauerte das wirklich ungemein, denn er wollte seine hübsche Tanzpartnerin einfach noch nicht loslassen. Selten zuvor hatte er einen Tanz so sehr genossen wie diesen. Die Schwarzhaarige, von der er noch nicht einmal den Namen kannte, hatte einfach perfekt mit ihm harmoniert – ganz so, als wäre sie dafür geschaffen worden, mit ihm zu tanzen. Unwillig schüttelte Seto den Kopf über sich selbst. Solche komischen Gedanken waren doch sonst nicht seine Art. Was war denn heute bloß los mit ihm? Und warum in aller Welt ging ihm plötzlich, als das Mädchen aus großen braunen Augen zu ihm aufsah, durch den Kopf, dass sie mit smaragdgrünen Augen noch sehr viel hübscher wäre? Noch bevor ihm wirklich bewusst war, was er tat, beugte der Brünette sich aus einem Impuls heraus zu seiner Tanzpartnerin herunter und verschloss ihre Lippen sanft mit den seinen. Wenn er allerdings gehofft hatte, dass sich der Gedanke an intensive grüne Katzenaugen, die ihn durchdringend musterten, dadurch vertreiben lassen würde, dann hatte er sich gewaltig geirrt. Mehrere Sekunden lang stand Ryuuji wie paralysiert mitten auf der Tanzfläche, als er so ohne Vorwarnung die Lippen seines zukünftigen Stiefbruders auf seinen fühlte. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus und er krallte seine Hände in das weiße Rüschenhemd, das Seto trug, denn seine Beine fühlten sich urplötzlich an, als bestünden sie aus Gummi oder Wackelpudding. Eine Sekunde lang dachte er tatsächlich darüber nach, den Kuss zu erwidern oder ihn sogar noch zu vertiefen, doch dann wurde ihm etwas Wichtiges bewusst: Seto küsste im Moment nicht wirklich ihn, sondern das ›Mädchen‹, mit dem er gerade noch getanzt hatte. In dem Augenblick, in dem diese Erkenntnis in sein Gehirn durchsickerte, stieß Ryuuji den Brünetten von sich, holte aus und verpasste ihm eine kräftige Ohrfeige dafür, dass er – zwar ohne es zu wissen, aber dennoch – so mit seinen Gefühlen spielte. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und rannte auf dem kürzesten Weg aus der Halle, ohne darauf zu achten, wen er unterwegs anrempelte. Genau genommen nahm er das nicht einmal wahr, denn seine Sicht war von plötzlich aufwallenden Tränen verschleiert. Draußen an der Garderobe ließ Ryuuji sich seinen Rucksack aushändigen und stürmte dann mit diesem zurück zu der Personaltoilette, in der er sich kurz zuvor für die Party umgezogen hatte. Er schloss die Tür hinter sich wieder ab, rutschte an dem Holz herunter, schlang die Arme um seine Knie und begann zu schluchzen. Seto stand unterdessen noch immer dort, wo seine Tanzpartnerin ihn geohrfeigt hatte. Dass er nach dem, was gerade geschehen war, im Augenblick der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses war, bemerkte er nur am Rande, denn seine Gedanken überschlugen sich. Hatte er gerade wirklich einfach aus einem Impuls heraus ein völlig fremdes Mädchen geküsst – noch dazu ohne ihre Erlaubnis oder ohne sie überhaupt auch nur gefragt zu haben? Was war denn heute bloß mit ihm los? Und warum in aller Welt gingen ihm die grünen Augen seines zukünftigen Stiefbruders trotz allem einfach nicht aus dem Kopf? "Seto?" Yamis leise Stimme riss den Brünetten aus seiner Starre und holte ihn wieder in die Realität zurück. "Ist alles in Ordnung mit dir?", erkundigte er sich und der Seto nickte. "Ja", antwortete er einsilbig und Yami seufzte. Es war mehr als offensichtlich, dass mit seinem besten Freund eben nicht alles in Ordnung war, aber nach dem, was gerade passiert war, war das wohl nur zu verständlich. "Komm mit." Yami packte den Arm des seines besten Freundes und wollte ihn von der Tanzfläche ziehen, doch Seto befreite sich aus dem Griff und schüttelte den Kopf. "Ich muss sie suchen", murmelte er. Er musste sich unbedingt bei dem Mädchen entschuldigen. Das, was er getan hatte, war wirklich absolut unverzeihlich gewesen. "Soll ich dir helfen?", erkundigte Yami sich, doch Seto schüttelte erneut den Kopf. "Nein, ich ... ich mache das alleine", erwiderte er und verschwand in der Menge. Der Bunthaarige sah ihm einen Augenblick lang nach und seufzte ein weiteres Mal. Sein bester Freund war heute ganz eindeutig nicht er selbst. Eine solche Aktion passte einfach nicht zu ihm. Was mochte nur mit ihm los sein? Kapitel 9: Maskenball II ------------------------ Wie lange er sich in der Toilette verkrochen und seinen Tränen freien Lauf gelassen hatte, hätte Ryuuji nicht zu sagen gewusst. Irgendwann jedoch wischte er sich entschlossen über die Augen, stand auf und zog hektisch das rote Kleid aus. Dass dabei eine Seitennaht einriss, weil er etwas zu heftig an dem Reißverschluss zerrte, interessierte ihn im Augenblick herzlich wenig. Hauptsache, er kam endlich hier raus! So schnell wie möglich stopfte Ryuuji alles, was an seine Verkleidung erinnerte, in seinen Rucksack, kramte seine normale Kleidung – eine enge schwarze Jeans, ein ärmelloses schwarzes Shirt und einen ebenso schwarzen Netzpulli – heraus und zog sich schnellstmöglichst wieder um. Am liebsten wäre er danach gleich nach Hause gefahren, aber da seine Mutter sich einerseits wundern würde, wenn er so früh schon wieder zurückkäme, und da Katsuya andererseits irgendwo in der Halle auf ihn wartete, entschloss er sich abgrundtief seufzend dazu, doch wieder zu der Feier zurückzugehen. Schließlich hatte er es ja auch dem Geburtstagskind versprochen. Außerdem wusste Seto ja nicht, dass er es gewesen war, mit dem er getanzt und der ihn geohrfeigt hatte, also hatte er absolut nichts zu befürchten. Trotzdem hätte Ryuuji sich am liebsten irgendwo verkrochen und weitergeheult, aber das verbot er sich selbst. Dann hatte sein zukünftiger Stiefbruder ihn eben geküsst. Na und? Davon ging die Welt schließlich nicht gleich unter. Immerhin wusste niemand, dass er das schwarzhaarige Mädchen in dem roten Kleid gewesen war, also eigentlich gab es keinen Grund, sich zu schämen oder sich verstecken zu wollen. Schließlich hatte Seto ihn geküsst und nicht umgekehrt. Ryuuji warf seinem Spiegelbild, dessen Make-up total verlaufen war und dessen Augen vom Weinen gerötet waren, probeweise ein Grinsen zu, doch das misslang ihm gründlich. "Ryuuji, du siehst total scheiße aus. So richtig fertig", bescheinigte er sich selbst und entfernte erst einmal die braunen Kontaktlinsen, bevor er sich das Gesicht gründlich wusch und dann seine Augen wie üblich mit schwarzem Kajal betonte. Danach band er noch seine Haare zu seinem obligatorischen Pferdeschwanz zusammen. So ›normal‹ aussehend – zumindest für seine Verhältnisse – fühlte er sich gleich schon ein bisschen besser. Wenigstens sah man ihm jetzt nicht mehr an, dass seine Gefühlswelt seit dem Tanz und dem Kuss total auf dem Kopf stand. Na dann, auf in den Kampf, motivierte er sich selbst, schulterte seinen Rucksack und verließ die Personaltoilette wieder. Wie zuvor auch gab er den Rucksack an der Garderobe ab, bevor er die Halle betrat. Den seltsamen Blick, mit dem der braunhaarige Junge hinter der Theke, der ihm beim ersten Betreten der Halle zugezwinkert hatte, ihn bedachte, bemerkte er nicht. Seto hatte inzwischen das ganze Areal um die Halle, in der die Party stattfand, nach seiner schwarzhaarigen Tanzpartnerin abgesucht. Aber egal, wo er auch nachgesehen hatte, er hatte sie einfach nirgends finden können. Wahrscheinlich war sie also schon gegangen – was ganz alleine seine Schuld war. Und dadurch, dass sie wie vom Erdboden verschluckt war, konnte er sich bei ihr nicht einmal mehr für sein Fehlverhalten entschuldigen. Frustriert gab er schließlich nach einer knappen halben Stunde die Suche auf. Es hatte einfach keinen Sinn mehr. Sie war weg und egal, wie unangenehm und peinlich es auch war, er würde damit leben müssen, dass er sich absolut unmöglich benommen hatte – und das auch noch auf der Geburtstagsfeier einer Klassenkameradin, deren Eltern geschäftlich mit seinem Vater verkehrten. Es war also ganz sicher nur eine Frage der Zeit, bis dieser von seinem Ausrutscher erfahren würde. Wundervoll. Gerade, als er die Halle wieder betreten wollte, wäre er in der Eingangstür um ein Haar mit jemandem zusammengeprallt. Seto warf einen Blick auf die Person und blieb wie angewurzelt stehen, als er in weit aufgerissene grüne Augen starrte – und zwar in genau die grünen Katzenaugen, wegen denen er diesen unverzeihlichen Fehler auf der Tanzfläche überhaupt erst begangen hatte. Ryuuji sah erschrocken auf, als er beim Betreten der Halle fast mit jemandem zusammenstieß. Als er jedoch erkannte, wer da vor ihm stand und ihn aus azurblauen Augen eiskalt musterte, weiteten sich seine Augen und er hatte das Gefühl, sein Herz würde stehen bleiben. Waren das die gleichen Augen, die vor ihrem gemeinsamen Tanz vorhin so einen warmen Ausdruck gezeigt hatten? Womit hatte er diese Kälte eigentlich genau verdient? Warum hasste Seto ihn bloß so sehr? Lag es wirklich an der Umarmung an dem Abend, als sie sich kennengelernt hatten? "Otogi." Seto knurrte den Namen beinahe und der Angesprochene bemühte sich, sich wieder zu fangen. "Ja. In voller Lebensgröße sogar. Live und in Farbe, sozusagen. Was für eine Überraschung, Seto", erwiderte er und schaffte es sogar, ein fröhliches Grinsen in sein Gesicht zu zwingen, obwohl er sich eigentlich absolut grauenhaft fühlte. Am liebsten wäre er weggerannt und hätte sich irgendwo versteckt, aber da ihm diese Option nun einmal im Augenblick nicht offen stand, musste er eben einfach das Beste aus seinen gegebenen Möglichkeiten machen. Dennoch wunderte er sich insgeheim darüber, dass er es nicht nur schaffte, nicht gleich wieder in Tränen auszubrechen, sondern auch noch in ganzen Sätzen zu sprechen. "Ich hätte wirklich gut darauf verzichten können", zischte Seto. Verdammt, warum war der Schwarzhaarige denn so fröhlich? Wie konnte er so gut gelaunt sein, wenn er doch wusste, was seine zukünftige Familie – von Mokuba einmal abgesehen – von ihm hielt? Wie konnte er hier stehen und so unverschämt grinsen? Warum sagte er nichts zu dem, was er von dem Jungen erfahren hatte? Warum beschwerte er sich nicht? Warum ging er nicht an die Decke? Das war doch nicht normal, verflucht! War ihm das alles wirklich so vollkommen gleichgültig? "Dachte ich mir." Ryuuji wusste nicht, wie er es schaffte, weder zu unbeteiligt noch irgendwie verbittert zu klingen. Er wusste nur, dass er schnellstmöglich hier wegmusste. Alle seine Sinne schrieen nach Flucht, denn so nah bei dem Brünetten stieg ihm wie bei ihrem Tanz vorhin dessen viel zu angenehmer Duft in die Nase und er musste stark gegen den Drang ankämpfen, Seto einfach zu packen, zu sich zu zerren und ihn seinerseits zu küssen – richtig dieses Mal, nicht nur auf die Lippen. "Aber da das Geburtstagskind mich hier haben wollte, hast du wohl leider Pech. Na dann, man sieht sich, Seto." Mit diesen Worten ließ Ryuuji Seto einfach stehen und dieser konnte nichts anderes tun, als ihm nachzusehen und unhörbar mit den Zähnen zu knirschen. Verdammt, woher nahm der Schwarzhaarige bloß diese aufreizende, beinahe schon provozierende Gelassenheit? oOo "Hey, da ist er ja! Huhu, Ryuuji! Wir sind hier drüben!" Katsuya winkte hektisch, als er seinen besten Freund in der Menschenmenge endlich doch noch erblickt hatte. Als der Schwarzhaarige jedoch zu ihm und Bakura trat, schob er schmollend die Unterlippe vor. "Ist das dein tolles Halloweenkostüm vom letzten Jahr?", fragte er und der Angesprochene zuckte kurz zusammen, fing sich aber schnell wieder und schüttelte den Kopf. "Nein, ist es nicht. Es hat nicht mehr gepasst und ich hatte nichts anderes. Deshalb bin ich auch so spät dran. Sorry", entschuldigte er sich zerknirscht und der Blondschopf legte den Kopf schief. "Das ist ja blöd.", seufzte er, begann aber gleich darauf wieder zu grinsen. "Du hast echt was verpasst, Ryuuji! Kaiba hat vorhin mit irgendeinem Mädel getanzt und von der voll eine gefegt gekriegt, weil er sie einfach so geküsst hat. Alter, das hättest Du sehen müssen! Der hat gekuckt wie'n Auto!" Katsuya hielt sich lachend den Bauch und so entging ihm völlig, dass sein bester Freund bei der Erwähnung dieser Szene zusammenfuhr. Bakura hingegen bemerkte das durchaus, aber er sagte nichts dazu. Er kannte den Schwarzhaarigen nicht gut genug, um sich da einzumischen. Außerdem ging es ihn ja auch nichts an, warum er plötzlich so erschrocken dreinblickte wie ein Reh im Scheinwerferlicht. "Das war der Beweis dafür, dass auch ein Kaiba nicht alles kriegt, was er haben will. Ich wünschte echt, ich hätte ein Foto davon. Oder besser noch ein Video. Das würd ich dem Eisklotz dann immer wieder unter die Nase halten, wenn der seine blöde Klappe mal wieder zu weit aufreißt", kicherte Katsuya weiter und Ryuuji zwang sich ebenfalls ein Grinsen ins Gesicht. "Sein Pech, würd ich sagen", erwiderte er gepresst, aber zu seinem Glück hörte sein blonder Freund auch diesen Unterton nicht. "Aber egal. Scheiß auf Kaiba. Was mich persönlich viel mehr interessieren würde, Kats: Warum hat Bakura Dich eigentlich an der Leine? Gibt’s dafür nen bestimmten Grund?", wechselte der Schwarzhaarige das Thema und atmete auf, als sein blonder Freund aufhörte zu lachen und stattdessen heftig errötete, während Bakura ihn an der Leine näher zu sich zog. "Sieht man das nicht?", fragte der Weißhaarige und Ryuuji grinste ihn an. "Doch, sicher. Ich wollte nur, dass Kats rot wird", erwiderte er und klopfte dem Blonden kameradschaftlich auf die Schulter. "Meinen Glückwunsch, ihr Zwei. Ich freu mich für euch", gratulierte er und Bakura erwiderte das Grinsen, während Katsuyas Gesichtsfarbe sich gleich noch mehr verdunkelte. "Blödmann!", nuschelte er in Richtung seines besten Freundes und dieser fasste sich theatralisch ans Herz und murmelte: "Wie kannst Du nur, Kats? Das trifft mich jetzt aber!", bevor in halbwegs fröhliches Gelächter ausbrach. oOo "Otogi ist auch hier." Yami fuhr zusammen, als hinter ihm so plötzlich die Stimme seines besten Freundes erklang. "Seto? Erschreck mich doch nicht so!", beschwerte er sich und sah diesen dann fragend an. "Sagtest du gerade, Otogi sei auch hier?", hakte er nach und Seto nickte grimmig. "Allerdings. Ich bin ihm eben draußen vor der Halle begegnet. Scheinbar ist er gerade erst gekommen." Was definitiv auch wesentlich besser war, denn so hatte der Schwarzhaarige wenigstens nichts von dem mitbekommen, was ihm kurz zuvor auf der Tanzfläche passiert war. Zumindest diese Demütigung blieb seinem Ego erspart. Wenigstens etwas. Yami musterte seinen besten Freund von unten herauf. "Mir scheint, deine Suche nach deiner Tanzpartnerin war nicht wirklich von Erfolg gekrönt", stellte er nach einem forschenden Blick in das verkniffene Gesicht des Brünetten fest und dieser nickte knapp. "Sie muss gleich danach gegangen sein. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, das Missverständnis zu klären", murmelte er und Yami neigte den Kopf leicht zur Seite, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. "Warum hast du das eigentlich getan, Seto? So etwas sieht dir gar nicht ähnlich. Gab es einen bestimmten Grund für diesen Kuss?", wollte er wissen, erntete jedoch als Antwort nur verbissenes Schweigen. Seto wandte den Blick ab, denn er konnte seinen besten Freund jetzt nicht ansehen. Wie sollte er ihm etwas erklären, was er selbst nicht verstand? Und wie sollte er erklären, dass er bei diesem Kuss nicht einmal wirklich an das Mädchen gedacht hatte, das er geküsst hatte? Wie sollte er erklären, dass ihn sogar bei diesem Kuss grüne Katzenaugen verfolgt hatten – wie beinahe ständig in den letzten Tagen, seit er Otogi Ryuuji zum ersten Mal getroffen hatte? Nein, das konnte er nicht erzählen – Yami nicht und auch sonst niemandem. Wie würde das denn aussehen? Yami nickte nur, als er auch nach zwei Minuten noch keine wirkliche Antwort erhalten hatte. "Ist schon in Ordnung, Seto. Du musst es mir nicht sagen. Aber falls du doch mal darüber reden willst, weißt du ja, wo Du mich findest oder wie du mich erreichen kannst.", sagte er und lächelte den Brünetten an. "Was meinst du, sollen wir gehen?", schlug er dann vor und Seto nickte dankbar. Nach all den Katastrophen dieses Abends wollte er nur noch nach Hause und am liebsten vergessen, dass er überhaupt hergekommen war. "Gut, dann lass uns gehen. Isono-san wartet doch noch mit der Limousine draußen auf uns, oder?" "Selbstverständlich", erwiderte Seto und folgte Yami nach draußen, nachdem sie sich unter dem Vorwand, dass es dem Bunthaarigen nicht gut ging, bei dem Geburtstagskind entschuldigt hatten. Seto hatte zwar das Gefühl, dass ihm jeder in der Halle ansah, dass eigentlich er derjenige war, der gehen wollte, aber sein bester Freund spielte die Rolle des plötzlich krank Gewordenen wirklich hervorragend – so hervorragend, dass Seto sich mental notierte, dass Yami dafür etwas bei ihm gut hatte. oOo Ryuuji entging der Aufbruch von Seto und dessen bestem Freund Yami nicht, doch er tat, als bemerkte er nichts davon. Er unterhielt sich weiterhin mit Katsuya und Bakura, der den unerklärlichen Groll, den er gegen ihn gehegt hatte, begraben zu haben schien. Nicht wirklich zu seiner Überraschung stellte Ryuuji fest, dass man sich mit dem Weißhaarigen wirklich gut unterhalten konnte, wenn er erst einmal aufgetaut war. Als der Schwarzhaarige sich bei den beiden entschuldigte, um das Geburtstagskind wenigstens ein einziges Mal zum Tanzen aufzufordern – auch wenn es ihm davor graute, die Tanzfläche nach seinem Tanz mit Seto ein weiteres Mal zu betreten –, stieß Katsuya seinem Freund den Ellbogen in die Seite, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. "Na, was hab ich dir gesagt? Ryuuji ist total in Ordnung. Und das zwischen ihm und mir ist lange vorbei. Jetzt gehör ich schließlich dir", flüsterte er Bakura zu und dieser nickte. "Ich sag doch gar nichts", brummelte er und der Blondschopf grinste. "Weiß ich doch. Ich wollt's dir bloß noch mal sagen", gab er zurück und keuchte überrascht auf, als Bakura ihn an der Leine zu sich zog und ihn tief und hungrig küsste, um ihn am Weitersprechen zu hindern. Doch, dachte der Blondschopf, daran, auf diese Art und Weise zum Schweigen gebracht zu werden, könnte er sich glatt gewöhnen. "Bitte entschuldigt die Störung, meine Damen. Ich würde das Geburtstagskind gerne für einen Augenblick entführen." Die Stimme ihres neuen Klassenkameraden ließ die Mädchentraube um Himura Midori eine kollektive Drehung vollführen und nicht wenige der Mädchen seufzten verzückt, als der Schwarzhaarige sich formvollendet verbeugte und dann dem besagten Geburtstagskind sein charmantestes Lächeln schenkte. "Darf ich um diesen Tanz bitten, Prinzessin?", fragte Ryuuji und Midori errötete leicht, bevor sie ihre Hand in seine legte und sich von ihm auf die Tanzfläche führen ließ. Zu ihrem Glück wurde gerade ein langsames Lied gespielt, so dass sie sich ganz nah an den Schwarzhaarigen schmiegen konnte, ohne allzu großes Aufsehen zu erregen. "Ich dachte schon, du würdest nicht mehr kommen, Otogi-kun.", murmelte sie leise und der Angesprochene lächelte entschuldigend. "Das tut mir leid. Ich wollte dich wirklich nicht warten lassen, Midori-chan, aber ich hatte ein paar Probleme mit meinem Kostüm. Deshalb bin ich auch sozusagen in Zivil hier. Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel." Insgeheim wunderte Ryuuji sich ein wenig darüber, wie glatt ihm diese Lüge über die Lippen kam. Das Mädchen in seinem Arm schien ihm jedoch problemlos zu glauben, also würde er sich ganz sicher nicht darüber beschweren. Glücklicherweise schien tatsächlich niemand auch nur die geringste Ahnung zu haben, wer wirklich hinter dem schwarzhaarigen ›Mädchen‹ steckte, das mit Kaiba Seto getanzt und diesen dann nach dem Kuss geohrfeigt hatte. "Darf ich dir eine Frage stellen, Otogi-kun?" Die leise Stimme seiner Tanzpartnerin riss den Angesprochenen wieder aus seinen Grübeleien und er nickte dem Mädchen zu. Midori senkte den Blick und errötete, doch dann atmete sie noch einmal tief durch und sah ihren Klassenkameraden von unten herauf schüchtern an. "Sag, Otogi-kun, hast du eine Freundin?" Bei dieser Frage hätte der Schwarzhaarige um ein Haar laut gelacht, aber er beherrschte sich. Immerhin hatte er sich fest vorgenommen, seiner Mutter keine Probleme mehr zu machen. Wenn er die Frage wahrheitsgemäß beantwortete, wäre das allerdings sicher spätestens am Montag das Gesprächsthema Nummer Eins in der Schule, daher entschied er sich für eine möglichst diplomatische Antwort, mit der er seiner Klassenkameradin eine Abfuhr erteilen konnte und gleichzeitig nichts über seine wahre sexuelle Orientierung verraten würde. "Nicht hier, nein. Aber in Amerika gibt es jemanden, der auf mich wartet", log Ryuuji daher und Midori verzog bedauernd das Gesicht, bevor sie erneut errötete. "Oh. Ich verstehe. Bitte entschuldige", flüsterte sie, doch ihr Tanzpartner schüttelte den Kopf. "Du musst dich nicht entschuldigen, Midori-chan. Es ehrt mich wirklich, dass du fragst, aber wenn ich in einer Beziehung bin, bin ich absolut treu." Das war noch nicht einmal gelogen. Gut, er hatte in seinem ganzen bisherigen Leben noch nicht eine einzige Beziehung mit einem Mädchen gehabt, aber das musste Midori nun wirklich nicht wissen. "Das ist wirklich bewundernswert, Otogi-kun." Das Mädchen lächelte traurig und ließ sich nach dem Ende des Liedes von ihrem Klassenkameraden wieder zu ihren Freundinnen zurückbringen. Ryuuji verabschiedete sich mit einem Handkuss, der den anderen Mädchen weitere Seufzer entlockte, und drängelte sich dann durch die Partygäste zurück zu Katsuya und Bakura, die noch immer in ›ihrer‹ Ecke standen und ganz offenbar vollkommen in ihre Zungenakrobatik vertieft waren. "Ich will euch wirklich nicht stören, Jungs, aber ich mach mich langsam dünne. Mir reicht's für heut", unterbrach der Schwarzhaarige den Kuss der beiden und sein bester Freund sah ihn aus leicht verschleierten braunen Augen fragend und ziemlich atemlos an. "Was? Wieso ... das denn?", erkundigte er sich japsend und Ryuuji grinste schief. "Nicht mein Abend heute. Midori-chan hat mich gerade gefragt, ob ich schon ne Freundin hab", erklärte er und der Blondschopf löste sich von Bakura, um ihn anzusehen. "Und was hast du ihr gesagt?", wollte er neugierig wissen und Ryuuji seufzte abgrundtief. "Dass ich in festen Händen bin. Zwar nicht hier, aber drüben in den Staaten." "Dabei sieht doch jeder mit Augen im Kopf, dass Du mit ner Frau so viel anfangen kannst wie ein Hund mit nem Fahrrad", warf Bakura ungerührt ein und Katsuya konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. "Toller Vergleich, Kura, echt", murrte er, aber sein Grinsen ließ seine Beschwerde nur halb so glaubhaft klingen, wie sie gemeint war. Manchmal war sein Freund einfach ein totaler Spinner. Hunde und Fahrräder … also wirklich! "Ist doch egal. Jedenfalls will ich eigentlich nur noch nach Hause." Dass das hauptsächlich an der Sache mit Seto lag und eigentlich nicht wirklich etwas mit Midoris Frage zu tun hatte, behielt Ryuuji für sich. Darüber wollte er im Augenblick einfach nicht sprechen. "In Ordnung. Ich glaub, wir können uns auch verdünnisieren, oder, Kura?", wandte Katsuya sich an Bakura und dieser nickte, bevor er seinerseits zu grinsen begann. "Gute Idee. Ich kann mir ne bessere Beschäftigung für den Rest der Nacht vorstellen als hier abzuhängen", stimmte er zu und der Blonde knuffte ihn in die Seite. "Kura, du bist ein Idiot. Und außerdem bist du notgeil", murmelte er und der Weißhaarige zuckte mit den Schultern. "Na und? Stört's Dich jetzt etwa plötzlich, dass ich dich will?", fragte er und Katsuya hielt unwillkürlich den Atem an, als sein Freund ihm so unverblümt ins Gesicht sagte, was ihm blühte, sobald sie zu Hause waren. Ryuuji beobachtete das frischgebackene Paar und lächelte leicht. Die beiden passten wirklich gut zusammen – viel besser, als Katsuya und er jemals zusammengepasst hatten. Ein Teil von ihm freute sich wirklich für seinen besten Freund und wünschte ihm alles erdenklich Gute, aber ein anderer Teil von ihm trauerte dem letzten Jahr nach, in dem es Bakura noch nicht in Katsuyas Leben gegeben hatte. Damals hatte der Blondschopf nur ihm allein gehört. Unwillig schüttelte Ryuuji den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. So etwas auch nur in Betracht zu ziehen war wirklich egoistisch von ihm. Katsuya und er hatten sich nicht geliebt. Sie hatten sich gegenseitig vertraut und waren beide neugierig gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Sicher, als Freunde liebten sie sich, aber mehr war da zwischen ihnen nie gewesen. Und jetzt hatte der Blonde ja jemanden gefunden, der ihm wirklich etwas bedeutete. Ich wünschte, bei mir wär das auch so einfach, dachte Ryuuji und seufzte unhörbar. Mit solchen naiven und lächerlichen Wunschträumen sollte er am besten gar nicht erst anfangen. Der Blick seines zukünftigen Stiefbruders, als sie sich zufällig draußen vor dem Eingang zur Halle getroffen hatten, hatte Bände gesprochen und mehr als deutlich verraten, was Seto wirklich über ihn dachte. Er hasst mich und er verachtet mich. Wahrscheinlich wär's ihm am liebsten, wenn's mich gar nicht gäbe. Der Gedanke tat weh, aber er war nun mal die Wahrheit. Es brachte nichts, die Tatsachen beschönigen zu wollen. Seine Gefühle waren eine einseitige und aussichtslose Sache. Seto würde sie niemals erwidern. Höchstwahrscheinlich erwartete er jetzt schon voller Vorfreude den Tag, an dem er endlich wieder zurück zu seinem Vater nach Amerika flog. Katsuya, dem die gedrückte Stimmung seines besten Freundes nicht entging, legte diesem einen Arm um die Schultern und sah ihn ernst und fragend an. "Ist wirklich alles in Ordnung mit dir, Ryuuji? Du bist irgendwie komisch.", murmelte er und der Angesprochene zuckte zusammen. "Geht schon", gab er zurück und grinste schief. "Ich bin einfach nur geschlaucht. Ein paar Stunden Schlaf und ich bin wieder fit." "Musst du auch sein. Schließlich hast du ja morgen was vor, nicht wahr?", erinnerte der Blondschopf und Ryuuji nickte. "Allerdings. Mokuba wollte sich morgen mit mir treffen." Ein Treffen, das er in seiner momentanen Stimmung am liebsten abgesagt hätte, aber als er sich die großen, bittenden blauen Augen des Fünfzehnjährigen wieder ins Gedächtnis rief, wusste er, dass er das nicht über sich bringen würde. Der Kleine hatte ihn am Mittwoch bereits um dieses Treffen gebeten und sich von da an jeden Tag versichert, dass es auch wirklich stattfinden würde – trotz allem, was sein Vater und sein älterer Bruder gesagt hatten. Wenigstens ein Kaiba, der sich wirklich darauf freut, mich zu sehen, dachte Ryuuji bitter, schob diesen Gedanken aber gleich wieder beiseite. So etwas brachte nichts. Es wurde Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und sich endlich damit abzufinden, dass nur ein Mitglied seiner neuen Familie ihn wirklich haben wollte. "Na, dann lass uns abhauen. Kura und ich bringen dich noch nach Hause, okay?" Katsuyas Stimme riss Ryuuji aus seinen Gedanken und er grinste seinen besten Freund an. "Spinner!", erwiderte er und brachte die blonde Mähne noch etwas mehr in Unordnung. Irgendwie schaffte Kats es doch immer wieder, dass er sich zumindest ein bisschen besser fühlte. Heute wollte er allerdings auf dem Nachhauseweg lieber alleine sein, deshalb schüttelte er gleich darauf den Kopf. "Mum hat mir Geld für ein Taxi mitgegeben. Geht ihr Zwei ruhig nach Hause und tobt euch ordentlich aus. Ich ruf dann morgen Abend an, wenn ich von meinem Treffen mit Mokuba zurück bin, okay?", wandte er sich an den Blondschopf und dessen Freund. "Sicher?", hakte Katsuya nach und der Schwarzhaarige nickte. "Ja, sicher. Schlaft gut und seid vorher noch so richtig schön unanständig. Amüsiert euch für mich mit, ja?", witzelte er, wich allerdings den Blicken der beiden Älteren aus. Er wusste genau, dass sein bester Freund ihn durchschauen würde, wenn er ihm jetzt in die Augen sah. "Ich weiß nicht ...", setzte dieser auch prompt an, doch Bakura wickelte sich die Leine fester um seine Hand. "Du hast doch gehört, was er gesagt hat. Er will jetzt alleine sein. Also komm bei Fuß. Wir gehen auch nach Hause", kommandierte er und zog den noch immer protestierenden Blonden hinter sich her, ohne auf dessen Beschwerden einzugehen. Ryuuji blickte den beiden hinterher, bis sie um die nächste Ecke verschwunden waren. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass Bakura durchschaut hatte, dass er im Augenblick einfach nur keine Gesellschaft wollte. Seltsam, dachte Ryuuji, während er sich ein Taxi heranwinkte, einstieg und dem Fahrer seine Adresse nannte. So viel Feingefühl hätte er dem Weißhaarigen gar nicht zugetraut. Scheinbar hatte er sich in Bakura ganz gewaltig getäuscht. oOo Mokuba, der im Wohnzimmer vor dem Fernseher herumgegammelt hatte, sprang von der Couch auf und sprintete in den Flur, als er die Haustür aufgehen hörte. "Du bist schon zurück, Nii-san?", erkundigte er sich und blickte seinen Bruder aus großen Augen fragend an. Seto hielt sich jedoch nicht lange auf, sondern nickte dem Jungen nur knapp zu und ging mit einem "Wie du siehst. Gute Nacht, otouto" an ihm vorbei nach oben in sein Zimmer. Im Augenblick stand ihm in keinster Weise der Sinn nach Unterhaltung. Eigentlich wollte er nur noch schlafen und alles, was an diesem Abend vorgefallen war, einfach vergessen. Etwas irritiert sah Mokuba seinem Bruder hinterher, als dieser förmlich die Treppen in den ersten Stock hinaufeilte und in seinem Zimmer verschwand. Was ist denn jetzt los? Was hat Seto denn?, fragte er sich selbst, zuckte dann aber nur mit den Schultern und ging zurück ins Wohnzimmer. Wenn Seto sich so benahm, dann war mit ihm nicht zu reden, also konnte er genauso gut noch eine Weile weiter fernsehen. Schließlich war Wochenende und das musste ausgenutzt werden. In seinem Zimmer angekommen schloss Seto ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit die Tür hinter sich ab, bevor er sich rücklings auf sein Bett fallen ließ und an die Decke starrte, ohne sich vorher umzuziehen. Das Licht hatte er absichtlich nicht angemacht. Im Augenblick gab es nichts, was er sehen wollte, also brauchte er auch keine Helligkeit. Die herrschende Dunkelheit tat eigentlich sogar ganz gut, wenn man davon absah, dass sich seine Gedanken einfach nicht abstellen ließen. Warum in aller Welt habe ich das bloß getan? Warum habe ich sie geküsst? Sich selbst die Frage zu stellen, warum er bei diesem Kuss nicht wirklich an seine Tanzpartnerin, sondern an eine andere Person – eine Person mit rabenschwarzen Haaren und grünen Augen – gedacht hatte, wagte Seto nicht, denn aus einem Grund, den er selbst nicht verstand, hatte er Angst vor der Antwort, die er finden könnte. Frustriert ballte er seine Hände zu Fäusten und schlug damit auf seine Matratze ein. Unglücklicherweise gehorchte sein Unterbewusstsein seinen Wünschen nicht und so sah er immer wieder Dinge, die er nicht sehen wollte: Grüne Katzenaugen, die ihn mit unübersehbarer Belustigung musterten und ein Grinsen, das deutlicher als Worte sagte, dass das alles den Besitzer dieser Katzenaugen einfach nicht kümmerte. Wieso? Wieso ist es ihm so gleichgültig, was ich sage und tue? Wieso bin ich ihm so gleichgültig? Seto wollte eigentlich wirklich nicht darüber nachdenken, aber seine Gedanken kehrten immer wieder zu diesen Fragen zurück. Wie schaffte Ryuuji es, ihm gegenüber immer noch diesen frech-spöttischen Tonfall anzuschlagen? Wie konnte er nach allem, was er von Mokuba erfahren hatte, so ruhig und gelassen sein? Ließ ihn das alles denn wirklich so vollkommen kalt? Warum? Nachdem er eine gefühlte Ewigkeit über Dinge nachgegrübelt hatte, die er eigentlich hatte verdrängen wollen, stand Seto schlussendlich wieder von seinem Bett auf, um sich auszuziehen und in seinen Pyjama zu schlüpfen. Eine Mütze voll Schlaf würde ihm sicher ganz gut tun. Außerdem hatte er die Hoffnung, dass er vielleicht endlich aufhören könnte, darüber nachzudenken, was an diesem Abend alles passiert war, wenn er erst einmal eingeschlafen war. Sehr zu Setos Ärger gestaltete es sich allerdings schwieriger als gedacht, ruhigen Schlaf zu finden. Als er auch mehr als zwei Stunden, nachdem er nach Hause gekommen war, noch immer hellwach war, reichte es ihm. Grummelnd schlug er seine Bettdecke zurück, stand auf und schloss seine Zimmertür wieder auf. Dann ging er durch den Flur nach unten, wo er im Wohnzimmer auf Mokuba traf, der sich offenbar gerade einen Horrorfilm ansah. Dabei stopfte er Unmengen an Chips in sich hinein und schien seinen älteren Bruder gar nicht zu bemerken. Erst als dieser sich in einen der Sessel fallen ließ, sah der Junge auf. "Schedo? Wasch machscht du denn hier?", erkundigte er sich mit vollem Mund und der Angesprochene seufzte abgrundtief. "Ich konnte nicht schlafen", antwortete er knapp und sein Bruder legte fragend den Kopf schief. "Wiescho? Wasch ischn losch?", nuschelte er, doch Seto schüttelte den Kopf. "Nichts. Ich kann einfach nur nicht einschlafen, das ist alles", erwiderte er und hob eine Braue, als sein Bruder ihm die Chipstüte entgegenhielt. "Willschu auch wasch?", fragte Mokuba, doch Seto schüttelte den Kopf. "Nein, danke", murmelte er, zog ein Bein an und wandte seinen Blick zum Bildschirm. Mokuba runzelte die Stirn, doch dann zuckte er mit den Schultern und widmete sich ebenfalls wieder dem Film. Irgendwie war sein großer Bruder schon seit dem vergangenen Abend, als er in sein Telefonat mit Ryou hineingeplatzt war, total komisch. Na, der kriegt sich schon wieder ein, dachte der Fünfzehnjährige und ließ sich wieder von der Handlung des Films gefangen nehmen. Ungefähr zwanzig Minuten lang saßen die beiden Brüder schweigend im Wohnzimmer und sahen sich gemeinsam den Film an. Erst als der Abspann lief, warf Mokuba wieder einen Blick zu Seto hinüber. "Ich treffe mich nachher übrigens mit Ryuuji, Nii-san", informierte er diesen und Seto drehte seinen Kopf vom Bildschirm weg, um ihn ansehen zu können. "Und was hat das bitteschön mit mir zu tun?", fragte er kühl nach und sein jüngerer Bruder zuckte mit den Schultern. "Nichts. Ich wollte es dir bloß sagen", erwiderte er. Warum er seinem Bruder unbedingt von dem Treffen hatte erzählen wollen, wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass er die Hoffnung, Seto möge seine Abneigung gegen ihren zukünftigen Stiefbruder überwinden und sich wenigstens einigermaßen mit Ryuuji zu verstehen versuchen, einfach nicht aufgeben wollte. Es musste doch eine Möglichkeit geben, seinen Bruder davon zu überzeugen, dass Ryuuji nicht so schlimm war wie er dachte. "Ich denke, ich werde jetzt schlafen gehen. Gute Nacht, otouto." Seto erhob sich aus dem Sessel und machte sich auf den Weg zurück in sein Zimmer. Dort legte er sich wieder in sein Bett, rollte sich auf die Seite und wickelte sich in seine Decke. Aus irgendeinem Grund störte ihn der Gedanke, dass Mokuba scheinbar so unbedingt etwas mit Ryuuji unternehmen wollte, aber warum das so war, wusste Seto nicht zu sagen. oOo "Du bist schon zurück, Ryuuji?", erklang eine verwunderte Stimme aus der Küche, als Ryuuji den Schlüssel in der Wohnungstür drehte und sie aufschloss. "Ja, bin ich, Mum", antwortete der Angesprochene leise, zog seine Schuhe aus und brachte erst noch seinen Rucksack in sein Zimmer, bevor er zu seiner Mutter in die Küche ging. Auf keinen Fall sollte sie erfahren, was er – zumindest eine Zeitlang – auf der Party getragen hatte. "Du siehst nicht so aus, als hättest du dich gut amüsiert. Ist irgendetwas passiert, Ryuuji?", fragte Yukiko ihren Sohn besorgt, als dieser sich abgrundtief seufzend auf einen der Küchenstühle fallen ließ und seinen Kopf auf die Tischplatte legte. "Midori-chan – die, die Geburtstag hatte und mich zu der Party eingeladen hat – hat mich vorhin gefragt, ob ich ne Freundin hab", nuschelte er als Antwort und sah seine Mutter an. "Keine Sorge, Mum. Ich hab ihr nichts erzählt. Ich hab gelogen und behauptet, drüben in den Staaten würde jemand auf mich warten", beschwichtigte er sie gleich und sah, wie sie sichtbar aufatmete. "Das ist zwar nicht wahr, aber so bin ich wenigstens auf der sicheren Seite und mich fragt bestimmt niemand mehr. Ich hab Midori-chan klargemacht, dass ich meiner ›Freundin‹ absolut treu bin", fuhr Ryuuji fort und grinste schief. Yukiko erhob sich von ihrem Platz, trat neben ihren Sohn und strich diesem zärtlich über die schwarzen Haare. "Das tut mir leid für dich. Es muss dir schwer gefallen sein", murmelte sie leise, doch er winkte ab. "Ach was. Ging schon. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass sie mich ausgerechnet heute danach fragen würde, das ist alles. Immerhin kennt sie mich eigentlich so gut wie gar nicht. Um ein Haar hätte ich was Falsches gesagt, aber ich hab dir ja versprochen, dass ich dir keine Probleme machen werde, solange ich hier bei dir bin", erwiderte er und stand wieder auf. "Ich glaub, ich hau mich jetzt gleich ins Bett, Mum. Ich bin irgendwie tierisch müde." Nach diesen Worten drückte Ryuuji seiner Mutter noch einen Kuss auf die Wange und verschwand dann aus der Küche. Yukiko blieb in der Küchentür stehen und sah ihrem Sohn nach. Irgendetwas war vorgefallen, das spürte sie. Da musste mehr passiert sein als nur das, was er erzählt hatte. Ihr Junge machte einen geradezu niedergeschlagenen Eindruck und das konnte nicht nur an dem Angebot dieses Mädchens liegen. Solche Dinge war er immerhin gewöhnt. Schließlich passierte ihm so etwas öfter. Nein, da musste noch etwas anderes gewesen sein – etwas, worüber er ganz offenbar nicht mit ihr sprechen wollte. Ryuuji, der von den Gedankengängen seiner Mutter nichts ahnte, stattete dem Badezimmer einen kurzen Besuch ab, um den Kajal aus seinem Gesicht zu entfernen. Dann ging er in sein eigenes Zimmer hinüber, schob seine Zimmertür hinter sich zu und pellte sich aus seinen Klamotten. Nur mit einer Pyjamahose bekleidet schlüpfte er in sein Bett, zog sich die Decke bis an die Nasenspitze und machte sich so klein wie möglich, bevor er wie in der Toilette nach dem Tanz seinen Tränen freien Lauf ließ. Dabei biss er sich auf seine Unterlippe, um nur ja nicht zu laut zu schluchzen. Auf keinen Fall wollte er, dass seine Mutter mitbekam, was er hier tat. Er wollte ihr weder Sorgen bereiten noch ihr erzählen, was genau mit ihm los war. Dafür würde sie ganz sicher kein Verständnis haben. Ich sollte das vergessen und am besten nie, nie wieder auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, was heute passiert ist. Rein logisch betrachtet wusste Ryuuji das ganz genau, aber Gefühle ließen sich nun mal nicht logisch steuern – ebenso wenig wie seine Erinnerung, die ihm immer wieder die blauen Augen seines zukünftigen Stiefbruders, dessen angenehmen Duft oder seine warmen, weichen Lippen zeigte. Verdammt! So fest wie möglich presste Ryuuji seine Lider aufeinander, aber auch das konnte seinen Tränenfluss nicht stoppen. Egal, was er versuchte, es gelang ihm einfach nicht, sich zu beruhigen. Immer und immer wieder spielte sein Gedächtnis den Tanz und den Kuss ab, erinnerte ihn an jedes Detail und machte es ihm beinahe die halbe Nacht lang unmöglich, Schlaf zu finden. Erst gegen vier Uhr morgens schlief er schließlich doch noch vor Erschöpfung ein. Wirklich erholsam war der Schlaf jedoch nicht, denn Setos blaue Augen verfolgten ihn bis in seine Träume und ließen ihn auch dort nicht zur Ruhe kommen. Kapitel 10: Sonntag ------------------- Als sein Wecker um halb zehn klingelte, öffnete Ryuuji mühsam seine Augen. Er fühlte sich wie gerädert und sein Kopf schmerzte, als stünde er kurz vor der Explosion, aber da er Mokuba sein Wort gegeben hatte, sich heute mit ihm zu treffen, quälte er sich aus seinem warmen und verlockenden Bett und schlich hinüber ins Badezimmer. Vielleicht konnte eine erfrischende Dusche seine Lebensgeister ja zumindest ein bisschen ankurbeln. Schließlich wollte er den Kleinen auf keinen Fall enttäuschen. Eine knappe halbe Stunde später betrat Ryuuji leise die Küche. Seine Mutter schlief augenscheinlich noch tief und fest, also beschloss er, sich eben schnell selbst etwas zu essen zu machen, bevor er losging. Da sie die ganze Woche hindurch gearbeitet hatte – sie hatte sich für die Hochzeit in der nächsten Woche frei genommen und musste dementsprechend noch einiges vorbereiten –, hatte sie seiner Meinung nach den Schlaf mehr als nur nötig. Nach einem kurzen Frühstück huschte er zurück in sein Zimmer, um sich anzuziehen. Dann schrieb er seiner Mutter sicherheitshalber noch einen Zettel und legte diesen gut sichtbar auf den Küchentisch, bevor er die Wohnung verließ. Wenn er noch pünktlich sein wollte, sollte er sich wohl besser ein bisschen beeilen. oOo Trotz des Films, den er sich am Vorabend unten im Wohnzimmer angesehen hatte, war Mokuba am Sonntagmorgen bereits um neun Uhr wach. Gut gelaunt sprang er geradezu aus dem Bett und sauste noch im Pyjama nach unten ins Esszimmer, wo er auf seinen Vater, seinen Bruder und Isono traf. "Guten Morgen zusammen!", grüßte er fröhlich und begann gleich mit dem Frühstück, ohne eine Erwiderung abzuwarten. "Guten Morgen, Mokuba." Gozaburo faltete seine Sonntagszeitung zusammen und legte sie zur Seite, um seinen Jüngsten anzusehen. Ganz im Gegensatz zu Seto, der an diesem Morgen sogar noch einsilbiger war als sonst und dessen deutlich sichtbare Augenringe davon zeugten, dass er eine zumindest größtenteils schlaflose Nacht hinter sich hatte, machte Mokuba einen ausgesprochen munteren Eindruck. "Guten Morgen, otouto", rang Seto sich ab und unterdrückte mühsam ein Gähnen. Die letzte Nacht war alles andere als erholsam gewesen. Unwillig den Kopf schüttelnd versuchte er, seine Träume zu verdrängen. Verdammt, warum schlich sich Otogi Ryuuji jetzt eigentlich nicht nur tagsüber in seine Gedanken, sondern suchte ihn auch noch nachts heim? Gab es denn kein Mittel dagegen? Mokuba grinste über sein Glas mit Orangensaft hinweg in die Runde. Normalerweise genoss er das sonntägliche Familienfrühstück, aber heute hatte er es viel zu eilig, um es richtig zu würdigen, dass sein Vater sich trotz der auf Hochtouren laufenden Hochzeitsvorbereitungen Zeit für dieses wöchentliche Ritual genommen hatte. Immerhin hatte er sich für elf Uhr mit seinem zukünftigen Stiefbruder verabredet. "Ich bin übrigens gleich weg. Wollte nur noch mal Bescheid sagen. Weiß noch nicht genau, wann ich nach Hause komme. Ich treffe mich mit Ryuuji." Mokuba beobachtete seinen Vater und seinen Bruder genau, aber selbst Setos abfälliges Schnauben und der fragende Blick ihres Vaters konnte seine gute Stimmung nicht trüben. "Wir wollen einfach mal ein bisschen zusammen rumhängen. Schließlich gehört er ja ab nächster Woche zur Familie." Bei diesen Worten zuckte Seto unwillkürlich zusammen. Musste Mokuba ihn ständig daran erinnern? Reichte es denn nicht, dass er Ryuuji jeden Tag in der Schule sah? Musste sein Bruder ihm dauernd unter die Nase reiben, dass er ihm ab dem nächsten Wochenende nicht einmal mehr zu Hause würde aus dem Weg gehen können? Gozaburo, dem die Stimmung seines Ältesten nicht entging, räusperte sich. "Nun, dann wünsche ich euch Beiden viel Spaß, Mokuba", sagte er und wandte sich dann Seto zu. "Was ist mit Dir, Seto? Begleitest du deinen Bruder?", erkundigte er sich und hob überrascht eine Braue, als Seto beinahe augenblicklich den Kopf schüttelte. "Ganz sicher nicht, Vater", widersprach er vehement, ohne auf den ärgerlichen Blick seines jüngeren Bruders zu achten. "Seto, du bist echt ein Idiot. Ryuuji ist wirklich total nett. Aber das willst du ja nicht wahrhaben", murrte der Fünfzehnjährige, doch sein älterer Bruder richtete seinen Blick stur auf seinen Teller und würdigte diese Aussage keiner Antwort. Gozaburo betrachtete das ärgerlich verzogene Gesicht Setos und seufzte unhörbar. Er selbst hatte sich inzwischen einigermaßen an den Gedanken gewöhnt, Yukikos Sohn ab der nächsten Woche täglich zu sehen, aber scheinbar hatte zumindest sein ältester Sohn noch immer Probleme mit ihm. Seto, dem der Seitenblick seines Vaters nicht entging, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. "Ich habe noch Hausaufgaben zu machen. Entschuldige mich, Vater. Bis später, Mokuba." Damit verließ er das Esszimmer. Er ging jedoch nicht hinauf in sein Zimmer, sondern schnappte sich das Telefon und wählte Yamis Nummer, um sich mit ihm zu verabreden, denn er hatte das Gefühl, zu Hause würde ihm die Decke auf den Kopf fallen. Mokuba schüttelte den Kopf und vertilgte den Rest seines Frühstücks, dann erhob er sich ebenfalls. "Ich bin dann auch weg. Bis heute Abend, Vater." Und schon sprintete der Schwarzhaarige nach oben, um zu duschen. Dann flitzte er zurück in sein Zimmer, riss die Türen seines Kleiderschranks auf und unterzog seine dort hängende Garderobe einer gründlichen Musterung. Was in aller Welt sollte er bloß anziehen? Nach kurzem Überlegen entschied er sich für eine schwarze Jeans und ein ebensolches Shirt, denn Schwarz schien Ryuujis Lieblingsfarbe zu sein. Ein Blick aus dem Fenster überzeugte ihn davon, dass diese Kleidung bei dem herrschenden guten Wetter vollkommen ausreichen würde, also beeilte er sich, sich anzukleiden. Sobald er fertig war, schob er noch schnell sein Portemonnaie, sein Handy und seinen Schlüssel in seine Hosentasche, bevor er nach unten sauste und die Haustür aufriss. Dabei stellte er zu seiner Überraschung fest, dass Seto entgegen seiner Ankündigung, Hausaufgaben erledigen zu wollen, ebenfalls Anstalten machte, die Villa zu verlassen. Na ja, auch egal. Innerlich mit den Schultern zuckend stürmte Mokuba ohne ein weiteres Wort an seinem älteren Bruder vorbei und rannte in Richtung des Parks, in dem er sich mit seinem zukünftigen Stiefbruder verabredet hatte. Irgendwie konnte er es kaum erwarten, Ryuuji endlich wiederzusehen und Zeit mit ihm zu verbringen. Ryuuji war in seinen Augen einfach unglaublich cool und die Tatsache, dass dieser sich freiwillig mit ihm traf und ihn nicht für einen dummen kleinen Jungen hielt, nur weil er zwei Jahre jünger war, machte Mokuba unheimlich stolz. Völlig außer Atem und außerdem viel zu früh erreichte er schließlich den Park und ließ sich dort auf eine der Bänke fallen. So früh am Morgen war hier normalerweise nicht viel los, aber dadurch, dass heute die Sonne schien, Sonntag war und viele Leute frei hatten, waren doch eine Menge Menschen unterwegs. Familien mit kleinen Kindern veranstalteten Picknicks, alte Leute führten ihre Hunde aus und verliebte Teenager liefen händchenhaltend über die Wege und blieben hin und wieder stehen, um sich zu küssen, wenn sie sicher waren, dass sie wirklich niemand dabei sah. Für das ganze bunte Treiben hatte Mokuba allerdings keinen wirklichen Blick übrig. Seine Augen schweiften auf der Suche nach einer ganz bestimmten Person umher. Als er schließlich den inzwischen vertrauten Umriss seines zukünftigen Stiefbruders einen der Wege entlang auf sich zukommen sah, sprang er von der Bank auf und lief auf ihn zu. Ryuuji lächelte leicht, als er sah, wie Mokuba voller Begeisterung auf ihn zustürmte. Das Grinsen in seinem Gesicht war schon von Weitem zu erkennen und diese offensichtliche Freude über das Wiedersehen hob seine Stimmung beinahe augenblicklich. Wenigstens gab es mit Ausnahme seiner Mutter und seines besten Freundes hier in Japan zumindest noch einen Menschen, der ihn gerne um sich hatte und Zeit mit ihm verbrachte. Dieses Wissen war Balsam für sein noch vom vorangegangenen Abend angeschlagenes Ego. "Hey, Mokuba!" Der Angesprochene strahlte den Anderen an. Wie üblich trug Ryuuji auch heute Schwarz und Mokuba beglückwünschte sich innerlich dazu, dass er sich ebenfalls dafür entschieden hatte, Kleidung in dieser Farbe anzuziehen. Gut, er besaß weder eine Lederhose noch eine Lederjacke, wie Ryuuji sie trug, aber das war sicher nicht so schlimm. "Hallo, Ryuuji!" Die offen bewundernden Blicke, mit denen der Junge ihn bedachte, waren weitere Streicheleinheiten für Ryuujis Ego und so grinste er Mokuba gut gelaunt an. "Na, was hast du denn heute mit mir vor, hm, Kleiner?", erkundigte er sich und legte ihm einen Arm um die Schultern, was diesen gleich noch fröhlicher werden ließ. Mokuba konnte gar nicht mehr aufhören zu strahlen. Normalerweise mochte er es gar nicht, als ›Kleiner‹ betitelt zu werden, aber bei Ryuuji war das schon in Ordnung. Immerhin meinte er das im Gegensatz zu den meisten anderen, die ihn so nannten, nicht abwertend, sondern nett. Aus dem Mund seines künftigen Stiefbruders klang dieses Wort beinahe wie ein Kosename – fast so, als wären sie wirklich Brüder. "Komm einfach mit, okay?", bat Mokuba und Ryuuji ergab sich mit einem Schmunzeln seinem Schicksal. "Okay. Dann lass ich mich einfach mal überraschen", murmelte er und zwinkerte dem Jungen zu, während er sich von Mokuba mitnehmen ließ. Die Tatsache, dass er seinen Arm noch immer um dessen Schultern geschlungen hatte, ließ den Jungen leicht erröten. Dennoch unternahm er nichts, um den Körperkontakt zu Ryuuji zu beenden. Dafür fühlte es sich einfach viel zu gut an, so in den Arm genommen zu werden. oOo Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit legte Seto an diesem Morgen den Weg zum Haus der Mutos nicht in der Limousine, sondern zu Fuß zurück. Ein Teil von ihm hoffte, so seinen Grübeleien entgehen zu können, aber zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass ihm das in keinster Weise gelang. Immer wieder kreisten seine Gedanken darum, dass Mokuba sich im Augenblick mit ihrem zukünftigen Stiefbruder traf und den ganzen Sonntag mit ihm verbringen würde. Und je länger er darüber nachdachte, desto weniger gefiel Seto diese Tatsache. Er war unsagbar froh, als vor ihm endlich das Haus auftauchte, in dem Yami mit seiner Familie wohnte. Nach einem letzten abgrundtiefen Seufzer – warum ließen sich Gedanken bloß nicht steuern oder abstellen? – legte Seto seinen Finger auf den Klingelknopf und sah sich nur wenig später der Mutter seines besten Freundes gegenüber, die ihn mit einem freundlichen Lächeln begrüßte. "Guten Morgen, Seto-kun. Yami ist oben in seinem Zimmer. Du weißt ja, wo das ist. Fühl dich ganz wie zu Hause", bot sie an und der Angesprochene gestattete sich ebenfalls ein schmales Lächeln, bevor er das Haus betrat und seine Schuhe im Flur auszog. "Vielen Dank, Muto-san. Und ich wünsche Ihnen auch einen guten Morgen." Nach diesen Worten stieg Seto die Treppe zum Zimmer seines besten Freundes hinauf und klopfte dort an die Tür. "Komm rein, Seto", erklang es von drinnen und im nächsten Moment wurde die Tür auch schon von einem übermütigen und ausgesprochen gut gelaunt wirkenden Yuugi aufgerissen. "Guten Morgen, Seto!", grüßte er und trat zur Seite, damit Seto den Raum betreten konnte. "Guten Morgen, Yuugi-kun. Guten Morgen, Yami", erwiderte Seto und der Jüngste in der Runde grinste erst ihn und dann seinen Bruder an. "Dann hau ich jetzt mal ab. Ich will euch ja schließlich nicht stören. Bis dann!" Und schon war der bunthaarige Junge aus dem Zimmer gesaust und polterte die Treppen hinunter ins Wohnzimmer, um dort etwas fernzusehen. "Mir scheint, heute sind alle kleinen Brüder, die ich kenne, ziemlich gut gelaunt", stellte Seto fest und Yami ließ sich grinsend auf sein Bett fallen. "Seit er wieder gesund ist, ist er eigentlich ständig so. Ich glaube, das sind Nachwirkungen von seinem Fieber", scherzte er und der Brünette gestattete sich ebenfalls ein kurzes Grinsen, wurde aber gleich darauf wieder Ernst. "Nun ja, wenigstens ist der Grund für die gute Laune deines Bruders nicht jemand wie Otogi Ryuuji", murmelte er und Yami hob eine Braue. "Was hat er denn jetzt schon wieder angestellt, Seto?", erkundigte er sich und der Angesprochene seufzte. "Mokuba ist heute mit ihm verabredet. Den ganzen Tag lang. Weiß der Himmel, was er an ihm findet. Seine Laune heute Morgen war jedenfalls geradezu verdächtig gut dafür, dass er so früh aufgestanden ist." Seto wusste noch immer nicht, warum es ihn so sehr wurmte, dass sein jüngerer Bruder sich mit ihrem künftigen Stiefbruder traf. Allerdings reichte schon der Gedanke daran, dass Mokuba ihm am Abend sicher wieder von dem Treffen und auch von Ryuuji selbst vorschwärmen würde, vollkommen aus, um seine Laune noch weiter zu verschlechtern – und das, obwohl sie nach dem vergangenen Abend und der letzten Nacht ohnehin bereits mehr als unterirdisch war. "Das kannst du ihm nicht verbieten, Seto. Ab dem nächsten Wochenende wird Otogi so oder so zu eurer Familie gehören. Es ist besser, wenn du dich schon einmal damit abfindest und dich an den Gedanken gewöhnst", riet Yami seinem besten Freund und zog seine Beine an, bis er im Schneidersitz auf seinem Bett saß. "Außerdem sind es doch nur sechs Monate, bis er wieder nach Amerika fliegt, oder?", wollte er dann wissen und bekam ein knappes Nicken zur Antwort. "Ja. Allerdings sind das für meinen Geschmack genau sechs Monate zu viel", murrte Seto und sein bester Freund runzelte nachdenklich die Stirn. Irgendwie konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Seto seit dem Vorabend gleich noch schlechter auf seinen zukünftigen Stiefbruder zu sprechen war – und das, obwohl der Schwarzhaarige zumindest seines Wissens nach nichts getan hatte, um seinen Groll zu verstärken. Da es allerdings keinen Sinn machen würde, schon wieder eine Diskussion über Otogi Ryuuji anzufangen, beschloss Yami, einfach das Thema zu wechseln. "Planen dein Vater und Otogi-san eigentlich eine Hochzeitsreise?" Yamis Frage lenkte Setos Aufmerksamkeit weg von Mokubas Treffen mit ihrem zukünftigen Stiefbruder und wieder zurück auf das Gespräch. Er nickte seinem besten Freund zu und warf einen Blick aus dem Fenster. "Ja, allerdings. Vater hat sich zwei Wochen freigenommen. Eine Woche wollen sie mit uns verbringen und in der zweiten Woche will er mit Yukiko-san verreisen", erklärte er und verzog das Gesicht. Die Aussicht, mit Otogi Ryuuji irgendwelche Familienausflüge machen zu müssen, behagte ihm gar nicht. Yami, dem der abweisende Gesichtsausdruck des Größeren nicht entging, seufzte unhörbar. Ganz offenbar war dieses Thema auch nicht besonders glücklich gewählt. "Sag mal, Seto, hast du die Hausaufgaben für Mathematik schon gemacht?", bemühte er sich um einen erneuten Themenwechsel und der Brünette nickte. "Am Freitag schon. Warum fragst du?", erkundigte er sich und schmunzelte leicht, als er das breite Grinsen seines besten Freundes sah. "Gut, wenn Du unbedingt willst, erkläre ich dir, wie Du die Aufgaben rechnen musst", gab er sich geschlagen und Yami sprang von seinem Bett, um sein Mathebuch und sein Heft zu suchen. "Worauf warten wir dann noch? Auf in den Kampf!" oOo "... und dann meinte Ryou zu mir, dass Yuugi ..." Ein Wassertropfen, der punktgenau auf seiner Nase landete, unterbrach Mokubas Redeschwall. Der Fünfzehnjährige warf einen Blick nach oben und verzog das Gesicht. "Och nö, jetzt fängt's auch noch an zu regnen!", maulte er und Ryuuji sah ebenfalls in den Himmel auf. "Sieht ganz so aus", stimmte er zu und dirigierte Mokuba unter einen der Bäume im Park, denn diese waren die einzige Möglichkeit in ihrer unmittelbaren Nähe, um sich unterzustellen. Die beiden Jungen hatten sich kaum einigermaßen in Sicherheit gebracht, als das Unwetter auch schon losbrach. Binnen Sekunden ging ein sintflutartiger Regen auf die Erde nieder und sämtliche Leute, die noch im Park unterwegs waren, packten eilig alles zusammen und hasteten dann auf dem schnellsten Wege nach Hause ins Trockene. "So ein verdammter Mist! Musste das ausgerechnet heute sein?", fluchte Mokuba und schlang seine Arme so nah wie möglich um seinen Körper, um nicht allzu nass zu werden. Dabei wog er seine Chancen ab. Selbst wenn er Isono sofort anrief und ihn hierher zum Park bestellte, würden Ryuuji und er es nicht bis zum Ausgang schaffen, ohne vollkommen durchnässt zu werden. Wenn sie hier stehen blieben, würden sie allerdings auch bald keinen trockenen Faden mehr am Leib haben. Wie er es auch drehte und wendete, sie würden so oder so nass werden. Während der Fünfzehnjährige noch mit dem Schicksal haderte und sich selbst dafür verfluchte, dass er sich am Morgen nicht noch den Wetterbericht angesehen hatte, war Ryuuji bereits dabei, seine Lederjacke auszuziehen und sie über seinen und Mokubas Kopf zu halten. "Hilft zwar nicht sonderlich viel, ist aber besser als nichts", wandte er sich an den Jungen und grinste diesen an. "Ich fürchte nur, wenn du nicht doch noch nass werden willst, musst du noch etwas näher zu mir kommen. Aber keine Angst, ich beiße nicht", witzelte er dann. Mokuba zögerte einen Moment, bevor er einen unsicheren Schritt auf Ryuuji zutrat und schlussendlich seine Arme um dessen Bauch schlang, weil das die einzige Möglichkeit war, in den Genuss des wenigen Schutzes zu kommen, den die Lederjacke nun einmal bot. Dabei klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Noch nie zuvor war er einem anderen Menschen so nah gewesen – mit Ausnahme seines Vaters und seines großen Bruders, aber die zählten nicht. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, kuschelte Mokuba sich ganz fest an den warmen Körper seines zukünftigen Stiefbruders, schloss die Augen und vergrub sein inzwischen regelrecht glühendes Gesicht an dessen Brust. War es normal, dass es sich so gut anfühlte, einem anderen Menschen so nah zu sein? War es normal, Herzklopfen zu haben, wenn man einen anderen Jungen umarmte? Zu gerne hätte Mokuba genau diese Fragen auch gestellt, aber da er fürchtete, sich mit damit lächerlich zu machen, schwieg er stattdessen und schmiegte sich noch etwas näher an Ryuuji. Wie lange war es her, seit er sich das letzte Mal so geborgen gefühlt hatte? Und warum musste er sich bitteschön ausgerechnet in diesem Moment daran erinnern, dass der Ältere ihn ein paar Tage zuvor als ›süß‹ bezeichnet hatte? Ryuuji, der nicht einmal ahnte, worum sich Mokubas Gedanken gerade drehten, spähte aus dem spärlichen Schutz seiner Lederjacke in den Platzregen hinaus und seufzte. So hatte er sich den Tag mit dem Kleinen eigentlich nicht vorgestellt. Aber da an dem Wetter nun mal nichts mehr zu ändern war, zuckte er innerlich nur mit den Schultern. Ab dem nächsten Wochenende würden sie sich sowieso täglich sehen, also war ein verpatzter Sonntag wohl nicht ganz so schlimm. Sie konnten das ja immer noch nachholen. Außerdem hatte der Junge bereits zu zittern begonnen, also sollten sie wohl besser nicht mehr allzu lange hier draußen im doch recht kühlen Regen stehen bleiben. "Was meinst du, wollen wir gehen?" Die leise Frage ließ Mokuba doch wieder aufsehen. Inzwischen hatte sich auf seinen Armen eine Gänsehaut gebildet und er musste mit aller Macht ein Zähneklappern unterdrücken, aber so früh hatte er den Tag mit seinem zukünftigen Stiefbruder eigentlich nicht enden lassen wollen. "Wi-Wir kö-können doch abwarten, bi-bis es au-aufhört z-zu regnen", widersprach er deshalb und verfluchte sich selbst dafür, dass er das Zittern nicht aus seiner Stimme hatte vertreiben können. Verdammt, Ryuuji hielt ihn doch jetzt sicher für ein Weichei! Wie unglaublich peinlich, nur wegen einem kleinen bisschen Regen und einem kleinen Temperatursturz gleich so einen Aufstand zu machen! "Besser nicht. Ich will nicht, dass du krank wirst.", gab Ryuuji zurück und lächelte Mokuba aufmunternd zu. "Hey, ich lauf dir doch nicht weg. Wir holen den heutigen Tag einfach ein anderes Mal nach, okay, Mokuba?", bot er an und der Angesprochene zog ein enttäuschtes Gesicht, nickte aber schließlich ergeben. Immerhin hatte Ryuuji ja Recht. Bald würden sie sich ohnehin jeden Tag sehen und konnten so viel zusammen unternehmen, wie sie wollten. Außerdem hatte Ryuujis Stimme besorgt geklungen, als er gemeint hatte, er solle nicht krank werden. Machte er sich etwa wirklich Sorgen? Seinetwegen? Mokuba hatte den Eindruck, dass dieses Herzrasen, das ihn im Augenblick befiel, gar nicht gut war. Gesund fühlte es sich jedenfalls nicht an. Und warum in aller Welt glühte sein Gesicht schon wieder? Normal war das jedenfalls ganz bestimmt nicht, da war er sich absolut sicher. Ryuuji, der selbst im Gegensatz zu Mokuba am Morgen einen Pullover angezogen hatte – eigentlich hatte er sich nach den ersten paar Schritten vor dem Haus dafür verflucht, aber inzwischen war er mehr als froh darüber –, hängte dem zitternden Jungen seine Lederjacke um die Schultern und sah ihn dann mit schiefgelegtem Kopf an. "Komm, ich bring dich nach Hause, okay?", bot er an und grinste leicht. "Dann kannst du mir gleich mal zeigen, wo du überhaupt wohnst. Sollte ich mir ja schließlich auch mal so langsam merken", fügte er hinzu und Mokuba starrte ihn aus großen Augen an. "Aber ... aber das kann ich doch nicht annehmen." Mit diesen Worten wollte er Ryuuji die Jacke wieder zurückgeben, doch dessen Hände auf seinen Schultern hinderten ihn daran. "Behalt sie an. Du frierst doch, oder? Mir ist nicht kalt", log er, obwohl auch er aufgrund der Nässe inzwischen leicht zu frieren begonnen hatte. Dennoch hatte er sich recht gut im Griff und so bemerkte Mokuba nichts davon. "Ich kann doch nicht ...", setzte dieser an, ließ aber widerstandslos zu, dass Ryuuji seine Arme in die Jackenärmel schob und ihn dann in Richtung Parkausgang zog. Vor lauter Verwirrung darüber, dass er sich in der Jacke, der noch immer etwas von der Wärme des Älteren und von seinem Duft anhaftete, so wohl fühlte, vergaß er vollkommen, dass er eigentlich Isono wegen des Wagens hatte anrufen wollen. Daran erinnerte er sich erst wieder, als das schmiedeeiserne Tor der Villa bereits in Sichtweite war und eben die Limousine, mit der sie zumindest etwas trockener hierher gekommen wären, die Straße entlang kam. oOo Seto hatte fast den halben Tag bei den Mutos verbracht. Am Anfang hatte er Yami geduldig die Mathematikhausaufgaben erklärt – sein bester Freund war zwar ganz und gar nicht dumm, aber dieses Fach war einfach nicht seine starke Seite –, dann hatte er sich von diesem nach unten ins Wohnzimmer schleifen und sich überreden lassen, gemeinsam mit ihm und Yuugi einen Film anzusehen. Erstaunlicherweise – wenn er seine Laune vom Morgen bedachte – hatten die beiden Bunthaarigen es tatsächlich geschafft, dafür zu sorgen, dass er zumindest zeitweise vergaß, mit wem sein kleiner Bruder unterwegs war. Genau daran wurde Seto allerdings auf ziemlich unangenehme Art erinnert, als er mit der Limousine beinahe die Villa erreicht hatte. Als er am frühen Nachmittag das Unwetter bemerkt hatte, hatte er Isono angerufen und sich abholen lassen, um zu Hause zu sein, falls Mokuba den Wagen ebenfalls brauchen sollte. Ganz offenbar hatte dieser aber nichts Besseres zu tun gehabt, als gemeinsam mit ihrem zukünftigen Stiefbruder durch den Wolkenbruch bis nach Hause zu laufen. Warum sonst standen die beiden zusammen vor dem Tor zur Villa und unterhielten sich? Inzwischen wieder ausgesprochen schlecht gelaunt gab Seto Isono ein Zeichen, die Limousine anzuhalten. Dieses Mal wartete er nicht, bis der Chauffeur ihm die Tür öffnete, sondern übernahm das selbst, stieg aus und trat auf die zwei Jüngeren zu. Mit vor der Brust verschränkten Armen baute er sich vor den beiden auf. "Warum bist du so durchnässt? Was hat das zu bedeuten, otouto?", fragte er streng, sah den Jungen dabei aber nicht an. Sein feindseliger Blick ruhte einzig und allein auf seinem Klassenkameraden. "Wir sind in das Unwetter geraten, Seto. Ryuuji hat mich nach Hause gebracht." Mokuba, der nicht wirklich verstand, warum sein Bruder so einen wütenden Eindruck machte, schüttelte den Kopf und seufzte. "Ich wollte Isono eigentlich anrufen, damit er uns beide abholt, aber ich habe es vollkommen vergessen." Dass daran einzig und allein die schwarze Lederjacke ihres zukünftigen Stiefbruders, die er immer noch trug, Schuld war, verschwieg der Fünfzehnjährige lieber. Das würde er ganz sicher nicht laut aussprechen – schon gar nicht, so lange der Besitzer ebendieser Jacke direkt neben ihm stand. Ryuuji schluckte unmerklich, als er sich im Fokus von Setos azurblauen Augen wiederfand. Am liebsten hätte er sich auf dem Absatz umgedreht und wäre kommentarlos weggerannt, aber das verbot er sich selbst. Auf keinen Fall wollte er Seto sehen lassen, wie weh dessen Hass ihm gerade nach dem Tanz und dem Kuss am Vorabend – von dem der Brünette glücklicherweise nicht wusste, dass er das ›Opfer‹ gewesen war – tat. Stattdessen hakte er die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner schwarzen Lederhose und grinste den Größeren so fröhlich wie möglich an. "Ist doch nichts passiert. Jedenfalls nichts, was eine heiße Dusche und ein paar trockene Klamotten nicht wieder in Ordnung bringen würden. Kein Grund also, sich so aufzuregen, Seto", wandte er sich an Seto und schüttelte dann den Kopf. "Ist ja nicht jeder so aus Zucker wie du. Hast du Angst, du könntest einlaufen, wenn du nass wirst? Falls ja, lass dir gesagt sein, dass das bei Menschen nicht funktioniert", fügte er dann belustigt hinzu und sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter, als Mokuba neben ihm zu kichern begann. Seto hingegen versteifte sich, als er das Kichern seines kleinen Bruders hörte. Die beiden machten sich also gemeinsam lustig über ihn, ja? Sofort verengten sich die blauen Augen des Brünetten zu schmalen Schlitzen und fixierten den vorlauten Unruhestifter, der sich allerdings auch davon offensichtlich in keinster Weise einschüchtern ließ. Verdammt, woher in aller Welt nahm er nur diese Gelassenheit? Das war doch schon nicht mehr normal! Ryuuji, der inzwischen der Meinung war, dass es jetzt keinen Verdacht mehr erregen würde, wenn er die beiden Kaibas alleine ließ, drehte sich zu Mokuba um, ohne Seto weiter zu beachten. "Ich werd dann jetzt auch mal langsam nach Hause gehen. Wir holen das, was wir heute verpasst haben, ein anderes Mal nach, okay?", wandte er sich an den Jungen und dieser nickte, bevor er all seinen Mut zusammen nahm, auf seinen baldigen Stiefbruder zutrat und ihn dieses Mal von sich aus umarmte. "Okay. Ich freu mich jetzt schon darauf", murmelte er leise in den nassen Pullover. Dieser war einen Moment lang überrascht von der Aktion des Kleinen, doch dann drückte er ihn seinerseits auch noch einmal kurz. Mokubas Herzlichkeit machte die eiskalten Blicke Setos beinahe wieder wett. Allerdings, musste Ryuuji sich eingestehen, wirklich nur beinahe. Setos Hass tat nach wie vor weh. Aber das würde er sich auf keinen Fall anmerken lassen. Seto kochte innerlich, als er diese Szene sah. Ihm gegenüber verhielt sein kleiner Bruder sich tagelang, als wären sie Fremde, aber diesen schwarzhaarigen Störenfried umarmte er sogar aus eigenem Antrieb heraus. Was sollte das denn bitteschön? Was hatte das zu bedeuten? Und warum in aller Welt störte es ihn so sehr? Es konnte ihm doch vollkommen egal sein, wenn die beiden sich umarmten. Immerhin mochte er selbst es ja nicht einmal, umarmt zu werden. "Ich mich auch. Bis dann, Mokuba. Und wir sehen uns morgen in der Schule, Seto." Mit diesen Worten löste Ryuuji sich aus der Umarmung und winkte den beiden Brüdern noch einmal zu, bevor er durch den noch immer fallenden Regen verschwand. Seto sah ihm einen Moment lang nach, wandte sich dann aber hastig ab und ging in Richtung der Villa davon, ohne weiter auf die noch immer wartende Limousine zu achten. Dabei schüttelte er innerlich den Kopf über sich selbst. Warum hatte er gerade erwartet, dass Ryuuji ihn ebenfalls umarmen würde? Er hatte doch deutlich gemacht, dass er das nicht wollte. Aber woher kam dann diese unbestimmte Enttäuschung, die er fühlte? Mokuba sah seinem zukünftigen Stiefbruder noch etwas länger hinterher. Erst als er um die nächste Ecke verschwunden war, drehte er sich um und rannte seinem Bruder hinterher, der bereits die Auffahrt zur Villa entlangging. Als er Seto eingeholt hatte, lief er schweigend neben diesem her. Erst jetzt, wo Ryuuji weg war, fiel dem Fünfzehnjährigen auf, dass er noch immer dessen Lederjacke trug. "Ryuuji hat seine Jacke vergessen", murmelte er leise, doch Seto reagierte nicht darauf. Er hing seinen eigenen Gedanken nach und ihm stand nicht der Sinn danach, jetzt mit seinem jüngeren Bruder zu reden – nicht nach dem, was ihm gerade durch den Kopf ging. Erst die ganze letzte Woche, dann die Sache von gestern Abend und jetzt das. Was soll das alles?, fragte er sich selbst, aber er fand keine Antwort auf diese Frage. oOo Ryuuji war froh, als er zu Hause ankam. Inzwischen war er dadurch, dass es die ganze Zeit, die er für den Heimweg gebraucht hatte, wie aus Eimern geschüttet hatte, von oben bis unten vollkommen durchnässt, so dass er sich als erstes eine heiße Dusche genehmigte. Nachdem er sich abgetrocknet und umgezogen hatte, schnappte er sich das Telefon und verzog sich damit in sein Zimmer, um sein am Vorabend gegebenes Versprechen einzulösen und seinen besten Freund anzurufen. "Jounouchi", meldete dieser sich auch nach kurzem Klingeln und der Schwarzhaarige schmunzelte. Irgendwie klang Katsuya ziemlich müde – ganz so, als hätte er in der letzten Nacht nicht besonders viel Zeit zum Schlafen gefunden. Aber wenn er sich an die Blicke erinnerte, mit denen Bakura den Blondschopf beinahe verschlungen hatte, als sie sich voneinander verabschiedet hatten, war das wohl nur zu verständlich. "Kats, ich bin's." Der Angesprochene, der noch immer das lederne Halsband trug, das am Vorabend Teil seines Kostüms gewesen war – in der vergangenen Nacht hatte Bakura ihm nicht gestattet, es abzulegen, denn ihm waren einige nette Ideen gekommen, was man damit und mit der Leine so alles machen konnte –, rollte sich bequem auf den Bauch und legte fragend den Kopf schief, obwohl sein Freund das nicht sehen konnte. "Du bist schon zurück? Ganz schön früh, oder?", fragte er. "Hattet ihr Stress oder was war los?" Ryuuji konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als er diese Frage hörte. "Du hast heute noch nicht aus dem Fenster gesehen, oder, Kats?", erkundigte er sich belustigt und lachte leise, als er das "Nö, wieso?" des Blonden hörte. "Es gießt ohne Ende, Kats. Wir wären im Park fast ertrunken, also hab ich den Kleinen nach Hause gebracht." Wobei ihm dann doch mal aufging, dass Mokuba noch immer seine Lederjacke hatte. Na, macht ja nichts. Kann er mir ja beim nächsten Treffen wiedergeben. Oder er behält sie, bis Mum und ich bei den Dreien einziehen, sinnierte er und erst die Stimme seines besten Freundes riss ihn aus seinen Gedanken. "Ups. Hab ich echt nicht gemerkt. Na ja, Kura hat mich auch ziemlich beansprucht. Dein Anruf hat mich geweckt. Ich hab bis gerade noch gepennt", murmelte Katsuya gähnend und der Jüngere meinte, dessen verlegenes Grinsen beinahe durch das Telefon sehen zu können. "Ist doch nicht schlimm. Im Gegenteil. Freut mich für dich", erwiderte der Schwarzhaarige, rollte sich auf den Bauch und stützte sich auf seine Unterarme. "So, wie er dich angesehen hat, dachte ich schon, dass ihr ne ziemlich wilde Nacht haben würdet", fügte er hinzu und der Blondschopf am anderen Ende der Leitung verzog gequält das Gesicht. "Wild trifft's ziemlich gut. Kura hat mich die ganze Nacht nicht schlafen lassen", beschwerte er sich und das Lachen seines besten Freundes wurde noch etwas lauter. "Jetzt tu mal nicht so, als hätte dir das nicht gefallen, Kats. Ich gehe jede Wette ein, dass du daran bei Weitem nicht so unschuldig warst, wie du mir gerade weismachen willst", kicherte er und der Blondschopf seufzte abgrundtief. "Ja, schon. Und es hat mir ja auch gefallen, als er mich mit der Leine ans Bett gefesselt hat ... Das hab ich jetzt nicht wirklich laut gesagt, oder?", unterbrach er sich selbst entsetzt und Ryuuji musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht gleich wieder laut zu lachen. "Ich fürchte doch, Kats. Aber so gerne ich auch Details hören würde, ich muss jetzt Schluss machen. Ich sollte so langsam mal anfangen, meine Sachen zu packen. Schließlich ziehen Mum und ich am Wochenende ja um." "Stimmt ja. Hätte ich fast vergessen. Dann darfst Du den Eisklotz jeden Tag sehen." Der Blondschopf zog eine mitleidige Grimasse, die sein bester Freund zwar nicht sehen, aber zumindest erahnen konnte. "Aber wenigstens wirst du dann auch jeden Morgen mit der Limousine zur Schule gefahren. Das ist wenigstens ne kleine Entschädigung dafür, finde ich", fügte er hinzu und der Schwarzhaarige seufzte. Katsuya wollte sich gerade verabschieden und auflegen, als ihm noch etwas einfiel. "Sag mal, nimmst du eigentlich Kaibas Nachnamen an?", erkundigte er sich und Ryuuji schüttelte den Kopf, obwohl sein Gesprächspartner das nicht sehen konnte. "Nein. Mum hat zwar gefragt, aber ich hab abgelehnt. Ich hab schon zwei Namen, da brauch ich nicht noch nen dritten." Sonst weiß ich nachher bald gar nicht mehr, wer ich eigentlich wirklich bin. Diesen Gedanken sprach er allerdings nicht laut aus. Das war etwas, was auch sein bester Freund nicht verstehen konnte. "Na, wie auch immer. Ich werd mich dann mal ans Einpacken machen. Bis morgen in der Schule, Kats", murmelte er stattdessen, wartete noch die Verabschiedung seines blonden Freundes ab und legte dann auf. Einen Moment lang blieb er noch seufzend auf seinem Bett liegen, dann rappelte er sich auf und begann, seine Sachen langsam in die Kartons zu packen, die seine Mutter im Laufe der Zeit, während er mit Mokuba unterwegs gewesen war, dafür bereitgestellt hatte. Diese Tätigkeit war zwar eintönig, aber dadurch, dass sie ihn für den Rest des Tages beschäftigt hielt, verhinderte sie zumindest, dass er ständig über Seto und den Kuss nachdachte. Kapitel 11: Die Hochzeit ------------------------ Die folgende Woche verging für Setos Geschmack einerseits zu schnell und andererseits viel zu langsam. In der Schule war er sich durchaus dessen bewusst, dass hinter seinem Rücken alle seine Klassenkameraden über das tuschelten, was am Samstagabend auf Himura Midoris Geburtstagsparty geschehen war. Innerlich grummelnd biss er die Zähne zusammen und versuchte, das Gerede zu ignorieren, doch das war gar nicht so einfach. Die ganze Sache war ihm einfach unsagbar peinlich, aber er hatte keine andere Wahl als es durchzustehen. Glücklicherweise unterstützte sein bester Freund Yami ihn nach Kräften, indem er ihn immer dann ablenkte, wenn der Brünette kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. Immer war Yami da und sorgte dafür, dass er sich nicht zu irgendetwas hinreißen ließ, was er sicher später bereuen würde – eine weitere Tatsache, für die er ihm etwas schuldig war. Zu Setos Überraschung mischte sich sein zukünftiger Stiefbruder allerdings nicht in das Getuschel und Gelästere ein. Er schien das Ganze im Gegenteil nicht einmal interessant genug zu finden, um überhaupt etwas dazu zu sagen – was dafür sorgte, dass Seto ihn seinerseits noch misstrauischer beäugte. Nach allem, was er über den Schwarzhaarigen gesagt hatte, wäre das für ihn doch die Gelegenheit gewesen, sich zu rächen. Doch das tat Ryuuji nicht. Er verlor nicht ein Wort über das, was geschehen war. Aber das war nicht alles. Nein, außerdem sorgte er auch noch dafür, dass Jounouchi, der blonde Streuner, seine blöden Sprüche auf ein absolutes Minimum herunterschraubte – etwas, das Seto über alle Maßen erstaunte. Warum tat der Schwarzhaarige das? Warum machte er sich nicht lustig über ihn? Der verwirrendste Tag in der Woche Setos war der Mittwoch, denn nach dem Sportunterricht hatte er zufällig ein Gespräch zwischen seinem zukünftigen Stiefbruder und dessen blondem Freund belauscht, das er auch Tage später – genauer gesagt an dem Samstag, an dem die zweite Hochzeit seines Vaters stattfinden sollte – noch immer nicht richtig verstand. Die beiden hatten noch gemeinsam unter der Dusche gestanden, während er selbst bereits beinahe angezogen gewesen war. Yami hatte an diesem Tag seinen Bruder von der Schule abholen müssen und war bereits gegangen, so dass Seto alleine in der Umkleide gewesen war. Nun, das hatte er jedenfalls gedacht, bis er zwei Stimmen aus der Dusche gehört hatte. Eigentlich hatte ihn nicht wirklich interessiert, wer so spät noch da war, aber als er die Stimmen erkannt hatte und als sein Name gefallen war, war er doch neugierig geworden. Worüber mochten Otogi und Jounouchi miteinander sprechen? Lästerten sie etwa doch? "Weißt du, Ryuuji, ich wüsste echt gerne, wer das Mädel war, das Kaiba am Samstagabend auf der Party eine geklebt hat. Wenn ich sie kennen würde, würde ich sie mal hierher zur Schule bitten, damit sie das noch mal wiederholen kann." Jounouchi hatte gehässig gelacht – ganz offensichtlich hatte ihm die Vorstellung ziemlich gut gefallen –, doch sein schwarzhaariger Freund hatte nur geseufzt. "Mensch, Kats, jetzt lass es doch endlich gut sein. Ich glaub nicht, dass sie Seto noch mal wiedersehen will – und er sie sicher auch nicht", hatte er gemurmelt und Seto war so leise wie möglich nähergeschlichen, denn er hatte den Rest der Unterhaltung auf keinen Fall verpassen wollen. Hatte er sich geirrt oder hatte sein zukünftiger Stiefbruder sich gerade tatsächlich für ihn eingesetzt? Hatte Ryuuji möglicherweise geahnt, wie unangenehm ihm diese ganze Sache war? "Genau darum geht's ja. Echt, du hättest Kaibas Gesicht sehen müssen, als sie ausgeholt und ihm eine gepfeffert hat. Jede Wette, so was ist ihm in seinem ganzen Leben noch nie passiert. Und ich wette weiter, dass der Schlag ganz schön gesessen hat. Die Kleine hatte ganz schön Wumms dahinter, das sag ich dir!", hatte der Blondschopf weitergestichelt und der Schwarzhaarige hatte ein weiteres Mal entnervt geseufzt. "Wie würdest du dich fühlen, wenn dir so was passiert wäre, Kats? Meinst du, du wärst scharf darauf, das Mädchen wiederzusehen, das dich vor deinen Freunden und allen anderen, die du kennst, so blamiert hat?", hatte er sich dann erkundigt und Seto hatte aus seinem Versteck heraus – die beiden hatten ihn immer noch nicht bemerkt – sehen können, wie Jounouchi zusammengezuckt war. "Okay, so betrachtet ist das natürlich scheiße. Trotzdem hatte Kaiba es echt verdient. Schließlich hat er sie einfach so geküsst – vor allen anderen Gästen", hatte er gemeint und der Schwarzhaarige hatte mit den Schultern gezuckt. "Kann sein", hatte er erwidert und sein Gesicht hatte für einen Sekundenbruchteil einen beinahe verletzten Ausdruck gehabt, doch dann hatte er geradezu unwillig den Kopf geschüttelt, so als hätte er trübe Gedanken vertreiben wollen. "Du warst eben nicht dabei, Ryuuji", hatte der Blonde gesagt und wieder gegrinst, doch das Gesicht des Angesprochenen war ernst geblieben. Ganz offenbar hatte er die Heiterkeit seines besten Freundes nicht geteilt. "Bin ich auch froh drüber. Das hätte ich nicht unbedingt sehen wollen", hatte er gemurmelt und Seto hatte Mühe gehabt, keinen Laut der Überraschung von sich zu geben. Hegte der Schwarzhaarige wirklich so gar keinen Groll gegen ihn? Hätte es ihm tatsächlich nicht gefallen, Zeuge seiner Demütigung zu werden? Warum nicht? Bevor die beiden mit dem Duschen fertig geworden waren, hatte Seto sich still und heimlich wieder in die Umkleide zurückgezogen. Dort war er eilig in die Jacke seiner Schuluniform geschlüpft, hatte seine Tasche genommen und den Raum auf dem schnellsten Weg verlassen – gerade noch rechtzeitig, denn kaum eine halbe Minute später waren der Blonde und der Schwarzhaarige aus der Gemeinschaftsdusche gekommen, um sich ebenfalls anzuziehen und nach Hause zu gehen. Den ganzen Rest der Woche hatte Seto über das nachgegrübelt, was sein zukünftiger Stiefbruder gesagt hatte, aber er hatte es einfach nicht begreifen können. Warum hatte der Schwarzhaarige ihn praktisch verteidigt? Warum hatte er nicht gemeinsam mit seinem besten Freund über ihn gelacht? Und warum hatte er für einen winzigen Moment tatsächlich so ausgesehen, als wäre ihm das ganze Thema mehr als nur unangenehm? Erst Mokubas Stimme aus dem Zimmer gegenüber, die nach ihm rief, riss Seto aus seinen Grübeleien. Abgrundtief seufzend stand er aus seinem Schreibtischstuhl auf, strich den dunkelblauen Kimono, den er zur Feier des heutigen Tages trug, glatt und ging dann zu seinem kleinen Bruder hinüber, um nachzusehen, was dieser von ihm wollte. "Was ist denn los, otouto?", erkundigte er sich, als er das Zimmer des Jüngeren betreten hatte. Der Fünfzehnjährige, der auf seinem Bett hockte, sah auf und zog eine verzweifelte Grimasse. "Kannst du mir mit dem Kimono helfen, Nii-san? Ich krieg das alleine irgendwie nicht hin", bat er und Seto seufzte erneut, zupfte dann aber den ebenfalls dunkelblauen Kimono seines jüngeren Bruders zurecht, bis er richtig saß. "So, fertig, Mokuba." Der Schwarzhaarige warf einen Blick in den Spiegel neben seinem Kleiderschrank, drehte sich und betrachtete sich von allen Seiten, bevor er seinen Bruder anstrahlte. "Danke, Seto!", sagte er und sah mit leuchtenden Augen zu seinem großen Bruder auf. "Heute ist es endlich so weit!", freute er sich und Seto schüttelte seufzend den Kopf. "Bitte benimm Dich, otouto", tadelte er ungewohnt sanft. Nach seinen Grübeleien der letzten Tage hatte er jetzt weder das Verlangen noch die Kraft für einen Streit mit Mokuba. Er war auch so schon angespannt genug, denn nach den Feierlichkeiten des heutigen Tages würden Yukiko-san und ihr Sohn endgültig und unwiderruflich zu ihrer Familie gehören. Sicher, Ryuuji würde zwar den Namen Kaiba nicht annehmen – aus welchem Grund auch immer –, aber er würde trotzdem hier wohnen und sie würden Brüder sein. Der Großteil der Sachen der beiden war bereits am Vortag in der Villa angekommen, bisher aber noch nicht ausgepackt worden. Ryuuji, der im Zimmer neben dem seinen untergebracht worden war – auf Wunsch seines Vaters und ganz offenbar in der Hoffnung, dass sie sich dann schneller aneinander gewöhnen würden –, war zwar selbst noch nicht hier gewesen, aber das würde sich ja nun binnen Kurzem ändern. Mokuba, der viel zu aufgeregt war, um sich über das doch recht seltsame Verhalten seines älteren Bruders zu wundern, warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch und stand dann auf. "Lass uns mal nach Vater sehen, ja? Lange kann es ja nicht mehr dauern, bis Yukiko-san und Ryuuji herkommen", schlug er vor und ging voraus, als sein Bruder einfach nur stumm nickte. Unten im Wohnzimmer trafen die beiden Jungen auf ihren Vater, der einen traditionellen Kimono in den Farben Grau und Schwarz trug, wie es bei shintoistischen Zeremonien üblich war. "Du siehst toll aus, Vater!", platzte Mokuba heraus und musterte seinen Vater bewundernd. Je näher die Zeit für die Zeremonie rückte, desto gespannter wurde er. Was würde Yukiko – seine neue Mutter – wohl tragen? Seto hingegen nickte seinem Vater nur knapp zu und setzte sich dann auf die Wohnzimmercouch. Gozaburo sah seine beiden Söhne abwechselnd an. Wie üblich benahmen sie sich heute auch wieder vollkommen gegensätzlich. Während Mokuba fröhlich wie eh und je war und Isono, der der Trauzeuge seines Arbeitgebers sein würde, mit Fragen über Fragen löcherte, gab sein älterer Bruder sich so kühl und distanziert wie immer, aber wenn man ihn kannte, war es nicht zu übersehen, wie angespannt er war. oOo "Mie-san, helfen Sie mir und meiner Tochter bitte kurz mit ihrem Kimono." Die Stimme seiner Großmutter aus dem inzwischen leergeräumten Schlafzimmer seiner Mutter ließ Ryuuji unhörbar seufzen. Heute war es also so weit. Ab heute würden seine Mutter und er ganz offiziell ein Teil der Familie Kaiba werden – eine Tatsache, die seine Großeltern über alle Maßen begrüßten. Klar. Ein Kaiba Gozaburo ist ja auch ein viel standesgemäßerer Ehemann als ein James Devlin, sinnierte er und schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu verscheuchen. Er würde seiner Mutter ganz sicher nicht diesen Tag mit seiner schlechten Laune verderben. Egal, wie schwer es ihm auch fallen würde, er würde ruhig bleiben und sich nicht über seine Großeltern aufregen – selbst wenn sie weiterhin den ganzen Tag an ihm herumkritisierten, wie sein Großvater es schon seit seiner Ankunft in der Wohnung seiner Tochter tat. "Konntest du dir nicht wenigstens für diesen Tag eine vernünftige Frisur machen lassen?" Die Frage seines Großvaters ließ Ryuuji im Flechten seiner Haare innehalten. "Und was genau verstehst du unter einer vernünftigen Frisur, Großvater?", erkundigte er sich ausgesucht höflich und mit einem derart falschen Lächeln, dass er sich wunderte, dass sein Großvater so gar nichts davon merkte. Aber gut, in Bezug auf die Stimmungen seines Enkels war er schon immer mit Blindheit geschlagen gewesen. "Nun, du hättest dir deine langen Haare endlich einmal abschneiden lassen können. So sieht doch kein richtiger Junge aus." Otogi Mamoru verzog missbilligend das Gesicht, während er seinen Enkel musterte. Dass dieser sich einfach nicht von diesen viel zu langen Haaren trennen wollte! Wie sah das denn aus? Ein Junge von fast achtzehn Jahren, der mit einer Frisur wie ein Mädchen herumlief. Kein Wunder, dass er noch immer keine Freundin hatte! Welches Mädchen wollte denn auch mit einem Jungen zusammensein, der von hinten mit einer Frau verwechselt werden konnte? Ich erwürge ihn. Irgendwann erwürge ich ihn dafür!, dachte Ryuuji zähneknirschend, während er sich daran machte, seinen Zopf endlich zu Ende zu flechten. Ein einfacher Pferdeschwanz war für den heutigen Anlass einfach unpassend und offen lassen konnte er seine Haare auch nicht. Am liebsten hätte er seinem Großvater jetzt an den Kopf geworfen, dass er sowieso kein ›richtiger‹ Junge war, aber der Gedanke daran, dass ein Familienstreit seiner Mutter ihren Hochzeitstag verderben würde, ließ ihn innehalten. "Ich werde meine Haare nicht abschneiden, Großvater", antwortete er stattdessen mühsam beherrscht und mit einiger Verspätung auf den Vorschlag und Mamorus Gesichtsausdruck wurde noch eine Spur missbilligender. Der Junge war einfach vollkommen verkorkst. Aber was war schon von einem Kind zu erwarten, dessen leiblicher Vater ein Gaijin war? Die Tatsache, dass seine Yukiko – sein Augenstern – sich vor beinahe neunzehn Jahren ausgerechnet in diesen windigen Amerikaner hatte verlieben und ihn auch noch hatte heiraten müssen, weil sie von ihm schwanger geworden war, hatte er bis heute nicht verwinden können. Dazu hatte er seine Tochter – sein einziges Kind – ganz sicher nicht erzogen. Zum Glück ist sie inzwischen vernünftig geworden, dachte Mamoru und ein zufriedenes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Noch war seine Tochter nicht zu alt, um noch ein zweites Mal Mutter zu werden. Und wer wusste schon, ob sie nicht vielleicht neben Ryuuji und den beiden Stiefsöhnen, die durch ihre Heirat Teil ihrer Familie werden würden, noch einen weiteren eigenen Sohn bekommen würde – einen, der nicht so eine Enttäuschung war wie Ryuuji. Ryuuji, der seinem Großvater seine Gedanken förmlich am Gesicht ablesen konnte, verkniff sich mit größter Willensanstrengung ein bitteres Seufzen. Für die Familie seiner Mutter war er noch nie gut genug gewesen. Das hatten sie ihn schon als Kind spüren lassen. Damals waren ihre Worte zwar noch nicht so deutlich gewesen wie in den letzten Jahren, aber sie hatten sich auch nie wirklich die Mühe gemacht, ihre Verachtung dafür, was er durch seinen Vater war, vor ihm zu verbergen. Warum auch? Er war ja schließlich nur ein halber Gaijin und deshalb nicht weiter wichtig. Das Auftauchen seiner Mutter und seiner Großmutter Otogi Reiko mit deren Hausmädchen Hanada Mie, die heute mitgekommen war, um beim Ankleiden behilflich zu sein, riss den Schwarzhaarigen aus seinen trüben Gedanken und zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. In dem weißen, mit Pfingstrosen – diese Blumen galten ebenso wie Kraniche in Japan als Glückssymbole und wurden traditionell besonders auf Hochzeitskimonos gestickt – verzierten Hochzeitskimono sah seine Mutter einfach nur zauberhaft aus. Seiner Meinung nach war sie einfach die schönste Frau der Welt. "Amazing!", entfuhr es Ryuuji und Yukiko errötete über das Kompliment ihres Sohnes, während sowohl Mamoru als auch Reiko ihrem Enkel tadelnde Blicke zuwarfen, weil er kein Japanisch, sondern Englisch gesprochen hatte. Daran störte der Junge sich jedoch nicht. "Mum, du siehst einfach fantastisch aus! Gozaburo-san wird ganz sicher begeistert sein, wenn er dich so zu Gesicht bekommt", fuhr er stattdessen fort und seine Mutter lächelte leicht. "Danke, Ryuuji", murmelte sie leise, doch ihr Sohn winkte ab. "Ach was. Ist doch bloß die Wahrheit." Lange her, dass du so glücklich ausgesehen hast, Mum, fügte er in Gedanken hinzu, sprach das aber nicht laut aus. Diese Dinge gingen seine Großeltern absolut nichts an – ganz davon abgesehen, dass sie sich auch nicht dafür interessierten. Für sie zählte ausschließlich, was für eine gute Partie Kaiba Gozaburo doch war. Ob ihre Tochter mit ihm glücklich werden würde war ihnen ebenso egal wie die Tatsache, dass sie zumindest ein paar Jahre lang auch mit ihrem amerikanischen Exmann glücklich gewesen war. "Wir sollten dann auch langsam los", drängte Mamoru und stand von dem Küchenstuhl, auf dem er gesessen hatte, auf. "Was ist mit Deiner Trauzeugin? Sie sollte längst hier sein", tadelte er dann und Yukikos Blick wanderte von ihrem Vater zu ihrem Sohn. "Ich habe keine Trauzeugin, Vater, sondern einen Trauzeugen." Auch, wenn das nicht den traditionellen Bräuchen entsprach, so hatte sie sich doch dafür entschieden, Ryuuji zu bitten, ihr diesen Dienst zu erweisen. Dass der Junge zugestimmt hatte, hatte sie sehr glücklich gemacht, denn es war für sie der letzte Beweis gewesen, dass er absolut nichts gegen ihre Heirat mit Gozaburo einzuwenden hatte. Mamoru, dem der Blickwechsel zwischen seiner Tochter und seinem Enkel nicht entgangen war, schüttelte missbilligend den Kopf. "Du weißt, dass das nicht den Traditionen entspricht", sagte er streng. "Mie-san könnte diesen Dienst für Dich übernehmen", fügte er hinzu, doch zu seinem Erstaunen schüttelte Yukiko energisch den Kopf. "Nein, Vater. Ich möchte, dass Ryuuji mein Trauzeuge ist. Ich habe mit Gozaburo bereits darüber gesprochen und er war einverstanden, also werde ich meine Meinung nicht ändern", widersprach sie fest und sah aus dem Augenwinkel, wie ihr Sohn wieder zu lächeln begann. Das war das erste Mal, dass sie sich offen gegen den Willen ihrer Eltern stellte – und das auch noch seinetwegen. Das Gefühl war einfach unglaublich und es bewies ihm, wie wichtig er seiner Mutter war – trotz all der Probleme, die er ihr schon bereitet hatte. "Wenn wir nicht zu spät kommen wollen, sollten wir los, Mum." Ryuujis Stimme ließ Yukiko in seine Richtung blicken. Nachdem sie kurz auf die Uhr gesehen hatte, nickte sie und ließ sich von ihrem Sohn aus der Wohnung und ins unten bereitstehende Auto helfen. In dem schweren Hochzeitskimono war das Laufen alles andere als einfach, aber die Hand ihres Jungen, der neben ihr ging, gab ihr den nötigen Halt. "Danke, Mum", flüsterte er seiner Mutter so leise zu, dass seine Großeltern die Worte auf keinen Fall hören konnten. Yukiko nickte kaum merklich und lächelte ihren Sohn an. Auch jetzt brachte sie es nicht über sich, ihm zu sagen, wie viel er ihr bedeutete und wie stolz sie auf ihn war, aber ein Blick in seine grünen Augen machte ihr klar, dass das auch gar nicht nötig war, weil er ihre Botschaft offenbar auch ohne wirkliche Worte verstanden hatte. oOo "Ich glaube, ich höre ein Auto! Das müssen sie sein!", rief Mokuba aufgeregt und wollte zur Haustür rennen, doch die Hände seines Vaters auf seinen Schultern hinderten ihn daran. "Das ist Isono-sans Aufgabe, Mokuba", erinnerte Gozaburo seinen jüngsten Sohn und der Fünfzehnjährige zog verlegen den Kopf ein. "Entschuldige, Vater. Ich freue mich nur so furchtbar", rechtfertigte er sich und der Angesprochene lächelte leicht. Er konnte nicht leugnen, dass es ihm genauso ging. Ab heute würden sie endlich wieder eine vollständige Familie sein. Verzeih mir, Ayane, leistete er in Gedanken Abbitte bei seiner verstorbenen ersten Frau. Er hatte sie wirklich und aufrichtig geliebt, aber elf Jahre Einsamkeit waren seiner Meinung nach mehr als genug. Und wenn selbst sein ältester Sohn sich inzwischen an die Tatsache gewöhnt hatte, dass ihre Familie sich ab dem heutigen Tag vergrößern würde, war es bestimmt auch wirklich gut so. Seto erhob sich ebenfalls von der Couch, als er hörte, wie Isono zur Tür ging, diese öffnete und seine zukünftige Stiefmutter samt ihrer Familie begrüßte. Als Yukiko, gefolgt von ihrem Sohn und noch zwei weiteren Personen, bei denen es sich zweifellos um ihre Eltern handeln musste, das Wohnzimmer betrat, verbeugte er sich ebenso wie sein jüngerer Bruder leicht vor den Eintretenden. So aufgeregt Mokuba auch gerade noch gewesen war, die Ruhe, die sein Vater und sein Bruder ausstrahlten, färbte auf ihn ab und ließ ihn sich wieder an das Zeremoniell erinnern. Eine shintoistische Hochzeit war eine durch und durch ritualisierte Sache und für überschwängliche Freudenbekundungen gab es hier keinen Platz. Dafür war später noch Zeit. Dennoch ließ Mokuba es sich nicht nehmen, sowohl Yukiko als auch Ryuuji bei ihrem Eintreten kurz zuzulächeln – eine Geste, die beide mit gleicher Münze zurückzahlten. Nachdem traditionsgemäß der Trauzeuge des Bräutigams ein paar einleitende Begrüßungsworte gesprochen hatte, nahmen alle Anwesenden Platz und der für den heutigen Tag eigens herbestellte Shinto-Priester reinigte die Hochzeitsgesellschaft von allen schlechten Einflüssen – ein Ritual, das in etwa eine halbe Stunde Zeit in Anspruch nahm. Danach wurden die Sake-Schalen gebracht. Isono goss den Sake ein und reichte erst dem Bräutigam die Schale, die dieser in drei kleinen Schlucken leerte. Danach wurde die Schale wieder gefüllt und der Braut übergeben, die ebenfalls drei Schlucke nahm. Diese Prozedur wurde insgesamt drei Mal durchgeführt. Beim zweiten Mal trank zuerst die Braut, beim dritten Mal machte wieder der Bräutigam den Anfang, so dass beide am Ende jeweils neun Schlucke Sake getrunken hatten. Mit dem Abschluss dieses Rituals und ein paar abschließenden Worten Isonos war die Eheschließung vollzogen und nachdem noch die obligatorischen Hochzeitsfotos gemacht worden waren – wie während der ganzen Zeremonie wahrten alle auch hier Haltung und zeigten kein Lächeln, sondern ernste Gesichter, denn das war Brauch –, konnte der zweite, weniger formelle Teil der Feierlichkeiten beginnen. Seto, der gemeinsam mit Mokuba ein Stück abseits gekniet hatte, hatte während der gesamten Zeremonie seinen inzwischen offiziellen Stiefbruder nicht aus den Augen gelassen. Ryuuji hatte an der Seite seiner Mutter gekniet und ganz offensichtlich die Funktion als ihr Trauzeuge übernommen – ein Bruch mit der Tradition, denn gewöhnlich hatte die Braut eine weibliche Trauzeugin. Sehr zur Setos Verwunderung hatte Ryuuji, der seine langen schwarzen Haare heute zu einem Zopf geflochten und nicht einfach nur zusammengebunden trug, in seinem ebenfalls dunkelblauen Kimono – eine Idee seines Vaters, die zeigen sollte, dass die drei Jungen von dem heutigen Tage an Brüder sein würden – eine ungewohnt würdevolle Figur gemacht. Ganz gemäß der shintoistischen Tradition hatte er nicht eine Miene verzogen, sondern war geradezu feierlich ernst geblieben. Dabei war jede der Gesten, die er gemäß des Rituals auszuführen hatte, so ruhig und präzise gewesen, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie etwas anderes getan. Auf Seto wirkte der Schwarzhaarige an diesem Tag wie ein vollkommen anderer Mensch. Wo war der Ryuuji, den er kannte? Der Junge mit dem frechen, spöttischen Grinsen auf den Lippen und dem belustigten Funkeln in den grünen Katzenaugen, der sich immer köstlich zu amüsieren schien – und das oft genug auf seine Kosten –, schien heute nicht hier zu sein. Und der junge Mann, der seinen Platz eingenommen hatte, bewegte sich so anmutig, dass Seto seine Augen einfach nicht von ihm abwenden konnte. Glücklicherweise waren alle Anderen so in die Zeremonie vertieft, dass niemandem sein Starren auffiel. Zumindest glaubte er das. Ryuuji hingegen bemerkte die Blicke seines älteren Stiefbruders sehr wohl. Zu wissen, dass diese azurblauen Augen jede seiner Bewegungen verfolgten – wahrscheinlich wartete Seto nur darauf, dass er seine Aufgabe in irgendeiner Form vermasselte –, machte ihn unglaublich nervös, aber trotzdem gelang es ihm irgendwie, die Zeremonie zu überstehen. Wie er das allerdings geschafft hatte, wusste er hinterher nicht zu sagen. Als der rituelle Teil der Trauung jedoch endlich überstanden war, atmete er so unauffällig wie möglich auf. Er wusste genau, dass nicht nur Seto, sondern auch seine Großeltern ihn mit Argusaugen beobachtet hatten und daher war er heilfroh, dass es ihm irgendwie gelungen war, nichts zu verpatzen. Diese Blamage wollte er weder seiner Mutter noch sich selbst antun, denn er gönnte seinen Großeltern diese Genugtuung einfach nicht. Außerdem wollte er, dass seine Mutter auch weiterhin stolz auf ihn sein konnte und sich nicht dafür schämen musste, dass sie sich für ihn als ihren Trauzeugen entschieden hatte. Das wäre das Schlimmste für ihn. Auf keinen Fall wollte er seine über alles geliebte Mutter blamieren – schon gar nicht an ihrem Hochzeitstag, auf den sie sich so unglaublich gefreut hatte. Nachdem die Fotos gemacht und die Familien sich gegenseitig vorgestellt worden waren, verschwanden sowohl das Brautpaar als auch alle anderen Gäste kurz, um sich für den weniger formellen Teil der Feier umzuziehen. Mokuba, der seine neue Mutter die ganze Zeit mit leuchtenden Augen angesehen hatte – diese wunderschöne Frau trug ab heute den gleichen Nachnamen wie er! –, hakte sich im Flur bei seinem Stiefbruder ein und zog diesen mit sich nach oben. "Komm, ich zeige dir dein neues Zimmer!" Ryuuji hätte beinahe gelacht, als sein jüngerer Stiefbruder ihn förmlich die Treppen in den ersten Stock des Hauses hochschleifte. "Hey, mach mal halblang, Kleiner", schmunzelte er stattdessen jedoch nur und der Fünfzehnjährige lief tatsächlich ein bisschen langsamer. "Entschuldige, Ryuuji", nuschelte er dabei zerknirscht und sah den Anderen über seine Schulter hinweg verlegen an. "Ich freue mich nur so." Bei diesen Worten konnte Ryuuji sich ein Grinsen nicht mehr länger verkneifen. "Ich freu mich auch, Mokuba", erwiderte er und legte einen Arm um die Schultern des Jungen. Dieser strahlte gleich wieder glücklich vor sich hin, doch seine Freude wurde jäh gedämpft, als von hinter ihnen plötzlich die Stimme seines großen Bruders erklang. "Ihr beide blockiert die Treppe." Seto bemühte sich wirklich, nicht allzu genervt zu klingen, aber der unglaublich vertraut wirkende Umgang seines jüngeren Bruders mit ihrem Stiefbruder machte ihm noch immer zu schaffen. Beinahe erwartete er für seine Zurechtweisung also eine patzige Antwort von einem der beiden, aber stattdessen zog Ryuuji Mokuba einfach nur ein Stück zur Seite, um den Weg freizumachen. "Bitte entschuldige, Seto. Wir haben Dich nicht gesehen", murmelte er dabei und schaffte es tatsächlich irgendwie, den Brünetten anzulächeln – und das, obwohl seine Sinne wie jedes Mal, wenn er auf ihn traf, nach Flucht schrieen. Noch immer tat es weh, ihn nach dem, was am Samstag zuvor passiert war, auch nur anzusehen, aber Ryuuji hatte sich fest vorgenommen, sich davon nichts anmerken zu lassen. Seto sollte niemals erfahren, mit wem er an diesem Abend auf der Party wirklich getanzt hatte, denn das würde sicher in einer Katastrophe enden. "Du hast übrigens das Zimmer schräg gegenüber von meinem", riss Mokubas Stimme ihn aus seinen Gedanken und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Jungen zu. "Gleich daneben liegt Setos Zimmer. Also neben deinem, nicht neben meinem", plapperte der Fünfzehnjährige weiter und Ryuuji wäre um ein Haar mitten im Flur stehen geblieben. Das war doch wohl bitte ein schlechter Witz, oder? Das konnte doch nicht wirklich Gozaburo-sans Ernst sein! So sehr konnte das Universum ihn doch gar nicht hassen! Oder etwa doch? Aber womit hatte er das bloß verdient? Als ob es nicht auch so schon schwer genug wäre, seinen älteren Stiefbruder von jetzt an jeden Tag auch nach der Schule noch sehen zu müssen! Ryuuji seufzte unhörbar, beschloss aber, sich nichts anmerken zu lassen. "Gut, das zu wissen", antwortete er stattdessen nur und ließ sich von Mokuba das Zimmer zeigen, in dem er die nächsten sechs Monate wohnen würde. Den seltsamen Blick, mit dem Seto ihm nachsah, bevor er zum Umziehen in seinem eigenen Zimmer verschwand, bemerkte er nicht. Etwa eine Dreiviertelstunde später fanden sich alle umgezogen wieder unten im Wohnzimmer ein. Wäre das Wetter nicht so gut gewesen, hätte das Festbankett im Esszimmer stattgefunden. Da an diesem Tag jedoch die Sonne schien, als wolle sie sich mit dem frischgebackenen Ehepaar über die Hochzeit freuen, war das Essen im großzügigen Garten der Villa auf eigens dafür aufgestellten Tischen angerichtet worden. Im Gegensatz zu der vorangegangenen Trauungszeremonie war die Stimmung bei der Feier geradezu ausgelassen. Das glückliche Paar – Gozaburo in einem eleganten hellgrauen Anzug und Yukiko in einem weißen Kostüm mit einer pfirsichfarbenen Bluse – wurde mit Glück- und Segenswünschen von allen Anwesenden geradezu überschüttet. Selbst Seto, der sich für einen schwarzen Anzug und ein blaues Hemd entschieden hatte, lächelte leicht, als er seinem Vater und dessen neuer Frau gratulierte. Sicher, ab heute würde sich auch für ihn Einiges ändern, aber einerseits wollte er niemandem die Stimmung verderben und andererseits erschien ihm inzwischen die Aussicht, Yukiko von jetzt an täglich zu sehen, gar nicht mehr so schlimm. So glücklich, wie sein Vater aussah, wenn seine Blicke auf ihr ruhten, wünschte er den beiden insgeheim tatsächlich alles Gute für ihre gemeinsame Zukunft. Mokuba, der ebenso wie seine beiden Brüder einen schwarzen Anzug trug – allerdings hatte er ein weißes Hemd gewählt, wohingegen Ryuuji wie üblich auch hier Schwarz den Vorzug gegeben hatte –, konnte gar nicht mehr aufhören zu strahlen. Er war einfach rundum zufrieden. Sein Vater betete Yukiko ganz offensichtlich an, sie selbst sah ebenfalls glücklich aus und auch sein Stiefbruder hatte ihm gesagt, dass er sich freute, also was konnte man sich mehr wünschen? Ryuuji, der seinen Zopf auch nach dem Umziehen beibehalten hatte, beobachtete seine Mutter und ihren frischgebackenen Ehemann ebenfalls über den Tisch hinweg. Das selige Lächeln, das auf ihren Lippen lag, und ihr Strahlen, wann immer sie ihn ansah, zeigte ihm deutlich, dass sie wirklich glücklich war. Und den Blicken nach zu urteilen, mit denen Gozaburo seine Frau bedachte, ging es ihm nicht anders. Gut so, dachte Ryuuji zufrieden und lächelte leicht. Wenn seine Mutter glücklich war, dann war er es auch – egal, wie weh es tat, Seto von jetzt an jeden Tag sehen zu müssen. Immerhin würde das nur für sechs Monate so sein. Diese Zeit würde er schon irgendwie überstehen, da war er sich sicher. Schließlich war Mokuba ja auch noch da. Im Notfall würde er sich eben einfach nur an den Kleinen halten. So würden die sechs Monate schon rumgehen. Die Blicke Otogi Mamorus ruhten während des gesamten Essens ausgesprochen wohlwollend auf seinem neuen Schwiegersohn. Genau so einen Mann hatte er sich für seine über alles geliebte Tochter immer gewünscht. Kaiba Gozaburo war ein Mann, zu dem eine Frau aufsehen konnte, und nicht so ein Tunichtgut wie dieser Amerikaner, der seiner Yukiko den Kopf verdreht hatte, als sie noch zu jung gewesen war, um wirklich zu wissen, was gut für sie war. Aber nicht nur seinen Schwiegersohn, sondern auch dessen Söhne betrachtete der alte Mann mit äußerstem Wohlwollen. Die beiden Jungen waren wohlerzogen und ausgesprochen höflich. Kein Vergleich zu seinem leiblichen Enkel, der ja nun wirklich eine furchtbare Enttäuschung war. Aber was konnte man von einem Jungen schon erwarten, der unglücklicherweise all die schlechten Eigenschaften des Gaijin geerbt hatte, der ihn gezeugt hatte? Nach dem Essen, als das Brautpaar gerade unter den Blicken aller Anwesenden miteinander tanzte, neigte Mamoru sich zu seiner Frau. "Jetzt hat unsere Yukiko endlich den Mann bekommen, der ihr gebührt", flüsterte er ihr zu und Reiko nickte. "Das denke ich auch. Und wenn die Kami gnädig sind, schenken sie uns noch einen Enkel – einen, der anders ist und nicht so eine furchtbare Enttäuschung wie Ryuuji", fügte sie mit einem missbilligenden Seitenblick auf den Sohn ihrer Tochter hinzu, den dieser jedoch nicht zu bemerken schien. Obwohl er so tat, als hätte er weder die Blicke seiner Großeltern gesehen noch ihre Worte gehört, hatte Ryuuji dennoch ganz genau verstanden, worüber sie sich unterhalten hatten. Er hatte nicht wirklich etwas anderes erwartet, aber die offene Verachtung war trotzdem nicht gerade angenehm – ebenso wie das Wissen, dass seine Großeltern ihn von heute an erst recht schneiden würden, denn schließlich hatten sie jetzt seine Stiefbrüder, mit denen sie ihn vergleichen konnten. Unter dem Vorwand, die Toilette benutzen zu müssen, entschuldigte Ryuuji sich vom Tisch und ging durch die geöffnete Terrassentür in die Villa hinein. Allerdings suchte er kein Badezimmer auf, sondern verkroch sich einen Moment lang in seinem neuen Zimmer, um sich wieder zu sammeln. Er wusste zwar schon seit Jahren, dass seine Großeltern ihn als unerwünschten Störenfried sahen, aber es so deutlich vor Augen geführt zu bekommen war doch etwas vollkommen anderes. Nachdem er ein paar Minuten zusammengekauert vor seinem Bett gehockt hatte, die Beine an seinen Körper gezogen und die Arme darum geschlungen, rappelte er sich schließlich wieder auf und wischte sich entschlossen über die Augen, bevor er ins Bad ging, um die Tränenspuren zu beseitigen. Auf keinen Fall sollte seiner Mutter oder sonst jemandem auffallen, dass er geweint hatte. Seto, der neben seinem kleinen Bruder gesessen hatte, hatte die Worte von Yukikos Eltern ebenfalls gehört. Er hatte schon immer recht gute Ohren gehabt, also hatte er, obwohl es Mokuba war, der neben Otogi Reiko-san saß, ganz genau verstanden, worüber sie sich mit ihrem Mann unterhalten hatte. Während der Fünfzehnjährige, der seinerseits auch mitbekommen hatte, über welches Thema seine Stiefgroßeltern sich unterhalten hatten, vollkommen sprachlos war, stand sein älterer Bruder vom Tisch auf, um drinnen nach seinem Stiefbruder zu sehen. Woher dieser Impuls kam, wusste er nicht, aber er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung war. "Ryuuji-san befindet sich oben in seinem Zimmer", informierte Isono, dem Setos suchende Blicke nicht entgangen waren, den Sohn seines Chefs und dieser nickte ihm kurz zu, bevor er nach oben ging. Dort klopfte er kurz an die Tür, erhielt jedoch keine Antwort. Einen Moment lang zögerte er noch, dann betrat er ohne Aufforderung den Raum und sah sich um, doch von seinem Stiefbruder war nichts zu sehen. Allerdings lief im angrenzenden Badezimmer das Wasser, also hielt er sich ganz offensichtlich dort auf. Ryuuji, der von Setos Eintreten nichts bemerkt hatte, warf einen Blick in den Badezimmerspiegel, nachdem er sich das Gesicht gewaschen und damit alle Spuren beseitigt hatte. Sein Spiegelbild grinste ihm ziemlich verunglückt entgegen und er schob sich ein paar schwarze Strähnen, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten, hinter sein rechtes Ohr. "Was kuckst du denn so, hm?", fragte er sein Spiegelbild und schüttelte den Kopf. "Was hast du denn erwartet? Du weißt doch schon seit Jahren, dass sie dich hassen. Haben sie doch immer schon getan. Ist ja nun wirklich nichts Neues mehr, also kein Grund, gleich so ein Gesicht zu ziehen", ermahnte er sich selbst und atmete mehrmals tief durch – so lange, bis sein Grinsen wieder halbwegs so aussah, wie er es von sich selbst gewöhnt war. Seto, der noch immer im Zimmer seines Stiefbruders stand, erstarrte, als er die Worte hörte. Hatte Ryuuji ihn etwa gehört? Als der Brünette jedoch bemerkte, dass der Andere ganz offenbar mit sich selbst sprach, atmete er innerlich auf – allerdings nur, bis ihm der Sinn der Worte klar wurde. Überdeutlich hörte er den bitteren Unterton in Ryuujis Stimme, der mehr als deutlich zeigte, dass ihn das, was er gehört hatte, ganz offensichtlich ziemlich getroffen hatte. Das ist ja wohl auch verständlich, dachte Seto bei sich. Was musste es für ein Gefühl sein, von seinen eigenen Großeltern derart verachtet zu werden, dass diese sich einen anderen Enkel wünschten – einen, der besser war? Nein, das wollte er sich lieber nicht vorstellen. Beinahe empfand Seto so etwas wie Mitleid für seinen Stiefbruder, doch zusätzlich drängte sich ihm noch eine weitere Frage auf: Hatten seine Worte den Schwarzhaarigen auch so verletzt? Ohne auf ihn zu warten, verließ Seto schnell Ryuujis Zimmer und ging wieder nach unten. Dabei nahm er sich vor, seinen Stiefbruder für den Rest des Tages ganz genau im Auge zu behalten. Er wollte wissen, wie Ryuuji sich nach den Worten seinen Großeltern gegenüber verhalten würde; wollte mit eigenen Augen sehen, wie er mit dem Gehörten umging. Mokuba, der sich inzwischen ebenfalls vom Tisch entfernt hatte und grübelnd im Wohnzimmer wartete – wie konnten Ryuujis Großeltern nur so über ihren eigenen Enkel reden? –, blickte auf, als sein älterer Bruder ganz alleine aus dem ersten Stock wieder nach unten kam. "Wo ist Ryuuji?", erkundigte er sich und Seto nickte schweigend zur Treppe hinüber, um anzudeuten, dass der Gesuchte noch oben war. Dann wollte er an seinem Bruder vorbeigehen, doch dieser hielt ihn am Ärmel seines Jacketts fest. "Du hast das doch auch gehört, oder, Nii-san? Ich meine das, was Mamoru-san und Reiko-san gesagt haben. Über Ryuuji. Ich habe mich doch nicht verhört, oder, Nii-san?", fragte er und der Brünette schüttelte den Kopf. "Nein, du hast dich nicht verhört, otouto. Ich habe es genauso verstanden wie du", antwortete er und strich dem Jungen kurz über die Haare, bevor er sich von ihm löste und wieder zurück nach draußen ging. Mokuba hingegen blieb im Wohnzimmer stehen, um auf seinen Stiefbruder zu warten. Ganz sicher hatten diese Worte, die doch von seiner eigenen Familie gekommen waren, ihm sehr weh getan. Viel konnte er vielleicht nicht tun, dachte Mokuba bei sich, aber möglicherweise konnte er Ryuuji wenigstens ein kleines bisschen trösten. Und dabei dachte ich wirklich, Mamoru-san und Reiko-san wären eigentlich ja ganz nett. Da hatte er sich ja wohl ganz gründlich getäuscht. Wie konnten sie nur so über ihren Enkel sprechen – noch dazu, wenn dieser gleich neben ihnen saß? Was hatte Ryuuji denn bloß getan, um so derart von seinen eigenen Großeltern gehasst und verachtet zu werden? Womit hatte er das verdient? Das war doch nicht fair! Als Ryuuji schließlich nach unten kam und das Wohnzimmer betrat, wurde er von seinem jüngeren Stiefbruder, der gleich auf ihn zustürmte und ihn aufs Heftigste umarmte, beinahe umgeworfen. "Hey, was ist denn mit dir los, Kleiner?", erkundigte Ryuuji sich verwundert und der Fünfzehnjährige sah aus großen, traurigen blauen Augen zu ihm auf. "Es tut mir so leid, Ryuuji! Das, was deine Großeltern gesagt haben, meine ich!", platzte er heraus und seine Augen weiteten sich noch mehr, als Ryuuji ihn unbekümmert angrinste. "Ach, das. Mach dir darüber mal keinen Kopf, Mokuba. Das ist nicht so wichtig", versuchte er, den Jungen zu überzeugen, doch dieser schüttelte heftig den Kopf. "Das ist es wohl. Das war ganz furchtbar gemein von ihnen. Wie können sie so etwas nur sagen?", ereiferte er sich und Ryuuji, der im ersten Moment tatsächlich wieder mit dem Schmerz gekämpft hatte, den die Worte seiner Großeltern verursacht hatten, drückte Mokuba an sich. Dabei schmunzelte er. Es tat wirklich ungemein gut, dass sich jemand so derart über das aufregte, was seine Großeltern gesagt hatten. Mit Ausnahme seines besten Freundes Katsuya, der sie sogar schon einmal dafür angeschrieen hatte – was zwar nichts geändert hatte, aber dennoch eine Genugtuung sondergleichen gewesen war –, hatte das noch nie jemand getan. "Lass sie doch reden, was sie wollen. Ich hab dir doch schon mal gesagt, was ich von solchem Gerede halte, oder, Mokuba?" Diese Worte seines Stiefbruders ließen den Fünfzehnjährigen wieder aufsehen. Noch immer ließ er Ryuuji nicht los. "Macht dir das wirklich so wenig aus, Ryuuji?", hakte er erstaunt nach und der Angesprochene nickte, bevor er gleichgültig mit den Schultern zuckte. "Hey, ich kann ihre Meinung über mich doch sowieso nicht ändern. Warum sollte ich mir also das zu Herzen nehmen, was sie über mich sagen? Für sie war ich schon immer eine Enttäuschung und das werde ich auch Zeit meines Lebens bleiben. Immerhin ist mein Vater ein Gaijin. Bei meinen Großeltern reicht das vollkommen aus, musst du wissen. Und da sich an meiner Herkunft nicht plötzlich über Nacht etwas ändern wird, werden sie auch immer so über mich denken. Aber das ist schon okay. Wirklich, Mokuba", bekräftigte er und drückte den Jungen noch einmal, bevor er ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte. "Aber trotzdem lieb von dir, dass du mich trösten wolltest. Du bist echt ein Schatz, Mokuba", murmelte Ryuuji in die schwarzen Haare des Jungen und dieser errötete heftig, während Ryuuji sich aus seiner Umarmung befreite. Es war Jahre her, dass ihm das letzte Mal jemand einen Kuss gegeben hatte. Damals war es sein Vater gewesen, der an diesem Tag zu Hause geblieben war, weil er mit einer schweren Erkältung im Bett gelegen hatte. Aber dieser Kuss gerade war etwas völlig anderes als ein Kuss seines Vaters. Das Herz des Fünfzehnjährigen hämmerte mit rasender Geschwindigkeit gegen seinen Brustkorb. Was waren das bloß für verwirrende Gefühle, die die Nähe seines Stiefbruders immer wieder aufs Neue in ihm auslöste? Warum fühlte er sich gleichzeitig so wohl und so befangen, wann immer Ryuuji ihn umarmte oder ihn auf eine andere Weise, egal ob zufällig oder nicht, berührte? Seto, der die ganze Zeit neben der Terrassentür gestanden und so das gesamte Gespräch zwischen seinem Bruder und seinem Stiefbruder mitangehört hatte, sah Ryuuji nachdenklich hinterher, als dieser zum Tisch ging und seine Mutter lächelnd zum Tanzen aufforderte. Dadurch, dass er oben in Ryuujis Zimmer gewesen war und diesen dort bei seinem Selbstgespräch belauscht hatte, wusste er im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder, dass er Mokuba belogen hatte, was seine Großeltern und deren Worte anging. Hat er Mokuba dann etwa auch meinetwegen belogen? War es ihm doch nicht egal, was ich über ihn gesagt habe? Hat es ihn vielleicht doch gestört? Haben meine Worte ihm ebenso weh getan wie die Worte seiner Großeltern? Seto fand keine Antworten auf diese Fragen, die ihm unablässig durch den Kopf gingen. Dennoch reichte allein die Möglichkeit, dass seine Worte Ryuuji verletzt haben könnten, aus, um sein schlechtes Gewissen auf den Plan zu rufen. Kapitel 12: Familiäre Anfänge ----------------------------- Obwohl die Hochzeitsfeierlichkeiten sich bis in die späten Abendstunden hingezogen hatten, war Seto am Sonntagmorgen um acht Uhr bereits hellwach. Die ganze vergangene Nacht hatte er ausgesprochen schlecht geschlafen und dementsprechend fühlte er sich auch. Da es jedoch keinen Sinn machen würde, weiterhin im Bett liegen zu bleiben, entschloss er sich, aufzustehen und nach unten zu gehen, um nachzusehen, ob der Rest seiner Familie sich bereits zum Frühstück versammelt hatte. Falls nicht, würde er im Wohnzimmer noch etwas lesen oder fernsehen und sich dann ins Esszimmer begeben, sobald die anderen auch wach waren. Nach einer kurzen Dusche zog Seto sich an und ging dann leise nach unten. Schließlich wollte er seinen Vater und seine Stiefmutter – an diese Bezeichnung würde er sich erst noch gewöhnen müssen – nach ihrer Hochzeitsnacht auf keinen Fall versehentlich so früh wecken. Ganz sicher würden die beiden sowieso erst später herunterkommen. Da im Esszimmer noch niemand zu sehen war, ging Seto hinüber ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und nahm sein Buch, das er hier für den Fall liegen gelassen hatte, dass ihn die Lust zum Lesen überkommen sollte. Er machte es sich auf der Couch gemütlich, schlug die durch ein Lesezeichen markierte Seite auf und suchte den Absatz, bei dem er aufgehört hatte, um von dort aus weiterzulesen. Dennoch, obwohl er rein äußerlich den Eindruck erweckte, von seinem Buch vollkommen gefesselt zu sein, gelang es ihm nicht wirklich, sich auf das Lesen zu konzentrieren – egal, wie sehr er sich bemühte. Dafür war er nach den Ereignissen des vergangenen Tages und seiner beinahe schlaflos verbrachten Nacht einfach viel zu aufgewühlt. Den ganzen letzten Abend über hatte er seinen Stiefbruder so unauffällig wie möglich beobachtet. Er hatte wissen wollen, wie dieser sich seinen Großeltern gegenüber verhalten würde, aber in seinem Benehmen hatte nichts darauf hingedeutet, dass er die Worte der beiden gehört hatte. Er war genauso gewesen wie sonst auch: Fröhlich, immer mit einem Lächeln oder einem Grinsen auf den Lippen und zumindest äußerlich vollkommen ausgeglichen. Weder seine Mutter noch sonst einer der Anwesenden hatten gemerkt, dass diese Unbeschwertheit nur aufgesetzt gewesen war. Selbst Mokuba hatte sich irgendwann täuschen lassen, aber er, Seto, hatte es besser gewusst. Er hatte schließlich mitangehört, wie Ryuuji sich oben in seinem Badezimmer selbst Mut zugesprochen hatte. Der bittere, resignierte Unterton in seiner Stimme hatte sich geradezu in Setos Gedächtnis gebrannt. Und alleine die Vorstellung, dass das, was er gesagt hatte, eine ähnliche Reaktion bei dem Schwarzhaarigen ausgelöst haben könnte, ließ sein schlechtes Gewissen gleich wieder zuschlagen. Wie sein jüngerer Bruder auch war Seto den Großeltern seines Stiefbruders nach dem, was er gehört hatte, ausgesprochen kühl und distanziert begegnet. Er war keinesfalls unhöflich geworden – solches Verhalten wäre auf einer Hochzeitsfeier einfach unangebracht gewesen und er hatte weder seinem Vater noch Yukiko-san den Tag verderben wollen –, aber dennoch war er trotz des eindeutigen und unübersehbaren Wohlwollens, mit dem Otogi Mamoru-san und seine Frau Mokuba und ihn betrachtet hatten, nicht übermäßig freundlich zu ihnen gewesen. Die ganze Zeit über, während er sich mehr oder weniger gezwungenermaßen mit seinen angeheirateten Großeltern unterhalten hatte, die ja nun seit gestern auch zu seiner neuen Familie gehörten, war in seinem Hinterkopf nur Platz für eine einzige Frage gewesen: Warum? Warum sagte Ryuuji seinen Großeltern nicht, dass er ihre Worte sehr wohl gehört hatte? Warum ließ er sich das alles einfach so gefallen? Und wie in aller Welt schaffte er es bloß, so ruhig und gelassen zu bleiben? Wie konnte er so tun, als machte ihm das alles nicht das Geringste aus? Wie konnte er zulassen, dass man ihn so verletzte? Warum wehrte er sich nicht endlich – nicht nur gegen seine Großeltern, sondern auch gegen ihn, Seto, selbst? Leise Schritte, die die Treppe herunterkamen und sich in Richtung Küche entfernten, rissen den Brünetten aus seinen Gedanken. Einen Augenblick lang zögerte er, dann klappte er sein Buch zu, stand auf und ging ebenfalls hinüber, um zu sehen, wer um diese Zeit schon wach war. Konnte Mokuba nach dem, was am Vorabend passiert war, vielleicht auch nicht mehr schlafen? Zu seiner Überraschung fand Seto in der Küche jedoch weder seinen jüngeren Bruder noch Isono vor, sondern seinen Stiefbruder, über den er die ganze Zeit schon nachdachte. Ryuuji hatte ihn offensichtlich noch nicht bemerkt, denn er hatte den Rücken zur Tür gewendet und stöberte gerade scheinbar in der Obstschale, die auf der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank stand. Nachdem er sich ein paar grüne Weintrauben herausgesucht und diese über der Spüle kurz abgewaschen hatte, räusperte der Brünette sich vernehmlich und Ryuuji zuckte erschrocken zusammen, bevor er sich umdrehte. Um ein Haar hätte er die Weintrauben fallen lassen, doch er konnte sie gerade noch rechtzeitig auffangen, bevor sie auf dem Küchenboden landeten. "Holy shit, Seto, erschreck mich doch nicht so! Da kriegt man ja nen Herzinfarkt!", entfuhr es Ryuuji und er lehnte sich rücklings an die Arbeitsplatte, denn der Schreck hatte seine Knie weich werden lassen. Sein Herz raste beim Anblick seines Stiefbruders teils aus Schreck, teils aufgrund seiner Gefühle für diesen wie verrückt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass so früh am Morgen überhaupt jemand außer ihm wach sein würde, deshalb hatte er sich nur ausgesprochen locker gekleidet. Zu seiner schwarzen Jeans trug er ein ebenso schwarzes Hemd, das er jedoch nicht zugeknöpft hatte. Seto nahm sich einen Augenblick Zeit, um seinen Stiefbruder zu mustern. Der Schwarzhaarige stand barfuß, mit offenen Haaren und ebenso offenem Hemd vor ihm. Für ein paar Sekunden blieb Setos Blick an der stilisierten schwarzen Sonne hängen, die um den Bauchnabel des Anderen tätowiert war, doch er riss sich schnell wieder von dem Körperschmuck los und sah ihm ins Gesicht. Sofort fand er sich mit grünen Katzenaugen konfrontiert, die durchdringend und neugierig zugleich auf ihn gerichtet waren. Ryuuji entging diese ausgiebige Musterung seiner Person ebenso wenig wie die Tatsache, dass die blauen Augen des Brünetten vielleicht eine Sekunde länger als nötig an seinem Tattoo hängen blieben, aber er entschloss sich, lieber nichts dazu zu sagen. Stattdessen legte er fragend den Kopf schief, denn Seto hatte sicher einen Grund dafür, dass er ihm in die Küche gefolgt war und ihn mehr oder weniger dezent auf sich aufmerksam gemacht hatte. Seto, der sich unter dem prüfenden Blick gleich wie immer unwohl zu fühlen begann, räusperte sich erneut. Wenn der Schwarzhaarige allerdings eine Entschuldigung für den Schreck erwartet hatte, den er ihm mit seinem Auftauchen eingejagt hatte, dann wartete er vergeblich. Das war einfach nicht sein Stil – ganz davon abgesehen, dass er auch nicht gewusst hätte, was er hätte sagen sollen. "Normalerweise frühstücken wir am Sonntagmorgen alle zusammen so gegen neun Uhr", informierte er Ryuuji stattdessen nur und dieser nickte langsam. Von dieser kaibaschen Familientradition hatte sein jüngerer Stiefbruder ihm am Vorabend bereits erzählt. "Weiß ich. Mokuba hat mir gestern schon deswegen Bescheid gesagt, aber ich musste trotzdem schon mal ein bisschen was essen", erwiderte er daher und zuckte mit den Schultern. Schließlich war er sonntags normalerweise derjenige, der das Frühstück für seine Mutter und sich machte, wenn er bei ihr in Japan war. Das hatte sich irgendwann einfach so eingebürgert und aus diesem Grund war er auch an diesem Morgen trotz der Feierlichkeiten des letzten Tages gewohnheitsmäßig früh aufgewacht. "Willst du auch welche?" Irritiert hob Seto eine Braue, als sein Stiefbruder ihm ein paar der grünen Weintrauben entgegenhielt, die er sich aus der Obstschale genommen hatte. Dann jedoch schüttelte er den Kopf und Ryuuji zuckte erneut mit den Schultern, bevor er sich die erste Weintraube zwischen die Lippen schob. Dabei wanderte sein Blick aus dem Küchenfenster und er gab dem Brünetten so unbewusst die Möglichkeit, ihn ungestört betrachten zu können. Zu seiner eigenen Überraschung tat Seto genau das auch tatsächlich. Wieder sah er sich die Tätowierung des Schwarzhaarigen ganz genau an und schüttelte schließlich über sich selbst den Kopf. Woher war denn bitteschön der vollkommen unsinnige – und genaugenommen sogar gefährliche – Gedanke gekommen, dass er gerne einmal mit den Fingern über den flachen Bauch des Anderen und die schwarze Sonne darauf streichen würde? Um nicht weiter über diese seltsame Anwandlung seinerseits nachdenken zu müssen, hob Seto den Blick bis zu dem Gesicht des Anderen – ein grober Fehler, wie er gleich darauf feststellte, denn Ryuuji war gerade dabei, sich eine weitere Weintraube in den Mund zu schieben. Über alle Maßen irritiert stellte Seto fest, dass er seine Augen einfach nicht von den Lippen des Schwarzhaarigen abwenden konnte. Auf diesen glänzte noch ein Wassertropfen von der Weintraube und er war gerade damit beschäftigt, diesen mit seinem Finger abzuwischen und den dann abzulecken. Dabei sah er noch immer aus dem Fenster und schien seinen älteren Stiefbruder vollkommen vergessen zu haben. Als ihm auffiel, dass er gerade auf die Lippen eines anderen Jungen starrte, schüttelte Seto erneut den Kopf über sich selbst. Was war denn heute mit ihm los? So etwas tat er doch sonst nicht, denn es gehörte sich einfach nicht, jemanden so anzustarren – egal, wie verlockend die Lippen seines Stiefbruders auch aussehen mochten, wenn sie so feucht und halb geöffnet waren. Es gab eben Dinge, die tat man einfach nicht. Und die Lippen eines anderen Jungen anzustarren gehörte definitiv dazu. "Ich habe es gehört." Setos Worte brachten Ryuuji, der tatsächlich gerade mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen war, wieder in die Realität und damit in die kaibasche Küche zurück. "Gehört? Was denn gehört?", erkundigte er sich neugierig, während die nächste Weintraube ihre Reise in Richtung seines Magens antrat – immer beobachtet von Seto, der sich zwar bemühte, es nicht zu tun, seinen Blick aber nichtsdestotrotz einfach nicht abwenden konnte. "Das, was deine Großeltern gestern Abend über dich gesagt haben." Seto ließ den Schwarzhaarigen bei seinen Worten nicht aus den Augen und so entging ihm nicht, dass dieser kurz zusammenzuckte, bevor er hastig abwinkte. "Ach, das meinst du", erwiderte er und grinste seinen Gegenüber an. "Das ist nichts Besonders. So was sagen sie ständig", wiegelte er ab und der Brünette hob eine Braue. "Es ist Dir also völlig egal? Willst Du das damit sagen?", hakte er nach und Ryuuji seufzte. "Es ist nun mal nicht zu ändern. Ich bin eben, wer ich bin. Ich kann meinen leiblichen Vater nicht verleugnen – mal ganz davon abgesehen, dass ich das auch gar nicht will." Sicher, er hatte nicht unbedingt das beste Verhältnis zu seinem Vater, aber das war nebensächlich. Nur weil sie hin und wieder – oder auch öfter mal – unterschiedlicher Meinung darüber waren, wie man sein Leben zu gestalten hatte, bedeutete es ja nicht gleich, dass er seinen Vater nicht trotzdem liebte. "Ich könnte mich noch so sehr zu verbiegen versuchen und es ihnen doch nie recht machen – einfach, weil ich Halbamerikaner bin. Warum soll ich also versuchen, jemand zu sein, der ich nicht bin? Das ist nicht mein Stil", fuhr Ryuuji fort und Seto verschränkte die Arme vor der Brust, bevor er sich gegen den Türrahmen lehnte. Er ließ sich die Worte seines Stiefbruders gründlich durch den Kopf gehen und nickte schließlich unbewusst. Eigentlich hatte Ryuuji ja Recht mit dem, was er gesagt hatte. Er war nun einmal, wer und was er war. Das konnte er nicht ändern. Sein leiblicher Vater würde trotzdem immer sein leiblicher Vater bleiben. Und auch dessen Nationalität würde sich nicht einfach so ändern, nur weil Otogi Mamoru und Otogi Reiko es gerne so hätten. "Nichtsdestotrotz war es mehr als unangebracht und unhöflich von ihnen, so etwas zu sagen – ganz besonders in deinem Beisein." Bei diesen Worten seines Stiefbruders hob Ryuuji verwundert eine Braue. Irrte er sich oder hörte sich das tatsächlich so an, als würde Seto das missbilligen, was seine Großeltern am Vortag getan hatten? Warum? War er selbst ihm gegenüber nicht auch ausgesprochen negativ eingestellt gewesen? Woher mochte der plötzliche Sinneswandel rühren? "Scheiß drauf. War nicht das erste Mal und wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Damit hab ich mich schon vor Jahren abgefunden. Es ist nun mal, wie es ist", winkte Ryuuji ein weiteres Mal ab und nun war es an Seto, eine Braue zu heben. So hatte es für ihn gestern Abend nicht geklungen, als er seinen Stiefbruder in seinem Badezimmer heimlich belauscht hatte. Diesen Gedanken behielt er allerdings für sich. Auf keinen Fall musste der Schwarzhaarige wissen, dass er jedes Wort gehört hatte, was dieser am Vorabend gesagt hatte. Schließlich war das ja nur für seine eigenen Ohren bestimmt gewesen. Sicher wäre es ihm nicht recht, wenn er erführe, dass es jemanden gab, der genau wusste, wie sehr ihn die Äußerungen seiner Großeltern wirklich verletzt hatten. Als Seto auf seine Worte schwieg, legte Ryuuji seinen Kopf schief und betrachtete ihn einen Moment lang nachdenklich. Konnte es sein, dass der Brünette ihn doch nicht hasste – jedenfalls nicht mehr so sehr wie gleich nach ihrer ersten Begegnung im Restaurant? Jetzt fang bloß nicht mit dem Scheiß an, ermahnte der Siebzehnjährige sich selbst und schüttelte innerlich den Kopf über die Hoffnung, die sich bei diesen Gedankengängen in sein Herz stehlen wollte. Das waren Wunschträume, nichts weiter. Seto würde seine Gefühle niemals erwidern, also sollte er besser gleich aufhören, darüber nachzudenken. Irgendwann – spätestens in sechs Monaten, wenn er wieder zurück zu seinem Vater nach Amerika flog – würden seine Gefühle für seinen älteren Stiefbruder schon wieder nachlassen. Jedenfalls hoffte er das ganz stark. Ansonsten hatte er, falls er doch noch einmal nach Japan zurückkehren sollte, ein ziemlich großes Problem. Wenn ich wieder zu Dad zurückfliege, werd ich hoffentlich auch endlich damit aufhören, ständig an diese bescheuerte Party und den blöden Kuss zu denken. Das hatte doch sowieso nichts zu bedeuten. Oder zumindest nicht das, was ich mir wünsche. Dass er den Kuss alles andere als blöd gefunden hatte und dass er Seto eigentlich nur aufgrund seiner verletzten Gefühle, von denen dieser nichts wusste und auch niemals etwas erfahren sollte, geohrfeigt hatte, verdrängte der Schwarzhaarige ganz schnell. Bloß nicht darüber nachdenken. Nicht schon wieder. Immerhin hatte er erst in der vergangenen Nacht – wieder einmal, sehr zu seinem Leidwesen – von diesem Samstagabend geträumt. Nur war es in seinem Traum so gewesen, dass Seto ihn im vollen Bewusstsein geküsst hatte, wer da am anderen Ende seiner Lippen gewesen war. Und er selbst hatte es genossen – sehr sogar. Eigentlich sogar mehr als das. Aber so etwas würde niemals wirklich passieren, also wurde es langsam Zeit, sich endlich damit abzufinden. Seto, der den Schwarzhaarigen unablässig beobachtet hatte, zog seine Braue noch etwas höher, als er sah, wie ein Schatten über das Gesicht seines Stiefbruders huschte. Mit einem Mal schienen seine grünen Augen nicht mehr zu funkeln, sondern wirkten geradezu leblos und erloschen – ganz so, als kämpfte ihr Besitzer gerade mit unschönen Gedanken oder Erinnerungen. Dieser Anblick gefiel Seto ganz und gar nicht, doch warum das so war, wusste er nicht zu sagen. Er wusste nur, dass er Ryuuji auf keinen Fall so sehen wollte. Ein Lächeln stand ihm einfach besser zu Gesicht als so ein trauriger Blick. Weitere hastige Schritte auf der Treppe unterbrachen die Gedanken der beiden Jungen in der Küche. Beide sahen gleichzeitig auf, als urplötzlich ein schwarzer Schopf um die Ecke geschossen kam und atemlos in der Küchentür stehen blieb. "Ach, hier ... seid ihr", japste Mokuba, der gerade zu aufgekratzt und auch zu sehr außer Atem war, um sich Gedanken darüber zu machen, warum sein Bruder und sein Stiefbruder friedlich zusammen in der Küche standen, sich miteinander unterhielten und sich offenbar noch nicht gestritten hatten. "Ich wollte ... euch zum ... Frühstück wecken, aber ... eure Betten waren ... beide leer", keuchte der Fünfzehnjährige und blinzelte verwirrt, als sein Stiefbruder urplötzlich anfing zu lachen. Was war denn jetzt los? Hatte er irgendetwas Komisches gesagt, ohne es selbst zu bemerken? Hatte er sich gerade mit seinem Gejapse vielleicht in irgendeiner Form blamiert – ausgerechnet vor seinen beiden älteren Brüdern, vor denen er sich auf keinen Fall eine Blöße geben wollte? Ryuuji hielt sich mit einer Hand an der hinter ihm befindlichen Arbeitsplatte fest, um nicht umzufallen. Die andere Hand presste er auf seinen vor Lachen schon schmerzenden Bauch. Himmel, der Kleine war eindeutig zu goldig! Wie konnte man nur so putzig sein? Von wem mochte er das wohl haben? Und wie schaffte er es eigentlich immer, seine trüben Gedanken und seine Anspannung mit nur ein paar Worten oder einer kleinen Geste zu vertreiben? Seto hob ebenso verwundert wie sein kleiner Bruder eine Braue. Was war denn jetzt bitteschön los? Hatte er einen Witz Mokubas verpasst? Als er jedoch die Worte seines Stiefbruders – "Goodness, Mokuba, Du bist vielleicht süß!" – hörte, krampfte sich in seinem Inneren etwas zusammen und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Verdammt, warum störten ihn diese Worte bloß so? Eigentlich konnte es ihm doch egal sein, ob der Siebzehnjährige seinen leiblichen Bruder als ›süß‹ bezeichnete oder nicht. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht nachvollziehen konnte, war das allerdings nicht der Fall. Im Gegenteil, es wurmte ihn. Sehr sogar, wenn er ehrlich wahr. Bevor Seto sich allerdings noch mehr über seine seltsamen Gedanken wundern oder sich über das vertraute Verhalten seines Bruders und seines Stiefbruders ärgern konnte, stieß Ryuuji sich von der Arbeitsplatte ab, schob sich die letzten zwei Weintrauben in den Mund und kam dann auf die Tür zu. "Ich glaub, ich geh mich mal eben richtig anziehen, bevor wir zusammen frühstücken", informierte er die beiden, drückte Mokuba im Vorbeigehen kurz an sich und sprintete dann fröhlich pfeifend die Treppen hoch in Richtung seines Zimmers. Nach dem Auftritt des Kleinen war seine Laune gleich wieder deutlich gestiegen. Das Gesicht des Fünfzehnjährigen begann augenblicklich wieder zu glühen, als sein Stiefbruder ihn umarmte. Es war ihm zwar einerseits unglaublich peinlich, aber andererseits genoss er das warme Gefühl, das sich jedes Mal in seinem Bauch ausbreitete, wenn Ryuuji ihm so nah war, sehr. Ob Ryuuji mal so richtig mit ihm kuscheln würde – so, wie Seto und er es früher manchmal getan hatten, als sie beide noch jünger gewesen waren –, wenn er ihn fragte? "Gehen wir schon mal ins Esszimmer." Die Stimme seines älteren Bruders riss Mokuba aus seinen Gedanken und er sah aus großen Augen zu ihm auf. Irrte er sich oder machte Seto einen verärgerten Eindruck? "Okay", stimmte er zu und legte fragend den Kopf schief, während er seinem Bruder folgte. "Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Nii-san?", wollte er dann von diesem wissen. Irgendwie war Seto gerade seltsam. Sehr seltsam sogar. "Was sollte denn nicht in Ordnung sein?", fragte Seto zurück, als sie im Esszimmer angekommen waren. Dort setzte er sich auf seinen angestammten Platz und wartete, bis Mokuba es ihm gleichgetan hatte. Dann schüttelte er den Kopf. "Nein, es ist alles in bester Ordnung.", beantwortete er die Frage seines kleinen Bruders mit einiger Verspätung schlussendlich doch noch und dieser sah ihn einen Moment lang prüfend an, bevor er schließlich mit den Schultern zuckte. Es war offensichtlich, dass er kein Wort glaubte, aber darüber ging Seto einfach hinweg, indem er tat, als merke er es nicht. Was hätte er seinem kleinen Bruder auch sagen sollen? Wie hätte er ihm erklären sollen, dass bei jeder Umarmung, die er mit ansah, die Erinnerung daran wieder hochkam, dass Ryuuji ihn auch schon einmal so umarmt hatte? Wie sollte er erklären, dass er jedes Mal förmlich damit rechnete, dass er es wieder tun würde? Und wie sollte er erklären, dass er jedes Mal gleichermaßen erleichtert wie enttäuscht war, wenn es eben nicht passierte? Nein, das war nichts, was Mokuba verstehen würde. Immerhin verstand Seto sich in dieser Hinsicht ja selber nicht. Keine fünf Minuten, nachdem er zum Umziehen nach oben gesaust war, kam Ryuuji gut gelaunt nach unten ins Esszimmer und ließ sich auf den freien Stuhl neben Mokubas Platz fallen. Inzwischen hatte er seine Haare, die vorhin noch offen über seine Schultern gehangen hatten, wieder wie üblich zusammengebunden und das Hemd, das er getragen hatte, gegen ein einfaches schwarzes Shirt getauscht. "Guten Morgen erst mal, ihr Zwei", grüßte er fröhlich und zwinkerte dem Jüngsten am Tisch zu. Dessen Gesicht lief gleich wieder feuerrot an, doch das schien Ryuuji nicht zu bemerken. Stattdessen sah er sich suchend um, aber scheinbar waren sie Drei und Isono, der gerade das Esszimmer betrat, an diesem Morgen die Einzigen, die zum Frühstück erschienen waren. Nun ja, das war allerdings auch nur zu verständlich. Schließlich hatten seine Mutter und ihr frischgebackener Ehemann im Augenblick sicherlich Besseres zu tun als auch nur einen Gedanken an ein Familienfrühstück zu verschwenden. Wäre jedenfalls, dachte Ryuuji, schade für die beiden, wenn es nicht so wäre. "Guten Morgen, Seto-san, Mokuba-san, Ryuuji-san", begrüßte Isono die drei Jungen leise und setzte sich ebenfalls an den Tisch, nachdem sein Gruß von allen Dreien erwidert worden war. Die Vier frühstückten in gemütlich und mehr – in Setos und Isonos Fall – oder weniger – in Ryuujis und Mokubas Fall – schweigend. Nachdem sie fertig waren, war Seto der Erste, der sich vom Tisch erhob. "Wohin gehst du, Nii-san?", erkundigte Mokuba sich neugierig, erhielt aber keine Antwort, sondern erntete nur Schweigen. "Sag mal, ist der eigentlich immer so?", wollte Ryuuji wissen, sobald Seto das Esszimmer verlassen hatte. Der Fünfzehnjährige seufzte abgrundtief und nickte dann. "Ja, meistens. Seto hat einfach keine Ahnung, wie man Spaß hat oder etwas lockerer wird", klagte er und Ryuuji zwinkerte ihm grinsend zu. Himmel, war der Kleine goldig! "Na, dafür hast Du ja jetzt mich." Bei diesen Worten seines Stiefbruders wurden Mokubas Augen groß und rund. Meinte er das etwa wirklich ernst? Waren diese Worte tatsächlich das Angebot, nach dem sie sich in seinen Ohren anhörten? Konnte er wirklich so viel Glück haben, dass sein Stiefbruder tatsächlich etwas mit ihm unternehmen wollte? Wollte Ryuuji wirklich seine Zeit mit ihm verbringen – und das auch noch vollkommen freiwillig? "Irgendwelche bestimmten Pläne für den heutigen Tag, hm, Kleiner? Irgendwas, was du heute gerne mit mir unternehmen würdest?" Der Angesprochene blinzelte zweimal verwirrt, doch dann begann er, über das ganze Gesicht zu strahlen und nickte hektisch. Heute war ganz eindeutig sein Glückstag! Eine andere Erklärung fiel ihm einfach nicht ein. "Ja, schon. Aber ... aber ich weiß nicht ... vielleicht hast Du ja keine Lust oder so", haspelte er dann und Ryuujis Grinsen wurde noch eine Spur breiter, als die Wangen des Fünfzehnjährigen sich rot färbten. "Probier's doch einfach mal aus, Mokuba. Frag mich", schlug er vor und die Gesichtsfarbe des Jüngeren verdunkelte sich noch etwas mehr. "O-Okay", stotterte er und atmete tief durch, bevor er all seinen Mut zusammennahm und den Größeren fragend und bittend zugleich ansah. "Ich würde wahnsinnig gerne einfach nur ein bisschen mit dir k-kuscheln." Nachdem er diese Worte tatsächlich ausgesprochen hatte, hielt Mokuba erschrocken den Atem an. Hatte er das jetzt etwa wirklich laut gesagt? Ernsthaft? Oh, bitte nicht! Das war doch peinlich! Warum gab es denn nie eine Möglichkeit, sich zu verkriechen, wenn man mal wirklich ganz dringend eine brauchte? Ryuuji hielt ihn doch jetzt sicher für einen totalen Idioten! Ryuujis Augen weiteten sich erstaunt, als er hörte, was der Kleine mit ihm tun wollte. Kuscheln? Er will echt kuscheln? Mit mir?, fragte er sich ungläubig und dachte einen Augenblick lang darüber nach, ob er dadurch nicht mehr über sich verraten würde, als er preisgeben wollte. Dann allerdings schüttelte er innerlich über sich selbst und seine seltsamen Gedankengänge den Kopf. Nur durch eine kleine Kuschelrunde würde sein jüngerer Stiefbruder noch lange nicht gleich merken, dass er schwul war. Es ging ja schließlich nur um ein bisschen Kuscheln, sonst nichts. Außerdem schien der Junge das nicht oft zu bekommen, also konnte er wirklich Nein sagen? Ein Blick in die großen, flehenden blauen Augen, die immer noch auf ihn gerichtet waren, und Ryuuji gab sich geschlagen. Nein, er konnte Mokuba einfach nicht enttäuschen. Dafür war der Kleine viel zu süß. "Okay. Dann lass uns aber ins Wohnzimmer rübergehen, ja?" Mokuba glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Ryuuji hatte sich tatsächlich einverstanden erklärt! "Super!" Und schon war der Junge aufgesprungen und nach nebenan ins Wohnzimmer geflitzt. Sein Stiefbruder folgte ihm etwas langsamer. Dabei grinste er still vor sich hin. Der Kleine war wirklich zu niedlich. So übereifrig und begeistert – das tat seinem angeschlagenen Ego einfach gut. Im Wohnzimmer angekommen ließ Ryuuji sich auf die Couch fallen, machte es sich bequem und blickte Mokuba dann auffordernd an. "Na, dann komm mal her, Kleiner", verlangte er und der Fünfzehnjährige zögerte einen Moment, bevor er sich selbst in Gedanken einen Feigling schimpfte und der Einladung Folge leistete. Immerhin hatte er ja schließlich darum gebeten, da konnte er doch jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Wie hätte das denn ausgesehen? Ryuuji schmunzelte, als der Kleinere seinen Kopf auf seinem Schoß bettete und sich dann lang und gemütlich auf der Couch ausstreckte. "Irgendwie kommt mir das bekannt vor", murmelte er und begann, über die schwarzen Haare des Jungen zu streicheln. Mokuba drehte sich ein wenig und sah dann aus großen Augen zu ihm auf. "Wirklich? Woher?", wollte er neugierig wissen und aus Ryuujis Schmunzeln wurde ein Grinsen. "Von Kats und mir. So was machen wir oft, weißt Du? Manchmal braucht man das einfach", erwiderte er und seufzte leise. "Ich kuschele einfach gerne. Und er auch", gab er zu und die blauen Augen des Kleinen wurden noch ein Stückchen größer. "Ist das denn nicht irgendwie komisch? Ich meine, ihr ... na ja, ihr seid doch beide Jungs. Das ist ... ich weiß nicht ..." Hilflos brach der Jüngere ab und errötete heftig, doch wenn er erwartet hatte, dass sein Stiefbruder sich über ihn lustig machen würde, dann hatte er sich getäuscht. Ryuuji schüttelte einfach nur den Kopf, ohne seine Streicheleinheiten zu unterbrechen. "Warum sollte das denn komisch sein? Mädchen kuscheln doch auch miteinander. Warum sollten Jungs das nicht dürfen? Nur, weil irgendjemand es vielleicht falsch verstehen könnte?" Dass es diesbezüglich weder bei seinem besten Freund noch bei ihm etwas falsch zu verstehen gab, weil sie sich beide zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlten und sich kein bisschen für Mädchen interessierten, behielt der ältere Schwarzhaarige für sich. Das musste der Kleine wirklich nicht wissen. Das gäbe nur Probleme und er hatte seiner Mutter schließlich versprochen, dass er diesbezüglich seine Klappe halten würde, solange er hier bei ihr war. Mokuba zog nachdenklich die Stirn kraus. Irgendwie klang das, was Ryuuji sagte, schon ziemlich logisch. "Das ist dann also nichts Schlimmes oder so?", hakte er trotzdem noch einmal sicherheitshalber nach und seufzte beruhigt, als Ryuuji wieder den Kopf schüttelte. "Nein. Warum auch? Gut, es gibt immer noch genügend Idioten, die so etwas falsch verstehen, aber man muss ja nicht jedem erzählen, wann oder mit wem man kuschelt, meinst Du nicht auch?", gab er zurück und der Fünfzehnjährige strahlte ihn von unten herauf überglücklich an. Die Tatsache, dass sein Stiefbruder ihm ganz offenbar jetzt schon so weit vertraute, dass er ihm etwas derart Persönliches erzählte – und das, obwohl sie sich ja nun noch nicht besonders lange kannten –, bedeutete ihm wirklich viel. Außerdem tat es unheimlich gut, dass Ryuuji ihn unablässig weiterhin streichelte und ihn zwischendurch sogar ein wenig im Nacken kraulte. Ryuuji machte das wirklich gut. Er hatte eindeutig sehr geschickte Finger. oOo "Denkst du, unsere drei Söhne kommen miteinander klar, so ganz alleine? Sollten wir nicht vielleicht mal nach ihnen sehen?" Unsicher sah Yukiko, die erst ein paar Minuten zuvor aufgewacht war, ihren frischgebackenen Ehemann an. Gozaburo überlegte einen Augenblick, dann nickte er. Ihre Sorge um die drei Jungen rührte ihn ebenso wie die Tatsache, dass sie nicht von seinen Söhnen und ihrem Sohn, sondern von ihren ›drei Söhnen‹ gesprochen hatte. "Ich bin mir sicher, sie werden sich schon zusammenraufen", erwiderte er und lächelte. Dieses Geschenk des Himmels, das seine Frau – dieses Wort ließ er sich genüsslich auf der Zunge zergehen – nun einmal war, sah einfach hinreißend aus, wenn sie noch so von der vorangegangenen Nacht zerzaust und nur von der Bettdecke verhüllt neben ihm in ihrem gemeinsamen Ehebett lag. "Ich sehe Dir an der Nasenspitze an, was Du in diesem Augenblick denkst." Yukiko errötete leicht, lächelte ihren Liebsten aber dennoch an. Gozaburo erwiderte das Lächeln mit gleicher Münze, bevor er sich zur Seite beugte und sie zärtlich küsste. Dabei zog er sie wieder wie in der vergangenen Nacht an sich, doch sie löste sich aus seiner Umarmung und legte fragend den Kopf schief. "Und was ist mit dem Frühstück? Ich dachte, ihr frühstückt an jedem Sonntag alle zusammen?", erkundigte sie sich. Auf keinen Fall wollte sie eine solche Familientradition unterbrechen und dadurch vielleicht einen Streit provozieren. Ihr Mann warf einen Blick auf die Leuchtanzeige des Weckers auf seinem Nachttisch, der inzwischen beinahe halb zwölf anzeigte, dann schüttelte er den Kopf. "Dafür sind wir jetzt sowieso schon viel zu spät dran. Außerdem denke ich nicht, dass vor dem Mittag überhaupt jemand mit uns beiden rechnet", gab er zurück und nahm seine Frau wieder in seine Arme. Dieses Mal wehrte Yukiko sich nicht gegen die Umarmung, sondern schmiegte sich stattdessen überglücklich an den Mann, dessen Frau sie am Vortag geworden war. oOo Seto war, nachdem er das Esszimmer verlassen hatte, gleich nach oben in sein Zimmer gegangen. Er brauchte einfach noch eine Weile, um sich daran zu gewöhnen, dass er Ryuuji jetzt jeden Tag sehen würde. Jedenfalls redete er sich das ein, während er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen auf und ab lief und deutlich sichtbare Spuren seiner inneren Unruhe auf dem weichen hellblauen Teppich hinterließ, mit dem sein Zimmer ausgelegt war. Verdammt, dass er so nervös und aufgewühlt war, lag ganz sicher nur an den Veränderungen, die sich so kurzfristig in seinem Leben ergeben hatten. Ganz bestimmt waren sie nicht die Schuld seines Stiefbruders. Oder zumindest nicht nur. Sicher, an dessen ständige Anwesenheit würde er sich erst noch gewöhnen müssen, aber es war ja wohl nichts allzu Schlimmes, Ryuuji morgens hin und wieder nur halb bekleidet in der Küche anzutreffen. Immerhin ließ er selbst sich ja auch ab und zu dazu hinreißen, sich nur eine Hose und ein Shirt anzuziehen und so durch die Villa zu laufen – besonders dann, wenn er im Pool unten im Keller gewesen war. Er war heute Morgen aber nicht im Pool. Er ist erst kurz zuvor aufgestanden. Läuft er etwa immer so herum, wenn er gerade aus dem Bett kommt? Die langen, offenen Haare, die bloßen Füße, das nicht zugeknöpfte Hemd – eine solche Nachlässigkeit bei seiner Kleidung legte Seto selbst höchstens dann an den Tag, wenn er es aus irgendeinem Grund ausgesprochen eilig hatte oder wenn er genau wusste, dass – außer seinem Bruder, seinem Vater und, wenn es hochkam, höchstens noch Isono – niemand da war, der ihn so sehen konnte. Nun ja, er ist Amerikaner. Zumindest zur Hälfte. Der Grund dafür, dass er einfach nicht aufhören konnte, über seinen Stiefbruder nachzudenken, wollte sich Seto partout nicht erschließen. Er wusste nur, dass er die Gedanken an den Schwarzhaarigen – der, wie er inzwischen wusste, Ende Februar achtzehn werden würde – einfach nicht abstellen konnte. Wie er es auch drehte und wendete und was er auch versuchte, immer wieder kam er irgendwie auf Ryuuji zurück. Das ist vollkommen absurd!, rief Seto sich selbst zur Ordnung und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Wenn das so weiterging, würde er ganz sicher noch wahnsinnig werden. Vielleicht sollte ich runter zum Pool gehen und ein paar Runden schwimmen. Das klang doch wie eine ausgesprochen gute Idee. Beim Schwimmen hatte er bisher noch immer seinen Kopf freibekommen, also ging der Brünette kurz entschlossen nach unten in den Keller. Handtücher und seine Badehosen befanden sich in der Nähe des Pools, also stand ein paar entspannenden Runden im kühlen Nass nichts mehr im Weg. Kapitel 13: Wasserschlacht und Fernsehabend ------------------------------------------- "Sag mal, gehst du eigentlich gerne schwimmen?" Mokubas leise Frage riss Ryuuji aus seinen Gedanken und er senkte den Blick, um dem Kleinen ins Gesicht sehen zu können. Der Fünfzehnjährige, der jetzt schon seit ein paar Stunden träge auf seinem Schoß lag und sich genüsslich seufzend streicheln und kraulen ließ, blickte aus halbgeschlossenen blauen Augen auf und Ryuuji nickte lächelnd. Der Kleine war wirklich zu goldig! "Ja, klar. Wer tut das nicht?", fragte er zurück und ein durch und durch zufriedenes Lächeln erschien auf den Lippen des Kleineren. "Das ist gut. Wir haben nämlich einen Pool unten im Keller. Wollen wir nachher mal zusammen runtergehen und ein bisschen schwimmen? Das würde sicher Spaß machen", bot er an und der hoffnungsvolle Blick aus den blauen Augen sorgte dafür, dass Ryuujis Lächeln sich noch ein bisschen vertiefte. "Können wir gerne machen." In der Tat klang das nach einer wirklich netten Idee für den Nachmittag. Mit dem Kleinen ein bisschen im Pool rumzuplanschen und auf diese Weise etwas überschüssige Energie abzubauen würde ihm sicher gut tun. Immerhin stand ihm die andere Option, die er im letzten Jahr hatte nutzen können – Sex, um genau zu sein –, derzeit ja leider nicht mehr offen. Katsuya hatte inzwischen schließlich Bakura und der wäre sicher nicht begeistert, wenn zwischen ihm und dem Blondschopf noch einmal etwas in der Richtung passieren würde. Wahrscheinlich würde er mich eiskalt killen. Sein bester Freund hatte ihm schließlich im Laufe der vergangenen Woche irgendwann einmal erzählt, wie eifersüchtig der Weißhaarige auf ihn und das gewesen war, was im vergangenen Jahr zwischen ihnen gelaufen war. Auf keinen Fall, dachte Ryuuji, wollte er dem Freund des Blonden Grund dazu geben, wieder eifersüchtig auf ihn zu sein. Das wäre sicher ganz, ganz schlecht für seine Gesundheit. Außerdem, erinnerte er sich, hatte Bakura sich ihm gegenüber die ganze Woche über zusammengenommen und sich sogar bemüht, annähernd so etwas wie Freundlichkeit an den Tag zu legen – etwas, was er sicher nur Katsuya zuliebe getan hatte, was Ryuuji aber trotzdem durchaus zu würdigen wusste. Schließlich war es ganz sicher nicht alltäglich, dass Bakura etwas anderes als ein unwilliges Brummen als Antwort von sich gab. Ganz bestimmt war es ein ziemliches Privileg, dass er mit ihm sogar ganze Sätze sprach. Oft tat er das sicher nicht. "Das ist klasse!" Mokubas freudiger Ausruf unterbrach die Grübeleien seines Stiefbruders über seinen besten Freund und dessen Freund und ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Wie konnte man nur so niedlich sein wie der Kleine, der noch immer halb auf seinem Schoß lag und sich ganz offenbar wirklich wahnsinnig darüber freute, dass er zugestimmt hatte, noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen? Der Fünfzehnjährige zögerte noch einen Moment – seine derzeitige Position war viel zu bequem, um einfach so aufzustehen –, doch dann rang er sich dazu durch, sich von der Couch zu schwingen. Sobald er sicher stand, wollte er seinem Stiefbruder die Hand reichen, um diesem aufzuhelfen, aber Ryuuji war schneller als er und streckte sich bereits. Dabei rutschte sein Shirt hoch und gab den Blick frei auf die tätowierte Sonne. Mokuba legte neugierig den Kopf schief. Irgendwie hätte er zu gerne gefragt, woher und wie lange der Ältere dieses Tattoo schon hatte, aber das traute er sich dann doch noch nicht. Kann ich ja auch später noch machen. Ryuuji läuft mir ja nicht weg. Schließlich gehört er ja jetzt zur Familie. Dieser Gedanke ließ den Jungen gleich wieder lächeln. Es war einfach schön, jetzt eine richtige Familie zu haben – so, wie sein Freund Yuugi, beispielsweise. Sicher, Ryous Eltern waren auch seit zwei Jahren geschieden und seine Mutter war aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, ohne ihren jüngsten Sohn mitzunehmen – was ja auch der Grund dafür war, dass der Weißhaarige seinen älteren Bruder nur so selten sah, denn dieser war mit der Mutter gegangen, zu der sein Vater ihm jeden Kontakt strikt untersagt hatte –, aber Yuugis Familie hatte auf Mokuba immer sehr glücklich gewirkt. Yuugis Eltern, sein großer Bruder Yami und nicht zuletzt der kauzige Großvater mit der Schwäche für alles, was Ägyptisch war – um all das hatte der Fünfzehnjährige seinen bunthaarigen Freund immer beneidet. Natürlich lief auch bei den Mutos längst nicht alles perfekt – eine wirklich perfekte Familie gab es schließlich nicht –, aber trotzdem waren sie eine richtige Familie. Und seit gestern habe ich auch wieder eine. Mokuba zweifelte nicht daran, dass sein Vater jetzt, wo er zum zweiten Mal verheiratet war, beruflich etwas kürzer treten würde. Aber auch wenn er das nicht tun sollte, so war immer noch Yukiko-san da. Seine neue Mutter. Seine wunderschöne, freundliche neue Mutter. Seine neue Mutter, die am Vortag bei der Trauung und auch danach auf der Feier so bezaubernd ausgesehen hatte, dass der Junge sich sicher war, dass sie die schönste Frau der Welt war. Gut, das mochte eine rein subjektive Empfindung sein, aber das war ihm egal. "Träumst du, Mokuba?" Ryuuji grinste breit, als der Kleinere ertappt zusammenfuhr. "Hey, das ist schon okay. Mach Dir keinen Kopf deswegen. Manchmal muss das einfach sein", beruhigte er den Fünfzehnjährigen und lachte, als dessen Gesicht puterrot anlief. Himmel, woher hatte der Junge diese Niedlichkeit nur? Von seinem älteren Bruder ganz sicher nicht. Seto mochte einiges sein, aber niedlich war er auf keinen Fall. Nein, Seto ist eine andere Kategorie, schoss es Ryuuji durch den Kopf und er seufzte unhörbar. Warum konnte er eigentlich nicht endlich damit aufhören, an den Brünetten zu denken – und das auch noch in der Art, wie er es nun mal tat? Na, dass ich ihn attraktiv finde, kann ich nicht leugnen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass er mehr für seinen älteren Stiefbruder empfand, als gut für ihn war. Aber das würde schon irgendwann wieder aufhören. Die Sache mit Katsuya war schließlich auch im Sande verlaufen. Warum also sollte es ausgerechnet bei Seto anders sein? Mokuba schüttelte über sich selbst den Kopf, um seine Gedanken zu vertreiben. Das alles war so neu und aufregend, aber er wollte vor seinem Stiefbruder auf keinen Fall wie ein Idiot oder – noch schlimmer – wie ein Kleinkind dastehen. Er war immerhin schon fünfzehn und würde in ein paar Monaten sechzehn werden. Da war so ein Benehmen, wie er es gerade an den Tag legte, einfach nur peinlich. "Okay, dann lass uns gehen, ja?" Mokuba griff nach Ryuujis Arm, um diesen mit nach unten zu ziehen, doch dieser machte sich los. "Warte mal, Kleiner. Ich sollte vielleicht erst mal meine Badehose holen, meinst du nicht auch? Immerhin muss ich ja nicht unbedingt nackt in den Pool hopsen, oder was meinst du?", fragte er und lachte, als die Wangen des Jungen sich bei diesen Worten wieder heftig röteten. "O-Okay. Fi-Findest du den Weg, wenn ich ihn dir erkläre? Sonst warte ich hier auf dich", murmelte Mokuba, während er dem Blick seines Stiefbruders auswich und sich gleichzeitig ein Loch zum Verkriechen wünschte. Verdammt, warum bekam er seine Gesichtsfarbe bloß nicht unter Kontrolle? Das war doch einfach nur todpeinlich! Er benahm sich eindeutig wie ein unreifes Kind. Was sollte Ryuuji denn von ihm denken? "Passt schon. Ich bin ja nicht ganz blöd." Gut, bis er sich in dieser riesigen Villa ganz alleine zurechtfinden würde, würden sicher noch ein paar Wochen vergehen, aber den Pool im Keller würde er schon finden, wenn der Kleine ihm den Weg erklärte. Jedenfalls hoffte Ryuuji das. Nachdem er eine sehr ausführliche Wegbeschreibung bekommen hatte, nickte er Mokuba zu und sprintete nach oben, um sich umzuziehen, während der Fünfzehnjährige schon mal vorging nach unten. oOo Seto hatte unterdessen bereits ein paar Bahnen unten im Pool gezogen, aber wirklich viel ruhiger fühlte er sich immer noch nicht. Normalerweise half ihm das Schwimmen beim Abschalten, aber sehr zu seinem Leidwesen war das heute nicht der Fall. Noch immer kreisten seine Gedanken beinahe ständig um seinen Stiefbruder. Egal, wie sehr er sich bemühte, das abzustellen, es gelang ihm einfach nicht. Seufzend tauchte er unter und schwamm unter Wasser weiter – so lange, bis ihm die Luft ausging und er prustend wieder an die Oberfläche kommen musste. Warum in aller Welt beherrschte Ryuuji seine Gedanken nur so sehr? Warum konnte er sich nicht von diesen grünen Katzenaugen, die ihn immer so intensiv ansahen, losreißen? Warum? Seto verstand es einfach nicht. So in seine Grübeleien verstrickt entging ihm völlig, dass sein kleiner Bruder nach unten kam und in einer der Umkleidekabinen verschwand, um sich eine Badehose anzuziehen. Auch Mokuba bemerkte seinen Bruder nicht, denn dieser war zu dem Zeitpunkt, als er nach dem Umziehen wieder hereinkam und sich auf eine der Liegen setzte, um auf seinen Stiefbruder zu warten, gerade unter Wasser. Als Ryuuji schließlich den Pool erreichte – er hatte sich in seinem Zimmer bereits umgezogen und sich dank der Wegbeschreibung des Fünfzehnjährigen auch nicht verirrt –, winkte Mokuba ihm hektisch zu und sprang von seinem Liegestuhl auf. "Da bist du ja!", freute er sich und auch der ältere Schwarzhaarige konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es war wirklich schön, dass es jemanden gab, der sich so über seine Anwesenheit freute. Das tat seinem Ego richtig gut. "Klar. Ich kann dich doch nicht warten lassen", erwiderte er daher, zog seine Hose und sein Shirt aus und fand sich im nächsten Augenblick nach einem Schubs von Mokuba auch schon im angenehm temperierten Wasser des Pools wieder. Prustend tauchte er wieder auf und warf dem Kleinen einen gespielt bösen Blick zu, der diesen zum Quieken brachte. "Na warte, Kleiner! Das hast du nicht umsonst getan! Meine Rache wird fürchterlich sein!", drohte er und Mokuba quiekte erneut, bevor er mit Anlauf ebenfalls in den Pool sprang. "Dafür musst du mich aber erst mal kriegen!", lachte er und versuchte, wegzuschwimmen. Irgendwie hatte er so eine Ahnung, dass er durchgekitzelt werden würde, wenn Ryuuji ihn erwischte – und das, wo er doch so unheimlich empfindlich war! Nein, da ging er lieber auf Nummer Sicher und brachte Abstand zwischen sie beide. Ryuuji, der damit gerechnet hatte, tauchte unter und wollte Mokuba folgen, als er sich unversehens einem anderen Paar azurblauer Augen gegenübersah, die er überall wiedererkannt hätte. Erschrocken stieß er die angehaltene Luft aus, tauchte wieder auf und hustete. Verdammt, warum? Warum musste Seto ausgerechnet jetzt auch hier unten sein? Das war verflucht noch mal nicht fair! Seto, dem ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen, tauchte ebenfalls auf und legte seinen kühlstmöglichen Blick auf, um seinen Stiefbruder zu mustern. Verdammt, warum war er hier? Und warum ausgerechnet jetzt? Reichte es denn nicht, dass er sich sowieso die ganze Zeit schon den Kopf über ihn zerbrach? Musste Ryuuji jetzt auch noch herkommen und ihm unter die Nase reiben, dass er seit dem Vortag jedes Recht hatte, hier zu sein? "Was machst du hier?" Die kühle Frage des Brünetten ließ Ryuuji aufsehen, nachdem er sich wieder etwas gefangen hatte. Smaragdgrün traf auf Azurblau und der Siebzehnjährige schluckte schwer, versuchte aber, sich nichts von dem Aufruhr in seinem Inneren anmerken zu lassen. Dennoch schlug ihm sein Herz bis zum Hals. Als Seto ihm das letzte Mal so nah gewesen war, hatte er ihn kurz darauf geküsst. Und dann ... "Oh, hallo, Nii-san. Ich wusste nicht, dass du auch hier bist. Als ich runterkam, habe ich dich gar nicht gesehen. Wir stören dich doch nicht, oder?" Mokuba, der die ersten Anzeichen eines Streits wahrgenommen zu haben glaubte, hatte sich schnell wieder umgedreht und war zu Ryuuji zurückgeschwommen, als er die Stimme seines älteren Bruders gehört hatte. Auf keinen Fall wollte er, dass Seto ihren Stiefbruder für die Störung verantwortlich machte. Immerhin war das mit dem Pool ja seine Idee gewesen. Der Angesprochene warf einen Blick zu seinem kleinen Bruder und schüttelte dann den Kopf. "Das ist schon in Ordnung." Er konnte Mokuba schließlich kaum verbieten, den Pool zu benutzen, in dem er als Kind das Schwimmen gelernt hatte. Immerhin war der Fünfzehnjährige hier ebenso zu Hause wie er – und wie nun auch Ryuuji. Trotzdem musste er über die Anwesenheit seines Stiefbruders ja nicht gleich in endlose Begeisterungsstürme ausbrechen, oder? Ryuuji, dem der kühle Unterton in der Stimme des Brünetten nicht entgangen war, seufzte abgrundtief. Super, wirklich. Da hatte er Mokubas Vorschlag zugestimmt, um endlich mal nicht mehr an Seto zu denken, und was passierte? Er begegnete natürlich ausgerechnet dem Menschen, den er im Augenblick eigentlich am wenigsten sehen wollte. Das war so traurig und so vorhersehbar, dass es eigentlich schon fast wieder zum Lachen war. "Na, wenn wir nicht stören, dann ist ja gut." Ryuuji beschloss, sich nicht von seinen Gedanken verrückt machen zu lassen. Stattdessen begann er zu grinsen und im nächsten Moment hatte sein älterer Stiefbruder, der ihm noch immer viel zu nah war, eine Ladung Wasser im Gesicht – der Auftakt einer Wasserschlacht, in die Mokuba gleich voller Begeisterung einstieg. Im ersten Moment war Seto vollkommen überrumpelt, doch als er plötzlich von zwei Seiten mit Wasser bespritzt wurde, konnte auch er ein grimmiges Grinsen nicht mehr unterdrücken. "Ihr wollt also Krieg, ja? Den könnt ihr haben. Legt euch besser nicht mit mir an!", drohte er und begann nun seinerseits, die beiden Jüngeren nach allen Regeln der Kunst nasszuspritzen. oOo "Isono-san, haben Sie die Jungs gesehen?" Yukiko, die gemeinsam mit ihrem Mann nach unten gekommen war, um mit ihren drei Söhnen zu Abend zu essen – inzwischen war es schon beinahe sieben Uhr; Gozaburo und sie waren einfach nicht eher aus dem gemeinsamen Bett gekommen, erinnerte sie sich errötend –, sah den Trauzeugen ihres Liebsten fragend an. "Ryuuji-san ist gemeinsam mit Mokuba-san und Seto-san unten im Pool", informierte der Angesprochene die Frau seines Arbeitgebers und Gozaburo, der die Worte seines Assistenten gehört hatte, lächelte zufrieden. "Siehst du, du hast dir vollkommen umsonst Sorgen gemacht", sagte er und Yukiko lächelte ebenfalls. "Es sieht so aus. Und ich bin froh darüber, wenn ich ehrlich bin." Es tat ihr unheimlich gut zu wissen, dass ihr Junge mit seinen Stiefbrüdern doch besser auskam, als es anfangs den Anschein gemacht hatte. Vielleicht freundete Ryuuji sich ja wirklich noch richtig mit Seto und Mokuba an. Das war jedenfalls, wenn sie ehrlich war, einer ihrer größten Wünsche. Ihr Sohn hatte so wenige Freunde – genau genommen hatte er hier in Japan nur Katsuya und sonst niemanden –, dass zwei mehr ihm sicher gut tun würden. "Ich glaube, dann sollten wir sie im Augenblick lieber nicht stören. Wenn sie Hunger bekommen, werden sie schon nach oben kommen, meinst du nicht auch?" Gozaburos Worte rissen Yukiko aus ihren Gedanken. Sie sah zu ihm auf und nickte lächelnd. "Da hast du vollkommen Recht", stimmte sie ihm zu und ihr Lächeln vertiefte sich noch etwas, als ihr frischgebackener Ehemann ebenfalls lächelte. Doch, es würde sicher alles gut werden. Wenn die drei Jungs sich jetzt schon so gut verstanden, dann, dessen war sie sich sicher, würde es auch keinen Ärger geben, wenn Gozaburo und sie in der übernächsten Woche ihre Hochzeitsreise antraten. oOo "Gnade! Ich kann nicht mehr!" Gleichermaßen lachend und japsend gab Ryuuji sich nach mehr als einer Stunde Wasserschlacht geschlagen. Was die Ausdauer im Wasser betraf, waren seine beiden Stiefbrüder ihm eindeutig über. Wenn man allerdings bedachte, dass sie einen Pool zu Hause hatten, in den sie jeden Tag nach Lust und Laune hüpfen konnten, hatten sie auch einen ganz schön unfairen Vorteil ihm gegenüber – einen Vorteil, den er in den nächsten sechs Monaten auszugleichen gedachte. Eine solche Niederlage wie die heutige konnte er schließlich nicht einfach so auf sich sitzen lassen. "Okay, ausnahmsweise!", erwiderte Mokuba großzügig und sah dann seinen älteren Bruder, der kräftig mitgeholfen hatte, aus leuchtenden Augen an. Eigentlich war solches Toben gar nicht Setos Art – jedenfalls inzwischen nicht mehr, denn früher hatte er das durchaus gerne getan – und genau deshalb bedeutete dem Fünfzehnjährigen die Tatsache, dass er dennoch mitgemacht hatte, besonders viel. "Dem haben wir's aber gezeigt, was, Nii-san?", fragte er und lachte, als er sah, dass sein Stiefbruder schmollend die Unterlippe vorschob. "Ihr seid fies! Zwei gegen Einen ist unfair!", grummelte Ryuuji und hätte im nächsten Moment beinahe das Atmen vergessen, als Seto in das Lachen des Jüngsten mit einstimmte. Holy shit, was für ein toller Anblick!, schoss es Ryuuji durch den Kopf und er tauchte kurz unter, um sicherzugehen, dass man ihm seine Gedanken nicht durch einen dummen Zufall würde ansehen können. Seto so lachen zu hören und zu sehen, wie gut er aussah, wenn er so ausgelassen im Pool herumtobte wie ein ganz normaler Achtzehnjähriger, brachte Ryuujis kompletten Hormonhaushalt völlig durcheinander. Einigermaßen entsetzt über sich selbst bemerkte er unter Wasser, dass er körperlich nicht nur eindeutig, sondern zu allem Überfluss auch noch ziemlich heftig auf das reagierte, was hier geschah. So schnell wie möglich kniff er die Augen zu, denn das, was er gerade vor der Nase gehabt hatte – Setos glücklicherweise blickdichte, aber nichtsdestotrotz weiße Badehose –, war nun wirklich nichts, was er sich in seinem momentanen Zustand ansehen sollte. Erst als er kaum noch genug Luft bekam, tauchte Ryuuji schließlich wieder auf. "Ich glaub, ich leg mich ein bisschen hin. Ich brauch ne Pause", informierte er seine beiden ›Gegner‹ und schwamm dann in Richtung Treppe, um aus dem Pool zu steigen. Dass ihm auf dem ganzen Weg zu den Liegestühlen, wo er sich bäuchlings hinlegte – sicher war sicher – die Blicke aus zwei blauen Augenpaaren folgten, bemerkte er nicht. Mokuba blickte seinem Stiefbruder nach, als dieser das Becken verließ. Die Wasserschlacht hatte ihm eine Menge Spaß gemacht und er war unglaublich froh, dass Seto auch mitgemacht hatte. Sie hatten schon viel zu lange nicht mehr so ausgelassen miteinander herumgetobt. Meistens war sein großer Bruder einfach viel zu erwachsen und zu reif dafür. Heute hatte er sich endlich mal wieder wie ein richtiger Teenager benommen – eine Tatsache, die eindeutig an Ryuuji lag. Nur mit ihm, Mokuba, alleine ging sein Bruder schließlich nie so aus sich heraus. Für den heutigen Nachmittag schuldete er Ryuuji eindeutig Dank. Seto seinerseits, der vor sich selbst durchaus zugab, sich lange nicht mehr so gut amüsiert oder sich so ausgetobt zu haben, konnte seinen Blick ebenfalls nicht von seinem Stiefbruder nehmen. Die langen schwarzen Haare, die ihm nass und wirr ins Gesicht gehangen hatten, sein Lächeln, sein Lachen und das Funkeln in den grünen Augen gingen ihm einfach nicht aus dem Kopf. Gleichermaßen irritiert wie peinlich berührt musste Seto sich eingestehen, dass er ein paar Mal kurz davor gewesen war, dem Anderen die Haare aus dem Gesicht zu streichen oder ihn sonst wie zu berühren – ein Drang, den er allerdings jedes Mal erfolgreich bekämpft hatte. Wie hätte das denn auch ausgesehen? Bei Mokuba war das etwas völlig anderes, denn dieser war schließlich sein Bruder. Ryuuji allerdings gehörte jetzt zwar ebenfalls zur Familie, aber sie waren nicht wirklich miteinander verwandt. Solche Berührungen würden ihm doch sicher seltsam vorkommen, oder? Warum eigentlich? Mokuba umarmt er doch auch, wann immer er ihn sieht oder ihm der Sinn danach steht. Da kennt er auch keinerlei Scheu. Trotzdem, sagte Seto sich, war es bestimmt besser, wenn er sich nicht zu solchen Vertraulichkeiten hinreißen ließ – egal, wie gerne er es getan hätte und egal, wie hübsch er seinen Stiefbruder auch fand. Als seine Gedanken an diesem Punkt ankamen, stutzte Seto und schüttelte dann über sich selbst den Kopf. So etwas sollte er wirklich nicht denken. Das gehörte sich definitiv nicht. Und ebenso wenig gehörte sich das, was er am Morgen in der Küche gedacht hatte. Ihn berühren oder gar streicheln ... Das geht doch nicht! Was würde er denn von mir denken? Nein, das war voll und ganz unmöglich. So etwas schickte sich einfach nicht. Als er zu allem Überfluss auch noch bemerkte, dass er noch immer auf die Rückansicht Ryuujis, verpackt in einer schwarzen Badehose, starrte, wandte er entschlossen den Blick ab. Also das sollte er nun ganz sicher nicht tun! Ryuuji, der von diesen Gedankengängen seines älteren Stiefbruders nichts ahnte, streckte sich abgrundtief seufzend bäuchlings auf einem der neben dem Pool befindlichen Liegestühle aus und schloss die Augen. Verdammt, es war einfach nicht gut, wenn er Seto so nah war. Jedes Mal, wenn er in diese unglaublichen, azurblauen Augen sah, wurde der Drang, den Anderen zu berühren oder ihn sogar zu küssen, stärker und stärker. Ich bin doch so ein Idiot. Das würde er nie zulassen. Obwohl er das rein rational gesehen ganz genau wusste, erinnerte der Schwarzhaarige sich viel zu gut an das Gefühl von Setos Lippen auf seinen. Sein Mund war warm und weich gewesen und inzwischen wünschte Ryuuji sich beinahe, den Kuss erwidert zu haben. Nur noch ein einziges Mal. Noch einmal diese Lippen fühlen dürfen ..., dachte er und seufzte erneut. Das war Wunschdenken, sonst nichts. Sollte er sich seinem Stiefbruder jemals auf diese Weise nähern, würde dieser ganz sicher ausflippen und er würde sich endgültig seinen Hass zuziehen – etwas, das er auf keinen Fall wollte. Nicht ausgerechnet jetzt, wo ihr Verhältnis sich langsam zu entspannen schien. Jetzt krieg dich mal wieder ein, Ryuuji. Denk einfach nicht mehr darüber nach. Das ist nicht gut. Ganz und gar nicht, ermahnte er sich selbst und schloss die Augen – ein Fehler, denn seine Gedanken begannen sich gleich wieder um den noch immer im Pool schwimmenden Brünetten zu drehen. Während ihrer Wasserschlacht hatte er sich wie ein ganz normaler achtzehnjähriger Teenager verhalten, nicht so reif und übermäßig erwachsen wie sonst immer. Ich glaub, ich sollte besser so schnell wie möglich nach oben gehen. Hier unten werd ich noch irre. Oder ich mach irgendwann nen Riesenfehler. Und das muss echt nicht sein. Gerade, als er diesen Gedanken in die Tat umsetzen und aufstehen wollte, tippte ihm von hinten jemand auf die Schulter. "Bist Du irgendwie sauer oder so?", erkundigte Mokuba sich und Ryuuji winkte sofort ab. "Quatsch, nein. Warum auch? Ich bin nur total kaputt. Ihr habt mich echt fertiggemacht. Außerdem krieg ich so langsam Hunger", versuchte er, sich rauszureden. Der Fünfzehnjährige atmete erleichtert auf. Irgendwie hatte sein Stiefbruder gerade so einen seltsam grüblerischen und niedergeschlagenen Eindruck gemacht, der ihm gar nicht gefallen hatte. Aber wenn er nur hungrig war ... nun, dem konnte man abhelfen. "Dann lass uns eben duschen und dann raufgehen, okay? Gleich gibt es sowieso Essen und wir haben ja über das Kuscheln vorhin schon das Mittagessen verpasst." So langsam, stellte Mokuba fest, bekam er auch ziemlichen Hunger. Seto, der noch ein paar Runden im Pool gedreht hatte und gerade dabei war, diesen zu verlassen – immerhin war es schon zwanzig vor sieben, also war es beinahe Zeit für das Abendessen –, stockte mitten in der Bewegung, als er die Worte seines jüngeren Bruders hörte. Narrten ihn seine Sinne oder hatte er gerade richtig verstanden? Hatte Mokuba wirklich gesagt, er und ihr Stiefbruder hätten miteinander gekuschelt, bevor sie zum Schwimmen heruntergekommen waren? Das ist doch wohl ein schlechter Scherz! Ja, genauso musste es sein. Ganz bestimmt hatte er sich verhört. Seine Ohren spielten ihm einen Streich, weiter nichts. Warum sollte sein kleiner Bruder bitteschön mit Ryuuji kuscheln? Und warum sollte Ryuuji das tun? Mokuba und er waren nicht einmal wirklich miteinander verwandt, verflucht! Das hindert sie aber auch nicht daran, sich gegenseitig immer und überall zu umarmen, wenn sie sich sehen, erinnerte Seto sich ärgerlich, stieg endgültig aus dem Wasser und ging zur Dusche hinüber. Darüber, was sein Bruder und sein Stiefbruder miteinander getan oder nicht getan hatten, während er nicht dabei gewesen war, wollte er im Augenblick nun wirklich nicht nachdenken. Immerhin ging ihn das ja auch gar nichts an. Sollten die beiden doch so viel aneinander kleben, wie sie wollten. Das war ihm doch egal. Vollkommen egal sogar. Dass er die Tür hinter sich lauter zuwarf, als es nötig gewesen wäre – und dass er damit seine eigenen Gedankengänge Lügen strafte –, bemerkte er nicht. Ryuuji und Mokuba hingegen blickten gleichermaßen irritiert auf die Tür der Dusche, zuckten zeitgleich mit den Schultern und brachen dann beide in fröhliches Gelächter aus, als ihnen bewusst wurde, dass sie sich gerade benahmen wie Spiegelbilder. "Mann, wir haben echt viel gemeinsam!", kicherte Ryuuji und Mokuba stimmte ihm heftig nickend zu, während er sich lachend seinen Bauch hielt. "Find ... ich auch!", japste er, atmete mehrmals tief durch und zog Ryuuji dann von dem Liegestuhl hoch. "Aber jetzt sollten wir auch duschen, sonst kommen wir zu spät zum Essen und dann beiße ich nachher noch vor lauter Hunger in den Teppich oder so", witzelte er und Ryuuji zwinkerte ihm grinsend zu. "Na, solange du mich nicht versehentlich anknabberst ...", konterte er, ließ sich von dem Fünfzehnjährigen mitziehen und hätte im nächsten Moment beinahe laut geflucht, als er sich schon wieder Seto gegenübersah, der seelenruhig – und, sehr zu Ryuujis Leidwesen, splitternackt – unter der Dusche stand, die genug Platz für sechs Personen bot. "Würde es euch viel ausmachen, etwas leiser zu sein?", wandte Seto sich an die beiden Jüngeren, ohne ihnen wirklich einen Blick zu gönnen. Aus einem Grund, den er selbst nicht so ganz begriff, machte es ihn nervös, gemeinsam mit seinem Stiefbruder zu duschen. Dass es diesem im Bezug auf ihn genauso ging, konnte er ja nicht ahnen. Allerdings hätte ihn diese Gewissheit wohl auch nicht beruhigt, sondern ihn im Gegenzug nur noch nervöser gemacht. Ryuuji schluckte schwer und nickte dann. "Klar, kein Thema", brachte er einigermaßen mühsam heraus und drehte Seto und auch Mokuba schnellstmöglich den Rücken zu, bevor er sich auszog, denn keiner der beiden sollte sehen, dass alleine Setos Anblick vollkommen ausreichte, um bei ihm ein kleines Problem mit der Durchblutung auszulösen. Das war dann doch ein bisschen zu peinlich und zu persönlich, als dass es irgendjemand bemerken musste. Schließlich hatte er seiner Mutter ja ein Versprechen gegeben, das er auch um jeden Preis zu halten gedachte. Mokuba nickte seinem großen Bruder kurz zu, bevor er sich ebenfalls aus seiner Badehose pellte und diese zur Seite legte, um sich vernünftig das Chlor vom Körper und aus den Haaren waschen zu können. Er war gerade fertig damit, sich einzuseifen, als ihm einfiel, dass er seinem Stiefbruder noch gar nicht auf seinen Spruch geantwortet hatte. Sofort schlich sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht. "Ich werde dich schon nicht fressen, Ryuuji. Ich esse kein rohes Fleisch, weißt du?" Die Stimme seines jüngeren Stiefbruders ließ den Angesprochenen kurz zusammenzucken. Dann jedoch verzogen sich auch seine Lippen zu einem Grinsen und er sah den Jungen über seine Schulter hinweg an. "Na, dann hab ich ja gerade noch mal Glück gehabt, was?", scherzte er zurück und reizte Mokuba damit wieder zum Lachen. Seto, der mit dem Duschen beinahe fertig war, spitzte so unauffällig wie möglich die Ohren. Worüber in aller Welt redeten die Zwei da bloß? Und warum störte es ihn so sehr, dass sie sich so gut miteinander verstanden? Es konnte ihm doch gleichgültig sein, ob die beiden sich gegenseitig auffraßen, ob sie kuschelten oder was auch immer sie sonst miteinander taten. Dummerweise musste Seto sich eingestehen, dass es nicht so war. Es wurmte ihn ungemein, dass Mokuba Ryuuji scheinbar wichtiger war als er. Dass er sich insgeheim wünschte, sich auch besser mit seinem Stiefbruder zu verstehen, wollte Seto sich allerdings nicht eingestehen – ebenso wenig wie die Tatsache, dass er den Schwarzhaarigen mit den grünen Katzenaugen die ganze Zeit über immer wieder heimlich beim Duschen beobachtete. Erst als ihm der abwegige Gedanke kam, dass er gerne mit einem der Wassertropfen tauschen wollte, die über den schlanken Körper seines Stiefbruders flossen, drehte er energisch das Wasser ab, schnappte sich ein Handtuch und trocknete sich notdürftig ab, bevor er schnellstmöglich die Duschkabine verließ. Bloß weg hier! Ryuuji atmete unhörbar auf, als Seto endlich aus der Duschkabine verschwand. Himmel, das war aber verdammt knapp gewesen! Zum Glück war Mokuba da. Sonst hätte ich Scheiße gebaut. Und zwar so richtig, dachte er und beeilte sich, ebenfalls fertig zu werden. Der Fünfzehnjährige, der etwas schneller gewesen war, reichte ihm ein Handtuch an und legte dann fragend den Kopf schief, sobald er es sich um die Hüfte gebunden hatte. "Ist was, Mokuba?", erkundigte Ryuuji sich, während er gemeinsam mit dem Kleineren die Duschkabine verließ, um seine draußen auf dem Liegestuhl liegenden Sachen wieder anzuziehen. "Nein. Ich meine ... Kann ich dich mal was fragen?" Nachdem sein Stiefbruder genickt hatte, deutete Mokuba auf dessen Tätowierung. "Hast du sie schon lange?", erkundigte er sich und Ryuuji warf ebenfalls einen kurzen Blick auf die schwarze Sonne, bevor er den Kopf schüttelte. "Nicht wirklich, nein. Ich hab sie jetzt seit knapp drei Monaten. War ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk von meinem Dad", erklärte er und grinste. Sein Vater war nicht unbedingt begeistert davon gewesen, was er sich hatte stechen lassen – und das wo hatte ihm auch nicht sonderlich zugesagt. Wahrscheinlich hätte er's mir erst gar nicht erlaubt, wenn er gewusst hätte, was ich wollte, ging es Ryuuji durch den Kopf. Gut, dass er es seinem Vater vorher nicht gesagt hatte. Hinterher war es für Beschwerden schließlich zu spät gewesen. Mokuba staunte seinen Stiefbruder mit offenem Mund an. "Dein Vater hat dir das geschenkt?", hakte er ungläubig nach und blinzelte, als Ryuuji nickte. "Ja, hat er. Ich hab ihm schon seit zwei Jahren damit in den Ohren gelegen, dass ich unbedingt ein Tattoo wollte. Na ja, und bevor ich hergeflogen bin, meinte er eben, dass ich ja jetzt sowieso bald achtzehn werden würde, also könnte ich ja dann praktisch fast machen, was ich will. Also hat er mir das Geld gegeben und gemeint, ich soll mir was aussuchen, was mir gefällt." Dass sein Vater von dem Motiv wenig begeistert gewesen war – immerhin war das ja schließlich nicht wirklich ›männlich‹ –, verschwieg Ryuuji dem Jungen allerdings geflissentlich. "Gestochen hat's mir dann eine Bekannte", fuhr er fort, während er sich weiter anzog. Gut, eigentlich war es eher die ältere Schwester seines Exfreundes gewesen, die ein eigenes Tattoostudio besaß, aber auch das musste der Fünfzehnjährige nicht unbedingt wissen. "Dein Vater muss echt unheimlich cool sein!", entfuhr es Mokuba. "Unser Vater würde das nicht erlauben", fügte er hinzu und seufzte leise. Sicher, es war nicht so, dass er unbedingt eine Tätowierung gewollt hätte, aber er beglückwünschte seinen Stiefbruder trotzdem insgeheim zu dessen Vater. Offenbar nahm dieser solche Dinge ja ziemlich locker. Wenn er seinem Sohn sogar ein Tattoo zu seinem achtzehnten Geburtstag schenkte ... "Ja, er ist schon cool." Oder auch nicht. Diesen Gedanken sprach Ryuuji allerdings nicht laut aus. Immerhin war gerade der Abschied von seinem Vater nicht besonders gut verlaufen, weil sie sich erst am Tag zuvor – wieder einmal – aufs Heftigste gestritten hatten. Dementsprechend kühl und reserviert hatten sie sich auch am Flughafen voneinander verabschiedet. Genau genommen hatten sie schon die ganze Woche vor seiner Abreise kaum ein Wort mehr miteinander gewechselt. Ist ja auch egal. Bis ich wieder zu ihm komme, hat er sich hoffentlich eingekriegt. Ryuuji zog den Reißverschluss seiner Jeans hoch und seufzte unhörbar. Wenigstens war er bis dahin achtzehn. Wenn er erst aufs College ging, konnte sein Vater sich endgültig nicht mehr in sein Leben einmischen. Und vielleicht sah er dann ja auch endlich mal ein, dass sein Sohn keine Kopie von ihm war, sondern ein eigenständiger Mensch, der eben andere Vorstellungen vom Leben hatte als er. Da er wirklich nicht mehr über seinen Vater sprechen wollte – das Thema war auf Dauer einfach zu deprimierend –, bemühte Ryuuji sich um einen Themenwechsel. "Komm, lass uns raufgehen. Sonst knabbere ich dich nachher noch an", witzelte er und wie erwartet begann sein jüngerer Stiefbruder erst zu kichern, bevor er die Treppen nach oben rannte. "Dafür müsstest Du mich aber erst einmal kriegen!" Seto, der gleich nach dem Duschen bereits nach oben gegangen war – er hatte an sich selbst eine absolut unangemessene körperliche Reaktion auf seinen Stiefbruder festgestellt und nicht gewollt, dass einer der beiden Jüngeren etwas davon bemerkte –, ließ sich im Esszimmer auf seinen Platz sinken, nachdem er seinem Vater, Yukiko und Isono, die sich bereits dort befanden, kurz zugenickt hatte. Das Strahlen in den Augen seines Vaters entlockte ihm ein kurzes Lächeln. Ganz offenbar war er also jetzt wirklich glücklich. Gut, unter diesen Umständen würde er selbst sich auch bemühen, sich zusammenzunehmen. "Ich habe gehört, ihr Drei wart zusammen unten am Pool, Seto." Gozaburo sah seinen Ältesten fragend an und dieser nickte. "Ja, Vater. Ich denke, Mokuba und Ryuuji sollten auch gleich hier sein", erwiderte er. Bevor er allerdings noch mehr sagen konnte, wurde im Flur Gelächter laut und im nächsten Moment kamen die beiden gemeinsam um die Ecke gebogen. "Ha, Du hast mich nicht erwischt!", triumphierte Mokuba, ließ sich auf seinen Platz fallen und streckte seinem Stiefbruder über den Tisch hinweg die Zunge heraus. Ryuuji erwiderte diese Geste mit gleicher Münze, bevor er den Tisch umrundete, seiner Mutter einen kurzen Kuss auf die Wange hauchte und sich dann neben Mokuba setzte – nicht ohne diesen in die Seite zu pieksen und ihn damit zum Quietschen zu bringen. "Würdet ihr Zwei euch bitte benehmen?", rügte Seto und die beiden Schwarzhaarigen sahen ihn unisono mit einem nicht wirklich ernst gemeinten zerknirschten Gesichtsausdruck an. "Natürlich, Nii-san", nuschelte Mokuba zeitgleich mit Ryuujis "Tschuldige, Seto", aber wirklich ernstgemeint klangen beide Entschuldigungen nicht. Unwillkürlich wanderte eine von Setos Brauen in die Höhe. Versuchten die Zwei etwa, ihn zu verschaukeln? Und irrte er sich oder unterdrückten sie beide nur mühsam ein Kichern? Gozaburo, dem die Stimmung seines ältesten Sohnes nicht entging, sah diesen an, doch scheinbar enthielt der Brünette sich jeglichen weiteren Kommentars. "Da jetzt alle da sind, können wir ja endlich essen", murmelte der CEO daher und die drei Jungen nickten beinahe gleichzeitig, bevor sie sich – dieses Mal alle schweigend – ihrem Essen widmeten. Yukiko blickte zwischen den Dreien hin und her und atmete innerlich erleichtert auf. Gut, Setos Laune war im Augenblick vielleicht nicht die allerbeste, aber ganz offenbar verstanden sich wenigstens Ryuuji und Mokuba wirklich gut miteinander. Und ganz sicher würde ihr Sohn sich auch mit seinem älteren Stiefbruder arrangieren – oder vielmehr dieser mit ihm. Jedenfalls schien Seto ihm gegenüber nicht mehr ganz so negativ eingestellt zu sein wie zu Beginn. Nun, sie konnte dem älteren ihrer beiden Stiefsöhne seine Haltung auch nicht wirklich verdenken. Immerhin war ihr Ryuuji nun mal manchmal etwas schwierig – was ihn aber nicht unbedingt zu einem schlechten Menschen machte. Dadurch, dass sein Vater James nun einmal gebürtiger Amerikaner war und er eine Jahreshälfte bei diesem verbrachte, war er eben etwas offener als die meisten Japaner seines Alters. Auch Gozaburo beobachtete seine beiden Söhne und seinen Stiefsohn während des Essens. Besonders auf seinen Ältesten hatte er ein Auge und so entging ihm nicht, dass Setos Blicke immer wieder zu Ryuuji wanderten. Anders als zu Beginn lag in seinen Augen jetzt allerdings keine Abneigung mehr, sondern eher ein seltsamer, undeutbarer Ausdruck. Ganz offenbar gewöhnt er sich langsam an Ryuujis Anwesenheit hier bei uns, dachte der CEO und gestattete sich ein winziges Lächeln. Mokuba war von Anfang an nicht das Problem gewesen. Er hatte wirklich gehofft, dass gerade Seto seine Ablehnung seinem Stiefbruder gegenüber auch noch ablegen würde. Ganz offenbar hatte er das tatsächlich getan – oder war zumindest gerade dabei. Eindeutig ein gutes Zeichen. Nachdem alle mit dem Essen fertig waren, stand Mokuba auf und sah erst seinen neben ihm sitzenden Stiefbruder und dann seinen leiblichen Bruder über den Tisch hinweg bittend an. "Wollen wir uns noch einen Film zusammen ansehen?", fragte er und setzte seinen besten Bettelblick auf – den, dem für gewöhnlich auch sein älterer Bruder nichts entgegenzusetzen hatte. "Von mir aus", gab dieser sich auch gleich leise grummelnd geschlagen. Warum konnte er dem Jungen nur nichts abschlagen, wenn dieser ihn so herzerweichend ansah? Das Letzte, was er selbst jetzt wollte, war, mitansehen zu müssen, wie gut sich sein Bruder und sein Stiefbruder verstanden. Aber jetzt, wo er erst einmal zugesagt hatte, konnte er auch keinen Rückzieher mehr machen. Ryuuji nickte ebenfalls und grinste, als er gleich darauf auch schon von Mokuba gepackt und ins Wohnzimmer geschleift wurde. Dort ließ er sich auf die Couch verfrachten und machte es sich bequem. Vielleicht wollte der Kleine ja wieder wie am Vormittag ein bisschen mit ihm kuscheln. Wirklich abgeneigt, gestand sich der Siebzehnjährige ein, wäre er jedenfalls nicht. Mokuba ließ sich neben seinem Stiefbruder auf die Couch plumpsen und winkte dann seinem älteren Bruder, sich auf der anderen Seite neben ihn zu setzen. Seto, der gerade in einen der Sessel hatte Platz nehmen wollen, seufzte unhörbar und folgte dann der stummen Aufforderung, die sein durchtriebener kleiner Bruder mit einem weiteren Bettelblick gepaart hatte. Verflucht seien diese großen blauen Kulleraugen! Während der Brünette sich auf die freie Seite seines jüngeren Bruders setzte, hielt Ryuuji unbewusst den Atem an. Verdammt, das war nicht fair! So war Seto ihm eindeutig viel, viel zu nah! Nur gut, dass der Kleine zwischen ihnen saß. Solange Mokuba in der Nähe war, würde er schon nichts anstellen. Zumindest hoffte er das für seine Gesundheit. Ein falsches Wort in Setos Richtung wäre sicher ungemein schädlich. Nachdem seine beiden Brüder rechts und links neben ihm saßen, schnappte der Fünfzehnjährige sich die Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und kuschelte sich dann gemütlich zwischen die beiden Älteren. Doch, so ließ es sich leben. Das mussten sie unbedingt öfter machen. Er musste unbedingt öfter seinen Bettelblick auspacken und bei Seto anwenden. Wenn das heute schon geklappt hatte, dann würde es sicher auch in Zukunft klappen. oOo "Gozaburo, komm mal bitte her und sieh dir das an." Yukiko, die leise zur Wohnzimmertür getreten war, winkte ihren Mann zu sich und deutete dann lächelnd auf ihre drei Söhne, die es sich gemeinsam vor dem Fernseher bequem gemacht hatten. Als sie eine Stunde zuvor heimlich nach den Dreien gesehen hatte, war Setos Haltung noch recht verspannt gewesen, aber inzwischen hatte er offenbar ebenfalls eine gemütliche Position eingenommen. Gozaburo legte seiner Frau einen Arm um die Taille und lächelte ebenfalls, als er das Bild sah, dass die drei Jungen boten. Mokubas Kopf lag auf der Schulter seines älteren Bruders, während Ryuuji den Jüngsten ganz offenbar im Nacken kraulte. Setos Arm lag entspannt auf der Rückenlehne der Couch und seine Finger spielten – ob bewusst oder nicht, war nicht ersichtlich – mit einer schwarzen Strähne, die allerdings nicht seinem leiblichen, sondern seinem Stiefbruder gehörte – etwas, was dieser scheinbar nicht bemerkte. "Mir scheint, sie raufen sich langsam zusammen", murmelte der CEO und Yukiko nickte. "Ich glaube, das ist hauptsächlich Mokubas Verdienst." Ihr war nicht entgangen, dass ihr jüngerer Stiefsohn ganz offenbar darauf bestand, sowohl Seto als auch Ryuuji um sich zu haben – eine Tatsache, für die sie dem Fünfzehnjährigen sehr, sehr dankbar war, denn so erhöhten sich die Chancen, dass ihr Junge sich wirklich in seine neue Familie integrierte, ungemein. "Komm, lassen wir sie lieber allein", schlug Gozaburo vor und seine Frau nickte. "Stimmt. Wir sollten sie jetzt nicht stören. Sie scheinen sich gut zu verstehen", erwiderte sie leise und ließ sich von ihrem Mann wegführen. Dabei schmiegte sie sich mit einem glücklichen Lächeln an ihn. Doch, sie war froh, dass sich sowohl für sie als auch für Ryuuji scheinbar alles zum Guten gewendet hatte. Sehr froh sogar. oOo Knapp drei Stunden, nachdem sie sich zum Fernsehen ins Wohnzimmer verzogen hatten, rüttelte Seto seinen kleinen Bruder leicht, denn dieser lag inzwischen so unbequem auf seinem Arm, dass der langsam einschlief. Mokuba grummelte allerdings nur leise irgendetwas Unverständliches und machte keinerlei Anstalten, sich aufzusetzen. Ganz offenbar, stellte Seto mit einem raschen Seitenblick auf seinen Bruder fest, war dieser tief und fest eingeschlafen. "Na toll", murmelte er und versuchte, sich wieder auf den Film zu konzentrieren, doch das fiel ihm ziemlich schwer. Sein ganzer Arm kribbelte mittlerweile und mit jeder verstreichenden Sekunde wurde dieses Kribbeln schlimmer und schlimmer. Bevor er allerdings seinen Bruder doch noch wegschieben und ihn dadurch wecken konnte, verschwand das Gewicht von Mokubas Kopf so plötzlich, dass Seto verwirrt zur Seite blickte – genau in ein Paar grüne Katzenaugen. Ryuuji, der die missliche Lage seines älteren Stiefbruders bemerkt hatte, lächelte diesem zu, nachdem er Mokuba zu sich gezogen hatte. "Besser so?", erkundigte er sich leise, um den noch immer schlafenden Fünfzehnjährigen, der mittlerweile an seiner Schulter lehnte und von seinem nicht ganz freiwilligen Positionswechsel offenbar nichts bemerkt hatte, nicht versehentlich doch noch zu wecken. Seto nickte nur stumm. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Ryuuji etwas von seiner Situation mitbekommen hatte. Und noch weniger hatte er erwartet, dass dieser ihm helfen würde. Was ihn allerdings am meisten aus dem Konzept brachte, war das Lächeln, mit dem Ryuuji ihn bedachte. Warum nur hatte er auf einmal das Bedürfnis, ihn so in seinen Arm zu ziehen, wie dieser es gerade mit Mokuba getan hatte? "Ich glaub, der Kleine hier gehört ins Bett", murmelte Ryuuji, dem unter dem durchdringenden, seltsamen Blick aus Setos azurblauen Augen viel zu heiß wurde. "Und wir sollten auch langsam pennen gehen. Morgen ist schließlich wieder Schule", fügte er leise hinzu, denn die Stille war ihm mehr als unangenehm. Musste Seto ihn so ansehen? Das war nicht fair! Hatte er eigentlich eine Ahnung, was er damit anrichtete? Wahrscheinlich nicht. Woher auch?, dachte der Schwarzhaarige seufzend und schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Er brauchte Ablenkung, und zwar dringend. Ich brauch unbedingt nen Freund. Selbst wenn es nur irgendwas Körperliches ist. Scheißegal. Hauptsache, ich komm bei Seto nicht in Versuchung. Alles in allem war das eine gute Idee. Unglücklicherweise hatte diese ganze Sache einen großen Haken: Woher sollte er auf die Schnelle einen Freund nehmen? Seto war in der Zwischenzeit bereits aufgestanden und hob seinen kleinen Bruder kurzentschlossen von der Couch, nachdem auch ein erneuter Weckversuch nicht gefruchtet hatte. Wenn es gar nicht anders ging, dann würde er den Jungen eben wie früher auch in sein Bett tragen. Inzwischen war Mokuba zwar ein bisschen schwerer geworden, aber bis in sein Zimmer würde er es schon irgendwie schaffen. Ryuuji blinzelte irritiert, als er sah, dass sein älterer Stiefbruder den Kleinen auf die Arme gehoben hatte und ihn ganz offensichtlich nach oben zu tragen gedachte. Da Seto wohl kaum alleine Mokubas Zimmertür würde öffnen können, solange er den Jungen trug, erhob der Schwarzhaarige sich und ging schweigend neben dem Größeren und seiner noch immer schlafenden ›Fracht‹ her. Oben vor Mokubas Zimmer angekommen staunte Seto nicht schlecht, als sein Stiefbruder ihm kommentarlos die Tür öffnete und dann vorging, um schon mal den Pyjama des Kleinen rauszusuchen. Während er selbst seinen Bruder auf dessen Bett legte und ihn auszuziehen begann, reichte Ryuuji ihm kommentarlos den Pyjama an, nahm ihm die andere Kleidung ab und faltete sie ordentlich zusammen, bevor er sie auf einen Stuhl legte. "Gute Nacht, otouto", murmelte Seto leise, nachdem er seinen Bruder umgezogen und zugedeckt hatte. "Nacht, Nii-san", nuschelte Mokuba, ohne richtig wach zu werden. Dadurch entging ihm, dass seine beiden älteren Brüder beinahe zeitgleich schmunzelten. "Schlaf gut, Kleiner", flüsterte auch Ryuuji, doch er bekam keine Antwort mehr, denn der Fünfzehnjährige war bereits wieder im Reich der Träume verschwunden und bemerkte nichts mehr von dem, was um ihn herum vor sich ging. So leise wie möglich, um den Schlafenden nicht versehentlich doch noch zu wecken, verließen die beiden Älteren das Zimmer wieder und Seto zog die Tür vorsichtig ins Schloss. "Der Kleine ist echt süß, wenn er schläft", murmelte Ryuuji und zu seiner eigenen Überraschung ertappte Seto sich dabei, wie er zustimmend nickte. "So hat er schon als Kind ausgesehen, wenn er geschlafen hat", erzählte er und wunderte sich im nächsten Moment über sich selbst. Warum in aller Welt hatte er seinem Stiefbruder etwas derart Privates preisgegeben? Als der Schwarzhaarige ihn jedoch offen anlächelte, vergaß er diese Frage gleich wieder. War das denn auch so wichtig? Immerhin gehörte Ryuuji jetzt ja schließlich irgendwie zur Familie. "Hab ich mir fast gedacht", erwiderte Ryuuji leise und schluckte, denn erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er vollkommen alleine mit seinem älteren Stiefbruder im Flur stand. Sofort begann sein Herz, wie verrückt zu rasen, und gleichermaßen geschockt wie belustigt stellte er fest, dass seine Handflächen feucht wurden. Wie lange war es her, dass ihm das das letzte Mal passiert war? "Na ja, wir sollten auch langsam ins Bett gehen, denke ich. Schlaf gut, Seto." Der Angesprochene nickte nur, denn auch ihm war gerade aufgefallen, dass sie ganz alleine waren. Weder ihre Eltern noch Mokuba oder Isono waren im Augenblick in der Nähe. Warum in aller Welt machte ihn diese Tatsache nur so nervös? Der Schwarzhaarige war jetzt ein Teil seiner Familie. Da gab es keinen Grund, nervös zu sein. Rein logisch betrachtet wusste Seto das, aber dennoch musste er sich räuspern, bevor er antworten konnte, weil sein Hals sich wie ausgetrocknet anfühlte. "Das denke ich auch", stimmte er daher zu, sobald er wieder Herr seiner Stimme war. Er blickte Ryuuji nach, als dieser zu seinem Zimmer ging. Wieder gelang es ihm nicht, seinen Blick von ihm zu lösen, aber er konnte sich auch jetzt nicht erklären, woran das lag. "Gute Nacht, Ryuuji." Setos Stimme in seinem Rücken ließ den Schwarzhaarigen innehalten. Hatte der Brünette ihn gerade tatsächlich das erste Mal mit seinem Vornamen angesprochen? Unbemerkt legte der Siebzehnjährige eine Hand auf sein wie wild pochendes Herz. Gut, es war doch kein Traum gewesen. Seto hatte ihn wirklich eben zum ersten Mal ›Ryuuji‹ genannt. "Wünsch ich dir auch. Träum was Schönes, Seto", gab er daher zurück, lächelte den Brünetten noch einmal über seine Schulter hinweg zu und verschwand dann in seinem Zimmer. Hinter sich zurück ließ er einen vollkommen irritierten und überrumpelten Seto, den das eben erhaltene Lächeln so sehr aus dem Konzept gebracht hatte, dass er noch beinahe fünf Minuten brauchte, bevor es ihm gelang, ebenfalls in sein Zimmer zu gehen und in sein Bett zu schlüpfen. Kapitel 14: Hilfe ----------------- Wie jeden Morgen, wenn er zur Schule musste, stand Seto um sechs Uhr auf, duschte, kleidete sich an und klopfte dann exakt um halb sieben an der Zimmertür seines jüngeren Bruders. Nach dem üblichen Weckritual, das einen nassen Waschlappen und das Wegziehen der Bettdecke beinhaltete, verließ er Mokubas Zimmer wieder, um nach unten zu gehen, sobald der Junge grummelnd und schlecht gelaunt in seinem Badezimmer verschwunden war. Anstatt jedoch sofort hinunter ins Esszimmer zu gehen, blieb Seto dieses Mal unschlüssig im Flur stehen und starrte ratlos auf die Tür des Zimmers, das gleich neben dem seinen lag. Ob Ryuuji wohl noch schlief? Sollte er ihn vielleicht auch wecken? War er ihm das nicht irgendwie schuldig? Immerhin war er jetzt ein Teil der Familie. Nach mehreren Minuten des Zögerns rang Seto sich schlussendlich doch noch dazu durch, an die Tür seines Stiefbruders zu klopfen. Die Frage, warum es ihn so nervös machte, hier zu stehen, schob er in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. Darüber wollte er jetzt nun wirklich nicht nachdenken. Außerdem war das doch auch unwichtig. Er war es eben einfach nicht gewöhnt, plötzlich zwei Brüder zu haben, das war alles. Noch völlig in seine Gedankengänge verstrickt schrak Seto förmlich zusammen – natürlich nur innerlich, äußerlich hatte er sich vollkommen im Griff –, als die Tür vor seiner Nase aufgerissen wurde und er sich seinem bereits vollständig angezogenen und wie üblich auch geschminkten Stiefbruder gegenübersah. Warum betonte dieser seine Augen eigentlich so? Immerhin konnte man sie doch sowieso schon nicht übersehen – und schon gar nicht ignorieren, selbst wenn man es noch so sehr wollte. "Holy shit!", entfuhr es Ryuuji, als er sich statt wie erwartet seiner Mutter seinem älteren Stiefbruder gegenübersah. Also damit hatte er überhaupt nicht gerechnet! "Machst du immer den Weckdienst?" Wie es ihm gelang, in so einer Situation – Seto war ihm für seinen Geschmack einfach viel, viel zu nah – noch einen halbwegs vernünftigen Satz herauszubringen, geschweige denn ein Grinsen hinzubekommen, war Ryuuji ein echtes Rätsel. Verdammt, sah Seto in der blauen Schuluniform gut aus! Seto war es unglaublich peinlich, dass er sich räuspern musste, aber er konnte nichts dagegen tun. Seine Kehle fühlte sich an wie ausgetrocknet und unter dem intensiven Blick aus diesen grünen Augen, die ihn einfach nicht zur Ruhe kommen ließen, fiel es ihm ungewohnt schwer, sich zu konzentrieren. Dennoch gelang es ihm – zwar nur mit Mühe, doch das sah man ihm glücklicherweise nicht an –, sich vollkommen normal zu verhalten. "Ich wecke Mokuba jeden Morgen. Er ist ein Langschläfer und Morgenmuffel allererster Güte", erklärte er. "Und da ich nicht wusste, ob du schon wach bist, dachte ich, ich sehe besser nach. Es würde einen schlechten Eindruck machen, wenn du ausgerechnet heute zu spät zur Schule kommen würdest", fügte er hinzu und blinzelte irritiert, als das Grinsen seines Gegenübers noch eine Spur breiter wurde. "Das hätte ich nicht erwartet", gestand Ryuuji frei heraus und lehnte sich gegen den Türrahmen, denn er fühlte sich zittrig und brauchte irgendeinen Halt. "Mokuba kam mir eigentlich nicht vor wie jemand, der morgens nur schwer aus dem Bett kommt", fuhr er in leichtem Plauderton fort, dem man nicht anmerkte, wie viel Mühe er ihn kostete. Auf diese Worte hob Seto lediglich eine Braue. "Dann versuch du mal, ihn morgens zu wecken. Da hilft nur ein nasser Waschlappen", gab er zurück und der Schwarzhaarige begann zu lachen. "Bist du brutal! Ich glaub, unter diesen Umständen verzichte ich doch lieber freiwillig auf das zweifelhafte Vergnügen, mich von dir wecken zu lassen", erwiderte er und hätte sich beinahe verschluckt, als Seto ihn nun seinerseits kurz angrinste – ein Grinsen, dem man nicht ansah, wie schwer es ihm fiel. Besser, wenn er das, was er gerade gedacht hatte, für sich behielt. "Dich würde ich anders wecken." Diesen Kommentar konnte er sich dennoch nicht verkneifen. Bevor er allerdings verraten konnte, wie dieses Wecken aussehen sollte, wandte er sich schnell ab und machte sich auf den Weg nach unten ins Esszimmer. Bloß schnell weg aus der Reichweite dieser grünen Katzenaugen, bevor er tatsächlich noch eine Dummheit beging und etwas Falsches sagte. Ryuuji stieß sich vom Türrahmen, an dem er gelehnt hatte, ab und folgte seinem älteren Stiefbruder. "Und wie genau würdest du mich wecken?", erkundigte er sich, als er den Anderen eingeholt hatte. Dabei verfluchte er innerlich seine angeborene Neugier, aber er konnte dagegen ebenso wenig tun wie gegen die Bilder, die sich bei den Worten in seinem Kopf abspielten – Bilder von Seto, der ihn sanft und zärtlich wachküsste. So einen Scheiß sollte ich nicht mal denken. Das wird doch eh nie passieren. Unwillig schüttelte der Schwarzhaarige den Kopf. Nein, solche Gedanken waren gar nicht gut für ihn. Besser, er behielt das für sich. Seto würde ihn ganz sicher umbringen, wenn er erfuhr, was er sich von ihm wünschte – und vor allem, wenn er jemals herausbekam, was er letzte Nacht vor dem Einschlafen noch getan hatte. Nein, das muss er wirklich nicht wissen. Das muss niemand wissen, beschloss Ryuuji, wurde jedoch von der Stimme seines Stiefbruders aus seinen Grübeleien gerissen. "Mit einem Eimer kaltem Wasser", beantwortete Seto die Frage mit einiger Verspätung, obwohl ihm eigentlich etwas völlig anderes auf der Zunge gelegen hatte. Aber in Verbindung mit einem anderen Jungen – und auch noch ausgerechnet mit seinem Stiefbruder – von einem Kuss zu sprechen, fand er doch reichlich merkwürdig. Egal, wie sehr ihn Ryuuji auch in seinen Träumen in der letzten Nacht verfolgt hatte, nichts rechtfertigte das. Außerdem – was würde Ryuuji wohl von ihm denken, wenn er davon erführe? Nein, das wollte er sich lieber gar nicht erst vorstellen. "Guten Morgen, Seto-san. Guten Morgen, Ryuuji-san", begrüßte Isono die beiden Jungen, als sie gemeinsam das Esszimmer betraten. Beide nickten ihm nur zu, denn jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach. Seto konnte noch immer nicht begreifen, dass ihm solche seltsamen Ideen überhaupt kamen und Ryuuji kämpfte wider besseren Wissens – was hatte er denn eigentlich erwartet, verdammt? – mit seiner Enttäuschung. Yukikos, Gozaburos und Mokubas beinahe zeitgleiches Auftauchen – der Fünfzehnjährige hatte seinen Vater und seine Stiefmutter im Flur getroffen – entband die beiden Angesprochenen von einer direkten Antwort auf Isonos Begrüßung. Nach einem allgemeinen Gruß frühstückten die Sechs gemeinsam, bevor der Jüngste aufsprang. Wie immer in den letzten Wochen wollte er auch heute zu Fuß zur Schule gehen, um mehr Zeit für einen Plausch mit seinen beiden besten Freunden zu haben. Seto, der sich ebenfalls bereits erhoben hatte, seufzte unhörbar. Im Klartext bedeutete die Abwesenheit seines jüngeren Bruders, dass er während der gesamten Fahrt zur Schule mit Ryuuji alleine in der Limousine sitzen würde – eine Vorstellung, die ihn gleich wieder nervös werden ließ. Insgeheim hoffte er, dass sein Stiefbruder ihm nicht anmerken möge, wie unruhig ihn alleine der Gedanke machte, mit ihm alleine zu sein. Ryuuji war jedoch so in seine eigenen Grübeleien verstrickt, dass er von der Verfassung seines Stiefbruders nichts bemerkte. Die Aussicht, von jetzt an täglich mit einer Limousine zur Schule gefahren zu werden, war ja schon seltsam, aber was sein Herzklopfen wirklich beinahe unerträglich machte, war die Tatsache, dass Mokuba nicht mit dabei sein würde und dass er deshalb mit Seto alleine sein würde. Hoffentlich bau ich keine Scheiße dachte Ryuuji und folgte Seto seufzend, als dieser zum wartenden Wagen vorging. Nachdem sie beide eingestiegen waren und einander gegenüber Platz genommen hatten – Ryuuji wagte einfach nicht, sich neben seinen Stiefbruder zu setzen, und diesem war das nur recht –, schloss Isono die Tür, stieg auf der Fahrerseite ein und fuhr los. Nach einer knapp fünfzehnminütigen Fahrt parkte die kaibasche Limousine auf dem Schulparkplatz. Kaum dass die Tür geöffnet wurde, stieg Seto aus und atmete tief durch. Die Fahrt war schweigend verlaufen und er hatte sich wirklich bemüht, aus dem Fenster zu sehen, aber stattdessen hatte er sich immer wieder selbst dabei ertappt, wie er in der getönten Fensterscheibe die Spiegelung seines Stiefbruders beobachtet hatte. Dieser hatte die ganze Zeit über eine schwarze Strähne um seinen Zeigefinger gezwirbelt und derart abwesend auf die vorbeiziehende Landschaft gestarrt, dass Seto sich unweigerlich gefragt hatte, was wohl in seinem Kopf vor sich gegangen sein mochte. Ryuuji war unglaublich froh, als die Limousine endlich hielt und er aussteigen konnte. Auf das "Ich wünsche Ihnen beiden einen schönen Tag, Seto-san, Ryuuji-san" Isonos nickte er ebenso wie Seto einfach nur. Dabei drehten sich seine Gedanken immer nur um eine Frage: Ob es ihm wohl gelingen würde, Mokuba zu überreden, ab dem nächsten Tag wieder mitzufahren? Wenn ich das noch mal mitmachen muss, fall ich tot um, dachte Ryuuji und grinste freudlos. Verdammt, es hatte ihn eindeutig schwerer erwischt, als er sich hatte eingestehen wollen. Nicht nur, dass er beinahe ständig an Seto dachte oder von ihm träumte; nein, zusätzlich musste ihm dieser natürlich auch gleich morgens vor der Schule schon so nah sein, dass er ihn hätte berühren können, wenn er nur die Hand nach ihm ausgestreckt hätte. Was für eine Scheiße. Der Tag fängt ja schon echt gut an. Wenn der Morgen schon so begann, wie sollte er denn dann den für den Nachmittag geplanten Familienausflug ohne bleibende Schäden überleben? Innerlich seufzte der Schwarzhaarige und atmete auf, als er seinen besten Freund Katsuya sah, der gemeinsam mit Bakura auf einer der Bänke auf dem Schulhof saß ihn mit hektisch wedelnden Armen zu sich winkte. "Mir scheint, dein Typ wird verlangt", informierte Seto seinen Stiefbruder überflüssigerweise und dieser nickte. "Sieht so aus. Na dann, bis gleich im Klassenraum.", verabschiedete er sich kurz und sprintete dann zu dem Blondschopf und dem Weißhaarigen hinüber. Seto sah ihm einen Moment lang nach, bis ihm bewusst wurde, dass er schon wieder starrte. Dann löste er seinen Blick so schnell wie möglich von dem Schwarzhaarigen und ging gemessenen Schrittes zu der Bank, auf der er morgens immer zu sitzen pflegte, bis es zum Unterrichtsbeginn klingelte. oOo "Na, wie war die Hochzeit? Und wie hast du das erste Wochenende bei den Kaibas überlebt? Ich hoffe, der Eisklotz hat dich nicht zu sehr geärgert. Der war doch nett zu dir, oder? Wenn nicht, dann kriegt er's mit mir zu tun! Und jetzt spuck schon aus wie's war!" Neugierig sah Katsuya seinen besten Freund an. Irrte er sich oder machte der Schwarzhaarige irgendwie einen etwas übernächtigten Eindruck? Ryuuji ließ sich seufzend auf die Bank neben seinen besten Freund fallen, legte den Kopf in den Nacken und schloss einen Moment lang die Augen. Dann atmete er erst einmal tief durch, bevor er Katsuya seine Aufmerksamkeit zuwandte. "Die Hochzeit war toll. Nur waren meine Großeltern leider auch da. Kannst dir ja sicher vorstellen, wie das abgelaufen ist. Auf jeden Fall waren sie von Seto und Mokuba natürlich ganz begeistert. Aber egal." Darüber wollte er jetzt lieber nicht nachdenken, denn dann erinnerte er sich nur wieder daran, was Seto am Sonntagmorgen in der Küche zu ihm gesagt hatte. "Wie auch immer, Mum sah toll aus. Geradezu unbeschreiblich schön. Und ich glaube, mit Gozaburo-san wird sie wirklich glücklich. Sieht zumindest ganz danach aus. Und der Kleine – also Mokuba – ist echt ein ganz Süßer. Sogar Seto ist nicht so schlimm. Ich glaub, der braucht nur ne längere Gewöhnungsphase als der Kleine. Gestern war er jedenfalls ganz okay", erzählte der Schwarzhaarige weiter und in die braunen Augen seines besten Freundes schlich sich ein noch neugierigerer Ausdruck. "Inwiefern okay?", wollte der Blonde auch prompt wissen, aber Ryuuji war nicht bereit, über das, was am Vortag am Pool und auch abends vor dem Schlafengehen geschehen war, zu sprechen – jedenfalls noch nicht. Er suchte krampfhaft nach einer Ablenkung und musste schließlich grinsen, als er unter dem Kragen des Hemdes von Katsuyas Schuluniform das Halsband von seinem Hundekostüm aufblitzen sah. "Okay eben. Aber sag mal, Kats, gibt's nen bestimmten Grund dafür, dass du schon wieder das Halsband trägst?", erkundigte er sich deshalb und verkniff sich mühsam das Lachen, als sein bester Freund vom Halsansatz bis zu den Haarspitzen feuerrot anlief. "Das ... das ist nur ... weil ... Sag du doch auch mal was, Kura!", verlangte Katsuya verzweifelt, doch sein weißhaariger Freund grinste nur süffisant und schüttelte den Kopf. "Wieso denn ich? Ist doch dein bester Freund. Erklär du's ihm.", gab er zurück und die Gesichtsfarbe des Blondschopfs verdunkelte sich noch etwas mehr. "Blödmann!", nuschelte er, bevor er einen Blick zu seinem besten Freund warf. "Ich ... ich trag's eben gerne. Es ... gefällt mir.", fügte er dann kaum hörbar hinzu und nun konnte Ryuuji sein Lachen nicht mehr zurückhalten. "Und das liegt nicht rein zufällig daran, dass du dich von ihm hier", bei diesen Worten deutete der Schwarzhaarige auf den lässig neben Katsuya auf der Bank sitzenden Bakura, "gerne mal an die Leine legen lässt, oder?" Verdammt, es machte einen Heidenspaß, Katsuya so in Verlegenheit zu bringen! "Ähm ... Es ... es hat ... geklingelt." Wie ein geölter Kugelblitz sprang der Blonde von der Bank auf und verschwand in geradezu rekordverdächtigem Tempo im Schulgebäude – noch immer mit hochrotem Kopf. Bloß weg von dem Lachen seines besten Freundes und von all diesen peinlichen Fragen! oOo "... und gestern Abend haben wir Drei dann zusammen noch einen Film gesehen. Nur peinlich, dass ich irgendwann mittendrin eingeschlafen bin. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich in mein Bett gekommen bin. Ist ja auch egal. Jedenfalls hatten wir eine Menge Spaß zusammen. Sogar Seto", erzählte Mokuba seinen beiden besten Freunden in der ersten Pause mit leuchtenden Augen. Die drei Fünfzehnjährigen hatten es sich in ihrer Lieblingsecke auf dem Schulhof bequem gemacht und der Schwarzhaarige konnte einfach nicht mehr aufhören zu strahlen. Endlich hatte er wieder eine richtige Familie! "Du bist vielleicht ne Pflaume!" Yuugi konnte sich das Lachen nicht verkneifen und auch Ryou kicherte leise. Das war einfach total typisch für Mokuba. Wie oft war dieser schon bei ihm zu Hause mitten in einem Filmmarathon eingeschlafen – mit dem Kopf auf seiner Schulter? Bei der Erinnerung daran errötete der Weißhaarige leicht und schüttelte den Kopf. An so etwas sollte er wirklich nicht denken. "Ihr Zwei habt gut lachen! Euch ist so was Blödes ja auch nicht passiert!", grummelte Mokuba und verschränkte beleidigt die Arme vor seiner Brust. Das war ja vielleicht fies! Da lachten seine beiden besten Freunde ihn doch tatsächlich aus! "Ihr habt ja vorher auch nicht mit Seto und Ryuuji zusammen im Pool rumgetobt. Ich sag euch, das war vielleicht anstrengend! Und dann war's auf der Couch so gemütlich zwischen den beiden, dass ich irgendwann einfach weggepennt bin." Der Schwarzhaarige schmollte noch einen Moment, doch dann lächelte er verträumt. "Das war fast wie früher, als ich noch kleiner war. Da hat Seto so was öfter mit mir gemacht. Aber inzwischen ist er ja viel zu erwachsen dafür. Jedenfalls meistens. Wenn Ryuuji nicht dabei gewesen wäre, hätte er sich wahrscheinlich auch nicht dazu herabgelassen, mit mir rumzutoben. Aber Ryuuji hat ihn einfach nassgespritzt und schon ging's los." Eine Tatsache, für die der Fünfzehnjährige seinem Stiefbruder unheimlich dankbar war. "Übrigens haben Ryuuji und ich vorher auf der Couch im Wohnzimmer gekuschelt. Er ist ja jetzt schließlich auch mein Bruder." Um ein Haar hätte Mokuba seinen beiden besten Freunden auch noch erzählt, was Ryuuji ihm über sich selbst und seinen besten Freund Katsuya erzählt hatte, doch er biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Unterlippe. Das hatte sein Stiefbruder ihm im Vertrauen erzählt und er hatte nicht vor, sein Vertrauen zu missbrauchen oder zu enttäuschen. Ryou, der sich kurz zuvor noch über das gewundert hatte, was sein schwarzhaariger Freund über seinen älteren Bruder erzählt hatte – Kaiba Seto und eine Wasserschlacht? –, kniff ärgerlich die Lippen zusammen, als er hörte, dass Mokuba mit Ryuuji gekuschelt hatte. Aus irgendeinem Grund gefiel ihm die Vorstellung, dass der Schwarzhaarige mit den grünen Augen seinem Freund zu nahe kam, gar nicht – ebenso wenig wie der schwärmerische Tonfall, den der Jüngere draufhatte, wenn er von seinem Stiefbruder sprach. Wütend ohne einen wirklich ersichtlichen Grund erhob der Weißhaarige sich von seinem Platz. "Es klingelt gleich. Wir sollten schon mal reingehen, sonst kommen wir nachher noch zu spät. Ihr wisst, wie allergisch Tanaka-sensei darauf reagier", murmelte er und machte sich auf den Weg in Richtung Schulgebäude, ohne auf die beiden anderen zu warten. Yuugi und Mokuba rappelten sich ebenfalls auf und folgten ihrem Freund. "Was ist denn mit Ryou los?", erkundigte der Schwarzhaarige sich dabei bei seinem bunthaarigen Freund und dieser zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Vielleicht hat er einfach nur schlechte Laune", mutmaßte er und schüttelte innerlich den Kopf, als Mokuba ihm das scheinbar problemlos glaubte. Wie kann man nur so blind sein? Wie kann Mokuba nur nicht sehen, was wirklich mit Ryou los ist?, fragte Yuugi sich, doch er behielt seine Gedanken für sich. Diese Angelegenheit ging nur den Weißhaarigen und den offenbar vollkommen ahnungslosen Schwarzhaarigen, der neben ihm lief, etwas an. Da würde er sich ganz sicher nicht einmischen. Mokuba das zu erklären war ganz alleine Ryous Sache, nicht seine. oOo Yami, der seinen besten Freund während der gesamten ersten vier Unterrichtsstunden sehr aufmerksam beobachtet hatte, zog ihn in der zweiten Pause zu ihrer etwas abseits stehenden Lieblingsbank und sah ihn dann fragend an. Irgendetwas beschäftigte Seto. Selbst wenn er blind und taub gewesen wäre, hätte er es trotzdem gespürt. Was mochte nur los sein? Hatte es möglicherweise mit den seltsamen Seitenblicken zu tun, die Seto seinem Stiefbruder immer wieder zugeworfen hatte, wann immer er der Meinung gewesen war, unbeobachtet zu sein? War zwischen dem Schwarzhaarigen und Seto irgendetwas vorgefallen? Nach einem Streit sah es nicht aus, aber was war es dann? Nachdem Yami mehrere Minuten lang auf eine Erklärung gewartet hatte – Minuten, während derer die Augen seines besten Freundes wieder einmal so lange suchend umhergeschweift waren, bis sie an der Gestalt seines Stiefbruders hängen geblieben waren –, beschloss er, einfach mal nachzufragen. Mehr als ausweichen konnte sein bester Freund seinen Fragen ja schließlich nicht. Seto seinerseits, der seinen Blick wieder einmal nicht von Ryuuji abwenden konnte – der Schwarzhaarige saß mit Jounouchi und Kinoshita auf einer der anderen Bänke und schien sich köstlich zu amüsieren –, zuckte zusammen, als sein bester Freund ihn so unvermittelt antippte und ihn so aus seinen Grübeleien riss. "Was ist denn?", erkundigte er sich leise und musste sich förmlich zwingen, dem Bunthaarigen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. "Das wollte ich dich gerade fragen, Seto", antwortete Yami und legte den Kopf schief. "Was ist los mit dir? Du bist schon den ganzen Tag so schweigsam, als wäre irgendetwas passiert. Außerdem beobachtest du Otogi ständig. Versuch nicht, das zu leugnen", verlangte er mit erhobener Hand, bevor sein bester Freund protestieren oder überhaupt etwas dazu sagen konnte. "Ich bin nicht blind, Seto. Ich habe Augen im Kopf und weiß sie auch zu benutzen. Egal, was Otogi tut, du starrst ihn die ganze Zeit an." Wenn er erwartet hatte, dass Seto sein Starren leugnen würde, so hatte Yami sich getäuscht. Stattdessen sah er etwas, was er noch nie gesehen hatte: Sein bester Freund wurde tatsächlich rot. Zwar nur ein winziges bisschen – seine Wangen färbten sich so zartrosa, dass jemand, der nicht darauf geachtet hätte, es sicher nicht einmal bemerkt hätte –, aber dennoch war es zumindest für Yami, der Seto schon seit Jahren kannte, nicht zu übersehen. Ungefähr eine Minute lang schwieg Seto, doch schließlich atmete er tief durch, um seiner Verlegenheit Herr zu werden, und sah seinen besten Freund geradeheraus an. "Ich weiß selbst nicht, warum ich das tue, Yami", gestand er und seufzte – eine weitere, für ihn vollkommen untypische Verhaltensweise, die den Angesprochenen die Stirn runzeln ließ. Was auch immer mit dem Brünetten nicht stimmte, war offensichtlich noch ernsterer Natur, als er gedacht hatte. "Habt ihr euch gestritten?", sprach Yami seine erste Vermutung aus, doch zu seiner Verwunderung schüttelte Seto nur den Kopf. "Nein. Nein, das haben wir nicht. Gestern ...", setzte er an, brach aber ab und schüttelte erneut den Kopf. Wie sollte er etwas, was er selbst nicht verstand, so in Worte fassen, dass sein bester Freund begriff, warum er selbst sich in der Gegenwart seines Stiefbruders so seltsam fühlte? Yami beobachtete den offensichtlichen Kampf, den Seto mit sich selbst ausfocht, einen Moment lang, bevor er diesem eine Hand auf den Arm legte. "Warum erzählst du mir nicht einfach von Anfang an, was los ist? Es macht nichts, ob du es verstehst oder nicht. Vielleicht kann ich dir ja irgendwie helfen, etwas Licht ins Dunkel zu bringen, wenn ich erst mal weiß, was dich so durcheinanderbringt. Einen Versuch wäre es jedenfalls wert, meinst du nicht?" Seto blickte eine Sekunde lang zögerlich in die violetten Augen seines besten Freundes, dann gab er sich einen Ruck und redete sich tatsächlich zum ersten Mal alles von der Seele, was ihn nun schon seit Wochen beschäftigte – angefangen von dem Kennenlernen und dem seltsamen Gefühl, das er bei der Umarmung Ryuujis gehabt hatte, über die Sache mit dem Tanz und dem Kuss auf der Geburtstagsparty Himuras, bei dem er nicht an das Mädchen in seinen Armen, sondern an grüne Katzenaugen und den dazugehörigen Jungen gedacht hatte. Er erzählte von dem Gespräch unter der Dusche nach dem Sportunterricht, das er belauscht hatte und bei dem sein Stiefbruder sich für ihn eingesetzt hatte, erwähnte dessen Verhalten bei der Hochzeit ebenso wie das, was seine Großeltern gesagt und getan hatten. Er verschwieg nicht, dass er den Schwarzhaarigen bei seinem Selbstgespräch in seinem Badezimmer belauscht hatte, und auch nicht, dass er ihn am Vortag in der Küche darauf angesprochen hatte. Auch die Tatsache, dass seine Gedanken einfach immer wieder um seinen Stiefbruder kreisten, behielt er nicht für sich – ebenso wenig wie er verschwieg, wie sehr ihn das enge Verhältnis Mokubas zu Ryuuji störte. Selbst von den – zugegebenermaßen mehr als unziemlichen – Gedanken, die er unter der Dusche nach der Wasserschlacht im Pool gehabt hatte, erzählte er, denn er wusste, dass er Yami vorbehaltlos vertrauen konnte. "Ich begreife das einfach nicht, Yami. Ich weiß nicht, warum ich das tue; weiß nicht, warum ich so etwas denke oder warum ich so unruhig bin, sobald ich mit ihm alleine bin. Ich verstehe nicht, warum ich einfach nicht wegsehen kann, wenn er in der Nähe ist. Ich weiß nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. Verstehst du das?" Beinahe hilfesuchend sah Seto seinen besten Freund an, nachdem er seine Erzählung beendet hatte. Ob Yami ihm tatsächlich helfen konnte, etwas Licht ins Dunkel zu bringen? Yami ließ sich das, was Seto gesagt hatte, noch einmal gründlich durch den Kopf gehen. Für ihn klang das eben Gehörte mehr als eindeutig, aber ob Seto das würde wahrhaben wollen? Nun, er hatte um Rat gefragt, also würde er ihm sagen, was seiner Meinung nach hinter seinem seltsamen Verhalten steckte. Dafür gab es schließlich nur eine passende Erklärung. Aber wie sollte er Seto klarmachen, was mit ihm los war, ohne dass dieser gleich aufsprang und es als Unsinn abtat? Das war wirklich eine schwierige Frage. Wie gebannt starrte Seto seinen besten Freund an, als dieser erst einmal gar nichts sagte, sondern ihn geradezu anschwieg. Wusste er etwa auch nicht, was das alles zu bedeuten hatte? Nein, überzeugte Seto sich selbst. Yami sah eher so aus, als überlegte er, wie er ihm am besten erklären konnte, was seine wirren Gedanken zu bedeuten hatten. Aber warum in aller Welt dauerte das so verflucht lange? Wenn er so lange nach Worten sucht, kann es nur etwas Unangenehmes sein, dachte er, aber Yamis Stimme – und vor allem dessen Worte – holten ihn wieder in die Realität zurück. "Wenn du mich fragst, was ich über diese ganze Sache denke, dann würde ich sagen, du hast dich in Otogi Ryuuji verliebt." Dieser Satz traf Seto vollkommen unvorbereitet und seine Augen weiteten sich, als er die Bedeutung begriff. Verliebt? Er sollte verliebt sein? Und das auch noch ausgerechnet in seinen Stiefbruder Ryuuji, einen anderen Jungen? Das ging doch nicht! Das war vollkommen unmöglich! "Du bist verrückt geworden!" Yami seufzte, als sein bester Freund ihn förmlich anfauchte. Genau mit dieser Reaktion hatte er gerechnet, deshalb blieb er vollkommen gelassen und schüttelte einfach nur den Kopf. "Das kann nicht dein Ernst sein, Yami! Du machst Witze! Ryuuji ist doch kein Mädchen! Er ist ein Junge! Ich kann unmöglich in einen Jungen verliebt sein! Das kann nicht wahr sein!" "Du hast mich nach meiner Meinung gefragt, Seto. Das ist meine Meinung. Du bist verliebt." Der Bunthaarige ließ sich von dem Ausbruch seines besten Freundes ebenso wenig beeindrucken wie von den blauen Augen, die beinahe Funken zu sprühen schienen vor Wut. "Und egal, ob es dir gefällt oder nicht und ob du es wahrhaben willst oder nicht, es ist so. Das hat nichts mit Otogis Geschlecht zu tun, sondern nur mit deinen Gefühlen für ihn", erklärte er stattdessen ruhig. Seto war kurz davor, von der Bank aufzuspringen und Yami einfach sitzen zu lassen. Wie konnte er so etwas behaupten? Wie konnte er ihm so etwas unterstellen? Das ging doch nicht! Er – ausgerechnet er – konnte sich doch nicht in einen anderen Jungen verliebt haben! Das war vollkommen unmöglich! Das konnte einfach nicht wahr sein! "Und woher willst du das bitteschön so genau wissen?", erkundigte der Brünette sich aufgebracht, doch Yami begegnete seinem Blick vollkommen gelassen. "Weil mir diese Gefühle, die du im Augenblick hast, selbst auch nicht fremd sind, Seto", erwiderte er ohne die geringste Spur von Verlegenheit und nahm dem Angesprochenen damit vollkommen den Wind aus den Segeln. Bedeuteten diese Worte wirklich das, was er glaubte? Konnte das tatsächlich wahr sein? "Soll das heißen, du ... du bist ... du hast ..." Seto war sein Stottern mehr als peinlich, aber er konnte nichts dagegen tun. Das Begreifen dessen, was sein bester Freund ihm gerade so in einem Nebensatz mitgeteilt hatte, machte es ihm im Augenblick einfach unmöglich, sich vernünftig zu artikulieren. "Seit wann ...? Wieso ... Du hast mir nie ... ich meine ..." "Ich weiß es schon seit ungefähr einem Jahr. Und ich habe es dir bisher noch nicht erzählt, weil ich nicht wusste, wie ich es dir sagen sollte. Aber ich wollte es dir nicht verschweigen, auch wenn du das jetzt vielleicht denkst." Yami seufzte abgrundtief und lächelte dann zaghaft. "Du siehst also, du musst dir keinerlei Sorgen darum machen, dass ich dich jemals in die Verlegenheit bringen würde, mich mit Masaki aus der Parallelklasse zusammenzutun", versuchte er zu scherzen und wurde tatsächlich mit einem etwas verunglückten, aber nichtsdestoweniger ehrlichen Lächeln seines besten Freundes belohnt. "Da bin ich allerdings sehr erleichtert. Ich hatte schon Alpträume deswegen", gestand Seto und Yami schüttelte leise lachend den Kopf. "Nein, keine Sorge. Sie ist ein ganz nettes Mädchen, aber sie ist nun einmal nichtsdestotrotz ein Mädchen und damit nicht ganz das, was ich suche", erwiderte er und grinste, als der Brünette sichtlich aufatmete. Seto schwieg einen Moment, dann warf er seinem besten Freund einen nachdenklichen Blick zu. "Und was suchst du dann?", erkundigte er sich und das Grinsen des Bunthaarigen verrutschte gehörig. "Wenn ich dir das sage, wird es dir nicht gefallen. Ganz und gar nicht, Seto. Da bin ich mir ziemlich sicher", erwiderte er, seufzte jedoch, als er begriff, dass er nicht um eine ehrliche Antwort herumkam. "Also gut. Aber ich sag nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt." Yami atmete noch einmal tief durch und kniff die Augen so fest zusammen, als wollte er die Reaktion auf seine Worte um keinen Preis sehen. "Kinoshita", nuschelte er dann so leise, dass der Brünette ihn kaum verstand. Am liebsten wäre er auf der Stelle im Erdboden versunken. Nicht nur, dass er seinem besten Freund gerade mitten auf dem Schulhof gestanden hatte, dass Mädchen ihn nicht im Geringsten interessierten; nein, er hatte zu allem Überfluss auch noch zugegeben, wer ihn wesentlich mehr faszinierte, als gut für ihn sein konnte. "Das ist nicht dein Ernst!", keuchte Seto nach einem Moment des Schweigens. Fassungslos sah er seinen bunthaarigen Freund an, doch dessen Gesichtsausdruck machte ihm klar, dass er keinesfalls gescherzt hatte. Er hatte wirklich eine Schwäche für Kinoshita Bakura. Auch das noch! Blaue Augen irrten über den Schulhof, bis sie ihren weißhaarigen Klassenkameraden gefunden hatten, der wie üblich in der letzten Zeit mit Jounouchi und Otogi zusammensaß und scheinbar eine Menge Spaß mit den beiden Jüngeren hatte. "Ich weiß selbst, dass ich keine Chance bei Kinoshita habe. Er ist ja schließlich mit Jounouchi zusammen", murmelte Yami gerade und Seto ruckte augenblicklich herum. "Was?!", entfuhr es ihm und Yami sah ihn verdutzt an. "Willst du mir etwa sagen, du hast nichts davon bemerkt, dass zwischen Kinoshita und Jounouchi etwas läuft?", fragte er und blinzelte irritiert, als sein bester Freund den Kopf schüttelte. "Nein, das habe ich nicht", gestand dieser wahrheitsgemäß und sein Blick irrte wieder zu der Dreiergruppe hinüber. Ob sein Stiefbruder wusste, was zwischen seinem besten Freund und dessen weißhaarigem Beinahe-Bruder vorging? Warum sollte er das nicht wissen? Jounouchi ist nun wirklich niemand, der so etwas für sich behalten könnte, sinnierte Seto. Ob Ryuuji sich wohl daran störte? Unbewusst schüttelte Seto den Kopf. Nein, ganz sicher nicht. So nah, wie der Blondschopf und der Schwarzhaarige sich offenbar standen – das war ja schließlich an Ryuujis erstem Schultag schon nicht zu übersehen gewesen –, war Jounouchis sexuelle Orientierung augenscheinlich kein Problem für seinen Stiefbruder. Nun ja, er ist zur Hälfte Amerikaner. In Amerika geht man wohl offener mit diesem Thema um als hier in Japan, ging es Seto durch den Kopf, doch als ihm bewusst wurde, dass er Ryuuji schon wieder länger ansah, als gut für ihn war, wandte er schnell den Blick ab und sah sich gleich darauf mit den violetten Augen seines besten Freundes konfrontiert, die ihn gleichermaßen unsicher und fragend wie wissend musterten. "Ist es wirklich so offensichtlich?", wollte Seto leise wissen und Yami nickte, denn er hatte sofort verstanden, worauf diese Frage abzielte. "Für jemanden wie mich, der dich lange und gut genug kennt, schon. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es einem Außenstehenden auffallen würde", beruhigte er seinen besten Freund und dieser atmete erneut auf. Darauf, dass irgendjemand das bemerkte, konnte er wirklich mehr als gut verzichten. Es reichte vollkommen aus, wenn Yami davon wusste. "Und was wirst du jetzt unternehmen, Seto? Wirst du Otogi davon erzählen?", erkundigte der Bunthaarige sich und der Angesprochene seufzte unhörbar. "Ich ... ich weiß es nicht. Darüber muss ich erst nachdenken", murmelte er leise und erhob sich von der Bank, als es zum Unterricht klingelte. Yami tat es ihm gleich und folgte ihm in das Schulgebäude hinein, um die letzten beiden Unterrichtsstunden auch noch hinter sich zu bringen. Seto entging nicht, dass sein bester Freund auf dem Weg zum Klassenraum für seine Verhältnisse ungewöhnlich schweigsam und in sich gekehrt war. "Ich hoffe, du denkst nicht, dein Geständnis von eben hätte in irgendeiner Form Auswirkungen auf unsere Freundschaft", sprach er ihn deshalb an und als Yami aufblickte, zierte ein Lächeln sein Gesicht. "Das hatte ich auch nicht erwartet, Seto. Du bist einfach nicht der Typ, der jemandem etwas vorwirft, wofür er nichts kann", erwiderte er und Seto lächelte zurück, sagte aber nichts mehr. Was zu klären gewesen war, war geklärt, also gab es keinen Grund mehr für weitere Worte. Ohne es wirklich zu wollen, atmete Yami innerlich erleichtert auf. Er hatte, wenn er ehrlich war, doch ein wenig Angst davor gehabt, seinem besten Freund von seiner sexuellen Orientierung zu erzählen – aus diesem Grund hatte er dieses Gespräch schließlich auch immer wieder vor sich hergeschoben –, aber jetzt, wo Seto Bescheid wusste, fühlte er sich, als wäre ihm ein tonnenschweres Gewicht vom Herzen gerutscht. Er hätte vorher wissen müssen, dass Seto ihm keinen Vorwurf daraus machen würde. Trotzdem war er froh, dass dieses Geständnis, wie Seto gesagt hatte, keinerlei Auswirkungen auf ihre Freundschaft haben würde. Davor hatte er sich wirklich gefürchtet, aber sein bester Freund hatte seine Bedenken gleich zerstreut. Wer hätte gedacht, dass es ihm ähnlich gehen könnte wie mir?, dachte der Bunthaarige und warf einen Blick zu der aus Kinoshita, Jounouchi und Otogi bestehenden Dreiergruppe, die miteinander plaudernd ebenfalls gerade zum Klassenraum kam. Als hätte der Schwarzhaarige seinen Blick gespürt, drehte er sich um und musterte ihn kurz mit diesen intensiven grünen Katzenaugen, die es Seto seinen eigenen Worten nach zu urteilen so angetan hatten, bevor er ihm grinsend zuzwinkerte und sich dann wieder zu seinen beiden Freunden umdrehte, um sein Gespräch mit ihnen fortzusetzen. Überrascht zog Yami eine Braue hoch. Irrte er sich oder machte es Otogi wirklich erstaunlich wenig aus, Gegenstand einer derart offensichtlichen und unverhohlenen Musterung zu sein? Nun, schüchtern ist er jedenfalls nicht. Jetzt müsste es nur noch irgendwie möglich sein, aus ihm herauszubekommen, wie er genau zu Seto steht, sinnierte Yami und legte nachdenklich die Stirn in Falten. Es wurde eindeutig Zeit, dass er seinen besten Freund wieder einmal bei sich zu Hause besuchte. Immerhin wohnte Otogi ja jetzt auch dort. Gab es eine bessere Möglichkeit, die Chancen seines besten Freundes bei dem Schwarzhaarigen unauffällig auszuloten? Wohl kaum. Seto, dem das Zwinkern seines Stiefbruders in Yamis Richtung nicht entgangen war, presste seine Lippen so fest zusammen, bis sie nur noch ein schmaler Strich waren. Was hatte das denn bitteschön zu bedeuten? Was hatte Ryuuji dem Bunthaarigen damit sagen wollen? Jetzt mach dich doch nicht lächerlich, Seto, ermahnte er sich selbst. Sein bester Freund und sein Stiefbruder konnten keine Geheimnisse vor ihm haben. Wie auch? Immerhin kannten sie sich doch bisher noch gar nicht richtig. Außerdem zwinkerte der Schwarzhaarige anderen – zum Beispiel auch einigen der Mädchen aus ihrer oder einer der anderen Klassen – schließlich auf die gleiche Art und Weise zu. Das hatte also nichts Besonderes zu bedeuten. Trotzdem störte es ihn ganz gewaltig, das konnte Seto nicht leugnen – egal ob bei Yami oder bei einem der Mädchen. Ob Yami wirklich Recht hat mit dem, was er vorhin gesagt hat? Könnte ich wirklich in Ryuuji verliebt sein? Wenn dem so wäre, dann wäre das Gefühl, das er immer hatte, wenn er Mokuba und ihren Stiefbruder zusammen sah – das gleiche Gefühl, das er gerade gehabt hatte, als er das Zwinkern gesehen hatte – wohl logischerweise Eifersucht. Das Auftauchen von Takeda-sensei, ihrem Englischlehrer, unterband jegliche weitere Grübelei und verschob alle Fragen, die sich Seto in Bezug auf seine Gefühle aufdrängten, auf die Zeit nach dem Ende des Unterrichts. Gemeinsam mit seinen Klassenkameraden betrat Seto den Klassenraum und setzte sich auf seinen Platz neben Yami. Er gab sich Mühe, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, aber es fiel ihm ungewohnt schwer. Wann immer Takeda-sensei seinen Stiefbruder aufrief, musste Seto sich schon beinahe zwingen, nicht zu dem Schwarzhaarigen hinüberzusehen. Einigermaßen erleichtert atmete er daher auf, als es endlich zum Ende des Unterrichts klingelte, doch als ihm wieder einfiel, dass sein Vater und seine Stiefmutter sie beide und Mokuba abholen wollten, um erst gemeinsam mit ihnen zu Mittag zu essen und dann etwas als ›Familie‹ zu unternehmen, hätte er beinahe frustriert aufgestöhnt. Warum in aller Welt war ihm denn keine Ruhe vergönnt – ausgerechnet jetzt, wo er sie wirklich gebraucht hätte? Kapitel 15: Familienfreud und -leid ----------------------------------- Irgendwie gelang es Seto, die Woche der Familienausflüge einigermaßen unbeschadet hinter sich zu bringen. Für seine Grübeleien über seine Gefühle blieb ihm allerdings nicht viel Zeit, denn seine Tage – inklusive des Wochenendes – waren vollkommen verplant, so dass er nicht viel mehr tun konnte, als jeden Abend todmüde ins Bett zu fallen und beinahe auf der Stelle einzuschlafen. Das bewahrte ihn allerdings, wie er jeden Morgen aufs Neue frustriert feststellen musste, nicht davor, von seinem Stiefbruder zu träumen. Das Einzige, was ihn aufatmen ließ, war die Tatsache, dass ihm glücklicherweise niemand ansah, was in ihm vorging – niemand außer Yami, der ihm in den Pausen regelmäßig besorgte Blicke zuwarf, ihn allerdings nicht zum Reden drängte. Der Bunthaarige wusste einfach, dass sein bester Freund schon von selbst mit ihm sprechen würde, wenn ihm danach war. Allerdings hatte Seto in dieser Woche nicht wirklich den Wunsch nach Kommunikation verspürt. Wann immer er eine freie Minute gehabt hatte, hatte er versucht, sein Problem zu überdenken, es von allen Seiten zu betrachten und eine Lösung dafür zu finden, aber ihm war einfach keine angemessene Reaktion eingefallen. Sollte er seinem Stiefbruder – der sich inzwischen augenscheinlich auch mit seinem Vater besser verstand – wirklich von seinen Gefühlen erzählen? Aber was tue ich, wenn ihm das nicht recht ist? Wenn es ihm unangenehm ist? Was, wenn er mich nicht mehr um sich haben will, wenn er es weiß? So schwer es ihm auch fiel, das einzugestehen, in der letzten Woche hatte Seto festgestellt, dass er sich ausgesprochen gerne in Ryuujis Nähe aufhielt. Er hatte sich irgendwann – sehr zur Freude seiner Stiefmutter und seines kleinen Bruders und zur Erleichterung seines Vaters – dazu überwunden, sich mit Ryuuji zu unterhalten, und dabei hatte er festgestellt, dass dessen Gegenwart ihm durchaus angenehm war. Sicher, er war hin und wieder immer noch etwas befangen gewesen, aber wenn er sich ins Gedächtnis gerufen hatte, dass der Schwarzhaarige von seinen Gefühlen nichts ahnen konnte, war er gleich wieder ruhiger geworden. Alles in allem konnte Seto nicht leugnen, dass die letzte Woche, die er mit seiner neuen Familie verbracht hatte, entgegen seiner Erwartungen regelrecht schön gewesen war. Der einzige Wermutstropfen für ihn war nach wie vor das ausgesprochen gute Verhältnis seines kleinen Bruders und seines Stiefbruders. Auch jetzt, am Sonntagabend, während er selbst seinem Vater und seiner Stiefmutter bei den Vorbereitungen für ihre Hochzeitsreise half – er hatte sich freiwillig angeboten, denn er hatte die beiden Jüngeren einfach nicht schon wieder zusammen sehen wollen –, befand sich Ryuuji in Mokubas Zimmer und half diesem beim Packen, denn der Fünfzehnjährige würde die nächste Woche ebenfalls nicht zu Hause verbringen, weil seine Klasse auf Klassenfahrt fuhr. Während Yukiko damit beschäftigt war, ein paar weibliche Toilettenartikel einzupacken, die sie brauchen würde, nahm Gozaburo seinen Ältesten beiseite und betrachtete ihn prüfend. Ihm war nicht entgangen, dass sein Sohn sich in der vergangenen Woche aller Befürchtungen zum Trotz wirklich hin und wieder wirklich amüsiert hatte. Er hatte es nicht nur vorgetäuscht, sondern die Gesellschaft seiner Stiefmutter – und auch die seines Stiefbruders – augenscheinlich tatsächlich akzeptiert. "Nun, Seto, wie war die letzte Woche für dich?", erkundigte der CEO sich dennoch und der Angesprochene schenkte seinem Vater ein schmales, aber nichtsdestoweniger ehrliches Lächeln. "Anstrengend", antwortete er wahrheitsgemäß und aus seinem Lächeln wurde ein Grinsen, als er das verblüffte Gesicht seines Vaters sah. "Aber ansonsten hat sie mir sehr gefallen. Trotzdem war es anstrengend und ich werde die nächste Woche ganz sicher zum Erholen brauchen." Was allerdings weniger an seiner tatsächlichen Erschöpfung als an der Notwendigkeit lag, endlich einmal in aller Ruhe darüber nachzudenken, was genau er im Bezug auf seinen Stiefbruder denn nun unternehmen wollte. Aber das würde er seinem Vater ganz sicher nicht erzählen, dachte Seto. Das ging ihn nichts an – jedenfalls nicht, solange er sich nicht entschieden hatte, was er tun wollte und wie es weitergehen sollte. Im Laufe der vergangenen Woche war Seto sich seiner Gefühle für Ryuuji immer sicherer geworden. Sein bester Freund Yami hatte – so unangenehm es auch war, das zuzugeben – diesbezüglich vollkommen Recht gehabt. Er hatte sich wirklich in den Schwarzhaarigen verliebt. Aber wie er jetzt weiter vorgehen wollte oder sollte, wusste Seto nicht. Darüber, so hoffte er, würde er sich im Verlauf der nächsten Woche, in der er mit Ryuuji und Isono alleine in der Villa sein würde, klar werden. Und dann würde er weitersehen. "Ich hatte den Eindruck, dass du dich ganz gut mit Ryuuji verstanden hast." Gozaburo sah seinen Sohn forschend an. In der Tat hatte ihn das besonders überrascht. Seto hatte sich seinem Stiefbruder gegenüber wesentlich weniger feindselig und schroff verhalten als zu Beginn, nachdem die Zwei sich kennengelernt hatten. Im Laufe der Woche hatten die beiden Jungen augenscheinlich sogar einige gemeinsame Themen gefunden, denn sie hatten sich hin und wieder recht angeregt miteinander unterhalten – eine Tatsache, die den CEO gleichermaßen erstaunt wie beruhigt hatte. Er hatte einige Bedenken gehabt, die Zwei eine ganze Woche lang nur mit Isono alleine zu lassen, aber scheinbar waren seine Sorgen unbegründet. "Wir hatten ja auch genug Zeit, um uns aneinander zu gewöhnen", erwiderte Seto ausweichend. Dass er es genossen hatte, mit dem Schwarzhaarigen zu sprechen und im Mittelpunkt der alleinigen Aufmerksamkeit von dessen grünen Katzenaugen zu stehen, behielt er allerdings für sich. Jedes Mal, wenn es ihm gelungen war, Ryuuji dazu zu bringen, mit ihm statt mit Mokuba zu reden, hatte er innerlich triumphiert. Und jedes Lächeln, das Ryuuji ihm und nur ihm geschenkt hatte, hatte sich ihm unauslöschlich eingebrannt und ihn abends in seinem Bett ebenfalls mit einem Lächeln einschlafen lassen. Aber das war nichts, was er mit seinem Vater besprechen wollte. "Also werdet ihr keine Schwierigkeiten haben, wenn ihr hier eine ganze Woche alleine unter einem Dach verbringt?", erkundigte Gozaburo sich und atmete erleichtert auf, als sein ältester Sohn den Kopf schüttelte. "Nein, Vater. Bestimmt nicht." Eigentlich, wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste Seto sich eingestehen, dass er sich auf die nächste Woche freute – und das, obwohl er sich gleichermaßen auch davor fürchtete. Was, wenn er einen Fehler machte und dadurch alle Sympathien, die auf Ryuujis Seite eventuell vorhanden waren, zerstörte? Denk nicht darüber nach. Nicht jetzt, ermahnte der Brünette sich selbst und lächelte, als Yukiko aus dem Badezimmer wiederkam. Durch das Auftauchen seiner Stiefmutter stand er nicht mehr unter der völligen Aufmerksamkeit seines Vaters und so sah dieser nicht, dass ihn etwas beschäftigte. Seinem Vater die Wahrheit über seine Gefühle beizubringen würde auch so schon schwierig genug werden. Darauf wollte er sich gründlich vorbereiten. Aber bevor das aktuell wurde, musste er erst einmal mit seinem Stiefbruder sprechen. Dass er sich gerade praktisch schon entschieden hatte, wie sein nächster Schritt aussehen würde, war Seto nicht bewusst. oOo Während sein Bruder ihrem Vater und ihrer Stiefmutter noch beim Packen half, packte Mokuba in seinem Zimmer mit Ryuujis Hilfe ebenfalls seinen Koffer für die bevorstehende Klassenfahrt. "Ich finde das doof. Ausgerechnet in der Woche, wo Seto, du und ich hier sturmfrei hätten, bin ich nicht da", schmollte er dabei und Ryuuji lachte. "Hey, das wird sicher nicht das letzte Mal sein", versuchte er, den Jungen zu beschwichtigen. Dabei wäre es ihm eigentlich auch lieber gewesen, wenn der Fünfzehnjährige nicht die ganze nächste Woche wegfahren würde – wenn auch aus einem völlig anderen Grund. Eine ganze Woche alleine mit Seto und Isono-san. Danach bin ich reif für die Klapse, dachte Ryuuji bei sich und unterdrückte mühsam ein Seufzen. Das war einfach nicht fair. Nicht nur, dass der Brünette sich ihm gegenüber in der ganzen letzten Woche auf eine Weise verhalten hatte, die ihm immer wieder Hoffnungen gemacht hatte; nein, ab dem nächsten Tag würden sie auch eine ganze Woche lang alleine in der Villa leben, nur hin und wieder beaufsichtigt von Isono. Die Woche wird hart. Ich glaub, ich sollte so oft wie möglich was mit Kats und Bakura unternehmen. Doch, das war sicher eine gute Idee. Je seltener er auf seinen älteren Stiefbruder traf, desto sicherer konnte er sein, dass er keinen Fehler machen würde. Auf keinen Fall wollte er das Verhältnis zu Seto, das sich in der letzten Woche geradezu rasant gebessert hatte, aufs Spiel setzen. Dafür war es ihm viel zu wichtig geworden, Zeit mit dem Brünetten verbringen zu können. "Trotzdem ist es blöd." Mokubas Schmollen riss Ryuuji wieder aus seinen Grübeleien und er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Kleine war wirklich goldig. "Aber wenigstens ist Seto jetzt nicht mehr so fies zu dir, also werdet ihr euch ganz sicher nicht streiten, solange ich weg bin." Ich hab ihm ja gleich gesagt, dass Ryuuji nett ist, triumphierte der Fünfzehnjährige innerlich. Ihm war nicht entgangen, dass seine beiden älteren Brüder im Verlauf der letzten Woche begonnen hatten, sich miteinander zu unterhalten und sich besser zu verstehen. "Ich bin echt froh, dass ihr euch jetzt vertragt." Mokubas zufriedene Gesicht reizte Ryuuji zum Lachen. "Du bist echt ne Marke, Mokuba", kicherte er und ließ sich auf das Bett seines Stiefbruders fallen. Mokuba schob schmollend die Unterlippe vor, doch dann schlich sich ein Grinsen auf seine Lippen. In der letzten Woche hatte er mitbekommen, dass Ryuuji furchtbar kitzlig war – Wissen, das er jetzt auszunutzen gedachte. Ryuuji versuchte noch, aufzustehen und Abstand zwischen sich und Mokuba zu bringen, als er das unheilverkündende Blitzen in dessen blauen Augen sah, doch es war schon zu spät. Mit einem Schrei stürzte Mokuba sich auf seinen Stiefbruder und kitzelte diesen so durch, dass er nach einer Weile nur noch lachend und japsend um Gnade betteln konnte. Der Fünfzehnjährige lachte ebenfalls, während er halb über dem Älteren kniete, seine Hände festhielt und ihn gleichzeitig erbarmungslos weiterkitzelte. Himmel, es machte so viel Spaß, mit seinem Stiefbruder herumzutoben! Endlich hatte er jemanden, der nicht behauptete, dass er dafür keine Zeit habe, zu beschäftigt sei oder dem das einfach zu albern war! Ganz offenbar genoss Ryuuji es mindestens ebenso sehr wie er, wenn sie Zeit zusammen verbringen konnten – auch wenn sie manchmal einfach nur miteinander herumtollten wie kleine Kinder. Endlich jemand, dem das nicht zu peinlich war! Genau so – Ryuuji vollkommen zerzaust und mit halb hochgerutschtem Shirt und Mokuba mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht halb über ihm kniend – fand Seto seinen kleinen Bruder und seinen Stiefbruder vor, als er auf eine Bitte seiner Stiefmutter hin die beiden zum Abendessen abholen wollte. Wie erstarrt blieb der Brünette in der Tür stehen, die er, da auf sein Klopfen hin niemand reagiert hatte, einfach geöffnet hatte. Der Anblick, der sich ihm bot, verschlug Seto einen Moment lang die Sprache. Was war denn das? Bevor er allerdings dazu kam, in irgendeiner Form zu reagieren oder auch nur an einen strategischen Rückzug zu denken, hatte Ryuuji ihn auch schon entdeckt und warf ihm einen flehenden Blick aus seinen grünen Katzenaugen zu. Und als er auch noch förmlich um Hilfe bettelte – "Seto, hilf mir! Bitte!", bat er kichernd –, handelte Seto, ohne weiter nachzudenken. Er trat zum Bett seines kleinen Bruders, packte Mokuba und zog ihn von ihrem schwer um Atem ringenden Stiefbruder weg. "Spielverderber!", schmollte der jüngere Schwarzhaarige, doch als sein Bruder ihn darauf hinwies, dass ihre Eltern – er benutzte dieses Wort zum ersten Mal und auch mehr aus Verzweiflung, weil er nicht wusste, wie er den Fünfzehnjährigen sonst von ihrem Stiefbruder wegbekommen sollte – im Esszimmer auf sie warteten, um ein gemeinsames Abendessen als Familie einzunehmen, sprintete dieser gleich freudestrahlend nach unten. "Danke." Noch immer lag Ryuuji rücklings auf Mokubas Bett und versuchte, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dennoch waren seine Augen unverwandt auf Seto gerichtet und dieser begann, sich unter dem intensiven Blick gleich wieder unwohl zu fühlen. Warum nur hatte er das Gefühl, dass der Besitzer dieser grünen Katzenaugen ihn vollkommen durchschauen könnte, falls er es jemals wirklich versuchen würde? "Keine Ursache. Deine Mutter bat mich, euch beide zum Essen zu holen." Wie er es schaffte, zwei ganze Sätze zu sprechen, ohne sich räuspern zu müssen, wusste er nicht zu sagen. Wann immer er mit seinem Stiefbruder alleine war, fühlte er sich unglaublich unsicher und nervös, aber zu seiner eigenen Verwunderung war es ihm bisher immer gelungen, das zu verbergen – eine Tatsache, für die er mehr als dankbar war. Was würde der Schwarzhaarige nur von ihm denken, wenn er erfuhr, was in seinem Kopf vor sich ging? Nein, das wollte er sich lieber nicht vorstellen. Er wollte keine Abscheu in den schönen grünen Augen sehen, die ihn immer mehr in ihren Bann zogen, je öfter er sie sah. Ryuuji musterte Seto von unten herauf. Hin und wieder war ihm im Laufe der letzten Woche aufgefallen, dass dieser ihn ab und zu einfach nur stumm angesehen hatte. Diese Blicke hatten ihn jedes Mal aufs Neue furchtbar nervös gemacht. Was mochte der Brünette wohl denken, wenn er ihn so ansah? Was ging dann wohl in seinem Kopf vor? Ob er was gemerkt hat? Nein, das war unwahrscheinlich. Schließlich hatte er sich in keinster Weise auffällig verhalten, das wusste er. Nicht einmal seine Mutter hatte auch nur die geringste Ahnung, was er dachte, wenn er seinen älteren Stiefbruder ansah. Und ich werde alles tun, damit es auch so bleibt, nahm Ryuuji sich felsenfest vor und wollte sich aufrappeln, um endlich nach unten zu gehen, starrte stattdessen allerdings vollkommen überrumpelt auf die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. Was war denn jetzt kaputt? Seto wusste nicht, was genau ihn bewogen hatte, seinem Stiefbruder seine Hand zu reichen, um ihm aufzuhelfen. Als Ryuuji seine Hand jedoch ergriff und sich von ihm hochziehen ließ, erfuhr er zum ersten Mal in seinem Leben am eigenen Leib, was es bedeutete, Schmetterlinge im Bauch zu haben. Die Berührung der fremden Hand – auch wenn sie noch so kurz und noch so gering war – reichte vollkommen aus, um seinen ganzen Körper unter Strom zu setzen. So schnell wie möglich ließ er Ryuujis Hand wieder los, als hätte er sich verbrannt, und wandte sich zum Gehen. Auf keinen Fall sollte der Schwarzhaarige bemerken, dass er ihn um ein Haar an sich gezogen und geküsst hätte. Ryuuji sah dem Anderen irritiert nach. Was war das denn gerade für ein Blick gewesen, mit dem dieser ihn bedacht hatte? Dieser Ausdruck in den azurblauen Augen ... Er sah ... verwirrt aus. Überrascht. Und sogar etwas ängstlich, sinnierte der Schwarzhaarige und setzte sich langsam in Bewegung. Dabei kaute er nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Er war so in seine Gedanken vertieft, dass ihm die Seitenblicke, die Seto ihm auf dem Weg nach unten zuwarf, völlig entgingen. oOo "Du hast es schon wieder getan!" Außer sich vor Wut fixierte Bakura seine Mutter über den Küchentisch hinweg. "Warum? Verdammt, warum tust du das? Hast du deshalb nicht schon genug verloren?", fauchte er und Anna sah ihren älteren Sohn aus großen Augen an. "Woher ... Bakura, woher weißt du davon?", fragte sie leise, doch der Angesprochene schnaubte nur. "Das ist doch vollkommen egal! Es reicht, dass ich es weiß. Verdammt, willst du wieder auf der Straße stehen? Was glaubst du, was Chiaki tun wird, wenn er es erfährt?" Verdammt, sah sie denn nicht, dass sie schon wieder alles aufs Spiel setzte? Wie konnte sie so blind sein? Da er nicht mehr ruhig sitzen blieben konnte, stand Bakura von dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, auf und begann, unruhig in der Küche herumzutigern. "Reicht es nicht, dass du mit diesem Scheiß schon einmal alles kaputtgemacht hast? Musst du jetzt wieder damit anfangen? Willst du noch einmal alles verlieren?" Bakura verstand seine Mutter einfach nicht. Was war nur in sie gefahren? Warum in aller Welt tat sie es schon wieder? Warum konnte sie nicht aus ihren Fehlern lernen? Warum musste sie schon wieder anfangen, alles zu zerstören – und das auch noch ausgerechnet jetzt, wo es für sie beide so gut lief? Anna beobachtete ihren Ältesten dabei, wie er aufgebracht und wild gestikulierend durch die Küche lief. Ihm war nur zu gut anzusehen, wie wütend er war. Seine Augen – die dunkelbraunen Augen, die er ebenso wie sein jüngerer Bruder Ryou von ihrem leiblichen Vater geerbt hatte – waren nur noch schmale Schlitze, er knirschte mit den Zähnen und kämpfte ganz offensichtlich mühsam gegen den Drang an, irgendetwas gegen die nächste Wand zu werfen. Woher hatte der Junge bloß dieses Temperament? Er konnte es weder von ihr noch von seinem Vater haben, denn sie waren beide eher ruhige Menschen – genauso ruhig wie ihr kleiner Ryou. Wie so oft begann Anna sich auch jetzt wieder zu fragen, ob Bakura wirklich der leibliche Sohn des Mannes war, der sie und ihren damals vier Jahre alten Sohn aus Russland nach Japan geholt hatte. Mach dich nicht lächerlich. Natürlich ist er Satorus Sohn. Er hat die gleichen Augen wie sein Vater und sein Bruder. Und dennoch war Bakura vom Wesen her ganz anders als sein Vater oder auch sein Bruder. Satoru und auch Ryou waren ruhige, ausgeglichene Menschen – zumindest meistens –, aber Bakuras Temperament und seine Aggressivität waren auch für sie, seine eigene Mutter, zuweilen mehr als beängstigend. Manchmal verstand sie ihren Ältesten einfach nicht. Was ging nur in seinem Kopf vor? "Was auch immer ich tue oder nicht tue, hat dich nicht zu kümmern. Ich hatte meine Gründe für das, was ich getan habe." Die Worte seiner Mutter ließen Bakura herumfahren. Wenn es möglich war, wurden seine Augen noch schmaler. "Es kümmert mich aber", erwiderte er mit erzwungener Ruhe. Es brachte nichts, wenn er sie anschrie, das wusste er. Immerhin würde sie dann erst recht unzugänglich werden. "Außerdem habe ich es für Chiaki getan – und für dich", fuhr Anna fort und wich im nächsten Moment zurück, als ihr Sohn den Tisch umrundete und auf sie zukam. Erst als sie mit dem Rücken an die Wand hinter sich stieß, blieb sie gezwungenermaßen stehen und sah trotzig zu ihrem Sohn auf, der sie um gut einen Kopf überragte. "Du hast es für ihn getan?", fragte Bakura gefährlich leise, bevor er seine Fäuste rechts und links vom Gesicht seiner Mutter krachend gegen die Wand schlug. "Bist du vollkommen verrückt geworden? Soll er dich rauswerfen? Willst du wieder auf der Straße leben müssen wie vor zwei Jahren? Willst du das? Willst du wieder alles wegwerfen, was du hast? Willst du noch mal alles verlieren? Hat dir das erste Mal nicht gereicht?" Bakura hatte sich so sehr in Rage geredet, dass ihn erst der verunsicherte Blick aus den großen, hellen Augen seiner Mutter wieder zur Besinnung kommen ließ. Entsetzt über sich selbst starrte er die kleine, zierliche und zarte Frau mit den weißen Haaren, die sie ihren beiden Söhnen vererbt hatte, an. Sie stand vor ihm und drückte sich so nah wie möglich an die Wand in dem Versuch, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihren älteren Sohn zu bringen. War das, was er in den Augen seiner Mutter sah, wirklich Angst? Hatte sie etwa Angst vor ihm? Hatte sie gerade wirklich erwartet, er würde sie schlagen? Fürchtete sie sich tatsächlich vor ihm? Bakuras Gedanken überschlugen sich. Ausgerechnet seine Mutter – einer der zwei Menschen, denen er niemals hatte wehtun oder Angst machen wollen – stand zitternd vor ihm und hatte Tränen in den Augen. Meinetwegen, schoss es ihm durch den Kopf und noch bevor seine Mutter in irgendeiner Form reagieren oder etwas sagen konnte, stürmte er aus der Küche, durch den Flur und verließ beinahe fluchtartig die Wohnung – vorbei an einem vollkommen verdutzten Katsuya, der gerade vom Einkaufen gekommen war und seinem Freund nur fassungslos hinterher starren konnte. So schnell wie möglich trug der Blondschopf seine Einkäufe in die Küche, wo er Bakuras Mutter zitternd und schluchzend auf dem Küchenboden vorfand. "Scheiße!", fluchte er, stellte seine Einkaufstüten zur Seite, zog die zierliche weißhaarige Frau vom Boden hoch und verfrachtete sie auf einen der Küchenstühle. Dann ging er vor ihr in die Hocke und musterte sie besorgt, aber sie schien nicht verletzt zu sein. "Anna? An-chan? Hey, An-chan, was ist denn los?", fragte er leise, doch es dauerte eine ganze Weile, bis Anna sich so weit beruhigt hatte, dass sie den blonden Jungen ansehen konnte. "Ich hab euch draußen schon streiten gehört." Und er hatte kein Wort verstanden, denn Bakura und seine Mutter hatten sich auf Russisch gestritten. Aber nichtsdestotrotz musste etwas Schlimmes vorgefallen sein, denn sonst wäre Bakura weder wie von Furien gehetzt an ihm vorbeigerannt noch säße die Freundin seines Vaters wie ein Häufchen Elend vor ihm. "Es ist ... es ist meine Schuld", flüsterte Anna und wischte sich über die Augen. "Ich ... ich wusste, dass es falsch ist, aber ... aber ich wollte Chiaki doch nur helfen", fuhr sie leise fort und Katsuya legte den Kopf schief. "Was ist denn los, An-chan?", erkundigte er sich erneut und der Kosename ließ Anna leicht lächeln, obwohl ihr eigentlich nicht danach zumute war. Chiakis Sohn war wirklich ein lieber Junge und sie würde ihm ewig dankbar dafür sein, dass er so gut zu ihrem Ältesten war. Sie wusste – ebenso wie Chiaki – was zwischen den beiden war, doch es störte sie nicht. Für sie war nur wichtig, dass die Zwei miteinander glücklich waren. Alles andere interessierte sie nicht. Hauptsache, ihre Söhne waren beide glücklich. Wie oder mit wem, kümmerte sie nicht. Mehrere Minuten lang sah Anna den Sohn ihres Lebensgefährten nur an, dann atmete sie tief durch. Sie war Katsuya eine ehrliche Antwort schuldig, das wusste sie. Immerhin war das, was geschehen war, nur ihre Schuld. Der Junge hatte jedes Recht zu erfahren, warum Bakura so wütend auf sie gewesen war. Egal, wie schwer oder unangenehm es werden würde, darüber zu sprechen, es war ihre Pflicht. "Ich wollte deinem Vater nur helfen, das musst du mir glauben, Katsuya." Der Blondschopf schluckte unwillkürlich, als er die Verzweiflung in den hellen Augen von Bakuras Mutter sah. "Du weißt, was ich früher getan habe, bevor ich nach Japan gekommen bin, oder?", fragte sie und der Angesprochene nickte langsam. "Ja. Kura hat's mir erzählt, An-chan", gab er zu. Anna sah dem Jungen genau in die Augen, doch darin war kein Vorwurf zu lesen. Ganz offenbar verurteilte er sie nicht dafür, was sie zu tun gezwungen gewesen war, als sie noch in Russland gelebt hatte. Genau wie sein Vater, dachte sie und lächelte zaghaft. Auch Chiaki hatte ihr aus ihrer Vergangenheit nie einen Vorwurf gemacht – ganz im Gegensatz zu Satoru. Aber das gehörte nicht hierher. "Und du weißt auch, dass dein Vater Geldprobleme hat, oder, Katsuya?", erkundigte sie sich leise und der Angesprochene nickte erneut. "Klar weiß ich das." Sicher, sein Vater hatte versucht, es vor ihnen allen zu verheimlichen, aber er selbst war nun mal weder blind noch blöd – auch, wenn gewisse Leute wie beispielsweise der ältere Stiefbruder seines besten Freundes das anders sehen mochten. "Du musst mir glauben, dass ich Chiaki wirklich nur helfen wollte." Der verzweifelte Unterton in Annas Stimme ließ Katsuya aufhorchen. "Und wie?", fragte er leise und sie senkte den Blick. Dann allerdings atmete sie tief durch und sah den Jungen doch wieder an. "Ich habe mich ... nun, ich habe etwas Geld verdient", antwortete sie zögerlich und die Art, wie sie errötete, sagte dem Blondschopf deutlicher als Worte, wie Annas Hilfe für seinen Vater ausgesehen hatte. Aus großen Augen sah er Bakuras Mutter an. Er wusste, dass sie des Öfteren nachts noch Alpträume von ihrer Vergangenheit hatte, also konnte er sich nur zu gut vorstellen, welche Überwindung es sie gekostet haben musste, das zu tun. Und das nur, um Paps zu helfen, dachte er und schluckte schwer. Diese Frau war eindeutig das Beste, was seinem Vater in den letzten Jahren seit dem Tod seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester Shizuka hatte passieren können. "Du hast ... für Paps ...? Danke, An-chan", murmelte Katsuya, stand auf und umarmte die Mutter seines Freundes heftig. Dass sie so weit ging, nur um seinem Vater unter die Arme zu greifen, rührte ihn ungemein. Trotz ihrer Alpträume und der schlechten Erinnerungen hatte sie sich verkauft, um dem Mann zu helfen, den sie liebte, zu helfen. Konnte eine Frau ein größeres Opfer bringen als dieses? Anna war von der Reaktion des Blondschopfs etwas überrumpelt, doch dann drückte sie ihn ihrerseits kurz an sich und lächelte. Also nahm Katsuya ihr nicht übel, was sie getan hatte. Einerseits war sie unheimlich erleichtert, doch andererseits fragte sie sich, wie wohl sein Vater reagieren würde, wenn er es erführe. Würde er wirklich tun, was Satoru getan hatte? Würde er ihr auch die Tür weisen und sie nie mehr wiedersehen wollen? "Ich bin sicher, Paps wird dir ebenso dankbar sein." Und er würde sich bestimmt ganz furchtbar mies fühlen, weil er seiner Freundin diese Erniedrigung nicht hatte ersparen können. Aber das behielt Katsuya lieber für sich. An-chan war auch so schon das personifizierte schlechte Gewissen. Diese Sache musste sie mit seinem Vater klären, nicht mit ihm. "Aber was ist mit Bakura?" Katsuya löste sich aus Annas Umarmung, setzte sich auf den Stuhl neben ihrem und sah sie fragend an. Diese Frage musste ja kommen, dachte sie und seufzte. Einerseits war sie froh, dass es jemanden gab, der sich so um ihren ältesten Sohn sorgte, aber andererseits war es ihr mehr als unangenehm, darüber zu sprechen, warum sie sich mit Bakura gestritten hatte. Aber Katsuya hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Anna atmete noch einmal tief durch, bevor sie nach der Hand des Jungen griff und diese drückte. Dabei sah sie ihm unverwandt in die Augen. Sie wollte, dass er begriff, was mit ihrem Sohn los war – egal, wie schwer es ihr fiel, ihm das zu erzählen. Der Blondschopf war neben seinem kleinen Bruder, den er seit zwei Jahren kaum zu Gesicht bekam – sein Vater Satoru wünschte einfach nicht, dass Ryou den Kontakt zu seinem älteren Bruder aufrechterhielt –, der wichtigste Mensch in Bakuras Leben. "Es ist nicht das erste Mal, das ich das getan habe, Katsuya. Vor zwei Jahren ... Satorus Firma hatte finanzielle Probleme und ich wollte ihm helfen, aber ich habe nichts gelernt. Jedenfalls ... keinen richtigen Beruf. Ich habe eine Arbeit gesucht, aber es gab nichts, das ich tun konnte – nichts außer ... außer meinen Körper zu verkaufen", begann sie leise und die schokobraunen Augen, die Katsuya mit seinem Vater gemeinsam hatte, weiteten sich, als er begriff, was das bedeutete. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, fuhr Anna auch schon fort. "Satoru – Bakuras Vater – hat es herausgefunden. Er war ... er war sehr verärgert darüber." Eigentlich, erinnerte sie sich, hatte er sie angeschrieen und hätte sie möglicherweise sogar geschlagen, wenn Bakura nicht dazwischengegangen wäre. Der damals Siebzehnjährige hatte seinen Vater daran gehindert, ihr etwas anzutun, aber er hatte nicht verhindern können, dass Satoru sie hinausgeworfen und die Scheidung eingereicht hatte. Allerdings hatte sie nicht alleine gehen müssen, denn ihr Ältester hatte schleunigst ein paar Sachen gepackt, sich von seinem über alles geliebten kleinen Bruder Ryou verabschiedet und sie dann begleitet. Etwas mehr als eineinhalb Jahre lang hatten sie sich zu zweit mehr schlecht als recht durchgeschlagen – so lange, bis sie Chiaki kennengelernt hatte und gemeinsam mit ihrem Sohn zu diesem gezogen war. "Ich weiß nicht, wie Bakura davon erfahren hat, aber er war sehr, sehr wütend auf mich." Fast so wütend wie sein Vater vor zwei Jahren gewesen war. Aber das sprach Anna lieber nicht laut aus. Es gab Dinge, die der Blondschopf einfach nicht wissen musste. "Ich denke ... Vielleicht fürchtet er, dass sich alles wiederholt. Er hat dich sehr, sehr gern, Katsuya. Sicher hat er Angst, dich zu verlieren, wenn ... wenn dein Vater ..." "Wenn ich was?", erklang in diesem Moment eine Stimme von der Küchentür und Anna und Katsuya fuhren gleichermaßen erschrocken herum. "Chiaki?" – "Paps?", fragten sie beinahe zeitgleich und der Angesprochene nickte, bevor er sich vom Türrahmen abstieß, die Küche betrat und sich auf den freien Stuhl auf der anderen Seite neben seiner Freundin setzte. Dann nahm er vorsichtig ihre Hand in seine und drückte ihr einen Kuss auf die Handfläche, bevor er ihr in die Augen sah. "Es tut mir leid. Ich wollte bestimmt nicht, dass du dich verpflichtet fühlst, so etwas zu tun, Anna", murmelte er und Katsuya stand leise auf. So schnell wie möglich räumte er die Einkäufe ein und verkrümelte sich dann in das Zimmer, das er sich mit Bakura teilte, um dort auf den Weißhaarigen zu warten. Das, was sein Vater und An-chan miteinander zu besprechen hatten, ging nur sie beide etwas an. oOo Während seine Mutter sich mit ihrem Lebensgefährten aussprach, streifte Bakura mehr oder weniger ziellos durch die Straßen. Seine Hände hatte er tief in den Taschen seiner schwarzen Jeans vergraben und er fluchte unterdrückt vor sich hin. Verdammt, sah sie denn nicht, was sie schon wieder anrichtete? Reichte es ihr nicht, dass sie schon einmal alles versaut hatte? Musste sie die gleiche Scheiße wieder tun? War es nicht genug, dass sie ihr Heim verloren hatte und ihren jüngsten Sohn nicht mehr sehen durfte? So eine verfluchte Scheiße! Wütend trat Bakura gegen eine der Mülltonnen, die in seinem Weg stand. Mit einem lauten Scheppern fiel diese um und verteilte ihren Inhalt auf der Straße, doch das kümmerte ihn nicht. Seine Gedanken drehten sich einzig und alleine um seine Mutter und das, was sie – wieder einmal, verdammt! – getan hatte, weil sie der Meinung war, dass sie anders nicht an Geld kam. Dabei hätte sie nur einen Ton sagen müssen!, grummelte er und lehnte sich in einer kleinen, schmutzigen Gasse seufzend an die Wand. Verdammt, sie hatte es ihm doch versprochen! Als er gemeinsam mit ihr vor zwei Jahren von zu Hause ausgezogen war, weil sein Vater einfach nicht hatte erkennen können, welches Opfer seine Frau ihm und ihren Söhnen zuliebe gebracht hatte, hatte sie ihm versprochen, dass sie sich nie wieder so erniedrigen würde. Und was tat sie? Kaum dass sie wieder ein einigermaßen geregeltes Leben hatte, machte sie den gleichen Fehler ein zweites Mal und setzte damit alles aufs Spiel, was sie sich so mühsam erkämpft hatte. Dabei hätte es dieses Mal klappen können. Chiaki war immer gut zu ihr. Er hat sie nie als minderwertig angesehen oder ihr vorgeworfen, was sie war. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater, erinnerte Bakura sich bitter und spuckte aus. Sein Vater hatte aus seiner Verachtung für das, was seine Frau in ihrer früheren Heimat Russland zu tun gezwungen war, keinen Hehl mehr gemacht, als er vor zwei Jahren erfahren hatte, was sie getan hatte, um ihm aus einem finanziellen Engpass zu helfen. "Du warst damals schon eine kleine Nutte und das bist du immer geblieben", hatte Kinoshita Satoru seiner Frau vorgeworfen, nachdem er erfahren hatte, wie diese das Geld verdient hatte, mit dem sie ihm hatte helfen wollen. Genommen hat er die Kohle trotzdem, erinnerte Bakura sich. Und gleich danach hatte er der Frau, die ihm dreizehn Jahre lang eine gute und treusorgende Ehefrau gewesen war und die ihm zwei Söhne geboren hatte, die Tür gewiesen und ihr verboten, sein Haus je wieder zu betreten. Scheißkerl. Hat nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie sehr er sie damit verletzt hat, dass sie den Kleinen nicht mehr sehen darf. Dass es ihm selbst ebenfalls weh tat, dass er so gut wie keinen Kontakt mehr zu Ryou hatte, weil er sich damals entschlossen hatte, mit ihrer Mutter zu gehen, verdrängte Bakura ebenso schnell wie die Erinnerung an das Gesicht seines jüngeren Bruders. Seine Mutter hatte ihn dringender gebraucht als der Kleine. Ryou war bei ihrem Vater gut aufgehoben. Ganz im Gegensatz zu ihm wusste der inzwischen Fünfzehnjährige bis heute nicht, womit seine Mutter ihr Geld verdient hatte, bevor sie nach Japan gekommen war. Ist auch besser so. Das würde er nicht verstehen. Nein, wenn der Kleine jemals erfuhr, was seine Mutter gewesen war, würde es ihm ganz bestimmt das Herz brechen. Wehe, der Scheißkerl erzählt Ryou irgendwann auch nur ein Sterbenswörtchen. Dann bring ich ihn um. Niemand hatte das Recht, seinem über alles geliebten kleinen Bruder so etwas anzutun – auch nicht ihr gemeinsamer Vater. Ryou sollte niemals erfahren, aus welchen Verhältnissen ihre Mutter stammte und wie ihre Eltern sich überhaupt kennengelernt hatten. Der Junge glaubte bis heute, dass sie sich auf einer Geschäftsreise ihres Vaters getroffen hatten. So weit stimmt's ja auch, dachte Bakura und ein spöttisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. In der Tat hatte Kinoshita Satoru Anna Koslowa auf einer seiner Geschäftsreisen nach Russland kennengelernt, aber im Gegensatz zu Ryou wusste Bakura ganz genau, wie ihr Vater ihre damals sechzehnjährige Mutter näher kennengelernt hatte. Die zarte Schönheit des jungen Mädchens, das gezwungenermaßen in einem kleinen Bordell in Moskau gearbeitet hatte, hatte es Satoru damals so angetan gehabt, dass er sie während der drei Wochen, die er in Russland gewesen war, regelmäßig besucht hatte. Zwischen seinen Eltern, das war Bakura vollkommen klar, hatte es damals schon keine Liebe gegeben. Es war einfach nur eine geschäftliche Beziehung gewesen. Und aus genau dieser geschäftlichen Beziehung war er entstanden. Seine Zeugung war ein Unfall gewesen, das wusste er – ebenso, wie er wusste, dass seine Mutter einiges versucht hatte, um ihre Schwangerschaft abzubrechen, als sie es bemerkt hatte. Bakura nahm seiner Mutter das keineswegs übel. Was hatte eine schwangere Prostituierte schon zu erwarten gehabt? Welcher Mann zahlte denn dafür, mit einer Schwangeren Sex zu haben – und sei sie auch noch so hübsch? Dennoch, weder die Abtreibungsversuche noch die Schläge ihres Zuhälters hatten Annas Kind töten können und so war sie mit gerade mal siebzehn Jahren Mutter geworden. Die Erinnerungen, die Bakura an die ersten vier Jahre seines Lebens hatte, waren zwar etwas verschwommen, aber nichtsdestoweniger wusste er, dass es nicht leicht für seine Mutter gewesen war. Sie hatte nicht nur sich, sondern auch noch ihren kleinen Sohn durchbringen müssen, den sie anfangs zwar nicht gewollt, aber nach seiner Geburt doch zärtlich geliebt hatte. Er selbst, erinnerte Bakura sich, hatte meistens im Nebenzimmer bleiben müssen, wenn seine Mutter in ihrer kleinen Wohnung ihre Freier empfangen hatte. Oft genug hatte er mitansehen müssen, wie brutal diese Männer mit ihr umgegangen waren, doch er war zu klein gewesen und hatte nichts tun können, um seine heißgeliebte Mutter zu beschützen. Und genau aus diesem Grund hatte er sie nicht alleine gehen lassen können, als sein Vater sie vor zwei Jahren rausgeworfen hatte. Sie sollte nicht wieder ganz alleine und schutzlos sein. Mit siebzehn war er alt genug gewesen, um auf sie achtzugeben. An die allererste Begegnung mit seinem Vater erinnerte Bakura sich noch ganz genau. Er war fast vier Jahre alt gewesen und hatte sich mit seiner Mutter auf dem Rückweg vom Einkaufen befunden, als sie auf einer der Straßen Moskaus wie angewurzelt stehen geblieben war. Damals war es Winter gewesen und schrecklich kalt und dementsprechend hatte er an der Hand seiner Mutter gezogen, um endlich nach Hause in die kleine, aber wenigstens halbwegs warme Wohnung zu kommen. Seine Mutter indes hatte sich nicht von der Stelle gerührt. "Anna? Bist du das?", hatte Satoru die junge Frau auf Russisch gefragt, die ihm mit ihren weißen Haaren und den feinen Gesichtszügen auch nach fünf Jahren noch im Gedächtnis geblieben war. Dann war sein Blick auf den kleinen Jungen gefallen, der an ihrer Hand gehangen und ihn aus dunkelbraunen Augen aufmerksam und misstrauisch gemustert hatte. Männer, die seine Mutter so angesehen hatten, hatten immer Ärger bedeutet. "Ist das dein Kind?", hatte Satoru sich erkundigt und Anna hatte langsam genickt. "Ja, das ist unser ... mein Sohn. Bakura", hatte sie sich schnell verbessert und ihren kleinen Sohn schützend in den Arm genommen. Satoru allerdings war ihr Versprecher nicht entgangen, also hatte er sich vor den Jungen gekniet und ihn sich ganz genau angesehen. Ihm war nicht entgangen, dass der Junge die gleichen Augen gehabt hatte wie er. Danach, erinnerte Bakura sich, war alles sehr schnell gegangen. Seine Mutter hatte den fremden Mann auf sein Drängen mit zu ihnen nach Hause genommen und ihm erzählt, dass er sein Vater war. Satoru hatte keine Zeit verschwendet. Seine Eltern hatten ihm damals immer damit in den Ohren gelegen, sich endlich zu binden, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Warum hätte er noch mehr Zeit mit der Suche nach einer geeigneten Braut verschwenden sollen, wenn er sogar schon einen leiblichen Sohn hatte? Binnen einer Woche hatte er alles Erforderliche geregelt. Er hatte die junge Russin geheiratet und sie und ihren kleinen Sohn mit nach Japan genommen, wo nur wenig mehr als ein halbes Jahr später sein zweiter Sohn zur Welt gekommen war. Dennoch hatte er nie darüber hinwegsehen können, aus welchen Verhältnissen seine Frau gekommen war. Vor Ryou – seinem Augapfel – hatte er selbstverständlich niemals ein Wort darüber verloren, denn er hatte nicht gewollt, dass der Junge etwas davon erfuhr, aber bei seinem älteren Sohn war er immer weniger zurückhaltend gewesen. Scheiß drauf. Er selbst, dachte Bakura, war seinem Vater gegenüber von Anfang an skeptisch geblieben. Er hatte ihm schon als Kind nicht getraut und letztendlich hatte er mit seiner Skepsis ja auch Recht behalten. Immerhin waren seine Mutter und er seinem Vater schon immer herzlich egal gewesen. Der Einzige, der für ihn wichtig gewesen war, war Ryou. Bakura neidete seinem jüngeren Bruder die Liebe ihres Vaters allerdings nicht. Im Gegenteil, er vergötterte den Kleinen selbst geradezu. Der Fünfzehnjährige war – neben seiner Mutter und seit ein paar Monaten auch Katsuya – sein Ein und Alles. Für ihn gab es keine wichtigeren Menschen auf der Welt. Er hätte alles getan, um diese beiden, die ihm mehr bedeuteten als sein eigenes Leben, zu beschützen. Dennoch hatte er vor nicht ganz einer Stunde ausgerechnet seiner Mutter solche Angst gemacht, dass sie gezittert und sogar geweint hatte. Er hatte sich immer geschworen, dafür zu sorgen, dass sie sich nie wieder Angst haben musste. Und was hatte er getan? Er hatte sie erschreckt. Bakura schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, aber der ängstliche Blick seiner Mutter verfolgte ihn auch jetzt noch. Es war genau das eingetreten, was er immer hatte verhindern wollen: Seine eigene Mutter fürchtete sich vor ihm. "So eine verfluchte Scheiße!", stieß Bakura zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und kniff seine Lider fest zusammen, denn seine Augen brannten. Das, was er heute verbockt hatte, konnte er nie, nie wiedergutmachen. Die Erinnerung an diesen Blick, die Tränen seiner Mutter und ihre unübersehbare Angst würde er nie wieder loswerden, das wusste er genau. Und er würde sich nie verzeihen, dass er sie zum Weinen gebracht hatte. Um nicht weiter darüber nachzudenken, stieß Bakura sich von der Wand, an der er gelehnt hatte, ab und machte sich auf den Weg in eines der weniger guten Viertel der Stadt. Er hatte sich vor zwei Jahren schon darum gekümmert, das Geld für seine Mutter und sich zu beschaffen. Wenn Chiaki Geldprobleme hatte, dann war es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie nicht wieder eine Dummheit beging. Vielleicht gab es ja doch noch eine Möglichkeit für sie beide, bei Chiaki und Katsuya zu bleiben. Die Zwei durften nur nichts von dem Fehltritt seiner Mutter erfahren, das war alles. Dass es dafür längst zu spät war, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Kapitel 16: Montag ------------------ "Nii-san? Nii-san, bist du schon wach?" Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit war Mokuba an diesem Montagmorgen selbst um sechs Uhr schon mehr als munter und hüpfte vor der Zimmertür seines älteren Bruders aufgeregt von einem Bein auf das andere. Seto hatte ihm schließlich hoch und heilig versprochen, dass er vor dem Unterricht noch mit zu seiner Schule fahren und ihn verabschieden würde, wenn er eine Woche lang auf Klassenfahrt fuhr. "Guten Morgen, otouto." Seto konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er seine Zimmertür öffnete und sein kleiner Bruder gleich hereinstürmte. Wegen dessen Klassenfahrt war er selbst ebenfalls früher aufgestanden und hatte bereits geduscht, so dass er schon vollständig angezogen war. Eigentlich hatte er gerade hinübergehen wollen, um den Jungen zu wecken, aber das war scheinbar nicht mehr nötig. So hibbelig, wie er war, hatte er sich wohl umsonst gesorgt, ob dieser wohl rechtzeitig aus dem Bett kommen würde. "Guten Morgen, Nii-san", erwiderte Mokuba fröhlich und ließ sich auf das Bett seines Bruders plumpsen. Im Gegensatz zu diesem trug er heute nicht seine Schuluniform, sondern eine schwarze Jeans und einen einfachen weißen Pullover – bequeme Kleidung, mit der er die stundenlange Busfahrt schon irgendwie überstehen würde, hoffte er. Noch bevor der Angesprochene zum Antworten kam, erklang in seinem Rücken die Stimme seines Stiefbruders. "Na, ihr Zwei seid ja schon früh munter. Morgen, Mokuba. Morgen, Seto", begrüßte Ryuuji die beiden und als der Älteste der Drei sich umdrehte, sah er, dass Ryuuji lässig am Türrahmen lehnte und seinem kleinen Bruder grinsend zuzwinkerte. Dass es ihm einigermaßen Mühe bereitete, das Grinsen beizubehalten, als er den Blick eines azurblauen Augenpaars auffing, bemerkte weder sein jüngerer noch sein älterer Stiefbruder. "Ich glaube, Mum, euer Vater und Isono-san warten unten schon auf uns. Isono-san hat jedenfalls vorhin schon deinen Koffer im Wagen verstaut – und ihre auch." Solange er redete, fühlte Ryuuji sich einigermaßen sicher, denn er hoffte, dass man ihm so seine Nervosität nicht anmerkte. Dennoch war ihm der Blick, mit dem der Brünette ihn bedachte, gleichermaßen angenehm wie unangenehm. "Dann sollten wir sie wohl besser nicht mehr länger warten lassen", murmelte Seto und warf seinem kleinen Bruder einen auffordernden Blick zu. Dessen hätte es jedoch gar nicht bedurft, denn der Fünfzehnjährige war bereits aufgesprungen und strahlte fröhlich in die Runde. "Okay", erklärte er sich gleich einverstanden und hakte sich bei seinen beiden Brüdern ein, um diese nach unten zu schleifen. "Ich find's zwar ganz schön doof, dass ich ausgerechnet dann auf Klassenfahrt bin, wenn wir Drei sturmfreie Bude hätten, aber daran ist wohl leider nichts zu ändern." Mokuba seufzte abgrundtief, doch dann schüttelte er diese Gedanken schnell wieder ab. Irgendwie freute er sich inzwischen ja doch schon auf die kommende Woche. Ryou, Yuugi und er würden sicher eine Menge Spaß zusammen haben. Ein Wochenende oder gar eine ganze Woche mit seinen älteren Brüdern und ohne die Aufsicht ihrer Eltern würde sich sicher auch noch ein anderes Mal ergeben. Jedenfalls hoffte er das ganz stark. Keiner der beiden Älteren sagte etwas dazu, denn dieses Thema hatten sie alle am Vorabend nach dem Abendessen bereits ausführlich besprochen und diskutiert. Ryuuji wuschelte dem Jüngsten einfach nur durch die schwarzen Haare und Seto nickte knapp. Danach warf er seinem Stiefbruder einen kurzen Blick zu, doch davon bemerkte dieser scheinbar nichts. Jedenfalls reagierte er in keinster Weise darauf. Ryuuji entging der Seitenblick seines älteren Stiefbruders nicht, aber er wollte sich nicht schon wieder von seinen Wünschen und dem Wissen, dass diese ja doch nie wahr werden würden, runterziehen lassen. Nicht ausgerechnet jetzt, solange Mokuba noch dabei war und ihn aus seinen großen blauen Kulleraugen ansah. Darüber, dass er die gesamte nächste Woche beinahe alleine mit Seto verbringen würde, konnte er auch später noch nachdenken. Bevor seine Gedanken ihn doch noch deprimieren konnten, stellte Ryuuji zu seiner Erleichterung fest, dass seine Mutter und ihr Ehemann bereits unten vor der Tür auf sie Drei warteten. Mokuba hüpfte fröhlich die Treppen der Villa hinunter, kletterte in die Limousine und ließ sich zwischen seine Eltern fallen. Dabei strahlte er so sehr, dass seine beiden älteren Brüder nicht umhin konnten, ebenfalls zu lächeln. Die gute Laune des Fünfzehnjährigen war einfach ansteckend, ob sie wollten oder nicht. Seto schluckte dennoch unmerklich, als er hinter seinem Stiefbruder in den Wagen stieg. Dadurch, dass Mokuba zwischen ihrem Vater und Yukiko saß, blieb für ihn selbst nur der Platz gleich neben Ryuuji übrig. Mit wild klopfendem Herzen und ohne zu ahnen, dass der Schwarzhaarige ebenso nervös war wie er selbst, ließ er sich in die Polster sinken und wandte seinen Blick aus dem Fenster, während Isono losfuhr. Die gesamte Fahrt zu seiner Schule über plapperte Mokuba aufgeregt auf seine Eltern und seine beiden Brüder ein. Er war so gut gelaunt, dass ihm nicht auffiel, dass sowohl Seto als auch Ryuuji ihm nur ausgesprochen knappe, einsilbige Antworten gaben. Auch Gozaburo bemerkte nichts davon, doch Yukiko entging die seltsam grüblerische Stimmung ihres älteren Stiefsohnes ebenso wenig wie das für ihn untypisch in sich gekehrte Verhalten ihres leiblichen Sohnes. War zwischen den beiden Jungen irgendetwas vorgefallen? Hatten sie sich am Vorabend vielleicht wieder gestritten, ohne dass es jemandem aufgefallen war? Ich werde Ryuuji fragen, nahm sie sich vor, doch ihre Gedanken wurden vom Halten der Limousine unterbrochen. Die Fünf stiegen gemeinsam aus und Yukiko hielt ihren Sohn zurück, als dieser gleich zu Mokuba aufschließen wollte. "Ist zwischen Seto und dir gestern Abend irgendetwas passiert, Ryuuji?" Die besorgte Frage seiner Mutter ließ den Angesprochenen stehen bleiben, während sein Stiefvater und seine beiden Stiefbrüder bereits zu dem wartenden Bus vorausgingen und Isono dabei behilflich waren, den Koffer des Fünfzehnjährigen zu verstauen. "Was sollte denn passiert sein, Mum?", fragte er zurück und schüttelte den Kopf. "Nein, es ist alles okay. Ich hab nur nicht besonders gut geschlafen letzte Nacht." Und das, dachte Ryuuji bei sich, war nicht einmal gelogen, sondern die volle Wahrheit. Das Verhalten seines älteren Stiefbruders, das in den vergangenen Tagen noch undurchsichtiger geworden war als ohnehin schon, hatte ihn den Großteil der Nacht wachgehalten und seine Träume über den Achtzehnjährigen hatten ihr Übriges getan, um ihn lange vor seinem Wecker aus dem Schlaf zu reißen. "Du wirst doch hoffentlich nicht krank, oder?", wollte Yukiko besorgt wissen und legte ihrem Sohn eine Hand auf die Stirn, doch zu ihrer Beruhigung schien seine Temperatur vollkommen normal zu sein. "Bestimmt nicht", antwortete er auch gleich, nahm die Hand seiner Mutter und strich ihr mit dem Daumen zärtlich über den Handrücken. "Das ist nur alles eine ziemliche Umstellung für mich, weißt du? Aber Seto und ich kommen schon miteinander klar. Mach dir keine Sorgen um uns, sondern genieß deine Hochzeitsreise, ja, Mum?", bat er leise und lächelte, um ihr zu zeigen, dass es ihm gut ging. Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber er wollte seiner Mutter einfach keine Sorgen machen. Nicht gerade jetzt, wo sie sich doch so auf die Reise gefreut hatte. "Wenn du das sagst." Yukiko lächelte ebenfalls und ging gemeinsam mit ihrem Jungen zu ihrem Mann und ihren beiden Stiefsöhnen, die ganz offenbar bereits auf sie warteten. Mokuba strahlte, als seine Stiefmutter und sein Stiefbruder zu ihnen stießen. Seine beiden besten Freunde Ryou und Yuugi waren mit ihren Familien ebenfalls bereits da und der Fünfzehnjährige stellte seine neue Mutter gleich allen vor. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu grinsen, was dazu führte, dass Yuugi ihm in einem unbeobachteten Moment seinen Ellbogen in die Rippen stieß. "Du hast nicht gelogen. Sie ist echt unglaublich hübsch", flüsterte er und Ryou nickte bestätigend. "Dein Vater sieht sehr, sehr glücklich aus. Und sie auch", fügte er hinzu und Mokubas Grinsen wurde gleich noch eine Spur breiter. "Hab ich euch doch gesagt. Vater ist total verliebt in sie. Und sie liebt ihn auch. Nur doof, dass Seto und Ryuuji jetzt ganz alleine sturmfrei haben. Ich hoffe nur, sie streiten sich nicht schon wieder", antwortete er und seufzte, schüttelte diese Gedanken aber schnell ab. So gut, wie seine beiden Brüder sich in der vergangenen Woche verstanden hatten, war die Gefahr wohl recht gering. Nach der allgemeinen Verabschiedung, bei der Mokuba seinen Stiefbruder wieder einmal stürmisch umarmte – was ihm einen bösen Blick seitens seines älteren Bruders und diesem einen wissenden Blick Yamis, der die Szene beobachtete, einbrachte –, wollten die drei Fünfzehnjährigen gerade in den Bus steigen, als Ryuuji zur Verwunderung aller Ryou kurz beiseite nahm. Der Weißhaarige warf dem Älteren einen skeptischen Blick zu, doch als dieser ihn kurz umarmte und ihm dabei leise "Sieh gleich, wenn du im Bus sitzt, mal in deine rechte Hosentasche, Ryou" zuflüsterte, wandelte sich der Blick des Fünfzehnjährigen von misstrauisch zu verwirrt. "Warum?", fragte er und der Schwarzhaarige zwinkerte ihm von seinem Vater ungesehen zu. "Weil ich dir was von deinem Bruder geben sollte – und zwar so, dass dein Vater nichts davon mitkriegt. Bakura hat mich vor ein paar Tagen darum gebeten, weil er wusste, dass ich heute Morgen wegen Mokuba sowieso hier sein würde", erklärte er leise, gab dem Jungen einen Schubs in Richtung Bustür und setzte noch ein etwas lauteres "Jetzt mach aber, dass du reinkommst, sonst lassen sie dich noch hier" hinzu. Gleichermaßen durcheinander wie erfreut – sein großer Bruder hatte Ryuuji etwas für ihn mitgegeben? – nickte Ryou und beeilte sich, in den Bus zu klettern. Seine beiden Freunde hatten einen Viererplatz besetzt und da Yuugi auf dem Platz neben sich ihre Rucksäcke deponiert hatte – natürlich vollkommen ohne Hintergedanken –, ließ der Weißhaarige sich auf den Sitz neben Mokuba fallen. "Was wollte Ryuuji denn gerade von dir, Ryou?", erkundigte dieser sich auch gleich bei seinem Freund. Irgendwie mochte er diese Heimlichtuerei gar nicht. Was hatte Ryuuji denn jetzt auf einmal bitteschön mit Ryou zu schaffen? Die beiden kannten sich doch kaum, also warum hatte Ryuuji Ryou denn da gerade umarmt? Das machte er doch sonst nur bei seiner Mutter und bei ihm. Nicht einmal Seto umarmte er, also warum bitteschön tat er das plötzlich bei Ryou? Ryou wartete, bis der Bus angefahren und sein Vater außer Sichtweite war. Erst dann griff er in seine rechte Hosentasche und zog einen zusammengefalteten Zettel daraus hervor. "Von Kura", flüsterte er leise, als er das Papier angesehen und die Schrift darauf erkannt hatte. "Kura hat Ryuuji gebeten, mir das zu geben", fügte er hinzu und strahlte seine beiden Freunde an. Seit Wochen war dieses winzige Stückchen Papier das erste wirkliche Lebenszeichen von seinem heißgeliebten großen Bruder, deshalb kam es ihm wie ein Schatz vor. "Du flennst, Ryou", stellte Yuugi ungerührt fest, grinste und kramte in seinem Rucksack herum, bis er ein Taschentuch gefunden hatte. Der Weißhaarige nahm es an, murmelte einen leisen Dank und wischte sich beschämt über die Augen. Es war ihm furchtbar peinlich, sich vor seinen Freunden so gehen zu lassen, aber er konnte einfach nichts dagegen tun. Er freute sich so wahnsinnig darüber, dass sein Bruder ihn doch nicht völlig vergessen hatte. Wie lange hatte er jetzt schon nichts mehr von dem Neunzehnjährigen gehört? "Was schreibt dein Bruder denn?", wollte Mokuba neugierig wissen und lehnte sich etwas näher zu seinem weißhaarigen Freund hinüber. Ryou entfaltete das Papier und biss sich auf die Unterlippe, um nicht gleich wieder laut zu schniefen. Aus der Notiz fiel ihm ein ebenfalls noch einmal in der Mitte gefaltetes Foto entgegen, auf dem neben seinem älteren Bruder auch ihre gemeinsame Mutter abgebildet war. Zärtlich streichelte Ryou mit den Fingerspitzen über das Bild. "Das ist ein Foto von Kura und Mama", flüsterte er leise und lächelte, während ihm gleichzeitig noch mehr Tränen über das Gesicht liefen. Nach der Trennung seiner Eltern hatte sein Vater alle Fotos, auf denen Bakura oder ihre Mutter abgebildet gewesen waren, aus dem gesamten Haus entfernt, denn er hatte sämtliche Erinnerungen an seine Exfrau und seinen ältesten Sohn aus seinem Leben tilgen wollen. Bakura schien das zumindest geahnt zu haben, denn er hatte in seiner kaum leserlichen Handschrift ›Damit du uns nicht ganz vergisst, Kleiner‹ auf die Rückseite des Bildes geschrieben. "Aber ich könnte euch doch nie vergessen, Kura", nuschelte Ryou und schniefte nun doch wieder leise. Dass Mokuba ihm einen Arm um die Schultern legte und Yuugi ihm tröstend über das Knie streichelte, bevor er ihm die Tränen aus dem Gesicht wischte, registrierte er nur am Rande. Auch die seltsamen Seitenblicke, mit denen einige ihrer Klassenkameraden ihn bedachten, bemerkte der Weißhaarige nicht. Dafür war er über die kleine Geste seines älteren Bruders viel zu glücklich. oOo Während Mokuba und Yuugi sich um Ryou kümmerten, saß die verbliebene Familie Kaiba bereits wieder in der Limousine. Gozaburo und seine Frau hatten beschlossen, ihre beiden älteren Söhne noch zur Schule zu bringen und sich dort dann von ihnen zu verabschieden, bevor sie sich von Isono zum Flughafen würden fahren lassen, um ihre Hochzeitsreise anzutreten. Immerhin würde das für die nächste Woche das letzte Mal sein, dass sie die Gelegenheit hatten, mit den beiden Jungen zu sprechen. Seto, den Ryuujis Umarmungsaktion für Ryou gleichermaßen überrascht wie verärgert hatte, starrte verbissen aus dem Fenster des Wagens und versuchte zu begreifen, warum in aller Welt sein Stiefbruder das getan hatte. Hatte er ihn ärgern wollen? Hatte er etwas von seinen Gefühlen bemerkt? Oder hatte er sich einfach nur einen Scherz erlaubt? Ryous Gesicht nach zu urteilen hatte dieser mit der Umarmung ebenfalls nicht gerechnet, aber konnte er da wirklich sicher sein? Vielleicht war das ja nur vorgetäuscht gewesen. Jetzt mach Dich nicht lächerlich, Seto!, ermahnte der Brünette sich selbst, als seine Gedanken an diesem Punkt angekommen waren. Seit wann fing er denn bitteschön an, den Freunden seines kleinen Bruders solche Dinge zu unterstellen? Keine Eifersucht der Welt rechtfertigte das! Viel wahrscheinlicher war es doch wohl, dass sein Stiefbruder einfach wie so oft aus einer Laune heraus gehandelt hatte. Darauf deutete jedenfalls sein überaus zufriedenes Grinsen hin, das er aus dem Augenwinkel durchaus bemerkte. Ryuujis Laune hatte sich dadurch, dass er Bakuras Bitte hatte nachkommen können, tatsächlich etwas verbessert. Der Weißhaarige hatte ihn am vergangenen Freitag nach dem Unterricht noch kurz aufgehalten, ihm den gefalteten Zettel zugesteckt und ihn gebeten, ihn möglichst unauffällig an Ryou weiterzuleiten. Um ein Haar, das gestand Ryuuji sich ein, hätte er einen Blick hineingeworfen, doch er hatte es irgendwie geschafft, der Versuchung zu widerstehen – eine Tatsache, auf die er schon ein kleines bisschen stolz war. Es war nicht einfach gewesen, seiner angeborenen Neugier nicht nachzugeben, aber es war ihm gelungen. Dafür würde er allerdings, das nahm er sich fest vor, Bakura bei der erstbesten Gelegenheit so lange löchern, bis dieser ihm verriet, was genau er denn da jetzt weitergegeben hatte. Ryuuji wurde erst aus seinem Triumph gerissen, als die Limousine auf dem Schulparkplatz anhielt. Noch immer in bester Stimmung kletterte er hinter seinem Stiefbruder aus dem Wagen, nachdem er sich ebenso wie dieser von seiner Mutter und seinem Stiefvater verabschiedet hatte. "Macht euch um uns keine Sorgen, sondern macht euch eine schöne Zeit, ja?", wünschte er den beiden noch, dann schlug er die Wagentür zu und sah sich auf dem Schulhof suchend um. "Was war denn das vorhin für eine Aktion mit Ryou?" Seto hatte eigentlich nicht fragen wollen, aber die Sache mit der Umarmung hatte ihm einfach keine Ruhe gelassen. Er musste unbedingt wissen, was es damit auf sich hatte. Er konnte das einfach nicht auf sich beruhen lassen. Fragend sah er seinen Stiefbruder an und dessen Grinsen wuchs noch ein ganzes Stück in die Breite "Trick siebzehn", antwortete Ryuuji und kicherte, als er Setos verständnisloses Gesicht sah. "Damit meine ich, dass ich Ryou so unauffällig eine kleine Nachricht von seinem Bruder zugesteckt hab. Bakura hat mich letzte Woche drum gebeten, weil er ja wusste, dass ich seinen kleinen Bruder heute sehen würde. Frag mich aber nicht, was das für ne Nachricht war, Seto. Ich hab keine Ahnung, ehrlich", erklärte Ryuuji schließlich und dem Brünetten fiel ein Stein vom Herzen, obwohl er sich davon nichts anmerken ließ. Also hatte diese ganze Aktion einen vollkommen harmlosen Hintergrund gehabt. Bevor Seto jedoch noch etwas erwidern konnte, wurde Ryuujis Aufmerksamkeit von seinem besten Freund, der hektisch auf ihn zugerannt kam und nur Zentimeter vor ihm stoppte, abgelenkt. "Kats? Alles okay?", erkundigte der Schwarzhaarige sich leicht besorgt und der Blondschopf warf ihm einen flehenden Blick aus seinen schokobraunen Augen zu. "Hast du Kura heute schon gesehen? Weißt du, ob er schon hier ist?", erkundigte er sich keuchend und sackte halb in die Knie, als Ryuuji bedauernd den Kopf schüttelte. "Nein, ich hab ihn noch nicht gesehen", erwiderte dieser. "Was ist denn los? Habt ihr Zwei etwa Stress miteinander?", wollte er dann wissen und nun schüttelte der Blondschopf den Kopf. "Wir nicht, nein. Kura ... Kura hatte gestern Abend Streit mit seiner Mutter. Sie hat ... ach, ist ja auch egal, was sie gemacht hat", sagte er nach einem kurzen Seitenblick zu Seto. Eigentlich war es ihm mehr als unangenehm, etwas derart Privates ausgerechnet im Beisein des Eisklotzes zu besprechen, aber das, was geschehen war, duldete nun mal keinerlei Aufschub. "Jedenfalls ist er danach gleich aus der Wohnung abgehauen und die ganze letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich ... ich hab Angst, dass er wieder irgendwelche Scheiße baut, Ryuuji." Der beinahe schon verzweifelte Blick seines besten Freundes ließ den Angesprochenen schwer schlucken. So fertig hatte er den Blonden schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Seit dem Tod seiner Mutter und seiner geliebten kleinen Schwester, um genau zu sein. "Lass uns erst mal reingehen, Kats", murmelte er daher beruhigend und zog seinen besten Freund mit sich ins Schulgebäude zu ihrem Klassenraum, denn es hatte gerade geklingelt. "Nach dem Unterricht rufen wir sofort bei dir an, wenn er nicht vorher hier auftaucht. Und wenn er sich bis dahin nicht gemeldet hat oder wieder zu Hause ist, dann helfe ich dir dabei, ihn zu suchen, okay?" Den seltsamen Blick, mit dem sein Stiefbruder ihn bedachte, bemerkte der Schwarzhaarige nicht. Seto folgte den beiden etwas langsamer und ließ sich im Klassenraum auf seinen Platz sinken. Er war so in seine Gedanken verstrickt, dass er nicht einmal seinen besten Freund Yami bemerkte, als dieser sich neben ihn setzte und ihn von der Seite her fragend ansah. Erst die leise Stimme des Bunthaarigen, der sich erkundigte, ob alles in Ordnung war, riss ihn aus seinen Grübeleien. "Hm? Oh, guten Morgen, Yami", grüßte der Brünette zerstreut und der Angesprochene schmunzelte. "Das hast du vorhin am Bus schon gesagt, als wir unsere Brüder verabschiedet haben", erinnerte er seinen besten Freund und dieser warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, bevor seine Augen wieder nach seinem Stiefbruder und dessen blondem Freund suchten, die auch jetzt noch während des Unterrichts die Köpfe zusammensteckten und miteinander tuschelten. Yami folgte seinem Blick und runzelte nachdenklich die Stirn. "Wo ist Kinoshita?", fragte er leise und sein bester Freund deutete ein Schulterzucken an. "Scheinbar verschwunden. Jedenfalls hat Jounouchi vorhin so etwas erwähnt. Es hat wohl Streit gegeben und Kinoshita war die ganze Nacht nicht zu Hause. Ryuuji hat angeboten, nach der Schule beim Suchen zu helfen", fasste er das zuvor Gehörte zusammen und das Stirnrunzeln des Bunthaarigen vertiefte sich. "Hoffentlich ist ihm nichts passiert", murmelte er leise. Seto nickte jedoch nur abwesend und seufzte unhörbar. Er hoffte ebenso wie sein bester Freund, dass Kinoshita möglichst bald wieder auftauchen möge, aber seine Hoffnung war keinesfalls uneigennützig oder von Sorge geprägt wie die Yamis. Nein, er hoffte einfach nur, dass sich die Sache mit dem Weißhaarigen schnell klären möge, damit sein Stiefbruder nicht so viel Zeit damit verbrachte, Jounouchi bei der Suche zu helfen. Jetzt, wo sie schon eine ganze Woche für sich alleine hatten, wollte Seto sie auch nutzen. Yami, der sich gut vorstellen konnte, was sein bester Freund dachte – er kannte ihn schließlich inzwischen lange und gut genug um seine kaum vorhandene Mimik deuten zu können –, versuchte, seinen Blick von dem Blonden und dem Schwarzhaarigen zu nehmen, aber das gelang ihm mehr schlecht als recht. Immer wieder ertappte er sich während des Unterrichts dabei, dass er versuchte, von den Lippen der beiden abzulesen, worüber sie sprachen. Und wenn er sich nicht darauf konzentrierte, dann irrten seine Augen immer wieder zu dem leeren Platz Kinoshitas und er fragte sich, was der Weißhaarige wohl in dieser Sekunde tat und wo er sein mochte. Katsuya saß während des gesamten Unterrichts wie auf glühenden Kohlen. Er war noch zappeliger und unaufmerksamer als sonst und es war einzig und allein seinem besten Freund zu verdanken, dass er nicht ermahnt oder gar zum Nachsitzen verdonnert wurde – etwas, das ihn gerade heute ganz bestimmt auch noch seinen allerletzten Nerv gekostet hätte. Ryuuji, der alleine am Verhalten des Blonden mehr als deutlich erkennen konnte, wie besorgt dieser um seinen Freund war und wie viel Bakura ihm inzwischen bedeutete, seufzte unhörbar. Ohne zu wissen, dass es noch zwei Leute in ihrer Klasse gab, die auf eine baldige Rückkehr Bakuras hofften, drückte er innerlich die Daumen, dass der Weißhaarige sich wenigstens melden würde – und das möglichst noch bevor Katsuya vollkommen durchdrehte. Unglücklicherweise musste der Schwarzhaarige nach dem Ende des Unterrichts feststellen, dass Bakura noch nicht einmal zu Hause angerufen hatte. Während sein blonder Freund am Telefon mit Bakuras Mutter sprach und ihr versicherte, alles in seiner Macht stehende zu tun, um ihren Sohn zu finden und ihn wieder nach Hause zu bringen, ging Ryuuji kurz zu seinem Stiefbruder. Er schuldete es Seto immerhin, ihn wenigstens noch einmal persönlich zu informieren, dass er selbst wegen der ganzen Sache erst später nach Hause kommen würde. Seto, der gerade in die wartende Limousine steigen wollte, drehte sich um, als sein bester Freund an seinem Ärmel zupfte und ihn darüber informierte, dass sein Stiefbruder ganz offenbar etwas von ihm wollte. "Ja, bitte?", wandte er sich an Ryuuji und dieser zwirbelte nervös ein Strähne seiner schwarzen Haare um seinen rechten Zeigefinger, während er den Brünetten von unten herauf ansah. "Ich wollte Dir nur Bescheid sagen, dass Kats und ich noch nach Bakura suchen. Du hast ja heute Morgen mitgekriegt, dass er weg ist. Ich weiß also noch nicht, wann ich nachher wieder da bin", erklärte Ryuuji seinem Stiefbruder und dieser nickte nur knapp. Die Nähe des Schwarzhaarigen und der Blick aus seinen grünen Katzenaugen ließ seinen Magen nervös flattern und dieses Gefühl behagte ihm gar nicht. Einerseits wollte er ihn deshalb nicht länger als nötig in seiner unmittelbaren Nähe haben, andererseits hingegen gefiel es ihm gar nicht, das dieser Zeit mit seinem blonden Freund verbringen würde. Den ganzen Vormittag über, während er die beiden immer wieder beobachtet hatte, hatte sich Seto eine Frage aufgedrängt, bei der er sich nicht sicher war, ob er die Antwort wirklich kennen wollte: Wie nahe standen sich sein Stiefbruder und Jounouchi, diese blonde Pest auf zwei Beinen, eigentlich genau? Wenn der Blondschopf jetzt tatsächlich, wie Yami angedeutet hatte, eine Beziehung mit Kinoshita Bakura hatte, was war dann mit Ryuuji? Gab es einen Grund dafür, dass der Blondschopf den Schwarzhaarigen an seinem ersten Schultag so stürmisch umarmt hatte? War das wirklich nur die Freude über ein Wiedersehen nach sechs langen Monaten gewesen? Oder steckte da vielleicht mehr dahinter? "In Ordnung", rang Seto sich mühsam ab, während er innerlich über sich selbst den Kopf schüttelte und diese bohrenden Fragen zu verdrängen versuchte. Er sollte wirklich aufhören, überall nach Hinweisen darauf zu suchen, dass sein Stiefbruder vielleicht auch mehr am eigenen Geschlecht interessiert sein könnte als an Mädchen. Nur weil Ryuujis bester Freund etwas mit einem anderen Jungen hatte – und weil er selbst es sich vielleicht wünschte –, musste Ryuuji selbst ja nicht gleich auch schwul sein. "Vielleicht könntest du es ja wenigstens einrichten, zum Abendessen da zu sein." Die Worte seines Stiefbruders überraschten Ryuuji sehr, doch er konnte nicht umhin festzustellen, dass er sich darüber freute. Das klingt fast so, als würde er mich wirklich in seiner Nähe haben wollen, dachte er, schob diese Gedanken aber schnell wieder beiseite. Er sollte sich wirklich nicht in so etwas hineinsteigern. Das war nicht gut für ihn, das wusste er. "Ich gebe mir Mühe", versprach er dennoch, schenkte dem Brünetten ein Lächeln, dass diesen schwer schlucken ließ, und sprintete dann zu seinem blonden Freund zurück, um diesem wie versprochen bei der Suche nach Bakura zu helfen. Dass Seto ihnen nachsah, bis sie beide außer Sichtweite waren, registrierte er ebenso wenig wie das leise "Ich hoffe es", das ihm entschlüpfte, bevor er es verhindern konnte. Yami, der das Gespräch zwischen den beiden genau beobachtet hatte, lächelte leicht und stieß seinen besten Freund dann an. "Wenn es dir nichts ausmacht, könnte ich ja so lange mit zu dir kommen. Dann können wir gemeinsam die Hausaufgaben erledigen und uns gegenseitig die Langeweile vertreiben", schlug er vor und der Brünette gestattete sich ein kaum wahrnehmbares Grinsen, bevor er nickte. "Und so erfährst du gleich aus erster Hand, was mit Kinoshita ist. Das ist doch der Hauptgrund für dein unglaublich selbstloses Angebot, oder?", frotzelte er und der Bunthaarige grinste ebenfalls, bevor er in die Limousine kletterte und es sich in den Polstern bequem machte. "Du kennst mich einfach zu gut, Seto", gestand er dabei freimütig und zwinkerte seinem besten Freund zu, als dieser ebenfalls eingestiegen war und sich gesetzt hatte. oOo "So, wir kommen jetzt zur Zimmeraufteilung." Nachdem der Bus, mit dem Mokubas Klasse beinahe den ganzen Tag unterwegs gewesen war – bis auf einige wenige Toiletten- und Essenspausen –, endlich an seinem Ziel angehalten hatte, ließ Okita Yoshie-sensei, ihres Zeichens Erdkundelehrerin, ihren Blick über die Klasse von Fünfzehn- und Sechzehnjährigen schweifen, die zu beaufsichtigen sie während der nächsten Woche das zweifelhafte Vergnügen haben würde. Nachdem die Jungen und Mädchen ihr ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatten, nahm sie die Klassenliste zur Hand, mit deren Hilfe sie die Anwesenheit gerade noch überprüft hatte. "Hier in der Herberge gibt es ausschließlich Viererzimmer", informiert die junge Frau ihre Schüler und begann dann, die jeweiligen Vierergruppen vorzulesen, die gemeinsam ein Zimmer beziehen sollten. "Und da wir keine gerade Anzahl an Jungen in unserer Klasse haben, teilen sich Kaiba-kun, Kinoshita-kun und Muto-kun das Zimmer mit der Nummer acht", schloss sie die Verteilung ihrer Schüler und die drei Letztgenannten grinsten sich zufrieden an. Genau darauf hatten sie gehofft. "Das ist doch klasse!", freute sich Yuugi und streckte sich kurz, bevor er sich ebenso wie Mokuba seinen Koffer schnappte und Ryou, der bereits mit seinem Gepäck vorausgegangen war und den Schlüssel in Empfang genommen hatte, folgte. Der Schwarzhaarige nickte und zerrte seinen Koffer hinter sich her in Richtung Eingang. Dabei bemühte er sich, seine beiden Freunde in dem Gedränge seiner Klassenkameraden nicht aus den Augen zu verlieren. "Find ich auch!", stimmte er zu, als er seinen bunthaarigen Freund eingeholt hatte. Er hatte wirklich gehofft, sich wenigstens mit einem seiner besten Freunde das Zimmer teilen zu können. Dass er jetzt nicht nur beide um sich hatte, sondern dass sie auch nur zu dritt sein würden, machte die ganze Sache natürlich noch viel besser. So hatten sie mehr Zeit, um miteinander zu quatschen – eine Tatsache, die Mokuba sehr begrüßte. "Das hier muss es sein." Ryou blieb vor dem Zimmer mit der Nummer acht stehen und wartete auf die beiden anderen, bevor er die Tür aufschloss. Sofort drängelte Yuugi sich an ihm vorbei und ließ sich auf eins der Betten – rechts und links an der Wand neben dem Fenster stand jeweils ein Hochbett – fallen. "Hier schlafe ich!", verkündete er dabei und seine beiden Freunde grinsten ihn unisono an. "Wieso willst du denn nicht nach oben, Yuugi?" – "Hast du etwa Höhenangst?", stichelten sie beinahe zeitgleich und der Kleinste in der Runde schmollte. "Ihr seid doch doof!", beschwerte er sich und Ryou begann zu kichern, während Mokuba heldenhaft versuchte, sein Lachen zu unterdrücken. Yuugi sah die beiden abwechselnd grummelnd an, doch auch er konnte sein Grinsen nicht dauerhaft unterdrücken. "Na und? Dann mag ich Höhen eben nicht. Ist das irgendwie strafbar?", versuchte er zu grummeln, doch seine Beschwerde klang durch sein Grinsen nicht einmal mehr halb so glaubhaft, wie sie eigentlich gemeint war. "Nö, strafbar nicht", grinste Mokuba und ließ sich neben den Bunthaarigen fallen, um ihn in die Seite pieksen zu können. "Aber peinlich, findest du nicht auch?" "Das sagt ausgerechnet derjenige, der beim Filmabend mit seinen beiden Brüdern mittendrin einpennt und nichts mehr merkt", konterte Yuugi und grinste noch etwas breiter, als der Schwarzhaarige schlagartig knallrot anlief. "Musst du mich damit aufziehen, Yuugi?", beschwerte er sich und Yuugi nickte hektisch. "Ja, muss ich. Dafür sind Freunde doch da, Mokuba", gab er bemüht ernst zurück, bevor er ebenso wie Ryou in lautes, fröhliches Gelächter ausbrach. "Ihr Zwei seid so fies!", maulte der so Getriezte, doch als sowohl Yuugi als auch Ryou ihm freundschaftlich auf die Schulter klopften und ihn dann vom Bett hochzogen, um gemeinsam zum Abendessen in den Speisesaal der Jugendherberge zu gehen, hakte er sich bei seinen beiden Freunden ein und grinste sie breit und fröhlich an. "Aber ihr habt Glück", schmunzelte er dabei. "Ich bin so großmütig und verzeihe euch." oOo Seto, der den ganzen Nachmittag in der Gesellschaft seines besten Freundes Yami verbracht hatte – sie hatten gemeinsam ihre Hausaufgaben erledigt und dann noch für eine in Kürze anstehende Englischklausur gelernt –, horchte auf, als er Schritte im Flur hörte. Das muss Ryuuji sein, dachte er und stand von der Wohnzimmercouch auf, nachdem er sich mit einem kurzen Blick auf die Uhr vergewissert hatte, dass der Schwarzhaarige das Abendessen um eine knappe Dreiviertelstunde verpasst hatte. Seto warf einen kurzen Blick zu seinem besten Freund und verließ dann das Wohnzimmer, um seinen Stiefbruder abzufangen. Dem Geräusch seiner Schritte nach zu urteilen schien er in der Küche zu sein, also ging er dort hinüber. Tatsächlich traf er den Gesuchten dort an. Er hatte sich gerade einen Apfel aus der Obstschale genommen und sich an den Küchentisch fallen lassen, um diesen zu essen. "Du bist spät dran." Ryuuji zuckte zusammen, als er die Stimme seines Stiefbruders hörte. Müde sah er auf und nickte nur. Um sich mit Seto zu streiten, fehlte ihm die Energie. "Ich weiß", war daher seine einzige Antwort, bevor er herzhaft in den Apfel biss und abgrundtief seufzte. Mit Ausnahme des Frühstücks und seines Bento hatte er den ganzen Tag nichts gegessen, denn sein bester Freund war einfach zu besorgt gewesen, um an Essen auch nur zu denken – was mehr als deutlich zeigte, wie nah ihm Bakuras Verschwinden ging. Normalerweise war nichts Essbares vor Katsuya sicher, aber heute hatte ihm einfach nicht der Sinn danach gestanden. "Habt ihr Kinoshita gefunden?" Diese Frage kam nicht von Seto, sondern von Yami, der seinem besten Freund in die Küche der kaibaschen Villa gefolgt war. In seinen violetten Augen lag ein besorgter Ausdruck, der den Schwarzhaarigen die Stirn runzeln ließ. Warum in aller Welt interessierte sich ausgerechnet der Freund seines Stiefbruders für Bakura? Und warum hatte Seto Muto überhaupt erzählt, was passiert war? Nach einem weiteren Bissen von seinem Apfel zuckte Ryuuji mental mit den Schultern und schüttelte den Kopf. "Nein, haben wir nicht. Kats und ich sind durch die halbe Stadt gerannt, aber Bakura ist wie vom Erdboden verschwunden. Es ist, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Wir suchen morgen weiter", erzählte er und seufzte erneut. Es hatte ihn gut eine Stunde Überredungskunst gekostet, seinen besten Freund davon zu überzeugen, die Suche vorerst abzubrechen und sie am nächsten Tag fortzusetzen. Erst die Erwähnung der Möglichkeit, dass Bakura eventuell im Laufe des Abends oder vielleicht in der Nacht zurückkommen könnte, hatte den Blondschopf schließlich dazu gebracht, doch endlich nach Hause zu gehen. "Oh. Das tut mir leid", murmelte Yami und rang sich ein minimales Lächeln ab. "Dann wünsche ich euch morgen mehr Erfolg", fügte er hinzu und sah zu seinem besten Freund auf. "Ich denke, ich sollte langsam auch nach Hause gehen, Seto." Der Angesprochene nickte nur. "Isono wird dich nach Hause bringen. Wir holen dich dann morgen früh ab", beschloss er und nun war es an Yami zu nicken. "Danke, Seto. Gute Nacht und bis morgen, Otogi-kun", verabschiedete er sich und der Schwarzhaarige warf ihm einen kurzen Blick zu. "Bis morgen", murmelte er und sah dem Anderen nach, bis dieser aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Dann wanderte sein Blick weiter zu seinem Stiefbruder – nur, um ohne Vorwarnung mit dessen durchdringenden blauen Augen konfrontiert zu werden. Was ist denn jetzt los? Warum sieht er mich so komisch an? So sehr Ryuuji auch grübelte, er fand keine Antwort auf seine Frage. "Du musst hungrig sein, wenn ihr den ganzen Tag lang gesucht habt", durchbrach Setos Stimme nach einer Weile die unangenehme Stille, die sich nach dem Weggang seines besten Freundes über die Küche gelegt hatte. Ihm war nur allzu bewusst, dass sein Stiefbruder und er ohne Yami und Isono vollkommen alleine in der Villa waren – eine Situation, die ihm gleichermaßen angenehm war wie sie ihn auch irritierte. Was sollte er jetzt sagen oder tun? Sollte er überhaupt etwas sagen? Wie sollte er sich bloß verhalten? Und warum in aller Welt sah der Schwarzhaarige ihn so abwartend an? Ryuuji dachte einen Moment lang über die Aussage nach, dann schüttelte er den Kopf. "Nicht wirklich, nein. Ich bin eigentlich nur todmüde. Ich glaub, ich hau mich gleich aufs Ohr", erwiderte er, vernichtete noch eben den Rest seines Apfels und stand dann auf. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, denn auf dem Weg zu seinem Zimmer musste er an dem im Türrahmen lehnenden Seto vorbei, doch es gelang ihm unter Aufbietung all seiner Willenskraft, sich nichts von seinem inneren Aufruhr anmerken zu lassen. Der Schwarzhaarige war die Treppe schon zur Hälfte nach oben gestiegen, als Setos Stimme ihn noch einmal einholte. "Was ist mit deinen Hausaufgaben?", wollte Seto wissen und sein Stiefbruder drehte sich halb zu ihm um, ohne wirklich stehen zu bleiben. "Die mach ich noch, keine Sorge", gab er zurück und zwinkerte dem Größeren von oben herab zu. "Und wenn ich darüber einschlafe", fügte er hinzu und war im nächsten Moment froh, dass er sicher stand, denn über das Gesicht des Brünetten huschte ein zwar kurzes, aber nichtsdestoweniger amüsiertes Grinsen. "Hoffentlich verknitterst du deine Hefte nicht", konterte er und Ryuuji grinste einigermaßen mühsam zurück, während sein Herzschlag sich noch einmal rasant beschleunigte. "Falls doch, muss ich sie morgen früh vor der Schule eben noch kurz bügeln", witzelte er etwas gezwungen und beeilte sich dann, aus der Reichweite des Brünetten zu kommen. Er atmete erst erleichtert auf, als er die Tür seines Zimmers hinter sich zugeschlagen hatte und sich an das Holz lehnen konnte. Holy shit, irgendwann bringt mich das noch mal um!, schoss es ihm durch den Kopf, doch er schüttelte diesen Gedanken schnell ab. Jetzt galt es erst einmal, die Hausaufgaben zu machen und dann zu schlafen. Schließlich musste er für den nächsten Tag fit sein. Für Grübeleien über seinen Stiefbruder und die Tatsache, dass seine blauen Augen leuchteten, wenn er grinste, lächelte oder lachte, hatte er einfach keine Zeit. Seto blieb noch einen Augenblick lang am Fuß der Treppe stehen und blickte dem Schwarzhaarigen nach, bis dieser verschwunden war. Dann schüttelte der den Kopf und ging selbst ebenfalls nach oben. Vor seiner Zimmertür zögerte er kurz, atmete tief durch und öffnete sie schließlich doch noch. Solange Kinoshita nicht gefunden und wieder bei Jounouchi zu Hause war, machte es wohl keinen Sinn, mit Ryuuji über seine Gefühle zu sprechen. Dafür war dieser im Moment ganz offenbar viel zu abgelenkt. Das war gerade nicht zu übersehen gewesen. Morgen ist auch noch ein Tag, dachte Seto, während er sich bettfertig machte und unter seine Decke schlüpfte. Blaue Augen schlossen sich und ihr Besitzer seufzte abgrundtief, denn sein Kopf wollte einfach nicht zur Ruhe kommen. Ich kann auch morgen noch mit ihm darüber sprechen. Oder übermorgen. Wir haben jetzt immerhin eine ganze Woche lang Zeit, nahm Seto sich vor und war nur Sekunden später auch schon eingeschlafen. Kapitel 17: Erkenntnisse ------------------------ Sehr zu Setos Missfallen änderte sich allerdings weder am Dienstag noch am Mittwoch etwas an der Tatsache, dass sein Stiefbruder weiterhin kaum Zeit für ihn hatte. Eigentlich sahen sie sich nur beim Frühstück und auf der Fahrt zur Schule in der Limousine. Während des Unterrichts hatte Ryuuji keinen Blick für ihn, weil er ständig damit beschäftigt war, den blonden Köter zu trösten und ihm Mut zu zusprechen. Und in der Limousine, grummelte Seto innerlich, waren sie auch nicht lange alleine, weil sie Yami jeden Morgen abholten und mit zur Schule nahmen. Da dieser Umstand allerdings seine eigene Schuld war, wie er sich ärgerlich erinnerte, blieb ihm nur, sich mit der momentanen Situation abzufinden und auf eine baldige Gelegenheit für ein klärendes Gespräch zu hoffen. Allerdings, grollte Seto zähneknirschend, als er am Donnerstagmorgen gemeinsam mit Yami und Ryuuji das Schulgelände betrat, sah es nicht so aus, als ob sich eine solche Gelegenheit in naher Zukunft ergeben würde. Ryuuji, der nichts von den Gedankengängen seines Stiefbruders ahnte, verabschiedete sich auf dem Schulhof angekommen hastig von dem Brünetten und dessen bestem Freund und sprintete dann so schnell wie möglich zu Katsuya hinüber, der wie ein Häuflein Elend auf ›ihrer‹ Bank saß und trübsinnig vor sich hin starrte. Ganz offensichtlich, dachte Ryuuji seufzend, während er sich neben seinen blonden Freund fallen ließ, war Bakura auch in der vergangenen Nacht nicht wieder zu Hause aufgetaucht. Dieser Volltrottel! So langsam begann Bakuras Verhalten, ihn wirklich zu nerven. Hatte dieser Idiot eigentlich auch nur den Hauch einer Ahnung, was er Katsuya mit seinem Verschwinden angetan hatte – von seiner Mutter, die sich laut Aussage des Blonden die größten Vorwürfe machte und sich schon seit Sonntag ununterbrochen die Augen aus dem Kopf heulte, ganz zu schweigen? Ob dieser weißhaarige Volltrottel – wo auch immer er gerade stecken mochte – auch nur einen einzigen Gedanken an die Menschen verschwendete, die ihn liebten und seinetwegen vor Sorge fast vergingen? Wenn ich ihn in die Finger kriege, dann kann er aber was erleben! Dem werd ich ein paar Takte erzählen!, nahm Ryuuji sich vor und legte seinem besten Freund tröstend einen Arm um die Schultern. "Wir werden ihn finden, Kats. Ganz bestimmt", versprach er mit einem Lächeln, das wesentlich mehr Zuversicht ausstrahlte, als er im Augenblick empfand. Tokio war schließlich nicht gerade eine kleine Stadt und Bakura konnte wirklich überall sein. So langsam wusste er wirklich nicht mehr, wo sie noch suchen sollten, aber er würde, schwor sich der Schwarzhaarige, sich eher die Zunge abbeißen, bevor er vor Katsuya zugab, dass er kaum noch Hoffnung hatte, Bakura zu finden, solange dieser so offensichtlich nicht gefunden werden wollte. Der Blondschopf war auch ohne diesen zusätzlichen Dämpfer schon fertig genug von der ganzen Situation. Es war einfach nicht zu übersehen, wie sehr ihn das spurlose Verschwinden seines Freundes – denn etwas anderes war Bakura schließlich nicht – mitnahm. Seto, dem es ganz und gar nicht gefiel, wie vertraut sein Stiefbruder mit der blonden Plage namens Jounouchi umging, knirschte vor unterdrückter Wut mit den Zähnen und musste sich fast schon gewaltsam dazu zwingen, seinen Blick abzuwenden. Es fiel ihm schwer, sich wenigstens nach außen hin ruhig und gelassen zu geben, während es gleichzeitig in ihm brodelte. Warum in aller Welt musste Ryuuji eigentlich auch die blonde Pest ständig umarmen? Konnte er das nicht bleiben lassen? Und überhaupt, wieso umarmte er eigentlich ständig jeden – sogar vollkommen Fremde wie Jounouchi oder Ryou; die Aktion vom Montag hatte Seto keineswegs vergessen –, blieb aber bei ihm, Seto, selbst immer auf Abstand? Dass es seine eigene Schuld war, weil er es anfangs nicht gewollt hatte – und dass eine Umarmung bei seiner Gefühlslage sicher alles andere als ratsam wäre –, verdrängte er ebenso gekonnt wie die Gewissheit, dass er Ryuuji ganz sicher nicht freiwillig wieder loslassen würde, sollte dieser ihn tatsächlich noch einmal umarmen. "Egal, wie sehr du Jounouchi auch mit deinem Blick zu durchbohren versuchst, das wird ihn nicht umbringen, Seto", holte Yamis Stimme ihn wieder in die Realität zurück und der Angesprochene riss sich fast schon gewaltsam von dem Anblick los, den sein Stiefbruder und der blonde Kläffer ihm boten. Er sagte nichts, sondern wandte sich einfach nur abrupt um und ging mit großen Schritten auf das Schulgebäude zu. Wenn er noch lange hier draußen herumstand, dann würde ein Unglück geschehen, dessen war er sich absolut sicher. Yami warf noch einen kurzen Blick zu Otogi und Jounouchi, dann seufzte er abgrundtief und machte sich daran, Seto zu folgen. Dabei ermahnte er sich innerlich selbst, dass er kein Recht dazu hatte, sich um Kinoshita Bakura zu sorgen. Der Weißhaarige gehörte nun einmal zu Jounouchi. Und so eifersüchtig er selbst auch auf den Blonden war, er hoffte trotzdem, Kinoshita möge so bald wie möglich und vor allem gesund nach Hause kommen. So, wie es jetzt war, konnte es jedenfalls nicht weitergehen – für keinen von ihnen. oOo Bakura, der die vergangenen Tage nach Kräften genutzt hatte, um Geld aufzutreiben, kramte unterdessen seinen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf. Beinahe vollkommen lautlos bewegte er sich durch den Hausflur, stieg die Treppen bis in die zweite Etage nach oben und öffnete die Wohnungstür ebenso leise wie zuvor die Haustür. Geräuschlos zog er seine Schuhe aus und stellte sie in die Ecke neben der Tür. Dabei lauschte er aufmerksam, aber in der Wohnung war es vollkommen still. Nur das Ticken der großen alten Uhr aus dem Wohnzimmer war zu hören. Wie in einem Grab, schoss es Bakura durch den Kopf, aber er schüttelte diesen Gedanken schnell wieder ab und steuerte erst einmal die Küche an. Dort kramte er das Geld, das er in den letzten Tagen ›organisiert‹ hatte, aus der Tasche seiner Jeans und legte es auf den Küchentisch. Dann wollte er die Küche wieder verlassen, um nach seiner Mutter zu sehen – die hoffentlich noch niemandem von ihrem Fehltritt erzählt hatte –, erstarrte jedoch mitten in der Bewegung, als er sich ohne Vorwarnung Jounouchi Chiaki, ihrem Freund, gegenübersah. "Deine Mutter ist im Schlafzimmer und ruht sich aus", nahm Chiaki die Frage vorweg, die Bakura förmlich ins Gesicht geschrieben stand, und bedeutete diesem dann, sich auf einen der Küchenstühle zu setzen. Bakura folgte der stummen Aufforderung, doch sein Blick blieb misstrauisch – besonders, als Chiaki das Geld auf dem Tisch einfach achtlos beiseiteschob. Was in aller Welt hatte das denn zu bedeuten? Chiaki hatte doch Geldprobleme, also warum schenkte er den Scheinen so überhaupt keine Beachtung? Und warum mussten Chiakis Augen, die ihn so vorwurfsvoll anblickten, die gleiche Farbe haben wie die seines Sohnes, den er selbst in den letzten Tagen wie verrückt vermisst hatte? "Hast du eigentlich eine Ahnung, welche Sorgen deine Mutter sich deinetwegen gemacht hat, Bakura?" Chiaki sah deutlich, dass diese Frage dem Sohn seiner Freundin unangenehm war, doch das kümmerte ihn nicht. Anna war seit Bakuras Verschwinden außer sich gewesen vor Angst um ihren Ältesten und hatte kaum ein Auge zugetan. Bei jedem Geräusch hatte sie gehofft, ihr Junge käme endlich heim, und die Enttäuschung darüber, dass dem nicht so gewesen war, hatte sie jedes Mal aufs Neue zum Weinen gebracht. Aber das war längst nicht alles. Auch Katsuya hatte Bakuras spurloses Verschwinden sehr mitgenommen. Chiaki wusste, dass sein Sohn gemeinsam mit seinem besten Freund Ryuuji jeden Nachmittag nach dem Weißhaarigen gesucht hatte. Er war kaum dazu zu bewegen gewesen, überhaupt mal eine Pause einzulegen, sondern hatte jede freie Minute damit verbracht, nach seinem Freund zu suchen. Etwas anderes hatte ihn nicht interessiert. Er wollte einfach nur Bakura finden und ihn wieder nach Hause bringen, mehr nicht. Und auch Chiaki selbst hatte sich in den vergangenen Tagen immer wieder gefragt, wo Bakura wohl war und in welchen Schwierigkeiten er stecken mochte. Immerhin wusste er ja, dass Annas Sohn nicht unbedingt ein Musterbeispiel an Anstand war. Um zu wissen, dass er in den Tagen, in denen er von zu Hause fort gewesen war, Probleme gehabt haben musste, reichte schon ein einziger Blick. Bakuras Kleidung war schmutzig und wies am linken Ärmel sogar einen Riss auf, der aussah, als stamme er von einem Messer oder etwas ähnlichem. Dafür sprach auch das getrocknete Blut, das den Stoff um diesen Schnitt herum getränkt hatte. Die Wunde schien jedoch nicht allzu schlimm zu sein, denn Bakura verzog keine Miene. Offensichtlich hatte er also keine Schmerzen und offenbar auch keine weiteren Verletzungen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, atmete Chiaki auf. Auch wenn es gerade in der Anfangszeit einige Reibereien zwischen Bakura und ihm gegeben hatte – der Neunzehnjährige legte seiner Mutter gegenüber einen außergewöhnlich großen Beschützerinstinkt an den Tag und war ihrem neuen Freund lange mit Argwohn begegnet –, so fühlte er sich mittlerweile doch auch für ihn verantwortlich. Dass er Anna die Angst um ihren Sohn nicht hatte nehmen können, nagte ebenso an ihm wie das, was sie sich seinetwegen selbst zu tun gezwungen gesehen hatte. Schon zum zweiten Mal in seinem Leben hatte er es nicht geschafft, die Frau, die er liebte, zu beschützen. Was war er nur für ein elender Versager? Und womit hatte er überhaupt eine Frau wie Anna verdient, die alles und noch mehr für ihn getan hatte? "Sorgen?" Bakura war sich nicht sicher, was er von der Situation halten und was er glauben sollte. Seine Mutter hatte doch Angst vor ihm gehabt, das hatte er überdeutlich gesehen. Ihre schreckgeweiteten Augen und ihre Tränen hatten ihn in den letzten Tagen und Nächten verfolgt, hatten ihn regelrecht gefoltert und ihn einfach nicht zur Ruhe kommen lassen. Und jetzt wollte Chiaki ihm erzählen, seine Mutter wäre um ihn besorgt gewesen? Was war die Wahrheit? Das konnte doch nicht sein, oder? "Sehr große Sorgen sogar", bestätigte Chiaki, nickte und seufzte dann abgrundtief. "Sie hat kaum geschlafen, weil sie die ganze Zeit gehofft hat, du würdest endlich wieder nach Hause kommen", fuhr er fort und sah, wie Bakuras Augen sich weiteten. Er schien etwas sagen zu wollen, aber Chiaki kam ihm zuvor. "Aber deine Mutter war nicht die Einzige, die halb verrückt war vor Angst um dich", schob er noch hinterher und deutete ein Nicken in Richtung des Zimmers an, das sein Sohn sich mit Bakura teilte. "Katsuya ist seit Tagen auf der Suche nach dir, weil er deiner Mutter versprochen hat, dich wieder nach Hause zu bringen." Bakura wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Es kam ihm so vor, als wüsste Chiaki Bescheid über das, was seine Mutter getan hatte. Aber wenn dem wirklich so war, warum behauptete er dann, sie wäre immer noch hier? Warum hatte er ihr nicht die Tür gewiesen, wie sein leiblicher Vater es vor zwei Jahren getan hatte? Warum war Chiaki nicht wütend? Oder – Bakura schluckte hart bei diesem Gedanken – hatte er seine Wut über ihre Untreue vielleicht schon an ihr ausgelassen? War seine Mutter vielleicht deshalb im Schlafzimmer und ›ruhte sich aus‹, wie Chiaki behauptete, weil er sie verprügelt hatte? Als seine Gedanken an diesem Punkt angekommen waren, sprang Bakura ruckartig auf, stürmte an Chiaki vorbei aus der Küche und hinüber ins Schlafzimmer. Er musste seine Mutter sehen; musste sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es ihr gut ging und dass sie vor allem unverletzt war. Mit diesem Vorsatz riss er die Schlafzimmertür auf und warf einen Blick in den Raum. Die Jalousien waren zur Hälfte herabgelassen, aber es war trotzdem hell genug, um die zusammengekrümmt im Bett liegende Gestalt sehen zu können. Langes weißes Haar verdeckte das Gesicht zur Hälfte und Bakura trat mit klopfendem Herzen näher. Es sah aus, als hätte seine Mutter Schmerzen. Ein weiterer, gründlicher Blick machte ihm jedoch klar, dass seine Sorge unbegründet war. Das Gesicht seiner Mutter war zwar geschwollen und gerötet, doch das rührte ganz offenbar von den Tränen her, die nicht mal jetzt im Schlaf zu fließen aufhören wollten und schon einen großen feuchten Fleck auf dem Kissen hinterlassen hatten. Ganz behutsam strich Bakura eine nasse weiße Strähne von der Wange seiner Mutter und sank dann neben dem Bett in die Hocke. "Du weißt Bescheid, oder?", fragte er leise, ohne den Blick von der Schlafenden abzuwenden, und Chiaki, der ihm gefolgt war und sich an den Türrahmen gelehnt hatte, nickte. "Ja. Sie hat es mir erzählt", gab er zurück und seufzte abgrundtief. "Ich wünschte, ich hätte ihr nie von meinen Geldproblemen erzählt. Ich wollte ganz bestimmt nicht, dass sie sich selbst derart erniedrigt und sich so etwas antut." Seltsam, ging es Bakura bei diesen Worten durch den Kopf. Sein Vater hatte nicht einen Gedanken daran verschwendet, wie viel Überwindung es seine Frau gekostet haben mochte, ihren Körper zu verkaufen. Er hatte ihr nur Vorwürfe gemacht und sie aus seinem Haus und aus dem Leben seines jüngeren Sohnes verbannt. Chiaki hingegen machte offensichtlich nur sich selbst Vorwürfe. Er liebt sie eben wirklich. Vater hat das nie getan. Für ihn war sie immer nur Mittel zum Zweck und sonst gar nichts. Nach Ryous Geburt hatte sie ausgedient. Und er selbst war ebenso abgeschrieben gewesen. Immerhin war sein kleiner Bruder schließlich in der Ehe geboren und nicht so ein außerehelicher Schandfleck wie er selbst. Anna, die die Stimme ihres ältesten Sohnes gehört zu haben glaubte, schlug die Augen auf und blinzelte ein paar Mal, um ihr Sichtfeld zu klären. Als sie erkannte, dass Bakura vor dem Bett hockte und sie ansah, glaubte sie im ersten Moment an eine Täuschung. Als sie jedoch zitternd die Hand ausstreckte und mit den Fingerspitzen statt leerer Luft tatsächlich die Wange ihres Ältesten berührte, schluchzte sie auf und ließ das Bild, das sie die ganze Zeit umklammert gehalten hatte – ein gemeinsames Foto ihrer beiden Söhne aus glücklicheren Zeiten – fallen und schlang ihre Arme stattdessen um Bakuras Hals. "Du bist wieder zu Hause!", schniefte sie. Dabei strich sie ihrem Jungen unablässig über das Gesicht, den Rücken und die Haare, als könnte sie es nicht fassen, dass er wirklich und wahrhaftig heimgekehrt war. "Wo hast du bloß gesteckt? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!" Bakura, den die plötzliche Umarmung seiner Mutter vollkommen aus der Bahn geworfen hatte, wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte wirklich alles erwartet, aber nicht, dass sie ihm sein Verhalten einfach so verzeihen und sich auch noch um ihn sorgen würde. Schließlich hatte er sich doch etwas geleistet, das eigentlich ganz und gar unverzeihlich war: Er hatte seiner eigenen Mutter Angst gemacht und sie zum Weinen gebracht – und das sogar mehr als einmal, wenn man Chiaki glauben konnte. Und jetzt weinte sie schon wieder seinetwegen. Aber anstatt wütend auf ihn zu sein und ihn fortzuschicken, schien sie ihn gar nicht mehr loslassen zu wollen. Diese Reaktion schnürte Bakura förmlich die Kehle zu und so klang seine Stimme reichlich gepresst, als sie ihm doch endlich wieder gehorchte. "Es tut mir leid, Mama", entschuldigte er sich auf Russisch und Anna rückte ein Stück von ihm ab, um ihm in die Augen sehen zu können. "Versprich mir, dass du so etwas nie wieder tust, Bakura", verlangte sie, aber noch ehe er auch nur einen Ton sagen konnte, sprach sie auch schon weiter. "Versprich mir, dass du nie wieder einfach so verschwindest und dich tagelang nicht meldest. Katsuya, Chiaki und ich sind fast umgekommen vor Sorge um dich!" "Versprochen", murmelte Bakura rau und wischte seiner Mutter behutsam die Tränen aus dem Gesicht. Diese Geste quittierte sie mit einem zärtlichen Lächeln, in dem nicht der leiseste Hauch von Angst oder Vorwurf zu sehen war. "Ich mach's nie wieder", bekräftigte er noch einmal und meinte damit ebenso sein spurloses Verschwinden wie seinen Ausbruch davor, der seiner Mutter einen solchen Schrecken eingejagt hatte. Nein, nie wieder, solange er lebte, würde er seiner über alles geliebten Mutter so etwas antun. Sie sollte sich nie, nie wieder seinetwegen sorgen oder ängstigen müssen. Chiaki, der die Versöhnung seiner Freundin und ihres Sohnes schweigend mitangesehen hatte, wollte sich gerade bemerkbar machen, als das Telefon im Flur zu klingeln begann. Im ersten Moment erschrak er, doch ein Blick auf seine Uhr machte ihm klar, dass es sich bei dem Anrufer nur um seinen Sohn handeln konnte. Seit Bakuras Verschwinden hatte Katsuya an jedem Tag nach Schulschluss erst einmal angerufen und nach Neuigkeiten gefragt, ehe er gemeinsam mit Ryuuji losgezogen war, um weiter nach Bakura zu suchen. Höchste Zeit, dass der Junge erfuhr, dass das nicht mehr nötig war, weil Bakura endlich wieder nach Hause gekommen war. Ganz bestimmt würde Katsuya bei dieser Nachricht ein Stein vom Herzen fallen. oOo "Was? Echt? Wann?" Die Aufregung in Katsuyas Stimme ließ Ryuuji, der neben seinem besten Freund stand, während dieser telefonierte, aufhorchen. Irgendwas musste passiert sein, so viel war klar. Aber was? Konnte es sein, dass … "Kura ist wieder zu Hause", riss der Blondschopf ihn aus seinen Gedanken und Ryuuji konnte sich ein erleichtertes Lächeln nicht verkneifen. Endlich, endlich hatte die fruchtlose Suche der letzten Tage ein Ende! "Das ist doch super", freute er sich deshalb, doch sein blonder Freund schien diese Freude nicht ganz zu teilen. Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Freude und Wut – eine Mischung, die Ryuuji nur allzu gut nachvollziehen konnte. "Mit dem hab ich ein Hühnchen zu rupfen!", grollte Katsuya, warf sich seinen Rucksack über die Schulter und stapfte auf das Schultor zu. Ryuuji beeilte sich, seinem besten Freund zu folgen. Das blaue und das violette Augenpaar, die sie beide beobachteten, bemerkten weder der Schwarzhaarige noch der Blonde. oOo "Sieht aus, als gäbe es Neuigkeiten bezüglich Kinoshita", murmelte Yami halblaut und sprach damit haargenau das aus, was sein bester Freund dachte. Daher nickte Seto einfach nur. Seinen nächsten Gedanken – Wenn Kinoshita wieder zu Hause ist, warum muss Ryuuji dann unbedingt schon wieder mit zu dieser Plage Jounouchi gehen? – behielt er allerdings für sich. "Du kommst doch sicher wieder mit zu mir, oder?", wandte er sich stattdessen an Yami, der jedoch sehr zu seinem Erstaunen verneinte. "Wenn es dir nichts ausmacht, Seto, dann möchte ich lieber nach Hause. Ich … möchte jetzt gerne etwas allein sein", gab der Bunthaarige zurück, ohne seinen besten Freund anzusehen. Sicher, während der letzten Trage hatte er unaufhörlich gehofft, Kinoshita möge so bald wie möglich heimkehren, aber das Wissen, dass es Jounouchi sein würde, den der Weißhaarige in die Arme schließen würde, tat einfach weh. "Ich verstehe", unterbrach Setos Stimme Yamis Gedankengänge und als Yami ihn doch wieder ansah, deutete er ein Nicken in Richtung der wartenden Limousine an. "Isono wird dich absetzen", beschloss er und wartete, bis sein bester Freund sich in Bewegung gesetzt hatte. Gemeinsam stiegen die beiden in den Wagen und Seto instruierte Isono, erst bei den Mutos vorbeizufahren und Yami nach Hause zu bringen. Dabei bemühte er sich, sich seine eigenen Gedankengänge nicht anmerken zu lassen. Die Tatsache, dass es ihn wahnsinnig machte, nicht zu wissen, wo Ryuuji gerade steckte, was er tat und wann er nach Hause kommen würde, ging niemanden etwas an. Yami fühlte sich augenscheinlich auch so schon schlecht genug wegen der ganzen Kinoshita-Sache; da musste er ihn nicht auch noch mit seinen eigenen Problemen belasten. Irgendwie würde er schon klarkommen. Yami hatte schon genug für ihn getan. Eigentlich sogar fast schon zu viel, sinnierte Seto und straffte sich, also das Haus der Mutos in Sicht kam. Es ist höchste Zeit, dass ich mich dafür revanchiere. Yami, der die ganze Fahrt über schweigend aus dem Fenster der Limousine gestarrt hatte, staunte nicht schlecht, als Seto gemeinsam mit ihm ausstieg und Isono anwies, ohne ihn zur Villa zu fahren. "Ich lasse dich nicht alleine, wenn es dir schlecht geht", begründete der Brünette diese Anweisung und Yami musste beinahe gegen seinen Willen lächeln. Leute, die Seto und ihn kannten, verstanden oft nicht, weshalb sie überhaupt miteinander befreundet waren, wo sie sich doch so offensichtlich unterschieden. Immerhin war Seto ein sehr verschlossener Mensch, der sich nur sehr wenigen Personen gegenüber überhaupt Gefühle anmerken ließ. Er wirkte immer sehr kalt und so wollten die wenigsten wirklich mit ihm zu haben, sofern sie sich nicht einen Vorteil davon versprachen – was, wie Yami nur zu genau wusste, einer der Gründe für die Reserviertheit seines besten Freundes war. Aber das zeigt nur, dass diese Leute Seto alle gar nicht richtig kennen, wenn sie sich nicht die Mühe machen, seine Fassade zu durchschauen. Mochte er auch nach außen noch so abweisend und arrogant wirken, Yami wusste, sein bester Freund hatte auch noch andere Seiten. Und solche Kleinigkeiten wie die Weigerung, einen Freund, dem es nicht gut ging, alleine zu lassen, sagten in seinen Augen mehr als genug. "Danke, Seto", murmelte der Bunthaarige daher leise, während er die Haustür aufschloss, doch der Angesprochene schüttelte nur den Kopf. "Da gibt es nichts zu danken. Ryuuji wird wohl so oder so nicht vor heute Abend nach Hause kommen. Außerdem kann ich dir so auch gleich die Mathematikhausaufgaben erklären", gab er zurück und Yami schmunzelte. Sicher, für Außenstehende musste das klingen, als dächte Seto nur an sich selbst, aber er wusste es besser. oOo "Wo ist der Penner?" Katsuya, dessen Wut mit jedem Schritt in Richtung Heimat größer und größer geworden war, schoss förmlich in die Küche und baute sich mit blitzenden Augen vor dem weißhaarigen Heimkehrer auf. Seinen Vater und dessen Freundin, die sich ebenfalls in der Küche aufhielten, beachtete er ebenso wenig wie seinen besten Freund, der ihm gefolgt war und die Wohnungstür hinter ihnen beiden geschlossen hatte, damit nicht das ganze Haus Zeuge von Katsuyas Wutausbruch wurde. Dessen ganze Aufmerksamkeit war nur auf das Ziel seiner Wut gerichtet. Alles andere blendete er vollkommen aus. "Du Arschloch!", blaffte der Blondschopf und gab Bakura, der zwei Schritte auf ihn zu gemacht hatte, einen Stoß, der ihn zurücktaumeln und gegen den Kühlschrank krachen ließ. Der Aufprall entlockte Bakura ein schmerzerfülltes Ächzen – die Tür hatte seinen linken Arm genau an der Stelle getroffen, die am Vortag Bekanntschaft mit einer Glasscherbe gemacht hatte –, doch Katsuya ignorierte diesen Laut ebenso wie Annas erschrockenen Aufschrei. "Was sollte der Scheiß eigentlich, hä? Kannst du mir mal verraten, wo du gewesen bist und was du dir eigentlich dabei gedacht hast? Hast du überhaupt eine Ahnung, was für Sorgen wir uns deinetwegen gemacht haben? An-chan hat kaum geschlafen, weil sie Angst hatte, dass du umgebracht wirst. Ryuuji und ich haben dich überall gesucht. Wo warst du, du verdammter Mistkerl?" Bakura wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, doch Katsuya kam ihm zuvor. "Weißt du was, vergiss es. Ich will's gar nicht wissen. Ich will von dir überhaupt nichts mehr wissen, also sprich mich nie wieder an." Diese Worte standen in krassem Gegensatz zu seinem vorangegangenen Ausbruch, denn sie klangen eine Spur zu ruhig. Ohne den Weißhaarigen noch einmal anzusehen wandte Katsuya sich ab und verschwand ohne ein weiteres Wort in seinem Zimmer. Bakura, der wirklich mit allem gerechnet hatte, stand da wie vom Donner gerührt und starrte auf die Stelle, wo der Blondschopf eben noch gestanden hatte. Hatte er das, was er gerade gesagt hatte, wirklich ernst gemeint? War für ihn jetzt wirklich alles, was zwischen ihnen gewesen war, aus und vorbei? Allein der Gedanke war wie ein Tritt in den Magen. Katsuya konnte doch nicht einfach so mit ihm Schluss machen – nicht, wo er doch in den letzten Tagen alles daran gesetzt hatte, dass weder seine Mutter noch er die beiden Menschen verlieren mussten, die ihnen so unglaublich wichtig geworden waren. Das kann er doch nicht machen! Ich hab das alles doch nur gemacht, damit wir zusammenbleiben können! "Wenn ich du wäre, dann würde ich jetzt zu ihm gehen und ihn auf Knien um Verzeihung anflehen." Ryuuji, der seinen besten Freund nur zu gut kannte, warf einen kurzen Blick zu Katsuyas Zimmer, ehe er Bakura wieder ansah. "Kats hat dich in den letzten Tagen wie ein Irrer überall gesucht. Er ist fast durchgedreht, weil er dich einfach nicht finden konnte. Ich hab ihn abends nur mit Mühe und Not überhaupt dazu gekriegt, nach Hause zu gehen. Am liebsten hätte er auch nachts noch weitergesucht. Ich hoffe wirklich, dass du einen guten Grund für den Scheiß hattest und dass es das wert war", murmelte er und seufzte abgrundtief. "Sag Kats, ich melde mich nachher bei ihm. Hat mich gefreut, Kinoshita-san. Wiedersehen, Chiaki", verabschiedete er sich dann, nahm seine Tasche und verließ die Wohnung wieder. Nach dem ganzen Stress der letzten Tage kam ihm ein ruhiger Nachmittag, an dem er seinen Hausaufgaben mal nicht auf den letzten Drücker herunterschmieren musste, mehr als nur ein bisschen gelegen. "Ryuuji hat Recht." Chiaki legte einen Arm um die Schultern seiner Freundin und zog sie an sich, ohne ihren Sohn aus den Augen zu lassen. "Und das, was Katsuya gerade gesagt hat – dass er nichts mehr von dir wissen will –, das ist nicht wahr. Er ist nur wütend und verletzt, das ist alles." Und wenn Katsuyas Temperament mit ihm durchging, dann sagte und tat er oft Dinge, die er hinterher bereute. So war der Junge immer schon gewesen. Hoffentlich!, war Bakuras einziger Gedanke. Es durfte einfach nicht alles umsonst gewesen sein! Chiaki hatte seiner Mutter doch auch verziehen, dass sie einen Fehler gemacht und alles aufs Spiel gesetzt hatte. Aber so wütend, wie Katsuya gerade gewesen war … Ich muss es wenigstens versuchen, nahm Bakura sich vor und ging hinüber zu dem Zimmer, das er sich mit dem Blondschopf teilte. Probeweise drückte er die Klinke herunter und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Sollten Chiaki und Ryuuji doch Recht haben? Erwartete Katsuya wirklich nur eine Entschuldigung von ihm und eine Erklärung für seine tagelange Abwesenheit? Konnte es wirklich so einfach sein, alles aus der Welt zu schaffen, was im Augenblick zwischen ihnen stand? "Kats?", fragte er leise in den Raum hinein, doch der Angesprochene, der zusammengekauert auf dem Bett hockte, blickte ihn nicht einmal an. "Es hat sich ausgekatst", kam nur zurück, aber Bakura registrierte durchaus, dass die Stimme des Blonden bedenklich schwankte. Allein der Gedanke, dass Katsuya möglicherwiese seinetwegen heulte, war für den Weißhaarigen wie ein weiterer Schlag in den Magen. Katsuya und heulen – das passte einfach nicht zusammen. Der Blondschopf sollte lachen oder auch mit ihm streiten, aber er sollte auf keinen Fall seinetwegen heulen. Niemals. "Ich hab Geld besorgt. Für deinen Vater. Damit wir bleiben können." Bakuras Erklärungsversuch brachte Katsuya doch dazu, den Anderen anzusehen, nachdem er sich vorher verstohlen über die Augen gewischt hatte, um die verräterischen Tränenspuren verschwinden zu lassen. "Paps würde euch nie rauswerfen – ganz egal, was An-chan oder du getan habt", gab er zurück und bestätigte damit Bakuras Verdacht, dass auch er über den Fehltritt seiner Mutter Bescheid wusste. "Mein Vater hat's getan", murmelte er kaum hörbar und knirschte mit den Zähnen. Diese Sache war noch lange nicht vergessen – und schon gleich gar nicht vergeben. "Als sie das letzte Mal so einen Scheiß gemacht hat, hat er sie rausgeschmissen und ihr verboten, Ryou jemals wiederzusehen. Er hätte sie sogar fast geschlagen." Diese Worte ließen Katsuya aufhorchen. Das erklärte in der Tat eine ganze Menge, denn es klang ganz so, als wäre es Bakura gewesen, der diesen Übergriff verhindert hatte. Dadurch wurde sein übergroßer Beschützerinstinkt Anna gegenüber mehr als verständlich. "Paps würde so was nie tun. Er liebt An-chan", sagte Katsuya, rappelte sich vom Bett auf und drückte stattdessen Bakura auf die Matratze. "Sitzen bleiben", befahl er und ging hinüber ins Bad, um Desinfektionsmittel und Verbandszeug zu holen, denn das frische Blut an Bakuras Arm war ihm nicht entgangen. "Zieh das Shirt aus", verlangte er nach seiner Rückkehr und stellte das mitgebrachte Zeug auf den Nachttisch, während der Weißhaarige seiner Aufforderung ausnahmsweise brav und schweigend Folge leistete. Sobald die Wunde freigelegt war, begann Katsuya damit, sie zu reinigen, zu desinfizieren und schlussendlich zu verbinden. "Eigentlich sollte ich dir eine reinhauen für den Scheiß, den du dir geleistet hast", grummelte er dabei, doch er klang längst nicht mehr wirklich wütend. Die Erleichterung, die unterschwellig in seiner Stimme mitschwang, entging Bakura nicht. Kaum dass der Blondschopf damit fertig war, ihn zu verarzten, packte er ihn und zog ihn mit einem Ruck auf seinen Schoß. Dabei hielt er ihn allerdings absichtlich nicht fest. Ob er bleiben oder gehen wollte war ganz allein Katsuyas Entscheidung, nicht seine. "Tu's, wenn du willst. Ich werd mich nicht wehren", bot er an. "Verdient hättest du's", nuschelte der Blondschopf, machte jedoch keinerlei Anstalten, seine Drohung in die Tat umzusetzen oder auch nur aufzustehen. "Ich werd nie wieder einfach so abhauen", wiederholte Bakura daraufhin das Versprechen, das er schon seiner Mutter gegeben hatte, und Katsuya schnaubte. "Noch mal würd ich dich auch nicht suchen", behauptete er, doch der Weißhaarige lachte nur. "Lügner", titulierte er den Blonden, ließ diesem jedoch keine Gelegenheit mehr für eine Erwiderung, sondern holte sich endlich wieder das, was er in den vergangenen Tagen so schmerzlich vermisst hatte. Und die Tatsache, dass Katsuya sich nicht wehrte, sondern seine Küsse mit der gleichen verzweifelten Sehnsucht erwiderte, sagte Bakura deutlicher als alle Worte der Welt, dass der Blondschopf ihm tatsächlich verziehen hatte. oOo "Ich bin wieder zu Hause!" Seufzend schob Ryuuji die Tür der Villa hinter sich zu und zog erst einmal seine Schuhe aus, ehe er seine Tasche nahm und sich auf den Weg in die Küche machte. Sehr zu seiner Verwunderung war dort allerdings niemand. Und auch das Wohnzimmer, das er als nächstes inspizierte, war vollkommen leer. Gerade als er jedoch auf den Flur trat, um nach oben in sein Zimmer zu gehen, wäre er um ein Haar mit Isono zusammengestoßen. "Bitte verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken, Ryuuji-san", entschuldigte dieser sich und fuhr gleich fort, noch ehe der Stiefsohn seines Arbeitgebers etwas dazu sagen konnte. "Seto-san befindet sich derzeit noch bei Muto-san. Er sagte, er würde erst zum Abendessen zurück sein", informiert er den Schwarzhaarigen und dieser nickte ihm kurz zu. "Danke, Isono-san." Der Angesprochene deutete eine Verbeugung an und neigte dann seinen Kopf leicht zur Seite. "Wenn Sie jetzt schon etwas essen möchten …", setzte er an, doch Ryuuji winkte ab. "Danke, aber ich bin nicht hungrig. Ich mache erst mal meine Hausaufgaben und esse dann nachher zusammen mit Seto", beschloss er, nickte Isono noch einmal zu und sprintete dann die Treppe hoch zu seinem Zimmer. Einerseits war es schade, dass Seto im Augenblick nicht zu Hause war, aber andererseits war das wohl auch besser so. Außerdem gab die Abwesenheit seines Stiefbruders ihm die Möglichkeit, etwas zu erledigen, was er schon viel zu lange vor sich herschob. Bevor er sich jedoch dieser Sache widmete, kümmerte er sich erst einmal um seine Hausaufgaben. Erst nachdem diese erledigt waren, kramte Ryuuji in seinem Schrank nach seinem Rucksack, in dem sich noch immer das Kleid befand, das er auf Himuras Geburtstagsfeier getragen hatte. Jetzt, wo er alleine war, konnte er endlich mal die gerissene Seitennaht reparieren. Den Gedanken an das, was auf der Party geschehen war, ganz weit von sich schiebend schaltete er seine Anlage ein, suchte sein Nähzeug heraus und machte sich an die Arbeit. Der Uhrzeit schenkte er dabei keine Beachtung. oOo Seto, der den gesamten Nachmittag bei seinem besten Freund verbracht und diesen nach Kräften von Kinoshitas Heimkehr abzulenken versucht hatte, rief Isono um halb sieben an, um sich abholen zu lassen. "Ryuuji-san ist bereits in der Villa", wurde er informiert, kaum, dass er sich in den Polstern zurückgelehnt hatte. Augenblicklich ärgerte er sich darüber, dass er die Gelegenheit verpasst hatte, den Nachmittag mit dem Schwarzhaarigen zu verbringen. Andererseits war Yami sein bester Freund und hatte ihn gebraucht. Und außerdem, ging es ihm durch den Kopf, als die vertrauten Umrisse der Villa in seinem Blickfeld auftauchten, ist morgen auch noch ein Tag. Mokuba würde erst gegen Abend von seiner Klassenfahrt zurückkehren und dadurch, dass das frischvermählte Paar erst am Samstag zurückerwartet wurde, hatten sie noch einen ganzen Tag für sich – einen Tag, den zu nutzen Seto fest entschlossen war. Er würde, nahm er sich beim Aussteigen aus der Limousine vor, Ryuuji noch vor dem Abendessen bitten, den morgigen Tag mit ihm zu verbringen. Jetzt, wo Kinoshita wieder zu Hause war, stand dem ja hoffentlich nichts mehr im Wege. Und je nachdem, wie der Tag sich entwickelte, würde er entscheiden, ob er mit seinem Stiefbruder über seine Gefühle sprechen würde oder ob er damit lieber noch warten wollte. Allein der Gedanke an das, was ihm möglicherweise bevorstand, ließ Setos Magen nervös flattern, doch er schob dieses Gefühl schnell beiseite. Angst war etwas, das einem Kaiba einfach nicht stand. Aus diesem Grund ignorierte Seto auch, dass seine Hände immer feuchter wurden, je näher er dem Zimmer seines Stiefbruders kam. Vor der Tür atmete er noch einmal tief durch und klopfte dann, erhielt jedoch keine Antwort. Einen Moment lang war er versucht, wieder nach unten zu gehen, doch als er sich gerade umdrehen wollte, hörte er durch die geschlossene Tür leise Musik aus Ryuujis Zimmer. Ganz offenbar hatte der Schwarzhaarige sein Klopfen also gar nicht gehört. Seto zögerte kurz, dann legte er seine Hand auf die Klinke, drückte die Tür langsam auf und betrat das Zimmer, doch auch davon bemerkte Ryuuji nichts. Er saß im Schneidersitz auf seinem Bett, das rote Kleid auf seinem Schoß, und summte den laufenden Song leise mit. Zwischen seinen Lippen klemmte eine Stecknadel, die er gerade aus dem Stoff gezogen hatte. Seto, der zugegebenermaßen etwas erstaunt darüber war, dass sein Stiefbruder ganz offenbar nähen konnte, brauchte einen Moment, um den Wust aus rotem Stoff als das zu erkennen, was es war. Als Ryuuji den Stoff jedoch drehte, um an den Reißverschluss zu kommen, glaubte der Brünette, seinen Augen nicht trauen zu können. Das, was sein Stiefbruder da in den Händen hielt, war ein tiefrotes Kleid – ein Kleid, das Seto nur zu gut kannte. Immerhin ging ihm ebendieses Kleid seit seinem desaströsen Fauxpas auf der Geburtstagsfeier seiner Klassenkameradin Himura nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder hatte er sich gefragt, wer wohl seine mysteriöse Tanzpartnerin gewesen und wohin sie verschwunden war – jedenfalls dann, wenn seine Gedanken sich nicht gerade um seinen Stiefbruder gedreht hatten. Die Tatsache, dass ebendieser Stiefbruder jetzt tatsächlich genau das Kleid in den Händen hielt, ließ nur einen logischen Schluss zu: Das ›Mädchen‹, mit dem er getanzt, das er geküsst und das ihn vor aller Augen geohrfeigt hatte, war niemand anderes gewesen als Ryuuji! Als diese Erkenntnis in Setos Bewusstsein gedrungen war, weiteten sich seine Augen. "Das ist nicht wahr!", entfuhr es ihm und der Schwarzhaarige auf dem Bett zuckte vor Schreck heftig zusammen. "Holy shit!", fluchte Ryuuji, drehte sich halb um und erstarrte, als er sich von allen Menschen auf der Welt ausgerechnet dem älteren seiner beiden Stiefbrüder gegenübersah. "Scheiße!", rutschte es ihm heraus und Seto, der sich zumindest oberflächlich wieder gefasst hatte, bedachte ihn mit einem kühlen Blick, der nicht verriet, wie es in seinem Inneren gerade aussah. Unter diesem eisigen Blick erbleichte Ryuuji sichtlich. Um das Kleid verstecken zu wollen, war es eindeutig zu spät. Setos ganze Haltung machte deutlich, dass er es schon gesehen und seine eigenen Schlüsse gezogen hatte – auch wenn seine Mimik nicht verriet, wie diese Schlüsse aussahen. So eine Scheiße! Seto war nun wirklich der allerletzte Mensch, der das Kleid hatte sehen sollen. Ryuuji überlegte fieberhaft, aber ihm fiel einfach nichts ein, wie er die Situation aufklären konnte, ohne zu viel über sich selbst preiszugeben. Immerhin hatte er seiner Mutter hoch und heilig versprochen, ihr keinen Ärger zu machen, solange er hier war. Jetzt allerdings sah es ganz so aus, als könnte er dieses Versprechen nicht halten – jedenfalls nicht, ohne sich den endgültigen Hass seines Stiefbruders zuzuziehen. Beinahe schämte Ryuuji sich ein wenig dafür, dass er bereit war, sein Versprechen seiner Mutter gegenüber zu brechen, aber im Augenblick war es ihm wichtiger, Seto die ganze Sache zu erklären. Auf keinen Fall sollte der Brünette ihm wieder so abweisend gegenüberstehen wie zu Beginn, denn das würde er einfach nicht ertragen. "Seto, hör zu, ich kann dir das alles erklären …", setzte Ryuuji daher an, doch Seto ließ ihn gar nicht erst ausreden. "Erklären? Da gibt es nichts zu erklären. Ich weiß ganz genau, was das zu bedeuten hat", schoss er zurück und der Schwarzhaarige duckte sich ob des harschen Tonfalls, unterbrach den Blickkontakt jedoch nicht. "Ich weiß, wie das für dich aussehen muss, aber …", versuchte er es erneut und wieder schnitt Seto ihm das Wort ab. "Spar dir deine Rechtfertigungen. Ich will nur eins von dir wissen: Hast du dich gut amüsiert?" Diese Frage war für Ryuuji wie eine Ohrfeige. Sprachlos starrte er seinen Stiefbruder an, denn er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Glaubte Seto wirklich, es hätte ihm Spaß gemacht, vor den Augen dutzender Partygäste so gedemütigt zu werden? Denn eine Demütigung war es gewesen, auch wenn Seto das nicht wusste und es auch niemals erfahren sollte. "Ich gehe jede Wette ein, der Köter fand das Ganze auch unglaublich komisch. Oder willst du mir ernsthaft weismachen, du hättest Jounouchi nichts davon erzählt?" Setos Stimme hatte einen bitteren Beiklang, doch den registrierte Ryuuji nicht. Gerade war er noch geschockt und verletzt gewesen, doch die Unterstellung, er hätte sich gemeinsam mit Katsuya über Seto lustig gemacht, machte ihn wütend. Aufgebracht warf er das Kleid auf sein Bett, sprang auf und baute sich vor seinem Stiefbruder auf. "Sag mal, spinnst du eigentlich?", fuhr er diesen an. "Was denkst du eigentlich von mir? Glaubst du wirklich, ich gehe damit hausieren, dass du mich einfach so überfallen und geküsst hast? Du tickst doch nicht mehr ganz sauber!" Wie konnte Seto ihm nur so etwas unterstellen? Hatte der Brünette wirklich so eine schlechte Meinung von ihm? Dieses Wissen tat verdammt weh, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um dem Schmerz nachzugeben. "Ich hab überhaupt niemandem von der ganzen Sache erzählt. Wenn ich wirklich das Arschloch wäre, für das du mich ja offenbar zu halten scheinst, meinst du nicht, dass ich dir dann schon längst unter die Nase gerieben hätte, wen du auf der Party geküsst hast? Aber das hab ich nicht. Ich hab die ganze Zeit die Klappe gehalten und weder mit Kats noch mit sonst wem darüber gesprochen. Ich wollte das einfach nur vergessen, sonst nichts. Ich wollte nie wieder daran denken." Obwohl mir das nicht gelungen ist. Eher sogar im Gegenteil, denn seit dem Kuss war keine Nacht vergangen, in der er nicht davon geträumt hatte. Aber, das schwor Ryuuji sich, er würde sich eher die Zunge abbeißen, ehe er das freiwillig zugab. "Aber ich glaub, eine Sache hast du vergessen, Seto: Du hast mich geküsst, nicht umgekehrt. Ich hab nicht das Geringste falsch gemacht. Ich konnte schließlich nicht wissen, dass du wahllos irgendwelche Mädchen abknutschst, wenn sie den Fehler machen, dir zu nahe zu kommen", fauchte er seinen Stiefbruder an und registrierte zu seiner Zufriedenheit, dass dieser tatsächlich zurückzuckte, als wäre er geohrfeigt worden. Seto hatte ihm wehgetan und das wollte er ihm mit gleicher Münze zurückzahlen. "Ich habe nicht …", setzte der Brünette an, doch dieses Mal ließ Ryuuji ihn nicht ausreden. "Und wo du schon mit Kats angefangen hast, gibt's noch was, was du wissen solltest: Der ›Köter‹, wie du ihn nennst, küsst um Längen besser als du!" Diese Worte wirkten auf Seto wie ein Eimer eiskalten Wassers. "Schön für dich", brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus und presste seine Lippen so fest aufeinander, bis sie nur noch ein schmaler Strich waren. "Ich hoffe für dich, Kinoshita ist so gnädig und erlaubt dir, dich auch weiterhin mit dem Köter zu vergnügen. Er macht auf mich zwar nicht den Eindruck, als wäre er bereit zu teilen, aber vielleicht macht er für dich ja eine Ausnahme." Nach diesen Worten drehte Seto sich um, rauschte aus dem Zimmer seines Stiefbruders und stürmte die Treppe hinunter bis in den Keller. Auf keinen Fall konnte er auch nur eine Minute länger in der Nähe des Schwarzhaarigen bleiben oder sich gar zivilisiert mit ihm zum Essen an einen Tisch setzen – nicht nach dem, was er gerade erfahren hatte. Er brauchte jetzt seine Ruhe, musste seine Gedanken sortieren, deshalb ging er zum Pool. Ein paar Bahnen zu schwimmen half ihm immer, sich zu beruhigen, und es würde ihm auch dieses Mal helfen. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit zerrte Seto sich seine Schuluniform förmlich vom Körper und warf sie einfach auf eine der Liegen, anstatt sie ordentlich zusammenzufalten. Blitzschnell war er in eine der bereitliegenden Badehosen geschlüpft, sprang ins Wasser und begann, seine Bahnen zu ziehen, doch egal, wie schnell er auch schwamm, seinen Gedanken konnte er nicht entkommen. Wieder und weder spielten sich vor seinem inneren Auge Szenen ab, die er eigentlich ganz und gar nicht sehen wollte: Er selbst und seine ›Lady in red‹ beim Tanz auf Himuras Geburtstagsfeier, der Kuss und die Ohrfeige, seine vergebliche Suche nach seiner ›Tanzpartnerin‹ und der Beinahe-Zusammenstoß mit Ryuuji vor der Hallentür, die Gelassenheit des Schwarzhaarigen und dessen Verteidigung ein paar Tage später unter der Dusche nach dem Sportunterricht. So sehr es Seto auch widerstrebte, das zugeben zu müssen, aber er hatte seinem Stiefbruder Unrecht getan. Ryuuji hatte definitiv nicht mit Jounouchi über die ganze Sache gesprochen. Die blonde Plage hätte es doch nie und nimmer geschafft, eine solche Information für sich zu behalten. Ryuuji hatte also die Wahrheit gesagt, während er selbst sich dazu hatte hinreißen lassen, dem Schwarzhaarigen Dinge zu unterstellen, die wirklich jenseits jeglicher Definitionen von ›nett‹ lagen. Wie er es auch drehte und wendete, er würde sich entschuldigen müssen. Ryuujis Wut über seine Ungerechtigkeit war vollkommen gerechtfertigt gewesen. Am besten, ich bringe es gleich hinter mich. Seto hatte die Treppe, die aus dem Pool führte, schon beinahe erreicht, als ihn etwas von dem, was sein Stiefbruder ihm an den Kopf geworfen hatte, innehalten ließ. Hat er wirklich gesagt, der Köter würde besser küssen als ich?, rekapitulierte er und nickte unwillkürlich, während seine gerade noch erfolgreich bekämpfte Wut wieder in ihm hochkochte. Er knutscht also mit dieser blonden Pest Jounouchi rum, ja? Und er findet, der Köter ist ein besserer Küsser als ich? Von wegen!, grollte der Brünette und wandte sich wieder von der Treppe ab, um noch ein paar Bahnen zu schwimmen. Vergessen war jeder Gedanke an irgendwelche Entschuldigungen. Wenn sein Stiefbruder sich unbedingt von Jounouchi küssen und womöglich auch noch betatschen lassen wollte, bitte sehr. Ich werde ihn jedenfalls bestimmt nicht daran hindern. Den zweiten, heimlichen Gedanken, der sich bei der Erinnerung an den Streit einschleichen wollte – wenn Ryuuji wusste, wie Jounouchi küsste, dann musste er ja wohl zumindest bisexuell sein –, versuchte Seto zu unterdrücken, doch die Erkenntnis blieb hartnäckig am Rande seines Bewusstseins und warf die absolut unerwünschte Frage auf, wie weit der Schwarzhaarige und die blonde Pest wohl schon gegangen sein mochten. oOo Gleich nachdem sein Stiefbruder aus seinem Zimmer verschwunden war, warf Ryuuji die Tür mit einem lauten Knall zu und schloss sie ab. Noch immer bebte er vor Zorn, aber mehr und mehr mischte sich auch der gerade noch erfolgreich verdrängte Schmerz wieder ein. Besonders Setos letzte Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Und das Wissen, dass er diese Worte durch seine erst Äußerungen provoziert hatte, machte es auch nicht besser. Das Schlimmste aber war, dass Seto offenbar wirklich fest davon überzeugt gewesen war, dass er gemeinsam mit Katsuya über ihn gelästert hatte. Eigentlich sollte er mich inzwischen besser kennen, dachte Ryuuji bitter, ließ sich auf sein Bett fallen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Dem roten Kleid, das immer noch auf seiner Decke lag und auf Reparatur wartete, schenkte er keine Beachtung mehr. Ganz offenbar war er selbst derjenige, der sich getäuscht hatte. In der Zeit, die seit der Hochzeit seiner Mutter mit Setos Vater vergangen war, hatte er eigentlich angenommen, dass Seto sich nicht nur mit seiner Anwesenheit abgefunden hatte, sondern dass der Brünette sogar begonnen hatte, ihn zu mögen. Jetzt jedoch erkannte Ryuuji, dass das nur Wunschdenken seinerseits gewesen war und sonst gar nichts. Seto hatte sich nur um des lieben Friedens willen mit ihm arrangiert. Er hatte seinem Vater und seinem kleinen Bruder einen Gefallen tun wollen, mehr nicht. An seiner anfänglichen Abneigung hatte sich nicht das Geringste geändert. "Scheiße!", fluchte Ryuuji erstickt und versuchte, das Schluchzen, das in seiner Kehle feststeckte, zu unterdrücken, doch das gelang ihm nicht. "So eine verdammte Scheiße!", nuschelte er erstickt, ließ sich zur Seite fallen, vergrub sein Gesicht in seinem Kissen und ließ seinen Tränen freien Lauf. Kapitel 18: Geständnisse ------------------------ Am Freitagmorgen war Ryuuji lange vor seinem Wecker wach. Die halbe Nacht hatte er wachgelegen und war immer wieder in Tränen ausgebrochen – so lange, bis er schließlich doch noch vor Erschöpfung eingeschlafen war. Erholsam war dieser Schlaf jedoch nicht gewesen, denn er hatte von Seto geträumt, der irgendwie von seinen Gefühlen erfahren und ihn höhnisch für seine Dummheit ausgelacht hatte. Diese Träume hatten Ryuuji schon um kurz nach halb fünf geweckt. Gut zehn Minuten war er noch liegengeblieben und hatte erneut gegen die Tränen gekämpft, dann hatte er aufgegeben, war aufgestanden und ins Bad gegangen, um sich wenigstens halbwegs menschlich herzurichten. Inzwischen stand er schon seit mehr als einer Dreiviertelstunde unter der Dusche und begann so langsam, sich tatsächlich ein bisschen besser zu fühlen – jedenfalls solange er nicht an den vergangenen Abend und die letzte Nacht dachte. Der Gedanke daran, Seto beim Frühstück und der unvermeidlichen Fahrt zur Schule gegenübertreten zu müssen, war ihm unerträglich. Auf keinen Fall wollte er wieder diese Abscheu in den blauen Augen seines Stiefbruders sehen. Aus diesem Grund beeilte Ryuuji sich, mit dem Duschen fertig zu werden und sich anzuziehen. Ein kurzer Blick auf seinen Wecker zeigte ihm, dass er noch genügend Zeit hatte. Mittlerweile wusste er genau, wann Seto aufstand und sein Zimmer verließ, um nach unten ins Esszimmer zu gehen. Da allein der Gedanke an Essen schon ausreichte, um seinen Magen rebellieren zu lassen, beschloss Ryuuji, das Frühstück besser ausfallen zu lassen. So leise wie möglich verließ er sein Zimmer, schlich die Treppen hinunter und gab Isono, der bereits im Esszimmer wartete, Bescheid, dass er zu Fuß zur Schule gehen würde. Danach verließ er beinahe schon fluchtartig die Villa und machte sich im Laufschritt auf den Weg. Je weniger Zeit er in der Nähe seines Stiefbruders verbrachte, desto besser. oOo Seto, der in der vergangenen Nacht ebenfalls nicht besonders gut geschlafen hatte, hatte an diesem Morgen ernsthafte Probleme damit, pünktlich aus dem Bett zu kommen. Die halbe Nacht hatte er sich schlaflos von einer Seite auf die andere gewälzt und auch die Träume, die er in den kurzen Phasen des Schlafs gehabt hatte, hatten nicht unbedingt dazu beigetragen, dass er sich ausgeruht fühlte. Er hatte absolut grauenvolle Kopfschmerzen, die bei dem Gedanken daran, dass ihm ein gemeinsames Frühstück und danach auch noch eine gemeinsame Fahrt zur Schule mit seinem Stiefbruder bevorstanden, nur noch stärker wurden. Als er es jedoch endlich geschafft hatte, sich anzukleiden und zum Frühstück zu gehen – sich verstecken zu wollen brachte erstens nichts und war zweitens eines Kaibas auch nicht würdig –, wurde er von der Nachricht empfangen, dass "Ryuuji-san das Haus bereits verlassen" habe, "um zu Fuß zur Schule zu gehen", wie Isono ihm mitteilte. Seto wusste nicht genau, was er davon halten sollte. Einerseits war er froh über die Abwesenheit des Schwarzhaarigen, weil er nicht wusste, wie er sich ihm gegenüber nach dem Streit vom Vorabend verhalten sollte. Auf der anderen Seite jedoch reichte allein der Gedanke daran, dass Ryuuji möglicherweise noch vor der Schule einen Abstecher zu Jounouchi machen könnte, um Setos Laune noch tiefer in den Keller zu jagen. Die Vorstellung, dass sein Stiefbruder die blonde Pest zumindest schon einmal geküsst hatte und es vielleicht wieder tun würde, verdarb Seto gründlich den Appetit, so dass auch er ohne Frühstück die Villa verließ und in die bereitstehende Limousine stieg. Kaum dass er saß, instruierte er Isono auch schon, wie in der gesamten vergangenen Woche auch heute bei den Mutos vorbeizufahren, um seinen besten Freund abzuholen. "Guten Morgen, ihr … Oh, du bist heute ganz alleine, Seto?" Reichlich irritiert nahm Yami in den Polstern seinem besten Freund gegenüber Platz und unterzog diesen einer kritischen Musterung. Er sah aus, als hätte er eine fürchterliche Nacht hinter sich. Seine Miene war noch abweisender als sonst, seine Lippen waren nur ein schmaler Strich und seine Augen wirkten wie aus Eis. "Was ist los? Und wo ist Otogi?", erkundigte Yami sich deshalb, sobald Isono wieder losgefahren war. Seto wartete, bis die Trennscheibe hochgefahren war, ehe er sich zu einer Antwort herabließ. "Otogi hat es vorgezogen, heute zur Schule zu laufen", gab er dann gepresst zurück und Yami rückte ein Stück näher. Diesen Tonfall seines besten Freundes kannte er nur zu gut. Ganz offenbar hatte es eine Auseinandersetzung gegeben. Aber worüber mochten Seto und der Schwarzhaarige sich gestritten haben? Was es auch war, es musste etwas Ernstes sein. Anderenfalls wäre die Laune des Brünetten nicht so unterirdisch. "Was ist passiert, Seto?" Der Angesprochene schloss die Augen und atmete erst einmal betont tief ein und aus, ehe er seinen besten Freund wieder ansah. "Das Mädchen, mit dem ich auf Himuras Geburtstagsparty getanzt habe – das war Otogi", kam er dann gleich zum Punkt und Yamis Augen wurden groß. "Was? Wirklich? Woher weißt du das?", bohrte er nach und Seto knirschte mit den Zähnen. "Ich habe das Kleid gesehen. In seinem Zimmer. Gestern Abend", antwortete er. "Und bevor du weiterfragst: Nein, es gibt keinen Zweifel. Es war das Kleid. Er hat sogar zugegeben, dass er es war, der es getragen hat", fuhr er fort und nutzte den Rest der Fahrt, um Yami über den Verlauf des Vorabends in Kenntnis zu setzen. Dem Bunthaarigen schwirrte gehörig der Kopf, als die Limousine an der Schule hielt. Gemeinsam mit Seto stieg er aus und ließ seinen Blick unwillkürlich über den Schulhof schweifen. Als er einen wohlbekannten weißen Schopf auf einer der Bänke erblickte, flatterte sein Herz kurz, nur um gleich darauf einen Schlag auszusetzen. Kinoshita Bakura war zwar wieder da, aber allein wie nah er neben Jounouchi saß, der gerade wild gestikulierend auf den neben ihm sitzenden Otogi einredete, sprach Bände. Ganz egal, was Otogi auch am Vorabend über Jounouchi und Küssen zu Seto gesagt haben mochte, diese Zeiten waren offensichtlich vorbei. Nein, Jounouchi gehörte jetzt zu Kinoshita. Dieses Wissen versetzte Yami einen Stich, doch er zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken. Seine Gefühle für Kinoshita hatten keine Zukunft, aber das wusste er schon seit einer ganzen Weile. Und damit würde er sich schon noch abfinden. Jetzt allerdings hatte etwas anderes Vorrang. Irgendwie musste es doch zu schaffen sein, Seto und Otogi wieder zu versöhnen. Seto hatte zwar behauptet, die Sache mit den Gefühlen für seinen Stiefbruder habe sich nach den Erkenntnissen des Vorabends erledigt, aber Yami wusste es besser. Allein die Art, wie Seto Jounouchi mit seinem Blick zu erdolchen versuchte, sagte deutlicher als Worte, wie sehr ihm die Nähe und die Vertrautheit des Blonden mit Otogi gegen den Strich ging. Seto jedoch dazu zu bewegen, das zuzugeben, würde noch mal ein hartes Stück Arbeit werden. oOo "Komm schon, Ryuuji, jetzt sag mir doch endlich, was mit dir los ist!" So langsam wusste Katsuya wirklich nicht mehr weiter. Seit er seinen besten Freund vollkommen alleine und zusammengesunken auf ›ihrer‹ Bank hockend vorgefunden hatte, versuchte er schon, ihn zum Reden zu bringen, doch der Schwarzhaarige schüttelte auf jede Frage einfach nur den Kopf und schwieg hartnäckig. Dabei starrte er unablässig auf seine Schuhspitzen. Die einzige Reaktion, die er bisher gezeigt hatte, war ein Zusammenzucken beim Eintreffen der kaibaschen Limousine gewesen. Er hatte jedoch auch dann nicht aufgeblickt. Nicht mal jetzt, als es zum Beginn der ersten Stunde klingelte, machte er Anstalten, aufzustehen und das Schulgebäude zu betreten. Es sah ganz so aus, als wäre die Aussicht auf Unterricht ihm absolut zuwider. Warum das allerdings so war, konnte der Blondschopf sich nicht erklären. Was war nur mit seinem besten Freund los? Derart Trübsal zu blasen sah ihm ganz und gar nicht ähnlich. "Wir gehen nach Hause", beschloss Bakura fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn. Seit beinahe zwanzig Minuten hatte er Katsuyas fruchtlosen Versuchen zugesehen, seinen besten Freund zum Reden zu bringen. Für den Weißhaarigen war offensichtlich, dass Otogi in der Öffentlichkeit – auch wenn diese Öffentlichkeit nur aus einem bis auf sie Drei vollkommen leeren Schulhof bestand – ganz sicher nicht mit dem Grund für seine schlechte Stimmung rausrücken würde, aber Katsuya schien das noch nicht so ganz begriffen zu haben. Der Blondschopf blickte seinen Freund auf dessen Äußerung hin reichlich verwirrt an, doch dann zeichnete sich langsam Verstehen auf seinen Zügen ab. "Gute Idee, Kura. Paps und An-chan sind jetzt eh nicht zu Hause", stimmte er zu, schnappte sich den Arm seines besten Freundes und zog diesen von der Bank hoch. Zu dritt nutzten sie einen von Bakuras unzähligen Schleichwegen, um das Schulgelände ungesehen zu verlassen. Den ganzen Weg bis zu Katsuya zu Hause ließ Ryuuji sich widerstandslos mitschleifen. Er hatte einfach nicht die Kraft, sich zu wehren. Stumm wie eine Marionette ließ er den Blondschopf einfach gewähren. Dabei war ihm durchaus bewusst, dass sein bester Freund sich seinetwegen Sorgen machte, aber ihm fehlte die Energie, um ihm vorzulügen, dass alles in Ordnung war. Das war es schließlich auch nicht. Seto hasste ihn. Er hatte ihn schon von Anfang an gehasst. Daran gab es nichts zu rütteln. Das war eine unbestreitbare Tatsache. Seto hasste ihn und nach dem Streit vom vergangenen Abend war jede Chance, dass sich daran möglicherweise irgendwann etwas ändern könnte, endgültig dahin, das war Ryuuji klar. Aber warum musste dieses Wissen nur so verdammt wehtun? oOo "So, wenn ihr mit dem Frühstück fertig seid, könnt ihr den Rest des Tages bis zur Abfahrt so verbringen, wie ihr möchtet." Okita-sensei ließ ihren Blick über die versammelten Schüler ihrer Klasse schweifen und rückte ihre Brille zurecht, ehe sie fortfuhr. "Natürlich gelten die Regeln der letzten Woche auch noch für heute. Und seid bitte auf jeden Fall um fünfzehn Uhr wieder hier in der Herberge, damit wir das Gepäck in den Bus bringen und pünktlich um sechzehn Uhr nach Hause fahren können." Damit entließ sie die Klasse und beobachtete seufzend, wie der Haufen Fünfzehn- und Sechzehnjähriger johlend und lärmend aus dem Speisesaal stürmte. Ryou, Yuugi und Mokuba, die sich das Gedränge ihrer Klassenkameraden nicht antun wollten, folgten den anderen etwas langsamer und machten sich zu Fuß auf den Weg zu ihrem heutigen Ziel. Sie hatten bereits ganz zu Beginn der Klassenfahrt beschlossen, den heutigen Tag für einen Ausflug ins Aquarium zu nutzen, deshalb hatten sie es nicht eilig. Sie wussten, sie hatten genug Zeit, und sie waren entschlossen, diese Zeit auch zu nutzen. "So schön die Klassenfahrt auch ist, ich freu mich trotzdem auf zu Hause", verkündete Yuugi, sobald sie den Eintritt gezahlt und das Aquarium betreten hatten. Mokuba rückte seinen Rucksack zurecht und nickte dann enthusiastisch. "Ich mich auch", stimmte er seinem bunthaarigen Freund zu und begann, übers ganze Gesicht zu strahlen. "Vater und Yukiko kommen ja erst morgen von ihrer Hochzeitsreise zurück, also haben Seto, Ryuuji und ich heute Abend noch sturmfrei. Das wird sicher ganz toll!", freute er sich, ohne zu bemerken, dass sich Ryous Gesicht bei der Nennung des Namens ›Ryuuji‹ wieder einmal verfinsterte. Yuugi hingegen entging die gesunkene Laune seines weißhaarigen Freundes nicht, aber er sagte nichts dazu. Offiziell wusste er schließlich nichts von Ryous Gefühlen für Mokuba – der Weißhaarige hatte ihm nichts davon erzählt; Yuugi war von ganz alleine darauf gekommen – und er wollte ihm keineswegs zu nahe treten, indem er ihn auf etwas ansprach, was er gar nicht wissen sollte. Dabei ist es doch so offensichtlich. Ich kapiere wirklich nicht, wie Mokuba so blind sein kann. Unhörbar seufzend schloss Yuugi zu seinen beiden Freunden auf, die schon ein Stück vorausgegangen waren, während er in seine Grübeleien verstrickt gewesen war. Ein kurzer Blick zeigte dem Bunthaarigen, dass Ryou sich mittlerweile wieder gefasst hatte – und dass Mokuba noch immer vollkommen unwissend war bezüglich des Gefühlschaos, das allein seine bloße Anwesenheit in seinem weißhaarigen Freund auslöste. Nicht zum ersten Mal, seit er von Ryous Dilemma wusste, überlegte Yuugi, ob er den beiden nicht vielleicht einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben sollte, entschied sich dann aber dagegen. Diese Sache ging ihn ganz und gar nichts an. Ob und wann Ryou mit Mokuba über seine Gefühle sprach, war ganz allein seine Angelegenheit. Beinahe zweieinhalb Stunden bummelten die drei Fünfzehnjährigen ganz gemütlich durch das Aquarium. Immer wieder blieben sie stehen, lasen laut die Beschriftungen der einzelnen Becken vor und lachten gemeinsam über besonders seltsam oder skurril aussehende Meeresbewohner. Besonders Ryou genoss die ausgelassene Stimmung und vor allem Mokubas Nähe sehr. Ohne zu bemerken, dass er selbst beobachtet wurde, behielt er seinerseits Mokuba fast ständig im Auge. Jedes Lächeln des Schwarzhaarigen brachte ihn selbst auch zum Lächeln und von jedem Lachen ließ er sich anstecken. Das Einzige, was seine Laune immer wieder trübte, war die Tatsache, dass Mokuba einfach nicht aufhören konnte, von seinem Stiefbruder zu sprechen. Ständig hieß es ›Ryuuji tut dies›, ›Ryuuji mag das‹, und mit jedem Mal, das Mokuba den älteren Schwarzhaarigen erwähnte, brodelte es mehr und mehr in Ryou. Konnte Mokuba nicht mal aufhören, von seinem ach so tollen Stiefbruder zu reden und dabei auch noch so schwärmerisch zu klingen? Dabei habe ich ihn schon gemocht, lange bevor er Ryuuji überhaupt kannte. Und so toll war Ryuuji auch wieder nicht. Ryou war sich durchaus dessen bewusst, dass er hochgradig eifersüchtig war, aber gegen dieses Gefühl war er machtlos. Schon so lange wünschte er sich, dass Mokuba in ihm das sehen würde, was er selbst in dem Schwarzhaarigen sah, aber es schien ganz so, als wäre es jetzt zu spät. Nur weil er so schüchtern war und sich nie getraut hatte, Mokuba seine wahren Gefühle zu gestehen, wandte dieser sich von ihm ab und himmelte stattdessen einen Anderen an. Dass Mokuba Hals über Kopf in seinen Stiefbruder verknallt war, war schließlich nicht zu übersehen. Er kannte ja beinahe kein anderes Thema mehr als Otogi Ryuuji. Ryuuji hier, Ryuuji da. Es war einfach zum Verzweifeln. Vor dem größten Becken mit den Killerwalen angekommen drehte Mokuba sich zu seinen beiden Freunden um und strahlte sie an. "Das ist so toll!", verkündete er und beobachtete voller Faszination, wie einer der Wale ganz nah an der Scheibe vorbeischwamm. Sobald das Tier wieder am anderen Ende des Beckens war, wandte er sich seinen Freunden zu. "Ich glaube, ich überrede Seto und Ryuuji nachher dazu, morgen noch mal mit mir nach Seaworld in Tokio zu gehen, bevor Vater und Yukiko nach Hause kommen. Und wenn Seto keine Lust hat, dann gehe ich eben mit Ryuuji alleine", beschloss er und in diesem Moment setzte irgendetwas in Ryou aus. Noch ehe Mokuba wusste, wie ihm geschah, hatte sein weißhaariger Freund ihn auch schon rücklings gegen die Glaswand des Beckens gedrängt und funkelte ihn aus schmalen Augen verärgert an – ein Blick, der ihn auf geradezu unheimliche Weise fast wie Bakura aussehen ließ. "Kennst du eigentlich gar kein anderes Thema mehr als nur Ryuuji? Das nervt ganz schön", grollte er säuerlich und Mokubas Augen wurden groß. "I-Ich dachte, du magst ihn auch", stammelte er verwirrt und blinzelte, als Ryou nickte. "Ja, ich mag ihn. Aber dich mag ich noch viel mehr. Und ich mag es überhaupt nicht, dass du ihn so anhimmelst", gab er zu und bevor Mokuba irgendwie darauf reagieren konnte, hatte Ryou ihm auch schon seine Lippen auf den Mund gedrückt. Der Kuss dauerte nur wenige Sekunden, dann ließ Ryou wieder von seinem ›Opfer‹ ab. Und als er erkannte, was er getan hatte, weiteten sich seine Augen und er wurde erst rot und dann blass. "T-Tut mir leid", entschuldigte er sich hastig, trat zwei Schritte zurück und verschwand dann blitzschnell im Gedränge. Hinter sich zurück ließ er einen vollkommen überrumpelten und verwirrten Mokuba, dem die Knie zitterten und dessen Herz ihm bis zum Hals klopfte. Oh Himmel, was war das denn gerade gewesen? War das wirklich passiert? Hatte Ryou – einer seiner beiden besten Freunde – ihn gerade tatsächlich geküsst? "Also damit hätte ich definitiv nicht gerechnet." Yuugi, der diesen Ausbruch seines weißhaarigen Freundes wirklich nicht erwartet hatte, schüttelte kurz den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit dann Mokuba zu, der noch immer wie paralysiert an der Aquariumsscheibe lehnte und offenbar auch nicht fassen konnte, was gerade geschehen war. "Hey, Mokuba, alles okay?", sprach Yuugi ihn an und schnipste so lange mit den Fingern vor der Nase des Schwarzhaarigen herum, bis er endlich eine Reaktion bekam. "Autsch!" Mokuba rieb sich den schmerzenden Hinterkopf, den er sich vor lauter Schreck über Yuugis Schnipsen an der Scheibe angeschlagen hatte. "Geht's dir gut?", wollte der Bunthaarige wissen und Mokuba betastete kurz die Stelle, an der er sich gestoßen hatte, ehe er langsam nickte. "Ich … glaub schon", nuschelte er und sah Yuugi zögerlich an. "Das eben … Hast du … Weißt du, warum …?", stammelte er, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen oder fragen wollte. Yuugi nickte nur. "Ryou ist total in dich verliebt. Schon ziemlich lange", teilte er Mokuba ungerührt mit, hakte sich bei diesem ein und schleifte ihn in Richtung Ausgang. "Und er ist tierisch eifersüchtig auf Ryuuji – was ich, nebenbei gesagt, echt verstehen kann. Das sieht ja sogar ein Blinder mit Krückstock, dass du total in Ryuuji verknallt bist", fügte er hinzu und seufzte abgrundtief, ohne den vollkommen verwirrten Mokuba loszulassen. Eigentlich hatte er sich ja nicht in die Liebesangelegenheiten seiner beiden besten Freunde einmischen wollen, aber es war ja wohl offensichtlich, dass zumindest Mokuba seine Hilfe brauchte, um das Geschehene richtig zu begreifen. So durcheinander, wie der Schwarzhaarige gerade war, würde er sonst mit Sicherheit irgendwas Dummes tun. Bleibt nur zu hoffen, dass Ryou jetzt keinen Quatsch macht, dachte Yuugi bei sich und seufzte erneut. Manchmal waren seine beiden besten Freunde wirklich ganz schön anstrengend. Mokuba folgte Yuugi widerstandslos aus dem Aquarium heraus und zurück zur Herberge. Dabei blendete er das beinahe permanente Geplapper seines bunthaarigen Freundes größtenteils aus, denn in seinem Kopf drehte sich alles um das, was im Aquarium geschehen war. So sehr er auch an seinem Verstand zweifelte, es war und blieb eine unbestreitbare Tatsache, dass Ryou ihn geküsst hatte. Und wenn er selbst Yuugis Worten Glauben schenken konnte, dann hatte der Weißhaarige das getan, weil er in ihn, Mokuba, verliebt war. Und er war eifersüchtig auf Ryuuji, weil er glaubte, er, Mokuba, wäre in seinen Stiefbruder verliebt. Aber das stimmt doch nicht! Oder etwa doch? Konnte das die Erklärung für seine seltsamen Gefühle Ryuuji gegenüber sein? War er wirklich in seinen Stiefbruder verknallt, wie Yuugi gesagt hatte? Aber Ryuuji war doch ein Junge, genau wie er selbst! Na und?, wisperte eine kleine Stimme in Mokubas Kopf, die er einfach nicht zum Schweigen bringen konnte. Dass ihr beide Jungs seid, stört Ryou ja auch nicht. Immerhin ist er total in dich verliebt, hat Yuugi gesagt. Noch immer etwas neben sich stehend ließ der Schwarzhaarige sich von Yuugi in der Herberge in ihr gemeinsames Zimmer schleppen. Von Ryou war dort jedoch nichts zu sehen und auch von ihrem Gepäck fehlte jede Spur, also hatte der Weißhaarige es offenbar schon alleine zum Bus gebracht. Mokuba schluckte, als er an die Heimfahrt dachte. Wie sollte er sich verhalten? Was sollte er sagen? Sollte er überhaupt irgendetwas sagen? Oder sollte er lieber so tun, als wäre nichts geschehen? Vollkommen ratlos ließ er sich auf das Bett plumpsen, in dem Yuugi in der letzten Woche geschlafen hatte. Dass der Bunthaarige ihn skeptisch musterte und ihn schließlich sogar ansprach, bekam er gar nicht mit, so verstrickt war er in seine Gedanken. Yuugi beobachtete seinen schwarzhaarigen Freund eine Weile, dann seufzte er und wandte sich zum Gehen. "Ich sehe mal nach, wo Ryou steckt", ließ er Mokuba wissen, obwohl er sich ziemlich sicher war, dass dieser ihm nicht zugehört hatte. Trotzdem ließ er ihn alleine und ging nach draußen zum Parkplatz, auf dem der Bus, der sie wieder nach Hause bringen würde, schon abfahrbereit wartete. Wie Yuugi nicht anders erwartet hatte, war sein weißhaariger Freund bereits fleißig damit beschäftigt, sein eigenes Gepäck und auch das ihre im Kofferraum zu verstauen. Schweigend fasste Yuugi mit an, ignorierte Ryous erschrockenes Zusammenzucken und zog ihn beiseite, sobald auch die letzte Tasche eingepackt war. "Mokuba hockt in unserem Zimmer. Er ist ziemlich durch den Wind, aber sonst geht's ihm gut", teilt er dem Weißhaarigen mit und dieser atmete hörbar auf. "Das … Ich wollte das eigentlich gar nicht tun, aber dann …", begann er, doch Yuugi unterbrach ihn. "Erklär das nicht mir, sondern Mokuba", verlangte er und schob seinen zaudernden Freund vor sich her zu ihrem Zimmer, wo der Dritte im Bunde noch immer etwas verloren herumhockte. Mokubas Anblick schnürte Ryou die Kehle zu, sodass er sich mehrmals räuspern musste, ehe er auch nur einen Ton herausbekam. "Das, was ich vorhin getan habe, tut mir leid, Mokuba", entschuldigte er sich dann und schluckte hart, als der Angesprochene zu ihm aufblickte. Beinahe zeitgleich liefen die beiden flammend rot an und Yuugi, der an der Tür stehengeblieben war, musste sich das Grinsen verkneifen. Das war ja fast schon niedlich, wie seine beiden Freunde sich gegenseitig anstarrten, als hätten sie sich noch nie zuvor gesehen oder als wäre der jeweils Andere das achte Weltwunder. "Schon okay", hörte Mokuba sich selbst krächzen, obwohl er sich dessen gar nicht so sicher war. Ryous Anblick ließ die Sekunden, in denen die Lippen des Weißhaarigen auf seinen gelegen hatten, wieder hochkochen. Sofort verdunkelte sich Mokubas Gesichtsfarbe noch mehr und er wandte schnell den Blick ab. Die ganze Situation war ihm hochgradig peinlich und so war er heilfroh, als Yuugi sich in die Stille hinein zu Wort meldete. "Vielleicht solltet ihr Zwei erst mal über alles nachdenken und ein paar Tage darüber schlafen", schlug er vor und versteckte schnell sein Schmunzeln, als er sah, wie Ryou und Mokuba einen raschen Blick wechselten, synchron noch röter wurden dann beide nickten, ohne einander in die Augen zu sehen. "Okay, dann lasst uns schon mal zum Bus gehen und zusehen, dass wir gute Plätze kriegen." Damit scheuchte Yuugi seine beiden Freunde aus dem Zimmer, hakte sich bei jedem von ihnen ein und schleifte sie mit sich in den wartenden Bus hinein. Gemeinsam breiteten die Drei sich ganz hinten in der letzten Sitzreihe aus und kaum dass der Bus angefahren war, vertrieben sie sich die Zeit der Heimfahrt mit einem Reisespiel. Es hätte schon eines besonders aufmerksamen Beobachters bedurft um zu erkennen, dass diese Unbeschwertheit nichts weiter als Fassade war. Sowohl Ryou als auch Mokuba waren viel zu angespannt, um sich wirklich zu amüsieren. Wann immer sie sich auch nur zufällig ansahen, wurden sie gleich wieder rot, so dass Yuugi schlussendlich alle Hände voll damit zu tun hatte, Mokuba zu beschäftigen und abzulenken. Ryou hingegen kramte irgendwann ein Buch aus seinem Rucksack und vertiefte sich darin. Allerdings wollte es ihm nicht so recht gelingen, sich von der Handlung so in den Bann ziehen zu lassen wie sonst, denn er lauschte fast schon zwanghaft auf jedes Wort, das Mokuba zu Yuugi sagte – so lange, bis es ihm schließlich zu bunt wurde. Wütend auf sich selbst stopfte Ryou das Buch zurück in den Rucksack und packte stattdessen seinen MP3-Player aus. Mithilfe der Kopfhörer gelang es ihm besser, seine Umwelt auszublenden, aber seine Gedanken konnte er nicht abstellen. Er musste mit irgendjemandem sprechen, das war ihm klar, aber der einzige Mensch, mit dem er wirklich über seine Probleme reden wollte – sein älterer Bruder –, war für ihn so unerreichbar wie die Sonne. Obwohl … Genau betrachtet gab es doch eine Möglichkeit, Bakura zu kontaktieren und um ein Treffen zu bitten. Diese Möglichkeit schmeckte Ryou allerdings ganz und gar nicht, denn diese Möglichkeit war ausgerechnet sein Nebenbuhler. Otogi Ryuuji war schließlich, soweit er selbst das mitbekommen hatte, durch Jounouchi Katsuya auch mit Bakura befreundet. Wenn er also eine Nachricht an seinen Bruder weiterleiten wollte, ohne dass sein Vater Wind von der Sache bekam, dann würde er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und Mokubas heißgeliebten Stiefbruder um Hilfe bitten müssen. Na wunderbar!, grummelte Ryou still in sich hinein. Konnte es eigentlich noch schlimmer kommen? oOo "Was auch immer Ryuuji hat, es muss was Ernstes sein." Katsuya, der sich gemeinsam mit Bakura in die heimische Küche zurückgezogen hatte, um seinen besten Freund nicht versehentlich zu wecken – Ryuuji war kaum zehn Minuten, nachdem sie die Wohnung der Jounouchis erreicht hatten, von dem Blondschopf in sein Bett verfrachtet worden und beinahe augenblicklich eingeschlafen –, seufzte abgrundtief und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder seinem Freund zu. "Wenn er so drauf ist wie heute Morgen, dann geht's ihm richtig, richtig mies", murmelte er und seufzte erneut. Die Tatsache, dass er seinem besten Freund augenscheinlich nicht helfen konnte, setzte ihm ganz schön zu. Bakura, der so saß, dass er die Tür von Katsuyas und seinem gemeinsamen Zimmer im Auge behalten konnte, nickte nur. Er kannte den Schwarzhaarigen zwar weder besonders lange noch besonders gut, aber auch ihm war nicht entgangen, dass es ihm mehr als schlecht ging. Immerhin schlief er seit mittlerweile gut vier Stunden wie ein Toter, also hatte er wohl in der letzten Nacht nicht besonders viel Schlaf abbekommen. Und obwohl er sonst eigentlich nicht neugierig war, interessierte es Bakura zugegebenermaßen doch, was der Schwarzhaarige auf dem Herzen hatte. Ryuuji hatte sich schließlich, wie er in der Zwischenzeit wusste, während seiner Abwesenheit um Katsuya gekümmert und ihm selbst den Tipp gegeben, sich bei dem Blonden zu entschuldigen, also fühlte Bakura sich in seiner Schuld. Ryuuji hatte ihm geholfen, also würde er im Gegenzug dem Schwarzhaarigen helfen – vorausgesetzt, dieser sprach endlich mit ihnen und nahm seine Hilfe überhaupt an. Eine knappe halbe Stunde später – Bakura war gerade im Bad – wurde die Tür leise geöffnet und Ryuuji trat zögerlich in den Flur. Einen Moment lang blieb er unschlüssig stehen, dann gab er sich innerlich einen Ruck und ging in Richtung der Küche, aus der das Klappern von Geschirr und der unverkennbare Geruch von Essen drangen. Da er seit dem vergangenen Vormittag nichts mehr gegessen hatte, begann sein Magen prompt laut zu knurren – ein Geräusch, das den gerade noch schwer beschäftigten Katsuya fast augenblicklich auf den Plan rief. "Du bist wach", stellte er überflüssigerweise fest und unterzog den noch immer reichlich fertig aussehenden Schwarzhaarigen einer kritischen Musterung. "Aber du siehst immer noch genauso ausgekotzt aus wie heute Morgen. Schlecht geschlafen?" Die schonungslose Ehrlichkeit seines besten Freundes brachte Ryuuji beinahe gegen seinen Willen zum Grinsen. "Ich hab schon besser geschlafen. Und danke für das Kompliment, Kats", erwiderte er und ließ sich auf einen der Küchenstühle sinken. "Kein Ding. Immer wieder gerne." Katsuya ließ die Schüssel mit dem Pfannkuchenteig, den er gerade noch umgerührt hatte, auf der Anrichte stehen, zog sich den Stuhl neben dem Schwarzhaarigen zurück und setzte sich so, dass er seinem besten Freund ins Gesicht sehen konnte. "So, und jetzt raus mit der Sprache: Was ist los mit dir, hm?", wollte er dann wissen und Ryuuji seufzte abgrundtief. "Seto hasst mich", beantwortet er die Frage, konnte aber an der Reaktion des Blondschopfs erkennen, dass dieser nicht verstand, was genau daran das Problem war. "Das ist zwar nichts Neues mehr, aber nach gestern ist es definitiv endgültig. Er hasst mich und er wird mich immer hassen", führte er deshalb weiter aus und seufzte erneut, denn Katsuya schien immer noch nicht zu begreifen, was er ihm damit sagen wollte. "Okay, dann ganz von Anfang an: Seto und ich hatten gestern Abend einen Streit, weil er in meinem Zimmer war und da etwas gesehen hat, was er eigentlich nie sehen sollte – und zwar das rote Kleid, das ich anfangs auf Midori-chans Geburtstagsparty anhatte." Nach diesen Worten konnte Ryuuji förmlich dabei zusehen, wie seinem besten Freund die Erkenntnis dämmerte. "Du warst das Mädel, das Kaiba eine gezimmert hat?!", fragte der Blondschopf vollkommen entgeistert und wäre um ein Haar vom Stuhl gefallen, als der Schwarzhaarige matt nickte. "Ja, das war ich", bestätigte Ryuuji und für einen Moment huschte bei der Erinnerung an den Tanz und den Kuss ein bitteres Lächeln über seine Lippen, das jedoch gleich wieder verschwand. "Eigentlich sollte er das nie erfahren, aber gestern … Mir ist beim Umziehen eine Naht gerissen. Seto war gestern Nachmittag nicht zu Hause, also wollte ich das eben schnell in Ordnung bringen, aber dann ist er früher zurückgekommen als ich erwartet hatte. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, das Kleid zu verstecken. Er war natürlich stinksauer, ein Wort gab das andere und … Tja, das war's", beendete er seine Erzählung und schloss die Augen, denn er wollte nicht, dass sein bester Freund sah, wie sehr ihm diese ganze Situation zusetzte. Und auf gar keinen Fall wollte er vor dem Blondschopf wieder anfangen zu heulen. Das hatte er in der vergangenen Nacht schließlich schon zur Genüge getan. So langsam sollte es wirklich gut sein. Mehrere Minuten lang brachte Katsuya kein Wort heraus. Das, was sein bester Freund ihm da erzählt hatte, war zwar schon ziemlich heftig, aber es erklärte nicht, warum der Schwarzhaarige so fertig war. Es sei denn … Nein, das konnte nicht sein. Das war ganz bestimmt nicht wahr, oder? Ryuuji konnte doch nicht ernsthaft … "Bist du etwa in Kaiba verliebt?", platzte Katsuya heraus und verschluckte sich an seinem nächsten Atemzug, denn das Zusammenzucken des Schwarzhaarigen war eigentlich schon Antwort genug. "Nee, oder?", krächzte der Blonde hustend und starrte seinen besten Freund aus großen Augen schockiert an, doch dieser wich seinem Blick aus. "Doch. Schon von Anfang an", bestätigte Ryuuji die schlimmste Befürchtung seines Gegenübers und lächelte freudlos. "Mir war gleich klar, dass das nichts wird, aber nach gestern ist eh alles gelaufen. Wenn du gesehen hättest, wie er mich angesehen hat … So, als wäre ich das Widerwärtigste, das ihm je untergekommen ist. Gemocht hat er mich ja vorher schon nicht, aber seit er das Kleid gesehen und die Zusammenhänge begriffen hat, hasst er mich so richtig." Aber das Schlimmste war, dass sich dadurch an seinen eigenen Gefühlen nicht das Geringste geändert hatte. "Ich hab keine Ahnung, wie ich die nächsten Monate hier überstehen soll, ohne dass irgendwer was merkt. Ich will nicht, dass Mum sich meinetwegen Sorgen macht, aber ich glaub nicht, dass ich das so gut verstecken kann, dass sie überhaupt nichts davon mitkriegt." Seufzend legte Ryuuji den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke der Küche, bis das Brennen seiner Augen zumindest ein wenig nachgelassen hatte. Erst dann sah er seinen besten Freund wieder an. "Ich hab ihr hoch und heilig versprochen, dass ich ihr keinen Ärger mache, solange ich hier bin. Und jetzt das. Ganz toll, echt", murmelte er und Katsuya tätschelte ihm tröstend die Schulter. "Du kannst jederzeit herkommen, wenn's dir zu viel wird", bot er mitfühlend an und der Schwarzhaarige lächelte etwas verunglückt. "Danke, Kats", murmelte er leise. "Du bist der Beste. Ich hoffe, Bakura weiß, was er an dir hat." "Und ob ich das weiß." Bakuras Stimme ließ die beiden erschrocken zusammenfahren. "Wie lange …?", begann Katsuya, doch der Weißhaarige kam ihm zuvor, ehe er seine Frage überhaupt aussprechen konnte. "Zehn Minuten bestimmt", ließ er seinen Freund wissen und wandte sich dann wieder der unterbrochenen Zubereitung der Pfannkuchen zu, die er übernommen hatte, damit der Blondschopf in Ruhe mit seinem besten Freund hatte reden können. Den Großteil des Gesprächs hatte er durchaus mitbekommen, aber er zog es vor, sich nicht einzumischen, solange ihn niemand direkt ansprach. Stattdessen widmete er sich lieber schweigend dem Essen. Ryuuji starrte einen Moment lang irritiert auf Bakuras Rücken, dann schüttelte er den Kopf. Er hatte tatsächlich nicht gehört, wie der Weißhaarige die Küche betreten hatte. Ein wenig unangenehm war es ihm ja schon, dass Bakura wohl so ziemlich alles gehört hatte, worüber er mit Katsuya gesprochen hatte, doch das tat er mit einem innerlichen Achselzucken ab. Dann wussten jetzt eben beide über seine Gefühle für seinen Stiefbruder Bescheid. Es gab nun wirklich Schlimmeres als das – zum Beispiel die Tatsache, dass er Mokuba am Montag fest versprochen hatte, ihn heute gemeinsam mit Seto und Isono abzuholen, wenn er von seiner Klassenfahrt zurückkehrte. Holy shit, wie soll ich das denn überstehen? oOo Seto, der nach dem Unterricht, dem sowohl sein Stiefbruder wie auch der Kläffer Jounouchi und Kinoshita ferngeblieben waren, gleich nach Hause gefahren war, tigerte schon seit über einer Stunde unruhig im Wohnzimmer auf und ab. Schlimm genug, dass Ryuuji gemeinsam mit Jounouchi und Kinoshita den ganzen Tag die Schule geschwänzt hatte, aber dass er jetzt, um kurz vor sechs Uhr abends, immer noch nicht zu Hause war, war einfach zu viel. Hatte der Schwarzhaarige Mokuba nicht am Montagmorgen verbindlich zugesagt, heute dabei zu sein, wenn der Junge von seiner Klassenfahrt zurückkehrte? Wollte er dieses Versprechen etwa brechen? Mokuba wäre schrecklich enttäuscht. Und er selbst war halb wahnsinnig durch die Tatsache, dass er keine Ahnung hatte, wo Ryuuji steckte und womit er sich die Zeit vertrieb. Das einzugestehen fiel Seto nicht leicht, aber leugnen brachte nichts. Schon den ganzen Tag fragte er sich, was sein Stiefbruder wohl mit Jounouchi und Kinoshita tat. Allein die Vorstellung, dass er sich möglicherweise mit den beiden vergnügte, ließ Seto vor Wut kochen. Mehrmals war er schon versucht gewesen, bei dem Köter zu Hause anzurufen, doch sein Stolz verbot ihm das. Sollte Ryuuji sich doch mit dem Kläffer und dem Kleinkriminellen im Bett oder auf dem Boden oder wo auch immer herumwälzen. Ihm war das egal. Völlig egal sogar. Genau betrachtet war ihm in seinem ganzen Leben noch nie etwas so egal gewesen wie das, was sein Stiefbruder tat. Die kleine Stimme in seinem Inneren, die ihn einen Lügner nannte, ignorierte der Brünette. Ein Teil von ihm wusste zwar, dass er sich selbst belog und dass ihm Ryuuji keineswegs so gleichgültig war wie er tat, doch er war nicht bereit, das auch nur vor sich selbst wirklich zuzugeben. Eine weitere halbe Stunde fruchtlosen Wartens später hatte Seto genug. "Wir fahren", instruierte er Isono und holte noch schnell seinen Mantel, ehe er in die bereits vorgefahrene Limousine stieg. Sollte sein Stiefbruder doch zusehen, wie er zu Mokubas Schule kam. Er war doch nicht Ryuujis Hampelmann, verdammt noch mal! Wenn der Schwarzhaarige meinte, nicht pünktlich auftauchen zu müssen, dann hatte er eben Pech. Sollte er doch laufen! Und wehe, er hatte für Mokuba keine verdammt gute Erklärung, warum er zu spät oder gar nicht erschien! Wenn er auch nur ein einziges Wort über gestern Abend verliert oder versucht, mir die Schuld zu geben, dann werde ich …, grollte Seto innerlich, doch das Halten des Wagens unterbrach seine Gedanken. Sobald Isono ihm die Tür geöffnet hatte, stieg er aus und gesellte sich zu Yami, nachdem er die vollständig versammelte Familie Muto und den ebenfalls bereits anwesenden Kinoshita Satoru, Ryous Vater, kurz begrüßt hatte. Gemeinsam mit ihnen wartete er auf die Ankunft seines jüngeren Bruders, musste sich dabei jedoch immer wieder zwingen, sich nicht umzusehen um sich zu vergewissern, ob Ryuuji vielleicht doch noch auftauchen würde. Kapitel 19: Wieder zu Hause --------------------------- Ryuuji, der auch noch den restlichen Nachmittag und den frühen Abend bei seinem besten Freund verbracht hatte, verabschiedete sich um kurz nach sechs von Katsuya und Bakura und machte sich mit dem Bus auf den Weg zu Mokubas Schule. Immerhin hatte er dem Fünfzehnjährigen versprochen, ihn heute abzuholen, und er stand nun mal zu seinem Wort – ganz egal, wie sehr ihm die Aussicht, Seto gegenübertreten zu müssen, auch zusetzte. Versprochen war nun einmal versprochen und fertig. Als Ryuuji den Parkplatz der Schule, wo der Bus mit den Heimkehrern erwartet wurde, erreichte, war es schon kurz vor sieben. Die kaibasche Limousine stand bereits dort und ein schneller Rundblick zeigte dem Schwarzhaarigen, dass sein Stiefbruder gerade in ein Gespräch mit seinem besten Freund Muto Yami vertieft war. Zum Glück! So hatte er selbst wenigstens noch ein kleines bisschen Schonfrist, ehe er sich mit Seto würde auseinandersetzen müssen. Die Ankunft seines Stiefbruders entging Seto keineswegs, auch wenn er so tat, als bemerke er ihn gar nicht. Dennoch pochte sein verräterisches Herz beim Anblick des Schwarzhaarigen viel zu schnell und viel zu laut – so laut, dass Seto schon befürchtete, jemand könnte es hören. Unwillkürlich straffte er sich und setzte eine noch eisigere Miene auf, was wiederum von Yami nicht unbemerkt blieb. Einen Moment lang wirkte der Bunthaarige irritiert, doch nachdem auch er Otogi Ryuuji erblickt hatte, blitzte in seinen Augen das Verstehen auf. Er hütete sich allerdings, Seto auf seinen Stiefbruder anzusprechen, denn der Brünette sah nicht aus, als würde er auf einen Themenwechsel dieser Art besonders freundlich reagieren. Die Zeit, bis der Bus mit Mokubas Klasse endlich eintraf, verging für Ryuuji geradezu quälend langsam. Er hatte zwar gewusst, dass Seto ihm die Sache mit dem Kleid wohl kaum jemals verzeihen würde, aber so offensichtlich die kalte Schulter gezeigt zu bekommen und mit völliger Ignoranz gestraft zu werden tat wesentlich mehr weh, als er erwartet hatte. Jetzt lass dich davon doch nicht so runterziehen. Verachtung bist du doch nun wirklich gewöhnt, versuchte er sich selbst gut zuzureden, doch das wollte ihm nicht so recht gelingen. Von Menschen, die ihm relativ gleichgültig waren – oder auch von seinen eigenen Großeltern, von denen er eine solche Behandlung schon sein ganzes Leben lang gewohnt war –, so verachtet zu werden war eine Sache. Die Verachtung desjenigen, in den er verliebt war, war jedoch ein ganz anderes Kaliber – und viel, viel schmerzhafter. Aus diesem Grund atmete Ryuuji förmlich auf, als der Bus endlich in Sichtweite kam. Mokuba war zwar unter den Letzten, die ausstiegen, aber sobald er seine beiden Brüder erblickte, begann er, über das ganze Gesicht zu strahlen. "Seto! Ryuuji!", rief er, stürzte auf die beiden zu und warf sich erst dem Brünetten in die Arme, nur um gleich darauf auch den Schwarzhaarigen stürmisch zu umarmen. "Willkommen zu Hause, Kleiner", begrüßte Ryuuji ihn und Mokuba drückte sich einen Moment lang ganz fest an ihn, ehe er ihn wieder freigab und einen Schritt zurücktrat. Dabei huschte sein Blick unwillkürlich zu Ryou, doch der Weißhaarige war vollauf mit der Begrüßung seines Vaters beschäftigt. Trotzdem fühlte Mokuba sich seinem Freund gegenüber schuldig, schüttelte das Gefühl jedoch schnell wieder ab. "Spielst du nachher eine Runde Schach mit mir, Seto?", wandte er sich an seinen älteren Bruder, während Isono sein Gepäck aus dem Bus holte und im Kofferraum der Limousine verstaute. Seto, den diese Frage ziemlich überrumpelt hatte – sein kleiner Bruder spielte nur dann mit ihm Schach, wenn er etwas auf dem Herzen hatte und nicht wusste, wie er sein Problem in Worte kleiden sollte –, nickte nur. "Wenn du willst, gerne, otouto", erklärte er sich einverstanden und Mokuba strahlte ihn an. "Super!", freute er sich, schnappte sich die Hand seines Bruders und schleifte diesen eilig hinter sich her zur Limousine, nachdem er seinen beiden Freunden über die Schulter hinweg noch "Bis Montag dann!" zugerufen hatte. Ryuuji wollte seinen beiden Stiefbrüdern gerade folgen – es noch länger aufschieben zu wollen brachte ja doch nichts –, doch eine zaghafte Berührung an seinem Arm ließ ihn innehalten. "Hm?", fragte er, drehte sich um und fand sich zu seiner Verwunderung Kinoshita Ryou, Bakuras kleinem Bruder, gegenüber. "Ich habe eine Bitte an dich", kam der Fünfzehnjährige gleich zur Sache und eine von Ryuujis Brauen wanderte ein Stück in die Höhe. Was mochte der Junge von ihm wollen? "Ich habe nicht viel Zeit, also … Könntest du meinen Bruder bitten, mich morgen da zu treffen, wo wir früher immer gespielt haben? Er weiß dann schon, wo das ist. Ich kann ihn nicht selbst anrufen, weil mein Vater das nicht erlaubt, aber du bist doch mit Bakura befreundet und da dachte ich …" "Kein Problem", unterbrach Ryuuji den Redeschwall des Weißhaarigen und legte fragend den Kopf schief. "Was soll ich ihm sagen, wann er da sein soll?", wollte er wissen und auf Ryous Lippen legte sich ein erleichtertes Lächeln, in das sich allerdings auch eine Spur Schuldgefühl mischte. Ryuuji war so nett zu ihm und er selbst war seinetwegen ständig so schrecklich eifersüchtig. Eigentlich war das wirklich dumm, aber er konnte einfach nichts dagegen tun. "Um zwei", brachte Ryou etwas belegt heraus und Ryuuji lächelte ihm aufmunternd zu. "Ich ruf ihn gleich an, sobald ich zu Hause bin", versprach er und warf einen raschen Blick zu dem Vater der beiden Weißhaarigen, der sie beide misstrauisch beobachtete. "Und wenn dein Vater fragt, was du von mir wolltest, dann erzählst du ihm einfach, du hättest mich um Nachhilfe gebeten und ich hätte dich für morgen Nachmittag eingeladen, okay?", schlug er vor und Ryou schluckte schwer, denn sein schlechtes Gewissen erdrückte ihn beinahe. "Mache ich. Danke", nuschelte er beschämt und ließ sich von dem Schwarzhaarigen wie am Montag zum Abschied einmal kurz umarmen, ehe er zu seinem Vater zurücksprintete. "Wer war das, Ryou?", wollte dieser auch prompt von ihm wissen. "Und was hast du mit ihm zu schaffen?" "Das ist Mokubas neuer Bruder. Ryuuji", erklärte Ryou, ohne seinen Vater anzusehen. Er war einfach ein entsetzlich schlechter Lügner und wollte um jeden Preis vermeiden, dass sein Vater die Lüge durchschaute, die zu erzählen er plante. "Sein Vater ist Amerikaner und da dachte ich … Wir schreiben doch nächste Woche eine Englischklausur, also habe ich Ryuuji gefragt, ob er mir ein paar Dinge erklären würde. Er hat gesagt, ich kann morgen Nachmittag zum Lernen zu ihm kommen", schloss er seine Ausführungen und betete zu allen Göttern, die ihm einfielen, dass seine Worte glaubhaft genug geklungen hatten, um seinen Vater zu täuschen. Satoru warf seinem Sohn einen missbilligenden Blick zu. "Du weißt, dass ich es ganz und gar nicht schätze, wenn du dich so kurzfristig verabredest", erinnerte er und Ryou rutschte das Herz in die Hose. Die nächsten Worte seines Vaters ließen ihn jedoch innerlich erleichtert aufatmen. "Aber da es um die Schule geht, werde ich dieses eine Mal eine Ausnahme gestatten", sagte dieser nämlich, runzelte dann jedoch die Stirn. "Warum hat er dich umarmt?", wollte er wissen und Ryou lächelte ein wenig verlegen. "Das macht er bei allen. Ich glaube, in Amerika ist das so üblich." Dessen war er sich zwar keineswegs sicher, aber zu seiner Erleichterung ließ sein Vater das Thema ruhen und erkundigte sich stattdessen nach dem Verlauf der Klassenfahrt. oOo "Was wollte Ryou denn gerade von dir?" Neugierig sah Mokuba seinen Stiefbruder an, der erst mit etwas Verspätung in die Limousine gestiegen war und Seto und ihm gegenüber Platz genommen hatte. Ryuuji zwang sich ein freches Grinsen ins Gesicht, das es zumindest nach außen hin tatsächlich schaffte, seine Nervosität zu kaschieren. "Er hat mich nur gebeten, ihm einen kleinen Gefallen zu tun", antwortete er dann, lieferte allerdings keine weitere Erklärung und stürzte damit unwissentlich seine beiden Stiefbrüder in ein heilloses Gefühlschaos. Mokuba befürchtete halb, dass dieser Gefallen mit ihm zu tun hatte, und Seto konnte nicht aufhören, sich zu fragen, was für einen Gefallen Ryuuji Kinoshitas kleinem Bruder wohl tun konnte, dass der Schwarzhaarige so überaus zufrieden aussah. Dass diese Zufriedenheit nur vorgetäuscht sein könnte, kam Seto gar nicht in den Sinn. Gemeinsam stiegen die Drei vor der Kaiba-Villa wieder aus der Limousine und gingen ins Esszimmer, während Isono Mokubas Gepäck in sein Zimmer brachte und schon mal mit dem Auspacken begann. Das Abendessen verging unter Mokubas fröhlichem Geplapper recht kurzweilig. Ausführlich schilderte der Fünfzehnjährige seinen Brüdern die vergangene Woche, sparte jedoch alles, was am heutigen Tag geschehen war, großzügig aus. Ryuuji bemerkte davon nichts, Seto hingegen fiel es sehr wohl auf. Also, dachte er bei sich, war irgendwas von dem, was heute passiert war, der Grund für Mokubas Frage nach einer Schachpartie. Nun, das gab ihm zumindest schon mal eine grobe Richtung für das Gespräch, das ihm wohl unweigerlich bevorstand. Gleich nach dem Abendessen entschuldigte Ryuuji sich damit, dass er noch etwas zu erledigen hatte, verließ das Esszimmer und ging nach oben in sein Zimmer. Dort schnappte er sich sein Handy, suchte aus dem Telefonspeicher die Nummer seines besten Freundes und rief diesen an. Es dauerte jedoch eine geraume Weile, bis vom anderen Ende der Leitung ein atemloses "Ja?" ertönte, das den Schwarzhaarigen ungewollt zum Schmunzeln brachte. "Klingt, als hättest du gerade Spaß gehabt", stellte er fest und lachte über das gegrummelte "Blödmann!", das er zur Antwort bekam. "Aber deshalb ruf ich gar nicht an, Kats. Und eigentlich wollte ich auch nicht dich sprechen, sondern Bakura, also reich mich doch mal bitte weiter, ja?", bat er dann und hatte kaum fünf Sekunden später auch schon den Weißhaarigen an der Strippe, der hörbar erstaunt war über den Anruf. "Was gibt's denn?", wollte er wissen und Ryuuji hockte sich erst einmal bequem auf sein Bett, ehe er antwortete. "Dein kleiner Bruder hat mich vorhin gebeten, dir was auszurichten", ließ er Bakura wissen und versuchte zu ignorieren, dass das Kleid, das ihm so viel Unglück gebracht hatte, noch immer zusammengeknüllt am Fußende des Bettes lag. "Und zwar möchte Ryou sich morgen Nachmittag um zwei mit dir treffen – da, wo ihr früher immer gespielt habt. Er meinte, du wüsstest schon, wo das ist." "Klar weiß ich das", gab Bakura zurück, schob noch ein "Ich werde da sein" hinterher und beendete dann gleich das Gespräch, ohne eine Verabschiedung abzuwarten. "Dir auch einen schönen Abend, Bakura", kommentierte Ryuuji dieses Verhalten grinsend, schüttelte den Kopf und legte sein Handy beiseite. Dann stand er wieder auf, schloss seine Zimmertür ab und machte sich daran, sein Unglückskleid endlich zu reparieren, damit er es danach in der hintersten Ecke seines Kleiderschranks verstecken und seine Existenz am besten gleich komplett vergessen konnte. oOo Kaum dass Ryuuji das Esszimmer verlassen hatte, sprang Mokuba ebenfalls auf und hetzte förmlich hinüber ins Wohnzimmer, um schon mal das Schachspiel aufzubauen. Seto folgte ihm etwas langsamer und nahm seinem kleinen Bruder gegenüber Platz. "Ich nehme Schwarz", verkündete Mokuba überflüssigerweise – er spielte grundsätzlich Schwarz, wenn er mit seinem Bruder spielte – und Seto nickte ihm kurz zu, ehe er den Eröffnungszug machte. Im Gegensatz zu sonst spielte Mokuba dieses Mal ausgesprochen unkonzentriert. Normalerweise bemühte er sich redlich, seinem immer sehr kühl und überlegt spielenden Bruder so hart wie nur irgendwie möglich zuzusetzen, aber nicht heute. Heute war er ganz offensichtlich nicht recht bei der Sache, sondern träumte die ganze Zeit vor sich hin. So war es kaum verwunderlich, dass Seto ihn in weniger als einer halben Stunde mit Leichtigkeit besiegt hatte – ein Sieg, auf den der Brünette keineswegs stolz war, denn er hätte genauso gut gegen eine Marionette spielen können. "Du warst überhaupt nicht bei der Sache, otouto", tadelte er deshalb und seufzte, denn sein Bruder blinzelte ihn an, als sähe er ihn zum allerersten Mal. "Was ist los mit dir?" Diese Frage entlockte Mokuba seinerseits ein abgrundtiefes Seufzen. Während der gesamten Schachpartie hatten sich seine Gedanken unaufhörlich um das gedreht, was im Aquarium geschehen war. Der Fünfzehnjährige wusste, dass er für seine Verhältnisse gerade wirklich grottenschlecht gespielt hatte, aber das konnte er jetzt nicht mehr ändern. "Tut mir leid, Nii-san. Ich …", entschuldigte er sich bei seinem Bruder, brach aber ab, ohne seinen Satz zu beenden, und schüttelte stattdessen den Kopf. Er konnte einfach nicht mit Seto über das sprechen, was ihm widerfahren war. So lieb Mokuba seinen Bruder auch hatte, dieser erschien ihm einfach nicht der richtige Ansprechpartner in dieser Sache zu sein. Er wollte jetzt keine Belehrungen hören, sondern lieber einen Rat, der ihm wirklich weiterhelfen konnte. Und in Bezug auf solche Dinge war von Seto nun mal leider nicht allzu viel zu erwarten. Mokuba war sich nicht mal sicher, ob sein älterer Bruder überhaupt schon mal verliebt gewesen war. Solche Themen hatte es zwischen ihnen noch nie gegeben und der Fünfzehnjährige wusste nicht, ob er das ausgerechnet heute ändern wollte. "Ist schon okay. Ich gehe in mein Zimmer." Seto blickte seinem kleinen Bruder irritiert nach, als dieser fast schon überhastet das Wohnzimmer verließ und die Treppen hoch polterte. Was war das denn?, fragte er sich, fand jedoch keine Antwort. Da es allerdings, wie er aus Erfahrung wusste, auch nichts bringen würde, Mokuba jetzt zu folgen und ihn zu bedrängen, schob er seufzend die Schachfiguren wieder auf ihre Anfangspositionen und begann dann damit, eine Partie gegen sich selbst zu spielen – hauptsächlich, um sich von seinen Gedanken abzulenken, die sich jetzt, wo er alleine war, ungebeten wieder einstellten und ihm seine mühsam erkämpfte Ruhe zu rauben drohten. oOo Ein leises, fast schon zaghaftes Klopfen an seiner Zimmertür ließ Ryuuji verwundert aufhorchen. "Ryuuji? Kann ich reinkommen?", hörte er Mokuba von draußen fragen. Dabei klang der Fünfzehnjährige so ungewohnt schüchtern, dass er sein Kleid, das er gerade hatte weghängen wollen, eilig in den Schrank stopfte und dann gleich seine Zimmertür aufschloss, um den Jungen hereinzulassen. Mokuba sah aus wie ein Häufchen Elend – ein Anblick, der Ryuuji dazu veranlasste, ihm einen Arm um die Schultern zu legen und ihn so zu seinem Bett zu dirigieren. "Was ist denn los, Kleiner?", erkundigte er sich und der Fünfzehnjährige seufzte abgrundtief, ehe er sich fast schon ein bisschen schutzsuchend an seinen Stiefbruder kuschelte. "Ryou hat mich geküsst", nuschelte er undeutlich in dessen Hemd und Ryuuji zog fragend eine Augenbraue hoch. "Hab ich das richtig verstanden? Hast du gerade wirklich gesagt, Ryou hätte dich geküsst?", hakte er nach und Mokuba nickte, ohne ihn anzusehen. Stattdessen verbarg er sein hochrot glühendes Gesicht an der Brust des Anderen. "Ja", gab er dabei kaum hörbar zu und Ryuujis Augen wurden groß. Kinoshita Ryou, der auf ihn bei ihren wenigen Treffen immer so einen ruhigen und schüchternen Eindruck gemacht hatte, hatte Mokuba tatsächlich einfach so geküsst? "Wow!" Das erklärt auch, warum er sich morgen mit seinem Bruder treffen will, ging es Ryuuji durch den Kopf. Wenn das wirklich passiert war, dann war Mokuba sicher nicht der Einzige, der deshalb vollkommen durcheinander war. Ryou ging es im Augenblick bestimmt nicht viel besser. "Wie wär's, wenn du mir einfach von Anfang an erzählst, was passiert ist?" Der sanfte Tonfall seines Stiefbruders in Verbindung mit den Fingerspitzen, die ihm beruhigend über den Rücken streichelten, sorgte dafür, dass Mokuba sich langsam wieder ein bisschen entspannte. Trotzdem dauerte es noch fast fünf Minuten, bis er sich von Ryuuji löste und sich traute, ihm ins Gesicht zu sehen. Noch immer waren seine Wangen gerötet, aber da Ryuuji ihn nicht auslachte, sondern ihn nur aufmunternd ansah, atmete Mokuba noch einmal tief durch und wappnete sich innerlich für das, was er zu tun gedachte. "Das … Es ist heute Mittag passiert. Wir – also Yuugi, Ryou und ich – waren im Aquarium, weil wir bis zur Heimfahrt noch Freizeit hatten, und da … Also, wir haben uns erst ganz normal unterhalten und dann hab ich gesagt, dass ich mich ja auf heute Abend und morgen freue, weil Seto, du und ich ja noch ein bisschen sturmfrei haben. Und dann … Irgendwann meinte ich dann, dass wir Drei ja morgen noch mal zusammen nach Seaworld gehen könnten – oder dass du und ich vielleicht alleine gehen könnten, wenn Seto keine Lust dazu hat. Und da hat Ryou dann … Er hat gesagt, er mag es nicht, dass ich immer so viel von dir spreche. Und dann hat er noch gesagt, dass er dich zwar mag, aber dass er mich viel lieber hat. Und dann hat er … mich eben ge … geküsst. Und Yuugi hat mir danach erzählt, dass Ryou schon ganz lange in mich verliebt ist und dass er deinetwegen eifersüchtig ist, weil ich dich doch so gern hab, und … Was soll ich denn jetzt machen?" Ryuuji, der seinen Stiefbruder absichtlich nicht unterbrochen hatte, zog den Jungen wieder in seinen Arm, sobald dieser geendet hatte. Armer Kleiner, dachte er dabei und meinte damit Mokuba ebenso wie Ryou. Ihm taten die beiden Jungen leid, denn ganz sicher war Ryou mit der ganzen Situation ebenso überfordert wie Mokuba, der sich geradezu verzweifelt an ihn klammerte und sogar leise zu schniefen begonnen hatte. "Shh. It's okay, Mokuba. It's gonna be alright", versuchte Ryuuji, seinen Stiefbruder zu trösten. Sanft wiegte er ihn ein wenig hin und her und strich ihm dabei immer wieder zärtlich über den Rücken – so lange, bis Mokubas Schultern aufhörten zu beben. Dann schob er ihn ein Stück von sich weg und wischte ihm erst mal die Tränen von den Wangen, ehe er ihn fragend ansah. "Bist du denn auch in Ryou verliebt?", wollte er wissen und Mokuba zog in einer hilflosen Geste die Schultern hoch. "Ich … weiß nicht", nuschelte er. "Ich bin so durcheinander. Yuugi hat gesagt, ihm ist das schon vor Monaten aufgefallen, aber ich hab nie was gemerkt und irgendwie … Ich hab ein ganz schlechtes Gewissen. Ich meine, Ryou ist einer meiner beiden besten Freunde und ich kriege nicht mal mit, dass ihn so was beschäftigt. Das ist ganz schön bescheuert, oder?", fragte er kleinlaut, doch Ryuuji schüttelte den Kopf. "Das ist überhaupt nicht bescheuert", widersprach er und lächelte Mokuba aufmunternd an. "Du kannst doch keine Gedanken lesen. Ich bin sicher, Ryou weiß das auch. Er ist dir bestimmt nicht böse, dass du nichts gemerkt hast." Dass dem Weißhaarigen das wahrscheinlich sogar lieber gewesen war, verschwieg Ryuuji vorsichtshalber. Damit wollte er seinen Stiefbruder wirklich nicht belasten. Der Kleine hatte auch so schon genug zu verarbeiten. "Meinst du?" Mokuba atmete unwillkürlich auf, als Ryuuji nickte. Wenn Ryou nicht sauer auf ihn war, dann war alles gut – zumindest fast, denn ein Problem blieb: Wie sollte er sich am Montag verhalten, wenn er Ryou das nächste Mal sah? "Aber was soll ich ihm denn sagen?", wollte er von seinem Stiefbruder wissen und dieser deutete ein Achselzucken an. "Die Frage kann ich dir nicht beantworten. Das kann niemand außer dir selbst. Du musst selbst wissen, wie deine Gefühle für Ryou aussehen", gab er zurück, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand hinter seinem Bett und zog Mokuba so zu sich, dass dieser sich rücklings an ihn lehnen konnte. Dann legte er seine Arme locker um den Jungen und lächelte, als dieser sich wieder an ihn kuschelte. "Am besten, du nimmst dir etwas Zeit, um gründlich darüber nachzudenken, und sprichst dann in aller Ruhe mit ihm. Nur spiel nicht mit seinen Gefühlen. Das hat Ryou nicht verdient", riet Ryuuji und Mokuba schüttelte sofort den Kopf. "Das würde ich nie tun. Ryou ist schließlich mein Freund", erwiderte er ernst und brachte seinen Stiefbruder damit wieder zum Lächeln. Eine Weile schwieg der Fünfzehnjährige und genoss einfach nur die Umarmung, dann drehte er sich ein wenig, so dass er seinen Stiefbruder über seine Schulter hinweg ansehen konnte. "Warst du schon mal verliebt?", erkundigte er sich neugierig und Ryuuji seufzte unhörbar. Na wunderbar!, dachte er ironisch. Diese Frage hatte ja kommen müssen. Womit hatte er das eigentlich verdient? "Ja", beantwortete er Mokubas Frage trotzdem ehrlich, beschloss aber, diesem lieber nichts von seinen Gefühlen für Seto zu erzählen. Wenn der Junge sich versehentlich verplapperte, dann konnte das nur peinlich und unangenehm führ ihn werden. "Aber bevor du jetzt fragst, ob das bei Mädchen anders oder sogar einfacher ist: Das weiß ich nicht. Ich hab mich bisher immer nur in Jungs verliebt", fuhr Ryuuji fort und seufzte erneut. Da ging es hin, das Versprechen, seiner Mutter keinen Ärger zu machen und niemandem in seiner neuen Familie von seiner sexuellen Orientierung zu erzählen. Aber jetzt war es zu spät. Vor Seto hatte er sich immerhin am Vorabend schon in der Hitze des Gefechts geoutet; da war es ja wohl nur fair, wenn er es Mokuba auch selbst erzählte, ehe der Fünfzehnjährige es von seinem großen Bruder erfuhr. "Echt?" Mokubas Augen wurden nach diesen Worten seines Stiefbruders groß und kugelrund. "Das heißt, du bist …", setzte er an, schaffte es aber nicht, seine Vermutung laut auszusprechen, denn Ryuuji kam ihm zuvor. "Schwul", beendete er den Satz des Jungen und nickte. "Ja, das bin ich", bestätigte er noch einmal verbal und wartete, doch das, was er befürchtet hatte – dass Mokuba von ihm abrücken oder gar aufstehen und gehen würde –, geschah nicht. Der Fünfzehnjährige drehte sich zwar ein bisschen, um ihn besser ansehen zu können, blieb aber ansonsten, wo er war. "Und wie … Ich meine, w-wie ist das, verliebt zu sein … in einen Jungen?", fragte er zögerlich, bekam jedoch erst einmal nur ein diffuses Achselzucken zur Antwort. "Ich schätze, es ist wohl nicht viel anders als bei einem Mädchen. Nur ein bisschen komplizierter vielleicht. Immerhin wirst du schon sehr schräg angesehen, wenn du in der Öffentlichkeit die Hand eines anderen Jungen hältst oder ihn sogar küsst. Manche Leute beschimpfen dich nur, andere schlagen sogar zu. Schön ist das nicht, aber man lernt, damit zu leben", erzählte er dann und registrierte zu seinem Erstaunen, dass es jetzt Mokuba war, der ihm tröstend über den Arm streichelte. "Das ist sicher schlimm", vermutete der Fünfzehnjährige und Ryuuji verkniff sich mühsam ein Seufzen. Er wollte dem Kleinen keine Angst machen, aber es brachte auch nichts, etwas zu beschönigen. "Manchmal schon, ja", gestand er deshalb und versuchte, das bittere Lächeln nicht auf seine Lippen zu lassen, doch diesen Kampf verlor er. "Manchmal möchtest du einfach nur alle, die dich schief ansehen, anschreien, dass sie sich gefälligst aus deinem Leben raushalten sollen. Aber solange du Menschen hast, die hinter dir stehen, ist alles nur halb so schlimm. Klar, wenn du dich outest, verlierst du eventuell Freunde und, wenn es ganz schlimm kommt, vielleicht sogar Teile deiner Familie, aber das ist nicht immer so. Meine Eltern sind beispielsweise ganz gut damit klargekommen, als ich ihnen gesagt hab, dass sie von mir besser keine Enkelkinder erwarten sollten", versuchte er zu witzeln, um die Stimmung wieder etwas aufzulockern, doch darauf ging Mokuba nicht ein. "Deine Eltern wissen davon?", versicherte er sich stattdessen des Gehörten und Ryuuji nickte. "Ja. Ich hab's ihnen erzählt, nachdem ich mir ganz sicher war. Mum war anfangs etwas geschockt, aber sie hat sich damit arrangiert. Mein Dad war weitaus weniger begeistert, aber nach ein paar Wochen Bedenkzeit hat er sich auch damit abgefunden", antwortete er und blinzelte verblüfft, als Mokuba sich nach kurzem Zögern wieder an ihn schmiegte. "Ha-Hattest du schon mal einen Freund?", wollte er leise wissen und Ryuuji nickte wieder. "Ja, hatte ich. Von meinem letzten Freund hab ich mich ungefähr einen Monat vor meinem Rückflug nach Japan getrennt. Und meinen allerersten Freund hatte ich letztes Jahr hier", erzählte er und schmunzelte ganz leicht, als er die Neugier in den blauen Augen seines Stiefbruders sah. "Weißt du, der erste Junge, in den ich mich je verliebt hab, war mein bester Freund", ließ er den Jungen wissen und dessen Augen wurden noch größer. "Katsuya?", fragte er nach und Ryuuji grinste ihn kurz an, ehe er ihm einen Arm um die Schultern legte und sich dann gemeinsam gemütlich auf dem Bett ausstreckte. "Ganz genau. Kats und ich waren fast vier Monate zusammen, aber dann ist uns beiden klargeworden, dass uns unsere Freundschaft wichtiger war. Seitdem sind wir einfach nur noch Freunde." "Das …" Mokuba war vollkomme baff – und zugegebenermaßen auch verdammt neugierig. "Wie hast du das gemerkt? Ich meine, dass du in Katsuya verliebt warst?", bohrte er nach und Ryuuji grinste ihn an. "Das ist eine ziemlich lange Geschichte." Und auch eine, die nicht unbedingt jugendfrei war. "Aber die Kurzfassung ist, dass ich irgendwann gemerkt hab, dass ich ständig an Kats denken musste. Irgendwann hab ich angefangen, mich zu fragen, wie es wohl wäre, ihn zu küssen" – und noch ganz andere Dinge mit ihm zu tun, aber das stand jetzt hier nicht zur Debatte – "und weil wir uns eigentlich immer alles erzählt haben, hab ich ihm irgendwann auch das gesagt. Zu meinem Glück hatte er das gleiche Problem wie ich, also haben wir beschlossen, das mit dem Küssen gleich mal auszuprobieren." Von dem, was danach kam, ganz zu schweigen. "Das hat uns beiden so gut gefallen, dass wir uns einig waren, dass wir das öfter machen wollten. Und von da an waren wir dann zusammen." Die Erinnerung an diese Zeit brachte Ryuuji zum Lächeln. Diese vier Monate waren wirklich schön gewesen. "Es ist ein bisschen schade, dass es nicht gehalten hat, aber ich war einfach nicht der Richtige für Kats. Und er war auch nicht der Richtige für mich." "Hast du … Bist du denn jetzt gerade auch verliebt?" Mokuba wagte nicht, seinen Stiefbruder bei dieser Frage anzusehen, denn sein Gesicht glühte schon wieder. Ihm war durchaus bewusst, dass er Ryuuji mit seiner Fragerei vielleicht auf die Nerven ging, aber gegen seine Neugier war er einfach machtlos. Dieses Thema interessierte ihn brennend. Und so lange sein Stiefbruder ihn nicht rauswarf, war es doch sicher okay, weiter nachzufragen, oder? Ryuuji seufzte unhörbar, nickte aber trotzdem. "Unglücklich zwar, aber ja, ich bin gerade verliebt. In wen ist allerdings meine Sache. Darüber möchte ich nicht sprechen, okay?", stellte er klar und nun war es an Mokuba, beinahe schon hektisch zu nicken, obwohl ihm seine Neugier geradezu ins Gesicht geschrieben stand. Dennoch akzeptierte er Ryuujis Bitte und verlegte sich auf allgemeinere Fragen, die sein Stiefbruder ihm geduldig und ausführlich beantwortete. Dass es noch jemanden gab, der ihr Gespräch heimlich mitverfolgte, bemerkten die beiden Schwarzhaarigen nicht. oOo Seto brach seine Schachpartie gegen sich selbst nach knapp zwanzig Minuten ab, denn nun war es seine eigene Konzentration, die stark zu wünschen übrig ließ. Nachdem er zwei Mal hintereinander mit Weiß gezogen hatte, gab er auf, schob seufzend das Schachbrett beiseite und stand auf, um nach oben zu gehen. Möglicherweise war Mokuba ja mittlerweile so weit, dass er doch über das reden wollte, was ihn beschäftigte. Für diesen Fall wollte der Brünette da sein – nicht ganz uneigennützig, wie er zugeben musste, denn er hatte die leise Hoffnung, dass ein Gespräch mit seinem kleinen Bruder ihn vielleicht von seinen eigenen quälenden Gedanken ablenken würde. Auf sein Klopfen an Mokubas Tür hin tat sich jedoch nichts und nachdem er noch einmal geklopft hatte, drückte er die Klinke herunter und warf einen Blick in das Zimmer, das zu seinem Erstaunen jedoch leer war. Als Seto begriff, was das bedeutete – dass sein kleiner Bruder sich nämlich höchstwahrscheinlich im Zimmer ihres Stiefbruders aufhielt –, knirschte er mit den Zähnen. Mit ihm wollte Mokuba also nicht über seine Probleme sprechen, aber mit Ryuuji schon oder wie? Hatte er jetzt, wo Ryuuji da war, etwas auch gleich als großer Bruder ausgedient oder was hatte das zu bedeuten? Reichlich angesäuert ging Seto zum Zimmer seines Stiefbruders hinüber und wollte anklopfen, ließ seine Hand jedoch untätig sinken. Einen Moment lang blieb er unschlüssig im Flur stehen, doch dann gab er sich einen Ruck und öffnete so leise die Tür, dass die beiden Schwarzhaarigen nichts davon mitbekamen. Innerlich schalt Seto sich für die Verletzung der Privatsphäre, die er hier gerade beging, aber dieses eine Mal war seine Neugier stärker als seine Vernunft – besonders, als er auch noch den Namen ›Katsuya‹ aufschnappte. Wieso in aller Welt unterhielten sein Bruder und sein Stiefbruder sich bitteschön über diese elende blonde Nervensäge Jounouchi? Die Antwort auf diese Frage bekam Seto schneller und auch eindeutiger, als ihm lieb sein konnte. "Wie hast du das gemerkt? Ich meine, dass du in Katsuya verliebt warst?", wollte Mokuba nämlich gerade in diesem Moment wissen und Seto hielt unwillkürlich den Atem an, um auch nur ja kein Wort von dem zu verpassen, was sein Stiefbruder sagte. Ryuujis Antwort ließ den Brünetten seine Hand so fest um die Türklinke krampfen, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Der fast schon zärtliche Tonfall Ryuujis, als er über die Beziehung zu dem blonden Kläffer sprach, brachte alles in Seto zum Brodeln. Am liebsten hätte er seine Ohren vor dem verschlossen, was er zu hören bekam, aber das konnte er nicht. Und ein kleiner Teil von ihm wollte auch unbedingt bleiben und auch noch den Rest hören. Wenn er schon lauschte, dann konnte er das auch bis zum bitteren Ende tun – zumindest solange ihn niemand dabei ertappte. So wenig es ihm auch gefiel, was er zu hören bekam, Ryuujis Bemerkung, er sei nicht der Richtige für Jounouchi gewesen und dieser sei im Umkehrschluss auch nicht der Richtige für ihn, war Musik in Setos Ohren. Als Ryuuji jedoch auf Mokubas Nachfragen hin bestätigte, im Augenblick unglücklich verliebt zu sein, landete der Brünette äußerst unsanft wieder auf dem Boden der Tatsachen. Für ihn war es absolut offensichtlich, dass sein Stiefbruder noch immer Gefühle für Jounouchi hatte. Dazu passte schließlich auch, dass er das Kusstalent des Blonden am vergangenen Abend erst so hoch gelobt hatte. Höchstwahrscheinlich behielt Ryuuji seine Gefühle nur für sich, weil Jounouchi jetzt schließlich eine Beziehung mit Kinoshita hatte. Diese Erkenntnis – dass sein Stiefbruder auch nach einem Jahr noch immer in seinen ›besten‹ Freund verliebt war – war für Seto unerwartet schmerzhaft. Und erst jetzt, als ihm klar wurde, dass es für ihn keine Chance gab, gestand er sich auch endlich vor sich selbst ein, dass er sich bezüglich seiner Gefühle für Ryuuji den ganzen Tag über selbst belogen hatte: Er war noch immer in seinen Stiefbruder verliebt – eine Tatsache, die so unumstößlich war, dass er um ein Haar laut aufgelacht hätte. Das tat er jedoch selbstverständlich nicht. Stattdessen zog er sich einfach nur ungesehen zurück, schloss die Tür leise hinter sich und ging hinüber in sein eigenes Zimmer. Dort ließ er sich auf sein Bett fallen, schloss die Augen und erlaubte sich ein absolut uncharakteristisches, abgrundtiefes Seufzen. Wie er es auch drehte und wendete, er würde sich damit abfinden müssen, dass er Ryuuji von vornherein verloren hatte. Aber warum in aller Welt musste diese Gewissheit so verdammt wehtun? oOo "Du, Nii-chan, kommst du morgen mit ins Museum?" Ohne anzuklopfen platzte Yuugi in das Zimmer seines Bruders, doch dieser hatte ihn gar nicht gehört. Seine Anlage lief, er trug Kopfhörer und starrte blicklos aus dem Fenster in die Dunkelheit – ein Anblick, der Yuugi mehr als seltsam vorkam. Sein Bruder war zwar schon den ganzen Tag ungewöhnlich still und in sich gekehrt gewesen, doch dabei hatte der Fünfzehnjährige sich nicht allzu viel gedacht. Jetzt jedoch wurde ihm klar, dass Yami ganz offenbar ein Problem hatte, denn eine andere Erklärung gab es für sein seltsames Verhalten einfach nicht. "Nii-chan?" Zaghaft zog Yuugi seinem Bruder die Kopfhörer von den Ohren und lächelte entschuldigend, als Yami daraufhin erschrocken zusammenzuckte. "Ich wollte dich nicht erschrecken, Nii-chan. Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du morgen mit ins Museum kommen willst, aber das ist jetzt nicht so wichtig. Was ist los mit dir, Nii-chan?", erkundigte er sich besorgt und Yami seufzte leise, ehe er sich ein schmales Lächeln abrang. "Ich muss morgen zu Seto, Otogi die Unterlagen von heute vorbeibringen. Seto und er haben Streit und ich bezweifle, dass Seto Otogi darüber informiert, welche Hausaufgaben wir bekommen haben", gab er zurück und Yuugi runzelte die Stirn. "Das ist ja schön und gut, aber das hat doch nichts mit dir zu tun, Yami", wies er seinen älteren Bruder auf das Offensichtliche hin. "Mir ist egal, was Seto für ein Problem hat. Ich möchte wissen, was mit dir los ist", stellte er dann klar und Yami seufzte erneut. Wie sollte er seinem kleinen Bruder erklären, was mit ihm nicht stimmte? Seit er entdeckt hatte, wie es um seine Gefühlswelt bestellt war, hatte er dieses Geheimnis streng gehütet – zumindest bis er Anfang der Woche mit Seto darüber gesprochen hatte. Aber wie sollte er seinem jüngeren Bruder begreiflich machen, dass er sich nicht im Geringsten für Mädchen interessierte? Was würde der Junge wohl von ihm denken, wenn er es erfuhr? "Nichts", probierte Yami es, doch ein Blick in die violetten Augen seines Bruders zeigte ihm deutlich, dass Yuugi ihm nicht glaubte. Und so, wie dieser ihn ansah, war klar, dass er selbst um eine richtige Erklärung nicht herumkam. "Liebeskummer", gab er deshalb seufzend zu und Yuugi rutschte zu ihm aufs Bett. "Das tut mir leid, Nii-chan", murmelte er, schmiegte sich tröstend an seinen großen Bruder und sah diesen dann von unten herauf fragend an. "Geht es um Masaki aus deiner Parallelklasse?", wollte er wissen und Yami schüttelte den Kopf. Dabei legte sich die Andeutung eines Schmunzelns auf seine Lippen, das jedoch gleich wieder verblasste. "Nein, nicht Masaki. Ich … Es geht überhaupt nicht um ein Mädchen", wich er einer direkten Antwort aus und Yuugi ließ ihn los, um sich ihm gegenüber auf die Matratze knien und ihm in die Augen sehen zu können. "Du bist also in einen Jungen verliebt?", hakte er nach und Yami nickte langsam. "Und in wen?", wollte Yuugi wissen, bekam jedoch wieder keine direkte Antwort. "Stört dich das denn nicht?", erkundigte Yami sich verwundert und der Fünfzehnjährige schüttelte den Kopf. "Nein, gar nicht. Warum denn auch? Es ist doch deine Sache, in wen du sich verliebst", gab er altklug zurück und entlockte seinem Bruder damit zumindest ein leichtes Schmunzeln. "Außerdem bist du nicht der Einzige, den ich kenne, der in einen anderen Jungen verliebt ist", fuhr Yuugi fort und grinste, als Yami ihn überrascht ansah. "Aber das erzähle ich dir erst, wenn ich die Antwort bekommen habe, die du mir noch schuldest", trumpfte der Fünfzehnjährige auf und Yami gab sich seufzend geschlagen. Dabei konnte er sich ein weiteres Schmunzeln allerdings nicht so ganz verkneifen. Sein kleiner Bruder wusste ganz genau, wie er ihm die Informationen, die er haben wollte, aus der Nase ziehen konnte. "Durchtriebenes Früchtchen", titulierte Yami den Jüngeren und kniff diesem spielerisch in die Nase, ehe er wieder zum Thema zurückkehrte. "Kinoshita. Kinoshita Bakura, um genau zu sein", gestand er dann zum zweiten Mal einem anderen Menschen seine Gefühle für seinen weißhaarigen Klassenkameraden und sprach gleich weiter, ohne seinen Bruder zu Wort kommen zu lassen. "Ich weiß, dass er kein Interesse an mir hat. Er weiß auch nichts von meinen Gefühlen. Als ich es bemerkt habe und endlich genug Mut aufgebracht hatte, um es ihm zu sagen, war es schon zu spät. Es gibt einen Anderen, der ihm sehr wichtig ist", spielte er auf Jounouchi Katsuya an, ohne den Namen des Blonden zu nennen, und betete inständig, dass sein Bruder nicht weiter nachbohren würde. Über diese ganze Sache zu sprechen war auch so schon nicht einfach. "Das tut mir leid für dich, Nii-chan." Yuugi, dem nicht entging, wie sehr das alles seinen Bruder mitnahm – die Traurigkeit in seinen Augen war einfach nicht zu übersehen –, rutschte wieder näher zu Yami und nahm ihn in den Arm, denn er wusste nicht, wie er ihn sonst trösten sollte. Normalerweise war sein großer Bruder immer der Stärkere von ihnen beiden, aber im Augenblick, schien er mal eine Schulter zum Anlehnen zu brauchen. Und wenn dem so war, dann wollte er ihm diese Schulter bieten. Yami sollte wissen, dass er immer auf seinen kleinen Bruder zählen konnte, wenn er ihn brauchte. Er sollte spüren, dass er nicht alleine war, wenn es ihm schlecht ging. "Danke, Yuugi", murmelte Yami in die dreifarbige Haarpracht seines jüngeren Bruders und drückte diesen ein bisschen fester an sich. Es tat gut, einfach mal in den Arm genommen und so getröstet zu werden. Das änderte zwar rein gar nichts an seinen Gefühlen für seinen weißhaarigen Klassenkameraden, aber es war dennoch beruhigend zu wissen, dass sein kleines Wiesnäschen Yuugi ihn jetzt nicht anders sah als vor seinem Geständnis. Solange wenigstens sein kleiner Bruder und sein bester Freund zu ihm standen und ihn nicht für seine Gefühle verurteilten, war der Rest der Welt erst mal nicht ganz so wichtig. Kapitel 20: Samstag I - Brüdertreffen ------------------------------------- Seto, der am vergangenen Abend noch recht lange wach gewesen war, weil er seine Grübeleien einfach nicht hatte abstellen können, erwachte am Samstagmorgen dennoch gewohnheitsmäßig gegen acht Uhr. Seufzend quälte er sich aus seinem verlockend warmen Bett, duschte und kleidete sich an. Dann wollte er nach unten zum Frühstück gehen, hielt im Flur jedoch inne. Sollte er oder sollte er nicht? Eine knappe Minute lang debattierte er mit sich selbst, dann klopfte Seto an die Zimmertür seines Bruders und öffnete diese, als er erwartungsgemäß keine Antwort bekam. Wie am Vorabend war das Zimmer jedoch leer und auch das Bett des Fünfzehnjährigen war vollkommen unberührt. Tonlos vor sich hin fluchend – musste Mokuba ihm das wirklich antun, verdammt? – wandte Seto sich also dem Zimmer seines Stiefbruders zu und öffnete die Tür, als er auf sein Klopfen auch dort keine Antwort erhielt. Der Anblick, der sich ihm jedoch bot, sobald er den Raum betreten hatte, ließ ihn wie angewurzelt stehenbleiben. Da lagen die beiden Schwarzhaarigen, noch immer in ihrer Kleidung vom Vortag, friedlich schlafend gemeinsam in Ryuujis Bett. Mokuba hatte seinen Kopf auf der Schulter ihres Stiefbruders gebettet, dieser hielt den Jüngeren im Arm und keiner der beiden machte Anstalten, aufzuwachen und ihren heimlichen Beobachter zu bemerken. Wie lange er die beiden so betrachtete, ohne sich von der Stelle zu rühren, hätte Seto nicht zu sagen gewusst. Erst als er sich bei dem Gedanken ertappte, dass er nur zu gerne mit seinem kleinen Bruder tauschen und seinerseits Ryuuji im Arm halten wollte, um ihn beim Schlafen zusehen zu können, riss er sich von dem Bild los, verließ leise den Raum und schloss die Tür lautlos hinter sich. Dann ging er nach unten ins Esszimmer, um zu frühstücken. Isono, der ihn fragend ansah, erklärte er, dass seine beiden Brüder noch schliefen und dass er sie keinesfalls wecken sollte. Er selbst, teilte Seto dem persönlichen Assistenten seines Vaters mit, würde nach dem Frühstück wieder auf sein Zimmer gehen und wollte dort nicht gestört werden. Als Grund dafür schob er die Schule und anstehende Klausuren vor, doch das war nichts weiter als eine Ausrede. In Wahrheit wollte er einfach nur allein sein, um sich an den immer noch schmerzenden Gedanken zu gewöhnen, dass Ryuuji nach allem, was er jetzt über ihn wusste, noch unerreichbarer war als die Sonne – ein Gedanke, der pure Folter war, denn seine Sehnsucht nach dem Schwarzhaarigen mit den unergründlichen grünen Katzenaugen konnte Seto einfach nicht abschalten, so sehr er es sich auch wünschte. oOo Als Mokuba am nächsten Morgen aufwachte und sich müde blinzelnd umsah, stellte er verwirrt fest, dass sein Zimmer sich über Nacht ganz schön verändert hatte. Es dauerte ein paar Minuten, bis der Fünfzehnjährige begriff, dass er sich gar nicht in seinem eigenen Zimmer befand, sondern in dem seines Stiefbruders. Ryuuji und er, erinnerte er sich langsam, hatten bis weit nach Mitternacht miteinander geredet und waren darüber wohl irgendwann beide ins Reich der Träume abgedriftet. Ryuuji, stellte Mokuba mit einem raschen Blick fest, schlief noch immer tief und fest, und die Gewissheit, dass er selbst offenbar die gesamte letzte Nacht in den Armen und im Bett seines Stiefbruders verbracht hatte, trieb dem Fünfzehnjährigen die Schamesröte ins Gesicht. Sicher, er hatte auch schon in Setos Bett geschlafen, aber das lag erstens schon Jahre zurück und war zweitens etwas vollkommen anderes. Seto war immerhin sein leiblicher Bruder. Ryuuji hingegen war nicht wirklich mit ihm verwandt, auch wenn ihre Eltern seit kurzem miteinander verheiratet waren. Jetzt mach dich doch nicht lächerlich!, höhnte eine gehässige Stimme in Mokubas Kopf. Du hast auch schon im Schlaf mit Ryou oder Yuugi gekuschelt. Dutzende Male sogar, wenn nicht noch öfter. Was machte da schon eine einzige Nacht im Bett seines Stiefbruders für einen Unterschied? Verwandt oder nicht, Ryuuji war jetzt ein Teil seiner Familie, genau wie Seto. Ryou hingegen … Alleine der Gedanke daran, wie oft er schon an Ryou gekuschelt auf dem Sofa der Kinoshitas oder sogar in Ryous Bett eingeschlafen war, ließ Mokubas Gesichtsfarbe noch dunkler werden. War es vielleicht sogar seine Schuld, dass Ryou diese Gefühle für ihn entwickelt hatte? Möglicherweise wäre das alles ja überhaupt nie passiert, wenn er nicht so anhänglich wäre, wenn er müde wurde. Verdammt, was sollte er denn jetzt machen? Ein leises Murmeln rechts von ihm holte Mokuba wieder aus seinen Gedanken. Vorsichtig riskierte er einen Blick und bemerkte, dass sein Stiefbruder gerade dabei war, aufzuwachen. Hastig rückte der Fünfzehnjährige ein Stück von ihm ab, was Ryuuji endgültig aus dem Schlaf riss. "Hm? Oh, Morgen, Mokuba", begrüßte er den Jungen verschlafen, streckte sich erst einmal und gähnte dann herzhaft, ehe er sich aufsetzte und einen Blick auf seinen Wecker warf. "Schon fast elf. Ich glaub, das Frühstück haben wir verpasst", stellte er fest und Mokuba nickte ein wenig befangen. Das schien Ryuuji jedoch zu seinem Glück nicht zu bemerken. Vielleicht ging er auch einfach nur darüber hinweg. Was es auch war, Mokuba war dankbar dafür. "Na, aufstehen sollten wir aber langsam trotzdem. Mir hängt der Magen schon in den Kniekehlen und wenn ich nicht bald was zu essen kriege, fresse ich einfach dich." Ryuuji zwinkerte seinem Stiefbruder zu und grinste, als der Junge zu kichern begann. Genau das hatte er erreichen wollen. Er konnte sich nämlich lebhaft vorstellen, wie durcheinander Mokuba nach allem war, was er am Vortag erfahren hatte. Immerhin war er selbst vor einem knappen Jahr in einer ganz ähnlichen Situation gewesen. Und Mokuba zu helfen, sich über seine genauen Gefühle für seinen Freund Ryou klarzuwerden, würde ihm möglicherweise auch dabei helfen, nicht ständig an seine eigenen Probleme und seine Gefühle für Seto zu denken. Ablenkung hieß die Devise – jedenfalls so lange, bis die Gewissheit, dass nach Donnerstagabend endgültig alles vorbei war, nicht mehr so entsetzlich wehtat. "Okay, dann lass uns runtergehen." Mokuba stand aus dem Bett seines Stiefbruders auf, blickte an sich herab und lächelte verlegen. Er trug noch immer die Kleidung, die er am Vortag auf der Heimfahrt getragen hatte, und auch Ryuuji hatte immer noch seine Schuluniform an, die inzwischen allerdings reichlich verknittert aussah. "Aber vielleicht sollten wir vorher noch duschen und uns umziehen", beschloss Mokuba daher und legte fragend den Kopf schief. "Sagen wir, wir treffen uns so in einer halben Stunde unten, okay?", bot er an und ging hinüber in sein eigenes Zimmer, nachdem sein Stiefbruder genickt hatte. Ryuuji wartete, bis Mokuba gegangen war, dann verschwand er schnell in seinem Bad. Angetan mit einer schwarzen Jeans, einem roten Hemd und einer schwarzen Weste erschien er knappe zwanzig Minuten später unten in der Küche. Mokuba, in blauer Jeans und einem grün-weiß geringelten Pulli, traf nur wenig später ein und seufzte, als Isono-san ihnen beiden mitteilte, dass "Seto-san" bereits um neun Uhr das Frühstück eingenommen, sich dann wieder in sein Zimmer zurückgezogen habe und nicht gestört zu werden wünsche, da er lernen wolle. "Er hätte uns ja wenigstens wecken können", schmollte Mokuba, während Ryuuji innerlich aufatmete. Seto so kurz nach dem Aufstehen schon gegenübertreten zu müssen hätte seine Kräfte deutlich überstiegen, daher war er froh über die Schonfrist. Ihm war zwar durchaus bewusst, dass er seinem älteren Stiefbruder nicht ewig aus dem Weg würde gehen können, aber er war dennoch für jede Verschnaufpause dankbar – obwohl es einen Teil von ihm gab, der sich auch nach dem Streit, den er mit Seto gehabt hatte, immer noch nach dessen Nähe sehnte. Ich bin doch echt bescheuert, bescheinigte Ryuuji sich selbst, während er gemeinsam mit Mokuba im Esszimmer Platz nahm und sich dort einem verspäteten Frühstück widmete. Mir ist definitiv nicht mehr zu helfen. Wie kann man nur so dämlich sein und sich ausgerechnet in den eigenen Stiefbruder verlieben? Das sollte echt strafbar sein. oOo Gegen ein Uhr, nachdem er sich nach dem Frühstück noch eine Weile Zeit mit Mokuba vertrieben hatte – Seto war noch immer in seinem Zimmer und dafür war Ryuuji ungemein dankbar; im Augenblick war er froh über jedes kleine bisschen Galgenfrist, das er bekommen konnte –, verabschiedete Ryuuji sich von seinem jüngeren Stiefbruder mit der Ausrede, dass er noch eine Verabredung hatte. Eigentlich war das genau betrachtet ja nicht mal wirklich gelogen, auch wenn besagte ›Verabredung‹ wohl nicht wirklich mit seinem Auftauchen rechnen würde. Immerhin hatte er denjenigen, mit dem er ›verabredet‹ war, ja nicht von seinem Auftauchen unterrichtet. Aber das würde schon nicht so schlimm sein. Jedenfalls hoffte er das. Nach kurzem Suchen fand Ryuuji Isono-san, die rechte Hand seines Stiefvaters, in der Garage. Wie ungemein praktisch, dachte der Siebzehnjährige bei sich und bedachte Isono-san mit einem fragenden Blick, als dieser ihn bemerkte. "Wäre es möglich, dass Sie mich kurz bei Kinoshita-kun absetzen können?", erkundigte er sich höflich, denn er war sich ziemlich sicher, dass Isono-san die Anschrift kannte. Mokuba nach Ryous Adresse zu fragen verbot sich nach dem vergangenen Abend immerhin von selbst. Der arme Kleine war auch so schon durcheinander genug. Er musste nicht wissen, dass er, Ryuuji, gedachte, zu Ryou zu fahren und den Jungen abzuholen, um ihm für das Treffen mit seinem großen Bruder vor seinem Vater ein Alibi zu geben. Katsuya hatte ihm zumindest auszugsweise erzählt, wie sehr Kinoshita Satoru sich nach Kräften zu verhindern bemühte, dass seine Söhne sich sahen. Da war es sicher besser, wenn er keinen Verdacht schöpfte, was Ryou an diesem Nachmittag wirklich vorhatte. "Selbstverständlich", riss Isono-sans Stimme Ryuuji aus seinen Grübeleien und er schenkte dem Älteren einen gemurmelten Dank und ein knappes Lächeln, ehe er in den Fond der Limousine – derart herumkutschiert zu werden war zwar immer noch sehr gewöhnungsbedürftig für ihn, aber nichtsdestotrotz auch sehr bequem – rutschte und es sich dort gemütlich machte. Isono-san fuhr nach dem Einsteigen diskret die Trennwand hoch, um den Stiefsohn seines Arbeitgebers seinen Gedanken zu überlassen, und Ryuuji war ihm dankbar dafür, dass er sich nicht erklären musste. Die Fahrt dauerte nur wenig mehr als fünfzehn Minuten. Ryuuji schreckte aus seinen Grübeleien über Dinge, über die er eigentlich gar nicht mehr nachdenken wollte, auf, als Isono-san ihm die Tür des Wagens öffnete und sich leise räusperte. "Wir sind da, Ryuuji-san", informierte er den jungen Mann und deutete ein Nicken in Richtung eines Einfamilienhauses an, dessen akkurat gestutzter Rasen vor der Tür für Ryuuji deutlicher als Worte aussagte, dass hier ein sehr pedantischer Mensch leben musste. Armer Ryou. Ohne sich diesen Gedankengang anmerken zu lassen, stieg Ryuuji aus, schenkte Isono-san ein knappes Lächeln und straffte sich, ehe er den kurzen Weg zur Haustür zurücklegte und die Klingel betätigte. Er musste kaum mehr als eine halbe Minute warten, dann wurde die Tür auch schon geöffnet und er fand sich einem dunkelhaarigen Mann gegenüber, in dem er schon allein aufgrund der Augenfarbe als Bakuras und Ryous Vater erkannt hätte, wenn er ihn nicht bereits am Vorabend gesehen hätte. Ryou, der sich offenbar bemüht hatte, die Tür vor seinem Vater zu erreichen, war augenscheinlich nicht schnell genug gewesen und stand jetzt etwas verloren ein paar Schritte hinter seinem Vater im Flur. Es war – zumindest für Ryuuji – offensichtlich, dass es dem Jungen unangenehm war, dass sein Vater und er sich nun doch kennenlernen würden, aber Ryuuji lächelte den Jüngeren nur kurz an, ehe er sich an dessen Vater wandte. "Guten Tag, Kinoshita-san", begrüßte er ihn und ignorierte den Stich, den ihm der kühle, abschätzige Blick seines Gegenübers versetzte – ein Blick, der ihn unversehens an Seto erinnerte und so all das, was er eigentlich zu verdrängen und zu vergessen versuchte, wieder an die Oberfläche zu spülen drohte. Mit allergrößter Willensanstrengung drängte Ryuuji seine Gefühle zurück und verschloss sie hinter einem höflichen Gesichtsausdruck. Er hatte sicher nicht zu Unrecht den Eindruck, dass Kinoshita Satoru dafür sehr empfänglich war. "Mein Name ist Otogi Ryuuji. Ich bin Mokubas Stiefbruder und hier, um Ryou-kun wegen der Nachhilfe abzuholen. Vorher wollte ich mich allerdings gerne noch bei Ihnen vorstellen. Ich fände es unhöflich, mich mit Ihrem Sohn zu treffen, ohne dass Sie die Gelegenheit hatten, mich vorher kennenzulernen", fuhr er daher fort und tatsächlich wich der strenge Blick Kinoshita Satorus und er gestattete sich ein anerkennendes Nicken. Er schätzte Höflichkeit sehr und offenbar wusste Mokuba-kuns Stiefbruder, von dem Ryou ihm am Vortag erzählt hatte, sich durchaus zu benehmen – trotz der Tatsache, dass sein Vater kein Japaner war. Ryou, der von Ryuujis Auftauchen mehr als nur ein bisschen überrumpelt war, atmete sichtbar auf, als sich die starre Haltung seines Vaters kaum merklich lockerte. In dem Moment, als er Ryuuji vor der Tür erkannt hatte, hatte er schon das Schlimmste befürchtet – unter anderem dass sein Vater ihn gar nicht erst gehen lassen würde, wenn er auch nur ein Wort aus Ryuujis Mund hörte –, aber offenbar waren seine Sorgen unbegründet. "Wir werden Ryou-kun selbstverständlich auch nachher wieder nach Hause bringen", versprach Ryuuji gerade, lehnte mit einem höflichen Kopfschütteln die Einladung, hereinzukommen, ab und bedachte stattdessen Ryou mit einem auffordernden Blick. "Wir sollten langsam los. Immerhin haben wir heute einiges zu tun", wandte er sich an den Jungen und der Fünfzehnjährige nickte hektisch, griff nach seinem bereitgelegten Englischbuch und seinem Heft und verabschiedete sich noch kurz von seinem Vater, ehe er sich von Ryuuji zur kaibaschen Limousine lotsen ließ. Mit einem erleichterten Seufzer sank er in die weichen Polster und bedachte Ryuuji, der nach ihm eingestiegen war, mit einem Lächeln, in dem Dankbarkeit und Scham um Vorherrschaft rangen. Noch immer war er eifersüchtig auf Mokubas gutes Verhältnis zu dessen Stiefbruder, aber dass dieser ihn tatsächlich mit Isono-san abholte, um ihn vor seinem Vater gut dastehen zu lassen, beschämte den Jungen sehr. Ryuuji, der Ryou sein Dilemma deutlich ansehen konnte – gerade nach dem Gespräch vom Vorabend und Mokubas Bemerkung, Ryou sei seinetwegen eifersüchtig, weil sie beide sich so gut verstanden –, ließ sich davon jedoch nichts anmerken. Stattdessen sah er den Jungen fragend an. "Isono-san und ich fahren dich noch eben zu deinem Ziel, wenn du uns sagst, wo das ist. Und wenn du nachher nach Hause willst, ruf mich einfach an, dann liefern wir dich auch wieder ab", sagte er und Ryou schluckte hart. "D-Danke", stammelte er verlegen und seine Wangen röteten sich halb aus Scham, halb vor Dankbarkeit. Ryuuji winkte jedoch einfach nur ab. "Kein Ding, Ryou. Wirklich nicht", versicherte er dem Jüngeren und wartete, bis dieser Isono-san das Ziel genannt hatte. Sobald Isono-san die Trennscheibe hochgefahren hatte, reichte Ryuuji Ryou einen Zettel mit seiner Nummer. "Damit du mich nachher auch erreichen kannst", erklärte er diese Aktion. Mit einem gemurmelten Dank nahm Ryou den Zettel entgegen und schob ihn in seine Hosentasche. Dabei schämte er sich zum wiederholten Male unsäglich. Ryuuji war so nett zu ihm, gab ihm ein Alibi und verhalf ihm so zu einem lange überfälligen Treffen mit seinem heißgeliebten großen Bruder und er selbst sah in dem Älteren trotz allem nicht nur einen Freund von Bakura, sondern immer noch einen Konkurrenten um Mokubas Zuneigung. "Du hättest aber nicht extra vorbeikommen müssen", nuschelte Ryou schließlich das Erste, was ihm einfiel, und schlug sich im nächsten Moment die Hand vor den Mund. Das hatte nicht sehr dankbar geklungen, sondern mehr wie ein Vorwurf. Ryuuji schien dies jedoch nicht so zu sehen, denn er lächelte nur und winkte ein weiteres Mal ab. "Kats hat mir erzählt, dass dein Vater ein ziemlicher Kontrollfreak ist und nicht will, dass du dich mit Bakura triffst." Was, zumindest in seinen Augen, wirklich ein ganz deutliches Anzeichen für einen miesen Charakter war. Wie konnte man seine eigenen Kinder nur absichtlich voneinander fernhalten? Diese Gedankengänge sprach Ryuuji allerdings nicht laut aus. Das war definitiv nichts, womit er Ryou jetzt belasten wollte. Der Junge sah aus, als ginge ihm auch so schon genug im Kopf herum. "Ich dachte mir, wenn er dir das mit der Nachhilfe glauben soll, wäre es sicher besser, wenn ich dich abholen komme. Aber keine Sorge, ich komme gleich nicht mit, sondern lasse euch alleine. Du willst bestimmt unter vier Augen mit deinem Bruder sprechen, wenn ihr euch endlich mal wieder sehen könnt. Da will ich ganz bestimmt nicht stören", fuhr er stattdessen fort und Ryou unterdrückte ein erleichtertes Seufzen. Mokuba hat Recht. Ryuuji ist wirklich nett. Wenn er selbst nur nicht so schrecklich eifersüchtig wäre! "Hattet ihr denn nicht andere Pläne für heute?", erkundigte Ryou sich in dem Versuch, das Gespräch nicht zum Erliegen kommen zu lassen. Mokuba hatte doch etwas mit seinen beiden Brüdern unternehmen wollen – oder auch nur mit Ryuuji alleine, falls Seto keine Lust dazu haben sollte. Hatte er diesen Plan etwa geändert? Vielleicht wegen dem, was am Vortag geschehen war? Ryou schluckte und wandte kurz den Blick ab, sah aber wieder auf, als sein Gegenüber den Kopf schüttelte. "Nicht wirklich, nein", beantwortete Ryuuji die Frage, lehnte sich ein wenig zurück und verkniff sich nun seinerseits ein Seufzen. "Unsere Eltern", es war auch für ihn immer noch ein wenig seltsam, diese Worte auszusprechen, "kommen erst gegen Abend wieder und ich brauchte sowieso ein bisschen frische Luft." Er hatte zwar eigentlich kein wirkliches Ziel, aber er würde schon eine Beschäftigung für den Nachmittag finden, um sich die Zeit zu vertreiben, bis Ryou ihn anrief, um sich von ihm und Isono-san wieder nach Hause fahren zu lassen. Das Halten des Wagens und kurz darauf das Öffnen der hinteren Tür unterbrach das Gespräch. So eilig, wie es möglich war, ohne allzu unhöflich zu erscheinen, stieg Ryou aus und verbeugte sich kurz vor Isono-san. "Vielen Dank fürs Herfahren", bedankte er sich und schwenkte dann zu Ryuuji um, der ebenfalls ausgestiegen war. Bevor er jedoch dazu kam, sich auch bei dem Schwarzhaarigen zu bedanken, hatte dieser ihn schon wie am Vortag kurz an sich gedrückt. "Viel Spaß, Ryou. Grüß Bakura von mir und denk dran, mich nachher anzurufen, ja?", bat er den Jungen und dieser nickte mit roten Wangen. "Mache ich", versicherte er, löste sich von dem Älteren und blinzelte irritiert, als dieser ihm seine Englischsachen aus der Hand nahm. "Das musst du nicht mitschleppen. Ich geb's dir nachher wieder, wenn wir dich abholen. Und jetzt ab mit dir." Mit diesen Worten und einem Grinsen auf den Lippen gab Ryuuji Ryou einen Schubs und zwinkerte dem Jungen noch mal zu, ehe er sich zu Isono-san umdrehte und diesen bat, ihn später wieder abzuholen, damit sie gemeinsam Ryou nach Hause bringen konnten. Ryou zögerte noch einen Moment, dann wandte er sich ab und lief los in Richtung des südlichen Parkendes. Dort hatten sein Bruder und er als Kinder oft zusammen gespielt und genau deshalb hatte er sich dort mit Bakura verabredet. Sobald er den Spielplatz erreicht hatte, der schon seit Jahren kaum noch benutzt wurde – die Stadtverwaltung hatte in einem vorderen Teil des Parks einen größeren und schöneren Spielplatz eingerichtet und dieser wurde heutzutage von den Eltern vorgezogen –, brach sich ein Lächeln auf seinem Gesicht Bahn, als er seinen Bruder erblickte, der bereits an das rostige Klettergerüst gelehnt dastand und offenbar nur auf ihn wartete. "Kura!" Der freudige Aufschrei ließ den Angesprochenen aufschauen und bei dem Anblick seines kleinen Bruders, der voller Hast auf ihn zustürzte und dabei über das ganze Gesicht strahlte, schlich sich auch auf Bakuras Lippen etwas, das einem zufriedenen Lächeln sehr ähnlich sah. "Hey, Kleiner", begrüßte er seinen Bruder und dieser kam etwas außer Atem vor ihm zum Stehen. Er hatte seinem Bruder so viel zu sagen, wollte ihm so viel erzählen und ihn so viel fragen, aber im ersten Moment schnürte ihm die Wiedersehensfreude die Kehle zu und er brachte keinen Ton heraus. Bakura, der das von seinem Bruder schon kannte, schob den Jungen einfach nur vor sich her zu den Schaukeln, deren Ketten zwar bedenklich knarrten und quietschten, die aber trotzdem noch robust genug waren, um ihrer beider Gewicht zu tragen – etwas, das er vorher selbstredend getestet hatte, denn er wollte ganz sicher nicht riskieren, dass sein kleiner Bruder sich verletzte. Nicht ausgerechnet dann, wenn sie sich endlich nach einer viel zu langen Ewigkeit ohne Kontakt mal wieder sehen konnten. Allerdings, das war Bakura durchaus klar, war Ryou ganz sicher nicht nur hier, weil er Sehnsucht nach ihm gehabt hatte. Sicher, das mochte ein Teil des Grundes für Ryuujis Anruf vom Vorabend gewesen sein, aber es war ganz sicher nicht der Hauptgrund. Bakura kannte seinen Bruder gut genug um zu wissen, dass ihn irgendetwas sehr beschäftigen musste, wenn er den Zorn ihres gemeinsamen Vaters riskierte, um sich mit ihm zu treffen. Was ihn auch gleich zu seiner ersten Frage brachte: "Wie hast du ihm eigentlich die Erlaubnis aus den Rippen geleiert, heute raus zu dürfen?" Immerhin, das wusste Bakura aus Erfahrung, waren im Haus seines Vaters die Wochenenden zum Lernen reserviert – eine Regel, die er selbst schon früher mit schöner Regelmäßigkeit ignoriert hatte; sicherlich ein weiterer Grund, warum sein Vater nie besonders gut auf ihn zu sprechen gewesen war. Ryou hingegen war eher harmoniesüchtig und lehnte sich eigentlich nie gegen ihren Vater auf. Wie mochte er es geschafft haben, dass dieser Kerl ihn trotzdem an einem Samstag freiwillig aus dem Haus ließ? Bakuras Frage entlockte Ryou ein abgrundtiefes Seufzen. "Ich habe Vater erzählt, dass ich Ryuuji für heute um Nachhilfe in Englisch gebeten habe", gestand er und Bakura warf ihm einen halb anerkennenden, halb zweifelnden Blick zu. "Du hast gelogen?" Also das war neu. Ryou konnte nicht lügen. Er war der wohl ehrlichste Mensch der Welt und der schlechteste Lügner unter der Sonne. "Wie hast du's geschafft, dass er dir das abkauft?" Das interessierte ihn zugegebenermaßen wirklich brennend. Sollte Ryou sich in den letzten Wochen und Monaten, in denen sie keinen Kontakt gehabt hatten, so sehr verändert haben? "Das war nicht meine Idee." Ryou zog eine unglückliche Grimasse. Manchmal hasste er es, dass er so leicht zu durchschauen war, wenn er log. "Ryuuji hat mir vorgeschlagen, dass ich das sagen sollte, wenn Vater fragt, warum ich gestern auf dem Parkplatz mit ihm gesprochen habe. Und vorhin hat er mich sogar abgeholt und sich bei Vater vorgestellt, damit es echt aussieht. Nachher soll ich ihn anrufen, damit er mich wieder nach Hause bringen kann", erzählte er und begann, mit seinen Schuhspitzen Muster in den Sand unter der Schaukel zu zeichnen, auf die sein Bruder ihn bugsiert hatte. Dieses Verhalten Ryous, das für Bakura Bände sprach, ließ den Neunzehnjährigen dennoch nur nicken. Er hatte schon zwangsläufig dadurch, dass Ryuuji Katsuyas bester Freund war und daher viel Zeit mit ihnen verbrachte, selbst auch eine Menge mehr Kontakt mit dem Schwarzhaarigen, als er es sonst bei anderen Menschen schätzte. Allerdings konnte er nicht leugnen, dass Ryuuji bei weitem nicht so schlimm war, wie sein eigener erster Eindruck des Jüngeren, der hauptsächlich seiner Eifersucht entsprungen war, ihm hatte weismachen wollen. Ryuuji war, alles in allem betrachtet, kein übler Kerl. Außerdem er hatte eine scharfe Beobachtungsgabe und konnte im richtigen Moment genau das Richtige sagen, wie ja allein die Tatsache bewiesen hatte, dass der Schwarzhaarige an seiner eigenen Versöhnung mit Katsuya nach seinem ›Ausflug‹ nicht ganz unbeteiligt gewesen war. Wenn Ryuuji es ihm nicht geraten hätte, hätte er selbst es sicher nicht über sich gebracht, sich bei Katsuya zu entschuldigen. Und dann hätten sie beide das, was zwischen ihnen war, heute ganz sicher nicht mehr – eine Vorstellung, bei der es Bakura innerlich schüttelte. Seiner eigenen Gedankengänge bezüglich seines schwarzhaarigen Klassenkameraden zum Trotz behielt Bakura seinen Bruder ganz genau im Auge und so entging ihm der verkniffene Zug um Ryous Mund ebenso wenig wie das personifizierte schlechte Gewissen, das sich in seinem Gesicht abzeichnete. Zwar hatte Ryou seinen Kopf nach vorne gebeugt, so dass seine Haare seine Augen bedeckten, aber der Rest war deutlich genug. "Du magst ihn nicht." Die Feststellung seines Bruders riss Ryou wieder aus seiner Versunkenheit. Erschrocken darüber, so durchschaut worden zu sein, sah er auf und senkte gleich wieder den Blick. "Doch, schon, aber …", setzte er an, brach ab und seufzte. "Das ist … kompliziert", nuschelte er dann und wäre um ein Haar hintenüber gekippt, als Bakura die Ketten der Schaukel packte und diese so zu sich drehte, dass sein kleiner Bruder ihn ansehen musste, ob er wollte oder nicht. "Kompliziert?", hakte Bakura nach und Ryou schluckte hart. Da war sie, die Stunde der Wahrheit, die er gleichermaßen gefürchtet wie herbeigesehnt hatte. Einen Moment lang wollte er einfach nur die Lippen zusammenpressen und schweigen, doch dann purzelten die Worte auch schon förmlich aus seinem Mund: wie lange er schon in Mokuba verliebt war, wie sehr er sich für und mit Mokuba über die Erweiterung der Familie seines Freundes gefreut hatte, wie er Ryuuji kennengelernt und anfangs sehr nett gefunden hatte und wie er dann gemerkt hatte, dass Mokuba wohl zumindest ein bisschen für seinen neuen Stiefbruder schwärmte, wenn er nicht vollends in ihn verknallt war. Ohne wirklich Luft zu holen erzählte Ryou seinem Bruder, wie eifersüchtig er war und wie sehr er sich dafür schämte, weil Ryuuji ja nun wirklich nichts für Mokubas Schwärmerei konnte, und er endete mit der Klassenfahrt, die er wegen der Nähe zu Mokuba so genossen hatte, und seinem Fauxpas im Aquarium, mit dem er nicht nur sich selbst, sondern auch Mokuba in ein Gefühlschaos allerersten Ranges gestürzt hatte. "… und ich weiß nicht, ob wir nach gestern überhaupt noch Freunde sein können oder wie Mokuba reagieren wird, wenn wir uns am Montag in der Schule sehen. Ich hab solche Angst davor, dass er mich jetzt hasst. Und ich weiß, ich muss mich entschuldigen, aber ich weiß nicht, ob ich das kann, weil mir der Kuss wirklich nicht leid tut. Die Umstände schon, ja, aber der Kuss … der nicht", beendete der Fünfzehnjährige etwas atemlos seine Erzählung und sah seinen Bruder zögerlich an. Er hatte gerade zum allerersten Mal vor einem anderen Menschen und auch vor sich selbst laut zugegeben, dass er in einen seiner besten Freunde verliebt war, und er konnte absolut nicht einschätzen, was Bakura jetzt von ihm dachte. Hasste sein Bruder ihn jetzt? Verachtete er ihn? Hatte er ihn immer noch lieb? Bakura nur ein wenig überfahren zu nennen von dem, was sein kleiner Bruder ihm da gerade erzählt hatte, wäre eine Untertreibung gewesen. Er hatte mit vielem gerechnet, aber ganz sicher nicht damit. Klar, dass der Kleine sich mies fühlte, wenn er in so einem Dilemma steckte. Zum allerersten Mal verliebt und dann gleich so was – es gab definitiv angenehmere Arten zu entdecken, dass man auf das eigene Geschlecht stand und nicht auf das andere. Um ein Haar hätte der Neunzehnjährige geschmunzelt – offenbar waren sein Bruder und er sich in manchen Sachen noch sehr viel ähnlicher als gedacht –, aber er unterdrückte den Impuls und legte stattdessen eine Hand unter das inzwischen wieder herabgesunkene Kinn Ryous, um diesen so sanft dazu zu zwingen, ihm wieder in die Augen zu sehen. "Du und der kleine Kaiba also, ja?", versicherte er sich des Gehörten und Ryou errötete heftig, nickte aber dennoch, soweit Bakuras Griff das zuließ. "Ja, ich …", begann er, beendete seinen Satz aber nicht. "Hasst du mich jetzt?", fragte er stattdessen zittrig und atmete erleichtert auf, als sein Bruder gleich den Kopf schüttelte. "Ich könnte dich nie hassen, Ryou. Ganz egal, was du anstellst oder in wen du verliebt bist. Du bist und bleibst mein Bruder und ich liebe dich." Eigentlich waren das Worte, die er nicht in den Mund nahm, aber als die großen, sanften braunen Augen seines kleinen Bruders pure Erleichterung zeigten, schob Bakura den Gedanken daran, dass so etwas ganz und gar untypisch für ihn war, in die hinterste Ecke seines Bewusstseins. Wenn es das war, was Ryou hören musste, um zu begreifen, dass seine Gefühle nichts Verwerfliches waren, dann würde er es dem Jungen notfalls immer und immer wieder sagen. "Danke, Bakura." Ryou schniefte leise und wischte sich mit dem Ärmel seines Pullovers über die Augen, um die aufkeimenden Tränen loszuwerden. Er wollte jetzt ganz bestimmt nicht heulen, aber er konnte auch nichts dagegen tun, dass seine Augen gleich wieder feucht wurden. Er wusste ganz genau, dass Bakura solche Worte wie ›Liebe‹ eigentlich nicht benutzte. Dass der Ältere ihm dennoch gesagt hatte, dass er ihn liebte und dass er ihn nie hassen würde, machte die Worte nur umso wertvoller für ihn. Und dass Bakura ihn wie früher, wenn er als Kind geweint hatte, auch jetzt in seine Arme zog und zuließ, dass er ihm mit seinen Tränen das Shirt durchnässte, tat einfach nur gut. Wie lange er so einfach stumm geweint hatte, hätte Ryou hinterher nicht zu sagen gewusst. Nach einer gefühlten und doch irgendwie viel zu kurzen Ewigkeit löste er sich dennoch wieder von seinem Bruder, kramte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich entschlossen über die Augen. Genug der Tränen! Er war ganz bestimmt nicht hergekommen, um zu heulen. Er hatte seinen Bruder sehen und mit ihm reden wollen. Und nachdem Bakura ihm schon gesagt hatte, dass er ihn immer noch liebhatte und ihn nicht für seine Gefühle verachtete, war Ryou fest entschlossen, sich nicht länger von dem unterkriegen zu lassen, was er so lange mit sich herumgetragen und vor allen verborgen hatte. Solange Bakura zu ihm stand, solange konnte ihm nichts passieren. Diese Wirkung hatte sein großer Bruder früher schon auf ihn gehabt und Ryou stellte mit einem winzigen Lächeln fest, dass sich das nicht geändert hatte. Bakura war immer noch seine Anlaufstelle und der Mensch, bei dem er sich am sichersten fühlte. "Übrigens musst du dir wegen Ryuuji keine Sorgen machen. Der hat absolut kein Interesse an Mokuba. Jedenfalls nicht so." Auf diese Worte hin sah Ryou seinen Bruder überrascht an. "Woher weißt du das?", hakte er neugierig nach, aber Bakura antwortete nicht sofort. Das, was er bei dem Gespräch zwischen Katsuya und Ryuuji in ihrer heimischen Küche gehört hatte, war eigentlich privat und ging Ryou nicht wirklich etwas an. Aber, sinnierte Bakura, wenn er vor der Wahl stand, ob er die Privatsphäre eines Klassenkameraden verletzte, um seinem kleinen Bruder zumindest einen Teil seiner Angst zu nehmen, dann gewann sein Bruder haushoch. "Weil der in den großen Kaiba verliebt ist", gab Bakura daher äußerlich völlig ungerührt zur Antwort und Ryous Augen wurden groß und kugelrund. "Ryuuji ist in Seto verliebt?", fragte er ungläubig und ächzte leise, als Bakura ihm das Gesagte noch einmal mit einem Nicken bestätigte. Nach allem, was Mokuba in der Schule immer über die Streitereien zwischen seinem Bruder und seinem Stiefbruder erzählt hatte, war das ja wohl absolut aussichtslos. "Der arme Ryuuji!", entfuhr es Ryou und auf Bakuras Lippen legte sich ein breites Grinsen. "Gerade erzählst du mir noch, dass du seinetwegen so eifersüchtig bist, und jetzt tut er dir plötzlich leid?", neckte er den Jüngeren und dessen Wangen röteten sich wieder, aber er nickte trotzdem. "Ja, irgendwie schon. Mokuba zufolge hat Seto ein paar ziemlich gemeine Sachen über Ryuuji gesagt. Aber als Mokuba ihm das erzählt hat, hat er nur gemeint, das wäre ihm egal. Aber das war es dann ja bestimmt doch nicht", vermutete Ryou, ohne zu ahnen, wie nahe er der Wahrheit damit kam. "Das muss doch schlimm für Ryuuji sein." Du hast ja keine Ahnung, Ryou, dachte Bakura bei sich, doch er sprach diese Worte nicht aus. Er selbst hatte am Freitag durchaus gesehen, wie sehr Kaibas Worte seinem schwarzhaarigen Klassenkameraden zugesetzt hatten, aber das war ganz sicher nichts, was er Ryou zu erzählen gedachte. Immerhin wollte er seinem kleinen Bruder kaum erklären, dass er bereits am Freitag den Drang verspürt hatte, dem reichen Pinkel für sein Verhalten eine ordentliche Abreibung zu verpassen. Nach allem, was Ryuuji während seiner Abwesenheit für Katsuya und hinterher auch für ihn selbst getan hatte, fühlte er sich immer noch in seiner Schuld. Vielleicht konnte er diese Schuld ja dadurch begleichen, dass er sich Kaiba mal zur Brust nahm und dafür sorgte, dass dieser besser aufpasste, was er sagte und wen er mit seinen Worten verletzte. Da das allerdings etwas war, was sein kleiner Bruder ganz sicher nicht gutheißen würde – Ryou war ein ziemlicher Pazifist und mochte Schlägereien ganz und gar nicht –, behielt Bakura seine diesbezüglichen Gedankengänge auch jetzt für sich. Er hatte nicht einmal Katsuya bisher erzählt, dass er plante, mit Kaiba ein paar sehr deutliche Takte zu sprechen, denn er bezweifelte, dass der Blondschopf sich davon würde überzeugen lassen, ihn dieses Gespräch mit ihrem brünetten Klassenkameraden unter vier Augen führen zu lassen. Und bei Katsuyas explosivem Temperament war die Gefahr, dass er, wenn er sich erst mal in Rage geredet hatte, versehentlich etwas herausposaunte, was Ryuuji ganz sicher lieber für sich behalten wollte, einfach zu groß. Dieses Risiko wollte Bakura lieber nicht eingehen. Der abwesende Blick seines großen Bruders entging Ryou nicht. "Kura? Alles okay?", fragte er zaghaft, doch das reichte aus, um den Angesprochenen wieder in die Realität zurückzuholen. "Alles gut", beruhigte er den Jungen und machte sich dann daran, ihn von seinen eigenen ungewohnten Anwandlungen abzulenken und seine Gedanken wieder auf den eigentlichen Grund ihres heutigen Treffens zu lenken. Darüber, wann und wie er selbst sich mit dem älteren der beiden Kaiba-Brüder auseinandersetzen würde, konnte er auch später noch nachdenken, wenn er zu Hause war. Jetzt ging Ryou erst mal vor. Kapitel 21: Samstag II - Ablenkung ---------------------------------- Nachdem sein weißhaariger Begleiter voller Eile davongestürmt war, blieb Ryuuji noch einen Augenblick lang unschlüssig am Eingang des Parks stehen. Er hatte, abgesehen davon, Ryou abzuholen und später wieder nach Hause zu bringen, für den Nachmittag keine konkreten Pläne gemacht und wusste daher nicht so recht, was er jetzt mit sich selbst anfangen wollte. Zurück in die kaibasche Villa wollte er allerdings definitiv noch nicht, denn zum Einen wollte er Seto keinesfalls früher als unbedingt nötig wieder begegnen und zum Anderen wollte er auch Mokuba jetzt nicht unter die Augen treten. Er konnte dem Kleinen schließlich schlecht sagen, dass er sich selbst als Alibi für Ryou zur Verfügung gestellt hatte, damit dieser sich ungestört mit seinem großen Bruder treffen konnte. Immerhin war Mokuba nicht dumm und würde ganz sicher Eins und Eins zusammenzählen und sich denken können, dass es bei dem Gespräch um ihn gehen würde. Und ebenso sicher war, dass es ihm wohl kaum recht wäre zu wissen, dass Bakura nach dem heutigen Nachmittag nicht nur über Ryous Gefühle für seinen schwarzhaarigen Freund, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch über die Geschehnisse vom Vortag im Aquarium informiert sein würde. Seufzend verabschiedete Ryuuji sich nach Isono-sans Versicherung, ihm später auf jeden Fall zur Verfügung zu stehen, wenn er ihn benötigen sollte, von dem Chauffeur und blickte der Limousine kurz nach, bis diese außer Sichtweite verschwunden war. Dann lenkte er seine Schritte ebenfalls in den Park, wählte jedoch absichtlich einen anderen Weg als den, den Ryou genommen hatte. Immerhin hatte er dem Jungen versprochen, ihn und seinen Bruder nicht bei ihrem Gespräch zu stören. Und dieses Versprechen würde er auch halten. Aus diesem Grund schlenderte Ryuuji, noch immer mit Ryous Englischsachen im Schlepptau, einfach eine Weile durch den Park, bis er eine ruhige Ecke mit einer Bank gefunden hatte, wo er ungestört für sich sein konnte. Die Familien mit Kindern, die das Wetter genossen, waren im Augenblick definitiv nichts, was er sehen wollte. Er brauchte jetzt ein bisschen Ruhe und Zeit für sich, um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Immerhin würden seine Mutter und sein Stiefvater heute Abend von ihrer Hochzeitsreise zurückkehren und sie sollten um keinen Preis der Welt merken, was zwischen Seto und ihm vorgefallen und wie es um seine Gefühle bestellt war. Es war genug, dass Katsuya und Bakura und, in wesentlich geringerem Maße, auch Mokuba wussten, wie es in seinem Inneren aussah. Auf keinen Fall wollte er, dass seine Mutter etwas bemerkte. Auch wenn er sein Versprechen ihr gegenüber nicht ganz hatte halten können, so würde er sich doch zumindest bemühen, ihr nicht noch mehr Sorgen zu bereiten. Sie hatte sich ihr Glück redlich verdient, nachdem sie so lange alleine gewesen war. Mit einem weiteren Seufzen ließ Ryuuji sich auf der Parkbank nieder, legte Ryous Sachen neben sich ab und schloss die Augen für einen Moment. In ein paar Stunden, wenn er nach Hause ging, musste sein Pokerface sitzen, aber jetzt und hier, wo niemand in seiner Nähe war, erlaubte er es seinem Schmerz und seinen verletzten Gefühlen, an die Oberfläche zu kommen, denn er wusste, dass es nichts brachte, wenn er alles zu verdrängen versuchte. Das würde über kurz oder lang nur dazu führen, dass er endgültig den Boden unter den Füßen verlor oder vollkommen zusammenbrach. Und das war etwas, was er ganz und gar nicht gebrauchen konnte. oOo "Nii-chan? Kommst du dann?" Yuugis Kopf, der sich in sein Zimmer schob, riss Yami aus seinem unproduktiven Starren auf die Hausaufgaben, die er eigentlich an diesem Tag zum Stiefbruder seines besten Freundes hatte bringen wollen. Bereits seit dem Morgen nach dem Frühstück lagen die Unterlagen fein säuberlich auf seinem Schreibtisch, aber auch nach dem Mittagessen hatte er sich bisher noch nicht dazu aufraffen können, die Zettel wirklich einzupacken und loszugehen. Dafür ging ihm nach der letzten Woche und besonders nach dem Vortag einfach zu viel im Kopf herum. Selbst seine Mutter hatte gemerkt, dass er momentan nicht ganz auf der Höhe war, aber er hatte das Ganze auf verschiedene Tests und Klausuren geschoben, für die er zu lernen hatte. Zu seinem Glück hatte sie sich damit zufriedengegeben. Yuugi hingegen wusste ganz genau, dass das, was seinen großen Bruder im Moment beschäftigte, ganz und gar nichts mit irgendwelchen Klausuren zu tun hatte. Allerdings hatte er nichts zu den Ausreden gesagt, die Yami vorgebracht hatte, sondern sich nur vorgenommen, seinen Bruder ein bisschen abzulenken. Jetzt, wo er wusste, womit Yami sich bereits seit gut einem Jahr herumschlug – sie beide hatten am vergangenen Abend noch lange und sehr offen miteinander gesprochen; offenbar hatte es Yami gutgetan, endlich jemanden zum Reden zu haben –, wollte er unbedingt für seinen großen Bruder da sein und ihm nach Kräften helfen, sich ein bisschen von allem abzulenken. Und er wusste auch schon ganz genau, wie er das anstellen würde. "Mitkommen? Wohin denn?", fragte Yami matt und ohne aufzusehen. Eigentlich stand ihm ganz und gar nicht der Sinn danach, sein Zimmer heute zu verlassen. Er wollte einfach nur alleine sein. Allerdings schien sein Bruder das ganz und gar nicht zulassen zu wollen, denn er quetschte sich in den Raum hinein, schloss die Tür hinter sich und schob sich dann zwischen Yamis Stuhl und den Schreibtisch, so dass, zumindest für den Moment, die Hausaufgaben aus Yamis Blickfeld verschwanden. "Ins Museum", beantwortete Yuugi die Frage seines Bruders und zog diesen trotz seines Widerstrebens energisch von seinem Stuhl hoch. "Du kannst nicht hier rumhängen und die ganze Zeit Trübsal blasen. Und außerdem wolltest du Ryuuji heute noch die Zettel mit den Hausaufgaben bringen. Das geht aber nicht, wenn du bloß hier rumsitzt und Löcher in die Luft starrst", argumentierte er weiter und zerrte seinen Bruder mit sich, nachdem er diesem noch schnell die besagten Hausaufgaben in die freie Hand gedrückt hatte. "Yami und ich gehen ins Museum. Bis später!", rief Yuugi ihrer in der Küche werkelnden Mutter zu und schob seinen Bruder in den Flur, damit er seine Schuhe anziehen konnte. Er selbst schlüpfte ebenfalls in seine bequemsten Turnschuhe und nahm dann einfach Yamis Hand, um ihn so mit sich ziehen zu können, denn der Ältere machte ganz den Eindruck, als wollte er einfach wie bestellt und nicht abgeholt neben dem Schuhschrank stehen bleiben. "Eigentlich möchte ich lieber wieder nach Hause, Yuugi", wandte Yami sich nach den ersten hundert Metern ungewohnt leise und zaghaft für seine Verhältnisse an seinen kleinen Bruder, aber dieser schüttelte nur den Kopf. "Nein. Das ist nicht gut für dich. Einigeln macht es doch nicht besser", widersprach er und drückte kurz Yamis Hand – eine Geste, die diesem zumindest ein kurzes, schwaches Lächeln entlockte. Na, immerhin besser als nichts, motivierte Yuugi sich selbst. Es war logisch, dass es seinem Bruder nicht von jetzt auf gleich wieder besser gehen würde. Sich das zu wünschen wäre utopisch, das war dem Fünfzehnjährigen klar. Trotzdem hoffte er, dass ein Bummel durch das Museum, in dem sie beide schon als Kinder oft gespielt und viele schöne Stunden miteinander verbracht hatten, Yamis Stimmung zumindest ein kleines bisschen aufzuhellen vermögen würde. Yami war so lieb; er hatte es wirklich nicht verdient zu leiden, nur weil er sich unglücklicherweise in jemanden verliebt hatte, der für ihn nicht dasselbe empfand. oOo Mokuba, der nach Ryuujis Weggang einfach nur im Wohnzimmer auf der Couch rumgegammelt hatte – er hatte den Fernseher eingeschaltet, bekam aber von der laufenden Sendung nicht wirklich etwas mit –, horchte auf, als auf der Treppe aus dem Obergeschoss Schritte erklangen. Offenbar hatte sein großer Bruder beschlossen, dass er lange genug in seinem Zimmer gehockt und gelernt hatte. Seto kam jedoch nicht ins Wohnzimmer, wie Mokuba an dem Geräusch der sich wieder entfernenden Schritte erkannte, sondern ging weiter nach unten in den Keller. Also will er zum Pool, mutmaßte der Fünfzehnjährige und seufzte abgrundtief, als sich sein schlechtes Gewissen zu Wort meldete. Eigentlich hatte er ja am Vorabend mit seinem Bruder über die ganze Sache mit Ryou reden wollen, aber schlussendlich hatte er es doch nicht getan. Bestimmt war Seto sauer und hatte Ryuuji und ihn deswegen nicht zum Frühstück geweckt. Er musste ja denken, dass er seinem kleinen Bruder nicht mehr gut genug war zum Reden, seit Ryuuji da war. Aber, debattierte Mokuba mit sich selbst, hätte Seto ihm gestern wirklich so weiterhelfen können wie Ryuuji das getan hatte? Hätte Seto ihn auch in den Arm genommen, getröstet und mit ihm geredet, bis sie beide die Müdigkeit übermannt hatte? Wahrscheinlich nicht. Aber trotzdem, tadelte Mokuba sich selbst, war das, was er am Vorabend getan hatte, ganz sicher nicht nett gewesen. Seto war zwar manchmal schwierig und kompliziert, aber er war trotzdem ein Mensch mit Gefühlen. Und sein heutiges Verhalten zeigte eigentlich recht deutlich, dass ihn das, was am gestrigen Tag passiert war, verletzt hatte. Bisher hatte er seinen kleinen Bruder noch nie das Frühstück verschlafen lassen – nicht, weil er ihm das Ausschlafen nicht gönnte, sondern weil er die Zeit genoss, die sie am Wochenende zusammen verbrachten. Ich sollte mich bei Seto entschuldigen. Dringend. Gedacht, getan. Mokuba rappelte sich von der Couch auf, schaltete den Fernseher aus und ging ebenfalls nach unten, wo er, genau wie erwartet, seinen großen Bruder im Pool vorfand. Mit langen Zügen schwamm Seto eine Bahn nach der anderen, ohne zu bemerken, dass er inzwischen nicht mehr alleine war. Dabei war sein Gesichtsausdruck so verbissen, dass Mokuba sich erst einmal auf eine der Liegen sinken ließ. Wenn er seinen Bruder jetzt ansprach, dann würde das nur in einem Streit enden. Und nach allem, was am Vortag passiert war, hatte Mokuba einfach keine Energie mehr zum Streiten übrig. Gut zwanzig Minuten musste der Fünfzehnjährige noch warten, bis sein Bruder sein Tempo verlangsamte und so deutlich machte, dass sein ›Training‹, wenn man es denn so nennen konnte, fürs Erste beendet war. "Hey, Seto", machte Mokuba ihn daraufhin auf sich aufmerksam, als der Brünette in die Nähe der Liege geschwommen kam, auf der er immer noch hockte. Seto, der vom Eintreffen seines Bruders tatsächlich nichts bemerkt hatte, bis dieser ihn ansprach, hatte im ersten Moment eine scharfe Frage auf der Zunge, aber er schluckte sie herunter und nickte Mokuba stattdessen einfach nur knapp zu – eine Geste, die deutlicher als Worte zeigte, dass er nicht unbedingt in bester Stimmung war. Das entging auch Mokuba keineswegs. Unwillkürlich zog er den Kopf etwas ein. Es war offensichtlich, dass Seto sauer auf ihn war. Aber genau deshalb war er ja jetzt hier: um die Wogen zu glätten und seinem Bruder zu erklären, warum er selbst sich am Vorabend so verhalten hatte, wie er es nun einmal getan hatte. Blieb nur zu hoffen, dass der Ältere das auch verstehen würde. "Was verschafft mir die unerwartete Ehre?" Seto hörte selbst, wie unterkühlt seine Stimme klang, aber daran konnte er nichts ändern. Erst wollte Mokuba mit ihm reden, dann wollte er es nicht mehr. Und zu allem Überfluss schüttete er dann auch noch ausgerechnet ihrem Stiefbruder sein Herz aus und entlockte diesem damit Geständnisse, die er, Seto, ganz und gar nicht hatte hören wollen. Dass diese Worte keinesfalls für seine Ohren bestimmt gewesen waren, sondern nur für die Mokubas, ließ er dabei unter den Tisch fallen. Wenn niemand mit ihm redete, musste er sich seine Informationen eben anders beschaffen. Die zweite Frage, die ihm im Kopf herumgeisterte – "Willst du nicht lieber wieder zu Ryuuji gehen?" –, verkniff Seto sich mit einiger Mühe ebenso wie die Frage danach, wo Ryuuji wohl gerade sein mochte. Sicher hatte es doch einen Grund, dass Mokuba jetzt ganz alleine hier unten bei ihm war. Oder würde Ryuuji etwa gleich nachkommen? Wollten die beiden schon wieder im Pool herumtoben und ihm so vor Augen führen, was er ohnehin nie würde haben können? "Ich wollte mich entschuldigen", riss Mokubas kleinlaute Antwort Seto aus seinem Ärger. "Für gestern. Ich wollte ja eigentlich gestern Abend mit dir reden, aber …", fuhr er fort, kam aber nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn sein Bruder fiel ihm ins Wort. "Dafür hast du ja offenbar eine andere Anlaufstelle gefunden, otouto", sagte er, ohne den Vorwurf ganz aus seiner Stimme halten zu können. Und wenn er ehrlich war, dann wollte Seto das auch gar nicht. Mokuba durfte ruhig wissen, dass er dessen Verhalten vom Vorabend ganz und gar nicht guthieß. Der Fünfzehnjährige seufzte abgrundtief und obwohl er es eigentlich nicht wollte, kochte das sichtbare schlechte Gewissen des Jungen Seto doch zumindest ein bisschen weich. So ganz konnte er ihm das, was passiert war, zwar noch nicht verzeihen, aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hätte er Mokuba wohl kaum bei dem helfen können, was ihn offenbar so sehr beschäftigte. Er war ja mit seinen eigenen Gefühlen schon überfordert. Wie hätte er da Mokuba einen Rat geben können, wenn er selbst nicht einmal wusste, was er tun sollte? "Schon gut", murmelte Seto daher, schwamm zur Leiter und kletterte aus dem Pool. Im Wasser redete es sich schlecht. Mit einem leisen, fast schon versöhnlich klingenden "Danke, otouto" nahm er das Handtuch entgegen, das sein Bruder ihm reichte, trocknete sich ab und schlüpfte dann in einen der bereitliegenden Bademäntel, ehe er sich auf die Liege neben Mokuba setzte. "Möchtest du denn jetzt mit mir reden?", erkundigte er sich dann und der Fünfzehnjährige seufzte erneut. "Ich weiß nicht", erwiderte er ehrlich und blickte seinen Bruder zögerlich an. "Ich bin mir nicht sicher, ob du mir helfen könntest. Außerdem habe ich gestern Abend schon mit Ryuuji geredet", gestand er und bei der Nennung des Namens seines Stiefbruders biss Seto für einen Moment seine Zähne fest zusammen, ehe er sich zwang, sich wieder zu entspannen. Mit keiner Regung ließ er sich anmerken, dass er nicht nur von dem Gespräch wusste, sondern auch den wahrscheinlich größten Teil des Gesprächsinhalts bereits kannte, weil er die beiden Jüngeren belauscht hatte. "Ich weiß, das war nicht sehr nett von mir, aber … Das Thema ist ziemlich … kompliziert und ich wusste nicht, ob du überhaupt wirklich mit mir darüber sprechen wollen würdest." Wieder seufzte Mokuba, ehe er seinen Bruder ansah. Eigentlich war er es ihm ja doch ein bisschen schuldig, ihm zu erzählen, was ihn so beschäftigte. Und vielleicht hatte Seto ja auch noch einen Rat für ihn, der ihm dabei half, des Chaos in seinem Kopf Herr zu werden. So wirklich glaubte Mokuba daran zwar nicht, aber er wollte es wenigstens versuchen. "Also gestern, da …", fing er daher an und erzählte dann auch seinem großen Bruder, was am Vortag passiert war. Alles, was sein Stiefbruder ihm jedoch über sich selbst und seinen besten Freund Katsuya erzählt hatte, sparte er aus. Ryuuji hatte ihm das im Vertrauen erzählt und er würde dieses Vertrauen ganz bestimmt nicht missbrauchen, indem er derart Privates ohne Ryuujis Erlaubnis einfach so weitererzählte. Während Mokuba redete und redete, nickte Seto nur hin und wieder, unterbrach seinen Bruder aber nicht. Ihm entging keineswegs, dass Mokuba einen Teil des Gesprächs ausließ, aber da er selbst davon eigentlich offiziell gar nichts wissen sollte, ließ er sich nicht anmerken, dass er deutlich mehr wusste als Mokuba ihm erzählte. Ein wenig war er sogar froh darüber, dass Mokuba ihm die unglückliche Verliebtheit ihres Stiefbruders verschwieg, denn er hätte nicht gewusst, wie er darauf hätte reagieren sollen, ohne dass sein Bruder merkte, was in ihm vorging. "Und jetzt bist du dir nicht sicher, wie es weitergehen soll", fasste Seto seine Vermutung in Worte, als Mokuba geendet hatte und ihn fast schon ein bisschen hilfesuchend ansah. "So in etwa", gab Mokuba zu und bedachte seinen Bruder mit einem fragenden Blick. "Was würdest du an meiner Stelle tun?", wollte er von ihm wissen, ohne das minimale Zusammenzucken Setos wirklich zu bemerken. Auch die Tatsache, dass dieser in keinster Weise darauf einging, dass so etwas ganz und gar nicht der üblichen Definition von ›normal‹ entsprach, fiel Mokuba nicht auf. Dafür war er nach allem, was passiert war, immer noch viel zu durcheinander. Seto schwieg eine Weile, um sich Mokubas Worte noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen. Zwar hatte er den Großteil dessen, was der Jüngere ihm erzählt hatte, schon am Vortag gehört, aber in der vergangenen Nacht und auch am heutigen Vormittag hatten sich seine Gedanken weit mehr um Ryuuji gedreht als um das, was Mokuba ihrem Stiefbruder erzählt hatte. Darüber, musste Seto sich eingestehen, hatte er sich eigentlich bis jetzt überhaupt keine Gedanken gemacht. Höchste Zeit, das nachzuholen. "Ich weiß es nicht, otouto." Diese Antwort seines älteren Bruders, auf die er eine gefühlte Ewigkeit warten musste, entlockte Mokuba ein abgrundtiefes Seufzen. Offenbar, sinnierte er unwillkürlich, war es doch besser gewesen, dass er am Vorabend zuerst mit Ryuuji gesprochen hatte. Immerhin hatte dieser es geschafft, ihn zumindest ein bisschen zu trösten und ihm Mut zuzusprechen. Seto, dessen war Mokuba sich ziemlich sicher, war bestimmt noch nie verliebt gewesen und hatte deshalb sicher auch keine Ahnung, wie man in so einer Situation mit seinen Gefühlen umgehen sollte. Dass er mit seiner Vermutung vollkommen falsch lag, konnte der Fünfzehnjährige ja nicht wissen. "Ich wünschte, ich könnte dir einen Rat geben, aber das kann ich nicht." Ich kann ja nicht einmal mir selbst einen Rat geben. Dieses Eingeständnis fiel Seto alles andere als leicht, aber er war seinem Bruder Ehrlichkeit schuldig. Der Junge hatte ihm immerhin gerade sein Herz ausgeschüttet. Da war es nur recht und billig, wenn er das Problem, dass Ryous Gefühle und auch seine eigenen offenbar darstellten, ernst nahm und Mokuba nicht einfach nur kurz abfertigte. Den ersten Impuls, seinem Bruder zu erzählen, dass er selbst sich mit ähnlichen Gefühlen herumschlug, unterdrückte Seto jedoch rasch. Zum Einen würde das Mokuba in keinster Weise helfen und zum Anderen wollte er auch ganz und gar nicht über seine eigenen Gefühle sprechen. Das, das hatte er nach dem Gespräch mit Yami gemerkt, machte das alles nur noch realer. Und dann würde auch das Wissen, dass er das, was er sich wünschte, niemals haben würde, nur noch schmerzhafter werden. Auf Mokubas Lippen erschien bei den Worten seines Bruders ein sehr verunglücktes Lächeln. "Ryuuji hat gesagt, ich soll mir Zeit lassen und darüber nachdenken, was ich für Ryou empfinde. Aber woher soll ich denn wissen, was genau ich fühle? Woher soll ich wissen, ob ich Ryou bloß wie einen Freund gernhabe oder ob da … ob da mehr ist?", murmelte er mehr zu sich selbst und seufzte abgrundtief. Er hatte wirklich keine Ahnung, wie genau er am Montag in der Schule reagieren sollte, wenn er Ryou wiedersah. Was sollte er sagen? Was sollte er tun? "Ich denke, das ist ein guter Rat." Irritiert blickte Mokuba auf, als sein Bruder Ryuuji praktisch zustimmte. "Es bringt nichts, etwas zu überstürzen. Sicher wird Ryou auch verstehen, dass du dir nicht von heute auf morgen sicher sein kannst, ob du seine Gefühle erwiderst oder nicht." So wirklich gefiel es Seto zwar nicht, Ryuuji zustimmen zu müssen, aber er hatte durchaus Recht mit dem, was er Mokuba am Vorabend geraten hatte. "Und wenn du mit mir reden möchtest, bin ich da." Auch wenn er wahrscheinlich keine allzu große Hilfe sein konnte, Mokuba war immer noch sein Bruder. Und wenn es etwas gab, was ihn beschäftigte, dann war es ja wohl seine, Setos, Aufgabe, für den Jungen da zu sein und ihm den Rücken zu stärken. "Danke, Nii-san." Auf Mokubas Lippen breitete sich ein erleichtertes Lächeln aus, das jedoch gleich darauf von einem mehr als überraschten Gesichtsausdruck abgelöst wurde, als sein Bruder etwas tat, was er schon seit Jahren nicht mehr getan hatte: er wuschelte ihm durch die Haare, wie er es immer gemacht hatte, als sie beide noch Kinder gewesen waren. Die Geste war vertraut und ungewohnt zugleich und Mokuba konnte nicht leugnen, dass es sich gut anfühlte, dass auch sein älterer Bruder so über seinen jahrelang antrainierten Schatten sprang und ihm nonverbalen Trost spendete. Noch ehe ihm so recht bewusst war, was er da tat, war Mokuba von seiner Liege aufgestanden, rutschte neben Seto auf dessen Liege und schlang ihm, einem Impuls folgend, die Arme um den Bauch. Für einen Moment versteifte Seto sich ob der unerwarteten Berührung, aber dann gab er sich einen Ruck und erwiderte die Umarmung Mokubas. Es tat auf eine seltsame Art gut, so bestätigt zu bekommen, dass er als großer Bruder noch nicht vollständig abgeschrieben war, nur weil es jetzt Ryuuji in ihrer beider Leben gab. "Gerne, otouto", flüsterte er sanft in Mokubas wilde schwarze Mähne und auf seinen Lippen erschien ein kaum sichtbares Lächeln. Auch wenn er es nie laut ausgesprochen hätte, war er dennoch froh, dass die unsichtbare Grenze, die ihn in letzter Zeit von seinem Bruder getrennt hatte, zumindest für den Moment nicht mehr da zu sein schien. Und er würde daran arbeiten, dass das auch so blieb, das nahm Seto sich in diesem Augenblick fest vor. oOo Wie lange er einfach nur auf der Parkbank gehockt und Löcher in die Luft gestarrt hatte, hätte Ryuuji nicht zu sagen gewusst. Ohne einen Blick auf die Uhr zu werfen, nahm er irgendwann Ryous Englischsachen, schlug das Heft auf und überflog das, was der Fünfzehnjährige in seiner sauberen, ordentlichen Handschrift niedergeschrieben hatte. Glücklicherweise, fand Ryuuji, hatte der Junge nicht nur sein Heft und sein Englischbuch für die ›Nachhilfe‹ mitgenommen, sondern auch sein Federmäppchen. Ryuuji zögerte nur kurz, ehe er es öffnete, darin nach einem Bleistift kramte und dann begann, ein paar Anmerkungen an die Seiten zu kritzeln. Ganz sicher konnte es nicht schaden, wenn Kinoshita-san, falls er das Heft seines Sohnes nach dessen Heimkehr kontrollierte, auch wirklich ein paar Indizien dafür vorfand, dass Ryou diesen Nachmittag tatsächlich mit Lernen verbracht hatte. Das Heft durchzugehen und mit Verbesserungsvorschlägen zu versehen nahm alles in allem nur wenig mehr als eine Stunde Zeit in Anspruch. Ryou, das war offensichtlich, war ein sehr fleißiger Schüler, der sich große Mühe gab. Rechtschreibfehler fand Ryuuji kaum. Ihm fiel nur auf, dass der Junge sich, wenn er etwas übersetzte, offenbar ein wenig zu sehr an das Original hielt – fast so, als hätte er Angst zu improvisieren. Unwillkürlich musste Ryuuji schmunzeln. Das passte eindeutig zu dem Ryou, den er kennengelernt hatte, und auch zu dem Ryou, von dem Mokuba ihm auch vor der Klassenfahrt hin und wieder erzählt hatte. Gerade als er das Heft zugeklappt hatte und das Englischbuch aufschlagen wollte, um aus lauter Langeweile ein bisschen darin zu lesen – immerhin hatte er nicht wirklich etwas zu tun und zurück wollte er definitiv immer noch nicht –, riss ihn aufgeregtes Bellen aus seinen Gedanken. Überrascht hob Ryuuji den Blick und fand sich mit einem Schäferhund konfrontiert, der nur wenig mehr als einen halben Meter vor der Bank stand, ihn anwedelte und dann wieder bellte, als wollte er etwas von ihm. Was das allerdings sein mochte, konnte der Schwarzhaarige sich beim besten Willen nicht erklären. "Sie will, dass du ihr ihren Ball zuwirfst. Der liegt vor deinen Füßen." Auf diese Worte hin blickte Ryuuji nach unten und fand dort tatsächlich einen knapp faustgroßen blauen Stoffball. "Sorry fürs Bunkern", entschuldigte er sich bei dem Hund, der offenbar eine Hündin war, hob den Ball auf und warf ihn mit Schwung auf die Wiese hinter ihr. Mit einem freudigen Bellen rannte sie gleich los, ihrem Ball hinterher, und gab Ryuuji so die Gelegenheit, ihren Besitzer, der ihn angesprochen hatte, zu mustern. Das Gesicht des Brünetten, der etwa in seinem Alter sein musste, kam ihm vage bekannt vor, aber es dauerte einen Moment, bis er einordnen konnte, wo er den Anderen schon mal gesehen hatte. Der Maskenball! Bei dem Brünetten, der gerade vor ihm stand, handelte es sich um denjenigen, der an diesem desaströsen Ballabend gleich zwei Mal seinen Rucksack in Empfang genommen hatte. Oh shit! Hoffentlich erkannte der Typ ihn nicht! Dass diese Hoffnung vergebens war, machten die nächsten Worte des Brünetten sehr eindrücklich deutlich. "Du warst auf der Geburtstagsparty von Himura-san." Eine Feststellung, keine Frage. Dennoch ertappte Ryuuji sich dabei, wie er beinahe gegen seinen Willen nickte. Was brachte es auch schon, das zu leugnen? Vielleicht hatte er ja wenigstens so viel Glück, dass sein neuer Gesprächspartner ihn nicht mit dem roten Kleid in Verbindung brachte, das ihm so zum Verhängnis geworden war. Braune Augen musterten ihn eine ganze Weile, ohne dass ihr Besitzer etwas sagte, und Ryuuji begann, sich langsam etwas unwohl zu fühlen – ein Gefühl, das sich bei den nächsten Worten nur noch verstärkte. "Was bringt einen Kerl dazu, sich für eine Party in ein Kleid zu werfen? Das frag ich mich schon die ganze Zeit." Na super, dachte Ryuuji ironisch. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ausgerechnet jetzt, wo er es einigermaßen geschafft hatte, sich abzulenken, musste irgendein wildfremder Kerl daherkommen und genau die Wunden, die er sich zu schließen bemühte, direkt wieder aufreißen. Wunderbar! "Ich wüsste nicht, was dich das angeht", gab er daher wesentlich defensiver zurück, als er es eigentlich gewollt hatte, und sein Gegenüber hob in einer beschwichtigenden Geste die Hände. "Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich war nur neugierig", erwiderte er und machte eine kurze Pause, um den Ball von seiner Hündin entgegenzunehmen. Sobald er ihn erneut geworfen hatte und die Hündin wieder eifrig davongesaust war, wandte er sich wieder dem Schwarzhaarigen zu. "Ich fand's mutig", sagte er dann und auf seine Lippen legte sich ein etwas verlegen wirkendes Grinsen, als die grünen Augen seines Gesprächspartners skeptisch blieben. "Ich kenne niemanden, der so mutig wäre, als Junge im Kleid auf einem Maskenball aufzutauchen", fuhr er in seiner Erklärung fort und bedachte den vor ihm Sitzenden mit einem fragenden Blick. "Kann ich mich zu dir setzen? Oder hab ich dich mit meinen blöden Fragen zu sehr genervt? Dann hauen Blankey und ich ab und lassen dich in Ruhe", bot er an und Ryuuji haderte einen Moment mit sich, ehe er Ryous Englischsachen beiseitelegte und so den Platz neben sich frei machte. Beinahe sofort erschien ein erleichtertes Lächeln auf dem Gesicht des Brünetten und dieser ließ sich ganz unzeremoniell auf die Bank fallen. "Ich bin übrigens Honda. Honda Hiroto", stellte er sich dann erst mal vor und Ryuuji schüttelte amüsiert den Kopf. "Du bist ziemlich merkwürdig, das ist dir schon klar, oder, Honda-kun?", erkundigte er sich und der Brünette kratzte sich verlegen am Hinterkopf. "Hör ich oft", gestand er und fast schon gegen seinen Willen musste Ryuuji schmunzeln. Das Ganze war aber auch zu absurd. Und als im nächsten Moment auch noch der inzwischen ordentlich vollgesabberte Ball in seine nun freie Hand gedrückt wurde und eine nasse Hundenase seine Finger energisch anstupste, konnte Ryuuji nicht mehr anders: er musste lachen. Dieser Tag war einfach nur total abgedreht. Was mochte wohl als nächstes passieren? Kapitel 22: Samstag III - Neue Bekanntschaften ---------------------------------------------- "Kuck mal, Nii-chan, die müssen neu sein." Aufgeregt deutete Yuugi auf ein Set Kanopenkrüge, die in einer Vitrine zur Schau gestellt wurden. Noch immer hielt er die Hand seines Bruders fest und so wurde dieser beinahe ein wenig gegen seinen Willen mit zu der Vitrine gezogen, vor der Yuugi schließlich in die Hocke ging, um sich die Inschriften genauer anschauen zu können. Den Tafeln, die für alle Besucher, die des Altägyptischen nicht mächtig waren, die genaue Bedeutung der Kanopen und ihrer Inschriften erklärten, schenkte er keine Beachtung. Er hatte es, ebenso wie Yami, schon immer vorgezogen, die richtigen Inschriften zu lesen und nicht die Übersetzungen. Die Inschriften übersetzen konnte er schließlich auch selbst. Yami beobachtete seinen kleinen Bruder von der Seite und schmunzelte unwillkürlich, als dieser angestrengt die Stirn runzelte, weil ihm die Bedeutung einer Hieroglyphe nicht sofort einfallen wollte. Genau so hatte Yuugi schon früher ausgesehen, als sie beide von ihrem Großvater das Hieroglyphenalphabet gelernt hatten. Auch wenn er jünger war als sein Bruder, er hatte hinter diesem nie zurückstecken, sondern immer alles ebenso schnell lernen wollen wie Yami. "Ich glaube, die stammen aus der letzten Ausgrabung aus dem Tal der Könige", mutmaßte Yami, der die Tafeln, auf denen die Herkunft der Artefakte vermerkt war, aus seiner Position nicht sehen konnte. Yuugi blinzelte, aber ehe er selbst einen Blick auf die Tafeln werfen und die Vermutung seines Bruders bestätigen oder verneinen konnte, mischte sich eine fremde Stimme von hinter ihnen beiden in das Gespräch ein. "Nein, diese Kanopen stammen nicht aus dem Tal der Könige." Sowohl Yami als auch Yuugi fuhren zu dem Sprecher herum, der sich als junger Mann etwa in Yamis Alter entpuppte. Seine sandfarbenen Haare waren kunstvoll zerzaust, seine Haut braun gebrannt und seine Augen waren von einem seltsam intensiven Lavendelton. Das Auffälligste an ihm war allerdings die Menge an eindeutig echtem und damit sehr wertvollem Goldschmuck, den er trug. "Die Stücke stammen aus einem Grab etwa zweihundert Meilen vom Tal der Könige entfernt", fuhr der Sprecher fort und auf seine Lippen legte sich ein Grinsen. Er sprach fehlerfreies Japanisch, jedoch mit einem melodischen Akzent, den keiner der beiden Muto-Brüder so recht einzuordnen wusste. "Meine Schwester hat das Grab mehr durch Zufall gefunden", erzählte er weiter und reichte den beiden, die noch immer vor der Vitrine hockten, seine Hände, um sie hochzuziehen. Völlig überfahren griff Yuugi nach einer der Hände des Fremden, während sein Bruder sich aus eigener Kraft wieder aufrappelte. "Ich bin übrigens Malik Ishtar", stellte der Fremde sich doch endlich mal vor und nun war es an Yami, die Stirn zu runzeln. Den Namen Ishtar hatte er schon des Öfteren gehört, aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, in welchem Zusammenhang das gewesen war. Yuugi hingegen hatte dieses Problem nicht. "Dann ist deine Schwester Ishizu Ishtar?", hakte er aufgeregt nach und bei der Nennung dieses Namens fiel Yami auch wieder ein, woher er den Namen Ishtar kannte: aus den Erzählungen seines Großvaters. Muto Sugoroku hatte vor längerer Zeit bei diversen Ausgrabungen mit den Eltern von Rishid, Ishizu und Malik Ishtar zusammengearbeitet, bis die Ishtars vor einigen Jahren tödlich verunglückt waren und ihre drei Kinder als Waisen zurückgelassen hatten. Und ihre Tochter, das hatte Sugoroku seinen Enkeln stolz erzählt, war in die Fußstapfen ihrer Eltern getreten und hatte sich der Ägyptologie verschrieben. Sie hatte, erinnerte Yami sich, oft mit seinem Großvater kommuniziert, aber er hatte sie bisher ebenso wenig kennengelernt wie ihre beiden Brüder, von denen der jüngere jetzt offenbar vor Yuugi und ihm stand. "Sehr erfreut, Ishtar-kun", murmelte Yami leise und der Angesprochene warf ihm einen interessierten Blick zu, ehe er zurück zu Yuugi schwenkte und auch diesen musterte. "Ihr müsst Muto-sans Enkel sein", vermutete er ganz richtig und wieder huschte ein Grinsen über seine Lippen, als Yuugi gleich eifrig nickte. "Er hat meiner Schwester mal ein Foto von euch geschickt. Ist allerdings schon ein paar Jahre her. Da hast du", er zeigte auf Yuugi, "allerdings einen Lendenschurz und ein Pektoral getragen und keine moderne Kleidung. Und dein Bruder", ein Blick zu Yami bei diesen Worten, "hatte eine Schreiberpalette auf dem Schoß und eine Schreibbinse in der Hand", schloss er und Yami schmunzelte unwillkürlich. Das Bild, von dem Malik sprach, kannte er gut, zierte es doch als eines von vielen den ziemlich überladenen Schreibtisch seines Großvaters. Yuugi und er mussten etwa sieben und zehn Jahre alt gewesen sein, als es entstanden war. "Da hat Großvater mit uns gerade mal wieder ein bisschen das Hieroglyphenalphabet geübt", erklärte Yuugi und Malik blickte ihn verdutzt an. "Heißt das, ihr könnt das alles wirklich lesen?", wollte er neugierig wissen und Yuugi nickte wieder. "Natürlich! Unser Großvater hat uns alles beigebracht!", erzählte er voller Stolz und unterdrückte mühsam den Drang, Malik die Zunge rauszustrecken, als dieser ihn skeptisch ansah. "Beweise?", verlangte der Ägypter auch prompt und Yuugi blies empört die Wangen auf, ehe er entschlossenen Schrittes zu einer der anderen Vitrinen hinüberstolzierte, in der ein an den Rändern etwas ausgerissenes Stück Papyrus ausgestellt wurde. Ohne einen weiteren Blick auf die Tafel, die das Artefakt näher erklärte, zu werfen, begann Yuugi, den auf dem Papyrus stehenden Text laut vorzulesen. Malik staunte nicht schlecht. "Okay, okay, du hast gewonnen. Und ich muss mich entschuldigen, weil ich's dir nicht sofort geglaubt hab", wandte er sich an Yuugi und dieser reckte triumphierend das Kinn – eine Geste, die Yami ein leises Kichern entlockte. Sein kleines Wiesnäschen war manchmal aber auch einfach zu drollig – ganz besonders dann, wenn er sich bemühte, sich erwachsen zu geben. Er selbst als Yuugis großer Bruder hatte diesem deutlich angesehen, dass er Malik am liebsten die Zunge herausgestreckt hätte, weil dieser es gewagt hatte, an seinen Worten zu zweifeln. "Wollt ihr euch auch noch den Rest der Ausstellung ansehen? Oder wollt ihr nicht vielleicht lieber einen Blick hinter die Kulissen werfen und euch das anschauen, was gerade noch restauriert wird, bevor es in die Ausstellung kommt?", schlug Malik vor und bei diesem Angebot begannen nicht nur Yuugis, sondern auch Yamis Augen zu leuchten. Es war schon eine ganze Weile her, seit sie in den Restaurationsräumen gewesen waren und so ziemlich als Erste das zu sehen bekommen hatten, was zahlende Gäste erst Monate später bestaunen durften. Kein Wunder also, dass die beiden Muto-Brüder sofort Feuer und Flamme waren. "Gerne!", platzte Yuugi auch prompt heraus, während Yami sich bemühte, seine Aufregung zumindest ein wenig zu zügeln, auch wenn ihm das eher schlecht als recht gelang. "Wenn wir wirklich nicht stören …", schränkte er ein, aber den hoffnungsvollen Unterton konnte er nicht ganz aus seiner Stimme verbannen. Malik entging dies keinesfalls und so grinste er breit und zufrieden, ehe er den beiden andeutete, dass sie ihm folgen sollten. "Wenn dem so wäre, hätte ich es bestimmt nicht angeboten", ließ er die Zwei auf dem Weg in die hinteren Räumlichkeiten wissen. Die Tatsache, dass seine Schwester ihm für diese Aktion möglicherweise später unter vier Augen gehörig den Kopf waschen würde, ließ er dabei gekonnt unter den Tisch fallen. Ishizu konnte sich manchmal wirklich ganz schrecklich aufspielen. Er würde schon aufpassen, dass die Artefakte nicht zu Schaden kamen. Aber mit jemandem in seinem Alter Zeit zu verbringen war deutlich interessanter als die ganze Zeit nur blöd rumzusitzen oder sich mit den Besuchern rumschlagen zu müssen, die immer so klugscheißerisch taten und doch von nichts eine Ahnung hatten. Das hier hingegen versprach eindeutig Spaß zu machen. Außerdem will Ishizu doch immer, dass ich mir Freunde suche, also soll sie sich mal nicht so anstellen. oOo "Wollen wir gleich noch mal Schach spielen? Heute gebe ich mir auch mehr Mühe. Versprochen, Nii-sama." Aus großen Augen blickte Mokuba seinen Bruder an. Jetzt, wo zwischen ihnen beiden wieder alles im Lot war, wollte er die Zeit auskosten, die er mit Seto hatte. Es war zwar irgendwie schade, dass Ryuuji nicht da war und sie deshalb nichts zu dritt unternehmen konnten, aber andererseits gab ihm das die Gelegenheit, mal wieder ganz alleine Zeit mit Seto zu verbringen. Und das war eindeutig auch nicht zu verachten. "Gerne", erwiderte Seto auf den Vorschlag seines Bruders und wartete, bis dieser sich von ihm gelöst hatte und aufgestanden war. Dann erhob er sich selbst ebenfalls. "Geh schon mal nach oben. Ich dusche kurz und komme dann nach", ließ er Mokuba wissen und schmunzelte minimal, als der Junge nach einem hektischen Nicken gleich voller Enthusiasmus die Treppen hinauf stürmte. Es tat, stellte Seto dabei für sich selbst fest, wirklich gut, wieder richtig mit Mokuba zu reden und nicht mehr diese seltsame Distanz zu ihm zu fühlen. So, genau so war es früher zwischen ihnen immer gewesen. Wann hatte sich ihr Verhältnis eigentlich so verändert? Unhörbar seufzend stellte Seto die Dusche an, nachdem er sich von seiner Badehose befreit hatte, und wusch sich erst mal das Chlor vom Körper. Eigentlich, wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann waren Mokuba und er sich schon seit Jahren nicht mehr so nah gewesen. Nur zu gerne hätte Seto ihren Stiefbruder für alles verantwortlich gemacht, aber die Wahrheit war, dass er selbst derjenige gewesen war, der – unbewusst und auch ungewollt zwar, aber dennoch – einen Keil zwischen seinen Bruder und sich selbst getrieben hatte. Er hatte sich immer bemüht, stark für seinen kleinen Bruder zu sein, und hatte darüber völlig vergessen, dass er Mokuba so ein vollkommen falsches Bild vermittelte. Anstatt für den Jungen da zu sein, hatte er ihn oft genug nur mit Ermahnungen und Belehrungen abgespeist und war mehr eine Art zweiter Vater gewesen als ein großer Bruder. Welche Ironie, dachte Seto bei sich, dass es erst einen eigentlich vollkommen Fremden – Ryuuji – gebraucht hatte, um ihm vor Augen zu führen, was nicht nur Mokuba, sondern auch ihm schon so lange gefehlt hatte. Aber, das nahm Seto sich fest vor, als er die Dusche abdrehte, sich abtrocknete und dann wieder in seine bereitliegende Kleidung schlüpfte, er würde von jetzt an aufmerksamer sein und mehr darauf achtgeben, was sein Bruder wirklich brauchte. Und wenn er sich nicht sicher war, dann würde er Mokuba eben einfach fragen. So schwer konnte das doch nicht sein, oder? Kopfschüttelnd verdrängte Seto diese Gedanken fürs Erste und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer, wo Mokuba schon am Tisch saß. Die Schachfiguren standen bereit und der Junge strahlte, als sein Bruder den Raum betrat – ein Anblick, sinnierte Seto mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, den er schon viel zu lange nicht mehr gesehen hatte. Früher hatte Mokuba ihn immer so angesehen, aber in den letzten Jahren waren sie einfach auseinandergedriftet. Und er selbst hatte es zugelassen. Aber das war jetzt vorbei. "Dann gib dir mal Mühe, mich zu schlagen, otouto", forderte Seto, nachdem er Platz genommen hatte, und in den blauen Augen seines kleinen Bruders blitzte es kämpferisch. "Oh, das werde ich, keine Sorge", versprach der Fünfzehnjährige und machte mit einem grimmigen Lächeln seinen ersten Zug. Zwar hatten Setos Worte recht überheblich geklungen, aber im Gegensatz zu sonst hörte Mokuba eine deutliche Spur Amüsement aus ihnen heraus. Ihm war durchaus klar, dass er Seto höchstwahrscheinlich auch dieses Mal nicht schlagen würde – dafür war Seto einfach zu gut –, aber Mokuba war fest entschlossen, sich seinem Bruder nicht kampflos geschlagen zu geben, sondern ihm wenigstens eine ordentliche Herausforderung zu bieten. oOo "Nii-chan? Es ist schon ziemlich spät. Wir sollten langsam los." Yuugi unterbrach seinen Bruder nur sehr ungern, hatte dieser sich doch in den letzten Stunden, die sie gemeinsam mit Malik und seiner Schwester Ishizu – Rishid, der älteste der drei Isthar-Geschwister, arbeitete als Koch in einem Restaurant und war deshalb nicht dabei – in der Restaurationswerkstatt des Museums verbracht hatten, entgegen aller Befürchtungen wirklich gut amüsiert. Allerdings war es, wie ein kurzer Blick aus dem Fenster dem Fünfzehnjährigen klarmachte, inzwischen reichlich spät. Wenn sie noch die Hausaufgaben für Ryuuji abliefern wollten, dann sollten sie sich wirklich beeilen, denn sonst würden sie zu spät zum Abendessen kommen. Und das sahen ihre Eltern wiederum ganz und gar nicht gerne. Nicht ausgerechnet am Wochenende, wenn sie mal ein bisschen Zeit hatten, als Familie gemeinsam zu essen. "Hm?" Yami, der gerade in eine lebhaft-hitzige Diskussion mit Malik vertieft gewesen war – sie hatten sich einfach nicht über die korrekte Übersetzung einer ganz bestimmten Passage eines Papyrus' einigen können; nicht mal Ishizus Eingreifen hatte daran etwas geändert –, blinzelte überrascht, als sein Bruder ihn ansprach und ihn mit einem Nicken in Richtung der draußen herrschenden Dämmerung darauf aufmerksam machte, dass sie eigentlich viel länger im Museum geblieben waren als geplant. Seltsam, sinnierte Yami. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie die Zeit vergangen war. Aber das war wohl kein Wunder, hatte das alte Ägypten ihn doch seit jeher fasziniert. Und wann hatte er schon mal die Gelegenheit, mit jemandem außer seinem Großvater oder seinem kleinen Bruder über seine Leidenschaft zu sprechen – noch dazu mit jemandem, der schon selbst an ein paar Ausgrabungen teilgenommen hatte? Kein Wunder, dass er überhaupt nicht mitbekommen hatte, wie es immer später und später geworden war. "Du hast Recht, Yuugi." Es war wirklich allerhöchste Zeit zu gehen. Immerhin brauchte Otogi seine Hausaufgaben wirklich noch; Seto hatte sie ihm ganz sicher bisher nicht verraten. Trotzdem musste Yami sich eingestehen, dass er am liebsten noch eine Weile geblieben wäre – etwas, was die Ishtar-Geschwister ihm scheinbar an der Nasenspitze ansahen. "Wenn ihr Lust habt, könnt ihr ja morgen wiederkommen", bot Ishizu an und bedachte die beiden Muto-Brüder mit einem Lächeln, ehe sie sich ihrem eigenen Bruder zuwandte und diesem einen strengen Blick schenkte. "Ich werde mich bemühen, dass mein Bruder sich dann besser benimmt", versprach sie und Malik streckte ihr die Zunge heraus, was Yuugi zum Kichern reizte. "Ich habe mich benommen!", behauptete Malik empört und warf Yami einen Blick zu. "Ist doch nicht meine Schuld, wenn er partout nicht einsehen will, dass ich Recht habe!", schob er noch hinterher und sein Grinsen bei diesen Worten war dermaßen entwaffnend, dass nun auch Yami lachen musste. "Daneben benommen trifft's wohl eher. Und du hast Unrecht", schoss er zurück, aber ehe die beiden sich wieder in ihre Diskussion vertiefen konnten, schnappte Yuugi sich die Hand seines Bruders und zog diesen mit sich. "Ihr könnt das ja morgen ausdiskutieren", schlug er vor und noch ehe Yami so recht wusste, was er da tat, hatte er auch schon genickt. "Klar, gerne. Und dann wirst du auch endlich einsehen, dass ich Recht habe!", wandte er sich an Malik, der grinsend den Kopf schüttelte. "Träum weiter!", war das letzte, was Yami noch hörte, ehe die Tür der Werkstatt hinter Yuugi und ihm ins Schloss fiel. Yuugi, der den Schlagabtausch mit wachsender Zufriedenheit beobachtet hatte, grinste still vor sich hin. So gefiel ihm sein großer Bruder schon viel besser. Also war die Sache mit dem Museum doch wirklich eine gute Idee gewesen. Yami hatte die Ablenkung bekommen, die er so dringend gebraucht hatte, und sie beide hatten nicht nur eine Menge faszinierender Artefakte zu sehen bekommen, sondern mit den Ishtar-Geschwistern auch noch wirklich nette und vor allem interessante Menschen kennen gelernt. Es war schön, den Namen, die ihr Großvater so oft erwähnt hatte, jetzt endlich Gesichter zuordnen zu können. "Also gehen wir morgen wieder hin?", wollte Yuugi rein rhetorisch wissen und verbiss sich ein Kichern, als sich ein halb grimmiges, halb amüsiertes Grinsen auf den Lippen seines Bruders zeigte. "Worauf du dich verlassen kannst, otouto!", versichert Yami ihm. Er würde, sobald er wieder zu Hause war, seine Unterlagen, die er von seinem Großvater bekommen hatte, durchsehen. Und morgen würde er Malik beweisen, dass er Recht gehabt hatte mit seiner Übersetzung, so viel stand jetzt schon fest! Yuugi beobachtete seinen großen Bruder von der Seite her. Ihm war nicht entgangen, wie viel Spaß dieser am heutigen Nachmittag gehabt hatte. Mal mit jemandem in seiner eigenen Altersklasse ausführlich über sein Faible für alles Ägyptische sprechen zu können war eben doch was ganz anderes, als immer nur mit ihrem Großvater darüber zu reden. Sicher, diese Gespräche wollte keiner von ihnen missen, aber es lagen doch Welten zwischen einem alten Mann, der schon alles gesehen und erlebt hatte, und jemandem, der noch genauso am Anfang all dessen stand wie sie beide. In allerbester Stimmung zog Yuugi seinen großen Bruder in Richtung des Busses, den sie nehmen mussten, um zur Kaiba-Villa zu kommen. Yami lachte, unternahm aber nichts dagegen, dass er wieder von seinem kleinen Bruder mitgeschleift wurde. Er war seinem kleinen Wiesnäschen eindeutig etwas schuldig für den heutigen Tag, das stand fest. Wäre Yuugi nicht so hartnäckig gewesen, dann säße er sicher immer noch in seinem Zimmer, vergraben in seiner schlechten Laune. Nein, so, wie es jetzt war, war es eindeutig besser. Es hatte wirklich gut getan, abgelenkt zu werden und sich immer wieder mal Wortgefechte mit Malik zu liefern. Der Ägypter war, sinnierte Yami, ganz schön stur. Aber gerade das war es, was ihm solchen Spaß gemacht hatte. Und morgen werde ich ihm endgültig beweisen, dass ich Recht habe – egal, was er davon hält! oOo Über die Schachpartie vergingen die nächsten Stunden für die beiden Kaiba-Brüder wie im Flug. Erst als Isono, der zwischenzeitlich zur Villa zurückgekehrt war, nach einem kurzen Telefonat wieder aufbrach, registrierten sowohl Seto als auch Mokuba, wie spät es inzwischen war. Draußen dämmerte es bereits und bei der Erinnerung daran, was das bedeutete, begannen Mokubas Augen zu leuchten. Bald würden ihre Eltern von ihrer Hochzeitsreise zurückkehren. "Ich hoffe, Ryuuji ist rechtzeitig wieder da, um Vater und Yukiko-san zusammen mit uns in Empfang zu nehmen!", platzte er heraus und erinnerte seinen älteren Bruder damit unversehens an die Person, deren Existenz er bis eben erfolgreich verdrängt gehabt hatte. "Bestimmt, otouto", murmelte Seto und verkniff sich mit Mühe ein Seufzen. Mit der Erwähnung Ryuujis waren all die Dinge, an die er eigentlich nicht mehr hatte denken wollen und die er in den letzten Stunden erfolgreich aus seinem Bewusstsein verbannt hatte, mit einem Mal wieder so präsent, dass es Seto schwer fiel, eine einigermaßen gleichgültige Fassade aufrecht zu erhalten. Er wollte definitiv nicht, dass Mokuba merkte, dass zwischen Ryuuji und ihm etwas vorgefallen war. Aber wie, fragte er sich, sollte er das geheim halten? Wenn Ryuuji auch nur ein einziges Wort über den Streit vom Donnerstagabend verlor, dann wäre er vor Mokuba in arger Erklärungsnot – von seinem Vater ganz zu schweigen. Es war wohl nur dem Urlaub, den ihr Vater sich genommen hatte, geschuldet, dass er bisher noch nichts von der desaströsen Party und dem Ausrutscher seines ältesten Sohnes erfahren hatte. Aber, sinnierte Seto, seine diesbezügliche Schonfrist würde wohl bald ablaufen. Wunderbar. Einfach wunderbar. Zwar war ihm dank seines Gesprächs mit Yami inzwischen bewusst, warum er sich an diesem Abend einen solchen Fauxpas geleistet hatte, aber das machte es nicht besser, denn das konnte er seinem Vater auf gar keinen Fall erklären. Aber wie sollte er sich sonst rechtfertigen? Wie konnte er seinem Vater gegenübertreten mit dem Wissen, wie es in ihm aussah? Die Türklingel unterbrach Setos Gedanken. Ehe er jedoch dazu kam, aufzustehen, war Mokuba auch schon aufgesprungen und vorausgerannt. "Vielleicht sind sie das schon!", rief der Fünfzehnjährige seinem Bruder über die Schulter hinweg zu, ehe er um die Ecke verschwand. Seto war versucht, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass ihr Vater ganz sicher nicht klingeln würde, aber da sein Bruder ihn ohnehin nicht mehr hören konnte, sparte er sich den Atem und folgte ihm stattdessen in den Flur, wo er sich zu seiner Überraschung nicht mit seinen Eltern und auch nicht, wie er schon halb befürchtet hatte, mit Ryuuji konfrontiert sah, sondern mit Yami und Yuugi. "Was für eine Überraschung", kommentierte Seto den Besuch der beiden Muto-Brüder, aber er kam nicht dazu, mehr zu sagen, denn Mokuba wedelte die beiden gleich hektisch durch in Richtung Wohnzimmer. Dabei plapperte er ununterbrochen auf Yuugi ein, was diesen jedoch in keinster Weise zu stören schien. Im Gegenteil, stellte Seto fest, denn Yamis kleiner Bruder war mindestens ebenso überdreht wie sein eigener. Und auch Yami sah im Gegensatz zum Vortag heute schon wesentlich fitter aus, wie der Brünette mit einem kurzen Blick bemerkte. "Wir kommen gerade aus dem Museum", erklärte Yami seinem besten Freund den ›Überfall‹ und begann dann, in seiner Tasche herumzukramen, in der er die Unterlagen für Setos Stiefbruder untergebracht hatte. "Ist Otogi auch da? Ich habe ihm die Hausaufgaben von gestern mitgebracht." Yami sprach absichtlich recht leise, so dass weder Yuugi noch Mokuba etwas davon mitbekamen. Dennoch zuckte Seto kurz zusammen und sein Blick huschte unwillkürlich zu seinem Bruder, aber der war so in sein Gespräch mit Yuugi vertieft, dass er tatsächlich nichts gehört hatte. "Er ist nicht hier. Ich weiß nicht, wann er gegangen ist. Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo er sich herumtreibt." Was Seto zugegebenermaßen ungemein wurmte, auch wenn er sich die größte Mühe gab, sich davon nichts anmerken zu lassen. Ob Ryuuji bei dem Kläffer und Kinoshita war? Und wenn ja, was mochten die Drei wohl tun? Nein, das waren Dinge, über die Seto ganz und gar nicht nachdenken wollte, also schob er sämtlichen diesbezüglichen Gedanken energisch einen Riegel vor. "Das ist blöd." Yami fischte die Unterlagen aus seiner Tasche und zögerte einen Moment, ehe er sie seinem besten Freund in die Hand drückte. "Gibst du sie ihm dann bitte? Yuugi und ich sollten langsam nach Hause, sonst kommen wir zu spät zum Essen. Und du weißt, wie unsere Mutter dann ist", murmelte er augenrollend und verbiss sich ein Seufzen, als er den Blick sah, mit dem Seto den Papierstapel in seiner Hand beäugte. Ihm war deutlich anzusehen, wie sehr es ihm missfiel, den Boten spielen zu müssen, aber eine andere Lösung gab es wohl wirklich nicht. Yamis Mutter war ein herzensguter Mensch, aber bei den wenigen Regeln, die sie ihren Söhnen setzte, erwartete sie, dass die beiden sie auch tatsächlich befolgten. Und gemeinsame Abendessen am Wochenende gehörten für sie einfach zum Familienleben dazu. Ganz uncharakteristisch seufzte Seto abgrundtief, ehe er seinem besten Freund zunickte. "Ich werde ihm die Unterlagen geben", versicherte er und Yami lächelte erleichtert. "Ich weiß, dass das für dich nicht einfach ist, Seto. Danke", murmelte er und winkte dann seinem kleinen Bruder zu, dass dieser sich von Mokuba loseisen sollte. "Wir müssen los, Yuugi", erinnerte er den Jungen und dieser verabschiedete sich noch kurz von seinem schwarzhaarigen Freund und dessen Bruder, ehe er sich Yami anschloss. Es war wirklich höchste Zeit, dass sie nach Hause kamen. Sobald die Tür hinter den Muto-Brüdern zugefallen war, gesellte Mokuba sich zu seinem eigenen Bruder, der noch immer vor der Wohnzimmertür stand. Neugierig versuchte er, einen Blick auf die Papiere zu werfen, die Seto in der Hand hielt, doch ehe er dazu kam, hatte der Ältere die Zettel auch schon zusammengefaltet und in seiner Hosentasche verstaut. Das Wissen, dass er nach dessen Heimkehr zumindest kurzzeitig mit Ryuuji würde sprechen müssen, wenn er ihm die Unterlagen überreichte, verursachte ihm beinahe schon Magenschmerzen, aber er gab sich Mühe, sich davon nichts anmerken zu lassen. Kurzzeitig war Seto sogar versucht, die Unterlagen einfach in Ryuujis Zimmer auf den Schreibtisch zu legen, aber die Erinnerung an den Streit vom Donnerstagabend und das Gespräch, das er am Vorabend heimlich belauscht hatte, hinderte ihn daran. Wenn es nach ihm ging, würde er diesen Raum nicht mehr betreten, solange Ryuuji mit ihnen unter einem Dach lebte. Blieb wohl nur, den Schwarzhaarigen abzufangen, wenn er nach Hause kam, und ihm einfach nur schnell die Unterlagen zu überreichen. Mit ihm reden, sinnierte Seto, musste er ja nicht zwangsläufig. Ryuuji war schließlich durchaus des Lesens mächtig, also würde er sich ja wohl denken können, was er mit den Zetteln zu tun hatte. oOo "Gnade, Blankey! Ich kann nicht mehr!" Lachend und japsend ließ Ryuuji sich wieder auf die Bank fallen, auf der er Ryous Englischsachen deponiert hatte. Während der letzten Stunden hatten Honda und er Hondas Hündin Blankey gemeinsam bespaßt, waren mit ihr über die Wiese getollt und hatten so lange ihren Ball immer wieder geworfen, bis Ryuuji sich sicher war, dass ihm bald der Arm abfallen würde. Nicht, dass das Blankey in irgendeiner Form davon abgehalten hatte, immer und immer wieder den Ball zu bringen und die beiden Jungen abwechselnd bettelnd anzusehen – so lange, bis sich einer von ihnen erbarmt und den Ball doch noch ›ein letztes Mal‹ für sie geworfen hatte. "Sag mal, lädt dein Hund sich eigentlich durch Bewegung selbst wieder auf?", wollte der Schwarzhaarige noch immer etwas außer Atem von seiner Zufallsbekanntschaft wissen, als Blankey schon wieder mit dem Ball angerannt kam und ihn dieses Mal zur Abwechslung Honda in die Hand drückte. "Ich glaub schon", erwiderte dieser mit einem breiten Grinsen, setzte sich ebenfalls auf die Bank und bedeutete seiner Hündin dann, sich vor ihnen auf die Wiese zu legen. Dann gab er ihr den Ball zurück, auf dem sie gleich voller Enthusiasmus herumzukauen begann. Ryuuji beobachtete Blankey einen Moment lang fassungslos, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder ihrem Herrchen zu und sah diesen vorwurfsvoll an. "Heißt das, wir hätten schon viel eher eine Pause machen können und du hast mich völlig umsonst die ganze Zeit immer wieder über die Wiese gehetzt?", erkundigte er sich und Hondas Grinsen bekam etwas Ertapptes. "Vielleicht?", gab er zu und lachte, als der Schwarzhaarige ihn für dieses halbe Geständnis empört gegen den Oberarm boxte. "Du sahst nicht aus, als hätte es dir nicht gefallen", verteidigte er sich. "Und so ein bisschen Bewegung schadet dir schon nicht." "Ein ›bisschen Bewegung‹? Das war kein ›bisschen Bewegung‹, das war Folter!", beschwerte Ryuuji sich, aber auch seine Mundwinkel zuckten und straften seine Beschwerde so Lügen. Eigentlich, wenn er es so genau bedachte, war es gar nicht so schlimm gewesen. Im Gegenteil. Honda und Blankey hatten ihn sogar sehr gut beschäftigt und abgelenkt. Er hatte während der letzten Stunden absolut keine Zeit gehabt, in Grübeleien über Seto zu versinken, und dafür war er eindeutig dankbar. So gut, wie er sich gerade fühlte, würde es später sicher kein Problem sein, für seine Mutter zumindest zeitweise heile Welt zu spielen. "Dann stehst du wohl auf Folter." Honda lachte wieder und Ryuuji konnte nicht anders als mit einzustimmen. "Scheint so", gestand er amüsiert, aber ehe er noch mehr sagen konnte, unterbrach ihn das Klingeln seines Handys. "Sorry", wandte er sich kurz an seinen Sitznachbarn, ehe er das Gespräch entgegennahm. "Hey, Ryou", begrüßte er den Anrufer und schmunzelte, als er nicht nur Ryous, sondern auch Bakuras Stimme im Hintergrund hörte. "Okay, ich sag Isono-san Bescheid. Sag deinem Bruder, wir liefern ihn auch eben zu Hause ab, wenn er will. Wir treffen uns am Parkausgang, wo wir uns heute Mittag getrennt haben, okay?", bot er an, wartete noch kurz Ryous Bestätigung ab, ehe er das Gespräch beendete und Isono-san anrief. Sobald dieser ihm versichert hatte, dass er umgehend losfahren würde, beendete er auch dieses Gespräch und ließ das Handy wieder in seine Hosentasche gleiten. "Dann sollten Blankey und ich wohl auch so langsam nach Hause." Honda erhob sich von der Bank, streckte sich kurz und grinste, als Blankey gleich enthusiastisch aufsprang. "Nein, wir spielen jetzt nicht weiter. Wir gehen nach Hause", erklärte er ihr und nun grinste auch Ryuuji. "Blankey, du bist unmenschlich", warf er der Hündin vor, meinte die Worte aber keinesfalls böse. Es hatte gut getan, einfach nur herumzurennen und ab und zu von Blankey angesprungen und umgeworfen zu werden. Seine Probleme hatten sich dadurch zwar nicht in Luft aufgelöst, aber er fühlte sich auf jeden Fall schon wesentlich mehr im Gleichgewicht als am Mittag. "Bist du öfter mit ihr hier?", erkundigte Ryuuji sich daher und Honda blinzelte einen Moment lang irritiert, ehe er nickte. Dabei schlich sich gleich wieder ein kleines Grinsen auf seine Lippen. "Also sind wir dir nicht auf die Nerven gefallen? Oder willst du einfach nur weiter deinem Fetisch frönen und dich öfter foltern lassen?", neckte er den Schwarzhaarigen und dieser zwinkerte ihm grinsend zu. "Vielleicht?", gab er ebenso neckend zurück. Doch, dachte er dabei, so etwas wie das hier konnte er durchaus öfter gebrauchen. "Blankey und ich sind eigentlich jeden Tag hier. Ich wohne hier ganz in der Nähe, da bietet sich das an." Honda deutete ein Kopfnicken in Richtung des Parkausgangs an und Ryuuji schmunzelte. "Was hab ich ein Glück", kommentierte er das und machte sich gemeinsam mit Honda, Blankey und Ryous Englischsachen auf den Weg zum Treffpunkt. Inzwischen war es reichlich spät und er sollte wohl wirklich zusehen, dass er nicht nur Ryou und Bakura nach Hause brachte, sondern selbst auch nach Hause kam. Immerhin würden seine Mutter und Gozaburo-san im Laufe des Abends von ihrer Hochzeitsreise zurückkommen und da sollte er schon anwesend sein, um die beiden zu begrüßen. Den Gedanken daran, dass er dadurch zwangsläufig auch Seto wieder gegenübertreten musste, drängte er fürs Erste weit in den hintersten Winkel seines Bewusstseins zurück. Darüber konnte er sich auch später noch Sorgen machen, aber nicht jetzt. Schon aus mehreren Metern Entfernung war die kaibasche Limousine, die inzwischen bereits eingetroffen war und am Ausgang des Parks stand, deutlich zu sehen. Und, stellte Ryuuji fest, Ryou und Bakura, die offenbar schon vor ihm den Ausgang erreicht hatten, warteten gemeinsam mit Isono-san bereits auf ihn. "Sieht aus, als wäre dein Begrüßungskomitee da", witzelte Honda bei dem Anblick und Ryuuji grinste. "Scheint ganz so." "Dann solltest du deine Fans lieber nicht noch länger warten lassen." Honda hob noch mal die Hand zum Abschied und wartete, bis Ryuuji sich auch noch eben von Blankey verabschiedet hatte, dann machte er sich gemeinsam mit ihr auf den Heimweg, während Ryuuji sich zu der wartenden Gruppe gesellte. Und kaum dass er die Drei erreicht hatte, grinste Bakura ihm auch schon entgegen. "Du machst dir wohl überall Freunde, was?", flachste er und Ryuuji lachte. "Es ist eine Gabe, Bakura", konterte er und zwinkerte dem Älteren der beiden Weißhaarigen zu, ehe er gemeinsam mit ihnen in die Limousine stieg, deren Tür Isono-san bereits für sie aufhielt. Ryou, der den Schlagabtausch – wenn man die Neckerei denn so nennen konnte – zwischen seinem Bruder und Ryuuji beobachtet hatte, ertappte sich dabei, nach Anzeichen für die unglückliche Verliebtheit zu suchen, von der Kura ihm erzählt hatte, aber er konnte nichts entdecken. Ryuuji erschien ihm ganz genau wie sonst auch, wenn er ihn bisher getroffen hatte: gut gelaunt, immer mit einem flotten Spruch auf den Lippen und mit einem Selbstbewusstsein, das absolut unerschütterlich zu sein schien. Kein Wunder, dass Mokuba so schrecklich in ihn verknallt ist, dachte der Fünfzehnjährige und seufzte – ein Fehler, rückte ihn dies doch gleich wieder in den Fokus seines großen Bruders. Und auch Ryuuji warf ihm einen fragend-besorgten Blick zu, der dem Jungen direkt wieder die Schamesröte in die Wangen trieb. Ryuuji, der zumindest eine vage Vermutung hatte, was Ryou durch den Kopf ging, wollte eigentlich gerade nachhaken, verkniff sich das jedoch, als Bakura einfach nur einen Arm um die Schultern seines kleinen Bruders legte und ihn so an sich zog. Er sagte nichts, aber Ryous zufriedenes Seufzen und sein Gesichtsausdruck, der zwischen Freude über diese kleine Geste und Sorgen wegen seines Gefühlschaos schwankte, sprach Bände. Der Fünfzehnjährige hatte seine Augen geschlossen und so entging ihm der Blick, den Ryuuji und Bakura über seinen Kopf hinweg wechselten, vollkommen. Er war einfach nur froh, dass sein Bruder immer noch da war und dass Ryuuji angeboten hatte, dass Bakura mitfahren konnte, denn so verlängerte sich das bisschen Zeit, das er mit ihm verbringen konnte, um ein paar kostbare Minuten. Dennoch war die Fahrt viel zu schnell für Ryous Geschmack wieder zu Ende. Ein leises Klopfen an der Scheibe der Limousine riss den Jungen aus seinen Gedanken. Widerstrebend löste er sich von seinem Bruder. "Danke, Kura. Für alles", nuschelte er so leise, dass es hoffentlich nur sein Bruder verstehen konnte, ehe er gemeinsam mit Ryuuji ausstieg. Der Schwarzhaarige begleitete ihn noch bis zur Haustür und hielt ihn auf, ehe er diese aufschließen konnte. "Ich hab mir deine Englischsachen mal angesehen und ein paar Anmerkungen reingeschrieben. Nur für den Fall, dass dein Dad kontrolliert, ob wir auch wirklich gelernt haben", ließ er Ryou wissen und händigte diesem seine Unterlagen wieder aus. Der Fünfzehnjährige schluckte hart, aber der Kloß, der in seinem Hals festsaß, wollte sich nicht lösen. Dabei wäre es so leicht, ›Danke‹ zu sagen, aber er brachte das Wort einfach nicht über die Lippen. Allerdings schien Ryuuji auch nichts dergleichen erwartet zu haben, denn er sprach direkt weiter. "Und wenn noch mal irgendwas ist oder du mit deinem Bruder sprechen musst, sag mir einfach Bescheid. Meine Nummer hast du ja jetzt. Ich geb's dann direkt an Bakura weiter. Okay?", bot er an. Ryou schluckte erneut und verfluchte seine Eifersucht. Auch wenn er durch sein Gespräch mit seinem Bruder jetzt wusste, dass Ryuuji keinerlei Interesse an Mokuba hatte – jedenfalls nicht die Art von Interesse, die er selbst an Mokuba hatte –, änderte das doch rein gar nichts an Mokubas Gefühlen seinem Stiefbruder gegenüber. "Danke." Das Wort kam so leise aus Ryous Mund, dass er sich schon fast sicher war, dass Ryuuji ihn nicht gehört hatte, doch der Schwarzhaarige hatte ihn durchaus verstanden. "Kein Ding, Ryou. Wirklich nicht. Wie gesagt, wenn du noch mal irgendwas brauchst, ruf mich einfach an", wiederholte er sein Angebot, drückte den Jungen zum Abschied noch einmal und sprintete dann zurück zur Limousine. Durch die getönten Scheiben hatte Bakura seinen kleinen Bruder die ganze Zeit über beobachtet. Er war absichtlich nicht ausgestiegen, damit sein Vater ihn nicht durch einen Zufall noch sah und begriff, dass Ryou den Nachmittag nicht mit Lernen, sondern mit seinem älteren Bruder verbracht hatte. Als Ryou die Tür öffnete und nach einem letzten Winken, das sowohl Ryuuji als auch Bakura galt, im Inneren des Hauses verschwand, seufzte der Neunzehnjährige abgrundtief, aber er sagte nichts. Und Ryuuji, der inzwischen ebenfalls wieder eingestiegen war und Isono-san Katsuyas Adresse genannt hatte, um Bakura noch eben zu Hause abzusetzen, schwieg ebenfalls. Bakura sah nicht aus, als stünde ihm im Moment der Sinn nach Konversation. Erst als der Wagen vor dem Haus, in dem Katsuya und inzwischen auch Bakura wohnten, anhielt, brach Ryuuji das Schweigen. "Ich hab Ryou gesagt, dass er sich bei mir melden soll, wenn er noch mal mit dir sprechen will. Dann sag ich dir direkt Bescheid. Ich hoffe, das ist okay", ließ er den Weißhaarigen wissen und dieser schwieg noch einen Moment, ehe er knapp nickte – eine Geste, die Ryuuji als so typisch für Bakura empfand, dass er unwillkürlich schmunzeln musste. Bloß nicht ein Wort zu viel verlieren, dachte er bei sich, aber seltsamerweise störte ihn Bakuras Einsilbigkeit kein bisschen. So war er eben. "Hast was gut bei mir", überraschte Bakura seinen schwarzhaarigen Klassenkameraden doch noch mit einer verbalen Antwort, ehe er ausstieg und die Tür so hastig hinter sich zuschlug, dass Ryuuji kichern musste. Offenbar war es Bakura hochgradig peinlich, solche Nettigkeiten von sich zu geben, und deshalb glich er sie mit besonders schroffem Verhalten direkt wieder aus. "Ich denke, es wird Zeit, dass ich nach Hause komme", wandte Ryuuji sich an Isono-san, sobald er sich von seinem Anfall von Heiterkeit wieder erholt hatte. Isono-san nickte nur, fuhr die Trennwand wieder hoch und gleich darauf setzte sich die Limousine in Bewegung. Und jetzt, wo Ryuuji ganz allein mit seinen Gedanken war, drohte all das, was er den ganzen Nachmittag über verdrängt hatte, wieder an die Oberfläche zu kommen, doch er schob dem Ganzen energisch einen Riegel vor und lenkte sich mit Erinnerungen an die Zeit im Park ab, bis die Limousine zum Halten kam und Isono-san ihm die hintere Tür öffnete. "Vielen Dank, Isono-san", bedankte Ryuuji sich bei ihm und betrat dann die Villa, wo ihn keine zehn Sekunden später Mokuba auch schon beinahe über den Haufen rannte. Der Fünfzehnjährige schaffte es mit Mühe und Not, rechtzeitig zum Stehen zu kommen, und lief scharlachrot an, als sein Stiefbruder ihn aufgrund dieser Aktion breit angrinste. "Na, hast du mich so sehr vermisst, dass du mir direkt in die Arme rennen musst?", neckte Ryuuji den Jüngeren und Mokubas Gesichtsfarbe wurde noch etwas dunkler. "I-Ich dachte, das wären vielleicht Vater und deine Mutter", erklärte er seine Hast und Ryuuji wuschelte ihm grinsend durch die Haare. "Dachte ich mir schon", erwiderte er gut gelaunt und drückte Mokuba kurz, ehe er sich erst mal seiner Jacke und seiner Schuhe erledigte. Mokuba, der die Zeit genutzt hatte, um seinen Stiefbruder von oben bis unten zu mustern, zog fragend die Stirn kraus. An Ryuujis Jacke und auch an seiner Hose klebten Grashalme, die da ganz sicher noch nicht gewesen waren, als der Ältere am Mittag losgezogen war. "Bist du über eine Wiese gerollt?", wollte Mokuba wissen und Ryuuji schmunzelte. "Eher auf eine Wiese geworfen worden", korrigierte er, gab jedoch keine weitere Erklärung ab. "Ich denke, ich sollte mich erst mal umziehen. Mum kriegt sonst einen Schreck, wenn sie mich so sieht." Damit ließ er seinen Stiefbruder im Flur der Villa stehen und sprintete nach oben in sein Zimmer, um sich dort erst einmal mit frischer Kleidung zu versorgen. Mokubas Neugier, die ihm deutlich sichtbar ins Gesicht geschrieben stand, konnte er auch später noch stillen. Kapitel 23: Samstag IV - Alte und neue Probleme ----------------------------------------------- Seto, der die Begrüßung Ryuujis durch seinen kleinen Bruder aus der Küche mit angehört hatte, zögerte einen Moment, doch dann gab er sich einen Ruck und folgte seinem Stiefbruder nach oben. Je eher er diesem die Unterlagen, die Yami für ihn da gelassen hatte, brachte, desto eher hatte er es hinter sich. Diesem durch und durch pragmatischen Gedankengang zum Trotz schlug Seto das Herz bis zum Hals und er hatte das Gefühl, dass die Zettel ihm förmlich ein Loch in seine Hosentasche brannten. Er war sich nicht sicher, was er sagen sollte, und so stand er erst einmal mehr als eine Minute unschlüssig im Flur, ehe er seine Fassung weit genug wiedergewonnen hatte, dass er sich sicher war, an Ryuujis Zimmertür klopfen zu können, ohne dass dieser ihm würde ansehen können, was in ihm vorging. "Come in." Ryuuji, der mit Mokuba und nicht mit Seto gerechnet hatte, hielt im Zuknöpfen des roten Hemds, für das er sich entschieden hatte, inne, als der Brünette seine Zimmertür öffnete. Seto betrat den Raum jedoch nicht, sondern zog einfach nur ein paar gefaltete Blätter aus seiner Hosentasche und reichte sie dem Schwarzhaarigen. "Yami hat die Hausaufgaben von gestern für dich notiert", erklärte er betont kühl, obwohl es in seinem Inneren alles andere als ruhig oder kühl zuging. Ihm lag die Frage auf der Zunge, wo Ryuuji den ganzen Tag gesteckt hatte, aber er schluckte diese Frage ebenso hinunter wie die nach der unerklärlich guten Laune, die der Schwarzhaarige bei seiner Heimkehr versprüht hatte. War er etwa wirklich bei dem Köter gewesen? War er deshalb so gut gelaunt? Hatte Jounouchi sich vielleicht doch für ihn und gegen Kinoshita entschieden? Oder hatten die Drei vielleicht … Nein. Nein! Seto verbot sich selbst energisch, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Das waren Dinge, die er nun wirklich ganz und gar nicht wissen wollte – egal, wie vehement seine innere Stimme auch das Gegenteil behauptete. "Das ist nett von ihm. Ich mach mich nachher direkt dran, wenn Mum und euer Vater wieder da sind." Wie es ihm gelang, sich zu verhalten, als wäre alles in Ordnung und als hätte es den Streit vom Donnerstag nie gegeben, war Ryuuji ein Rätsel. Aber er war dankbar dafür, dass sein Pokerface saß und dass Seto offenbar nicht auffiel, wie aufgewühlt und verletzt er eigentlich immer noch war. Diese Dinge gingen ihn auch ganz und gar nichts an, also war es besser, dass er nichts bemerkte. "Ist noch was? Sonst würde ich mich gerne fertig anziehen, bevor ich runterkomme." Für einen Moment huschten Setos Augen zu dem noch immer nicht ganz geschlossenen Hemd seines Stiefbruders und sein Blick blieb vielleicht eine Sekunde zu lange an Ryuujis Tattoo hängen, dann riss er sich fast schon gewaltsam von dem Anblick los und war nach einem "Wir sind im Wohnzimmer" auch schon wieder verschwunden. Draußen vor der geschlossenen Tür schalt er sich selbst einen Narren. Er wusste doch seit gestern mehr als deutlich, dass das, was er sich wünschte, für ihn unerreichbar war. Warum also, fragte er sich, quälte er sich selbst damit, es länger anzusehen als nötig war? Kaum dass die Tür hinter seinem Stiefbruder ins Schloss gefallen war, sank Ryuuji auf sein Bett, ließ sich nach hinten kippen und starrte abgrundtief seufzend an seine Zimmerdecke. So viel dazu, dass er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Das war ja wohl doch nur Wunschdenken gewesen. Um ein Haar hätte er Seto am Kragen seines eigenen Hemdes gepackt und zu sich in sein Zimmer gezerrt, um ihn zu küssen – richtig dieses Mal, nicht nur keusch auf den Mund wie am Abend des Maskenballs. Nur mit allergrößter Willensanstrengung war es ihm gelungen, genau das eben nicht zu tun. So eine verdammte Scheiße! Warum konnte man ungewollte Gefühle eigentlich nicht abstellen oder irgendwo umtauschen? Das war einfach nicht fair! Seto, der inzwischen wieder im zur Zeit glücklicherweise leeren Wohnzimmer angekommen war, setzte sich an den Tisch, an dem er am Nachmittag mit seinem Bruder Schach gespielt hatte, und vergrub in einer für ihn vollkommen untypischen Geste das Gesicht in den Händen. Warum nur konnte er trotz allem, was er jetzt wusste, einfach nicht aufhören, an etwas zu denken und sich etwas zu wünschen, was sowieso nie passieren würde? Dabei ist es doch besser so. Ja, es war besser, wenn es zwischen Ryuuji und ihm keinerlei Annäherung mehr gab, denn das würde alles nur unnötig verkomplizieren. Wie sollte er seinem Vater wohl beibringen, dass er solche … Gefühle hatte – und das auch noch ausgerechnet für seinen Stiefbruder? Nein, es war besser, wenn er gar nicht mehr darüber nachdachte. Er musste sich diese Dinge einfach nur wieder aus dem Kopf schlagen, auch wenn es noch so wehtat. Aber wie sollte er das schaffen, wenn schon allein Ryuujis Anblick vollkommen ausreichte, um in ihm diese Sehnsucht zu wecken, von der er gar nicht gewusst hatte, dass er so etwas überhaupt empfinden konnte? Als Mokuba, der gerade noch einen kurzen Abstecher ins Bad gemacht hatte, zurück ins Wohnzimmer kam, hatte Seto sich zumindest äußerlich wieder gefasst. Nichts in seinem Gesicht deutete noch darauf hin, worüber er gerade nachgedacht hatte. Bedächtig hatte er begonnen, eine Partie Schach gegen sich selbst zu spielen. Mokuba, der genau wusste, dass sein Bruder das meistens dann tat, wenn er über ein Problem nachdachte, für das er sonst keine Lösung fand, nahm Seto gegenüber Platz und beobachtete ihn, sprach ihn aber nicht an, um seine Konzentration nicht zu stören. Seto wusste schon, was er tat. Knapp zehn Minuten nach Seto betrat auch Ryuuji das Wohnzimmer, nickte Mokuba kurz zu und ließ sich dann in einen der bequemen Sessel fallen. Mokuba zögerte einen Moment und sah noch einen Augenblick lang dabei zu, wie sein Bruder seinen nächsten Zug sorgfältig abwog, dann erhob er sich leise, ging zu Ryuuji hinüber und hockte sich auf die Couch neben dem Sessel, in dem dieser saß. "Wo warst du den ganzen Nachmittag, Ryuuji?", ließ er seiner Neugier freien Lauf und der Siebzehnjährige schmunzelte. Irgendwie hatte er schon damit gerechnet, dass Mokuba ihn ausfragen würde. Zum Glück wusste er auch genau, was er ihm sagen konnte. "Im Park. Ich brauchte ein bisschen frische Luft und hab da zufällig jemanden getroffen, den ich letztens auf dem Maskenball kennengelernt hab", erzählte er also mit einem Zwinkern. Dass er sich eigentlich mit Ryou getroffen hatte und dass er Honda am Abend des Maskenballs nicht mal wirklich kennengelernt, sondern nur am Rande überhaupt wahrgenommen hatte, ließ er galant unter den Tisch fallen. Das war ja auch nicht so wichtig. Wichtig war, dass ihm die Gedanken an den vergangenen Nachmittag recht gut dabei halfen, sich ganz normal zu benehmen und sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm es ihm war, sich mit Seto im gleichen Raum aufzuhalten. "Und warum hattest du dann überall Gras auf deinen Klamotten?", bohrte Mokuba weiter und Ryuuji lachte leise. "Weil Hondas Hündin mich für ein Hundespielzeug gehalten hat", antwortete er amüsiert. "Blankey hatte eine Menge Spaß daran, uns beide wie die Idioten über die Wiese rennen zu lassen wegen ihrem Ball. Und hin und wieder hat sie einen von uns einfach mal umgerannt, wenn wir ihr im Weg waren", erzählte er gut gelaunt weiter und Seto, der sich bei der Erwähnung des Maskenballs unwillkürlich versteift hatte – hoffentlich sagte Ryuuji Mokuba gegenüber nichts Falsches über diesen Abend und das, was passiert war! –, atmete unhörbar auf, als Ryuuji erklärte, wo und vor allem wie er den Nachmittag verbracht hatte. Also war er nicht bei dem Köter. Der Gedanke stellte sich ungebeten ein und ließ sich ebenso wenig abschütteln wie die vollkommen unpassende Erleichterung, die Seto im gleichen Augenblick überflutete. Er wusste nicht, was er getan hätte, wenn Ryuuji erzählt hätte, dass er die letzten Stunden mit Jounouchi und Kinoshita verbracht hatte. Seto war sich jedoch absolut sicher, dass seine Reaktion auf eine derartige Eröffnung alles andere als angebracht gewesen wäre. Es war also deutlich besser, dass ihm das erspart blieb. Das Gelächter der beiden Schwarzhaarigen riss Seto wieder aus seinen Grübeleien. Die Konzentration auf seine Schachpartie ließ schon seit Ryuujis Ankunft im Wohnzimmer stark zu wünschen übrig, aber jetzt war es damit komplett vorbei. Er starrte den Turm, den er in der Hand hielt, an, als hätte er noch nie in seinem Leben eine Schachfigur gesehen. Mit einem Mal machte keiner der Züge, die ihm eben vorgeschwebt hatten, überhaupt noch einen Sinn, so dass er schließlich einfach nur den Turm auf das Brett stellte und alle Figuren wieder in ihre Ausgangspositionen zurückschob. Jetzt noch spielen zu wollen hatte einfach keinen Zweck. Egal, wie sehr er es auch versuchte, er konnte weder seine Ohren vor dem Gespräch verschließen, das Mokuba und Ryuuji führten, noch konnte er sein Gedankenkarussell anhalten. "Stören wir, Seto? Wir können auch so lange in mein Zimmer gehen, wenn dir das lieber ist." Ryuujis Vorschlag brachte Seto dazu, vom Schachbrett aufzusehen. Ein blaues und ein grünes Augenpaar musterten ihn und der Brünette musste sich förmlich dazu zwingen, nicht einfach aufzustehen und seinerseits das Wohnzimmer zu verlassen. Aber das wäre einer Flucht gleichgekommen und Flucht war eines Kaibas einfach nicht würdig. Aus diesem Grund blieb er, wo er war, und schüttelte einfach nur den Kopf. "Ihr müsst nicht gehen", schob er noch hinterher, als er die Besorgnis in Mokubas Blick erkannte. Das fehlte ihm gerade noch, dass sein kleiner Bruder anfing zu hinterfragen, was mit ihm los war. "Wenn du meinst." Ryuuji war sich nicht sicher, ob auf seiner Seite die Erleichterung darüber überwog, dass er Seto offenbar zumindest im Moment nicht störte, oder ob er sich doch lieber wünschen sollte, dass der Brünette seinem Vorschlag zugestimmt hätte. Immerhin wäre er in seinem Zimmer außerhalb von Setos Reichweite und müsste ihn auch nicht ansehen. Aber, ermahnte er sich selbst, es war besser, wenn er sich daran gewöhnte. Ob er wollte oder nicht, die nächsten Monate würde er nun mal nicht nur mit Mokuba, sondern auch mit Seto unter einem Dach verbringen. Außerdem konnte er schließlich nicht ständig flüchten, denn das würde auf jeden Fall irgendwann auffallen. Und wie sollte er seiner Mutter das erklären? Ehe einer der Drei noch etwas sagen oder tun konnte, war von draußen die Ankunft der Limousine hörbar. Sofort sprang Mokuba von der Couch auf und sprintete freudestrahlend zur Tür, um seine Eltern als Erster in Empfang zu nehmen. Ryuuji sah ihm einen Moment lang schmunzelnd nach, ehe er sich selbst auch erhob, um dem Jüngeren zu folgen. Seto, der nur ein paar Sekunden zuvor der den gleichen Gedanken gehabt hatte und bereits auf dem Weg war, konnte gerade noch verhindern, dass er mit seinem Stiefbruder zusammenstieß. Grüne Katzenaugen blickten erschrocken zu ihm auf und für eine endlose Sekunde schien die Zeit förmlich einzufrieren. Alles, was Seto noch wahrnahm, war, wie unglaublich nah er Ryuuji gerade war. Das letzte Mal, als er ihm so nah gewesen war, hatte er nicht gewusst, wen er da vor sich gehabt hatte, und doch hatte er an ihn gedacht. Aber jetzt wusste er es ganz genau. Und er wollte nichts mehr als diesen Fehler, den er am Abend des Maskenballs gemacht hatte, noch einmal zu wiederholen – dieses Mal jedoch im vollen Bewusstsein, wen er küssen würde. "Vater!" Mokubas freudiger Aufschrei unterbrach den Moment und verhinderte alles, was hätte sein können. Seto fuhr zurück, als hätte er sich verbrannt. Und noch ehe er etwas sagen oder tun konnte, war Ryuuji auch schon an ihm vorbeigegangen und gesellte sich in den Flur zu Mokuba, um ihre heimgekehrten Eltern zu begrüßen. Hätte ich ihn wirklich um ein Haar …? Seto fand keine Antwort auf diese Frage. Aber wie auch immer diese Antwort wohl gelautet hätte, es war zu spät zum Spekulieren. Der Moment war vorbei. Und noch einmal, das schwor Seto sich bei allem, was ihm heilig war, würde er nicht so unvorsichtig sein. Ab jetzt würde er sich noch weiter von Ryuuji fernhalten, denn offenbar konnte er sich selbst in der Nähe des Schwarzhaarigen einfach nicht trauen. Ryuuji, der sich selbst nicht ganz sicher war, was da gerade um ein Haar geschehen wäre, hatte Mühe, sich vor seiner Mutter und seinem Stiefvater nichts von dem Aufruhr in seinem Inneren anmerken zu lassen. Er war hochgradig durcheinander, denn für den Bruchteil einer Sekunde hatte Seto ihn tatsächlich angesehen, als würde er ihn doch nicht hassen. Nein, in den faszinierenden blauen Augen des Brünetten hatte ein anderer Ausdruck gelegen – ein Ausdruck, den Ryuuji nicht so recht zu deuten wusste. Und genau das verwirrte ihn über alle Maßen. Hasste Seto ihn nun oder hasste er ihn vielleicht doch nicht? Verdammt, kann er sich nicht endlich mal entscheiden? Wenn er sich so seltsam aufführte, machte er alles nur noch schwerer. Als seine Mutter nach der Begrüßung Mokubas zu ihm herumschwenkte, schob Ryuuji sämtliche Gedanken an Seto und alles, was mit seinen eigenen Gefühlen für seinen älteren Stiefbruder zu tun hatte, ganz weit in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. "Hi, Mum. Na, wie war die Reise?", erkundigte er sich stattdessen und stellte zu seiner grenzenlosen Erleichterung fest, dass offenbar niemand bemerkte, wie schwer es ihm fiel, einen leichten Plauderton anzuschlagen. "Sehr schön", beantwortete Yukiko die Frage ihres Sohnes und lächelte, als dieser sie wie üblich zur Begrüßung umarmte und ihr einen Kuss auf die Wange hauchte. "Das freut mich für dich. Für euch beide", murmelte Ryuuji und lächelte ebenfalls – ein Lächeln, das die nächsten Worte seiner Mutter um ein Haar von seinen Lippen gewischt hätten. "Und wie war eure Woche? Hast du dich gut mit Seto vertragen?", wollte Yukiko wissen und Ryuuji fluchte innerlich, ließ sich davon aber nichts anmerken. "Klar, Mum", log er stattdessen. Jetzt war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, um über den Streit vom Donnerstagabend auch nur nachzudenken. Blieb nur zu hoffen, dass Seto seinerseits auch die Klappe hielt. Der Brünette, der seinen beiden Brüdern inzwischen auch in den Flur gefolgt war, begrüßte die Heimkehrer ebenfalls. Dabei hielt er sich so weit von Ryuuji fern, wie es ihm möglich war, ohne dass irgendjemandem auffallen würde, dass er Abstand zu seinem Stiefbruder wahrte. Allerdings war der Flur nicht so groß, dass er Ryuujis Worte an seine Mutter nicht trotzdem gehört hätte. Für einen Moment war er tatsächlich überrascht, dass Ryuuji mit keiner Silbe den Streit erwähnte, den sie erst vor zwei Tagen gehabt hatten. Aber wenn Yukiko-san nichts von der Sache mit dem Kleid oder gar von Ryuuji und dem Köter wusste, dann erklärte das in seinen Augen alles. Unter diesen Umständen war es wohl nur zu verständlich, dass Ryuuji seiner Mutter gegenüber nicht die Wahrheit über die vergangene Woche sagte. Allerdings kam Seto nicht umhin, die Leichtigkeit zu bewundern, mit der die Lüge dem Schwarzhaarigen über die Lippen kam. Hätte er nicht gewusst, dass zwischen ihnen eben bei weitem nicht alles in Ordnung war, dann hätte er nach Ryuujis Worten um ein Haar selbst daran geglaubt, dass hinter ihnen eine vollkommen ereignislose Woche lag und nicht eine, die sein ganzes Leben und seine gesamte Gefühlswelt völlig auf den Kopf gestellt hatte. Unwillig über diese Gedanken den Kopf schüttelnd ging Seto gemeinsam mit dem Rest seiner Familie hinüber ins Esszimmer, um seit über einer Woche das erste Abendessen gemeinsam einzunehmen. Und hier setzte sich fort, was schon im Flur begonnen hatte. Ryuuji benahm sich, als wäre absolut nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen. Er sprach Seto zwar nicht sehr oft direkt an, aber wenn er es tat, dann sah er ihn offen an und machte keinesfalls den Eindruck, als wären sie etwas anderes als Stiefbrüder, die in der letzten Woche genügend Zeit gehabt hatten, sich aneinander zu gewöhnen und eine Möglichkeit zu finden, miteinander auszukommen. Seto selbst hatte mehr Mühe damit, sich zu verstellen, aber da er ohnehin beim Essen meist recht wortkarg und einsilbig blieb, fiel das glücklicherweise niemandem auf. Nicht einmal Mokuba merkte etwas von der Schmierenkomödie, die hier gespielt wurde. Ryuuji seinerseits war verdammt froh, dass niemand ihm ansah, was in seinem Inneren vorging. Es war alles andere als einfach, Seto anzusehen und weder an den Streit vom Donnerstag zu denken noch an das seltsame Verhalten des Brünetten vorhin im Wohnzimmer. Zum Glück bestritt Mokuba einen Gutteil der Unterhaltung, indem er ihre Eltern über die Hochzeitsreise ausfragte, und so brauchte er selbst nur hin und wieder an der richtigen Stelle einen Kommentar abzugeben und niemand bemerkte, dass seine Gefühle und Gedanken Achterbahn fuhren. Nach dem Abendessen entschuldigte Yukiko sich mit der Begründung, dass sie die Koffer auspacken wollte, und Ryuuji schloss sich seiner Mutter an, um ihr zu helfen. So, dachte er pragmatisch, konnte er den Rückzug antreten, ohne dass es aussehen würde wie eine Flucht. Und wenn er danach direkt in sein Zimmer ging, musste er Seto auch zumindest an diesem Abend nicht noch mal unter die Augen treten. Win-win, sozusagen. Seto beobachtete, wie seine Stiefmutter gemeinsam mit Ryuuji nach oben ging, und unterdrückte ein Seufzen. Ihm war durchaus klar, dass sein Vater ihm jetzt, wo sie mehr oder weniger ungestört waren, sicher noch mal Fragen zur vergangenen Woche stellen würde. Gozaburo tat allerdings nichts dergleichen. Stattdessen ließ er sich erst mal von Mokuba ausführlich seine Klassenfahrt schildern, was der Fünfzehnjährige auch lebhaft tat. Dass er dabei den letzten Tag vor der Heimfahrt größtenteils aussparte, entging Seto ebenso wenig wie Mokubas Erleichterung darüber, dass ihr Vater offenbar nichts davon merkte. Aber nach allem, was er selbst inzwischen über den vergangenen Tag wusste, sinnierte Seto, war es Mokuba wohl nur recht so. Immerhin war der Junge noch immer reichlich durcheinander und wusste nicht, wie er sich am Montag in der Schule verhalten sollte. "Mehr von der Hochzeitsreise erzählen wir euch Dreien morgen in aller Ruhe, wenn es euch recht ist", wandte Gozaburo sich an seine beiden Söhne und während Mokuba eifrig nickte, atmete Seto auf – zu früh, wie die nächsten Worte seines Vaters zeigten. "Und bei dir und Ryuuji, Seto? Wie habt ihr die letzte Woche verbracht?", erkundigte Gozaburo sich interessiert und Seto unterdrückte einen Fluch. Das hatte ja so kommen müssen. "Wir haben nicht allzu viel unternommen, wenn es das ist, was du wissen willst, Vater", antwortete er dennoch und erlaubte sich nun doch ein Seufzen. "Ryou-kuns älterer Bruder war mehrere Tage lang verschwunden und Ryuuji hat bei der Suche nach ihm geholfen. Er war meistens erst sehr spät zu Hause, also hatten wir keine Zeit, um gemeinsam etwas zu unternehmen", fügte er dann erklärend hinzu. "Bakura war verschwunden?", mischte Mokuba sich in das Gespräch ein. Davon hatte er ja gar nichts gewusst! Und auch wenn er sich zugegebenermaßen etwas vor Ryous großem Bruder fürchtete – Bakura konnte aber auch wirklich ziemlich gruselig dreinschauen –, so regte sich trotzdem Sorge in ihm. Immerhin wusste er ganz genau, wie sehr sein weißhaariger Freund an seinem Bruder hing. "Weiß Ryou davon? Ist Bakura schon wieder zu Hause? Ist alles okay mit ihm?", bohrte er weiter und Seto wandte ihm seine Aufmerksamkeit zu. "Soweit ich weiß, ist er inzwischen wieder zu Hause. Wo er gewesen ist, kann ich dir allerdings nicht sagen. Und ob Ryou-kun davon weiß, weiß ich auch nicht. Das solltest du ihn vielleicht besser selbst fragen", schlug er vor und erhob sich. "Wenn du nichts dagegen hast, Vater, dann werde ich jetzt nach oben gehen. Ich habe noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen." Das war zwar nicht die volle Wahrheit, aber dieses eine Mal nahm Seto darauf keine Rücksicht. Er wollte einfach nur alleine sein und nicht noch weiter über die vergangene Woche nachdenken. Das tat er ohnehin schon ohne Unterlass. Er brauchte eine Pause. Und zwar dringend. "Gut, Seto." Gozaburo nickte seinem Ältesten zu und blickte diesem einen Moment lang nach, bis er das Wohnzimmer verlassen hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass Seto nicht ganz ehrlich zu ihm gewesen war, aber jetzt war wohl kaum der rechte Zeitpunkt zum Nachhaken. Das, beschloss Gozaburo bei sich, würde er lieber morgen unter vier Augen tun, denn offenbar war Seto nicht gewillt, im Beisein seines jüngeren Bruders über das reden, was ihn offenbar so beschäftigte. Ob es wohl um ein Mädchen geht?, fragte Gozaburo sich unwillkürlich. Nun, Seto war inzwischen eindeutig in dem Alter, in dem viele ihre ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht sammelten. Er selbst war zwar in den letzten Wochen und Monaten besonders stark eingespannt gewesen – sowohl in der Firma als auch wegen der bevorstehenden Hochzeit –, aber, sinnierte Gozaburo, jetzt hatte er wieder etwas mehr Zeit. Und diese Zeit würde er nutzen, um sich um seine Söhne zu kümmern. Die Jungen hatten in ihrem Leben schon lange und oft genug zurückstecken müssen. Es war eindeutig an der Zeit, dass sich das änderte. oOo Nachdem Ryuuji seiner Mutter beim Auspacken zur Hand gegangen war, entschuldigte er sich mit der gleichen Ausrede, die auch Seto bei seinem Vater benutzt hatte. Ihm stand ganz und gar nicht der Sinn danach, sich jetzt noch einem mütterlichen Verhör unterziehen zu lassen, daher erklärte er seiner Mutter, dass er den Tag mit einem Freund im Park verbracht und daher seine Hausaufgaben vom Freitag noch nicht erledigt hatte. "Dann solltest du das besser gleich noch tun, Ryuuji", fand Yukiko und Ryuuji nickte. "Mach ich, Mum. Und morgen erzählt ihr uns ausführlich, was ihr in der letzten Woche so erlebt habt, okay?", gab er zurück, drückte seine Mutter noch einmal und wollte dann eigentlich ohne Umschweife in sein Zimmer gehen. Stattdessen blieb er jedoch, noch ehe er den Raum erreicht hatte, wie angewurzelt mitten im Flur stehen. Das war ja so klar!, grollte er dabei innerlich, als er sich sehr zu seinem Leidwesen schon wieder mit Seto konfrontiert sah. Was hab ich eigentlich verbrochen, dass mir ständig so eine Scheiße passiert? Seto, den das plötzliche Auftauchen seines Stiefbruders mindestens ebenso sehr überrascht hatte, erstarrte ebenfalls. Was sollte er denn jetzt machen? Er war extra hochgegangen, um Ryuuji aus dem Weg zu gehen, und jetzt stand der Schwarzhaarige schon wieder vor ihm. Und dem ärgerlichen Blitzen seiner grünen Augen nach zu urteilen war das wohl das Letzte, was Ryuuji gewollt hatte. Es war offensichtlich, dass er gerade überall lieber wäre als hier alleine mit ihm im Flur. Seto wollte etwas sagen – irgendetwas, um die angespannte Stille zu brechen –, aber er brachte kein Wort heraus. Ryuuji wartete, aber auch nach fast einer Minute sagte Seto noch immer keinen Ton. So bringt das nichts. Nein, so konnte es eindeutig nicht weitergehen. Und auch wenn es ihm schwer fiel, sie mussten diese Sache ein für alle Mal klären, denn sonst würde das über kurz oder lang sicher in einer Katastrophe enden. "Wir müssen reden. Jetzt", machte Ryuuji daher den ersten Schritt und ging einfach an Seto vorbei in sein Zimmer. Die knappen Worte des Schwarzhaarigen, die schon beinahe einer Aufforderung gleichkamen, brachen Setos Starre. Einen Moment lang zögerte er noch, dann gab er sich einen Ruck und folgte seinem Stiefbruder in den Raum, das er eigentlich nicht mehr hatte betreten wollen. Allerdings hatte Ryuuji ihm nicht wirklich eine Wahl gelassen. Und er hatte ja nicht Unrecht. Der Flur war sicher nicht der passende Ort für das Gespräch, das sie dem Schwarzhaarigen zufolge führen mussten. Trotzdem hatte Seto Mühe, über das Dröhnen seines Herzschlags überhaupt etwas zu hören. Das Blut rauschte in seinen Ohren und seine Nervosität führte dazu, dass er eine noch eisigere Miene aufsetzte als üblich. Hatte er für einen Moment auch noch gehofft, dass er Setos Blick im Wohnzimmer nicht missdeutet hatte, so wurde Ryuuji eines Besseren belehrt, kaum dass er seine Zimmertür hinter seinem Besucher geschlossen hatte. Setos Augen wirkten wie aus Eis und seine ganze Haltung machte deutlich, dass er im Moment überall lieber wäre als hier. Na, das fängt ja gut an, gratulierte Ryuuji sich selbst voller Ironie, aber er verbot sich energisch, sich den Stich, den Setos Abwehrhaltung ihm verpasste, ansehen zu lassen. Er wusste doch ohnehin spätestens seit Donnerstagabend, was der Brünette wirklich über ihn dachte. "Mir ist durchaus klar, was du von mir hältst, Seto", begann er daher fast schon geschäftsmäßig kühl. Je eher er es hinter sich brachte, dachte er dabei, desto eher konnten sie beide wieder ihrer Wege gehen. "Und ganz ehrlich, es ist mir egal." Gut, das war eiskalt gelogen, aber, stellte Ryuuji zufrieden fest, seine Stimme schwankte nicht und so war ihm nicht anzumerken, dass er jetzt gerade schon wieder nicht die Wahrheit sagte. So langsam, sinnierte der Schwarzhaarige, entwickelte er sich zu einem wirklich professionellen Lügner. Ob das gut oder doch eher schlecht war, darüber wollte er jedoch im Augenblick lieber nicht nachdenken. "Du musst mich auch nicht mögen, aber wir sollten vor unserer Familie zumindest so tun. Oder willst du deinem Vater oder Mokuba erklären müssen, warum wir uns aus dem Weg gehen? Ich denke nicht." Setos kurzes Zusammenzucken als Zustimmung nehmend nickte Ryuuji und fuhr fort. "Ich habe auch nicht das geringste Interesse daran, das, was auf der Party vorgefallen ist, vor irgendwem breitzutreten. Wir sollten uns also zusammenreißen und einfach so tun, als wäre das nie passiert. Damit ist allen am besten gedient, würde ich sagen. Was meinst du?" So tun, als wäre das nie passiert? Um ein Haar hätte Seto laut aufgelacht, als er diesen Vorschlag hörte. Schon seit der Party versuchte er ganz genau das, aber es gelang ihm einfach nicht. Und seit seinem Gespräch mit Yami, der ihm klar gemacht hatte, was genau mit ihm los war, war es ihm noch viel weniger möglich, zu vergessen oder zu verdrängen, was vorgefallen war. Wann immer ihm bewusst wurde, dass seine Lippen für ein paar Sekunden tatsächlich Ryuujis Lippen berührt hatten, wurde ihm heiß und kalt zugleich – ein Gefühlschaos, das er einfach nicht unter Kontrolle bringen konnte. Und jetzt schlug Ryuuji ihm vor, es einfach zu vergessen? Ist das für ihn wirklich so leicht? Kann er wirklich einfach so zur Tagesordnung übergehen, als wäre absolut nichts passiert? Seto konnte es einfach nicht fassen. Macht ihm das denn wirklich gar nichts aus? Nicht mal ein bisschen? Während er selbst kaum wusste, wohin mit all den Gefühlen, die er so nie gewollt hatte und die er kaum kontrollieren oder gar verbergen konnte, machte Ryuuji einen vollkommen abgeklärten Eindruck. Dass diese Ruhe nur vorgetäuscht sein könnte, kam Seto im Augenblick gar nicht in den Sinn. Ryuuji fiel es mit jeder Sekunde schwerer, seine Fassade aufrechtzuerhalten. Einzig das Wissen, dass Seto ihn offenbar doch hasste und es deshalb scheinbar nicht einmal für nötig befand, auf seinen Vorschlag zu reagieren, verhinderte, dass er eine Dummheit beging. Es war Folter, Seto so nah zu sein und sich doch gleichzeitig zu fühlen, als lägen Welten zwischen ihnen. Aber, dachte Ryuuji bei sich, damit würde er sich wohl oder übel abfinden müssen. "Einverstanden." Seto hatte das Gefühl, an diesem einen Wort ersticken zu müssen. Seine Stimme klang gepresst, aber das schien sein Gegenüber nicht zu bemerken. Er nickte einfach nur und deutete dann auf seine Zimmertür. "Gut, damit wäre dann ja alles geklärt. Es wäre nett, wenn du jetzt gehen würdest. Ich habe noch Hausaufgaben zu erledigen", komplimentierte er Seto hinaus und dieser ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, denn länger ertrug er es einfach nicht, mit dem Schwarzhaarigen in einem Raum zu sein. Kaum dass der Brünette sein Zimmer verlassen hatte, schloss Ryuuji die Tür hinter ihm und ließ sich dann an dem Holz herunterrutschen. Ihm war zum Heulen zumute, aber er biss entschlossen seine Zähne zusammen und legte den Kopf in den Nacken, bis das Brennen in seinen Augenwinkeln nachließ. Dann rappelte er sich wieder auf, schnappte sich den Zettel mit den Hausaufgaben von seinem Bett und machte sich ans Werk. Ablenkung lautete jetzt die Devise. Seto, der inzwischen in sein eigenes Zimmer hinübergegangen war, konnte nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, die Tür mit voller Wucht hinter sich zuzuschlagen. In seinem Inneren brodelten so viele Gefühle, dass er nicht wusste, welches überwog: Wut, Enttäuschung, Frust oder doch eher die Sehnsucht nach demjenigen, der ihn gerade noch so kühl abgefertigt hatte. Einen Moment lang war Seto versucht, seinen besten Freund anzurufen und mit diesem über das zu reden, was gerade geschehen war, aber ein Blick auf die Uhr machte ihm klar, dass es dafür bereits zu spät war. Morgen, nahm Seto sich daraufhin vor. Morgen würde er sich Rat bei Yami holen. Vielleicht konnte dieser ihm ja irgendwie dabei helfen, das Chaos in seinem Kopf und in seinem Herzen zum Schweigen zu bringen. oOo Eine gute Stunde, nachdem sie mit dem Auspacken der Koffer fertig geworden war, klopfte Yukiko leise an der Zimmertür ihres Sohnes. "Come in", erklang es von drinnen und als sie den Raum betrat, fand sie Ryuuji an seinem Schreibtisch vor, wo er offenbar noch immer über seinen Hausaufgaben brütete. "Du solltest es nicht übertreiben. Willst du den Rest nicht lieber morgen erledigen?", schlug sie sanft vor und auf Ryuujis Lippen erschien ein schmales Lächeln. "Ist zwar nicht mehr viel, aber vielleicht hast du Recht, Mum." Aktuell war es mit seiner Konzentration ohnehin nicht allzu weit her. Einen besonders guten Dienst als Ablenkung hatten die Hausaufgaben ihm bisher eh nicht erwiesen. Immer und immer wieder drehten sich seine Gedanken um denjenigen, der nur ein Zimmer weiter wohnte. Ob Seto wohl schon schlief? Und ob er sich wirklich daran halten würde, so zu tun, als hätte es diesen Unfall auf Midori-chans Party nie gegeben? Unwillig, schon wieder in diesen Grübeleien zu versinken, drehte Ryuuji sich schwungvoll mit seinem Schreibtischstuhl zu seiner Mutter um und sein Lächeln vertiefte sich noch etwas, als sie näher zu ihm trat und ihm sanft über die Haare strich. Auch wenn sie nicht wusste, was gerade in ihm vorging, es tat trotzdem gut, dass sie ihm so nonverbal ein bisschen Trost spendete. Yukiko konnte ihrem Jungen ansehen, dass es irgendetwas gab, das ihn beschäftigte, aber sie kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er ihr nicht sagen würde, was ihn bedrückte, auch wenn sie ihn danach fragen würde. Ryuuji hatte solche Dinge schon immer lieber mit sich selbst ausgemacht. Und notfalls gab es ja auch noch Katsuya-kun, der ihrem Sohn schon fast sein ganzes Leben lang ein wirklich guter Freund war. Sicher würde Ryuuji mit ihm reden und sich von ihm helfen lassen. Ein wenig tat es zwar zugegebenermaßen schon weh, dass sie ihrem Jungen offenbar keine Hilfe sein konnte, aber was sollte sie machen? Sie konnte ihn schließlich nicht zwingen, mit ihr zu reden, wenn er das nicht wollte. "Und, wie war deine Woche?", erkundigte Yukiko sich dennoch sanft und Ryuuji seufzte abgrundtief. "Ziemlich anstrengend", gab er ehrlich zu, denn er hatte seiner Mutter durchaus angesehen, dass sie ihm etwas anderes jetzt nicht glauben würde. "Bakura, der Sohn von Chiakis neuer Freundin, ist nach einem Streit abgehauen und Kats und ich haben fast die ganze Woche damit verbracht, überall nach ihm zu suchen", fasste er grob zusammen, was passiert war, und hoffte, dass diese Erklärung ausreichen würde, um die Sorgen seiner Mutter zu zerstreuen und seine nicht unbedingt glänzende Stimmung verständlich zu machen. "Ich hatte beinahe vergessen, wie groß Tokio ist." Obwohl der Kommentar als Witz gemeint war, ging Yukiko nicht darauf ein. Stattdessen zog sie sich den zweiten Stuhl heran und setzte sich zu ihrem Sohn. "Habt ihr ihn denn gefunden?", erkundigte sie sich mitfühlend und Ryuuji zog eine Grimasse. "Nicht wirklich. Er ist am Donnerstag von selbst wieder nach Hause gekommen", beantwortete er die Frage und seufzte erneut. Er sah seiner Mutter deutlich an, dass sie auf mehr wartete. Aber das, was ihn wirklich bedrückte, konnte er ihr nicht sagen. Was würde sie wohl von ihm denken, wenn sie es wüsste? Ryuuji zögerte noch einen Moment, dann gab er sich einen Ruck. "Ich muss dir was gestehen, Mum", teilte er ihr mit und wappnete sich innerlich für das, was er seiner Mutter nun zu sagen hatte. "Seto und Mokuba wissen Bescheid." Worum es genau ging war offensichtlich, daher sprach Ryuuji es nicht noch mal extra aus. "Das Thema ist zur Sprache gekommen", wie, das ließ er lieber ungesagt, "und ich hab's ihnen erzählt." Dass sein Outing Seto gegenüber alles andere als freiwillig oder gar gut verlaufen war, behielt Ryuuji ebenfalls für sich. "Tut mir leid, dass ich mein Versprechen nicht gehalten hab, Mum." Und das war nicht einmal gelogen. Zumindest sein Outing Seto gegenüber bereute er wirklich. Bei Mokuba hingegen sah die Sache ganz anders aus. Der Kleine hatte etwas Zuspruch gebraucht von jemandem, der solche Gefühle, wie Ryou sie hatte, nachvollziehen konnte. Und in der gleichen Situation, dessen war Ryuuji sich sicher, würde er noch mal ganz genauso handeln. "Schon gut." Yukiko lächelte ihren Sohn aufmunternd an. Das war es also, was ihn so bedrückt hatte. "Ich weiß doch, wie wenig du es magst, dich zu verstecken." Auch wenn gerade das Ryuujis Leben nicht unbedingt einfacher machte. Trotzdem war sie stolz auf ihn. Sie hatte zwar eine Weile gebraucht, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er ihr wohl niemals ein nettes Mädchen vorstellen würde, aber die Hauptsache für sie war, dass er irgendwann jemanden finden würde, der ihn glücklich machte. "Lass uns nicht mehr darüber reden, okay, Mum?", bat Ryuuji leise. Er wollte jetzt ganz sicher nicht auch noch erklären, wie genau es dazu gekommen war, dass er mit Seto und Mokuba über seine sexuelle Orientierung gesprochen hatte. "Ich mache nur noch eben meine Hausaufgaben fertig und dann gehe ich schlafen. Die Woche war echt anstrengend", schob er noch hinterher und Yukiko stand auf, um ihn wieder alleine zu lassen. Ehe sie die Tür erreichte, hielt sie jedoch noch einmal inne und wandte wieder sich zu ihrem Sohn um. "Vielleicht sollten wir Gozaburo auch einweihen", sinnierte sie und Ryuuji nickte matt. "Wenn du meinst. Ich sag's ihm morgen, wenn das für dich okay ist." Eigentlich verspürte er zwar nicht wirklich den Drang dazu, dieses Thema auch noch mit seinem Stiefvater zu erörtern, aber es war wohl nur recht und billig. Immerhin würde Gozaburo-san spätestens dann davon erfahren, falls sich Seto oder Mokuba verplapperten. Da war es sicher besser, wenn er es ihm selbst sagte. Allerdings konnte Ryuuji nicht im Geringsten einschätzen, was sein Stiefvater wohl zu dieser Eröffnung sagen würde. Na, das werd ich ja morgen sehen. Yukiko zögerte einen winzigen Moment. Wäre es nicht vielleicht besser, wenn sie ihrem Ehemann davon erzählte? Aber wie, fragte sie sich bang, würde er wohl darauf reagieren? Bisher war dieses Thema zwischen ihnen beiden nie aufgekommen und daher hatte sie keine Ahnung, wie ihr Liebster sich verhalten würde, wenn er erfuhr, dass ihr Sohn … nun, dass er die Gesellschaft anderer Jungs der von Mädchen deutlich vorzog. "Vielleicht sollte ich …", begann Yukiko, doch Ryuuji schüttelte energisch den Kopf. "Nein, Mum. Das ist meine Sache. Ich mach das schon", widersprach er, stand auf und trat zu ihr an die Tür. "Mach dir keine Sorgen, okay? Ich hab's dir und Dad erzählt, da schaff ich das bei Gozaburo-san locker." Gut, ganz so zuversichtlich, wie er sich gab, fühlte Ryuuji sich bei weitem nicht, aber das musste seine Mutter nicht wissen. Ohne dass sie es verhindern konnte, atmete Yukiko erleichtert auf. Sie hätte wirklich nicht gewusst, wie sie dieses Thema hätte zur Sprache bringen sollen. Einerseits schämte sie sich dafür, dass sie ihrem Jungen diese Last aufbürdete, aber andererseits war sie auch stolz darauf, dass er sich nicht davor drücken oder verstecken wollte. Wieder einmal lagen ihr die Worte auf der Zunge, aber sie brachte sie auch jetzt einfach nicht über die Lippen. "Mach dir meinetwegen nicht immer so viele Sorgen, okay, Mum? Mir geht's gut." Glatt gelogen, aber die Worte hatten, wie Ryuuji deutlich sehen konnte, die erhoffte Wirkung. Seine Mutter sah aus, als hätte er ihr eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen. "Bleib nicht mehr allzu lange auf, ja?", ermahnte sie ihn leise und er schüttelte mit einem Lächeln den Kopf. Auch wenn sie es nicht aussprach, es tat gut zu wissen, dass seine Mutter sich so um ihn sorgte, weil sie ihn nun mal liebte – allem Ärger zum Trotz, den sie seinetwegen schon gehabt hatte. "Werd ich nicht, versprochen. Gute Nacht, Mum. Schlaf gut", wünschte Ryuuji seiner Mutter, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und sah ihr noch kurz nach, als sie sein Zimmer verließ. Unwillkürlich huschte sein Blick dabei auch zum Nebenzimmer, doch die Tür war geschlossen und von Seto war nichts zu hören oder zu sehen. Seufzend schob Ryuuji seine eigene Tür ebenfalls wieder zu und kehrte an seinen Schreibtisch zurück, um auch noch den letzten Rest seiner Hausaufgaben zu erledigen. Danach, so hoffte er, wäre er sicher auch endlich müde genug, um einfach nur traumlos zu schlafen. Irgendwie konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass er für das, was am kommenden Sonntag auf ihn wartete, seine gesamte Energie brauchen würde. Kapitel 24: Beautiful (?) Sunday -------------------------------- Am Sonntagmorgen schlug Ryuuji mit einem abgrundtiefen Seufzen seine Bettdecke zurück und warf einen Blick auf seinen Wecker. 7:47 Uhr blinkte es ihm entgegen und er strich sich mit einem weiteren Seufzen seine schwarzen Haare aus dem Gesicht. So viel zu ruhigem und traumlosem Schlaf, grummelte er dabei innerlich. Selbstredend war ihm genau das natürlich nicht vergönnt gewesen. Zwar erinnerte er sich nur bruchstückhaft an seinen Traum, aber diese Bruchstücke reichten vollkommen. Egal. Nützt ja eh alles nichts. Zeit zum Aufstehen. Mit diesem Gedanken schwang er seine Beine aus dem Bett und verschwand im angrenzenden Bad, um sich zumindest halbwegs vorzeigbar herzurichten. Knapp zwanzig Minuten später machte er sich, bekleidet mit einer schwarzen Jeans und einem ebensolchen Shirt, auf den Weg ins Esszimmer. Er hatte nicht vergessen, dass die Familie Kaiba am Sonntagmorgen gegen neun Uhr zusammen zu frühstücken pflegte. Und wie erwartet waren Gozaburo und seine Mutter auch bereits da, aber von Seto und Mokuba war zu seiner Erleichterung noch nichts zu sehen. "Guten Morgen, Mum. Guten Morgen, Gozaburo-san", begrüßte Ryuuji die beiden und setzte sich auf seinen Platz. Der besorgte Blick seiner Mutter entging ihm nicht, aber entgegen seiner sonstigen Gewohnheit war er aktuell einfach noch zu müde, um so zu tun, als wäre alles in Ordnung. "Sorry, Mum, aber ich hab gestern doch noch länger als geplant an den Hausaufgaben gesessen. Hab einfach zu wenig geschlafen", erklärte er seine Müdigkeit und versteckte sein Gähnen schnell hinter seiner Hand. "Gib mir einfach nur eine halbe Stunde, dann bin ich wieder fit. Versprochen", versicherte er ihr dann eilig und Yukiko bedachte ihren Sohn mit einem skeptischen Blick, sagte aber nichts dazu. Es war, wie sie aus Erfahrung wusste, reichlich seltsam für Ryuuji, an einem Sonntagmorgen derart unausgeschlafen zu sein, aber wenn er wirklich zu lange gelernt hatte, war das wohl kein Wunder. Gozaburo, der solche Morgenmuffeligkeit von seinem jüngsten Sohn nur zu gut kannte – Mokuba war nun mal kein Mensch, dem es leicht fiel, früh aufzustehen –, musterte seinen Stiefsohn skeptisch. Bisher hatte er noch nicht viel Gelegenheit gehabt, unter vier Augen mit Ryuuji zu sprechen, und so wusste er von ihm nur das, was Yukiko ihm über den Jungen erzählt hatte. Das deckte sich jedoch nicht mit dem, was er gerade vor sich sah, denn Yukiko zufolge war es vor der Hochzeit üblicherweise immer Ryuuji gewesen, der am Sonntagmorgen früh aufgestanden war, um das Frühstück für seine Mutter und sich vorzubereiten. Ob mit dem Jungen alles in Ordnung war? Das Auftauchen seiner eigenen Söhne verhinderte, dass Gozaburo nachfragte. Wie üblich sah Mokuba nicht besonders wach aus, aber er wirkte dennoch gut gelaunt. Seto hingegen wirkte deutlich wacher, auch wenn seine Stimmung nicht die allerbeste zu sein schien – etwas, das Gozaburo gleich wieder daran erinnerte, dass er später noch mal unter vier Augen mit seinem Ältesten sprechen wollte. Vielleicht redete Seto ja mit ihm, wenn Mokubas neugierige Ohren nicht in der Nähe waren. "Guten Morgen zusammen", grüßte Seto in die Runde, ehe er ebenso Platz nahm wie sein Bruder, der nur ein wenig waches "Morgen" nuschelte. Auch Ryuuji schien heute nicht sehr munter zu sein, denn er lächelte zwar schwach, aber sein Morgengruß fiel kaum enthusiastischer aus als Mokubas. Wirklich wach wirkte Ryuuji eindeutig nicht. Was, fragte Seto sich unwillkürlich, mochte seinen Stiefbruder wohl vom Schlafen abgehalten haben? Ob er wohl auch die halbe Nacht wachgelegen und sich die Stunden damit um die Ohren geschlagen hatte, jedes einzelne Wort, das am Donnerstagabend zwischen ihnen gefallen war, noch mal zu analysieren? Wohl kaum. Grimmig schob Seto diese Gedanken beiseite. Ryuuji hatte ihm am Vorabend doch sehr eindeutig klargemacht, wie er die Sache handhaben wollte: er wollte sie einfach vergessen und so tun, als wäre nie etwas passiert. Wenn das nur wirklich so einfach wäre. Die ganze letzte Nacht hatte Seto versucht, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen, doch es war ihm einfach nicht gelungen. Er konnte einfach nicht vergessen, so gerne er es auch wollte. oOo "Yami? Yuugi? Könnt ihr kurz zu eurem Großvater gehen und ihm seine Medikamente vorbeibringen?" Yami fluchte unhörbar, als seine Mutter die Treppe nach oben kam. Gerade jetzt, wo er fast fertig war für den Trip ins Museum, den Yuugi und er für den heutigen Tag geplant hatten! "Mist", entfuhr es ihm. Ja, die Medikamente waren wichtig, aber hätte ihre Mutter diese Idee nicht früher haben können? Wenn sie jetzt erst noch zu ihrem Großvater gingen, dann hatten sie nicht mehr allzu viel Zeit für ihren Museumsbesuch. Und das ausgerechnet heute! Yuugi, der bereits fix und fertig angezogen im Zimmer seines großen Bruders hockte, sah diesem nur zu deutlich an, wie wenig Lust er auf einen Abstecher zu ihrem Großvater hatte. Sie beide hatten den gesamten vergangenen Abend damit verbracht, die Unterlagen ihres Großvaters durchzugehen, damit Yami sein gestriges Versprechen heute wahrmachen und Malik beweisen konnte, dass seine Übersetzung korrekt gewesen war. Und jetzt drohte all das zu kippen, denn Yuugi wusste genau wie sein Bruder, dass sie nicht innerhalb von fünf Minuten bei ihrem Großvater wieder rauskommen würden. Wie üblich würde er sie sicher mit ein paar alten Geschichten in den Bann schlagen und innerhalb von zwei, drei Herzschlägen wäre es dann auch schon wieder Abend und sie müssten nach Hause, um am nächsten Tag für die Schule ausgeschlafen zu sein. "Ich geh schon." Yuugi nahm den Beutel mit den Medikamenten entgegen, den seine Mutter ihm reichte, und drückte ihr die Tür vor der Nase wieder zu, ehe sie noch etwas sagen konnte. "Wir machen Arbeitsteilung", wandte er sich dann an seinen großen Bruder. "Du gehst ins Museum und zeigst Malik, was ne Harke ist, und ich bringe Opa eben die Medikamente und komme dann irgendwann später nach." Das klang, zumindest in seinen Ohren, wie ein ziemlich guter Plan. Zwar würde er dadurch aller Voraussicht nach Maliks dummes Gesicht verpassen, aber manchmal musste man eben auch Opfer bringen. Yami sah seinen kleinen Bruder skeptisch an. "Bist du sicher?", wollte er wissen, doch Yuugi nickte nur. "Klar bin ich sicher. Du wischst mit ihm den Boden und erzählst mir hinterher ausführlich, wie blöd er gekuckt hat, weil du Recht hattest und nicht er. Und ich kümmere mich solange um Opa. Vielleicht kommt er ja sogar noch mit ins Museum." Was, genau betrachtet, vielleicht sogar die beste Lösung wäre. Yuugi grinste spitzbübisch. Wäre doch gelacht, wenn er ihren Großvater nicht dazu überreden könnte, ihn zu begleiten. Und spätestens dann würde Malik auf jeden Fall alt aussehen, so viel war sicher. "Gut, wenn du meinst", gab Yami sich geschlagen. Je länger er jetzt mit Yuugi argumentierte, desto weniger Zeit würde er später haben, also sparte er sich die Diskussion lieber und machte sich gemeinsam mit seinem Bruder auf den Weg, nachdem sie sich noch kurz von ihren Eltern verabschiedet hatten. Am Ende der Straße trennten sich ihre Wege. Yuugi bog nach rechts ab, um zum Haus ihres Großvaters zu kommen, während Yami weiter geradeaus ging in Richtung Museum. Dabei hatte sich ein siegessicheres Schmunzeln auf seinen Lippen festgesetzt. Heute würde er Malik beweisen, dass er gestern richtig gelegen hatte. "Nanu? Du bist heute alleine? Na, du willst deine Niederlage wohl nicht vor deinem Bruder erleben. Bist du denn heute endlich bereit, deinen Fehler einzugestehen?" Maliks breites Grinsen und seine provozierende Fragen empfingen Yami keine zehn Minuten später, als er das Museum wie am Vortag besprochen durch den Hintereingang betrat, der direkt zu den Restaurationswerkstätten führte. "Yuugi kommt später nach. Und nein, aber ich bin bereit, dir deinen Fehler klarzumachen", schoss Yami ebenfalls grinsend zurück und Malik lachte auf. "Beweise. Ohne Beweise glaub ich dir gar nichts", forderte der Ägypter und Yami klopfte auf seine Tasche, in der er die Unterlagen seines Großvaters aufbewahrte. "Hab ich extra mitgebracht, keine Sorge", versicherte er Malik und wieder grinste dieser. "Ich bin gespannt." Sehr gespannt sogar. Doch, sinnierte Malik auf dem Weg zu seiner Schwester, die wie am Vortag bereits hinten auf sie wartete, es war eine gute Idee von ihm gewesen, die beiden Muto-Brüder anzusprechen. So viel Spaß hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Und irgendwie konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Spaß erst angefangen hatte. oOo Das Frühstück war gerade in vollem Gange, als Isono das Esszimmer betrat und sich leise räusperte. Sofort hatte er die volle Aufmerksamkeit seines Arbeitgebers ebenso wie die von dessen ältestem Sohn. Seto wusste ganz genau, dass Isono sie nur dann stören würde, wenn es wirklich dringend war und keinen Aufschub duldete. Immerhin war ihm sehr bewusst, wie wichtig seinem Arbeitgeber das gemeinsame sonntägliche Frühstück mit seiner Familie war. Also was, fragte Seto sich unwillkürlich, mochte an einem Sonntagmorgen so wichtig sein, dass es nicht mal bis nach dem Frühstück warten konnte? "Bitte verzeihen Sie die Störung, aber hier sind zwei Herren von der U.S. Air Force, die einen Mr. Devlin zu sprechen wünschen." Weiter kam Isono nicht. Ryuuji, der dem Ganzen erst gar keine Beachtung geschenkt hatte – er war inzwischen wach genug, um sich ein bisschen mit Mokuba zu unterhalten –, brach mitten im Satz ab und fuhr herum. "Air Force?", versicherte er sich dessen, was er gehört zu haben glaubte, und als Isono nickte, legte er seine Stäbchen beiseite und stand abrupt auf. Seto entging nicht, dass Ryuujis Finger zitterten, aber ansonsten wirkte er äußerlich vollkommen ruhig – vielleicht sogar etwas zu ruhig. Als Seto den Blick hob und seinem Stiefbruder ins Gesicht sah, las er in den grünen Augen, die ihn immer und immer wieder in ihren Bann zogen, bodenloses Entsetzen. Seto spürte, wie ihm bei diesem Anblick selbst auch mulmig wurde, aber er kam nicht dazu, etwas zu sagen oder eine Frage zu stellen. "Ich habe mir erlaubt, die Herren erst einmal in den kleinen Salon zu führen", erklärte Isono gerade und Ryuuji schob mit einer gemurmelten Entschuldigung seinen Stuhl zurück, ohne seine Mutter oder sonst jemanden am Tisch direkt anzusehen. Er hatte einen schrecklichen Verdacht und alles in ihm sträubte sich dagegen, das zu glauben. Er brauchte Gewissheit, und das am besten sofort. "Die Herren wollen zu mir", teilte er Isono daher mit und ließ sich von diesem zum kleinen Salon führen. Dabei fühlte er sich, als stünde er neben sich. Es war beinahe so, als wäre es nicht sein Körper, der einen Fuß vor den anderen setzte. Er wusste, weshalb die beiden Besucher da waren. Er wusste, was sie ihm sagen würden, aber er wollte es nicht wahrhaben. Es konnte doch nicht wirklich sein, dass … "Du, Nii-san, was meinst du, was los ist?" Mokuba rückte ein Stück näher zu seinem großen Bruder und sah diesen fragend an. Seine Stimme war leise, so als wagte er es nicht, die Frage allzu laut zu stellen aus Angst davor, wie die Antwort darauf lauten würde. Und Seto konnte ihn nur zu gut verstehen. Er selbst hatte zumindest eine ungefähre Ahnung, was genau hier vorging. Und wenn das wirklich wahr war … Nein, darüber wollte er jetzt lieber nicht nachdenken. Und trotzdem konnte Seto seine Gedanken nicht davon lösen. "Das werden wir später sicher erfahren", erwiderte er daher mit etwas Verspätung auf die Frage, was ihre sonntäglichen Besucher wohl von Ryuuji wollten. Das Entsetzen in seinem Blick, als er gehört hatte, wer da so früh am Morgen erschienen war, hatte für Seto Bände gesprochen und so legte er seine Stäbchen ebenfalls beiseite. Sein Appetit war ihm gründlich vergangen, denn sein Magen fühlte sich an wie ein eisiger Knoten. Wenn Ryuuji wirklich gerade das zu hören bekam, was er befürchtete, dann … Seto warf einen kurzen Blick zu seiner Stiefmutter und fand seinen Verdacht sogleich bestätigt. Yukiko war sichtlich bleich, in ihren Augen schwammen Tränen und sie klammerte sich an der Hand ihres Ehemannes fest wie eine Ertrinkende. "Oh nein", murmelte sie und das gab Seto die endgültige Gewissheit. Ryuujis Vater lebte also wirklich nicht mehr. Verdammt! Seto wusste aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie hart es war, einen Elternteil zu verlieren. Er war zwar erst sieben Jahre alt gewesen, als seine Mutter gestorben war, aber er erinnerte sich auch heute noch ganz genau daran, wie sehr ihm das Wissen, dass er sie nie wiedersehen würde, den Boden unter den Füßen weggerissen hatte. Zwar hatte er im Laufe der Jahre gelernt, mit der Trauer und dem Schmerz zu leben, aber das bedeutete nicht, dass er sie nicht auch heute immer noch vermisste. Isono, der vorausgegangen war, öffnete die Tür des kleinen Salons für den Stiefsohn seines Arbeitgebers. Er wartete kurz, bis der junge Mann den Raum betreten hatte, dann zog er die Tür diskret wieder hinter ihm zu. Er hatte zumindest eine ungefähre Ahnung, mit welcher Art von Nachricht die beiden Herren gekommen waren, und er war sich ziemlich sicher, dass Ryuuji-san dabei auf Zuhörer verzichten konnte. Mit einem unhörbaren Seufzen rückte Isono-san die Sonnenbrille, die er ständig trug, zurecht. Er erinnerte sich noch ausgesprochen lebhaft daran, wie es gewesen war, als Ayane-san, Gozaburo-sans erste Ehefrau, verstorben war. Mokuba-san war damals untröstlich gewesen und Seto-san hatte seinen eigenen Schmerz hintenan gestellt, um für seinen kleinen Bruder da zu sein. Inzwischen mochte Mokuba-san das nicht mehr wissen, aber Isono hatte nicht vergessen, wie hart besonders die ersten Monate nach Ayane-sans Tod gewesen waren. Aber vielleicht, sinnierte Isono bei sich, war es auch besser, dass Mokuba-san sich nicht mehr an diese Zeit erinnern konnte. oOo "Mr. Devlin?" Die vertraute Anrede in einem derart unpassenden Umfeld sorgte dafür, dass sich alles in Ryuujis Innerem zusammenzog. Die Galauniformen mit den Rangabzeichen, die ihm schon sein ganzes Leben lang vertraut waren, und, mehr noch, die betont neutralen Gesichtsausdrücke der beiden Männer, die im kleinen Salon auf ihn gewartet hatten, sagten ihm eigentlich schon deutlicher als alle Worte der Welt, was passiert war. Zwar kannte er keinen der beiden persönlich, aber er wusste dennoch ganz genau, warum sie hier waren. Und er wollte es nicht hören. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht, aber das, das war ihm durchaus bewusst, würde nicht das Geringste an den Tatsachen ändern. Es würde seinen Vater auch nicht wieder lebendig machen, wenn er jetzt die Flucht ergriff. "Wann?", erkundigte er sich deshalb einfach nur auf Englisch, denn jedes weitere Wort hätte seine Kraft im Moment überstiegen. Er hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen, und sein Herzschlag dröhnte so laut in seinen Ohren, dass die Antwort, die er bekam, im ersten Moment überhaupt keinen Sinn ergab. "Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Major Devlins Maschine im Zuge von Kampfhandlungen vor vier Tagen abgeschossen wurde", teilte der Ranghöhere der beiden ihm mit und Ryuuji biss seine Zähne so fest zusammen, bis sein Kiefer anfing zu schmerzen. Vier Tage. Seit vier Tagen war sein Vater bereits tot und er hatte nichts davon gewusst, hatte es nicht mal geahnt. Er war zu sehr mit sich selbst und seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen, um überhaupt auch nur an seinen Vater zu denken. Und jetzt war sein Vater tot und es machte einfach keinen Sinn. "Im Namen der Streitkräfte der Vereinigten Staaten und insbesondere im Namen der U.S. Air Force möchten wir Ihnen unser herzliches Beileid aussprechen. Major Devlin war ein tapferer Mann. Ein Held." Bei diesen Worten hätte Ryuuji am liebsten geschrien, aber er beherrschte sich. Was brachte es ihm, dass sie seinen Vater als Helden bezeichneten? Davon wurde er auch nicht wieder lebendig. Ein lebendiger Feigling wäre mir tausend Mal lieber als ein toter Held, schoss es ihm durch den Kopf, aber er behielt auch diesen Gedanken für sich. "Wann ist die Beisetzung?", erkundigte er sich stattdessen nur und die beiden Männer tauschten einen kurzen Blick. Ihnen waren schon eine Menge unterschiedlicher Reaktionen auf die Nachricht, die sie zu überbringen hatten, begegnet, aber eine derart geschäftsmäßige Reaktion war doch eher selten – ganz besonders dann, wenn es sich um Vater und Sohn handelte. Aber nun gut, jeder Mensch hatte eine andere Art, mit schlechten Nachrichten umzugehen. Es war nicht ihre Aufgabe, darüber zu urteilen – ganz egal, wie seltsam es ihnen auch erscheinen mochte. "Die Beerdigung ist für Montagnachmittag geplant." Auf diese Information hin nickte Ryuuji nur. Dadurch, dass er schon seit mehreren Jahren zwischen Japan und den Staaten hin und her pendelte, kannte er den Zeitunterschied und wusste ganz genau, dass die USA im Vergleich zu Japan noch Samstag hatten und nicht bereits Sonntag. "Ich werde rechtzeitig da sein", versicherte er daher, nahm die Mappe, die einer der beiden ihm reichte, entgegen, und sah ihnen kurz nach, als sie nach einer knappen Verabschiedung den kleinen Salon verließen. Sobald die Tür hinter den beiden zugefallen war, ließ Ryuuji sich auf das im Salon stehende kleine Sofa sinken und sein Blick fiel auf die Unterlagen in seiner Hand, aber obwohl Englisch eine der beiden Sprachen war, mit denen er praktisch von Geburt an aufgewachsen war, ergaben die Worte auf dem Papier einfach keinen Sinn. Seine Glieder fühlten sich an wie Blei und in seinem Kopf herrschte gähnende Leere bis auf einen einzigen Gedanken: Dad … oOo "Opa? Opa, ich bin's!" Yuugi streifte sich erst einmal die Schuhe von den Füßen, nachdem er das Haus seines Großvaters betreten hatte. "Wo steckst du? Ich soll dir deine Medikamente bringen", schob er noch hinterher, aber er bekam keine Antwort. Hat er mich nicht gehört? Das wäre nicht allzu ungewöhnlich, denn die Ohren des alten Mannes waren nicht mehr die allerbesten. Oder ist was passiert? Besorgt machte der Fünfzehnjährige sich auf die Suche nach seinem Großvater. Hoffentlich war alles in Ordnung mit ihm! Yuugi durchstöberte die gesamte untere Etage – Küche, Bad, Schlafzimmer und Wohnzimmer –, aber fündig wurde er erst in dem Arbeitszimmer, das sein Großvater sich im Obergeschoss eingerichtet hatte. Allerdings war, wie Yuugi schnell feststellte, Muto Sugoroku nicht alleine. Und dem lauten, dröhnenden Lachen nach zu urteilen, das ihm entgegenschallte, kaum dass er die Tür des Arbeitszimmers geöffnet hatte, ging es seinem Großvater nicht nur gut, sondern blendend. "Hallo zusammen", grüßte Yuugi erleichtert die Runde und Sugoroku grinste breit, als er seinen jüngeren Enkelsohn erkannte. "Du kommst gerade richtig, Yuugi. Becky-chan hier hat schon angefangen, sich zu langweilen mit uns zwei alten Männern. Ist dein Bruder auch da?", wollte er wissen und lachte wieder, als Yuugi nur den Kopf schüttelte. Inzwischen hatte er die Besucher seines Großvaters auch erkannt: Arthur Hopkins, ein früherer Kollege und ebenso Archäologe im Ruhestand, und seine Enkelin. "Äh … ha-hallo", stammelte Yuugi. Als er Rebecca das letzte Mal gesehen hatte, waren sie beide knapp acht Jahre alt gewesen. Jetzt plötzlich fand er sich jedoch nicht mehr mit dem kleinen blonden Mädchen konfrontiert, das früher ständig ihren Lieblingsteddy mit sich herumgetragen hatte. Und auch die Zöpfe, in denen ihre Haare immer gebändigt gewesen waren, waren verschwunden. Geblieben waren die großen blauen Augen hinter der Brille, die sie schon als kleines Mädchen hatte tragen müssen, und die unzähligen Sommersprossen auf ihrer Nase. Aber ansonsten erinnerte nicht mehr viel an das kleine Mädchen, mit dem Yami und er früher hin und wieder gespielt hatten, wenn sie gemeinsam mit ihrem Großvater bei ihnen zu Besuch gewesen war. "Ähm … Yami ist … im Museum heute", erinnerte Yuugi sich mit etwas Mühe noch an die Frage, die sein Großvater ihm wegen seines Bruders gestellt hatte. Dabei konnte er seine Augen jedoch nicht von dem Mädchen abwenden, das er so unerwartet im Haus seines Großvaters vorgefunden hatte. Rebecca hatte sich wirklich ganz schön verändert. Sie war zwar nicht besonders groß, aber als sie aufstand und mit einem Lächeln auf den Lippen auf ihn zukam, bemerkte Yuugi, dass sie ihn trotzdem um einen oder zwei Zentimeter überragte. Und sie war hübsch. So hübsch, dass Yuugi nicht wirklich wusste, was er sagen sollte. Er konnte sie nur anstarren. Normalerweise war er nicht unbedingt auf den Mund gefallen, aber im Moment konnte er kaum geradeaus denken. "Hi, Yuugi. Wir haben uns ganz schön lange nicht gesehen. Du bist aber nicht viel gewachsen." Rebecca kicherte leise und Yuugi hatte das Gefühl, dass er mindestens vom Halsansatz bis zu den Haarspitzen flammend rot anlief. Und auch wenn er es sonst eigentlich nicht mochte, wenn jemand darauf herumritt, dass er ziemlich klein war für sein Alter, irgendwie konnte er Rebecca nicht wirklich böse sein. "Ha-Hab's versucht, aber hat nicht geklappt", brachte er mühsam heraus und wieder kicherte sie. "Vielleicht hast du ja Glück und wächst doch noch ein bisschen", neckte sie ihn und Yuugi fühlte, wie sein Gesicht gleich noch heißer wurde. "V-Vielleicht", stammelte er und seine Augen wurden rund wie Teller, als Rebecca sich ohne Vorwarnung bei ihm einhakte. "Was hältst du davon, wenn du mir mal zeigst, was sich in Tokio so verändert hat, seit ich das letzte Mal hier war? Dann können Grandpa und dein Opa sich in Ruhe unterhalten und wir stören sie nicht", schlug sie vor. Yuugi konnte nur stumm nicken und fand sich im nächsten Moment auch schon in Richtung Haustür geschleift. "Viel Spaß, ihr Zwei!", wünschten Sugoroku und Arthur ihren Enkeln im Chor und Yuugi schluckte. Er hatte doch absolut keine Ahnung davon, was Mädchen wie Rebecca mochten. Was sollte er denn mit ihr unternehmen? Und wie konnte er sicher sein, dass sie sich nicht langweilte? Yuugi schwirrte der Kopf. Nur zu gerne hätte er seinen Bruder um Rat gefragt, aber blöderweise war Yami ja nicht hier. Er war also auf sich allein gestellt. Hilfe! oOo Wie lange er ganz alleine im kleinen Salon gesessen hatte, die Unterlagen der Air Force in der Hand, hätte Ryuuji nicht zu sagen gewusst. Waren es Minuten gewesen? Stunden? Tage? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis das, was er da schwarz auf weiß vor sich sah, endlich doch einen absolut grässlichen Sinn zu ergeben begann. Dann jedoch hielt ihn nichts mehr. War er gerade auch noch wie gelähmt gewesen, jetzt schoss er förmlich hoch und hetzte an Isono, der gerade offenbar nach ihm hatte sehen wollen, vorbei in Richtung des Esszimmers. Vier Augenpaare richteten sich sofort bei seinem Eintreten auf ihn, doch das nahm Ryuuji nur am Rande wahr. "Mum, I need a plane ticket to Frisco. Today", stieß er hektisch hervor. Seine Stimme überschlug sich beinahe. "It's Dad, he's …" Ryuuji brach ab, denn er schaffte es einfach nicht, die Worte und die schreckliche Wahrheit dahinter laut auszusprechen. "I need to be in Frisco by Monday for the funeral", rang er sich dennoch ab und die Tränen, die die ganze Zeit in den Augen seiner Mutter gehangen hatten, bahnten sich jetzt doch einen Weg über ihre Wangen. "Oh, es tut mir so leid, Ryuuji", flüsterte Yukiko erstickt, doch das war etwas, was ihr Sohn ganz und gar nicht hören wollte. "I know, Mum. I know." Ryuuji schluckte hart und wechselte dann wieder ins Japanische. Er wusste, seine Mutter sprach zwar fließend Englisch, aber ihre eigene Muttersprache zu sprechen und zu verstehen fiel ihr doch deutlich leichter. "Ich bin oben und packe", ließ er sie daher noch knapp wissen, ehe er sich vom Türrahmen abstieß und, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe nach oben sprintete. Er wollte jetzt keine weiteren Beileidsbekundungen hören, auch nicht von seiner Mutter. Mokubas Augen waren rund und riesengroß in seinem blassen Gesicht, als er seinen Bruder nach Ryuujis Abgang ansah. "Habe ich das richtig verstanden? Ist Ryuujis Vater wirklich …", fragte er mit zitternder Stimme nach und Seto nickte nur. Er hatte es geahnt, aber Ryuujis Worte und, mehr noch, sein ganzes Verhalten hatten seinen Verdacht endgültig bestätigt. Für einen Moment hatte er den irrwitzigen Drang, Ryuuji zu folgen und ihn zu trösten, aber der Schwarzhaarige hatte nicht den Eindruck gemacht, als wollte er jetzt jemanden um sich haben. Außerdem sah Mokuba so geschockt aus, dass Seto es nicht über sich brachte, ihn jetzt alleine zu lassen. "Komm her, otouto", wies er seinen Bruder daher sanft an und als dieser auf den Stuhl neben ihn rutschte, zog Seto ihn ohne Umschweife an sich. Und wie er beinahe erwartet hatte, klammerte Mokuba sich gleich an ihn und begann zu schluchzen. Der Junge war schon immer sensibel gewesen und ihn so traurig zu sehen schnitt Seto ins Herz. Und trotzdem, auch während er seinen eigenen Bruder tröstete, drehten seine Gedanken sich die ganze Zeit um seinen Stiefbruder. Wenn Mokuba der Tod eines Menschen, den er nicht einmal persönlich gekannt hatte, schon so nahe ging, wie musste Ryuuji sich dann erst fühlen mit dem Wissen, dass es sein eigener Vater war, den er nie wiedersehen würde? "I-Ich sollte wohl besser mal nach Ryuuji sehen", murmelte Yukiko, die immer noch mit den Tränen kämpfte, doch ehe sie aufstehen und nach oben gehen konnte, erhob Gozaburo sich. "Ich erledige das", versicherte er ihr und drückte einen Kuss auf ihren Scheitel – eine Geste, die Yukiko unter Tränen lächeln ließ. "Isono, bitte kümmern Sie sich um die Reisevorbereitungen für Ryuuji", wies Gozaburo seinen Assistenten an und wartete noch kurz dessen Nicken ab, ehe er sich auf den Weg nach oben zum Zimmer seines Stiefsohnes machte. Er hatte zumindest eine ungefähre Ahnung, wie der Junge sich jetzt gerade fühlen musste. Ein Klopfen an seiner Zimmertür unterbrach Ryuuji beim Packen seines Koffers. Einen Moment lang zögerte er, dann gab er sich seufzend geschlagen. Er würde seiner Mutter wohl kaum ewig aus dem Weg gehen können. "Come in, Mum", forderte er sie daher auf, staunte jedoch nicht schlecht, als nicht seine Mutter, sondern stattdessen sein Stiefvater sein Zimmer betrat. "Isono lässt gerade meine Privatmaschine startbereit machen", wandte Gozaburo sich an seinen Stiefsohn und dieser blinzelte irritiert. "Das ist nicht nötig", wiegelte er ab. "Ich brauche einfach nur ein Ticket, dann …", fuhr er fort, doch Gozaburos erhobene Hand unterbrach ihn, ehe er weitersprechen konnte. "Selbstverständlich ist das nötig. Es geht hier immerhin um Familie", stellte Gozaburo klar. "Möchtest du, dass deine Mutter dich begleitet?", erkundigte er sich dann, doch zu seiner Überraschung schüttelte Ryuuji den Kopf. "Nein. Es ist besser, wenn ich alleine fliege." Die Stimme des Jungen, stellte Gozaburo fest, klang viel zu ruhig, zu kühl, zu beherrscht für das, was er gerade erfahren hatte. In seinem Inneren musste ein wahrer Sturm toben – etwas, das Gozaburo von seinem ältesten Sohn nur zu gut kannte. Auch Seto verschloss sich immer dann, wenn ihm etwas ganz besonders nahe ging. Als seine Mutter gestorben war, hatte der Junge all seine Gefühle, seine Trauer und seinen Schmerz in sich vergraben, um sich um seinen kleinen Bruder kümmern zu können. Ryuuji, das war offensichtlich, wollte dasselbe für seine Mutter tun. Er wollte nicht zusammenbrechen und ihr Sorgen bereiten. Die Tatsache, dass sie sich, wenn sie ihn jetzt so sehen könnte, nur noch mehr Sorgen machen würde, bedachte der Junge dabei offenbar nicht. "Sobald alles vorbereitet ist, bringen wir dich zum Flughafen", beschloss Gozaburo, doch Ryuuji schüttelte erneut den Kopf. "Ich würde lieber alleine fahren", erwiderte er, doch dieses Mal ließ Gozaburo nicht mit sich reden. "Denkst du wirklich, deine Mutter würde das zulassen? Glaubst du nicht, dass sie sich dann nur noch größere Sorgen deinetwegen machen würde?", fragte er und der sanfte Tonfall schaffte, was Strenge nicht geschafft hatte: Ryuuji gab sich geschlagen. Zittrig atmete er aus und nickte dann langsam. "Okay", erklärte er sich einverstanden und Gozaburo legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter, wie er es bei seinem ältesten Sohn auch immer tat, wenn dieser sich denn doch mal dabei helfen ließ, etwas durchzustehen, was er alleine einfach nicht bewältigen konnte. "Wir sind eine Familie. Du solltest uns erlauben, gerade jetzt für dich da zu sein", murmelte Gozaburo, hielt dann jedoch inne. Er kannte seinen Stiefsohn bisher kaum, aber der Junge wirkte – gerade weil er sich so sehr bemühte, sich nicht anmerken zu lassen, wie es in ihm aussah – auf ihn unglaublich verloren und einsam. Kein Kind, dachte Gozaburo, sollte das erleben, was seine beiden Söhne und seinen Stiefsohn jetzt miteinander verband: den Tod eines Elternteils. "Brauchst du noch Hilfe beim Packen?", bot Gozaburo daher in dem Versuch, dem Jungen noch etwas nonverbalen Trost zu spenden, an, doch dieses Mal schüttelte Ryuuji den Kopf und trat einen Schritt zurück, so dass die Hand seines Stiefvaters wieder von seiner Schulter rutschte. "Das schaffe ich schon. Ich wäre jetzt gerne etwas alleine", bat er leise und Gozaburo blickte ihm prüfend ins Gesicht, ehe er nickte. Ihm war durchaus klar, dass Ryuuji ihn nicht gut genug kannte, um seinen Gefühlen und vor allem seinen Tränen vor seinen Augen freien Lauf zu lassen. Aber er hoffte, dass der Junge nicht auch weiterhin alles in sich hineinfraß, denn das, das wusste er nur zu gut, war alles andere als gesund. "Gut. Wenn alles bereit ist, werden wir dir Bescheid geben." Ryuuji gab keine Antwort auf diese Worte und nachdem Gozaburo ihm noch einmal knapp zugenickt hatte, war er auch endlich wieder alleine in seinem Zimmer. Ein abgrundtiefes Seufzen kam über seine Lippen, dann riss er sich wieder zusammen und machte sich daran, seinen Koffer endlich zu Ende zu packen. Solange er sich nur auf die Tätigkeit des Packens konzentrierte, musste er wenigstens nicht darüber nachdenken, warum er packte. oOo Als sein Vater zurück ins Esszimmer kam, löste Mokuba sich ein wenig von seinem Bruder und wischte sich hastig über die Augen. "Vater, wie geht es Ryuuji?", erkundigte er sich besorgt und Gozaburo verkniff sich mühsam ein Seufzen. "Nicht sehr gut", gab er ehrlich zu und strich seinem Jüngsten im Vorbeigehen sanft über die Haare, wie er es früher auch schon immer bei seinen beiden Söhnen getan hatte. "Er möchte aber jetzt im Moment alleine sein, also stört ihn bitte nicht", wandte er sich an die beiden Jungen und während Seto einfach nur stumm nickte, begann Mokuba wieder zu schniefen. "Lass uns ins Wohnzimmer gehen, otouto", schlug Seto vor. An Frühstück war ohnehin nicht mehr zu denken. Außerdem sah Yukiko aus, als bräuchte sie ebenfalls Trost, also erhob Seto sich und sobald Mokuba es ihm gleichgetan hatte, schlang er einen Arm um die Schultern des Jüngeren und bugsierte ihn hinüber ins Wohnzimmer und dort auf die große, bequeme Couch. Kaum dass er Platz genommen hatte, schmiegte Mokuba sich gleich wieder an ihn und Seto strich ihm behutsam über die Haare, bis das Beben seiner Schultern langsam nachließ. "Sollten wir … sollten wir nicht vielleicht doch raufgehen und … nach ihm sehen?", fragte Mokuba nach einer Weile, als er sich zumindest wieder so weit gefangen hatte, dass er nicht gleich wieder in Tränen ausbrach. Er schämte sich ganz furchtbar dafür, dass Seto die ganze Zeit hier bei ihm war und dass sie alle Ryuuji ganz alleine ließen. "Bestimmt ist er doch … ganz schrecklich traurig", mutmaßte er weiter und seine Augen weiteten sich, als sein großer Bruder den Kopf schüttelte. "Du hast Vater doch gehört. Ryuuji möchte jetzt alleine sein." Was Seto nur zu gut verstehen konnte. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sein Stiefbruder sich jetzt gerade fühlte, und für ihn war auch klar, dass Ryuuji sich sicher keinesfalls vor einem von ihnen eine Blöße geben und ebenso in Tränen ausbrechen wollte wie Mokuba es getan hatte. Aber das behielt er lieber für sich. Das waren Dinge, die sein kleiner Bruder einfach nicht verstehen konnte. "Aber …", fing Mokuba an, doch Seto unterbrach ihn, ehe er weitersprechen konnte. "Wenn wir jetzt zu ihm gehen, machen wir es für ihn nur noch schwerer." Beileidsbekundungen waren ganz sicher das Letzte, was Ryuuji jetzt hören wollte. Das waren, wie Seto sehr wohl wusste, ohnehin nichts anderes als leere Worte und hohle Phrasen von Leuten, die nicht wirklich nachvollziehen konnten, was er im Augenblick empfand. Auch wenn ich das sehr wohl nachvollziehen kann. Aber, sinnierte Seto, er selbst wäre wohl der letzte Mensch auf Erden, von dem Ryuuji Trost oder Hilfe annehmen würde. Und Mokuba würde es, auch wenn er es nur gut meinte, für Ryuuji wohl eher schlimmer als besser machen. Nein, es war wirklich besser, wenn sie hier unten blieben und warteten, bis Ryuuji sich irgendwann von selbst wieder zu ihnen gesellte – ganz egal, wie schwer ihnen das Warten auch fallen mochte. Immerhin ging es jetzt nicht um sie, sondern um Ryuuji. Kapitel 25: Aufbruch -------------------- "Was hältst du davon, wenn wir uns die Spiele in der Arkade mal ansehen?" Yuugi, der bereits eine ganze Weile mit Rebecca durch Tokio gebummelt war, hatte einen dicken Kloß im Hals, als er ihr diesen Vorschlag unterbreitete. Und schon in dem Moment, als ihm die Worte über die Lippen geschlüpft waren, hätte er sich selbst am liebsten dafür getreten. Welches Mädchen mochte denn schon Arcade Games? Er war doch so dämlich! Bestimmt hielt Rebecca ihn jetzt für den größten Trottel, der auf dieser Welt herumlief! Und das war aus einem Grund, den Yuugi sich selbst nicht so recht erklären konnte, für ihn der absolute Horror. "Oder vielleicht gehen wir lieber …", versuchte er daher, seine Dummheit eilig auszubügeln, aber Rebecca unterbrach ihn, ehe er seinen Satz beenden und sich so vielleicht noch mehr blamieren konnte. "Au ja, lass uns reingehen!", rief sie voller Begeisterung und noch ehe Yuugi so recht wusste, wie ihm geschah, hatte sie sich schon wieder bei ihm eingehakt und zog ihn voller Enthusiasmus hinter sich her. "So was Cooles gibt's bei uns gar nicht. Jedenfalls nicht mit so tollen Spielen", ließ Rebecca ihren Begleiter wissen und Yuugi konnte deutlich fühlen, wie ihm wieder die Hitze ins Gesicht stieg. Ganz sicher war er inzwischen wieder knallrot, aber Rebecca schien sich daran nicht zu stören. Und ebenso wenig störte sie sich offenbar an den irritierten Blicken, die Yuugi und sie ernteten, als sie gemeinsam die Arkade betraten. Anstatt, wie Yuugi beinahe schon erwartet hatte, eins der typischen Mädchen-Games anzusteuern, hielt Rebecca, die immer noch an seinem Arm hing, auf eins der Spiele zu, vor der sich eine ganze Gruppe Jungs etwa in Yamis Alter versammelt hatte. Der Verlierer verließ gerade deutlich geknickt seinen Platz und noch ehe Yuugi so recht wusste, wie ihm geschah, hatte Rebecca ihn auch schon auf den freigewordenen Sitz gedrückt. Dann bedachte sie den Gewinner von eben mit einem zuckersüßen Lächeln und klimperte bittend mit den Wimpern. Dabei erklärte sie dem Jungen zu Yuugis nicht geringem Entsetzen, dass sie ja ›sooo gerne‹ eine Runde gegen ihren Freund spielen wollte. Ob er nicht vielleicht so nett sein könnte, Platz für sie zu machen? Ihr Freund?! Yuugi hatte das Gefühl zu verglühen. Wie konnte sie das einfach so sagen, als wäre absolut nichts dabei? Und wieso starrten ihn alle so an? Eigentlich wollte Yuugi protestieren, aber da er sich ziemlich sicher war, dass über seine Lippen im Moment nur ein peinliches Quietschen kommen würde und ganz sicher keine Worte oder gar zusammenhängende Sätze, sparte er sich den Protest und auch den Atem. Er wartete einfach nur, bis der Typ, der bis eben noch auf dem zweiten Platz gesessen hatte, diesen tatsächlich für Rebecca frei machte. "Dann zeig deinem Freund mal, was du kannst, Kleine", verlangte er mit einem Grinsen und Rebecca nickte ihm kurz zu, ehe sie sich an Yuugi wandte. "Bist du soweit?", wollte sie von ihm wissen und Yuugi schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. "Klar", antwortete er dennoch etwas gepresst, aber sobald das Spiel startete, schob er seine Nervosität beiseite und konzentrierte sich stattdessen nur noch auf das Spiel. Er war mehr oder weniger regelmäßig mit seinem Bruder in der Arkade und hatte sogar schon das eine oder andere Mal gegen Yami gewonnen, auch wenn dieser wirklich schwer zu schlagen war. Das war, wie Yuugi mit einiger Überraschung feststellte, bei Rebecca allerdings auch nicht so leicht, wie er erwartet hatte. Scheinbar spielte sie auch öfter Computerspiele, denn sie wusste offenbar recht genau, was sie tat. Sie war also eindeutig eine Herausforderung – eine Tatsache, die dafür sorgte, dass Yuugi auch noch den letzten Rest seiner Nervosität vergaß und sich voll und ganz dem Spiel widmete. Und das zahlte sich aus. Es war definitiv nicht leicht, aber trotzdem ging er aus den ersten drei Runden als Gewinner hervor. "Du hast eindeutig einen Vorteil. Du kannst öfter hier spielen", kommentierte Rebecca seine Siege, nachdem er sie das dritte Mal in Folge geschlagen hatte. Aber obwohl sie verloren hatte, wirkte sie keineswegs gekränkt. "Aber vielleicht kann ich das ja jetzt ein bisschen ausgleichen. Grandpa und ich bleiben nämlich für zwei Wochen bei deinem Opa. Und wenn dir das nicht zu blöd ist, würde ich gerne noch mal gegen dich antreten. Ich will nämlich auch mal gewinnen." Rebecca grinste ihn an und wieder lief Yuugi vom Halsansatz bis zu den Haarspitzen flammend rot an. "Vielleicht k-können wir ja nach der Schule ein bisschen üben", schlug er unsicher vor und hätte im nächsten Moment um ein Haar einen Herzinfarkt erlitten, als Rebecca ihm voller Überschwang um den Hals fiel. "Das wäre super!", freute sie sich und Yuugi hatte das Gefühl zu verglühen. Er war noch nie in seinem ganzen Leben einem Mädchen so nah gewesen. Ob alle Mädchen so gut riechen?, ging es ihm benebelt durch den Kopf und so bekam er gar nicht richtig mit, wie Rebecca sich wieder von ihm löste. Auch auf ihren Wangen lag jetzt ein zarter Rotschimmer. "Entschuldige, Yuugi", murmelte sie leise, doch Yuugi, noch immer mit hochrotem Kopf, winkte einfach nur ab. Sie sah, stellte er dabei für sich fest, wirklich ganz entzückend aus, wenn sie so verlegen an einer ihrer blonden Strähnen zupfte. "Schon gut. I-Ich freu mich ja auch. U-Und wenn du willst, dann kann ich dir ja vielleicht … ein paar Tricks zeigen, die mir mein Bruder beigebracht hat." Zum Ende hin wurde Yuugis Stimme immer leiser. Er war sich nicht wirklich sicher, ob das hier das Richtige war, aber als Rebecca ihn auf diesen Vorschlag hin mit noch immer geröteten Wangen voller Begeisterung anstrahlte, dachte er bei sich, dass es zumindest nicht komplett falsch gewesen sein konnte. "Das wäre wirklich super. Können wir uns dann morgen wieder treffen, wenn die Schule für dich zu Ende ist?", fragte Rebecca hoffnungsvoll und noch ehe er sich dessen wirklich bewusst war, hatte Yuugi auch schon genickt. "Klar", versprach er, aber ehe er noch mehr sagen konnte, unterbrach ihn ein Räuspern von hinter sich. "Andere würden auch gerne spielen", machte ihn ein junges Mädchen in der Uniform der Arkade aufmerksam und Yuugi machte peinlich berührt den Platz frei. "Ich glaube, ich sollte langsam wieder zurück. Grandpa macht sich sonst Sorgen." Rebecca warf einen Blick auf ihre Uhr und sah dann Yuugi an. "Du kommst doch sicher noch mit zu deinem Opa, oder? Und du bleibst bestimmt auch noch zum Essen, oder nicht?", wollte sie wissen und Yuugi kämpfte einen Moment lang mit sich, dann nickte er. Dabei bat er innerlich seinen Bruder um Verzeihung. Immerhin hatte er Yami ja eigentlich versprochen gehabt, später noch zum Museum nachzukommen. Aber irgendwie war das hier ihm doch lieber als Yami und Malik dabei zuzusehen, wie sie sich über irgendwelche Hieroglyphen stritten. Yami kann mir ja später ausführlich erzählen, wie blöd Malik aus der Wäsche gekuckt hat. Gedacht, getan. Yuugi schickte seinem Bruder eine kurze Nachricht, dass er es nicht mehr ins Museum schaffen würde, und machte sich dann gemeinsam mit Rebecca wieder auf den Rückweg zum Haus seines Großvaters. Dass sie sich dabei wieder bei ihm eingehakt hatte, machte das Ganze irgendwie nur noch besser, so dass Yuugi einfach nicht aufhören konnte zu strahlen, obwohl sein Gesicht immer noch glühte. oOo "Es ist alles vorbereitet, Gozaburo-san." Isonos Auftauchen und seine leisen Worte rissen Yukiko, die die letzte Stunde in die Armen ihres Ehemannes geschmiegt verbracht hatte, wieder aus ihren Erinnerungen. So viele Jahre waren James und sie schon nicht mehr verheiratet, aber er war trotzdem immer noch Teil ihres Lebens gewesen durch ihren Sohn. Und jetzt, ganz plötzlich, war dieser Teil ihres Lebens endgültig vorbei. Zwar hatte sie ihren Exmann zuletzt vor über zwei Jahren persönlich gesehen und vor mehr als drei Monaten das letzte Mal mit ihm telefoniert, aber da waren so viele Erinnerungen, so viele kleine Dinge, die ihr plötzlich wieder eingefallen waren. Ryuujis erste Worte, seine ersten Schritte; James' Stolz, als er seinen Sohn zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, aber auch die ganzen Streitereien und schließlich die Scheidung … es war so viel passiert. Yukiko war ihrem Liebsten ungemein dankbar dafür, dass er sich um ihren Sohn gekümmert hatte, obwohl es eigentlich ihre Aufgabe gewesen wäre, ihren Jungen zu trösten. Aber wie hätte sie das tun sollen, wenn ihre eigenen Tränen nicht aufhören wollten zu fließen? Wie musste ihr Junge sich erst fühlen, wenn selbst ihr schon James' Tod so nahe ging? Immerhin hatte Ryuuji in den letzten zehn Jahren immer sechs Monate ganz alleine mit seinem Vater verbracht. Und das war jetzt endgültig vorbei. Ryuuji und sie würden seinen Vater beide nie wiedersehen. Energisch wischte Yukiko sich die Tränenspuren von den Wangen, doch das nützte rein gar nichts. Sofort kamen neue Tränen und hinterließen neue Spuren. Yukiko schämte sich dafür, dass sie vor ihrem neuen Ehemann um ihren Exmann trauerte, aber Gozaburo nahm ihr das, seinen eigenen Worten zufolge, ganz und gar nicht übel. "Er war immerhin dein Mann und der Vater deines Sohnes", hatte er zu ihr gesagt, als sie sich für ihren Gefühlsausbruch entschuldigt hatte. "Ich würde mir wesentlich größere Sorgen machen, wenn dich diese Nachricht vollkommen kalt gelassen hätte." "Bitte bringen Sie Ryuujis Gepäck schon mal in den Wagen", instruierte Gozaburo seinen Assistenten gerade. Dann löste er seinen Arm von den Schultern seiner Frau, die er in der letzten Stunde einfach nur gehalten hatte, damit sie sich ausweinen konnte. Er war ihr keinesfalls böse, dass sie um den Mann trauerte, von dem sie doch schon seit Jahren geschieden war. Im Gegenteil, er konnte ihre Trauer verstehen. James Devlin würde immer ein Teil ihres Lebens bleiben, auch wenn er jetzt nicht mehr lebte. Aber er hatte ja einen Teil von sich hinterlassen, der seine Exfrau immer an ihn erinnern würde: ihren gemeinsamen Sohn. Und genau dieser Sohn war es, um den Gozaburo sich zugegebenermaßen sorgte. Ryuuji hatte, seit er selbst wieder runtergegangen war, sein Zimmer noch nicht wieder verlassen. So konnte er nur Vermutungen anstellen, wie es dem Jungen gerade ging. Zwei, drei Mal hätte er dem Drang, noch mal hochzugehen und nach seinem Stiefsohn zu sehen, beinahe nachgegeben, aber er hatte sich jedes Mal im letzten Moment selbst gebremst. Ryuuji hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er alleine sein wollte. Sicher war das nicht ideal, aber er konnte wohl auch nicht erwarten, dass der Junge mit ihm über den Verlust, den er gerade erlitten hatte, reden würde. Immerhin kannten sie sich praktisch kaum. Und wer vertraute schon einem beinahe Fremden an, wie es in seinem Innersten aussah? "Wir sollten Ryuuji Bescheid sagen." Yukiko wischte sich erneut über das Gesicht und nahm mit einem zaghaften Lächeln das Taschentuch an, das ihr Ehemann ihr reichte. Dann erhob sie sich und ergriff dankbar die Hand, die ihr angeboten wurde. So fühlte sie sich zumindest ein bisschen gefasster und bereit, ihrem Sohn gegenüberzutreten. Sie hatte ihn wirklich lange genug allein gelassen. Es war höchste Zeit, dass sie sich endlich wieder auf ihre Rolle als Mutter besann und ihm den Trost spendete, den er jetzt ganz sicher brauchte. oOo Erst das zweite Klopfen an seine Zimmertür drang wirklich in Ryuujis Bewusstsein. Nachdem er seinen Koffer gepackt hatte, hatte er sich einfach vor dem Bett auf den Boden gehockt, die Beine angezogen und seine Arme darum geschlungen. Wie viel Zeit inzwischen vergangen war, hätte er nicht zu sagen gewusst. Sein Kopf fühlte sich an wie leergefegt, obwohl sich seine Gedanken gleichzeitig förmlich überschlugen. Allerdings bekam er keinen dieser Gedanken wirklich zu fassen. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, dann war er eigentlich sogar froh darüber. Er wollte nicht zusammenbrechen. Nicht jetzt, nicht hier. Nicht, wenn seine Mutter ihn so sehen und sich seinetwegen Sorgen machen würde. Heulen, hatte er sich vorgenommen, konnte er auch später noch. Auch wenn das absolut nichts an der grässlichen Realität ändern würde, dass das letzte Mal, als er seinen Vater gesehen hatte, auch wirklich das letzte Mal gewesen war. Anstatt verbal auf das Klopfen zu reagieren, rappelte Ryuuji sich einfach nur vom Boden auf und fluchte lautlos über das Kribbeln, mit dem das Gefühl in seine eingeschlafenen Beine zurückkehrte. Da er genau wusste, was das Klopfen zu bedeuten hatte, schnappte er sich einfach nur seinen Koffer, öffnete die Tür und fand sich gleich darauf mit seiner Mutter und seinem Stiefvater konfrontiert. Seiner Mutter war überdeutlich anzusehen, dass sie geweint hatte. Und auch jetzt, als sie ihn ansah, schwammen wieder Tränen in ihren Augen, so dass Ryuuji seinen freien Arm dazu nutzte, sie zu umarmen. Er blieb stumm und war froh, dass auch seine Mutter und Gozaburo-san nichts sagten. Jetzt zu sprechen hätte seine Kraft bei weitem überstiegen, also ließ er es einfach sein. "Die Maschine ist startklar. Isono wird dein Gepäck schon mal nach unten bringen." Ryuuji, stellte Gozaburo bei diesen Worten fest, wirkte immer noch viel zu ruhig und gefasst. Er sagte kein Wort, sondern nickte nur schweigend und ließ zu, dass Isono, der seinem Arbeitgeber und dessen Ehefrau nach oben gefolgt war, seinen Koffer übernahm und damit vorausging. Ryuuji selbst schloss eine Hand um die freie Hand seiner Mutter und drückte sie leicht, wie um ihr Trost zu spenden, obwohl doch eigentlich er derjenige war, der den Zuspruch brauchen sollte. Aber scheinbar wollte er das immer noch nicht und so sagte Gozaburo nichts in diese Richtung. Die Finger seiner Mutter zitterten in seiner Hand und so strich Ryuuji beruhigend mit dem Daumen über ihren Handrücken. Sie zu trösten half ihm tatsächlich dabei, selbst nicht vollkommen die Fassung zu verlieren. Es genügte, wenn einer von ihnen beiden so offensichtlich den Kampf gegen die Tränen verlor. Er selbst konnte auch noch zusammenbrechen, wenn er erst mal wieder in Frisco war – derzeit der letzte Ort auf der Welt, den er sehen wollte, auch wenn sich das einfach nicht vermeiden ließ. Er hatte versprochen, am Montag bei der Beisetzung dabei zu sein, und er würde sein Versprechen halten. Auch wenn Dad davon eh nichts mehr mitkriegt. Und trotzdem würde er da sein. Er würde da sein wie der gute, brave Sohn, den alle zu sehen erwarten würden – alle, die nicht wussten, dass seine letzte wirkliche Interaktion mit seinem Vater ein heftiger Streit am Tag seines Abflugs gewesen war. Wieder einmal. In den letzten zwei Jahren hatten sie eigentlich kaum etwas anderes getan als über alles Mögliche zu streiten. Aber das war jetzt endgültig vorbei. Für immer. Sein Vater würde ihm nie wieder vorzuschreiben versuchen, wie er sein Leben zu leben hatte – ganz einfach aus dem Grund, weil er es jetzt nicht mehr konnte. Tote machten niemandem Vorschriften mehr. Seto und Mokuba, die sich unten im Flur zu ihnen gesellten, unterbrachen Ryuujis Gedankengänge. Genau wie seine Mutter sah auch Mokuba aus, als hätte er gegen die Tränen gekämpft und verloren. Aber warum? Er hat Dad doch nicht mal gekannt. Diese Frage sprach Ryuuji allerdings nicht laut aus. Im Moment stand ihm absolut nicht der Sinn danach, überhaupt mit irgendjemandem zu sprechen. Trotzdem ließ er zu, dass Mokuba schweigend nach seiner freien Hand griff und diese sanft drückte. Offenbar wollte der Kleine ihn trösten. War ja wirklich lieb gemeint von ihm, aber eben leider auch vollkommen nutzlos. Seto, der seinen Stiefbruder genau beobachtete, entging nicht, dass für einen Sekundenbruchteil ein sehr bitteres Lächeln über Ryuujis Lippen huschte, das jedoch genauso schnell verschwand, wie es aufgetaucht war. Mokuba bemerkte davon offenbar nichts und das war etwas, wofür Seto ungemein dankbar war. Sein Bruder würde einfach nicht verstehen, was jetzt gerade in Ryuuji vorgehen musste. Er konnte sich ja nicht mal mehr daran erinnern, wie schwer ihn der Tod seiner eigenen Mutter getroffen hatte. Wie sollte er da nachvollziehen können, wie Ryuuji sich jetzt fühlte? Schweigend öffnete Seto die Tür der Villa und ging vor nach draußen, wo Isono bereits auf sie alle wartete. Er hatte den Koffer bereits verstaut und die hintere Tür der Limousine für seinen Arbeitgeber und dessen Familie geöffnet. Noch immer ohne ein Wort zu sagen half Ryuuji seiner Mutter in den Fond des Wagens und stieg dann ebenfalls ein. Mokuba folgte ihm sofort und rutschte neben ihn auf die Bank, während auch Seto und sein Vater einstiegen. Letzterer setzte sich zu seiner Frau und so blieb Seto nur, neben seinem Bruder Platz zu nehmen. Wieder stieg in ihm der Drang auf, Ryuuji, der einfach nur schweigend aus dem Fenster sah, zu trösten, aber er kämpfte diesen Impuls nieder. Ryuuji wollte ganz offenbar im Moment keinerlei Beileidsbekundungen hören – etwas, das Seto nur zu gut nachvollziehen konnte. Niemand außer Ryuuji selbst und Yukiko hatte James Devlin schließlich persönlich gekannt. Sämtliche Worte, die sie also sagen konnten, mussten den beiden daher wie hohle Phrasen vorkommen. Und Seto erinnerte sich noch sehr gut daran, wie sehr er selbst es nach dem Tod seiner Mutter gehasst hatte, wenn ihm jemand, der weder ihn noch seine Mutter überhaupt wirklich gekannt hatte, sein Beileid zu seinem Verlust ausgesprochen hatte. Die ganze Fahrt zum Flughafen über fiel in der Limousine nicht ein Wort – eine Tatsache, für die Ryuuji absurd dankbar war. Er wollte im Moment wirklich nicht reden müssen. Und er wollte auch niemandem zuhören müssen. Er wollte nicht mal über das nachdenken, was geschehen war und was ihn jetzt in Frisco erwartete. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben. Glücklicherweise respektierten das sowohl seine Mutter als auch der Rest seiner neuen Familie. Erst als sie den für die privaten Maschinen vorgesehenen Teil des Flughafens erreicht hatten und die Limousine dort im Hangar der kaibaschen Privatmaschine anhielt, unterbrach Gozaburo das Schweigen. "Bitte sag uns Bescheid, sobald du gelandet bist", wandte er sich an seinen Stiefsohn. Wie er nicht anders erwartet hatte, nickte dieser auch jetzt nur auf die Aufforderung hin. Sobald Isono die Tür geöffnet hatte, stieg Ryuuji aus und wartete, bis seine Mutter ebenfalls ausgestiegen war. "Don't worry, Mum. I'll be okay. And I'll be back before you know it", versprach er ihr und strich ihr sanft über die Wange, als ihre Augen sich schon wieder mit Tränen füllten. "Bist du sicher, dass ich nicht doch lieber mitkommen soll?", fragte Yukiko leise, doch ihr Sohn schüttelte den Kopf. "Nein, Mum", lehnte er mit einem Blick in Richtung seines Stiefvaters ab. "Du wirst hier gebraucht. Ich komm schon klar." So fühlte er sich zwar im Moment ganz und gar nicht, aber er wollte auf gar keinen Fall, dass seine Mutter ihn nach Frisco begleitete. Diese Sache musste er alleine durchstehen. Seine Mutter hatte so lange darauf gewartet, sich ein neues Leben aufzubauen, da sollte sie sich jetzt nicht wieder an Dinge erinnern müssen, die schon eine gefühlte Ewigkeit zurücklagen. "Bitte pass gut auf sie auf", wandte Ryuuji sich daher an seinen Stiefvater und dieser nickte ernst. "Selbstverständlich", versicherte er seinem Stiefsohn und legte behutsam einen Arm um die Hüfte seiner Frau, die sich gleich wieder vertrauensvoll und auch ein wenig schutzsuchend an ihn lehnte. "Und wenn du irgendetwas brauchst, melde dich bitte, Ryuuji", schob Gozaburo noch hinterher und nun war es an seinem Stiefsohn zu nicken. "Werde ich", versprach er, aber ehe er noch mehr sagen konnte, hatte Mokuba sich auch schon zwischen sie gedrängt und umarmte Ryuuji in dem Versuch, ihn nonverbal zu trösten, so fest er konnte. Um ein Haar hätte diese Geste Ryuuji ein Schmunzeln entlockt, aber dafür reichte es dann doch nicht. So drückte er nur seinerseits Mokuba kurz an sich, ehe er sich wieder aus der Umarmung löste. "Ich bin in ein paar Tagen wieder da, Mokuba", ließ er den Jungen wissen und dieser nickte schwach. "Ich sollte langsam los." Ryuuji trat ein paar Schritte auf die startbereite Maschine zu, hielt allerdings noch einmal inne und wandte sich zu seiner Familie um, als ihm noch etwas einfiel, was er bis eben vollkommen verdrängt gehabt hatte. "Sagst du Katsuya morgen bitte Bescheid, dass ich ein paar Tage weg sein werde, Seto?", wandte er sich an seinen älteren Stiefbruder und der Angesprochene schluckte, als er sich so plötzlich im Fokus der grünen Katzenaugen wiederfand. Auch jetzt, wo Ryuuji unübersehbar angeschlagen wirkte – zumindest für ihn, der so etwas aus eigener Erfahrung nur zu gut kannte und daher die minimalen Anzeichen überdeutlich sehen konnte –, hatten seine Augen nichts von ihrer Faszination auf ihn eingebüßt und so fiel es Seto nicht leicht, seinen Kopf zu einem einfachen Nicken zu bewegen. "Das werde ich", rang er sich noch eine verbale Versicherung ab und tatsächlich huschte für eine halbe Sekunde der Schatten eines dankbaren Lächelns über Ryuujis Lippen. Seinen besten Freund jetzt auch noch anrufen und ihm persönlich erzählen zu müssen, was geschehen war, hätte seine Kraft bei weitem überstiegen. Er würde mit Katsuya sprechen, wenn er wieder in Japan war, aber vorher konnte er das einfach nicht. Jetzt musste er einen Schritt nach dem anderen machen. Und seine nächsten Schritte führten ihn erst mal in den Flieger und zurück nach Frisco, obwohl er eigentlich erst in knapp fünf Monaten dorthin hatte zurückkehren wollen. "Danke, Seto." Die Erleichterung in der Stimme seines Stiefbruders war nicht zu überhören. Und auch das winzige, eigentlich kaum sichtbare Lächeln, das beinahe sofort wieder verschwand, entging Seto nicht. "Selbstverständlich", gab er daher zurück, seine Stimme ungewohnt rau und belegt. Wieder war da der Drang, Ryuuji ebenso in den Arm zu nehmen wie Mokuba es eben erst getan hatte, aber Seto stoppte sich selbst, bevor er das wirklich tun konnte. Er war sich sicher, dass er es nicht schaffen würde, Ryuuji wieder loszulassen, wenn er ihm erst mal so nah kommen sollte. Es war also eindeutig besser, das gar nicht erst zu riskieren – jedenfalls so lange nicht, wie er seine Gefühle für Ryuuji nicht endlich unter Kontrolle hatte. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren stieg Ryuuji in den wartenden Flieger und suchte sich einen Platz auf der Seite, von der aus er seine Familie nicht mehr sehen konnte. Die letzten Checks vor dem Start rauschten an ihm vorbei, ohne dass er sie wirklich wahrnahm. Erst als die Maschine sich in Bewegung setzte, abhob und er sich absolut sicher war, dass ihn niemand mehr sehen konnte, atmete Ryuuji auf. Und jetzt, wo er ganz alleine war, erlaubte er sich auch endlich, seine Trauer um seinen Vater an die Oberfläche kommen zu lassen. Kapitel 26: Erinnerungen ------------------------ Sobald die Maschine, in der Ryuuji saß, gestartet und außer Sichtweite war, bedeutete Gozaburo seiner Frau und seinen Söhnen, wieder in die Limousine zu steigen, damit sie nach Hause fahren konnten. Für Ryuuji konnten sie im Augenblick nichts weiter tun. Das, was jetzt vor ihm lag, musste der Junge wohl oder übel alleine bewältigen. Vielleicht, sinnierte Gozaburo auf der Heimfahrt, hätte er doch darauf bestehen sollen, dass Yukiko ihren Sohn begleitete. Ihr war die Sorge um ihn überdeutlich anzusehen, ebenso wie die Trauer um den Mann, der der Vater ihres Sohnes gewesen war. Wie die Hinfahrt zum Flughafen verging auch die Rückfahrt in tiefem Schweigen. Mokuba wagte kaum zu atmen, geschweige denn, Fragen zu stellen. Yukiko sah unglaublich traurig aus und auch Seto und sein Vater machten den Eindruck, als wären sie mit ihren Gedanken ganz weit weg. Wahrscheinlich denken sie an Mutter, vermutete der Fünfzehnjährige, traute sich aber nicht, einen von beiden darauf anzusprechen. Immerhin erinnerte er selbst sich kaum noch an sie. An der Villa angekommen schlich Mokuba förmlich hinter dem Rest seiner Familie her. Noch immer wusste er nicht, ob er all die Fragen, die ihm unter den Nägeln brannten, überhaupt stellen durfte. Ja, genau betrachtet hatte er eigentlich das Gleiche erlebt wie Ryuuji, aber konnte er sich überhaupt mit seinem Stiefbruder, seinem Bruder oder seinem Vater vergleichen, die doch alle viel, viel klarere Erinnerungen an diese Dinge hatten als er? Er hatte ja schon Schwierigkeiten damit, sich überhaupt daran zu erinnern, wie seine Mutter ausgesehen, wie sie gerochen und wie ihre Stimme geklungen hatte. Seto hatte ihm zwar oft von ihr erzählt und ihm Fotos von ihr gezeigt, aber Erzählungen und Erinnerungen waren nun mal nicht dasselbe. So in seine Gedanken verstrickt wäre Mokuba beinahe in seinen großen Bruder hineingelaufen. Seto verhinderte den Zusammenstoß jedoch dadurch, dass er einfach einen Schritt beiseitetrat. "Ist alles in Ordnung, otouto?", erkundigte er sich besorgt und Mokuba zog eine Grimasse. "Ich weiß es nicht", gestand er ehrlich und ließ zu, dass sein großer Bruder einen Arm um seine Schultern legte. "Das ist alles so viel auf einmal, verstehst du?" Und ob er das verstand, dachte Seto bei sich. Erst die Sache mit Ryou, die Mokuba vollkommen durcheinander gebracht hatte, und jetzt auch noch Ryuujis Vater … Kein Wunder, dass der Junge völlig durch den Wind war. Ihm selbst ging es ja nicht viel besser. Das, was heute geschehen war, hatte so viele Erinnerungen aufgewirbelt, dass Seto Mühe hatte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Sein kleiner Bruder brauchte ihn jetzt, also hatte er keine Zeit, sich in seinen eigenen Erinnerungen zu verlieren. Sehr zur Überraschung seines Bruders löste Mokuba sich jedoch von diesem. "Ich glaube, ich gehe ein bisschen auf mein Zimmer. Ich … muss nachdenken", erklärte er diese Aktion, bedachte Seto mit einem entschuldigenden Lächeln und sprintete dann nach oben. Seto blickte ihm einen Moment lang nach, dann seufzte er abgrundtief und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Er würde später noch mal raufgehen und nach Mokuba sehen. Es war sicher besser, ihn jetzt nicht zu bedrängen. Und so hatte er selbst auch noch etwas Zeit, um sich mit seinen eigenen Erinnerungen auseinanderzusetzen, bevor er sich um Mokuba kümmerte. Wie eigentlich fast immer, wenn er sich im Wohnzimmer aufhielt, nahm Seto auch jetzt am Tisch mit dem Schachspiel Platz. Ehe er jedoch dazu kam, wieder einmal gegen sich selbst zu spielen, gesellte sich sein Vater zu ihm. "Stört es dich, wenn ich dir Gesellschaft leiste?", erkundigte Gozaburo sich und zog sich den zweiten Stuhl zurück, nachdem sein Ältester ihm mit einem Kopfschütteln zu verstehen gegeben hatte, dass er nichts gegen Gesellschaft einzuwenden hatte. "Willst du eine Partie gegen mich spielen, Vater?", erkundigte Seto sich und Gozaburo, der eigentlich nichts dergleichen vorgehabt hatte, ertappte sich dabei, dass er nickte. Er hatte sich schon viel zu lange nicht mehr die Zeit genommen, mit seinen Söhnen Schach zu spielen. Und der heutige Tag war wohl genauso gut oder schlecht wie jeder andere dazu geeignet, das zu ändern. Also nahm er die schwarzen Figuren und beobachtete mit einem winzigen Lächeln, wie sein Ältester seinen ersten, sorgfältig überdachten Zug machte. "Es ist lange her, seit wir das letzte Mal miteinander Schach gespielt haben", brach Gozaburo schließlich nach einer Weile das Schweigen, das sich über das Wohnzimmer gesenkt hatte. "Und es ist noch viel länger her, seit du mir beigebracht hast, wie man Schach spielt", erwiderte Seto und auf seinen Lippen erschien ein schmales Lächeln, das allerdings auch einen melancholischen Touch hatte. Wie oft hatte er als kleiner Junge zugesehen, wie seine Eltern miteinander Schach gespielt hatten – meist nicht sehr lange, denn seiner Mutter hatte eindeutig die Geduld für dieses Spiel gefehlt. Sie war zwar keine schlechte Spielerin gewesen, aber Schachpartien waren ihr immer viel zu langatmig erschienen. "Deine Mutter war so stolz auf dich, als du dein erstes Turnier gewonnen hast", erinnerte Gozaburo sich ebenfalls mit einem wehmütigen Lächeln. Selbst hatte Ayane nur hin und wieder gespielt, um ihm eine Freude zu machen, aber ihren Ältesten hatte sie mit vollem Einsatz angefeuert, wann immer er ein Turnier bestritten hatte. "Ich erinnere mich. Mutter hat damals ein ziemliches Spektakel veranstaltet." Seto schmunzelte. Seine Mutter war, ebenso wie Mokuba, ziemlich temperamentvoll gewesen und hatte ihrem Stolz meist sehr lautstark und unübersehbar Ausdruck verliehen. Manchmal war das zwar ein bisschen peinlich gewesen, aber das Strahlen seiner Mutter, als er ihr seine allererste Trophäe überreicht hatte, war auch heute noch etwas, was er sich gerne in Erinnerung rief. "Es ist nur schade, dass Mokuba so wenige Erinnerungen an sie hat. Das erscheint mir so … unfair", murmelte Seto und Gozaburo nickte. So sehr Seto und er sich auch bemüht hatten, die Erinnerung an seine Mutter für Mokuba lebendig zu halten, Gozaburo fürchtete, dass ihnen das nicht besonders gut gelungen war. Dabei war der Junge ihr in vielen Dingen so unglaublich ähnlich. Und er wusste es nicht einmal, einfach weil er noch so jung gewesen war, als sie aus seinem Leben gerissen worden war. "Aber dein Bruder ist doch nicht alles, was dich beschäftigt, oder, Seto?", erkundigte Gozaburo sich und hob fragend eine Braue, als sein Ältester ganz uncharakteristisch abgrundtief seufzte. Offenbar hatte er ins Schwarze getroffen mit seiner Vermutung. "Möchtest du darüber reden?", bot er daher an. Seto zögerte sichtlich, ehe er den nächsten Zug mit seinem Springer machte. Dann jedoch schüttelte er den Kopf. "Nicht heute, Vater. Heute ist … nicht der richtige Zeitpunkt", erwiderte er. Gozaburo nickte nur. Er hatte zwar gehofft, dass sein Sohn mit ihm reden würde, aber wirklich erwartet hatte er es nicht. Nicht nach allem, was heute schon vorgefallen war. "Nun, wenn du reden willst, weißt du ja, wo du mich findest." Damit war dieses Thema für ihn fürs Erste beendet. Jetzt musste er sich erst mal wieder auf die Schachpartie konzentrieren, wenn er seinem Ältesten nicht schon binnen der nächsten drei Züge unterliegen wollte. oOo Mokuba hatte sich nach seinem Gespräch mit seinem großen Bruder gleich in sein Zimmer zurückgezogen. Nach kurzem Zögern hatte er bei Yuugi angerufen, dort aber von dessen Mutter erfahren, dass Yuugi und Yami gemeinsam erst zu ihrem Großvater und dann ins Museum gegangen und bisher noch nicht wieder nach Hause gekommen waren. Für einen Moment hatte Mokuba danach mit dem Gedanken gespielt, Ryou anzurufen, um mit ihm zu reden, aber er hatte es einfach nicht über sich gebracht, die Nummer seines weißhaarigen Freundes zu wählen. Nach allem, was er seit Freitag wusste, war er sich nicht sicher, ob Ryou wirklich zuhören wollen würde, wenn er mit ihm über Ryuuji und das sprach, was sie heute erfahren hatten. Abgrundtief seufzend ließ Mokuba das Telefon neben sich auf sein Bett fallen. Er fühlte sich so nutzlos, denn es war ihm nicht entgangen, dass er Ryuuji kein bisschen hatte trösten können. Und auch Yukiko, sein Vater und Seto hatten offenbar alle mit Erinnerungen zu kämpfen, die er nicht teilte. Er konnte also auch dem Rest seiner Familie keine Hilfe sein, einfach weil er nicht mehr wusste, wie es sich angefühlt hatte, jemanden zu verlieren, der ihm so nahe gestanden hatte. Wie sollte er seinen Bruder, seinen Vater oder seine Stiefmutter trösten können, wenn er überhaupt nicht nachvollziehen konnte, was sie durchmachten? Mitten in seine deprimierenden Gedanken hinein klopfte es an seine Zimmertür. Verwundert erhob Mokuba sich von seinem Bett, öffnete die Tür und fand sich gleich darauf seiner Stiefmutter gegenüber. Mokuba, der damit nicht gerechnet hatte – er hatte halb erwartet, dass sein großer Bruder raufkommen und nach ihm sehen würde –, trat beiseite und bedeutete Yukiko so, dass sie eintreten sollte. Sobald sie das getan hatte, schob er die Tür leise wieder hinter ihr ins Schloss. "Ist alles in Ordnung mit dir, Mokuba?", erkundigte Yukiko sich, nachdem Mokuba ihr angeboten hatte, dass sie sich zu ihm aufs Bett setzen konnte, wenn sie wollte. "Ich weiß nicht", murmelte der Fünfzehnjährige, ließ sich ebenfalls wieder auf sein Bett fallen und zog in einer hilflosen Geste die Schultern hoch. Wie sollte er in Worte kleiden, was in seinem Kopf vor sich ging? Mokuba wusste es einfach nicht. Wie sollte er seiner Familie begreiflich machen, dass er ihnen gerne helfen wollte, aber einfach nicht wusste, wie er das anstellen sollte? "Ich wünschte einfach bloß, ich könnte irgendwas tun. Irgendwie … helfen. Aber ich weiß nicht wie." Das einzugestehen war nicht unbedingt einfach. Aber jetzt, wo der Anfang schon gemacht war, purzelten die Worte einfach aus ihm heraus, ohne dass er sie aufhalten konnte. "Ich wollte Ryuuji so gerne trösten, aber ich glaube nicht, dass ich das wirklich konnte. Und Vater und Seto denken jetzt bestimmt wieder an Mutter und daran, wie sehr sie sie immer noch vermissen. Und ihnen kann ich auch nicht helfen, weil ich mich kaum noch daran erinnern kann, wie sie überhaupt war." Mokuba seufzte abgrundtief. "Ich weiß nicht mal mehr, wie ihre Stimme geklungen hat. Seto hat mir erzählt, dass sie uns früher immer Geschichten vorgelesen hat, bis wir eingeschlafen sind, aber daran kann ich mich auch nicht mehr erinnern. Ich weiß ganz genau, dass ich Vater und Seto damit wehtue, aber ich kann das einfach nicht ändern. Ich würde mich so gerne an sie erinnern, damit ich das mit ihnen teilen kann, aber egal, was ich auch versuche, da ist einfach nichts mehr von ihr. Ich erinnere mich an alles, was Vater und Seto mir jemals über sie erzählt haben, aber an sie selbst kann ich mich nicht erinnern. Ich bin ein schlechter Sohn." "Das bist du ganz sicher nicht", widersprach Yukiko, zögerte einen Moment und legte dann eine Hand auf Mokubas Hände, die er in seinem Schoß verschränkt hatte. "Deine Mutter wäre dir bestimmt nicht böse. Dein Vater hat mir erzählt, dass du noch sehr klein warst, als sie gestorben ist. Und er sagte, du hättest sie sehr vermisst. Vielleicht ist das einfach eine Art Schutzmechanismus gegen den Schmerz. Das macht dich aber keinesfalls zu einem schlechten Sohn, Mokuba. Ich bin mir sicher, wenn deine Mutter jetzt hier wäre, würde sie nicht wollen, dass du dir Vorwürfe wegen etwas machst, was nicht deine Schuld ist", versuchte sie, ihn wieder ein bisschen aufzubauen. Wenn sie schon ihrem eigenen Sohn nicht helfen konnte, so konnte sie vielleicht wenigstens Mokuba eine Hilfe sein. Ein zittriges Seufzen kam über Mokubas Lippen. Er war irgendwie froh, dass Yukiko zu ihm gekommen war und nicht Seto, denn er hätte seinem großen Bruder seine Zweifel auf keinen Fall anvertrauen können. Seto hatte sich immer so viel Mühe gegeben, hatte ihm so oft von ihrer Mutter erzählt und mit ihm all die alten Fotos angesehen, aber Mokuba war sich sicher, dass er auch insgeheim immer darauf gehofft und gewartet hatte, dass er, Mokuba, sich von selbst wieder an irgendetwas erinnerte und ihm das erzählte. Und das hatte er Seto einfach nicht bieten können, so sehr er es auch versucht hatte. Eine Weile genoss der Fünfzehnjährige einfach nur den stummen Trost, den seine Stiefmutter ihm spendete, dann rückte er ein Stück näher zu ihr und sah sie unsicher an. "Darf ich dir eine Frage stellen? Über … Ryuujis Vater?", wollte er zaghaft wissen und sah, wie Yukiko schluckte. Dennoch nickte sie nach kurzem Zögern. "Was möchtest du denn wissen?", erkundigte sie sich und Mokuba atmete tief durch. "Wie war er so?", fragte er dann und beobachtete seine Stiefmutter ganz genau. Über ihr Gesicht huschten so viele Emotionen, dass ihm beinahe schwindelig wurde. "Das ist keine besonders leichte Frage", gab Yukiko zu und auf ihren Lippen erschien ein etwas wehmütiges Lächeln. "Als ich ihn kennenlernte, war er so ganz anders als die Männer, die ich bis zu diesem Zeitpunkt kannte. Er war viel offener und sehr geradeheraus." Und auch wenn er mit seinem Verhalten hier in Japan oft angeeckt war, so hatte er sie doch vom ersten Moment an in seinen Bann gezogen. Sie, die sehr behütet aufgewachsen war, hatte durch den draufgängerischen amerikanischen Piloten eine ganz andere Welt entdeckt – eine Welt, die ihr so fremd und so faszinierend erschienen war, dass sie damals alle Vorsicht in den Wind geschossen und sich gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Eltern auf diesen Mann eingelassen hatte. "Er war, zumindest anfangs, immer gut gelaunt. Und er hat es irgendwie immer geschafft, sich sehr schnell überall Freunde zu machen." Ein Talent, das er ganz eindeutig an ihren gemeinsamen Sohn weitervererbt hatte. In dieser Hinsicht war Ryuuji seinem Vater sehr, sehr ähnlich, auch wenn die beiden, wie sie wusste, nicht immer sehr gut miteinander ausgekommen waren. James hatte schon früh sehr genaue Vorstellungen von dem Leben gehabt, das er sich für seinen Sohn gewünscht hatte. Ryuuji hatte allerdings eigene Vorstellungen davon, wie er sein Leben leben wollte, und so waren die beiden besonders in den letzten Jahren immer mal wieder aneinander geraten. Aber trotzdem wusste sie, dass James seinen Sohn über alles geliebt hatte. Und Ryuuji liebte seinen Vater, das wusste sie ebenso sicher. "Ryuuji hat mir erzählt, dass sein Vater ihm sein Tattoo geschenkt hat. Vorab zu seinem Geburtstag." Auf diese Worte hin sah Yukiko ihren Stiefsohn überrascht an. Ryuuji hatte sich tätowieren lassen? Davon wusste sie ja noch gar nichts. Sicher, sie hatte gewusst, dass ihr Junge sich schon seit ein paar Jahren ein Tattoo gewünscht hatte, aber dass sein Vater ihm diesen Wunsch tatsächlich erfüllt hatte, überraschte sie zugegebenermaßen doch etwas. James selbst war zwar auch tätowiert gewesen, aber trotzdem waren sie sich eigentlich einig gewesen, dass so etwas für ihren Sohn erst in Frage kommen würde, wenn er volljährig war. Offenbar hatte James wieder einmal nicht abwarten können. "Davon hat Ryuuji mir noch gar nichts erzählt", gab Yukiko zu und Mokuba zuckte ertappt zusammen. Hoffentlich hatte er Ryuuji jetzt keinen Ärger eingebrockt! Das war ganz sicher nicht seine Absicht gewesen. Er hatte gedacht, Yukiko wüsste Bescheid, aber offenbar war das etwas gewesen, was Ryuuji nur mit seinem Vater und nicht mit seiner Mutter besprochen hatte. Nur zu gerne hätte der Fünfzehnjährige sich jetzt bei seinem Stiefbruder dafür entschuldigt, dass er sich verplappert hatte, aber das war im Moment ja nicht möglich. "Das sieht James ähnlich", riss Yukiko ihren Stiefsohn wieder aus seinen gedanklichen Selbstvorwürfen. "Wahrscheinlich hat Ryuuji es einfach so lange immer und immer wieder erwähnt, bis James die Nase voll hatte und ihm das Geld für die Tätowierung gegeben hat, nur um endlich nichts mehr davon hören zu müssen", vermutete sie und obwohl es in der Situation eigentlich ganz und gar nicht angemessen war, entschlüpfte ihr ein leises Lachen. "Das ist so typisch für die beiden. So hat Ryuuji bei seinem Vater schon immer seinen Willen durchzusetzen versucht. Und meistens ist es ihm auch gelungen. James hat sich zwar oft gesträubt, aber letztendlich konnte er Ryuuji schon früher nur ganz schlecht etwas abschlagen", erzählte sie weiter und nun kicherte auch Mokuba. "Das klingt, als hätte Ryuuji seinen Vater gut im Griff gehabt", vermutete er und Yukiko nickte. "Allerdings. Aber ich fürchte, Ryuuji hat nicht nur James immer wieder um den Finger gewickelt, sondern auch mich", gab sie mit einem verschwörerischen Grinsen zu und auf Mokubas Lippen erschien ebenfalls ein Grinsen. "Kann ich mir lebhaft vorstellen. Meine beiden besten Freunde Yuugi und Ryou waren auch gleich auf Anhieb total begeistert von ihm." Dass das bei Ryou irgendwann in heftige Eifersucht umgeschlagen war, erwähnte Mokuba sicherheitshalber lieber nicht. Das war ein Thema, das er definitiv nicht mit Yukiko besprechen wollte. Nicht, solange er selbst noch nicht wusste, wie es jetzt weitergehen sollte zwischen Ryou und ihm. Aber das würde sich wohl erst am Montag in der Schule zeigen. "Hast du ein Foto von James?", wollte Mokuba wissen und unterdrückte mit etwas Mühe den Impuls, sofort hektisch aufzuspringen, als Yukiko seine Frage bejahte. "Wenn du möchtest, zeige ich es dir", bot sie an und nun sprang der Fünfzehnjährige doch auf, besann sich aber noch rechtzeitig auf seine Manieren und hielt seiner Stiefmutter erst einmal die Tür seines Zimmers auf, ehe er gemeinsam mit ihr in das Schlafzimmer hinüberging, das sie seit der Hochzeit mit seinem Vater teilte. Dort kramte Yukiko eine Kiste aus ihrem Nachttisch und bedeutete Mokuba dann, gemeinsam mit ihr in das angrenzende Zimmer hinüberzugehen. Die beiden nahmen gemeinsam auf dem gemütlichen Sofa Platz und Yukiko stellte die Kiste mit den Fotos auf den niedrigen Beistelltisch. Dann hob sie den Deckel an und nahm einige der Bilder heraus, die sie einzeln an Mokuba weiterreichte. Auf dem ersten Bild war ein blonder junger Mann in voller Air Force-Ausgehuniform zu sehen, der bestens gelaunt in die Kamera strahlte. In seinen grünen Augen blitzte der Schalk und Mokuba kam nicht umhin, zuzugeben, dass die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn nicht zu übersehen war. Ryuuji und James hatten nicht nur die gleichen Augen, sondern eindeutig auch die gleiche Art zu grinsen. Einzig in der Haarfarbe und auch ein wenig in den Gesichtszügen unterschieden sie sich voneinander, aber ihre Verwandtschaft konnten sie definitiv nicht leugnen. "Das Foto hier ist am Tag nach unserer Verlobung entstanden", kommentierte Yukiko das nächste Foto, das sie gemeinsam mit einem ebenso strahlenden James zeigte. Die junge Frau neben ihm – eindeutig eine jüngere Version Yukikos – lächelte zwar schüchtern, aber nicht weniger glücklich, so dass Mokuba unwillkürlich auch lächelte. Er kannte ähnliche Bilder von seinen eigenen Eltern und auch von den Eltern seines Freundes Yuugi. Einzig von Ryous Eltern gab es keine derartigen Fotos mehr, da Ryous Vater nach der Scheidung alle Bilder seiner Exfrau und seines ältesten Sohnes kategorisch aus dem Haus verbannt hatte. "Und das hier ist am Tag von Ryuujis Geburt entstanden." Yukiko reichte Mokuba ein weiteres Bild. Wieder war James Devlin unverkennbar. Und ebenso unverkennbar war der Stolz, mit dem er auf das winzige schwarzhaarige Bündel in seinen Armen herablächelte. "Er war so glücklich an diesem Tag." Yukiko wischte sich verstohlen über die Augen, lächelte jedoch gleich wieder, als Mokuba ein Stück näher zu ihr rückte, um sie so zu trösten. "James war zwar oft im Einsatz, aber wann immer er zu Hause war, hat er so viel Zeit wie möglich mit Ryuuji verbracht. Deshalb haben wir uns nach der Scheidung auch darauf geeinigt, dass Ryuuji ein halbes Jahr bei mir verbringt und die andere Hälfte des Jahres bei seinem Vater. Ich wollte die beiden auf gar keinen Fall dauerhaft trennen. Das konnte ich ihnen einfach nicht antun. Ryuuji hat schon immer sehr an seinem Vater gehangen." "Dann muss es besonders hart für ihn sein, dass er jetzt …", vermutete Mokuba leise und seufzte abgrundtief. Genau wie ihm selbst hatte Ryuuji von seinem Vater jetzt nicht mehr als die Fotos, die seine Mutter besaß, und seine eigenen Erinnerungen. "Das ist es sicher", bestätigte Yukiko Mokubas Verdacht. Es hatte ihr wehgetan, ihren Jungen so zu sehen und zu wissen, dass sie ihm nicht helfen konnte. Sie wusste, dass er sich ihretwegen zusammengerissen hatte, weil er ihr keine Sorgen hatte bereiten wollen. Dabei wäre sie so gerne für ihn da gewesen. Aber sie war wohl einfach nicht die Mutter, die ihr Junge brauchte. Mokuba biss sich auf die Lippe, als er Yukikos Gesichtsausdruck sah. Das hatte er ganz bestimmt nicht gewollt. Er hatte sie auf gar keinen Fall wieder traurig machen wollen. "Was ist mit dem Bild?", bemühte er sich daher um Ablenkung und deutete auf das nächste Foto, das seine Stiefmutter in den Händen hielt. "Das? Oh, das war Ryuujis erster Tag im Kindergarten", kommentierte sie den kleinen schwarzhaarigen Jungen, der lachend auf den Schultern seines Vaters ritt. Sie selbst war auf dem Bild nicht zu sehen, also, vermutete Mokuba, hatte sie das Foto wohl gemacht. Ganz genau so – gemeinsam alte Fotos ansehend und dabei in Erinnerungen schwelgend – fanden Gozaburo und Seto Mokuba und Yukiko vor, als sie sich nach ihrer Schachpartie gemeinsam auf die Suche nach dem Fünfzehnjährigen machten. In seinem Zimmer war er nicht, aber leises Gelächter aus Yukikos Zimmer wies ihnen den richtigen Weg. Gozaburo lächelte unwillkürlich bei dem Anblick, der sich ihm bot. Ganz offenbar war seiner Frau das gelungen, was er selbst nicht vermocht hatte, nämlich seinen Jüngsten zu trösten. Und umgekehrt hatte Mokuba offenbar das Gleiche für seine Stiefmutter getan, denn die beiden wirkten regelrecht ausgelassen, wie sie die Köpfe zusammensteckten und miteinander lachten. Der Anblick von Mokuba mit ihrer Stiefmutter versetzte Seto einen leichten Stich, aber er schob dieses Gefühl schnell wieder beiseite. Es war gut, dass sein Bruder nach dem katastrophal verlaufenen Morgen jetzt schon wieder ein bisschen lachen konnte. Und auch Yukiko hatte die Ablenkung, die das Durchsehen alter Fotos ihr offenbar geboten hatte, mehr als gut gebrauchen können. Trotzdem fühlte Seto sich ein wenig außen vor – ein Gefühl, das jedoch schwand, als Mokuba ihn bemerkte und ihn gleich hektisch zu sich winkte. "Schau mal, Seto, Ryuuji als Kürbis verkleidet zu Halloween!", erklärte er das Foto, das Yukiko und ihn gerade noch so erheitert hatte, und als Seto einen Blick auf das Bild warf, musste er unwillkürlich ebenfalls schmunzeln. Ryuuji mochte auf dem Foto vielleicht vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Und er sah alles andere als begeistert aus. Ob das jedoch am Kostüm lag oder ob es dafür einen anderen Grund gab, hätte Seto nicht zu sagen gewusst. Allerdings war die mangelnde Begeisterung Ryuujis schon allein an seiner schmollend vorgeschobenen Unterlippe mehr als deutlich zu erkennen. "Da war er vier Jahre alt", erzählte Yukiko mit deutlich hörbarem Amüsement in der Stimme. "Und eigentlich hatte James ihm ein anderes Kostüm versprochen – welches weiß ich leider nicht mehr –, aber er hatte komplett vergessen, es zu besorgen. Und das einzige Kostüm, was auf den letzten Drücker noch aufzutreiben war, war dieser Kürbis. Ryuuji hat es gehasst. Kürbisse mochte er noch nie", fuhr sie mit einem mühsam unterdrückten Lachen in der Stimme fort und reichte Mokuba das nächste Foto. Der Fünfzehnjährige rückte noch ein bisschen näher zu ihr und zog seinen großen Bruder dann auf den freigewordenen Platz neben sich, damit er sich die Fotos ebenfalls anschauen konnte. Gozaburo trat von hinten an das Sofa heran und legte seiner Frau die Hände auf die Schultern. Er lächelte sie an, als sie kurz zu ihm aufblickte, sagte aber nichts, um diesen Moment nicht zu unterbrechen. Jetzt gerade, sinnierte er, fehlte eigentlich nur Ryuuji, dann wäre ihre Familie komplett. Aber möglicherweise konnten sie das ja noch mal wiederholen, wenn Ryuuji erst mal wieder zu Hause war. Sicher würde ihm das auch guttun. oOo "Okay, okay, ich geb auf. Du hast gewonnen." Mit einer Mischung aus Frust und Bewunderung fuhr Malik sich durch die Haare und ließ sich auf den Stuhl Yami gegenüber fallen. Fast den ganzen Tag hatten sie aufs Hitzigste miteinander diskutiert und nicht mal die Essenspausen, die Ishizu ihnen zwischendrin aufgenötigt hatte, hatte die Diskussionen wirklich stoppen können. Aber als sich schlussendlich auch seine eigene Schwester auf die Seite des Japaners gestellt und diesem nach einer weiteren Durchsicht der Übersetzungen, die die beiden Jungen unabhängig voneinander angefertigt hatten, Recht gegeben hatte, musste Malik wohl oder übel zähneknirschend seine Niederlage eingestehen. "Hab ich dir doch gestern schon gesagt", triumphierte Yami auch prompt und auch wenn er ihm das eigentlich hatte übelnehmen wollen, schaffte Malik das einfach nicht. Dafür, das musste er zugeben, hatte er einfach viel zu viel Spaß an der ganzen Sache gehabt. Anstatt also wütend zu werden, lachte er einfach nur laut auf und hielt sich den Bauch. Yamis verdutztes Gesicht war aber auch einfach zum Schießen. Nach der ganzen hitzigen Debattiererei hatte er offensichtlich alles erwartet, aber nicht das. "Lachst du immer so, wenn du verlierst?", erkundigte Yami sich neugierig, als Malik sich endlich wieder beruhigt hatte. Kichernd wischte dieser sich ein paar letzte Lachtränen von den Wangen, doch ehe er zum Antworten kam, hatte seine Schwester das schon für ihn übernommen. "Eigentlich nicht, nein." Ishizu bedachte ihren Bruder mit einem langen, vielsagenden Blick. "Üblicherweise flucht Malik in so einem Fall ziemlich viel. Und manchmal wirft er auch Dinge kaputt, wenn er sich ganz besonders ärgert", fügte sie noch hinzu und Malik hatte tatsächlich den Anstand, etwas zerknirscht auszusehen. Yami hingegen lehnte seine Unterarme auf den Tisch und musterte den Ägypter über diesen hinweg interessiert. "Wie kommt es dann, dass du jetzt einfach nur lachst und nichts kaputtwirfst?", erkundigte er sich neugierig. Maliks einzige Reaktion darauf war ein diffuses Achselzucken. "Liegt vielleicht einfach daran, dass meine Schwester mich umbringen würde, wenn mein Temperament hier mit mir durchginge und ich die Artefakte beschädigen würde", vermutete er und grinste seinen Gegenüber breit an. "Vielleicht liegt's aber auch einfach bloß an dir", schob er noch hinterher und sein Grinsen wurde noch etwas breiter, als Yami vor Überraschung beinahe das Gleichgewicht verlor. Um ein Haar wäre er mitsamt seinem Stuhl umgekippt, aber er konnte sich gerade noch rechtzeitig am Tisch festhalten. "Das ist mein Ernst. Es macht verdammt viel Spaß, mit dir zu streiten", ließ Malik seinen Gegenüber wissen und Yami schnaubte – hauptsächlich um zu verbergen, dass ihn das verdrehte Kompliment ungewohnt verlegen machte. Und wieso fiel ihm bitteschön ausgerechnet jetzt auf, wie gutaussehend Malik eigentlich war? Das ist doch total bescheuert! Gestern, bevor Yuugi ihn ins Museum geschleift hatte, hätte er sich am liebsten für den Rest seines Lebens in seinem Zimmer eingeschlossen. Und jetzt dachte er plötzlich solche Dinge über jemanden, den er eigentlich kaum kannte? Na ja, ist ja nicht so, als hättest du Kinoshita-kun wirklich gekannt, bevor du dich Hals über Kopf in ihn verknallt hast, flüsterte seine innere Stimme, die Yami gleich sehr energisch zum Schweigen brachte. "Kann ich nur zurückgeben", rang er sich etwas mühsam ab und hoffte dabei inständig, dass sein Grinsen bei diesen Worten nicht so peinlich berührt ausfiel, wie er sich gerade fühlte. Er sollte so was wirklich nicht denken. "Freut mich." Wieder erschien auf Maliks Lippen dieses entwaffnende Grinsen, mit dem er, wie Yami im Laufe des Tages bereits mehrmals beobachtet hatte, es problemlos schaffte, seine ältere Schwester um den kleinen Finger zu wickeln. Ishizu gelang es offenbar kaum, ihrem Bruder für längere Zeit ernsthaft böse zu sein, wenn er sie auf diese ganz spezielle Art angrinste. Und zu seinem nicht geringen Entsetzen stellte Yami fest, dass es ihm selbst nicht viel anders ging. Auch wenn er fast den ganzen Tag mehr oder weniger damit verbracht hatte, mit Malik zu streiten, das war eigentlich gar kein richtiger Streit gewesen. Eigentlich hatten sie nur ziemlich hitzig miteinander diskutiert, sonst nichts. Und es hatte wirklich eine Menge Spaß gemacht, das konnte er nicht leugnen. Allerdings konnte – oder vielmehr wollte – er das nicht unbedingt laut zugeben, wenn Ishizu dabei war, also bemühte Yami sich um einen Themenwechsel. "Ich sollte langsam nach Hause. Morgen muss ich wieder zur Schule", teilte er den Ishtar-Geschwistern mit und begann, seine Sachen zusammenzupacken. Der kurze Blick, den Malik und Ishizu über den Tisch hinweg wechselten, entging ihm dadurch völlig. Dass Malik sich ebenfalls erhob, als er aufstand um zu gehen, überraschte ihn daher doch ziemlich. "Wenn du mir sagst, wo du wohnst, fahr ich dich noch eben nach Hause", bot Malik an und Yami bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. "Du hast ein Auto?", wollte er wissen, doch Malik schüttelte den Kopf. "Nicht so direkt", erwiderte er, lieferte jedoch keine weitere Erklärung. Stattdessen machte er sich auf den Weg zum Hinterausgang und zwang Yami so, ihm zu folgen. Draußen auf dem Museumsparkplatz steuerte der Ägypter ohne Umschweife ein pechschwarzes Motorrad an und Yami sog scharf die Luft ein, als er das sah. "Ist das dein Ernst?", fragte er halb begeistert, halb entsetzt. Überrascht fing er den Helm auf, den Malik ihm statt einer Antwort zuwarf. "Allerdings", bekam er dann doch noch eine verbale Bestätigung. Beinahe liebkosend glitt die Hand des Ägypters kurz über seine Maschine, ehe er sich auf diese schwang. Erst dann sah er Yami wieder an. "Na, was ist? Lust auf eine kleine Motorradfahrt? Oder hast du etwa Angst davor?", fragte er und der provozierende Unterton in seiner Stimme wischte sämtliche Bedenken, die Yami gehabt hatte, einfach weg. Ohne die Provokation einer Antwort zu würdigen, setzte er den Helm auf und schwang sich hinter Malik auf das Motorrad. Malik, der in der Zwischenzeit bereits seinen eigenen Helm aufgesetzt hatte, grinste zufrieden. Er hatte doch gleich gewusst, dass Yami darauf anspringen würde, wenn er ihn ein bisschen triezte und aufzog. Das hatte schon den ganzen Tag über wirklich gut geklappt und jetzt gerade hatte es auch wieder bestens funktioniert. "Halt dich gut an mir fest", wies er Yami an und wartete, bis dieser die Arme um seinen Bauch geschlungen hatte. Dann ließ er sich noch eben die Adresse nennen, ehe er seine Maschine startete und mit dieser und seinem Beifahrer in die langsam einsetzende Dämmerung brauste. Viel zu schnell für Yamis Geschmack fand die Fahrt vor dem Haus, in dem seine Familie wohnte, auch schon wieder ein Ende. Er fühlte sich aufgeputscht wie schon lange nicht mehr, als Malik seine Maschine zum Stehen brachte, den Helm abnahm und ihn angrinste. Yami nahm seinerseits ebenfalls den geliehenen Helm ab und gab ihn dem Ägypter zurück, der ihn gleich im dafür vorgesehenen Fach verstaute. "Und, war's schlimm?", erkundigte er sich dann und sein Grinsen wurde noch etwas breiter, als Yami gleich hektisch den Kopf schüttelte. "Im Gegenteil!", gab Yami ehrlich zu. Schlimm war die Fahrt ganz und gar nicht gewesen. Nein, es war eher verdammt aufregend gewesen, so durch den Verkehr zu rasen – so aufregend, dass es ihn nicht mal wirklich gestört hatte, dass Malik sich definitiv nicht dauerhaft an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten hatte. "Daran könnte man sich glatt gewöhnen", entfuhr es ihm, ohne dass er es verhindern konnte, und Malik lachte auf. "Allerdings. Genau deshalb hab ich sie ja", erwiderte er, tätschelte seine Maschine und zwinkerte Yami zu. "Wenn du ab jetzt öfter zu uns ins Museum kommst, kann ich dich ja auch öfter mal nach Hause fahren", bot er dann an. Yami hätte am liebsten sofort zugestimmt, stoppte sich aber im letzten Moment selbst. Malik musste nicht unbedingt wissen, wie gut ihm die Fahrt wirklich gefallen hatte und wie gerne er eine Wiederholung wollte – nicht nur von der Heimfahrt, sondern von dem ganzen vergangenen Tag. "Mal schauen, vielleicht. Lass dich einfach überraschen", riet er dem Ägypter daher und wieder lachte dieser. "Okay, werd ich tun. Aber ernsthaft, ich fänd's echt cool, mich ab jetzt öfter mit dir zu streiten", gestand er und zwinkerte Yami noch einmal zu, ehe er seinen Helm wieder aufsetzte, sein Motorrad startete und sich auf den Rückweg zum Museum machte. Yami blickte ihm einen Moment lang nach, dann schüttelte er grinsend den Kopf über Malik und sich selbst und kramte in seiner Tasche nach dem Haustürschlüssel. Dass er dabei gut gelaunt vor sich hin summte, bemerke er gar nicht. Kapitel 27: Brüder unter sich ----------------------------- Es war schon deutlich nach der eigentlichen Zeit fürs Abendessen, als Yuugi endlich nach Hause kam. Von seinem Großvater aus hatte er seine Eltern angerufen und ihnen Bescheid gesagt, dass er zum Essen nicht da sein würde. Den eigentlichen Grund dafür – Rebecca – hatte er jedoch für sich behalten, denn er hatte keine Fragen von der Art beantworten wollen, die seine Mutter ganz sicher stellen würde, wenn sie erfuhr, dass er den Nachmittag nicht wie erwartet nur mit seinem Großvater, sondern mit einem Mädchen verbracht hatte. Sie kannte Rebecca zwar auch, aber das würde sie ganz sicher nicht daran hindern, darüber zu spekulieren, was genau ihr jüngerer Sohn wohl tun würde, wenn er mit Rebecca alleine war. Und da sie sich mit Spekulationen bestimmt nicht dauerhaft aufhalten würde, würde sie garantiert irgendwann anfangen, ihn auszufragen. Und das wollte Yuugi nun auf gar keinen Fall riskieren. Trotzdem wollte – musste – Yuugi ganz dringend mit jemandem reden, also huschte er, sobald er seine Eltern über seine Heimkehr informiert hatte, gleich hoch zum Zimmer seines Bruders. Er verschwendete keine Zeit damit, anzuklopfen, sondern öffnete einfach nur die Tür, quetschte sich eilig hindurch und schob sie dann direkt hinter sich wieder zu. Und als er sich umdrehte, fand er sich wie erwartet auch gleich mit seinem großen Bruder konfrontiert, der ihn fragend ansah. Yuugis Wangen, das fiel Yami sofort auf, wiesen hektische rote Flecken auf. Und auch sonst machte er den Eindruck, als wäre er völlig durch den Wind. "Ist irgendwas mit Opa?", erkundigte Yami sich daher besorgt, aber Yuugi schüttelte gleich heftig den Kopf. "Nein, Opa geht's gut. Sehr gut sogar. Hopkins-san ist bei ihm", beruhigte er seinen großen Bruder und ließ sich dann ganz unzeremoniell auf den Boden vor Yamis Bett fallen. "Mit … mit Rebecca", schob er noch hinterher und spürte zu seinem Entsetzen, wie ihm gleich noch mehr Blut ins Gesicht schoss. "Becky-chan? Wie geht's ihr?", wollte Yami wissen, stutzte jedoch, als er bemerkte, dass Yuugis Gesichtsfarbe sich bei der Nennung von Rebeccas Namen gleich noch mehr verdunkelt hatte. "G-Gut", stammelte Yuugi und wich dem Blick seines Bruders aus, als könnte das verhindern, dass Yami eins und eins zusammenzählte und auf zwei als Ergebnis kam. "Wir … äh … wir waren heute Nachmittag zusammen in der Arkade. U-Und … Also, Hopkins-san und Rebecca sind jetzt für zwei Wochen bei Opa. Und Rebecca hat mich gefragt, ob ich morgen nach der Schule wieder vorbeikomme, damit wir noch mal zusammen ein paar Games spielen können. U-Und ich hab ja gesagt." "Also deshalb warst du nicht mehr im Museum", vermutete Yami ganz richtig und verkniff sich ein Kichern, als sein kleiner Bruder gleich noch mehr errötete. Na, das ist doch mal interessant. Yuugi hatte ja früher schon immer sehr gerne Zeit mit Rebecca verbracht. Und wenn er sich recht erinnerte, sinnierte Yami, dann hatte sie irgendwann mal verkündet, dass sie vorhatte, Yuugi zu heiraten, wenn sie beide alt genug waren. Das war zwar inzwischen schon ein paar Jahre her, aber es sah ganz so aus, als wäre zumindest Yuugi … nun, sehr begeistert von Rebecca. Ob es ihr wohl mit Yuugi immer noch genauso ging? "Ja, ich … Tut mir leid, Nii-chan", entschuldigte dieser sich gerade, aber Yami winkte einfach nur ab. Wenn er ganz ehrlich war, dann hatte er über seine Diskussionen mit Malik nicht mal gemerkt, dass Yuugi gar nicht wie versprochen nachgekommen war. Er hatte auch die Nachricht, die sein Bruder ihm bereits am Nachmittag geschickt hatte, erst bemerkt, als er schon längst wieder zu Hause gewesen war. Er war so sehr auf seine Übersetzung und seine Streitereien mit Malik konzentriert gewesen, dass er zwischenzeitlich sogar völlig vergessen gehabt hatte, dass Ishizu auch noch da gewesen war. Aber das war etwas, was Yami seinem Bruder lieber nicht unbedingt auf die Nase binden wollte. "Das muss dir nicht leid tun, Yuugi. Die Hauptsache ist doch, dass ihr beide euren Spaß hattet." Yuugi schluckte. "Ha-Hatten wir. Also … glaube ich jedenfalls." Ganz sicher war er sich dessen nicht. Ja, sicher, Rebecca hatte gesagt, sie wollte morgen wieder mit ihm in die Arkade, aber was, wenn sie sich da doch langweilte? Wenn ihr das vielleicht doch keinen Spaß machte und sie nur mitging, weil sie sich dazu verpflichtet fühlte? Was dann? Oh Mann. Yami unterdrückte mühsam ein Kichern. Sein kleines Wiesnäschen, das gestern noch so altklug getan hatte, jetzt auf einmal so verlegen und durcheinander vor sich zu sehen war regelrecht niedlich. Aber das behielt Yami lieber für sich. Yuugi wollte ganz sicher nicht niedlich sein. "Wenn du dir nicht sicher bist, ob ihr das wirklich Spaß gemacht hat, dann frag sie doch morgen einfach", schlug Yami seinem Bruder vor und als dieser aufblickte, sah er genau das sanfte, aufmunternde Lächeln, auf das er gehofft hatte. Genau deshalb war er direkt zu seinem großen Bruder gekommen. Yami wusste einfach am allerbesten, wie man solche Achterbahnfahrten unbeschadet überstand. "Und was mache ich, wenn sie sagt, dass sie doch keinen Spaß hatte?", erkundigte Yuugi sich daher und seufzte zufrieden, als sein Bruder ihm durch die Haare wuschelte. "Dann fragst du sie, was sie stattdessen gerne machen möchte. Ihr findet sicher etwas, womit ihr beide auf eure Kosten kommt. Und wenn sie doch die Wahrheit gesagt hat und ihr die Arcade Games wirklich Spaß gemacht haben, umso besser. Dann weißt du doch schon, was ihr morgen Nachmittag zusammen unternehmen könnt." Was, fand Yami, eigentlich wie ein guter Plan klang. Wer hätte gedacht, dass Yuugi der Erste von uns beiden ist, der jemals ein richtiges Date haben würde?, sinnierte er bei sich. Denn das, was Yuugi ihm erzählt hatte, klang für ihn schon recht eindeutig. Allerdings wollte er seinen kleinen Bruder auf keinen Fall überfordern oder unter Druck setzen, also sprach er ihn nicht darauf an und neckte ihn auch nicht mit seinem bevorstehenden ›Date‹. Das konnte er auch morgen noch tun, wenn er erst mal wusste, wie es gelaufen war und ob Becky-chan wirklich noch auf diese Art an seinem kleinen Wiesnäschen interessiert war oder nicht. Aber das würde er vor morgen Abend wohl nicht erfahren, also, beschloss Yami, würde er geduldig sein. "Übrigens hatte ich doch Recht mit meiner Übersetzung. Das meinte auch Ishizu. Du hättest Maliks Gesicht sehen sollen!", bemühte er sich daher erst einmal um Ablenkung und registrierte mit einem Schmunzeln Yuugis Erleichterung, als sich nicht mehr alles um ihn und Rebecca und den Nachmittag, der vor ihm lag, drehte. "War doch logisch. Opa weiß eben ganz genau, was er tut." Gut, manchmal war ihr Großvater schon ein bisschen sonderlich, aber wenn es um seinen früheren Job ging, dann bewies er immer wieder, dass er geistig eben doch noch voll und ganz auf der Höhe war. Yuugi grinste seinen großen Bruder breit an. Ein bisschen bedauerte er zugegebenermaßen ja schon, dass er nicht dabei gewesen war, als Malik seine Niederlage hatte eingestehen müssen. Aber wenn er ganz ehrlich war, dann musste Yuugi zugeben, dass er den vergangenen Nachmittag für nichts in der Welt eintauschen wollte. Und morgen nach der Schule würde er Rebecca direkt schon wiedersehen! Yuugi war so aufgeregt, dass er sich nicht sicher war, ob er in der Nacht überhaupt Schlaf finden würde. "Ich glaube, wir sollten uns beide langsam ins Bett verziehen", schlug Yami in diesem Augenblick vor und Yuugi rappelte sich etwas mühsam wieder vom Boden auf. "Du hast Recht", stimmte er zu und zog eine Grimasse. "Ist es eigentlich normal, so nervös zu sein, nur weil ich mich morgen wieder mit … mit Rebecca treffe?", wollte er dann wissen und Yami nickte einfach nur. "Sicher ist das normal", beruhigte er seinem Bruder und zerzauste dessen dreifarbige Haarpracht noch ein bisschen mehr, ging aber mit keiner Silbe darauf ein, warum diese Nervosität seiner Meinung nach normal war. Dass es Yuugi direkt auf den ersten Blick voll erwischt hatte, hätte auch noch ein Blinder gesehen, aber der arme Junge war auch so schon nervös und hibbelig genug. Er musste es ja nicht noch schlimmer machen. "Schlaf gut, Yuugi. Und viel Spaß morgen. Grüß Becky-chan von mir, okay?" Es fiel ihm nicht gerade leicht, aber Yuugi rang sich dennoch ein Nicken ab. Er war immer noch ganz kribbelig beim Gedanken an den bevorstehenden Nachmittag, aber, beschloss er, es reichte ja eigentlich auch, wenn er sich morgen früh, wenn er ausgeschlafen war, weiter verrückt machte. "Mach ich. Gute Nacht, Nii-chan", wünschte er seinem großen Bruder und machte sich auf den Weg in sein eigenes Zimmer. Eigentlich war er viel zu aufgekratzt, um auch nur an Schlaf zu denken, aber er wollte es wenigstens versuchen. Nicht auszudenken, wenn er morgen total matschig und unausgeschlafen wäre, wenn er sich mit Rebecca traf! Nein, das ging auf keinen Fall. Yami, der seinem kleinen Bruder seine Gedankengänge förmlich an der Nasenspitze hatte ansehen können, kicherte leise vor sich hin, sobald er wieder alleine war. Sein kleines Wiesnäschen hatte sich Hals über Kopf verknallt! Und das auch noch ausgerechnet in Becky-chan, die Enkelin eines früheren Arbeitskollegen und alten Freundes ihres Großvaters. Yami konnte nichts dagegen tun, dass er seinem Bruder die Daumen drückte. Yuugi und Becky-chan waren als Kinder schon niedlich anzusehen gewesen, wenn sie gemeinsam mit ihrem Großvater zu Besuch gewesen war. Wie, fragte Yami sich unwillkürlich, mochte sie sich wohl verändert haben in den letzten Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten? Er erinnerte sich noch lebhaft an ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen, Brille, Sommersprossen und ihrem allgegenwärtigen Teddybären, das schon immer eine unübersehbare Schwäche für Yuugi gehabt hatte. Und er konnte nicht umhin, sich zu wünschen, dass die Gefühle, die sein Wiesnäschen offenbar hatte, erwidert werden würden. Yuugi hatte alles Glück der Welt verdient, wenn es nach seinem großen Bruder ging. Zufrieden vor sich hin summend machte Yami sich fertig fürs Bett, kroch unter seine Decke und schloss die Augen, doch an Schlaf war noch nicht zu denken. Ein wenig, das gab er vor sich selbst durchaus zu, hätte er am kommenden Nachmittag nur zu gerne Mäuschen gespielt, wenn Yuugi sich mit Rebecca traf. Da er sich allerdings für den nächsten Tag bereits anderweitig verabredet hatte, fiel das aus und er würde, wenn er sie auch wiedersehen wollte, wohl einfach in den nächsten Tagen mal bei seinem Großvater vorbeischneien müssen. Und so hat Yuugi dann noch ein Alibi, wenn er sich nicht traut, alleine hinzugehen. Doch, fand Yami, während er langsam in den Schlaf dämmerte, das klang eindeutig wie eine gute Idee. oOo Der Flug, der insgesamt knapp neuneinhalb Stunden dauerte, rauschte an Ryuuji vorbei, ohne dass er wirklich etwas davon mitbekam, wie die Zeit verging. Sein Zeitgefühl hatte er vollkommen verloren und obwohl er die ganze Zeit aus dem Fenster starrte, nahmen seine Augen nichts von dem wahr, was draußen vor sich ging. In seinem Kopf überschlugen sich Bilder, Gedanken und Erinnerungen, aber er bemühte sich nach Kräften, sich auf nichts davon wirklich einzulassen. Er wollte nicht denken – weder an das, was vor ihm lag, noch an das, was er für die nächsten Tage hinter sich gelassen hatte. Ryuuji wurde erst wieder aus der Trance gerissen, in die ihn der Flug versetzt hatte, als die Maschine etwas holprig auf der Landebahn aufsetzte. Frisco. Home, sweet home, dachte Ryuuji bei sich und schluckte, denn der Gedanke hatte einen ungewohnt bitteren Beigeschmack. Ist das jetzt überhaupt noch mein Zuhause?, fragte er sich, schüttelte diesen Gedanken aber schnell wieder ab. Das waren Dinge, über die er auch später noch nachdenken konnte. Jetzt hatte er erst mal genug anders zu tun. Die Maschine und auch den Flughafen zu verlassen kostete Ryuuji alles in allem etwas mehr als eine halbe Stunde. Draußen winkte er sich eins der zahlreichen Taxis heran, nannte seine Adresse und ließ sich, nachdem sein Koffer verstaut war, auf den Beifahrersitz fallen. Den Smalltalkversuch des Taxifahrers blendete er komplett aus, bezahlte diesen an seinem Ziel angekommen noch kurz und fand sich keine fünf Minuten später auch schon in dem Haus wieder, in dem er gut die Hälfte der letzten zehn Jahre seines Lebens verbracht hatte. Sieht alles noch genauso aus, wie ich's verlassen hab. Ryuuji wusste nicht genau, was er erwartet hatte, aber das war es definitiv nicht gewesen. Die abgewetzte dunkelbraune Lederjacke, die sein Vater in seiner Freizeit so gerne getragen hatte, hing wie immer an der Garderobe und dieser Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Alles sah ganz genau so aus, als könnte sein Vater jederzeit einfach so wieder zur Vordertür hereinspazieren, aber Ryuuji wusste es besser. Sein Dad würde nicht einfach so wiederkommen. Nicht mehr. Nie wieder. Wie lange er einfach nur im Flur gestanden und, den Koffer neben sich, die Lederjacke angestarrt hatte, hätte Ryuuji nicht zu sagen gewusst. Es kostete ihn beinahe unmenschliche Anstrengung, sich von dem Anblick loszureißen, seinen Koffer hochzuwuchten und durch den Flur nach hinten zu seinem Zimmer zu gehen. Der Koffer landete dort erst mal in der Ecke neben seinem Bett, während Ryuuji einfach nur stehenblieb und sich im Raum umsah, als sähe er ihn zum allerersten Mal. Alles hier war ihm so vertraut – die Möbel, die Fotos an den Wänden, selbst die Kleiderschranktür, die sich schon seit Jahren nicht mehr komplett schließen ließ – und doch kam ihm alles gleichzeitig auch unglaublich fremd vor. Es war, als gehörte er hierher und als wäre er gleichzeitig auch ein Fremdkörper, der hier eigentlich gar nichts zu suchen hatte. Unwillig, darüber nachzudenken, wandte Ryuuji sich ab und ging hinüber ins Wohnzimmer, wo das Telefon stand. Er hatte Gozaburo-san versprochen, dass er sich nach der Landung melden würde. So machte er es ja eigentlich auch immer dann, wenn er von einem Elternteil zum anderen pendelte. Wenn er zu seinem Dad flog, rief er seine Mutter immer gleich an, sobald er bei diesem zu Hause war, und seinem Vater schrieb er jedes Mal nach seiner Rückkehr nach Japan gleich eine Nachricht, da das Telefonieren nicht immer klappte, wenn sein Dad im Einsatz war. Für einen Moment verharrten Ryuujis Finger in der Schwebe über dem Telefon. Ab jetzt war alles anders. Er würde seinem Dad nie wieder eine Nachricht schicken müssen, wenn er nach Japan flog. Und überhaupt, würde er eigentlich überhaupt noch mal nach Frisco zurückfliegen, wenn sein halbes Jahr mit seiner Mutter abgelaufen war? Ryuuji wusste es einfach nicht. Aber das ist doch jetzt auch nicht so wichtig. Darüber kann ich mir auch später noch den Kopf zerbrechen, beschloss er, schnappte sich doch endlich das Telefon und wählte die Nummer, die seine Mutter ihm bereits vor der Hochzeit hatte zukommen lassen für den Fall, dass er sie mal an ihrer neuen Adresse erreichen musste. Während er dem Freizeichen lauschte, warf Ryuuji einen Blick auf die Uhr. Es war knapp fünf Uhr morgens, also war es in Tokio gerade kurz vor zehn Uhr abends. Nicht mehr unbedingt wirklich früh, aber da er versprochen hatte, sich zu melden, würde er das auch tun. Seine Mutter kannte den Zeitunterschied ebenso gut wie er, hatte sie doch selbst auch eine Weile in den Staaten gelebt, bevor sie im Zuge der Scheidung in ihre Heimat Japan zurückgekehrt war. Sämtliche dieser Gedanken verflüchtigten sich umgehend, als sich nach längerem Klingeln die inzwischen seltsam vertraute Stimme von Gozaburo-sans Assistenten meldete. Für eine Sekunde fragte Ryuuji sich, warum Isono-san um diese Zeit immer noch in der Villa war, aber das war ja eigentlich gar nicht so wichtig. "Isono-san? Würden Sie meiner Mutter bitte ausrichten, dass ich gut angekommen bin?", wandte Ryuuji sich an seinen Gesprächspartner, ohne sich die Mühe zu machen, sich vorher mit seinem Namen zu melden. Wer außer ihm würde wohl sonst um diese Uhrzeit noch anrufen? "Ich melde mich noch mal, wenn ich weiß, wann ich wieder nach Hause komme", schob er noch hinterher, verabschiedete sich knapp und legte auf, ohne Isono-san die Möglichkeit zu einer Erwiderung zu lassen. Er wollte auf gar keinen Fall, dass dieser jetzt noch seine Mutter ans Telefon holte, denn mit ihr zu sprechen hätte alles nur noch schmerzhafter gemacht. Ganz bestimmt hätte seine Mutter wieder geweint, wenn sie seine Stimme gehört hätte, und das war etwas, was Ryuuji aktuell ganz und gar nicht gebrauchen konnte. Abgrundtief seufzend stellt er das Telefon zurück und blieb einen Moment lang unschlüssig stehen, ehe er sich einen Ruck gab und in die Küche ging. Das auf so unglückliche Art und Weise verkürzte Frühstück lag immerhin schon ein paar Stunden zurück und auch wenn er sich nicht wirklich gut fühlte, Hunger hatte er trotzdem. Einen Moment lang zögerte er vor dem Kühlschrank, dann schalt er sich selbst einen Narren, öffnete die Tür und war in den nächsten zehn Minuten erst mal damit beschäftigt, sich ein paar Sandwiches herzurichten. Mit einem Teller voller Sandwiches und einer Flasche Wasser verließ Ryuuji die Küche wieder, ging aber nicht zurück in sein Zimmer, sondern trat stattdessen auf die hinter dem Haus gelegene Terrasse. Der Blick runter zum Strand und über den Ozean raubte ihm wie jedes Mal kurz den Atem, aber jetzt hatte das Essen erst mal Vorrang. Aus diesem Grund ließ Ryuuji sich in einen der gemütlichen Korbsessel fallen, deponierte seine Mahlzeit auf dem Tischchen, das dazu gehörte, und gönnte sich erst mal einen ersten Bissen von seinem Sandwich. Und erst jetzt merkte er, wie hungrig er eigentlich gewesen war. Seinem Körper war es offensichtlich vollkommen egal, was in seinem Leben gerade alles im Argen lag. Er verlangte vehement nach Nahrung, so dass Ryuuji sich schlussendlich auch noch ein zweites Sandwich genehmigte, das er eigentlich für später vorbereitet hatte. Sobald er fürs Erste gesättigt war, ließ Ryuuji sich in dem bequemen Korbsessel ein bisschen nach hinten kippen und streckte die Beine aus. Inzwischen war die Sonne vollständig aufgegangen und brachte die Schaumkronen der Wellen, die sich am Strand brachen, zum Leuchten. Ideales Wetter zum Surfen, ging es ihm durch den Kopf und um ein Haar hätte er aufgelacht. Wenn Dad jetzt hier wäre und das sehen könnte, würde er sich sofort sein Surfbrett schnappen und sich in die Fluten stürzen. Und er würde seinen Sohn auffordern, ihm zu folgen – etwas, was dieser, wie üblich, einfach ignorieren würde. Surfen war noch nie seine Welt gewesen. Sein Dad hatte das Surfen immer geliebt, aber für ihn selbst war das einfach nichts. Das Talent und die Liebe seines Vaters für diesen Sport hatten da leider ganz und gar nicht auf ihn abgefärbt. Nicht, dass sein Vater nicht immer wieder versucht hätte, ihm das Surfen doch noch schmackhaft zu machen. Die Erinnerung daran entlockte Ryuuji ein Seufzen. Wenn er denn mal frei gehabt hatte und die Wellen so groß und nahezu perfekt gewesen waren wie jetzt gerade, dann hatte sein Dad ihn immer wieder nach draußen zum Strand geschleift. Und während sein Vater sich den Wellen gewidmet hatte, hatte er, Ryuuji, meistens einfach im Sand gesessen und ihn beobachtet – jedenfalls dann, wenn sie nicht gerade mal wieder Streit gehabt hatten. Denn dann war er meistens einfach nur gegangen, um sich seine Zeit anderswo zu vertreiben. Und sein Dad war jedes Mal aufs Neue wütend und enttäuscht gewesen, aber das hatte ihn damals nicht gekümmert. Immerhin war er selbst auch oft genug wütend auf und enttäuscht von seinem Dad gewesen. Und trotzdem hätte Ryuuji in diesem Moment alles und noch mehr dafür gegeben, noch ein einziges Mal etwas Zeit mit seinem Vater verbringen zu können, ohne sich gleich wieder mit ihm über irgendwelche Nichtigkeiten zu streiten. "I miss you, Dad." Ryuuji bemerkte durchaus noch, wie seine Sicht zu verschwimmen begann, aber dieses Mal unternahm er nichts gegen die Tränen, die ihm in die Augen stiegen. Jetzt und hier war er ganz alleine und niemand konnte ihn so sehen, also konnte er sich endlich gehen lassen und dem Schmerz darüber, dass er seinen Vater wirklich verloren hatte und ihn nie wiedersehen, nie wieder seine Stimme hören würde, freien Lauf lassen. oOo Nachdem das Gespräch mit dem Stiefsohn seines Arbeitgebers beendet war, stellte Isono mit einem lautlosen Seufzen das Telefon wieder zurück und machte sich auf den Weg zu Yukiko-sans Zimmer, in dem, wie er wusste, Gozaburo-san, seine Frau und seine beiden Söhne nach einem kurzen Mittagessen und einem ebenso knappen Abendessen bereits seit mehreren Stunden wieder gemeinsam saßen. "Ryuuji-san hat soeben angerufen. Er lässt ausrichten, dass er gut angekommen ist und sich noch mal melden wird, wenn er nähere Informationen bezüglich des genauen Termins für seinen Rückflug hat", gab er das Telefonat wieder, nachdem er sich kurz geräuspert hatte, und zog sich nach einer kurzen Verbeugung gleich wieder zurück. Auf keinen Fall wollte er die Familie Kaiba jetzt noch weiter stören. Und außerdem war es auch für ihn langsam wirklich an der Zeit, sich schlafen zu legen; der Montag würde wie üblich sehr früh beginnen. Yukiko, die die Ablenkung, die Mokuba, Seto und auch Gozaburo ihr in den letzten Stunden geboten hatten, wirklich genossen hatte, schluckte hart und blinzelte mühsam gegen die Tränen an, die ihr gleich wieder in die Augen steigen wollten. Zu wissen, dass ihr Junge jetzt gerade ganz allein in dem Haus war, in dem er sonst immer mit seinem Vater zusammengelebt hatte, war schwer. Nur zu gerne wäre sie jetzt bei ihm. Vielleicht hätte sie, seiner Ablehnung zum Trotz, doch lieber mitfliegen sollen. Wie hatte sie ihr Kind nur ganz allein lassen können? Ryuuji war doch erst siebzehn! Was war sie nur für eine schreckliche Mutter? Wie konnte sie hier sitzen, alte Fotos ansehen und lachen, während ihr Sohn gerade mit dem Verlust seines Vaters kämpfte? Mokuba rückte sofort näher zu seiner Stiefmutter und legte einen Arm um ihre Schultern, nachdem Isono wieder gegangen war. Er hatte zwar höchstens eine ungefähre Ahnung, was genau Yukiko gerade durch den Kopf ging, aber trotzdem wollte er nicht, dass es ihr schlecht ging – auch wenn sein eigener Magen sich gerade anfühlte wie ein eisiger Klumpen. Er konnte sich nicht mal annähernd vorstellen, wie es Ryuuji wohl gerade ging, aber wenn sein Verhalten vor seinem Abflug am Morgen ein Indiz dafür war, dann fühlte er sich im Moment ganz sicher absolut grauenhaft. Unwillkürlich tastete Mokuba nach der Hand seines großen Bruders und warf diesem einen kurzen Blick zu. Setos Finger waren eiskalt, also, schlussfolgerte Mokuba, ließ ihn das Ganze auch nicht unberührt. Ob es dabei allerdings wirklich um Ryuujis Vater ging oder ob sein großer Bruder wieder an ihre Mutter dachte, wusste Mokuba nicht, aber das war im Moment auch nicht so wichtig. Er wollte einfach nur irgendwas tun, wollte Seto und auch Yukiko und seinen Vater wenigstens ein bisschen trösten, also drückte er Setos Hand und auf seinen Lippen erschien ein winziges, trauriges Lächeln, als Seto den Druck schwach erwiderte. Vielleicht, nur vielleicht, war er ja doch nicht ganz so nutzlos, wie er sich vorkam. Seto wusste ganz und gar nicht, wie er sich fühlen sollte, nachdem Isono ihnen Ryuujis Botschaft ausgerichtet hatte. So ließ er einfach nur zu, dass Mokuba sich an seiner Hand festhielt. Es war merkwürdig, aber auch seltsam tröstlich, dass sein Bruder, obwohl er schwer damit beschäftigt war, Yukiko zu trösten, ihn nicht ganz aus den Augen verlor. Es tat gut, dass Mokuba seine Hand hielt, auch wenn Seto zugeben musste, dass seine Gedanken im Moment nicht bei seinem Bruder oder bei seiner Stiefmutter weilten. Er dachte auch ausnahmsweise nicht an seine eigene Mutter, sondern fragte sich stattdessen, wie es Ryuuji wohl gehen mochte. Wie mochte er sich jetzt fühlen – ganz allein in dem Haus, in dem er bis zu seiner Ankunft in Japan mit seinem Vater gelebt hatte? Ob es ihn tröstete, all die vertrauten Dinge zu sehen, oder ob es alles wohl noch schmerzhafter machte? Er selbst, erinnerte Seto sich, hatte es nach dem Tod seiner Mutter mehr als vier Monate lang nicht über sich gebracht, ihr Zimmer zu betreten. Erst als er irgendwann auf der Suche nach seinem Bruder gewesen und diesen total verheult und schlafend in ihrem Bett vorgefunden hatte, war er zum ersten Mal wieder in diesem Raum gewesen. Und damals hatte er sich neben Mokuba auf das Bett gelegt, ihn in seine Arme gezogen und dann zum allerersten Mal wirklich die Tränen vergossen, die sich vorher über Monate in seinem Inneren aufgestaut hatten. Genau so, das wusste Seto auch heute noch, hatte ihr Vater sie beide schließlich gefunden, als er nach Hause gekommen war. Und er hatte ohne Umschweife seine beiden Söhne – Mokuba war inzwischen auch wieder wachgeworden und hatte ebenso geweint wie sein großer Bruder – in die Arme genommen und getröstet. Setos Blick irrte zu seinem Vater, der, das entging ihm nicht, auch deutlich mitgenommen wirkte. Es musste hart für ihn sein, sinnierte Seto, so etwas noch einmal durchzumachen. Zwar hatte er Yukikos Exmann nicht persönlich gekannt, aber ihm war trotzdem anzusehen, wie nahe es ihm ging, dass die Frau, die er liebte, so litt und er nichts tun konnte, um ihren Schmerz zu lindern. Einen Augenblick schwieg Seto noch, dann drückte er Mokubas Hand noch einmal und als dieser ihn daraufhin fragend ansah, deutete Seto ein Nicken in Richtung der Zimmertür an. "Vielleicht sollten wir beide langsam schlafen gehen", sagte er leise, denn inzwischen war es schon fast halb elf und die Schule würde definitiv nicht auf sie warten. Und vielleicht war es auch an der Zeit, dass ihr Vater sich in Ruhe wieder um seine Frau kümmern konnte. Er wirkte auf Seto ganz so, als wollte er genau das tun, aber gleichzeitig wollte er ihr scheinbar auch den Trost, den Mokuba ihr spendete, nicht vorenthalten. "Du hast Recht, Nii-san." Nur widerstrebend löste Mokuba sich von seiner Stiefmutter. Und noch ehe er so recht wusste, was er da eigentlich tat, hatte er sich auch schon zu ihr gebeugt und ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt – ganz so, wie er es bei Ryuuji inzwischen schon so oft gesehen hatte. Die Überraschung in Yukikos Blick ließ ihn für einen Moment unsicher werden, aber als sie ihn trotz der Tränen, die in ihren Augen schwammen, dankbar anlächelte und ihm sanft über die Wange strich, wich diese Unsicherheit dem Gefühl, wohl doch nichts falsch gemacht zu haben. "Danke, Mokuba. Und auch dir, Seto." Das Lächeln fiel Yukiko nicht unbedingt leicht, aber als auch der ältere ihrer beiden Stiefsöhne ihr zunickte und sie mit etwas bedachte, das einem Lächeln zumindest ähnelte, auch wenn es in Anbetracht der Umstände zu einem richtigen Lächeln nicht reichte, mische sich eine winzige Spur Erleichterung in ihre Schuldgefühle. "Gute Nacht, ihr Zwei", wünschte sie ihnen daher und ließ zu, dass Gozaburo den Platz seines Jüngsten einnahm, kaum dass dieser gemeinsam mit seinem Bruder aufgestanden war. "Euch auch eine gute Nacht", erwiderte Seto leise, während Mokuba nur stumm nickte. Noch immer hielt er die Hand seines Bruders fest und sobald dieser die Tür zu Yukikos Zimmer hinter ihnen geschlossen hatte, sah er ihn fragend an. Eigentlich war er mit fünfzehn ja schon viel zu alt dafür, noch bei seinem großen Bruder unterzukriechen, aber nach allem, was heute passiert war, wollte er jetzt einfach nicht alleine in seinem Zimmer sein. "Kann ich … Kann ich bei dir schlafen, Seto? Nur heute?" Die unerwartete Bitte seines Bruders ließ Seto, der sich gerade von Mokuba lösen und sich auf den Weg in sein Zimmer machen wollte, innehalten. Einerseits überraschten ihn die Worte schon sehr, aber auf der anderen Seite auch wieder nicht. Er verstand nur zu gut, dass sein Bruder sich nicht sicher war, ob er alleine überhaupt Schlaf finden würde. Ihm selbst ging es ja nicht viel anders, wenn er ehrlich war. "Selbstverständlich", beantwortete Seto daher die Frage und auf Mokubas Lippen erschien ein Lächeln, das irgendwo zwischen unsicher und erleichtert schwankte. "Okay, dann … geh ich mich jetzt eben umziehen und komm dann rüber, okay, Nii-san?", fragte Mokuba leise und sobald sein Bruder genickt hatte, ließ er etwas widerwillig Setos Hand los. "Dann bis gleich", verabschiedete er sich und beeilte sich, in sein Zimmer zu kommen, um in seinem Bad zu verschwinden und danach seinen Pyjama anzuziehen. Nur knapp zehn Minuten später stand er mit seinem Kissen unter dem Arm im Zimmer seines älteren Bruders und dieser schmunzelte unwillkürlich. Früher, als Mokuba noch jünger gewesen war, hatte er sich auch immer zu ihm geflüchtet, wenn er nachts mal schlecht geträumt hatte. Und auch damals hatte er schon immer sein eigenes Kissen mitgebracht. "Leg dich ruhig schon mal hin, otouto." Dieser Aufforderung seines Bruders hätte es eigentlich gar nicht bedurft. Während Seto noch kurz in seinem eigenen Badezimmer verschwand, krabbelte Mokuba schon mal in das Bett des Älteren, schob dessen Kissen ein Stück beiseite, um Platz für sein eigenes zu machen, und kuschelte sich dann unter die Decke. Das hier, sinnierte er dabei, hatte er schon seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gemacht. Aber jetzt gerade war ihm der Gedanke, ganz allein mit seinen Grübeleien in seinem eigenen Bett zu liegen, so dermaßen zuwider, dass er froh war, dass Seto nicht abgelehnt, sondern zugestimmt hatte, ihn hier bei sich schlafen zu lassen. Alleine, dessen war Mokuba sich ziemlich sicher, würde er in dieser Nacht wohl bestimmt keinen Schlaf finden. Während sein Bruder bereits in seinem Bett herumwühlte, starrte Seto im Badezimmer sein Spiegelbild an, als könnte dieses ihm die Antwort auf all die Fragen geben, die ihn im Moment beschäftigten – und auch auf die Fragen, die er sich selbst noch nicht zu stellen gewagt hatte. Es war wirklich alles andere als einfach, zumindest nach außen hin so zu wirken, als wüsste er, was er tat. Aber das tat er nicht. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Er fühlte sich hilflos, denn das, was geschehen war, hatte so viel wieder aufgewühlt, dass er einfach nicht wusste, wie er seine Gefühle wieder unter Kontrolle bringen sollte. Allerdings waren es dieses Mal, sehr zu Setos Überraschung, nicht die Gedanken an seine Mutter, die ihn so sehr beschäftigten. Nein, es war Ryuuji, an den er ständig denken musste – selbst dann, wenn er sich an seine Mutter erinnerte. Er dachte nicht wie sonst darüber nach, wie sehr sie ihm fehlte, sondern fragte sich vielmehr, ob es Ryuuji jetzt gerade auch so ging. Was mochte er gerade tun? Wie ging es ihm? Ob er inzwischen – Seto schluckte schwer – doch endlich seinem Schmerz nachgegeben und seinen Tränen freien Lauf gelassen hatte? Allein die Möglichkeit, dass es so sein könnte, versetzte Seto in Unruhe und er ertappte sich selbst dabei, sich zu wünschen, jetzt bei Ryuuji sein zu können. Er wollte ihn in den Arm nehmen, ihn trösten, für ihn da sein – und das, obwohl er doch wusste dass Ryuuji das nicht wollte. Aber trotzdem konnte er nichts gegen den Drang tun, jetzt in seiner Nähe sein zu wollen. Das Wissen, dass Ryuuji ganz alleine war, gefiel ihm gar nicht. Niemand, absolut niemand, sollte so etwas wie das, was der Schwarzhaarige gerade fühlte, alleine durchmachen müssen. Er selbst hatte damals seinen Vater, Isono und, in deutlich geringerem Maße, auch Mokuba gehabt. Und wen hatte Ryuuji? Keine Menschenseele. Seine Mutter war hier, ebenso wie der Rest seiner neuen Familie. Wir hätten ihn nicht alleine fliegen lassen dürfen. Ganz egal, ob Ryuuji das so gewollt hatte oder nicht, irgendeiner von ihnen hätte ihn begleiten müssen. Wie hatten sie ihn bloß ganz alleine fliegen lassen können? Unwillig schüttelte Seto den Kopf, aber egal, was er auch versuchte, diese Gedanken konnte er einfach nicht abstellen. Allerdings war es jetzt schon lange zu spät. Ryuuji war längst wieder in San Francisco angekommen, wie Isono ihnen ja vorhin mitgeteilt hatte. Und er selbst war immer noch hier. Er konnte Ryuuji jetzt nicht helfen, auch wenn er es nur zu gerne getan hätte. Aber da war ja auch noch Mokuba. Sein kleiner Bruder, der extra zu ihm gekommen war, weil er seine Hilfe brauchte. Seto stieß sich vom Waschbecken ab, straffte sich und ging hinüber in sein Zimmer. Wie erwartet lag Mokuba bereits im Bett, aber der verunsicherte Blick aus den großen blauen Augen seines Bruders machte Seto deutlich, dass an Schlaf für sie beide vorerst noch nicht zu denken war. Aber das machte nichts. Wenn Mokuba ihn brauchte, dann würde er da sein – zum Reden, zum Trösten, für was auch immer er gebraucht wurde. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf löschte Seto das Licht in seinem Zimmer und schlüpfte zu seinem Bruder unter die Decke. Dieser zögerte nur einen winzigen Moment, ehe er näherrutschte und sich dann mit einem abgrundtiefen Seufzen, in dem sich Zufriedenheit und Sorge mischten, an ihn schmiegte. Setos Hand fand ohne Umschweife ihren Weg in Mokubas wilde schwarze Mähne und diesem entkam ein weiteres, dieses Mal deutlich zufriedener klingendes Seufzen. "Was meinst du, wann Ryuuji wiederkommt?", wollte Mokuba nach einer kleinen Ewigkeit des Schweigens, in der er nur das sanfte Streicheln seines Bruders genossen hatte, leise wissen. "Ich weiß es nicht, otouto. Ich weiß es wirklich nicht", gab Seto ebenso leise zu und verbiss sich mühsam ein eigenes Seufzen. Es war nicht zu überhören, dass Mokuba sich Sorgen um ihren Stiefbruder machte, aber dieses eine Mal störte Seto sich nicht daran. Ihm selbst ging es ja nicht anders. Er machte sich auch Sorgen um ihn. Wann mochte Ryuuji wohl wieder nach Hause kommen? Und was würde wohl aus dem frech-spöttischen Grinsen und dem schelmischen Funkeln in seinen grünen Katzenaugen werden? Ob sie, fragte Seto sich, das wohl überhaupt in nächster Zeit zu sehen bekommen würden? Nun, er könnte es Ryuuji keinesfalls verdenken, wenn es nicht so wäre. Aber er konnte auch nicht leugnen, dass der Gedanke daran, den Schwarzhaarigen noch mal so gebrochen wie am Morgen sehen zu müssen, ihm ganz und gar nicht gefiel. Nein, sinnierte Seto, es wäre ihm tausend Mal lieber, Ryuuji wieder lachen zu sehen – auch wenn er selbst wohl kaum der richtige Mensch dafür war, um ihn zum Lachen zu bringen. Aber notfalls, wenn das Ryuuji half, dann würde er sogar den Köter hier in der Villa dulden. Wenn Jounouchi nur Ryuujis Lachen zurückbringen konnte, dann würde er seine eigene Abneigung gegen den Blonden hintenan stellen. Er würde, dachte Seto schläfrig, wirklich alles für Ryuuji tun. Mokuba seufzte leise, als Setos Streicheln durch seine Haare irgendwann aufhörte. Ein kurzer Blick ins Dunkel zeigte ihm, dass sein großer Bruder tatsächlich bereits eingeschlafen war, aber er selbst war noch viel zu aufgewühlt, um ebenfalls schon schlafen zu können. So drehte er sich nur vorsichtig ein wenig herum, damit er sich besser an seinen Bruder kuscheln konnte, und schlang diesem unter der Decke einen Arm um den Bauch. Es tat gut, jetzt nicht alleine zu sein, auch wenn Seto nicht mehr wach war. Trotzdem war Mokuba froh, dass er hier hatte unterkriechen können. Ein bisschen wie früher, wenn ich nicht schlafen konnte, erinnerte er sich und lächelte etwas wehmütig. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit waren sein großer Bruder und er sich nicht mehr so nah gewesen. Es hatte gut getan, am Vortag auch mit Seto über alles zu reden, was ihn derzeit so beschäftigte. Und es war wirklich ein bisschen wie früher, jetzt in Setos Bett zu liegen. Früher war er zwar immer als erstes eingeschlafen, aber Mokuba war seinem Bruder nicht böse, dass er dieses Mal zuerst Opfer seiner Müdigkeit geworden war. Es war immerhin nicht zu übersehen gewesen, dass das, was beim Frühstück passiert war, Seto ganz schön aufgewühlt hatte. Er hatte sich seinen Schlaf also redlich verdient. Über diese Gedankengänge spürte Mokuba, wie er selbst auch langsam müder wurde. Wieder und wieder fielen ihm die Augen zu und schlussendlich gab er den Kampf gegen den Schlaf auf, kuschelte sich noch etwas näher an die so tröstliche Wärme seines großen Bruders und ließ sich von dessen ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen einlullen und ins Reich der Träume ziehen. Dennoch galt sein letzter Gedanke vor dem endgültigen Einschlafen nicht dem Bruder, der gerade neben ihm lag, sondern eher demjenigen, der gerade eine halbe Welt von ihm entfernt mit Dingen zu kämpfen hatte, die, wenn es nach ihm ginge, eigentlich niemand durchleiden sollte. Kapitel 28: Somewhere over the rainbow -------------------------------------- Wie lange es dauerte, bis seine Sicht sich endlich wieder klärte, hätte Ryuuji nicht zu sagen gewusst. Dem veränderten Sonnenstand nach zu urteilen musste auf jeden Fall deutlich mehr als eine Stunde vergangen sein. So langsam begann der Strand, sich zu füllen. Nachbarn, die Ryuuji schon fast sein halbes Leben lang kannte, joggten ihre Morgenrunde, führten ihre Hunde aus oder gönnten sich ein erstes Bad in den Wellen. Ihn beachtete jedoch niemand und er war ungemein froh darüber. Er wollte jetzt nicht reden müssen. Und er wollte vor allem niemandem erklären, warum er jetzt hier war, obwohl er, wie die meisten Nachbarn seit langem wussten, diese Zeit des Jahres doch sonst immer in Japan bei seiner Mutter verbrachte. Einen Augenblick lang blieb Ryuuji noch sitzen, dann raffte er sich mit einem Ächzen auf, brachte seinen Teller zurück in die Küche und stellte die verbliebenen Sandwiches dort in den Kühlschrank. Die angefangene Wasserflasche nahm er mit in sein Zimmer, vermied auf dem Weg dorthin jedoch jeglichen Blick zu dem Schlafzimmer seines Vaters. Er war längst noch nicht über den Berg, das wusste er, und wenn er jetzt zu viel nachdachte, dann würde er nur wieder anfangen zu heulen. Aber das wollte er nicht. Er fühlte sich auch so schon grauenhaft genug. Die Kopfschmerzen, die ein weiterer Heulkrampf unweigerlich mit sich bringen würde, konnte er definitiv nicht gebrauchen. Ryuuji stellte die Wasserflasche auf seinem Nachttisch ab und dachte kurz darüber nach, seinen Koffer auszupacken, entschied sich jedoch dagegen. Er hatte doch noch genügend Klamotten in seinem Schrank. Warum er überhaupt einen Koffer gepackt hatte, wusste er eigentlich gar nicht mehr so genau. Wahrscheinlich hatte er es einfach nur getan, weil es ihm eine Beschäftigung geboten und ihn von seinen Gedanken abgelenkt hatte. Das war jedenfalls die einzig logische Erklärung. Das ist doch bescheuert, bescheinigte Ryuuji sich selbst und vertrieb mit einem Kopfschütteln diese Gedanken. Anstatt über so einen Blödsinn nachzugrübeln, sollte er lieber anfangen, das zusammenzupacken, was er aus dem Haus mit zurück nach Japan nehmen würde. Immerhin wusste er nicht, ob er überhaupt noch mal hierher zurückkehren würde. Sicher, rein logisch betrachtet war ihm klar, dass das Haus jetzt sein Haus war, aber auch das war etwas, womit er sich noch nicht näher befassen wollte. Dafür war alles einfach noch zu frisch, tat noch zu sehr weh. Wie konnte er das hier als sein Eigentum ansehen, wenn es doch bis vor wenigen Tagen noch seinem Vater gehört hatte? Um wirklich nicht weiter darüber nachzudenken, machte Ryuuji sich auf den Weg auf den Dachboden, wo, wie er wusste, sein Vater schon seit Jahren ein paar Umzugskartons aufbewahrte. Die Kartons waren vom langen Lagern etwas verstaubt, aber das war ja wirklich das geringste Problem. Ryuuji entstaubte sie, schleppte sie nach unten und begann dann erst mal in seinem eigenen Zimmer damit, auszusortieren, was er behalten wollte und was nicht. Danach machte er im Wohnzimmer weiter. Dabei zwang er sich, nicht über das nachzudenken, was er tat. Wenn er sich klarmachte, dass er gerade dabei war, sein gemeinsames Leben mit seinem Vater in Kisten zu verstauen, dann wurde ihm übel, also verdrängte er dieses Wissen fürs Erste. Um kurz vor halb eins gönnte Ryuuji sich eine kleine Pause und zwei weitere Sandwiches, ehe er überlegte, ob er aus der Küche auch etwas mitnehmen musste. Das wurde jedoch mit einem Kopfschütteln abgetan. Stattdessen schnappte er sich den nächsten leeren Karton, um ihn zu füllen, hielt jedoch vor dem Schlafzimmer seines Vaters inne. Konnte er wirklich da hineingehen und anfangen, die Dinge, die seinem Dad gehört hatten, einfach in einen Karton zu stopfen? Ryuuji schluckte hart und kniff seine Augen fest zusammen, bis das Brennen nachließ. Seine Hand, die schon auf der Türklinke lag, zitterte sichtbar und er zog sie eilig wieder zurück. Nein, er konnte da jetzt nicht reingehen. Auf gar keinen Fall. Er konnte jetzt nicht so abgeklärt tun und die Sachen seines Vaters durchwühlen. Allein der Gedanke daran fühlte sich schon an wie ein unglaublicher Vertrauensbruch. Später. Dafür ist auch später noch Zeit, gewährte Ryuuji sich selbst einen Aufschub, stellte den Karton vor der Schlafzimmertür ab und trat nach kurzem Zögern zur Garderobe. Es kostete ihn einiges an Überwindung, die Lederjacke seines Vaters vom Haken zu nehmen. Das Leder fühlte sich genauso abgetragen und abgewetzt an, wie es aussah, und wieder schossen Ryuuji Tränen in die Augen. Er kämpfte einen Moment lang mit sich, dann gab er auf, ließ sich an der Flurwand hinabrutschen und presste die Jacke an sich. Dann heulte er eben schon wieder. Na und? Es war ja – zum Glück! – niemand da, der ihn so sehen konnte. Wie lange er so auf dem Holzboden gehockt und die Lederjacke förmlich umarmt hatte, hätte Ryuuji hinterher nicht zu sagen gewusst. Irgendwann wischte er sich jedoch entschieden über die Augen, rappelte sich wieder auf und nahm die Jacke kurzentschlossen mit in sein Zimmer. Auch wenn er sonst nicht wusste, ob er überhaupt etwas von seinem Vater mit zurück nach Japan nehmen würde, die Lederjacke würde er auf jeden Fall einpacken, so viel stand jetzt schon unumstößlich fest. Sie war eines der Lieblingsstücke seines Vaters gewesen und sie hier zurückzulassen brachte er einfach nicht über sich. Es war, stellte Ryuuji bei der Rückkehr in sein Zimmer fest, eindeutig ein merkwürdiges Gefühl, seinen fast leeren Kleiderschrank anzusehen. Auch die Wände seines Zimmers wirkten ohne die ganzen Fotos, die dort gehangen hatten, seltsam leer. Aber da er diese Fotos und auch seine Klamotten auf jeden Fall mitzunehmen gedachte, hatte er den Großteil bereits eingepackt. Nur einige Sachen wie zum Beispiel den schwarzen Anzug, den er am nächsten Tag definitiv brauchen würde, hatte er fürs Erste noch hängen gelassen. Je länger er hier so räumte, desto mehr hatte er mit den Erinnerungen zu kämpfen, die er mit diesem Haus verband. Er hatte so lange hier gewohnt, hatte so viel Zeit hier verbracht. Es war einfach zu viel. Mit einem abgrundtiefen Seufzen schlurfte Ryuuji förmlich ins Bad, öffnete den Arzneischrank und suchte darin herum, bis er das Aspirin gefunden hatte, das sein Dad hier immer aufbewahrte. Ihm dröhnte der Schädel und er war völlig erschöpft, aber wenn er sich jetzt einfach hinlegte, dann würden seine Kopfschmerzen beim Aufwachen nur noch schlimmer sein, das wusste er aus Erfahrung. Aus diesem Grund nahm er zwei der Tabletten aus der kleinen Flasche, spülte sie mit etwas Wasser hinunter und warf dann seinem Spiegelbild, das ihn mit einer Mischung aus Erschöpfung und Skepsis ansah, ein kurzes Grinsen zu, das allerdings nicht so recht auf seinen Lippen bleiben wollte. Danach machte er sich auf den Rückweg in sein Zimmer, schob noch eben die Lederjacke, die auf seinem Bett lag, ein Stück zur Seite, und ließ sich dann einfach fallen. Er wollte jetzt einfach nur ein bisschen schlafen und zumindest für ein paar Stunden an nichts mehr denken müssen. Und kaum dass er seine Augen geschlossen und die Decke halb über sich gezogen hatte, forderten die vergangenen Stunden auch schon ihren Tribut. oOo Als er ein paar Stunden später wach wurde, wusste Ryuuji im ersten Augenblick nicht, wo er war. In dem Moment jedoch, als er die Augen aufschlug und sein Blick direkt auf die Lederjacke seines Vaters fiel, die neben ihm lag, kehrte die Erinnerung mit einem Schlag zurück. "Scheiße!", fluchte Ryuuji nicht gerade leise und setze sich so hastig auf, dass ihm einen Augenblick lang schwindelig wurde. Zum Glück hatten die Tabletten gewirkt und so hatte er wenigstens keine allzu heftigen Kopfschmerzen. Wirklich gut ging es ihm zwar trotzdem nicht, aber, dachte er bei sich, das war wohl auch nicht zu erwarten gewesen. Immerhin konnten ein paar Stunden Schlaf an der Realität ja nun mal nichts ändern. Leider. Ryuuji warf einen Blick auf den Wecker auf seinem Nachttisch und stutzte. 22:19 blinkte ihm entgegen und er widerstand mühsam dem Drang, sich zu kneifen. Hatte er wirklich so lange geschlafen? So kam es ihm gar nicht vor. Ein weiterer Blick, dieses Mal aus dem Fenster nach draußen, machte ihm jedoch klar, dass es tatsächlich so war. Die Sonne war längst hinter dem Horizont verschwunden und auch wenn es aufgrund der unzähligen Sterne, die hier über dem Ozean den Nachthimmel zierten, nicht wirklich stockdunkel war, so war doch deutlich ersichtlich, dass der Tag bereits zu Ende gegangen war. Nur noch ein paar Stunden bis zur Beerdigung. Der Gedanke stellte sich ungebeten ein und Ryuuji schüttelte den Kopf, um ihn gleich wieder loszuwerden. Darüber wollte er jetzt im Moment nun wirklich noch nicht nachdenken. Es reichte voll und ganz, wenn er sich am nächsten Morgen darüber den Kopf zerbrach, wie es danach weitergehen sollte. Eigentlich, sinnierte Ryuuji, sollte er sich am besten wieder hinlegen und weiterschlafen, aber das konnte er jetzt nicht mehr. Dafür war er viel zu wach. Wenn er sich jetzt direkt wieder hinlegte, dann würde er stundenlang einfach nur grübelnd an die Decke starren, das wusste er ganz genau. Und das half ihm in keinster Weise weiter. Abgrundtief seufzend – etwas, was er in den vergangenen Stunden eindeutig viel zu oft getan hatte – schälte Ryuuji sich aus dem Bett, zögerte kurz und ging dann erst mal hinüber ins Bad. Was er jetzt brauchte, war eine erfrischende Dusche, um wieder ganz klar zu werden. Danach konnte er immer noch überlegen, was er mit dem Rest des Abends anfangen sollte, wenn er schon nicht mehr schlafen konnte. Zu sichten und zu räumen gab es auf jeden Fall noch genug. Ein ganzes Leben, sinnierte er, während er unter der Dusche stand und sich von dem angenehm temperierten Wasser berieseln ließ, verpackte man nun mal nicht in einem halben Tag. Unwillig, diesen Gedanken noch mehr Raum zu geben, drehte Ryuuji das Wasser schließlich wieder ab, schnappte sich ein Handtuch und rubbelte sich halbwegs trocken. Dann schlang er sich das Handtuch um die Hüfte und tapste so zurück in sein Zimmer. Es war ja ohnehin niemand hier, der ihn so sehen konnte. Und außerdem machte er es sonst schließlich auch so, wenn er zu Hause in Frisco war. So ein kleines bisschen Normalität in all dem Chaos tat ganz gut. Mit äußerster Vorsicht hob Ryuuji die Lederjacke auf und legte sie beiseite, ehe er sich auf sein Bett setzte. Ihm stand jetzt, wo er wieder so richtig wach war, ganz und gar nicht der Sinn danach, weiter Kartons zu packen. Er brauchte Ablenkung, denn so langsam drohte ihm die Decke auf den Kopf zu fallen. Nicht wirklich darüber nachdenkend, was er tat, zog Ryuuji die Schublade seines Nachtschranks auf. Was er genau damit bezweckt hatte, war ihm selbst nicht so ganz klar, aber als sein Blick auf ein kleines, unscheinbares Stück Plastik fiel, das er dort schon seit etwas mehr als einem Jahr versteckte, legte sich unwillkürlich ein Grinsen auf seine Lippen. Das ist eigentlich die Idee. Ryuuji zog den Führerschein heraus, warf einen Blick auf das aufgedruckte Geburtsdatum und sein Grinsen wuchs noch ein Stück in die Breite. Laut diesem Führerschein, den er gerade in den Händen hielt, war er nicht erst siebzehn, sondern bereits über einundzwanzig – alt genug also, um auszugehen und nicht bei der ersten Kontrolle gleich mit Polizeieskorte wieder nach Hause gebracht zu werden. Natürlich war der Führerschein nicht echt – seinen echten Führerschein bewahrte er immer in seinem Portemonnaie auf –, aber dieses kleine Stück Plastik hatte ihm schon im letzten Jahr das ein oder andere Mal dabei geholfen, sich abends und hin und wieder auch nachts ungestört zu amüsieren. Selbstverständlich hatte sein Vater nicht den leisesten Hauch einer Ahnung davon gehabt, dass er so etwas überhaupt besaß, denn sonst, das wusste Ryuuji, hätte es nur noch mehr Streit gegeben. Aber das war etwas, worüber er jetzt lieber nicht weiter nachgrübeln wollte. Mit dem Führerschein in der Hand und noch immer nur mit dem Handtuch um die Hüfte ging Ryuuji ins Wohnzimmer, schnappte sich das Telefon und tippte auswendig eine Nummer ein, die er fast so gut kannte wie die seines besten Freundes Katsuya. Alle Gedanken an den Blondschopf verdrängend grinste Ryuuji leicht, als nach einer gefühlten Ewigkeit am anderen Ende der Leitung doch endlich mal abgehoben wurde. "Wer nervt um diese Uhrzeit?", wurde ihm nicht sehr freundlich entgegengebrummt, doch daran störte er sich ganz und gar nicht. "Ich bin's. R– Duke", korrigierte er sich gerade noch rechtzeitig. Immerhin nutzte er hier in den Staaten nicht seinen japanischen Namen, denn den konnte ohnehin kaum jemand richtig aussprechen. "Schon was vor heute Abend, Ali? Falls nicht, wie wär's mit einem Trip ins ›Rainbow‹?" Das war ganz genau das, was er jetzt brauchte. Einfach ein bisschen rauskommen, gute Musik und Ablenkung in Form des Rotschopfs, mit dem er gerade telefonierte, und dessen Freundes. "Ich bin für ein paar Tage wieder im Lande", warum dem so war, ließ er jedoch ungesagt; das gehörte jetzt ganz sicher nicht hierher, "und könnte heute Abend ein bisschen Spaß ganz gut gebrauchen." Ryuuji schmunzelte, als Alister gleich hektisch zustimmte. "Holt ihr mich ab? Ich muss mich bloß noch kurz anziehen, dann bin ich soweit. Fünfzehn, zwanzig Minuten vielleicht, länger brauche ich auf keinen Fall." "Klar, machen wir", versprach Alister und Ryuuji lachte, als er hörte, wie der Rotschopf seinen Freund anstieß. "Los, hopp, anziehen, Valon. Wir gehen aus. Und wir holen Duke noch eben ab", knallte er seinem Freund die kurzfristig geänderte Abendplanung um die Ohren. Undeutliches Murren drang an Ryuujis Ohren, aber das ignorierte er. Valon moserte immer erst mal rum, wenn er abends noch zum Ausgehen genötigt wurde, obwohl er es sich eigentlich schon auf der Couch bequem gemacht hatte, aber bisher war er immer auf seine Kosten gekommen, wenn sie gemeinsam feiern gewesen waren. Und, dessen war Ryuuji sich sicher, das würde heute nicht anders sein. Immerhin war Alister, wenn er erst mal eine Weile getanzt hatte, immer ganz besonders aufgeputscht – und auch ganz besonders rollig auf seinen Freund. "Jetzt stell dich mal nicht so an, Valon", wandte Ryuuji sich daher etwas lauter an Alisters Freund und lachte auf, als dieser ihm nur ein "Ach, fick dich doch, Duke!" entgegengrollte. Er wusste ganz genau, dass die Worte keinesfalls so böse gemeint waren, wie sie klangen. Dafür war in Valons Stimme unterschwellig schon viel zu deutlich die Vorfreude darauf zu hören, dass er seinem Freund in Kürze beim Tanzen zusehen konnte. Er hatte zwar selbst zwei linke Füße und tanzte daher eigentlich nie mit Alister – jedenfalls nicht nüchtern und ganz bestimmt nicht in der Öffentlichkeit –, aber das bedeutete ja nicht, dass er den Anblick nicht trotzdem genoss. "Single Action ist eigentlich nicht das, was mir für heute Abend vorschwebt, Valon." Ryuuji schmunzelte noch immer, auch als Alister sich schon mit der Versicherung verabschiedet hatte, dass sein Freund und er sich beeilen würden. Amüsiert legte Ryuuji das Telefon beiseite und ging zurück in sein Zimmer, um sich anzuziehen. Die veranschlagten zwanzig Minuten würden die beiden zwar wahrscheinlich wie üblich nicht einhalten können, aber das hieß ja nicht, dass er selbst auch rumtrödeln musste. Vor seinem inzwischen so gut wie leergeräumten Kleiderschrank musste Ryuuji nicht lange überlegen, was er anziehen wollte. Eine schwarze Jeans und ein ebenso schwarzes, mehr als nur ein bisschen eng anliegendes Shirt waren schnell rausgekramt und ebenso schnell übergezogen. Da er noch etwas Zeit hatte, überlegte Ryuuji für einen Moment, ob er sich die Nägel noch schwarz lackieren sollte, aber schlussendlich entschied er sich dagegen. Er hatte keine Lust, morgen früh erst noch den Nagellack wieder zu entfernen, bevor er sich dem stellte, was der morgige Nachmittag für ihn in petto hatte. Also nur Kajal. Der Entschluss war schnell gefasst und ebenso schnell umgesetzt. Routiniert zog Ryuuji seinen üblichen Kajalstrich im Bad, schlüpfte in seine Schuhe und überlegte einen Moment, verzichtete dann jedoch auf seine Lederjacke. In Frisco war es auch in den Wintermonaten abends nicht sonderlich kalt, also würde er die Jacke wohl kaum brauchen – vor allem nicht im ›Rainbow‹. Nein, da wäre das gute Stück nur im Weg. Ehe er es vergessen konnte, kramte Ryuuji noch schnell seinen echten Führerschein aus seinem Portemonnaie, legte diesen auf seinen Nachttisch und steckte den gefälschten Führerschein ein. Heute Abend würde er sich ordentlich von dem Chaos ablenken, aus dem sein Leben im Moment bestand. Pünktlich zwanzig Minuten nach seinem Telefonat mit Alister zog Ryuuji die Haustür hinter sich zu, um draußen auf seine beiden Freunde zu warten. Und wie er beinahe geahnt hatte, musste er sich tatsächlich noch fast zehn Minuten gedulden, ehe er Valons altersschwaches Auto die Straße heraufächzen sah. Der Anblick war so vertraut, dass sich ein breites Grinsen auf seinen Lippen festsetzte – ein Grinsen, das gleich noch breiter wurde, als der Wagen neben ihm anhielt und Alister seinen Kopf aus dem Beifahrerfenster streckte. "Fast pünktlich!", kommentierte der Rotschopf die Verspätung und Ryuuji konnte nicht anders: er musste lachen. "Für eure Verhältnisse sogar fast überpünktlich", scherzte er, öffnete die hintere Autotür und ließ sich auf die Rückbank fallen. Dann erst nahm er sich die Zeit, seine beiden Freunde ausgiebig zu mustern. Valon trug wie meistens eine ausgebleichte Bluejeans und ein einfaches weißes Shirt, aber Alister hatte sich offensichtlich etwas mehr in Schale geworfen. Seine langen Beine steckten in einer weinroten Lederhose, die beinahe die gleiche Farbe hatte wie seine Haare, und das schwarze Shirt, das er dazu trug, war wie üblich bauchfrei – eine Marotte, die Alister schon an den Tag legte, solange Ryuuji ihn kannte. "Siehst du, hab ich dir doch gesagt", wandte Alister sich an seinen Freund und streckte diesem die Zunge heraus, was Valon nur mit einem Augenverdrehen quittierte. "Können wir dann?", fragte er in die Runde, absichtlich nicht auf Alisters Provokation eingehend. "Von mir aus gerne", beantwortete Ryuuji die Frage und sobald Valon losgefahren war, hängte er sich von hinten zwischen den Fahrersitz und den Beifahrersitz. Er fühlte sich jetzt schon ein kleines bisschen besser. Und der Abend, der vor ihm lag, würde seine Stimmung ganz sicher noch weiter heben, das wusste er. Das schaffte ein Abend im ›Rainbow‹ bei ihm schließlich immer. Die knapp zehnminütige Fahrt verging unter ein wenig Herumalbern recht schnell. Und kaum dass Ryuuji die Neonreklame des Clubs, in den zu gehen er Valon und Alister überredet hatte, vor sich sah, entspannte er sich gleich noch ein bisschen mehr. Im ›Rainbow‹ musste er sich nicht verstellen. Er musste nicht über seine Eltern, die Schule, seine absolut unangebrachten Gefühle oder sonst irgendetwas nachdenken. Einen Abend lang konnte er hier einfach nur er selbst sein, konnte tanzen und sich amüsieren. Und das war genau das, was er heute brauchte. "Wie kommt's eigentlich, dass du schon wieder da bist, Duke?", erkundigte Valon sich auf dem Weg zum Eingang. Auch Alister blickte unübersehbar interessiert drein, aber Ryuuji verbot sich selbst, sich von dieser Frage die Stimmung verderben zu lassen. Darüber, was er darauf antworten sollte, falls er gefragt werden würde, hatte er sich immerhin schon während des Anziehens Gedanken gemacht. "Familienkram", erklärte er daher einfach nur, winkte jedoch gleich ab, um weiteren Nachfragen zuvorzukommen. "Ist aber nicht so wichtig." Zumindest war es das für den Moment nicht. "Jetzt gerade bin ich einfach nur hier, um ein bisschen Spaß zu haben", schob er deshalb noch hinterher, hielt einem der Türsteher seinen Führerschein unter die Nase und verkniff sich mühsam ein triumphierendes Grinsen, als er auch dieses Mal einfach nur ins Innere des Clubs gewunken wurde. Wie bereits die letzten Male, wenn er hergekommen war, fiel auch jetzt nicht auf, dass er deutlich jünger war als auf dem Führerschein angegeben. Aber das war ihm auch nur recht so. Valon und Alister wussten zwar, dass er eigentlich noch nicht volljährig war und somit eigentlich gar nicht ins ›Rainbow‹ hätte eingelassen werden dürfen – immerhin hatte er den gefälschten Führerschein ja überhaupt erst einem von Valons ›Bekannten‹ zu verdanken –, aber es war ihnen glücklicherweise egal. Beim ersten und auch noch beim zweiten Mal, als sie gemeinsam hergekommen waren, hatte Valon zwar noch mit Argusaugen über ihn gewacht und vor allem dafür gesorgt, dass er keinen Alkohol trank, aber im Laufe der Zeit, die sie sich inzwischen kannten, hatte er sich zum Glück entspannt und mittlerweile achtete er zwar immer noch darauf, dass Ryuuji sich nie komplett abschoss, aber den einen oder anderen alkoholischen Drink vermieste er ihm nicht mehr. Allerdings, sinnierte Ryuuji, war er heute keinesfalls hergekommen, um sich zu betrinken. Er wollte einfach nur einen Abend unter Gleichgesinnten verbringen, tanzen und etwas Spaß auf Vorrat haben, denn in der nächsten Zeit, dessen war er sich ziemlich sicher, würde Spaß bei ihm wohl eher Mangelware werden. Immerhin würde ihn in Japan wohl kaum irgendjemand vergessen lassen, was passiert war. Aus diesem Grund erzählte er Valon und Alister auch nicht den wahren Grund seines Hierseins. Und wirklich belogen, beruhigte er sein schlechtes Gewissen direkt, hatte er sie ja auch nicht. Immerhin war er ja tatsächlich aus familiären Gründen hier. Dass diese Gründe eigentlich viel zu schwerwiegend waren, um sich jetzt in einem sehr bekannten, sehr schrillen und auch um diese Uhrzeit – es war inzwischen schon kurz vor zwölf – sehr vollen Gay Club zu amüsieren, ging außer ihm selbst schließlich niemanden etwas an. "Okay, ich organisiere die Drinks und ihr Zwei geht schon mal ne Runde tanzen", riss Valon ihn aus seinen Gedanken und Ryuuji grinste unwillkürlich. Auf diese Art von ›Arbeitsteilung‹, wenn man das denn so nennen konnte, liefen ihre Abende im ›Rainbow‹ meistens hinaus. Valon hasste es, wenn sein Freund alleine auf der Tanzfläche war, weil Alister meistens nun mal einfach zum Anbeißen aussah und auch sehr schnell eine Menge Fans hatte, wenn er tanzte. Aber bei Ryuuji, den er nur als Duke kannte, wusste er, dass er sich keine Sorgen machen musste, wenn der Schwarzhaarige mit seinem Freund tanzte. Dabei war es auch völlig egal, wie eng die beiden beim Tanzen aneinander klebten. Er, sinnierte der Brünette auf dem Weg zur Bar, war der Glückspilz, der das Spektakel genießen durfte, zwei heißen Typen beim Tanzen zuzusehen, von denen er einen später in seinem Bett haben würde. Gab es etwas Besseres als das? Falls ja, dann wusste er nicht, was das sein sollte. "Bis später!" Alister winkte seinem Freund noch kurz nach und im nächsten Moment fand Ryuuji sich auch schon durch die Menge der Feiernden mitten auf die Tanzfläche geschleift wieder. Aber das störte ihn kein bisschen. Ganz im Gegenteil. Genau deshalb hatte er ja bei Alister angerufen. Das war ganz genau das, was er jetzt brauchte, also schlang er einen Arm um Alisters Hüfte und zog ihn so näher zu sich. Wie sonst auch fanden die Arme des Rotschopfs direkt ihren Weg in seinen Nacken und er kam ihm so gleich noch ein ganzes Stück näher. Ryuuji grinste, ehe er damit begann, sich von den harten Bässen mitreißen zu lassen. Wer nicht wusste, dass sie beide einfach nur miteinander befreundet waren und sonst nichts, würde allein von der Art, wie Alister sich beim Tanzen an ihm rieb, eindeutig auf etwas anderes schließen. Und Valon, das wusste er ganz genau, würde, während er sie beide beobachtete, eine Menge sehr, sehr schmutziger Gedanken haben. Aber genau deshalb war er jetzt ja auch hier. Und er konnte nicht leugnen, dass es verdammt gut tat, sich einfach nur in die Musik fallen zu lassen und an nichts mehr zu denken. Vier Songs hielten die beiden auf der Tanzfläche durch, doch dann deutete Alister an, dass er kurz vor dem Austrocknen stand. Wirklich unterhalten konnte man sich hier mitten in der Menge aufgrund der Lautstärke nicht, aber Ryuuji verstand die Gesten des Rotschopfs auch so, also nickte er nur, ehe er Alisters Arme von seinem Nacken löste und diesen dann, beide Hände in die hinteren Taschen von Alisters Lederhose geschoben, vor sich her von der Tanzfläche dirigierte. Alister, der bereits nach seinem Freund Ausschau gehalten hatte, erblickte diesen in ihrer üblichen Nische und machte den hinter ihm gehenden Schwarzhaarigen wild gestikulierend darauf aufmerksam. Ein bisschen die Richtung anpassend, in die Alister und er die Tanzfläche verließen, schob Ryuuji seinen rothaarigen Freund weiter vor sich her, kämpfte sich gemeinsam mit diesem zu dem Tisch durch, den Valon für sie organisiert hatte, und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzen auf die bequeme, mit rotem Samt bespannte Couch fallen, die locker breit genug war, dass sie alle Drei nebeneinander Platz gehabt hätten. Allerdings nutzte Alister nicht den freien Platz, sondern hockte sich stattdessen ganz unverfroren auf den Schoß seines Freundes und bedachte diesen mit einem lasziven Lächeln. "Na, hat dir die Show gefallen?", raunte er ihm laut genug zu, dass auch Ryuuji die Worte noch hören konnte, und dieser grinste breit. Er kannte das schon, daher störte er sich auch in keinster Weise daran, dass Valon, anstatt verbal zu antworten, Alister einfach nur in einen gierigen Kuss verwickelte. Um den beiden wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu gönnen, nahm Ryuuji das Glas, das Valon für ihn organisiert hatte, und gönnte sich einen tiefen Schluck von einem der wirklich exzellenten Rumcocktails, für die das ›Rainbow‹ gleichermaßen berühmt wie berüchtigt war. Scheinbar war Valon der Meinung gewesen, dass ein Einstiegsdrink nicht schaden konnte, aber Ryuuji hielt sich trotzdem zurück. Er wollte definitiv am kommenden Nachmittag nicht komplett verkatert sein, also kämpfte er den Drang nieder, das Glas in drei langen Zügen zu leeren und sich direkt Nachschub zu holen. Da Alister nicht den Eindruck machte, dass er sich so bald wieder von seinem Freund lösen würde, schob Ryuuji nach einer Weile sein inzwischen nur noch halb volles Glas zu den anderen beiden Gläsern, die noch immer unangetastet auf dem Tisch standen. Wenn Alister jetzt nicht weitertanzen wollte, hieß das ja nicht zwangsläufig, dass er auch hier sitzen bleiben und auf ihn warten musste. Tanzen konnte er notfalls auch alleine. Alles kein Problem. Ryuuji wartete noch ein paar Minuten. Als jedoch einer der Songs gespielt wurde, zu denen er sonst auch fast immer tanzte, zog er sich am Tisch hoch und machte sich mit Schwung auf den Weg zurück auf die Tanzfläche. Die Tatsache, dass er jetzt alleine war, tat seiner Wirkung keinen Abbruch, das wusste er genau. Und er genoss es. Er genoss die teilweise recht eindeutigen Blicke, die ihm zugeworfen wurden, als er sich wieder zur Musik zu bewegen begann. Tanzen, flirten – das gehörte hier im ›Rainbow‹ einfach untrennbar zusammen. Zumindest für ihn. Und es tat verdammt gut. Hier fragte ihn niemand, ob mit ihm alles in Ordnung war, ob es ihm gut ging und ob er reden wollte. Nein, hier interessierte nur, wie er aussah und ob und wie er sich zu bewegen wusste. Und genau das brauchte er jetzt gerade: die Gewissheit, dass er immer noch er selbst war und dass er auch immer noch die gleiche Wirkung hatte wie vor allem, was passiert war. Nach dem zweiten Song schlang sich urplötzlich ein Paar Arme von hinten um seine Hüfte und Ryuuji grinste, als Alister gleich darauf mit einer geschmeidigen Bewegung vor ihn rutschte, ohne ihn loszulassen. "Das kann man ja nicht mitansehen", kommentierte der Rotschopf recht nah an seinem Ohr und Ryuuji zog ihn mit einem Lachen so an sich, dass er eins seiner Beine zwischen Alisters Beine schieben konnte. "Zwingt dich ja niemand zum Zusehen", gab er gut gelaunt zurück. Doch, dieser Abend war eindeutig nötig gewesen. Ein Gutteil des Stresses, der ihn niedergedrückt hatte, war jetzt schon von ihm abgefallen. Im Moment fühlte er sich einfach nur gut. Während der nächsten Stunde pendelten Ryuuji und Alister immer wieder zwischen der Tanzfläche und der Nische, in der Valon hockte, hin und her. Nach dem ersten Rumcocktail verlegte Ryuuji sich allerdings auf alkoholfreie Drinks. Zum Einen war er aufgeputscht genug und zum Anderen wollte er am kommenden Nachmittag auf gar keinen Fall mit einem Kater zu kämpfen haben. Das brauchte er definitiv nicht. Je später allerdings der Abend wurde, desto seltener zog es Alister auf die Tanzfläche. Und irgendwann blieb er einfach auf Valons Schoß hocken, so dass Ryuuji den beiden grinsend eine schöne Nacht und viel Spaß wünschte. Wenn die Knutschereien so wie jetzt immer heftiger wurden, dann würde es sicher nicht mehr allzu lange dauern, bis die beiden genug von der Öffentlichkeit hatten und sich nach Hause verkrümelten, um sich da ausgiebig miteinander zu vergnügen. Aber Ryuuji gönnte den beiden ihren Spaß. Er würde sich später eben einfach ein Taxi nehmen, wenn er nach Hause wollte. Allerdings hatte er es damit noch ganz und gar nicht eilig. Noch war die Nacht viel zu jung und er war viel zu gut drauf, um auch nur einen einzigen Gedanken ans Schlafen zu verschwenden. Gut gelaunt den aktuellen Song mitsummend kämpfte Ryuuji sich irgendwann zur Bar durch, um sich selbst etwas zu trinken zu organisieren. Valon war jetzt eindeutig zu beschäftigt, um sich darum zu kümmern. Und er selbst wollte die beiden auf keinen Fall stören, also bestellte er sich ein Wasser, als der Barkeeper ihn endlich ansah, und lehnte sich, sobald er das Glas bekommen hatte, rücklings an die Bar, um die tanzende und feiernde Menge beobachten zu können. Dabei nippte er immer mal wieder an seinem Wasser. Dass er selbst ebenfalls beobachtet wurde, bemerkte er nicht. "Nette Show, die ihr da vorhin geliefert habt." Ryuujis Kopf ruckte herum und er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sein Blick auf denjenigen fiel, der ihn gerade angesprochen hatte. Der junge Mann, der halb neben ihm an der Bar stand, war ein Stück größer als er, so dass er ein wenig zu ihm aufblicken musste. Blaue Augen musterten den Schwarzhaarigen äußerst wohlwollend und sobald der Besitzer dieser blauen Augen sich sicher war, dass er seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, fuhr er sich durch die in einem ungewöhnlichen Türkiston gefärbten Haare und grinste ebenfalls. "Reiner Service." Ryuuji genehmigte sich einen weiteren Schluck von seinem Wasser, ohne seinen Gesprächspartner aus den Augen zu lassen. Es war offensichtlich, dass dieser Gefallen an ihm gefunden hatte. Und gegen einen kleinen, harmlosen Flirt war doch auch nichts einzuwenden, nicht wahr? Das war schließlich einer der Gründe dafür, dass er hergekommen war. Es konnte alles so einfach sein, wenn man sich keine Gedanken darum machen musste, ob derjenige, mit dem man sich gerade unterhielt, die gleichen Neigungen hatte oder nicht. "Ali wird immer unglaublich rattig vom Tanzen. Das wird garantiert eine laaaange Nacht für Valon." Noch immer grinste Ryuuji, während sein Gesprächspartner ihm einen kurzen, überraschten Blick zuwarf. "Ich hatte eigentlich gedacht, dass ihr beide …", setzte er an, brach dann jedoch ab und auch auf seine Lippen kehrte das Grinsen zurück. "Aber wenn du nur den Anheizer für die beiden gespielt hast, heißt das dann, dass du heute Nacht noch nichts weiter vorhast?", erkundigte er sich dreist und jetzt war es Ryuuji, der für einen Moment überrumpelt war von so viel Direktheit. "Und wenn es so wäre?", ging er in leichtem Plauderton auf die Frage ein, sobald er sich wieder gefangen hatte. Dabei wandte er sich seinem Gesprächspartner komplett zu, musterte ihn noch mal gründlich von oben bis unten und beschloss dann, alles auf eine Karte zu setzen. Wenn ihm schon noch mehr Ablenkung geboten wurde – eine Art der Ablenkung, die er in Japan so schnell wohl nicht würde bekommen können –, wer war er denn, dieses Angebot einfach auszuschlagen? Zumal sein Gesprächspartner, der sich ihm bisher noch nicht namentlich vorgestellt hatte, auch eindeutig heiß war, das konnte Ryuuji nicht leugnen. Und vielleicht, ging es ihm unwillkürlich durch den Kopf, konnte er ja so all die Gedanken und Gefühle, die er eigentlich weder haben wollte noch haben sollte, endlich loswerden. "Würdest du dich etwa als Alternative anbieten?", wagte er daher einen weiteren Vorstoß und nahm überdeutlich das Aufblitzen von Zufriedenheit in den blauen Augen seines Gegenübers wahr. "Aber sicher doch", bekam er prompt zur Antwort. "Ich bin übrigens Noah", wurde noch hinterhergeschoben und Ryuuji leerte erst einmal in aller Seelenruhe sein Wasserglas und schob es dem Barkeeper zu, ohne seinen Blick von Noah zu lassen. "Duke", erwiderte er die Vorstellung knapp, aber mit einem Unterton, der deutlich machte, dass er dem Angebot ganz und gar nicht abgeneigt war. "Zu dir?" Für einen Augenblick wirkte Noah etwas überrumpelt von der Frage, doch dann schmunzelte er und nickte. "Gerne. Ich wohne ganz in der Nähe", wurde Ryuuji mitgeteilt und diese Information entlockte ihm ein weiteres Grinsen. "Trifft sich gut. Ich nämlich nicht." Und da seine Mitfahrgelegenheit, wie ihm ein kurzer Blick in die Nische, in der sie vorhin gesessen hatten, sagte, bereits über alle Berge war, sprach ja eigentlich nichts dagegen, wenn Noah und er auch so langsam von hier verschwanden. "Dann lass uns abhauen. Es bleibt schließlich nicht ewig Nacht." Mit diesen Worten stieß Ryuuji sich von der Bar ab und machte sich gemeinsam mit Noah auf den Weg nach draußen, nachdem sie beide noch eben ihre Drinks bezahlt hatten. Die im Vergleich zum Clubraum recht kühle Nachtluft klärte Ryuujis Kopf ein wenig, aber er verschwendete dennoch keinen Gedanken daran, einen Rückzieher zu machen. Stattdessen schloss er sich einfach nur Noah an, der, wie Ryuuji schnell feststellte, tatsächlich nicht übertrieben hatte, als er behauptet hatte, er würde ganz in der Nähe wohnen. Am Ende der Straße kramte Noah seinen Schlüssel aus der Tasche, schloss die Haustür eines Mehrfamilienhauses auf und Ryuuji konnte sich ein anerkennendes Pfeifen nicht verkneifen. "Ganz schön praktisch, so nah an der Abendunterhaltung zu wohnen", kommentierte er amüsiert und Noah nickte, ehe er ihn in Richtung des Fahrstuhls lotste. "Spart eine Menge Sprit. Und ich komme nicht in die Verlegenheit, dass ich mein Auto stehen lassen muss, wenn ich was getrunken habe", gab er zurück, aber ehe Ryuuji etwas dazu sagen konnte, fand er sich auch schon in den Aufzug geschoben wieder. Im nächsten Moment drängte Noah ihn gegen die Wand des Fahrstuhls und drückte seine Lippen auf Ryuujis – eine Aktion, die diesen zwar überrumpelte, die ihm aber dennoch ganz und gar nicht unwillkommen war. Es war eindeutig immer wieder verdammt heiß, so unübersehbar gewollt zu werden. Nur am Rande seines Bewusstseins bekam Ryuuji mit, wie Noah ihn unter weiteren Küssen im zweiten Stock aus dem Fahrstuhl hinaus und in seine Wohnung hinein bugsierte. Es ist echt schon viel zu lange her, ging es Ryuuji etwas konfus durch den Kopf. Und das war für den Rest der Nacht der letzte zusammenhängende Gedanke, den Noah aufkommen ließ. Kapitel 29: Monday, Monday -------------------------- Pünktlich um sechs Uhr piepste auch an diesem Montagmorgen Setos Wecker. Dieses Mal jedoch fiel es ihm, anders als üblich, ungemein schwer, seine Augen zu öffnen. Er fühlte sich komplett gerädert. Und als alles, was am Vortag geschehen war, wieder über ihn hereinbrach, kaum dass er halbwegs wach war, konnte er sich nur mit Mühe ein Ächzen verkneifen. Wie mag es Ryuuji wohl gehen?, war sein erster, wirklich zusammenhängender Gedanke, doch diesen schob er schnell wieder beiseite. Es brachte ja nichts, sich jetzt gleich wieder Sorgen zu machen. Ob es ihnen gefiel oder nicht, sie würden wohl oder übel abwarten müssen, bis Ryuuji sich meldete und ihnen mitteilte, wann er wieder nach Hause kommen würde. "Mach doch mal endlich diesen infernalischen Lärm aus", nuschelte es von der anderen Seite des Bettes und Mokuba, den Setos Höllengerät von einem Wecker ebenfalls aus dem Schlaf gerissen hatte, warf sich die Bettdecke so weit über den Kopf, dass nur noch ein paar schwarze Strähnen hervorlugten. Seto kam der Aufforderung seines Bruders nach, zog diesem aber trotz seines Murrens die Bettdecke weg, ohne sich an dem bösen Blick zu stören, den er dafür erntete. "Schule", wurde Mokuba der brutale Entzug seiner Wärmequelle erklärt, aber noch ehe er sich darüber beschweren konnte, fiel auch ihm wieder ein, warum er die vergangene Nacht im Bett seines großen Bruders verbracht hatte. Schlagartig war er ein bisschen zu wach und schoss förmlich in eine aufrechte Position. Aus großen Augen starrte er seinen großen Bruder an. In seinem Hals saß ein dicker Kloß fest, den er erst nach mehrmaligem Räuspern wieder herunterschlucken konnte. "Meinst du, es geht Ryuuji gut?", kleidete er seine Sorge in Worte und zog eine Grimasse, als er einfach nur ein Kopfschütteln zur Antwort bekam. "Das glaube ich ehrlich gesagt nicht, otouto", gab Seto zu, seufzte und strich seinem Bruder kurz durch die Haare, ehe er seine Beine aus dem Bett schwang. Ganz egal, wie groß ihre Sorgen auch sein mochten, sie hatten ihre eigenen Pflichten, die es zu erfüllen galt. Und, sinnierte Seto, wenn Ryuuji erst einmal wieder da war, dann würde er definitiv die Hausaufgaben und auch sämtliche anderen Unterlagen, die sie während seines Fehlens bekommen würden, brauchen. Also stand für ihn absolut außer Frage, dass er zur Schule gehen und diese Unterlagen für seinen Stiefbruder organisieren würde. Das war das Mindeste, was er für Ryuuji tun konnte. Es war zwar bei weitem nicht das, was er wirklich tun wollte, aber da das ohnehin nicht zur Debatte stand, verbot Seto sich jeden weiteren Gedanken daran. "Du hast ja Recht, Nii-san." Mokuba seufzte ebenfalls abgrundtief, ehe er auch aus dem gemütlichen Bett seines Bruders aufstand. "Wir sehen uns gleich beim Frühstück", murmelte er, wartete noch kurz Setos Nicken ab und machte sich dann auf den Weg in sein eigenes Zimmer, um zu duschen und sich seine Schuluniform anzuziehen. Sich vor dem Tag drücken zu wollen brachte ja doch nichts. Seto tat es ihm gleich, verschwand in seinem Badezimmer und erschien gute zwanzig Minuten später fix und fertig angezogen im Esszimmer, wo ihn zu seiner Überraschung sein Vater und seine Stiefmutter bereits erwarteten. Gut, mit Yukikos Anwesenheit hatte er fast schon gerechnet, aber dass sein Vater noch da war, hatte an einem Montagmorgen eigentlich Seltenheitswert. Aber nach gestern ist das vielleicht auch verständlich, dachte Seto bei sich, begrüßte die beiden knapp und setzte sich auf seinen Platz. Mokuba erschien nur wenige Minuten später, wagte ein schwaches Lächeln in Yukikos Richtung und setzte sich dann ebenfalls. Das Frühstück verlief schweigend. Alle Vier hingen ihren eigenen Gedanken nach. Selbst Mokuba, der sonst, wenn er erst mal wach war, eigentlich meistens fröhlich vor sich hin plapperte, stand an diesem Morgen ganz und gar nicht der Sinn nach Konversation. Er hätte auch, wenn er ehrlich war, gar nicht gewusst, was er sagen sollte. So war er regelrecht erleichtert, als Isono auftauchte und somit klar war, dass es höchste Zeit war, zur Schule zu fahren. "Ich werde diese Woche ab nachmittags von zu Hause aus arbeiten", überraschte Gozaburo seine beiden Söhne, als diese sich gerade gemeinsam mit Isono auf den Schulweg machen wollten. Mokuba war reichlich verdattert, nickte aber nur zum Zeichen, dass er verstanden hatte, was sein Vater ihm damit sagen wollte. Offensichtlich wollte er da sein, falls einer von ihnen – Yukiko, Seto, er oder, wenn er erst mal wieder da war, auch Ryuuji – ihn brauchen sollte. Auch Seto nahm die Information, die ihr Vater ihnen zukommen ließ, schweigend, aber dennoch mit einem schmalen Lächeln zur Kenntnis. "Wir sollten langsam los", murmelte er, nickte seinem Vater und Yukiko noch einmal kurz zu und machte sich dann gemeinsam mit Mokuba auf den Weg zur Limousine. Anstatt wie in der letzten Zeit zu Fuß zur Schule zu gehen, instruierte der Fünfzehnjährige Isono beim Einsteigen, ihn bei den Mutos abzusetzen. Er wollte, hatte er beschlossen, im Moment lieber noch nicht mit seinen Gedanken alleine sein. Und Seto hatte Yami doch in letzter Zeit ohnehin ständig abgeholt, also würde er das heute sicher auch tun. Die Fahrt zum Haus der Familie Muto verging ebenso schweigend wie das Frühstück. Seto wusste nicht, wie er seinen kleinen Bruder aufmuntern oder von seinen Sorgen befreien sollte, also unterließ er sämtliche Versuche. Er war selbst einfach zu besorgt, zu sehr in seine eigenen Gedanken verstrickt, so dass er hoffte, Yuugi und Ryou mochten das schaffen, was ihm selbst nicht gelingen wollte, nämlich Mokuba von allem, was in den letzten Tagen auf ihn eingestürzt war, abzulenken. Kaum dass Isono den Wagen zum Stehen gebracht hatte, riss Mokuba auch schon die hintere Tür der Limousine auf, ohne darauf zu warten, dass Isono das wie üblich für ihn erledigte. "Bis nachher, Seto", verabschiedete er sich von seinem Bruder, versuchte sich probehalber an einem Lächeln und merkte schnell, dass ihm das nicht gelingen würde. Allerdings nahm Seto ihm das offenbar keinesfalls übel. "Bis nachher, otouto", erwiderte er einfach nur leise die Verabschiedung und beobachtete, wie Mokuba auf Yuugi, der gerade gemeinsam mit seinem eigenen Bruder das Haus verließ, zutrat. Einen kurzen Wortwechsel mit Yami später machten sich die beiden Fünfzehnjährigen auf den Weg, um den Dritten in ihrem Bunde abzuholen, während Yami seinerseits mit einem sehr breiten Grinsen in die wartende Limousine kletterte. "Guten Morgen, Seto." Yami konnte einfach nichts gegen seine gute Laune tun. Yuugi war heute schon eine gute Stunde vor ihrer eigentlichen Frühstückszeit förmlich aus seinem Bett geschossen und hatte ihn geweckt, so dass sie beide genug Zeit gehabt hatten, erst einmal ihre Mutter mit Frühstück zu überraschen, ehe sie sich ganz in Ruhe fertig gemacht hatten für den vor ihnen liegenden Tag. Yami wusste nur zu genau, warum sein kleiner Bruder so hibbelig war, aber er hatte sich tatsächlich an seinen Vorsatz vom letzten Abend gehalten und Yuugi nicht damit aufgezogen. Leicht war das nicht gewesen, aber irgendwie hatte er es doch geschafft. "Läuft Otogi heute auch wieder zur Schule?" Die Frage seines besten Freundes entlockte Seto ein Kopfschütteln, das Yami mit einem fragenden Blick quittierte. Und als er die Begründung dafür hörte, warum Setos Stiefbruder auch heute nicht mit ihnen in der Limousine saß, obwohl sogar Mokuba mitgefahren war, erhielt seine gute Stimmung einen ordentlichen Dämpfer. "Otogi ist im Moment in den Staaten. Er hat gestern erfahren, dass sein Vater verstorben ist. Heute im Laufe des Tages ist irgendwann die Beisetzung", ließ Seto ihn wissen und Yami starrte ihn aus großen Augen an. "Oh scheiße!", war das Erste, was er über die Lippen brachte. Und obwohl Seto solche Ausdrücke eigentlich ganz und gar nicht schätzte, wies er seinen besten Freund dieses Mal nicht für seine Wortwahl zurecht, sondern nickte einfach nur. "Das kannst du laut sagen", stimmte er ihm sogar zu und schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. Erst dann blickte er Yami wieder an. "Vater hat ihn mit der Privatmaschine nach San Francisco fliegen lassen. Wenn du ihn gestern gesehen hättest, Yami …" Allein die Erinnerung an das Entsetzen in den faszinierenden grünen Katzenaugen seines Stiefbruders schnürte Seto die Kehle zu. "Er ist jetzt ganz alleine", murmelte er leise und blinzelte im nächsten Moment überrascht, denn Yami beugte sich etwas nach vorn und legte beide Hände auf seine Knie, um ihn besser ansehen zu können. "Das hat sicher viele Erinnerungen geweckt", vermutete er leise und sanft. Seto nickte und erlaubte sich ein Seufzen. "Auch, ja", gab er zu. Aber das war bei weitem nicht sein Hauptproblem. Sicher, er hatte am vergangen Tag auch immer wieder an seine Mutter denken müssen, aber dieses Mal hatte nicht der Schmerz über ihren Verlust im Vordergrund gestanden, sondern seine Sorgen um seinen Stiefbruder. Zu wissen, dass Ryuuji jetzt gerade ganz alleine war, dass niemand bei ihm war, der ihm zur Seite stand, beschäftigte Seto weit mehr als seine Erinnerungen an seinen eigenen Verlust. "Aber das ist es nicht, Yami. Ich …", fing Seto an, brach jedoch ab, als sein bester Freund einfach nur nickte. "Du machst dir Sorgen um Otogi", sprach er das aus, was Seto beschäftigte, und dieser nickte langsam. "Er ist ganz alleine", wiederholte er, was es war, was ihn so beschäftigte, und wieder nickte Yami verstehend. Eine Weile schwiegen beide, dann seufzte Seto erneut. "Ich habe ihm gestern versprechen müssen, dass ich Jounouchi heute darüber informiere, was passiert ist", teilte er Yami mit und dieser strich ihm kurz tröstend übers Knie, ehe er sich wieder zurücklehnte. "Dann solltest du das besser direkt hinter dich bringen, wenn wir da sind", erwiderte er und verkniff sich ein eigenes Seufzen. "Jounouchi wird nicht sehr begeistert darüber sein, wenn er das ausgerechnet von dir erfährt", vermutete er sicher nicht zu Unrecht. Höchstwahrscheinlich würde der temperamentvolle Blondschopf komplett ausrasten. Immerhin war Otogi Jounouchis bester Freund und Seto … nun, mit Seto hatte er sich noch nie verstanden. Die beiden rasselten schon seit dem Beginn ihrer gemeinsamen Schulzeit mehr oder weniger regelmäßig aneinander und schaukelten sich oftmals wegen Kleinigkeiten unnötig weit hoch. Yami selbst hatte schon mehrmals schlichtend eingreifen müssen um zu verhindern, dass die Streitigkeiten zwischen den beiden eskalierten. Das kann ja heiter werden! "Vermutlich", gab Seto seinem besten Freund Recht und wandte seinen Blick aus dem Fenster. Egal, wie groß seine eigene Abneigung gegen die blonde Pest auch war, er hatte Ryuuji sein Wort gegeben und er würde es auch unter allen Umständen halten. Darüber, wie Jounouchi wohl reagieren würde, wenn er diese Botschaft ausgerechnet von ihm bekam, wollte Seto im Augenblick jedoch nicht nachdenken. Er würde, nahm er sich fest vor, sich zusammenreißen und zumindest versuchen, wenigstens dieses eine Mal nicht mit dem Köter zu streiten. Ob sein Vorsatz allerdings die leibhaftige Begegnung mit Jounouchi überleben würde, blieb abzuwarten. oOo "Mir ist gestern was total Irres passiert!" Yuugi zog Mokuba, kaum dass dieser aus der kaibaschen Limousine gestiegen war und seinen großen Bruder kurz begrüßt hatte, auch schon mit sich. Eigentlich hatte er ja warten wollen, bis sie auch Ryou abgeholt hatten, aber er schaffte es einfach nicht, das Geschehene noch länger für sich zu behalten. Stattdessen platzten die Worte noch auf dem Weg zu dem Haus, in dem ihr weißhaariger Freund wohnte, förmlich aus ihm heraus. "Ich war gestern bei meinem Opa, weil Yami ins Museum wollte, aber Opa brauchte seine Medikamente, also bin ich alleine zu ihm gegangen und da … Mokuba, hörst du mir überhaupt zu?" "Hm?", blinzelte der Angesprochene und schüttelte dann seufzend den Kopf auf die Frage seines Freundes. "Nicht wirklich. Sorry, Yuugi", entschuldigte er sich und zog eine Grimasse. "Es ist bloß … Ryuuji ist gestern zurückgeflogen, weil … weil sein Vater gestorben ist. Heute ist die Beerdigung", rang er sich dann mühsam eine Erklärung ab und Yuugi, der eigentlich gerade bei Ryou, vor dessen Haus sie inzwischen angekommen waren, hatte klingeln wollen, fuhr augenblicklich wieder zu seinem schwarzhaarigen Freund herum. "Was?!", fragte er, seine Stimme ungewohnt hoch und piepsig vor Schock. "A-Aber …" Weiter kam Yuugi nicht, da sich Ryou genau diesen Moment aussuchte, um die Tür zu öffnen und beinahe in den wie erstarrt vor der Tür stehenden Bunthaarigen hineinzulaufen. "Entschuldige, Yuugi", nuschelte er leise, doch der Angesprochene ging gar nicht darauf ein. Stattdessen packte er Ryou einfach nur am Ärmel seiner Schuluniformjacke und zog ihn kommentarlos in eine Umarmung für Mokuba, die dieser mit einem zittrigen Seufzen und geschlossenen Augen über sich ergehen ließ. Auf keinen Fall wollte er jetzt schon wieder heulen, aber sich auch wirklich an diesen Vorsatz zu halten war gar nicht so einfach. "Yuugi, was …?", fragte Ryou verwirrt, aber es dauerte fast eine Minute, bis er eine Antwort bekam. "Ryuujis Vater ist tot", schockte Yuugi seinen weißhaarigen Freund ebenso, wie Mokuba es vorher bei ihm getan hatte. Zeitgleich festigte sich sein Griff um Mokuba und auch Ryou drückte den Schwarzhaarigen noch ein bisschen fester, als er begriff, was Yuugi da gesagt hatte. "Das ist ja furchtbar!", murmelte er und Mokuba schluckte hart, ehe er seine Augen doch wieder öffnete. "Er hat es gestern Morgen beim Frühstück erfahren und ist direkt wieder in die Staaten geflogen. Und jetzt ist er ganz alleine da drüben und wir haben keine Ahnung, wie es ihm geht. Er wollte nicht mal, dass seine Mutter mitfliegt. Er meinte, sie würde hier gebraucht", erzählte er leise und wischte sich hektisch über die Augen. Nicht heulen. Nicht schon wieder, ermahnte er sich selbst, aber das auch wirklich nicht zu tun wurde mit jeder verstreichenden Sekunde schwerer und schwerer. Ryou, der ganz genau wusste, wie sensibel Mokuba sein konnte, wenn ihm etwas nahe ging, musste mehrmals blinzeln, um seine eigene Sicht wieder zu klären. "Das tut mir so leid für Ryuuji, Mokuba", sagte er dann leise und strich dem Schwarzhaarigen sanft über die Wange, zog seine Finger aber gleich wieder zurück, als Mokuba ihn dafür kläglich anlächelte. "Danke, Ryou", murmelte er und Ryou spürte, wie seine Wangen heiß wurden, aber er schob sämtliche Gedanken an das, was er selbst Mokuba am Freitag gestanden hatte, erst mal beiseite. Es war ja wohl vollkommen logisch, dass Mokuba im Moment ganz und gar nicht in der Stimmung dafür war, darüber nachzudenken, was dieses Geständnis für sie beide bedeutete, wenn er erst am Vortag so etwas erfahren hatte. Aber, ermahnte Ryou sich selbst, er konnte warten. Er war schon immer ein äußerst geduldiger Mensch gewesen. Jetzt würde er sich erst mal gemeinsam mit Yuugi um Mokuba kümmern. Darüber, wie es nach seinem Geständnis mit ihnen beiden weitergehen würde, konnten sie immer noch in Ruhe sprechen, wenn Ryuuji erst mal wieder zu Hause war und Mokuba sich seinetwegen keine Sorgen mehr machen musste. "Wir sollten zur Schule gehen", bemühte Ryou sich um Ablenkung und wieder seufzte Mokuba, ehe er sich aus der ungemein tröstenden Umarmung seiner beiden Freunde löste. "Du hast Recht." Davon, dass sie hier auf der Straße herumstanden, würde es Ryuuji auch nicht besser gehen. Sie konnten, wie Seto ja schon so richtig festgestellt hatte, nur abwarten, bis er wieder zurück nach Hause kam, und sich dann gemeinsam als Familie um ihn kümmern. Ganz sicher würde er das brauchen, wenn er erst mal wieder da war. Schweigend traten die drei Fünfzehnjährigen ihren Schulweg an. Innerlich schalt Mokuba sich dafür, dass er sich nicht besser im Griff gehabt hatte. Eigentlich hatte er seinen beiden besten Freunden ganz sicher nicht so die Stimmung verhageln wollen, aber das hatte er ja wohl doch geschafft. Ich bin doch so ein dämlicher Blödmann!, grummelte Mokuba innerlich und verkniff sich mit etwas Mühe ein Seufzen. Die besorgten Blicke, die ihm von beiden Seiten – Ryou und Yuugi hatten ihn in ihre Mitte genommen – zugeworfen wurden, machten es irgendwie auch nicht besser. "Wolltest du mir nicht vorhin irgendwas erzählen, Yuugi?", wandte Mokuba sich schließlich nach mehreren Minuten des Schweigens an den kleineren seiner beiden Freunde und sah ihn fragend an. "Irgendwas mit deinem Opa, oder?" So viel hatte er dann doch noch mitbekommen, auch wenn außer der Erwähnung von Yuugis Großvater nicht wirklich etwas von dem, was Yuugi gesagt hatte, hängen geblieben war. Allerdings schien es wichtig gewesen zu sein, denn Yuugi war reichlich aufgedreht gewesen, das wusste Mokuba noch. Yuugi zog eine Grimasse. "Ja, wollte ich. Eigentlich wollte ich euch beiden was erzählen", beantwortete er die Frage und zupfte nachdenklich an einer seiner blonden Ponysträhnen. "Aber jetzt … Ich weiß nicht, ob das wirklich angebracht ist", murmelte er zweifelnd, doch Mokuba schüttelte den Kopf. "Doch, ist es. Wenn's dir wichtig ist, dann ist es das auch für uns. Ich meine … Für Ryuuji können wir im Moment eh nichts tun. Nicht, solange wir nicht wissen, wann er wieder nach Hause kommt." Sobald sein Stiefbruder wieder da war, würde er alles in seiner Macht stehende tun, um ihn zu trösten, das stand für Mokuba unumstößlich fest. Aber fürs Erste hatte er wirklich genug geheult. Wenn es etwas gab, was Yuugi beschäftigte, dann wollte er als einer von Yuugis besten Freunden natürlich davon wissen. Und wenn er ihn irgendwie unterstützen konnte, dann, das nahm Mokuba sich fest vor, würde er es auch tun. Ryou, der seinem schwarzhaarigen Freund seine Gedankengänge praktisch an der Stirn ablesen konnte, lächelte ganz leicht. Genau das war einer der Gründe – einer von vielen, vielen Gründen –, warum er sich in Mokuba verliebt hatte. Mokuba war einfach ein toller Mensch, der für diejenigen, die ihm wichtig waren, alles tun würde. Wie hätte er sich da nicht in Mokuba verlieben können? Allerdings waren diese Gedanken im Moment ganz und gar nicht hilfreich, also schüttelte Ryou sie schnell wieder ab. "O-Okay", stammelte Yuugi und versuchte, seine plötzlich wieder aufflammende Nervosität mit mehreren tiefen Atemzügen zu beruhigen, aber das wollte ihm einfach nicht gelingen. Aber das war jetzt auch egal, also Augen zu und durch. "Also, ich war gestern bei meinem Opa, weil er seine Medikamente brauchte. Eigentlich wollte ich ja mit Yami ins Museum", warum, das ließ Yuugi für den Moment unter den Tisch fallen; Maliks und Yamis ›Streitereien‹, wenn man diese Kabbeleien denn überhaupt so nennen konnte, gehörten hier nicht her, "aber die Medikamente waren wichtig. Yami ist also alleine ins Museum gegangen", und hatte, zumindest laut seiner eigenen Aussage, einen tollen Tag dort gehabt, "und ich war dann bei Opa. Und Opa hatte Besuch von Hopkins-san und R-Rebecca." Yuugi stolperte ein wenig über den Namen und konnte förmlich fühlen, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Oh nein!, dachte er bei sich und versuchte, sich mit dem Weitersprechen zu beeilen. Er wollte jetzt definitiv keine Fragen zu seiner schicken neuen Gesichtsfarbe beantworten. "Rebecca?", kam Mokubas interessierte Frage Yuugis Plan, einfach weiterzureden, jedoch zuvor. Yuugi hatte Ryou und ihm früher schon öfter mal von der Enkelin eines ehemaligen Arbeitskollegen seines Großvaters erzählt. Und Fotos hatte er ihnen auch gezeigt, aber die waren alle schon ziemlich alt gewesen. Wenn er sich recht erinnerte, dann müsste Rebecca jetzt ungefähr in ihrem Alter sein. "J-Ja", bestätigte Yuugi leise und der seltsam zögerliche Tonfall in Verbindung mit Yuugis knallrotem Gesicht war so eindeutig, dass Mokuba Mühe hatte, nicht breit zu grinsen. "Und, wie war's, sie nach so langer Zeit wiederzusehen?", erkundigte er sich stattdessen und während Yuugi verlegen auf seine Schuhspitzen starrte und nach einer Antwort suchte, stieß Mokuba Ryou den Ellbogen in die Seite und zwinkerte ihm zu. Ryous Herz stolperte ein wenig, aber er zwinkerte dennoch zurück. Auch für ihn war nicht zu übersehen, dass Yuugi sich offensichtlich Hals über Kopf in seine Kindheitsfreundin verknallt hatte, als er sie nach so vielen Jahren so plötzlich wiedergetroffen hatte. Aber er würde, beschloss er, schön brav den Mund halten. Yuugi schien auch so schon hibbelig genug zu sein; zusätzliches Triezen konnte er sicher nicht gebrauchen. Außerdem wusste Ryou ja aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie es sich anfühlte, verliebt zu sein und nicht zu wissen, wie es weitergehen würde. Aber das war definitiv kein Thema, das er jetzt erörtern wollte, also schwieg er einfach nur und wartete darauf, dass Yuugi genug Mut zum Weitersprechen fand. "E-Es war … nett." Gut, eigentlich war es sehr viel mehr als nur nett gewesen – wunderschön, aufregend, verwirrend und noch tausend Dinge mehr –, aber das, beschloss Yuugi, würde er lieber für sich behalten. Der kurze Blickwechsel seiner beiden Freunde war ihm nämlich keinesfalls entgangen und er wollte ganz sicher nicht noch Öl in das Feuer ihrer Spekulationen gießen. Er war ja schon froh gewesen, dass sein großer Bruder ihn weder am Vorabend noch heute in irgendeiner Form mit dieser ganzen Sache aufgezogen hatte. Inzwischen hatte Yuugi nämlich zumindest eine ungefähre Ahnung, was genau mit ihm los war. Aber das zu ahnen und es von jemand anderem aufs Butterbrot geschmiert zu bekommen waren zwei Paar Schuhe. "Wir waren in der Arkade und haben ein bisschen gespielt. Sie ist ziemlich gut, aber ich hab trotzdem gewonnen." Was, so im Nachhinein betrachtet, vielleicht doch nicht so gut gewesen war. Hätte er sie eventuell auch mal gewinnen lassen sollen? Danach hatte Yuugi seinen Bruder eigentlich noch fragen wollen, aber über seine Nervosität und die Frühstücksvorbereitungen hatte er es völlig vergessen. Und da er sich direkt nach der Schule mit Rebecca verabredet hatte, würde er sich wohl erst am Abend Yamis Rat holen können. So ein Mist aber auch! "Und sie meinte, dass sie auch mal gewinnen möchte, also ha-haben wir uns für heute Nachmittag wieder verabredet und ich h-hab ihr versprochen, dass ich ihr ein paar von Yamis Tricks beibringe", brachte Yuugi etwas atemlos auch noch den Rest dessen, was am Vortag passiert war, hervor. Noch immer war sein Gesicht glühend rot und er wagte nicht so recht, seine beiden besten Freunde anzusehen. Er war sich ziemlich sicher, dass sie wussten, was mit ihm los war, aber er wollte die Bestätigung für seine Vermutung lieber nicht in ihren Gesichtern sehen. Das alles war auch so schon nervenaufreibend genug. "Ein Mädchen, das Arcade Games mag?", erkundigte Mokuba sich verwundert, aber das Amüsement konnte er nicht so ganz aus seiner Stimme verbannen. Aber es war auch einfach zu putzig, wie Yuugi alles Mögliche versuchte, um Ryous und seinen Blicken auszuweichen. Spätestens jetzt war eindeutig klar, was mit Yuugi los war. Er war definitiv, absolut und hundertprozentig verknallt. Bis über beide Ohren. "Vielleicht sollten wir mal alle zusammen in die Arkade gehen. Also Ryou, du, Rebecca und ich", schlug Mokuba vor und nun war er es, der von Ryou einen Rippenstoß kassierte. "Aber nicht unbedingt heute", mischte sich der Weißhaarige ein, nachdem er Mokuba einen strafenden Blick zugeworfen hatte. "Vielleicht irgendwann im Laufe der Woche, wenn sie Lust hat und noch so lange da ist. Oh, wie lange bleibt sie eigentlich?", erkundigte er sich dann in dem Bemühen, Yuugi ein bisschen von seiner Nervosität zu nehmen. "Ihr Opa und sie bleiben zwei Wochen bei meinem Opa", ging Yuugi voller Erleichterung auf die Ablenkung ein. "Und ich kann sie ja nachher mal fragen, ob es sie stört, wenn wir mal zu viert was unternehmen." Was, dachte Yuugi mit wild klopfendem Herzen, ja fast so etwas wie ein Doppel-Date wäre. Vielleicht gar keine so schlechte Idee. Wenn er sich dann einfach bloß darauf konzentrierte, Ryou und Mokuba auf die Sprünge zu helfen – natürlich subtil, damit weder die beiden noch Rebecca etwas davon merkten; immerhin wusste er ja nicht, was sie davon halten würde, wenn er versuchte, zwei seiner Freunde miteinander zu verkuppeln –, dann wäre er sicher nicht mehr so schrecklich nervös wegen Rebecca. Doch, das klang eindeutig wie ein guter Plan. Auch Mokuba war die Ablenkung mehr als nur recht, deshalb nickte er gleich voller Enthusiasmus. "Mach das. Frag sie und dann sag uns morgen Bescheid, okay?", schlug er vor und hakte sich bei seinen beiden Freunden ein, nachdem Yuugi genickt hatte. Und jetzt, wo sie etwas anderes zu besprechen hatten als das, was er selbst am Vortag erfahren hatte, stürzte Mokuba sich Hals über Kopf in die Ablenkung, die ihm so geboten wurde. Ganz sicher würde er sich nicht jeden Tag mit Ryou, Yuugi und seiner Rebecca treffen, aber hin und wieder ein bisschen rauskommen würde ihm bestimmt gut tun. Und wenn seine eigene Stimmung gefestigt wäre, könnte er sicher auch besser für Ryuuji da sein, wenn der erst mal wieder zu Hause war. Ryou kicherte leise über den Enthusiasmus, den Mokuba und auch Yuugi an den Tag legten, ließ sich aber dennoch davon anstecken. Ihm war klar, dass gerade Mokuba sich eigentlich nur ablenken wollte, aber das war ihm egal. Und wenn er dabei behilflich sein konnte, dann würde er das selbstverständlich auch tun. Er würde beiden, Yuugi und Mokuba, unter die Arme greifen, so weit es in seiner Macht stand. Dafür waren Freunde doch schließlich da, nicht wahr? oOo Das Halten der Limousine riss Seto wieder aus seinen Gedanken, mit denen sein bester Freund ihn dankenswerterweise den Rest der Fahrt allein gelassen hatte. Während der letzten Minuten hatte er permanent darüber nachgegrübelt, wie genau er Jounouchi wohl erklären sollte, was vorgefallen war, ohne dass der Blondschopf – wieder einmal – vollkommen ausrastete, aber bisher war er zu keinem vernünftigen Ergebnis gekommen. Am besten wird wohl sein, wenn ich es einfach nur irgendwie hinter mich bringe, sinnierte Seto mit einem innerlichen Seufzen und stieg gemeinsam mit Yami aus der Limousine, sobald Isono die Tür für sie beide geöffnet hatte. Isonos Verabschiedung erwiderte Seto nur ausgesprochen knapp, denn kaum dass er ausgestiegen war, hatte er auch schon den unordentlichen blonden Schopf seines persönlichen Albtraums auf dem Schulhof erblickt. "Auf in den Kampf", kommentierte er das vor ihm liegende Gespräch und obwohl es in der Situation eigentlich ganz und gar nicht angebracht war, schmunzelte Yami bei diesen Worten trotzdem leicht. "Ist das bei euch beiden nicht irgendwie immer ein Kampf, wenn ihr miteinander zu tun habt?", fragte er mit deutlich hörbarem Amüsement zurück und Seto zog eine Grimasse, die nur sehr entfernt Ähnlichkeit mit einem freudlosen Grinsen hatte. "Bleibt nur zu hoffen, dass er nicht wirklich meint, handgreiflich werden zu müssen." Zuzutrauen wäre es Jonouchi ohne Zweifel. Der Blondschopf war nicht unbedingt dafür bekannt, ruhig und besonnen zu sein. Und er hatte, wie Seto sehr wohl wusste, gerade zu Beginn ihrer Schulzeit des Öfteren seine Probleme mit den Fäusten zu lösen versucht. Nur mit ihm selbst, sinnierte Seto, hatte der Köter sich bisher nie geprügelt – und das, obwohl er oft genug ausgesehen hatte, als würde er das nur zu gerne tun. Allerdings schien er wohl zumindest einen winzigen Funken gesunden Menschenverstand zu besitzen, der ihn davor gewarnt hatte, dass er sich da möglicherweise übernehmen könnte. Ja, sicher, rein in Bezug auf seine Erfahrung war der Blonde ihm, Seto, weit voraus, aber das bedeutete ja nicht, dass er sich nicht zur Wehr zu setzen wusste. Darauf hatte sein Vater immerhin Wert gelegt; sowohl Mokuba als auch er selbst waren von Kindheit an darin unterrichtet worden, wie sie sich selbst verteidigen konnten. Man konnte schließlich nicht vorsichtig genug sein. Unwillig diese Gedankengänge abschüttelnd machte Seto sich gemeinsam mit seinem besten Freund, der ihm scheinbar Rückendeckung geben wollte, auf den Weg zu der Bank, wo Jounouchi und Kinoshita bereits gemeinsam saßen. Der Weißhaarige bemerkte die Ankommenden zuerst und Seto sah überdeutlich, wie die dunklen Augen sich erst kurz vor Überraschung weiteten, ehe sie schmal wurden. Kinoshitas ganze Mimik drückte überdeutlich Misstrauen aus – immerhin hatten sie eigentlich nichts miteinander zu tun –, aber darauf ging Seto nicht ein. Er war nicht hier, um mit Kinoshita zu sprechen, sondern weil er Ryuuji versprochen hatte, Jounouchi über die Geschehnisse des Vortages in Kenntnis zu setzen. Und genau das würde er auch tun, nicht mehr und nicht weniger. Ein Ellbogen, der ihm in die Seite gerammt wurde, brachte Katsuya dazu, aufzusehen. Als er sich jedoch statt mit seinem besten Freund ausgerechnet mit dem Eisklotz Kaiba und dessen Anhängsel Muto konfrontiert sah, kniff auch er skeptisch die Augen zusammen. "Was verschafft uns denn diese unverhoffte Ehre?", spottete er, aber zu seiner Überraschung ging sein brünetter Klassenkamerad nicht wie sonst auf diese Provokation ein. Okay, irgendwas stimmt hier nicht. Wenn Kaiba nicht hergekommen war, um sich mit ihm zu streiten, was machte er dann hier? Und wo in aller Welt steckte eigentlich Ryuuji? Ob er wieder gelaufen war, um nicht mit Kaiba gemeinsam in der Bonzenkarre fahren zu müssen? Aber selbst wenn dem so war, dann hätte der Schwarzhaarige trotzdem längst da sein müssen. Irgendwas war hier definitiv faul, das war absolut offensichtlich. Ehe der Blondschopf jedoch dazu kam, eine in diese Richtung gehende Frage zu stellen, bekam er auch schon die Antwort für diese Seltsamkeit geliefert, die hier passierte. "Otogi bat mich gestern, dir etwas auszurichten", begann der wandelnde Eisberg mit seiner Erklärung und Katsuya warf ihm einen skeptischen Blick zu. Nach allem, was Ryuuji ihm von seinen Gefühlen für den arroganten Saftsack erzählt hatte, konnte er sich nicht vorstellen, dass das die Wahrheit sein sollte. Warum sollte Ryuuji ausgerechnet Kaiba bitten, ihm irgendwelche Botschaften zu übermitteln? Das war ja wohl vollkommen lachhaft! "Und das wäre? Spuck's schon aus, Kaiba!", verlangte der Blondschopf und Seto biss für einen Moment seine Zähne ganz fest zusammen. Der Drang, den Köter einfach hier sitzen zu lassen, war beinahe übermächtig, aber er hatte nun mal sein Wort gegeben. Und dieses Wort würde er halten – ganz egal, wie sehr es ihm persönlich auch gegen den Strich gehen mochte, sich mit der blonden Pest abgeben zu müssen. Die Erinnerung daran, was Ryuuji ihm erst am Donnerstagabend während ihres Streits über Jounouchi und sich selbst verraten hatte, machte es auch nicht unbedingt leichter. Seto konnte deutlich fühlen, wie seine Eifersucht in ihm hochkochte, aber er kämpfte sie entschlossen nieder. Es ging jetzt nicht um ihn und seine Gefühle, sondern einzig und allein um den Gefallen, um den Ryuuji ihn gebeten hatte. Sich das minimale, dankbare Lächeln, das sein Versprechen zur Folge gehabt hatte, in Erinnerung zu rufen war ungemein hilfreich dabei, sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. "Otogi ist gestern wieder zurück in die Staaten geflogen. Sein Vater wird heute beigesetzt und er hat mich gebeten, dir auszurichten, dass er einige Tage lang nicht hier sein wird", fasste er also äußerst knapp zusammen, worum sein Stiefbruder ihn gebeten hatte. Den ungläubigen Blick, den Jounouchi ihm zuwarf, hatte er beinahe schon erwartet. "Wenn das ein Scherz sein soll …", setzte der Blondschopf an, verstummte jedoch, als Seto einfach nur den Kopf schüttelte. Dabei fiel es ihm verdammt schwer, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Erwartete der Köter etwa wirklich, dass er mit so einer Nachricht Witze machte? Das war ja wohl die Höhe! Einzig Yamis Hand auf seinem Arm hielt Seto davon ab, dem Kläffer geharnischt seine Meinung zu sagen. "Ist seine Mutter bei ihm?", erkundigte Katsuya sich, nachdem er die Aussage des Brünetten erst mal einigermaßen verdaut hatte. Er wusste ganz genau, wie sehr Ryuuji an seinem Vater gehangen hatte – trotz all der Streitereien und Meinungsverschiedenheiten, die die beiden in den letzten zwei, drei Jahren immer wieder mal gehabt hatten. Trotzdem musste es verdammt hart für Ryuuji sein, dass sein Dad jetzt nicht mehr am Leben war. Katsuya verbot sich jeglichen Gedanken an seine Mutter und seine kleine Schwester, die beide ebenfalls viel zu früh hatten sterben müssen. Er konnte sich mehr als lebhaft vorstellen, wie sein bester Freund sich jetzt fühlen musste: ganz so, als hätte er einen Teil von sich selbst verloren. Hoffentlich konnte seine Mutter ihn wenigstens trösten. "Nein, er ist alleine zurückgeflogen." Kaum dass er diese Worte ausgesprochen hatte, wäre Seto auch schon um ein Haar zurückgestolpert, denn Jounouchi sprang so schnell von der Bank auf, dass er für einen Moment tatsächlich erschrak – eine Reaktion, über die er sich gleich darauf auch schon ärgerte. Aber noch ehe er etwas tun konnte, hatte der Blondschopf ihn auch schon an seiner Schuluniformjacke gepackt und riss ihn daran förmlich zu sich. "Seid ihr eigentlich bescheuert? Ihr könnt ihn doch nicht alleine lassen!", schrie er den Brünetten an und hätte diesen sicherlich ordentlich durchgeschüttelt, wenn Bakura nicht eingegriffen und von dem Anderen weggezogen hätte, ehe er wirklich Schaden anrichten konnte. Katsuya ballte seine Hände zu Fäusten und wehrte sich nach Kräften, aber gegen den schraubstockartigen Griff, mit dem Bakura ihn festhielt, kam er einfach nicht an – was sicher auch besser war, denn sonst hätte er seinen brünetten Klassenkameraden ganz bestimmt geschlagen. Er bebte vor Wut und seine Augen sprühten förmlich Funken. In was für eine kranke Familie hatte Ryuujis Mutter da bloß eingeheiratet, wenn sie ihn in so einer Situation einfach sich selbst überließen? Und warum, verdammt noch mal, hatte Ryuuji ihm nicht Bescheid gesagt? Egal wie, er hätte schon irgendwie die Kohle zusammengekratzt, um mitzufliegen. Scheiß auf die Schule! Wenn sein bester Freund ihn brauchte, dann konnte ihn die Schule mal ganz gepflegt kreuzweise! "Es war sein eigener Wunsch, dass seine Mutter ihn nicht begleiten sollte." Was er selbst von dieser Entscheidung seines Stiefbruders hielt, ließ Seto sich mit keiner Regung anmerken. Es ging den Köter – der eindeutig einen Maulkorb brauchte, wenn man nach seinem aktuellen Verhalten ging – immerhin nicht das Geringste an, dass er selbst sich deswegen auch bereits Vorwürfe machte. Allerdings wäre er selbst wohl der letzte Mensch, den Ryuuji im Augenblick um sich würde haben wollen. Auch wenn ich ganz genau weiß, was er derzeit durchmacht. Aber das gehörte erst recht nicht hierher. Das waren Dinge, die Jounouchi überhaupt nicht zu interessieren hatten. Katsuya kochte vor Zorn. "Ist mir doch scheißegal!", knurrte er Kaiba förmlich an. Hätte Bakura ihn nicht immer noch festgehalten, hätte er sich doch noch auf den Brünetten gestürzt und ihm das Gesicht neu dekoriert. "Ihr könnt doch nicht ernsthaft glauben, dass es gut ist, wenn er jetzt ganz alleine ist! Wie krank seid ihr eigentlich? Ihr habt wohl echt überhaupt keine Gefühle. Eine ganze Familie voller Eisklötze; einer schlimmer als der andere!", tobte er und nun wurde es Seto zu bunt. "Pass auf, was du über meine Familie sagst, Köter!", zischte er gefährlich leise, aber bevor einer der beiden Streitenden noch weiter gehen konnte, klingelte es zum Unterricht. "Komm, Seto, wir sollten reingehen", bemühte Yami sich, seinen besten Freund in das Gebäude hinein zu bugsieren, doch das war alles andere als einfach. Unhörbar seufzend fuhr Yami sich durch die Haare, ehe er sich zwischen Jounouchi und seinen besten Freund schob, dem Blondschopf dabei den Rücken zudrehend. Ein knapper Blick zu Kinoshita hatte ihm klargemacht, dass dieser den Blonden auch weiterhin festhalten würde, auch wenn er noch so sehr tobte, also war er wohl zumindest halbwegs sicher. "Denk daran, dass du für Otogi die Unterlagen sammeln wolltest", erinnerte Yami seinen besten Freund und atmete erleichtert auf, als sich dessen starre Haltung minimal wieder lockerte. Er wusste, mit der Bemerkung über Setos Familie war Jounouchi deutlich unter die Gürtellinie gegangen, aber er selbst konnte dem Blondschopf diese Bemerkung nicht verdenken. Es war offensichtlich, dass er sich wahnsinnige Sorgen um seinen besten Freund machte. Er konnte ja nicht wissen, dass es Seto ganz genauso ging. Und da Seto nicht wollte, dass irgendjemand etwas davon erfuhr, verlor Yami auch kein Wort darüber, sondern fasste seinen besten Freund einfach nur am Arm und zog den widerstrebenden Brünetten mit sich. Yami und Seto hatten die Tür zum Gebäude schon beinahe erreicht, als Kinoshitas Stimme sie beide noch einmal einholte. "Sagt Bescheid, wenn ihr wisst, wann er wieder zurückkommt", verlangte er und als Yami sich kurz zu dem Weißhaarigen umwandte, musste er beinahe gegen seinen Willen grinsen, denn Kinoshita hatte dem noch immer deutlich geladenen Jounouchi eine Hand auf den Mund gelegt, wohl um ihn daran zu hindern, noch mehr Beleidigungen von sich zu geben. Auch Seto drehte sich noch mal kurz um, aber in seiner augenblicklichen Stimmung stand ihm ganz und gar nicht der Sinn danach, einen Kommentar zu Jounouchis momentaner Lage abzugeben, obwohl er sich das unter normalen Umständen ganz sicher nicht hätte verkneifen können. Jetzt jedoch nickte er nur auf die Aufforderung des Weißhaarigen, schwieg aber ansonsten sicherheitshalber lieber. Wenn er jetzt noch etwas sagte, dann würde es unter Garantie ein Unglück geben. Jounouchis Worte hatten ihn tiefer getroffen, als er es auch nur vor sich selbst zugeben wollte, denn die Gewissheit, dass Ryuuji jetzt wirklich ganz alleine mit allem fertigwerden musste, nagte an ihm. Und die Tatsache, dass er selbst wohl kaum eine Hilfe für den Schwarzhaarigen sein konnte, auch wenn er es noch so sehr wollte, machte es auch nicht besser. Ganz im Gegenteil. Bakura wartete erst noch ab, bis Kaiba und Muto das Schulgebäude doch endlich gemeinsam betreten hatten. Erst dann ließ er Katsuya wieder los und sofort fuhr dieser mit noch immer geballten Fäusten zu ihm herum. "Warum hast du mich aufgehalten?", wollte er aufgebracht wissen und knurrte, als Bakura ihn bloß mit einem langen Blick bedachte. "Wie viel Hilfe bist du ihm wohl, wenn du Kaiba jetzt verprügelst? Gar keine. Das hilft ja nicht mal dir selbst." Ja, kurzzeitig mochte es Katsuya vielleicht von dem Frust und der Hilflosigkeit ablenken, die er jetzt gerade fühlte, aber das würde nicht lange vorhalten. Und was dann? Er selbst, sinnierte Bakura, konnte zumindest annähernd nachvollziehen, warum Ryuuji im Augenblick niemanden bei sich haben wollte. Zwar hätte er selbst wohl eher gefeiert, wenn sein Alter ins Gras gebissen hätte, aber das war ja auch etwas vollkommen anderes. Immerhin hatte er seinen Vater noch nie wirklich leiden können, was bei Ryuuji und seinem Vater ja wohl anders war. Aber manche Dinge, das wusste Bakura aus eigener Erfahrung, musste man nun mal erst mit sich selbst ausmachen, bevor man sich mit Anderen auseinandersetzen konnte. Ryuuji würde, wenn er wieder da war, schon früher oder später mit Katsuya darüber reden, wenn er soweit war. Aber jetzt, wo das Ganze noch viel zu frisch war, brauchte er wahrscheinlich erst mal etwas Zeit, um mit sich selbst ins Reine zu kommen und sich mit der Situation abzufinden. "Du kannst immer noch für ihn da sein, wenn er zurückkommt." Bakuras Worte entlockten Katsuya ein weiteres Knurren. "Was weißt du schon?", giftete er, wandte sich ab und wischte sich hektisch über die Augen. Im Gegensatz zu Bakura wusste er ganz genau, wie es sich anfühlte, jemanden zu verlieren, an dem man mit seinem ganzen Herzen gehangen hatte. Er wusste also auch ganz genau, was Ryuuji jetzt gerade durchmachte. Und der Gedanke daran, dass er selbst ihm nicht helfen konnte, weil sie eine halbe Welt voneinander trennte, machte es nur noch schlimmer. Bakura war das Aufblitzen von Tränen in Katsuyas Augen nicht entgangen. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie immer noch mitten auf dem – inzwischen bis auf sie beide vollkommen leeren – Schulhof standen, packte er den Blondschopf daher, drehte ihn wieder zu sich um und zog ihn dann einfach kommentarlos in seine Arme. Er ertrug es einfach nicht, Katsuya heulen zu sehen. Und auch wenn dieser ihm erst ein paar Mal recht fest und schmerzhaft in die Seite boxte, ehe er sich schließlich in seiner Schuluniformjacke festkrallte und seinen Erinnerungen und den damit verbundenen Tränen freien Lauf ließ, ließ Bakura ihn nicht los. Wenn Katsuya ihn brauchte, dann würde er für ihn da sein und fertig. Und wenn Ryuuji zurück war, würden sie beide sich notfalls gemeinsam um ihn kümmern, bis er wieder auf die Beine kam. Immerhin hatte der Schwarzhaarige bei ihm noch einiges gut für das, was er am Samstag für Ryou getan hatte. Das war etwas, was er, Bakura, ihm definitiv nicht vergessen würde. Yami, der inzwischen gemeinsam mit seinem besten Freund den Klassenraum betreten hatte, nahm schon einmal Platz, während Seto ihren Klassenlehrer knapp darüber in Kenntnis setzte, dass sein Stiefbruder aufgrund ›dringender familiärerer Verpflichtungen‹, wie er es nannte, für einige Tage nicht am Unterricht teilnehmen konnte. Danach durchquerte er die Klasse, setzte sich auf seinen eigenen Platz und wandte seine Aufmerksamkeit dem Unterricht zu. Ihm entging keineswegs, dass Jounouchi und Kinoshita während der gesamten ersten Stunde nicht auftauchten. Die beiden erschienen erst zur zweiten Stunde, lieferten jedoch wie üblich keine Erklärung für ihre Verspätung. Die blauen Augen waren wie aus Eis, als Setos Blick den Köter streifte, doch dieser schien sich inzwischen eines Besseren besonnen zu haben und es nicht auf eine weitere Konfrontation anzulegen. Er sah ihn jedenfalls gar nicht erst an, sondern rutschte einfach nur kommentarlos auf seinen eigenen Platz und wurde im nächsten Moment auch schon von Kinoshita, der sich wie üblich neben ihn setzte, Setos Blicken entzogen. Im Gegensatz zu dem Köter schien Kinoshita jedoch keinerlei Probleme damit haben, den Blickkontakt mit ihm zumindest eine Zeitlang zu halten, ehe er sich abwandte und in Richtung Tafel sah. Seto entging nicht, dass die Finger des Weißhaarigen kurz Jounouchis Hand streiften. Die Berührung war nur minimal und eigentlich kaum überhaupt als solche zu erkennen, wenn man nicht ganz genau darauf achtete. Aber die Reaktion des Blonden darauf – ein seltsam mattes, aber dennoch dankbares Lächeln, das eigentlich gar nicht zu dem sonst immer so lauten und ständig mit unqualifizierten Kommentaren um sich werfenden Blondschopf passen wollte – war, wenn man genau hinsah, auch nicht zu übersehen. Und erst jetzt begann Seto zu begreifen, wie genau sein bester Freund bemerkt hatte, dass zwischen Kinoshita und Jounouchi eindeutig Dinge passierten, die ganz sicher nichts Brüderliches an sich hatten. Yami war, was die Stimmungen seiner Mitmenschen anging, schon immer sehr empfänglich gewesen. Kein Wunder, dass er sofort gesehen hatte, dass der Weißhaarige, in den er sich, seinen eigenen Worten zufolge, verliebt hatte, keinerlei Interesse an ihm haben würde, weil es da schon jemanden in seinem Leben gab. Wie, fragte Seto sich unwillkürlich, mochte Ryuuji sich wohl mit diesem Wissen fühlen, wenn seine eigenen Gefühle für den Blondschopf doch auch jetzt immer noch so weit über einfache Freundschaft hinausgingen? Wie schaffte er es, trotzdem Zeit mit Jounouchi und auch mit Kinoshita zu verbringen? War ihm das Glück seines Freundes wirklich so viel wichtiger als sein eigenes? Unwillig versuchte Seto, diese Gedanken abzuschütteln, aber sie blieben hartnäckig am Rande seines Bewusstseins und vermischten sich dort mit seiner Sorge um seinen Stiefbruder und den Fragen, wann Ryuuji sich wohl das nächste Mal bei ihnen melden und wann er endlich nach Hause kommen würde. Kapitel 30: Beisetzung ---------------------- Es war bereits ziemlich hell draußen, als Ryuuji seine Augen wieder aufschlug. Für einen Moment wusste er nicht, wo er war, und blinzelte orientierungslos in das ihm vollkommen fremde Zimmer hinein, doch dann kehrte seine Erinnerung an den vergangenen Abend und vor allem die vergangene Nacht zurück. Und zusammen mit den Erinnerungen erschien auch ein nicht unbedingt jugendfreies Grinsen auf seinen Lippen. Es war eindeutig eine verdammt gute Entscheidung gewesen, Noahs Angebot anzunehmen. Apropos Noah. Wo steckt der eigentlich? Verhalten gähnend ließ Ryuuji seinen Blick zur anderen Seite des Bettes wandern, doch diese war leer. Also war Noah offenbar nicht ganz so ein Langschläfer wie er selbst. Wobei … Wie spät ist es eigentlich? Suchend sah Ryuuji sich um und setzte sich auf, als er keine Uhr finden konnte. Er wusste, er hatte sein Handy in seiner Hosentasche gehabt. Jetzt musste er nur noch seine Hose wiederfinden, dann konnte er auch nachsehen, wie spät es war. Erneut gähnend stand Ryuuji aus dem Bett auf und machte sich auf die Suche nach seiner Kleidung, die sie in der letzten Nacht, wie er amüsiert feststellte, vom Schlafzimmer bis fast direkt vor Noahs Wohnungstür verteilt hatten. Oder vielmehr, erinnerte Ryuuji sich mit einem weiteren, nicht jugendfreien Grinsen, hatten sie schon direkt hinter der Wohnungstür damit begonnen, sich gegenseitig förmlich die Klamotten vom Leib zu reißen, und waren dann schließlich splitterfasernackt in Noahs Schlafzimmer gestolpert. Noahs Kleidung lag ebenso wie seine immer noch überall verstreut herum und Ryuuji sammelte der Einfachheit halber direkt alles ein, ehe er ins Schlafzimmer zurückkehrte und da erst mal den Klamottenhaufen sortierte, bevor er sich anzuziehen begann. Ein Blick auf sein Handy hatte ihm verraten, dass er zwar noch etwas Zeit hatte – es war gerade erst kurz vor halb elf morgens –, aber dennoch hatte er noch einiges zu erledigen, bevor er sich am Nachmittag dem Grauen in Form der Beisetzung stellen musste. Ryuuji war gerade dabei, sein Shirt wieder überzuziehen, als Noah sein Schlafzimmer ebenfalls wieder betrat. "Schade. Ich hatte gehofft, du schläfst noch", kommentierte er die Tatsache, dass sein Gast schon beinahe wieder vollständig bekleidet war, und das Grinsen, das bei diesen Worten auf seinen Lippen erschien, war eindeutig sehr, sehr schmutzig. "Dann hätte ich dich nämlich … wecken können", fuhr er fort und betonte das Wort ›wecken‹ so zweideutig, dass allein der Tonfall sehr, sehr eindeutige Bilder vor Ryuujis innerem Auge heraufbeschwor. Mit etwas Mühe schob der Schwarzhaarige die Gedanken an ein anderes Gespräch übers Wecken, das er mit seinem Stiefbruder geführt und das in ihm eine Menge unangebrachte Wünsche geweckt hatte, in den hintersten Winkel seines Bewusstseins, zog sich erst mal sein Shirt richtig über und zwinkerte Noah dann zu. "Tja, dafür bist du leider ein bisschen zu spät dran. Ich muss auch langsam los. Hab heute noch eine Menge zu tun." Was das genau war, behielt er allerdings für sich, denn um keinen Preis der Welt wollte er die gute Stimmung, die jetzt gerade herrschte, kaputtmachen. "Musst du sofort los oder hast du noch Zeit für Frühstück?", erkundigte Noah sich und Ryuuji überschlug kurz die Zeit, die er brauchen würde, um nach Hause zu kommen, zu duschen und sich anzuziehen, bevor er zum Friedhof aufbrechen musste. Wenn er sich ein bisschen beeilte, sollte das zu schaffen sein. Zwar konnte er auch problemlos zu Hause frühstücken, aber ein Frühstück in Gesellschaft war eindeutig besser als ganz alleine zu essen – vor allem heute und mit dem Wissen, was ihm später noch bevorstand. "Frühstück klingt wirklich verlockend", gab Ryuuji daher zu und folgte Noah, der, wie er jetzt erst bemerkte, nur eine graue Jeans und sonst nichts trug, hinüber in die Küche. Dabei schüttelte er den Gedanken daran, dass das hier eigentlich ziemlich abwegig war, mit einem innerlichen Achselzucken direkt wieder ab. Normalerweise, wenn er sich bisher denn schon mal einen One-Night-Stand gegönnt hatte – was weit seltener der Fall gewesen war, als die meisten seiner Freunde, auch Valon und Alister, vermuteten –, dann war er meistens direkt nach dem Aufwachen wieder verschwunden, wenn er denn überhaupt über Nacht geblieben war. Manchmal war er auch direkt nach dem Sex schon wieder abgehauen. Allerdings war im Moment eh nichts ›normal‹ in seinem Leben, also konnte er ja wohl auch mal mit einem seiner One-Night-Stands gemeinsam frühstücken. Das Frühstück verging über ein bisschen Geplauder und ein paar Zweideutigkeiten, die keiner von ihnen beiden sich verkneifen konnte, recht schnell und auch recht entspannt. "Wenn du willst, kann ich dich noch eben nach Hause fahren. Dann brauchst du kein Taxi oder so", bot Noah danach an, nachdem sie noch eben gemeinsam den Tisch abgeräumt hatten. Ryuuji dachte kurz darüber nach, dann nickte er. Es war ja schließlich nichts dabei, wenn er den kostenlosen Fahrservice nutzte, der ihm hier angeboten wurde. Gemeinsam mit Noah verließ er daher dessen Wohnung, nachdem Noah sich fertig angezogen hatte, folgte ihm in die Tiefgarage und stieg dort in den Wagen, den Noah ihm zeigte. Dann nannte er ihm seine Adresse, schnallte sich an beobachtete, wie Noah seinen Wagen souverän in den morgendlichen Verkehr einfädelte. Eine Weile herrschte ein keinesfalls unangenehmes Schweigen zwischen ihnen, aber als sie noch etwa zwei Querstraßen vom Ziel entfernt waren, brach Noah dieses Schweigen. "Wenn du Lust hast, würde ich das übrigens gerne mal wiederholen", murmelte er mit einem Seitenblick zu seinem Beifahrer, den dieser jedoch nicht sofort erwiderte. Ryuuji, der zwar irgendwie mit diesem Angebot gerechnet hatte, war dennoch ein wenig überrascht davon und brauchte daher einen Moment zum Reagieren. "Normalerweise gerne", murmelte er dann und bedachte Noah mit einem bedauernden Lächeln. "Könnte nur in nächster Zeit schwierig werden. Ich bin im Moment eigentlich nur aus familiären Gründen hier. Normalerweise wäre ich jetzt bei meiner Mum in Japan. Und dahin fliege ich auch ziemlich bald schon wieder zurück", schob er noch hinterher. "Ich pendele alle sechs Monate zwischen Tokio und Frisco hin und her." Dass das nach allem, was passiert war, jetzt möglicherweise ein Ende haben würde, behielt Ryuuji allerdings lieber für sich. "Schade", war Noahs Reaktion darauf und das Bedauern in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er fasste sich jedoch recht schnell wieder. "Na ja, wir können das ja vielleicht noch mal wiederholen, wenn du wieder da bist", schlug er dann vor und Ryuuji zwirbelte nachdenklich eine Strähne um seinen Zeigefinger. "Ja, vielleicht", erwiderte er dann vage und seufzte, als sein Zuhause in Sicht kam. "Danke fürs Herfahren. Und danke für letzte Nacht. Das hab ich echt gebraucht." "Nicht nur du." Noah grinste seinen Beifahrer an. "Und wenn du wieder da bist, weißt du ja jetzt, wo du mich findest: Entweder im ›Rainbow‹ oder bei mir zu Hause. Einfach bei mir klingeln." Seinen Namen kannte der Schwarzhaarige ja inzwischen. "Ich beiße nur auf Anfrage", witzelte er. Ryuuji lachte leise, schnallte sich ab und stieg nach einer letzten kurzen Verabschiedung aus. Auch beim Aufschließen lag noch ein eindeutig amüsiertes Schmunzeln auf seinen Lippen. Das Duschen überstand seine gute Laune noch, aber als Ryuuji schließlich in sein Zimmer ging und sein Blick auf den schwarzen Anzug fiel, den er später würde tragen müssen, war sämtliches Amüsement direkt wieder vergessen. Mit aller Macht hämmerte das, was er am letzten Abend und in der vergangenen Nacht nach Kräften verdrängt hatte, wieder auf ihn ein. Ächzend ließ er sich auf sein Bett fallen, presste seine Lider fest zusammen und ballte seine Hände zu Fäusten. Er würde nicht schon wieder heulen. Geheult hatte er gestern eindeutig genug. Es reichte wirklich. Zehn Minuten gönnte Ryuuji sich, um seiner Gefühle zumindest einigermaßen Herr zu werden, dann rappelte er sich wieder auf und machte sich daran, sich anzuziehen. Noch hatte er zwar eine knappe Stunde Zeit, bis er am Friedhof sein musste, aber er brauchte jetzt einfach etwas zu tun, um dem Impuls, sich zu einem Ball zusammenzurollen und nur noch zu heulen, bis er endgültig keine Tränen mehr übrig hatte, nicht doch noch nachzugeben. Dafür, sagte er sich selbst, war auch nach der Beisetzung noch genug Zeit. Jetzt hatte er anderes zu tun. Ryuuji war gerade damit fertig geworden, die letzten Knöpfe seines Hemdes zu schließen, als es an der Tür klingelte. Verwundert – wer konnte das denn jetzt sein? – verließ er sein Zimmer, um nachzusehen, wer ihn jetzt wohl stören würde. Er erwartete heute definitiv niemanden. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, dann wollte er jetzt eigentlich auch niemanden um sich haben. Trotzdem öffnete Ryuuji nach kurzem Zögern die Tür. Sich davor drücken zu wollen würde ja doch nichts bringen. "Max?", fragte er etwas verwundert, sobald er erkannte hatte, wer da vor ihm stand, und trat ein Stück beiseite, um seinen Besucher eintreten zu lassen. Dabei ermahnte er sich selbst, dass er eigentlich damit hätte rechnen müssen, dass Maximilian Pegasus, einer der ältesten und besten Freunde seines Vaters, herkommen würde, um bei der Beerdigung dabei zu sein. Aber das Maximilian vorher noch vorbeikommen würde, wohl um nach ihm zu sehen, hatte er nicht erwartet. "Ich war mir nicht ganz sicher, ob du schon da sein würdest, Duke." Maximilian lächelte schwach, ehe er die Tür hinter sich zuschob und den Sohn seines verstorbenen Freundes James erst einmal gründlich von oben bis unten musterte. Duke sah verständlicherweise nicht besonders glücklich über das Wiedersehen aus, aber das konnte Maximilian ihm nicht verübeln. Er selbst, sinnierte er bei sich, hätte sich definitiv auch andere Umstände für dieses Wiedersehen gewünscht. Zumal er nicht nur privat, sondern auch in seiner Eigenschaft als James' Anwalt und Testamentsvollstrecker hier war. Aber darüber, beschloss er, würde er wohl besser erst später mit Duke sprechen. "Aber ich dachte mir, falls du schon hier bist, könnten wir vielleicht zusammen zum Friedhof fahren", ließ er den Jungen wissen, zu dessen Paten James und Yukiko ihn kurz nach seiner Geburt gemacht hatten. Jetzt hier zu stehen und zu wissen, dass Duke seinen Vater heute noch zu Grabe würde tragen müssen, war alles andere als angenehm. "Ich müsste später dann auch noch mit dir reden. Aber das hat noch Zeit." "In Ordnung." Auf was genau er diese Antwort bezog, ließ Ryuuji offen und bedeutete Maximilian einfach nur, dass dieser ihm die Küche folgen sollte. Dort beschäftigte er sich dann erst einmal damit, Kaffee zu kochen, denn seine Hände brauchten jetzt unbedingt etwas zu tun. Er wusste, dass Maximilian nicht nur ein Freund seines Vaters gewesen war, sondern auch dessen Anwalt. Vor gut zwei Jahren, als er im Zuge eines Einsatzes verletzt worden war, hatte sein Vater ihn sehr eindringlich instruiert, sich an Maximilian zu wenden, falls ihm je etwas zustoßen sollte – eine Aufforderung, die er bis eben vollkommen vergessen gehabt hatte. Wahrscheinlich, sinnierte Ryuuji, während er darauf wartete, dass das schwarze Gebräu durchlief, ging es um das Testament, das sein Vater bereits vor mehreren Jahren gemacht und das er, wie Ryuuji sehr wohl wusste, Maximilian zur Aufbewahrung und zur Vollstreckung anvertraut hatte. Aber das war etwas, worüber er im Augenblick lieber gar nicht weiter nachdenken wollte. Das hier war auch so schon schwer genug. Dabei hat der Tag so gut angefangen, erinnerte Ryuuji sich unwillkürlich und unterdrückte mit Mühe ein Seufzen. Ihm war schon am Vorabend, als er Alister angerufen hatte, klar gewesen, dass die Ablenkung, die das ›Rainbow‹ zu bieten hatte, nur temporär sein würde und nicht mehr. Trotzdem kam er nicht umhin, sich die gute Stimmung von letzter Nacht zurückzuwünschen. Letzte Nacht war alles noch so leicht gewesen, aber jetzt war es das nicht mehr. Ganz im Gegenteil. Scheiß drauf. Er würde das hier wohl oder übel durchstehen müssen, das war Ryuuji klar. Daran führte nun mal kein Weg vorbei. Diese Gewissheit machte es allerdings auch kein Stück einfacher. Um sich abzulenken, goss er den inzwischen fertigen Kaffee in zwei Tassen und schob eine davon seinem Gast hin. Die zweite Tasse behielt er selbst in der Hand und erlaubte sich nun doch ein Seufzen. "Dad hat mir eigentlich schon vor einer Weile gesagt, dass ich dich anrufen soll, wenn ihm was zustößt. Sorry, Max, aber ich hab's total vergessen", gab er zu, doch sein Gegenüber nickte nur. "Vollkommen verständlich." Es war ja wohl logisch, dass ein Anruf bei ihm nach allem, was in den letzten Tagen auf ihn eingestürzt war, nicht allzu weit oben auf Dukes Prioritätenliste gestanden hatte. Auch wenn ich zumindest hätte versuchen können, ihm zu helfen. Aber, dachte Maximilian bei sich, dafür war es ja noch nicht zu spät. Er war jetzt immerhin hier. Und er würde auch noch einige Tage bleiben, falls Duke wirklich seine Hilfe benötigte. Da es im Augenblick nichts weiter zu sagen gab – alles, was Duke noch wissen müsste, würde er ihm später erzählen, wenn sie erst mal wieder vom Friedhof zurück waren –, ließ Maximilian zu, dass sich Schweigen über die Küche senkte. Duke schien das nicht unrecht zu sein. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, trank Maximilian daher erst mal in aller Ruhe seinen Kaffee aus und reichte die Tasse dann zurück, nachdem er sie geleert hatte. "Ich denke, wir sollten langsam los", brach Ryuuji schließlich das Schweigen, nachdem er die Tassen noch kurz gespült und wieder zurück in den Schrank geräumt hatte. "Sollten wir wohl", stimmte Maximilian ihm zu und machte sich auf den Weg zur Haustür, während Ryuuji noch eben in seinem Zimmer verschwand, um sein Jackett zu holen. Danach verließ er gemeinsam mit Maximilian das Haus, rutschte auf den Beifahrersitz seines Wagens und schnallte sich an. Maximilian nahm auf dem Fahrersitz Platz, legte ebenfalls den Gurt an und startete dann seinen Wagen. "Wie geht es deiner Mutter?", erkundigte er sich, während er sich nach den Angaben des Navigationsgeräts richtete, und Ryuuji neben ihm seufzte. "Bis gestern beim Frühstück ging's ihr gut", beantwortete er die Frage und auf seinen Lippen erschien ein bitteres Lächeln, das er jedoch gleich wieder verscheuchte. "Sie ist jetzt wieder verheiratet und …", er überlegte kurz, "… vorgestern Abend von ihrer Hochzeitsreise zurückgekommen", erzählte er weiter im Bemühen, die Konversation nicht komplett zum Erliegen kommen zu lassen. Es war eindeutig angenehmer, an seine Mutter und ihr neues Glück zu denken als an das, was ihn erwartete, wenn sie ihr Ziel erst mal erreicht hatten. "Gozaburo-san ist wirklich nett, soweit ich das beurteilen kann. Viel hatten wir wegen der Hochzeitsreise noch nicht miteinander zu tun, aber Mum ist sehr glücklich mit ihm. Und das ist ja schließlich die Hauptsache." Zumindest war es das für ihn. Anfangs war der Gedanke daran, dass seine Mutter wieder heiraten wollte, zwar reichlich befremdlich gewesen, aber zu sehen, wie verliebt und wie glücklich sie war, hatte Ryuuji recht schnell mit der Veränderung ausgesöhnt, die über ihn hereingebrochen war. "James hat mir von den Plänen deiner Mutter erzählt." Maximilian stockte kurz, aber da Duke keine Anstalten machte, negativ auf die Erwähnung seines Vaters zu reagieren, sprach er direkt weiter. "Er hat sich sehr für sie gefreut, dass sie jemanden gefunden hat, mit dem sie ihr Leben teilen kann." Etwas, das ihm und seiner eigenen Frau leider nicht vergönnt gewesen war. Seine Celia war nur zwei Jahre nach der Hochzeit verstorben. Und auch wenn das inzwischen schon über zwanzig Jahre zurücklag, so konnte Maximilian sich trotzdem einfach nicht vorstellen, eine andere Frau in sein Leben zu lassen. Niemand konnte Celias Platz in seinem Herzen einnehmen. Und er wollte auch keiner Frau zumuten, immer im Schatten der Erinnerung an seine große Liebe leben zu müssen, also blieb er lieber alleine. "Dad hat extra noch umgebucht, weil mein eigentlicher Flug ausgefallen ist", erinnerte Ryuuji sich mit einem wehmütigen Lächeln. "Er wollte nicht, dass ich das erste Treffen mit meiner neuen Familie verpasse." Darüber, wie dieses Kennenlernen abgelaufen war und was sich, zumindest auf seiner Seite, daraus entwickelt hatte, wollte er allerdings lieber nicht reden. Genau genommen wollte er nicht mal daran denken, aber zumindest dafür war es jetzt eindeutig zu spät. Und obwohl er eigentlich gerade andere Sorgen haben sollte, so tat der Gedanke an Seto trotzdem weh, aber Ryuuji weigerte sich, sich davon runterziehen zu lassen. Nicht heute. Über Seto konnte er auch wieder nachdenken, wenn er zurück nach Japan flog. "Und wie kommst du mit deiner neuen Familie klar? Dein Vater sagte, dein Stiefvater habe auch Kinder." Wäre er nicht darauf vorbereitet gewesen, dass diese Frage noch kommen würde, dann hätten Maximilians Worte ihn sicher kalt erwischt. So reagierte Ryuuji allerdings nur mit einem Achselzucken. "Gozaburo-san hat zwei Söhne. Seto ist achtzehn, Mokuba ist fünfzehn. Und bis jetzt verstehen wir uns eigentlich ganz gut." Dass sich das hauptsächlich auf Mokuba bezog, ließ Ryuuji absichtlich unerwähnt. Er wollte im Augenblick wirklich nicht über das reden, was zwischen Seto und ihm im Argen lag. Zwar wusste er, dass Maximilian keinerlei Vorbehalte ihm gegenüber hatte, aber trotzdem war das ein Thema, das er aktuell lieber totschweigen wollte. "Das freut mich", erwiderte Maximilian ehrlich und Ryuuji bemühte sich, das Lächeln, mit dem er bedacht wurde, mit gleicher Münze zurückzuzahlen, aber es blieb bei dem etwas verunglückten Versuch. Beim Gedanken an das, was mit jeder verstreichenden Minute unaufhörlich immer näher und näher rückte, war ihm eindeutig nicht mehr zum Lächeln zumute. Seinen Vorrat an Lächeln hatte er wohl am Morgen vor und kurz nach dem Frühstück aufgebraucht, so dass jetzt einfach keins mehr übrig war. Glücklicherweise schien Maximilian das jedoch zu ahnen, denn er sagte nichts und versuchte auch nicht, ihn aufzuheitern – eine Tatsache, für die Ryuuji ihm ungemein dankbar war. Er wollte den Tag einfach nur irgendwie hinter sich bringen. Als Maximilian seinen Wagen zum Stehen brachte, wappnete Ryuuji sich für das, was ihm jetzt bevorstand – jedenfalls soweit es ihm möglich war –, ehe er den Anschnallgurt löste und sich gemeinsam mit Maximilian auf den Weg zum Grab machte, in das die sterblichen Überreste seines Vaters heute gebettet werden sollten. James Devlin war kein gläubiger Mann gewesen, weshalb, gemäß seiner Anweisung, auf einen Gottesdienst verzichtet wurde. Es gab auch, wie Ryuuji mit einiger Erleichterung feststellte, keinen Priester, der ihn erwartete. Stattdessen erblickte er nur eine Menge Männer und auch einige Frauen in Uniform. Einige von ihnen kannte er zumindest flüchtig, einige persönlich, wieder andere waren ihm vollkommen fremd. Und wenn er ganz ehrlich war, dann war es ihm auch egal, wer sie alle waren. Es reichte schon, zu wissen, warum sie heute hier waren, um mit keinem von ihnen wirklich reden zu wollen. Selbstverständlich ließ sich das trotzdem nicht vermeiden. Natürlich kam jeder von ihnen herüber, um dem Sohn ihres gefallenen Kameraden persönlich sein oder ihr Beileid kundzutun und ihm zu versichern, was für ein Held sein Vater gewesen war, was für ein Vorbild für alle, und wie sehr er vermisst werden würde. Und Ryuuji hasste es, aber er ließ sich davon nichts anmerken. Er schüttelte Hände, die er nicht schütteln wollte, nickte an den richtigen Stellen, wenn ihm versichert wurde, wie sehr sie seinen Verlust bedauerten, und sehnte doch nur das Ende des ganzen Spektakels herbei. Maximilian, der sich die ganze Zeit in Dukes Nähe hielt, konnte diesem deutlich ansehen, wie sehr das Ganze an seinen Nerven zerrte. Und er konnte es nur zu gut verstehen. Immerhin hatte niemand von diesen Menschen wirklich gewusst, wie das Verhältnis zwischen James und seinem Sohn gewesen war. Nur die wenigsten von ihnen kannten den Jungen, der ohnehin immer nur sechs Monate im Jahr bei seinem Vater gelebt hatte, überhaupt persönlich. Ihre Worte mussten Duke daher verständlicherweise wie purer Hohn vorkommen, aber dennoch riss er sich zusammen und zeigte das, was sie alle erwarteten: einen Sohn, der mit geradezu beneidenswerter Fassung den heldenhaften und dennoch viel zu frühen Tod seines Vaters betrauerte. Mit steinerner Miene brachte Ryuuji auch noch die Reden, die ein paar der Vorgesetzten und auch einige der Kameraden seines Vaters am offenen Grab hielten, hinter sich. Die ganze Zeit über hielt er seine Augen einfach nur auf den Sarg gerichtet, über den, wie es traditionell für gefallene Helden üblich war, die Flagge der Vereinigten Staaten drapiert worden war. Es war grotesk zu wissen, dass unter dem Stoff und dem darunter befindlichen Holz das lag, was von seinem Vater noch übrig war, aber Ryuuji schaffte es einfach nicht, seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Noch immer ohne die geringste Regung zu zeigen nahm er schließlich die gefaltete Flagge entgegen. Nur wenig später fand die Flagge ihren Weg in Maximilians Hände, während Ryuuji langsam ein paar Krümel Erde in das offene Grab rieseln ließ. Das Geräusch, mit dem die Erdklumpen auf den Sarg polterten, klang ungemein abschließend und Ryuuji musste all seine verbliebene Willenskraft aufbringen, um nicht doch noch die Fassung zu verlieren. Aber das wollte er nicht. Nicht jetzt und nicht hier. Ryuuji erlaubte sich erst aufzuatmen, als er gemeinsam mit Maximilian den Friedhof wieder verließ und in den Wagen einstieg. Seufzend schloss er die Augen und lehnte sich an die Kopfstütze, nachdem er sich angeschnallt hatte. Das Ruckeln des Wagens, das ihm sagte, dass Maximilian sich auf den Rückweg machte, bemerkte er zwar, aber er kommentierte es nicht. Er wollte im Augenblick einfach nicht reden, sondern nur eine Weile mit seinen Gedanken allein sein – zumindest so lange, bis er sich wieder ein bisschen gefasst hatte. Zum Glück schien Maximilian das erraten zu können, denn auch er verlor während der gesamten Rückfahrt kein einziges Wort. Zu sagen, es wäre Maximilian schwer gefallen, seinem ältesten und besten Freund die letzte Ehre erweisen zu müssen, wäre eindeutig untertrieben gewesen. Es war das zweite Mal, dass er einen Menschen, den er sehr geliebt hatte, zu Grabe hatte tragen müssen. Zu wissen, dass er James nie wiedersehen, nie wieder mitten in der Nacht bei Wein und Bier gemeinsam mit ihm über ihr Leben, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft philosophieren würde, tat ungemein weh. Dennoch riss Maximilian sich zusammen, denn im Vergleich zu seinem Verlust wog Dukes ungleich schwerer. Er selbst hatte einen Freund verloren, aber der Junge musste von jetzt an ohne seinen Vater auskommen. Wie grausam war das? Erst als der Wagen vor dem Haus hielt, öffnete Ryuuji seine Augen wieder. "Musst du direkt wieder nach Hause oder ...?", erkundigte er sich, nachdem er sich geräuspert hatte, damit seine Stimme ihm wieder gehorchte. Die Worte fielen ihm schwer. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich Gesellschaft wollte, aber als Maximilian mit einem schwachen Lächeln den Kopf schüttelte, fühlte er doch eine gewisse Erleichterung. Vielleicht war es nicht ganz so schlimm, sich den Erinnerungen im Haus zu stellen, wenn er es nicht alleine tun musste. Ohne ein weiteres Wort stieg Ryuuji aus und ging voraus. Ihm war klar, dass Maximilian sicher nicht nur wegen des Testaments blieb, sondern auch, um ihn nicht alleine zu lassen. Und obwohl er anfangs eigentlich niemanden hatte um sich haben wollen, war er jetzt, nachdem die Beisetzung hinter ihm lag, doch froh, dass er nicht mehr alleine war. Er kannte Max immerhin schon sein ganzes Leben lang. Wenn irgendjemand verstehen konnte, wie es jetzt gerade in ihm aussah, dann war es ja wohl der Mann, der der beste Freund seines Vaters gewesen war. "Ich mach dir eben das Gästezimmer fertig." Mit diesen Worten ließ Ryuuji Maximilian stehen, doch das nahm dieser ihm keinesfalls übel. Er ahnte, dass der Junge jetzt einfach einen Moment für sich selbst benötigte, um sich wieder zu sammeln. Und diese Zeit wollte er ihm gönnen – nicht ganz uneigennützig, denn auch er selbst konnte einen Moment zum Verschnaufen mehr als gut gebrauchen. Aus diesem Grund durchquerte er nach einem knappen Nicken in Dukes Richtung den Flur und trat schließlich auf die Terrasse. Ein bisschen frische Luft, sinnierte er, würde ihm jetzt bestimmt gut tun. Eine knappe halbe Stunde nach seinem Gast kam auch Ryuuji nach draußen und setzte sich wie schon am vergangenen Morgen in einen der bequemen Korbsessel. Maximilian schien seine Anwesenheit noch nicht bemerkt zu haben, aber das war ihm auch ganz recht so. So hatten sie beide noch ein bisschen Zeit, um ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, ehe sie sich irgendwann wohl oder übel mit dem Testament seines Vaters und dem, was das mit sich zog, würden auseinandersetzen müssen. Maximilian war nicht entgangen, dass er nicht mehr alleine draußen war, aber er gönnte sich erst noch einen Augenblick, um zu beobachten, wie sich das Sonnenlicht auf den Kronen der Wellen brach, ehe er sich zu seinem Patensohn umwandte und schließlich, nach kurzem Zögern, im zweiten Korbsessel Platz nahm. Noch immer sagte er nichts. Dafür lag ein wehmütiges Lächeln auf seinen Lippen, das er einfach nicht unterdrücken konnte. "Eigentlich hatten dein Vater und ich geplant, dich gemeinsam zu deinem Geburtstag zu überraschen. Seinen Urlaub hatte er schon eingereicht und auch bereits genehmigt bekommen", bracht Maximilian schließlich nach einer Weile doch noch das Schweigen. "Man wird schließlich nur einmal achtzehn, nicht wahr?", murmelte er und Ryuuji seufzte leise. Dazu würde es nun ja nicht mehr kommen. Der Gedanke tat weh, aber trotzdem war das Wissen, dass sein Vater hatte da sein wollen, irgendwie auf eine seltsame Art tröstlich. "Ich hätte mich riesig gefreut", gab er daher zu und nun legte sich auch auf seine Lippen die winzige Andeutung eines Lächelns, die bald darauf jedoch einem kurzen Grinsen wich. "Auch wenn ich ihm mein Geschenk ja schon längst aus den Rippen geleiert hab", erzählte er Maximilian und zog das Shirt, das er inzwischen trug – er hatte einfach nicht noch länger den Anzug tragen wollen, also war er auf Jeans und Shirt ausgewichen –, ein Stück weit nach oben, um Maximilian das Tattoo zu zeigen, dass er sich hatte stechen lassen, bevor er wieder nach Japan geflogen war. "Ich bin Dad einfach so lange immer wieder damit auf den Wecker gefallen, bis er irgendwann völlig entnervt Ja gesagt und mir das Geld gegeben hat", erinnerte er sich und lachte leise, aber das Lachen erstarb recht schnell wieder. "Und als er's das erste Mal gesehen hat, ist er komplett ausgerastet und wir haben uns direkt wieder gestritten." Ziemlich heftig sogar. Wie so oft. "Das Motiv hat ihm ganz und gar nicht gefallen. Und genau deshalb hab ich ihm vorher auch nicht gesagt, was ich mir stechen lassen wollte. Ich wusste, er würde es hassen." Wie so vieles von dem, was ich gesagt oder getan hab, dachte Ryuuji bitter. Gerade in den letzten zwei, drei Jahren war es wirklich verdammt schwer gewesen, es seinem Vater irgendwie recht zu machen – so schwer, dass er es irgendwann erst gar nicht mehr versucht, sondern stattdessen einfach nur sein eigenes Ding durchgezogen hatte. Und jetzt konnte er seinen Vater nicht mal mehr wissen lassen, wie leid es ihm tat, dass er ihn so oft absichtlich provoziert hatte. "Dein Vater hat mir davon erzählt." Maximilian war der Stimmungsknick seines Patensohnes nicht entgangen. "Er hat sich wirklich ganz schrecklich darüber aufgeregt." Allerdings wahrscheinlich nicht aus dem Grund, den sein Sohn vermutete. "Er dachte, bei dem Motiv und der Stelle, die du dir ausgesucht hast, würde es eventuell Probleme geben. Du weißt, was ich meine", spielte er auf diverse unschöne Begebenheiten an, von denen James ihm erzählt hatte. Duke war, nachdem er sich vor seinen Eltern geoutet hatte, zumindest hier in Frisco immer recht offen mit seiner Sexualität umgegangen und unglücklicherweise schon das eine oder andere Mal deswegen in eine brenzlige Situation hineingeraten. Glücklicherweise war ihm bisher nie etwas Ernsthafteres passiert als höchstens ein paar leichte Blessuren, aber das hatte James auch nicht davon abhalten können, sich trotzdem sehr große Sorgen um seinen Sohn zu machen. "Ist ja nun nicht so, als würde es jeder zu sehen kriegen", konterte Ryuuji defensiv. Gut, am Strand ließ sich das Tattoo nicht unbedingt verbergen, aber das wollte er ja auch gar nicht. Er hatte lange und hart genug daran gearbeitet, den Mut zu haben, zu sich selbst zu stehen. Und er hasste es ungemein, sich zu verstellen. Sicher, für seine Mutter hatte er es getan – schließlich wussten seine Großeltern bisher immer noch nichts davon, dass er kein ›richtiger Junge‹ war, wie sein Großvater es nennen würde. Aber auch das würde ja wohl über kurz oder lang ein Ende haben. Immerhin, erinnerte Ryuuji sich, hatte er ihr am Abend bevor das Desaster über ihn hereingebrochen war, hoch und heilig versprochen, nach seinen beiden Stiefbrüdern auch noch seinen Stiefvater einzuweihen. Was ja grandios in die Hose gegangen ist. Das würde er auf jeden Fall nachholen müssen, wenn er erst wieder zu Hause in Japan war. Und wenn seine Großeltern dann auch Wind davon bekommen sollten, scheiß drauf. Dann haben sie halt noch eine Sache mehr, für die sie mich hassen können. Ist ja nichts Neues mehr. "Das heißt aber nicht, dass dein Vater sich nicht trotzdem deinetwegen gesorgt hat", riss Maximilians Stimme Ryuuji wieder aus seinen Gedanken. "Denn das hat er. Sehr sogar." Wie oft hatte James ihn angerufen, wenn er sich mal wieder mit seinem Sohn gestritten und nicht gewusst hatte, wie er sich wieder mit ihm versöhnen sollte? Wie oft hatte er ihm damit in den Ohren gelegen, dass er einfach nicht wusste, wie er zu Duke durchdringen und ihm klarmachen sollte, dass er ihm einen Teil der Vorschriften nicht machte, weil er ihm nicht vertraute, sondern weil er der Welt, in der sein Sohn sich bewegte, nicht traute? Und wie oft hatte er selbst versucht, auf James einzuwirken, ehrlich zu Duke zu sein und ihm zu sagen, was ihm wirklich im Kopf herumging, anstatt ihm nur Dinge zu verbieten und zu erwarten, dass der Junge sich auch an diese Verbote hielt? "Dad hatte eine verdammt seltsame und verdrehte Art, mir das zu zeigen." Ryuuji seufzte abgrundtief und schüttelte den Kopf. Er wollte diesen Gedanken jetzt nicht allzu viel Raum geben. "Aber ich hab mich in den letzten Jahren auch nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert", gab er dennoch zu. "Dad und ich haben einfach irgendwann verlernt, normal miteinander zu reden. Das haben wir nur ganz selten überhaupt mal hingekriegt." Meistens dann, wenn sie beide einfach zu müde zum Streiten gewesen waren. Allerdings hatten sie es fast immer irgendwie geschafft, doch noch genug Energie aufzubringen, so dass der kleinste Funke ausgereicht hatte, um einen von ihnen zum Explodieren zu bringen. "Und trotzdem würde ich alles dafür geben, wenn ich jetzt noch mal mit ihm reden oder mich meinetwegen auch mit ihm streiten könnte – egal worüber." Maximilian hörte überdeutlich, wie Dukes Stimme bei diesen Worten brach. Ohne zu zögern rückte er mit seinem Sessel näher an den des Jungen heran und legte ihm einen Arm um die Schultern. Er spürte das Zaudern, aber zu seiner Erleichterung gab Duke schließlich doch nach und ließ zu, dass er ihn einfach festhielt. War er gestern auch noch froh darüber gewesen, alleine zu sein, so stellte Ryuuji schnell fest, dass er das jetzt anders sah. Er war jetzt gerade einfach nur froh darüber, dass jemand bei ihm war, der ihn und seinen Dad gekannt hatte und der wusste, wie er sich gerade fühlte. Für Max musste er nicht stark sein wie für seine Mutter, die ihre eigene Trauer kaum hatte verbergen können. Sicher, Maximilian trauerte auch um den besten Freund, den er verloren hatte, aber es war trotzdem gut, dass er jetzt da war. Maximilian wartete, bis das Beben von Dukes Schultern irgendwann nachließ. "Ich bin sicher, dein Vater sähe es ganz genauso wie du", sagte er dann und entlockte dem Jungen damit tatsächlich ein ersticktes Geräusch, das beinahe wie ein Lachen klang. "Zu blöd, dass solche Wünsche nichts an der Realität ändern können", gab Ryuuji zurück, löste sich von Maximilian und wischte sich über die Augen. So langsam hatte er wirklich genug geheult. Zeit, endlich wieder damit aufzuhören. "Ja, leider." Maximilian seufzte und setzte sich wieder auf. Duke schien es, zumindest für den Moment, wieder etwas besser zu gehen. Eigentlich wäre jetzt der passende Zeitpunkt, um das Testament zur Sprache zu bringen, aber, beschloss Maximilian, das würde er lieber auf morgen verschieben. Der heutige Tag hatte ihnen beiden auch so schon genug abverlangt. Für heute reichte es eindeutig. Und das Testament lief ihnen ja auch nicht weg. Duke ahnte sicherlich zumindest, dass er deshalb noch zu bleiben gedachte, aber da er es auch nicht zur Sprache brachte, nahm Maximilian an, dass es ihm nicht unrecht war, wenn sie alles, was mit seinem Erbe zu tun hatten, erst am nächsten Tag besprachen. Im Augenblick hätte wohl nichts Ryuuji gleichgültiger sein können als das Testament seines Vaters. Darüber, was darin stand, wollte er sich wirklich nicht den Kopf zerbrechen. Er würde es schon früh genug – oder wahrscheinlich eher etwas zu früh für seinen Geschmack – erfahren. Kein Grund zur Eile, jedenfalls seiner Meinung nach nicht. Deshalb brachte er den Grund für Maximilians verlängerten Besuch auch nicht zur Sprache, sondern wandte sein Gesicht einfach der langsam tiefer sinkenden Sonne zu und schloss die Augen. Dankenswerterweise schwieg Maximilian und gab ihm so die Zeit, die er brauchte, um sich wieder zu fassen. Wie lange er einfach nur stumm dagesessen und die Sonnenstrahlen in seinem Gesicht genossen hatte, wusste Ryuuji nicht genau. Irgendwann öffnete er jedoch wieder die Augen und beobachtete eine Weile lang, wie der Sonnenball immer größer wurde und die Farbe sich von gelb über orange schlussendlich zu tiefrot wandelte, bevor er endgültig hinter dem Horizont zu verschwinden begann. Und erst jetzt fiel Ryuuji auf, dass er seit dem Frühstück bei Noah nichts mehr gegessen hatte. Sein Magen machte nachdrücklich klar, dass er längeren Verzicht auf Nahrung nicht zu dulden gedachte, und Ryuuji grinste unwillkürlich. "Scheint, als wär's langsam höchste Zeit fürs Abendessen", teilte er seinem Gast mit, dem sein Magenknurren keineswegs entgangen war. "Willst du etwas bestellen?", erkundigte Maximilian sich und erhob sich gemeinsam mit seinem Patensohn, der auf seine Frage hin jedoch den Kopf schüttelte. "Nicht nötig. Im Kühlschrank ist genug Essbares. Wir werden schon nicht verhungern", erwiderte Ryuuji und ging vor in die Küche. Kochen konnte er schon seit Jahren – so etwas zu lernen blieb bei zwei Elternteilen, die praktisch Singles und oft genug zur Essenszeit nicht zu Hause waren, einfach nicht aus –, also machte er sich in der Küche daran, aus dem, was der Kühlschrank und die Vorratsschränke hergaben, ein schnelles Abendessen für seinen Gast und sich selbst zuzubereiten. Maximilian, der selbst vom Kochen keinerlei Ahnung hatte, nahm einfach nur am Küchentisch Platz und beobachtete, wie sein Patensohn durch die Küche wirbelte. Der Anblick hatte etwas ungemein Vertrautes, das ihn jedoch auch melancholisch stimmte. Er war schon des Öfteren hier gewesen, wenn James noch im Einsatz oder auf der Basis gewesen war. Und fast jedes Mal hatte Duke sich dann in der Küche ausgetobt und das Mittag- oder Abendessen für sie Drei vorbereitet, das sie dann nach James' Heimkehr gemeinsam zu sich genommen hatten. Bei diesen Gelegenheiten, erinnerte Maximilian sich mit Wehmut, hatten James und Duke sich eigentlich so gut wie nie gestritten, sondern stattdessen einfach nur miteinander und mit ihm gescherzt und gelacht. Das Wissen, dass auch das jetzt der Vergangenheit angehörte, tat weh. "Woran denkst du?", erkundigte Ryuuji sich, als er die gefüllten Teller zum Tisch balancierte und einen davon seinem Gast zuschob. Maximilian wirkte niedergeschlagen, das war nicht zu übersehen. Er bemühte sich zwar augenscheinlich, seine Züge wieder unter Kontrolle zu bringen, sobald er bemerkte, dass er beobachtet wurde, aber so ganz gelang ihm das nicht. "Alles okay?" "Nicht wirklich, nein." Maximilian gestattete sich ein leises Seufzen. Es brachte ja doch nichts, jetzt etwas vorspielen zu wollen. Duke kannte ihn einfach zu lange und zu gut, um sich täuschen zu lassen. "Ich musste nur daran denken, wie oft ich vor deinem Vater hier war, wenn er noch länger zu tun hatte", gab Maximilian daher zu und seufzte erneut. "Das hier ist so vertraut und jetzt auf einmal doch ganz anders", fuhr er fort und Ryuuji nickte langsam. Dabei legte sich ein etwas angestrengtes Lächeln auf seine Lippen, das dort jedoch nicht lange blieb. "Daran werden wir uns wohl oder übel gewöhnen müssen." Was allerdings beileibe nicht bedeutete, sinnierte Ryuuji, dass ihm dieser Gedanke besonders gut gefiel. Aber ihnen blieb nun mal nichts anderes übrig. Das, was geschehen war, konnte niemand von ihnen rückgängig machen – ganz egal, wie sehr sie es sich auch wünschen mochten. "Ich bin froh, dass du hier bist, Max", gab er daher zu und wagte ein weiteres schwaches Lächeln. "Noch einen Tag ganz alleine mit all den Erinnerungen hätte ich wahrscheinlich nicht unbeschadet überstanden." Dass er am Vorabend eine Möglichkeit gefunden hatte, vor diesen Erinnerungen praktisch zu fliehen – wenn auch nur temporär –, ließ Ryuuji jedoch lieber ungesagt. Das, was in der letzten Nacht passiert war, war etwas, das außer ihm nun wirklich niemanden etwas anging. Und auch wenn Noah ihm an diesem Morgen auf der Heimfahrt noch eine Wiederholung der vergangenen Nacht angeboten hatte, im Moment stand ihm ganz und gar nicht der Sinn danach, dieses Angebot auch anzunehmen. "Ich hätte mir zwar glücklichere Umstände für unser Wiedersehen gewünscht, aber es ist trotzdem schön, dich zu sehen, Duke", gab Maximilian zurück und versuchte sich ebenfalls an einem Lächeln, das es dieses Mal sogar schaffte, etwas länger auf seinen Lippen zu bleiben. Sein Patensohn erwiderte diese Geste knapp, ehe er sich doch endlich seinem Essen widmete. Maximilian tat es ihm gleich, half danach noch beim Abwasch und ging schließlich gemeinsam mit Duke wieder auf die Terrasse. Inzwischen war es vollständig Nacht geworden, aber wirklich kalt war es nicht, so dass es sich hier draußen gut aushalten ließ. Es war schon beinahe zwei Uhr morgens, als die beiden doch endlich beschlossen, dass der Tag lang genug gewesen war. Inzwischen waren sie beide rechtschaffen müde, aber dennoch fühlte Ryuuji sich nach den letzten Stunden, während derer er mit Max in Erinnerungen geschwelgt hatte, wesentlich besser als noch vor dem Abendessen. Die nächste Zeit würde zwar hart werden, das war ihm klar, aber er war, wie er beim Essen schon erwähnt hatte, froh, dass Max noch da war und auch angeboten hatte zu bleiben, bis er selbst wieder zurück nach Japan fliegen würde. "Gute Nacht, Duke", verabschiedete Maximilian sich vor der Tür des Gästezimmers von seinem Patensohn und dieser nickte müde. "Wünsch ich dir auch, Max. Schlaf gut", murmelte er und versteckte sein Gähnen schnell hinter seiner Hand, ehe er seinem Gast noch mal kurz zunickte und dann in sein eigenes Zimmer verschwand. Maximilian blieb noch einen Moment im Flur stehen und sein Blick huschte zu dem Karton, der vor James' Schlafzimmertür stand. Duke hatte ihm erzählt, dass er es am Vortag einfach nicht über sich gebracht hatte, die Sachen seines Vaters zu durchwühlen, und Maximilian konnte ihn nur zu gut verstehen. Auch ihm wäre es wie ein Verrat vorgekommen, auch wenn er, im Gegensatz zu Duke, genau wusste, dass James in seinem Schlafzimmer noch einige Dinge aufbewahrt hatte, die sein Sohn bekommen sollte. Aber darum, dass der Junge diese Dinge auch wirklich mitnahm, konnte er sich auch noch kümmern, wenn der Rückflugtermin erst einmal feststand, sinnierte Maximilian und verschwand im Gästezimmer, um sich für die Nacht fertigzumachen. Eine Mütze voll Schlaf würde ihm sicherlich gut tun. Ryuuji, der inzwischen bereits in seinem Bett lag, drehte sich auf den Rücken und starrte an die in der Dunkelheit nicht wirklich erkennbare Zimmerdecke. Ein Teil von ihm war hundemüde, aber wirklich schlafen konnte er trotzdem noch nicht. Es hatte, sinnierte er, wirklich gut getan, mit Max zu reden und in Erinnerungen zu schwelgen. Ja, sicher, einige von diesen Erinnerungen waren verdammt schmerzhaft gewesen, aber trotzdem wollte Ryuuji nicht eine einzige von ihnen missen. Nicht mal die, die eigentlich eher weniger schön waren. Mit einem Seufzen auf den Lippen rollte Ryuuji sich nach einer Weile wieder auf die Seite, zog die Decke über sich und als sein Blick auf den dunklen Knubbel fiel, den die Lederjacke seines Vaters darstellte, huschte beinahe gegen seinen Willen ein kurzes Schmunzeln über seine Lippen. Was du wohl von Seto gehalten hättest, Dad?, war sein letzter bewusster Gedanke, bevor er doch noch ins Reich der Träume abdriftete. Kapitel 31: Stress ------------------ Meine Fresse, ich kann nicht mehr! Ächzend ließ Ryuuji sich am Mittwochabend auf die Couch im Wohnzimmer fallen. Inzwischen war er einfach nur noch vollkommen erledigt. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, was für einen Rattenschwanz an – zumindest in seinen Augen größtenteils überflüssiger – Bürokratie so ein Sterbefall nach sich zog. Während der letzten paar Tage hatte er eigentlich kaum mal überhaupt wirklich Zeit zum Verschnaufen gehabt. Es war einfach so verdammt viel zu tun gewesen. Zum Glück ist Max geblieben. Ohne ihn, dessen war Ryuuji sich hundertprozentig sicher, hätte er irgendwann in dem ganzen Chaos den Überblick verloren und ganz bestimmt irgendetwas Wichtiges vergessen. Ihm schwirrte auch noch nachträglich der Kopf bei dem Gedanken an die ganzen Ämter und Bürokraten, mit denen er sich hatte herumschlagen müssen. Und wenn Max ihn nicht am Morgen noch daran erinnert hätte, dann hätte er es sicher auch vollkommen verschwitzt, seine Familie über seine geplante Rückkehr zu informieren. So aber hatte er direkt nach dem Frühstück angerufen und, sehr zu seinem Erstaunen, nicht mit Isono-san, sondern tatsächlich direkt mit Gozaburo-san gesprochen, der, seinen eigenen Worten zufolge, in den kommenden Wochen zumindest zeitweilig von zu Hause aus zu arbeiten gedachte. Dankenswerterweise, erinnerte Ryuuji sich, hatte Gozaburo-san allerdings keinerlei Fragen nach seinem Befinden gestellt, sondern ihm lediglich versichert, dass er sich wie schon am Sonntag um die Reisevorbereitungen für den Donnerstag kümmern würde. "Deine Mutter wird sich freuen, dich endlich wieder zu Hause zu haben. Und damit ist sie nicht alleine", hatte er sich schließlich verabschiedet und die Worte hatten Ryuuji ein unerwartet warmes Gefühl verschafft. Er wusste, er hatte seiner Mutter dadurch, dass er ihr zwischendurch nur mit einer knappen SMS mitgeteilt hatte, dass Max bei ihm war, ihre Sorgen um ihn sicher nicht vollständig nehmen können. Höchste Zeit also, sie persönlich davon zu überzeugen, dass es ihm inzwischen ein ganzes Stück besser ging als am vergangenen Sonntag. Von Zeit zu Zeit erwischten ihn die Erinnerungen zwar immer noch kalt, aber mittlerweile war er dafür wesentlich besser gewappnet. Daher war die Aussicht, seiner Mutter und auch Katsuya gegenüberzutreten, nicht mehr so schreckbehaftet wie sie es noch am Anfang der Woche gewesen war. Seufzend fuhr Ryuuji sich durch die Haare. Gerade Katsuya würde ihn sicher erst einmal ordentlich durchschütteln, weil er ihm nicht selbst erzählt hatte, was passiert war, und würde ihn dann halb erdrücken in dem Versuch, ihn so zu trösten. Und er war ganz sicher ziemlich angepisst, dass es ausgerechnet Seto gewesen war, von dem er alles erfahren hatte – falls Seto denn sein Wort gehalten und Katsuya informiert hatte. Immerhin, das wusste Ryuuji ganz genau, lagen sein bester Freund und sein Stiefbruder schon miteinander im Clinch, seit sie sich kannten. Aber darum, Katsuyas gesträubtes Gefieder zu glätten, würde er sich kümmern, wenn er erst mal zurück in Japan war. Er hatte mit seinem Stiefvater abgemacht, dass er am morgigen Donnerstag um 11:30 Uhr hier in Frisco abfliegen würde. In Tokio wäre es dann 4:30 Uhr am Freitagmorgen. Wenn alles glatt ging und der Flug wie beim letzten Mal neuneinhalb Stunden dauern würde, dann wäre er also gegen 14 Uhr wieder in Tokio. Vielleicht sogar noch früh genug, um kurz an der Schule vorbeizufahren und gleich mit Kats zu sprechen. Das wär sicher nicht verkehrt. So wäre das dann auch schon mal erledigt, grübelte Ryuuji und zwirbelte abwesend eine seiner schwarzen Strähnen um seinen Zeigefinger. Dann kann er mich direkt anpflaumen und ich hab's schneller hinter mir. Und, erinnerte ihn seine innere Stimme ungebeten, er würde auch Seto früher wiedersehen als den Rest seiner Familie. Vielleicht doch keine so gute Idee. Ryuuji seufzte. Scheiß drauf. Ich kann mir immer noch überlegen, was ich mache, wenn ich erst mal gelandet bin. Das war wahrscheinlich ohnehin die beste Lösung. Warum sich jetzt schon den Kopf zerbrechen über etwas, das noch wenigstens einen halben Tag, wenn nicht sogar noch länger, in der Zukunft lag? "Alles in Ordnung?", holte Maximilians Stimme Ryuuji wieder aus seinen Gedanken. Der besorgte Unterton entging ihm nicht, daher blickte er auf und bedachte seinen Gast mit einem matten Lächeln. "Abgesehen davon, dass ich für den Rest meines Lebens am liebsten keine Bürokraten mehr sehen möchte, geht's mir blendend", gab er zurück und Maximilian lachte leise. "Das Gefühl kenne ich. Aber ich fürchte, du wirst dich leider noch des Öfteren mit irgendwelchen Behörden herumschlagen müssen", erwiderte er und Ryuuji zog eine Grimasse. "Das hatte ich fast schon befürchtet." "Stell dir mal vor, du müsstest dich beruflich damit auseinandersetzen." Maximilian machte es sich in einem der Sessel bequem und streckte seine Beine aus. Auch er hatte nichts gegen ein bisschen Ruhe nach der Hektik der letzten Tage. "Das hast du dir selbst so ausgesucht, Max", erinnerte ihn sein Patensohn und der Angesprochene nickte schmunzelnd. "Und genau deshalb will ich definitiv nicht Jura studieren." Ryuuji seufzte. Seine Zukunftspläne waren auch einer von unzähligen Reibungspunkten zwischen seinem Vater und ihm gewesen. Sein Vater hätte ihn gerne als Anwalt gesehen, aber schon der Gedanke an all die Paragraphen und die trockene Theorie, die so ein Jurastudium mit sich brachte, war ihm ungemein zuwider. "Ich könnte mir dich ehrlich gesagt auch nicht als Anwalt vorstellen", unterbrach Maximilian die Erinnerungen seines Patensohnes und schüttelte den Kopf, als dieser ihn ansah. "Das bedeutet nicht, dass ich dich nicht für klug genug für ein Jurastudium halte." Denn das war Duke zweifelsohne. Aber er war einfach nicht der Typ Mensch, der damit zufrieden sein würde, Gesetzbücher zu wälzen und in Gerichtssälen zu stehen. Nein, das war definitiv nicht seine Welt. "Aber ich glaube einfach nicht, dass das das Richtige für dich wäre." "Wäre es auch nicht." Nur schade, dachte Ryuuji, dass sein Dad das partout nicht hatte einsehen wollen. Seine Neigungen und Talente gingen nun mal in eine völlig andere Richtung als Jura. Aber das war noch Zukunftsmusik. Erst einmal musste er seinen Schulabschluss schaffen und sich dann eine Uni aussuchen, an der er studieren wollte. Ob er das allerdings in Japan oder doch hier in den Staaten tun wollte, wusste Ryuuji beim besten Willen noch nicht. Aber noch, beruhigte er sich selbst, hatte er ja auch noch eine ganze Weile Zeit zum Nachdenken. Er musste jetzt also noch nichts überstürzen. "Ich glaube, ich sollte auch noch den Rest packen. Immerhin geht's morgen früh ja schon los." Gesagt, getan. Ryuuji hievte sich von der Couch hoch und verschwand in seinem Zimmer. Allzu viel gab es zwar nicht mehr einzupacken, aber, dachte er bei sich, es wäre sicher nicht verkehrt, das jetzt schon hinter sich zu bringen. So konnte er dann auch gleich sichergehen, dass er nichts vergaß. Ryuuji holte also auch noch seine letzten Sachen aus seinem Kleiderschrank, faltete sie ebenso wie den Anzug, den er am Montag getragen hatte, ordentlich zusammen und verstaute alles in seinem Koffer. Ganz obendrauf legte er äußerst vorsichtig die Lederjacke seines Vaters. Dabei lag ein melancholisches Lächeln auf seinen Lippen. Sein Vater hatte diese Jacke wirklich geliebt. Und auch für ihn selbst hingen so viele Erinnerungen daran, dass er sie einfach mitnehmen musste. Die Kartons, die er an den letzten Abenden gemeinsam mit Max gepackt hatte, standen bereits fein säuberlich gestapelt neben der Haustür. Max hatte, nachdem er selbst am Morgen auch noch kurz mit Gozaburo-san gesprochen hatte, einen größeren Wagen für den morgigen Vormittag gemietet, um die Sachen zum Flughafen transportieren zu können. Laut seiner Aussage hatte Gozaburo-san bereits veranlasst, dass das Zimmer neben seinem, das bisher leer gestanden hatte, vorbereitet wurde für die Dinge, die er aus San Francisco mitzubringen gedachte – eine Geste, die Ryuuji seinem Stiefvater hoch anrechnete. Selbstverständlich war das sicher nicht. Noch ein Grund mehr, warum ich wirklich dringend mit ihm reden sollte, nahm Ryuuji sich nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen vor. Einerseits hatte er es seiner Mutter am Samstagabend fest versprochen und andererseits hatte Gozaburo-san nach allem, was er jetzt schon für ihn getan hatte, die Ehrlichkeit wirklich verdient. Blieb nur zu hoffen, dass seine Reaktion auf das, was er zu hören bekommen würde, nicht allzu negativ ausfiel. Noch was, worüber ich mir morgen Sorgen machen kann, wenn ich wieder in Japan bin, sinnierte Ryuuji, schloss seinen Koffer und wuchtete ihn in den Flur zu den Kartons. Dann ging er wieder zurück ins Wohnzimmer, wo Maximilian noch immer auf ihn wartete. "Heute was bestellen?", schlug er vor und Max schmunzelte. "Von mir aus gerne", gab er zurück, stand auf und folgte seinem Patensohn in die Küche, wo James immer die Flyer sämtlicher Lieferdienste in der Umgebung aufbewahrt hatte. Zwar war er auch ein recht passabler Koch gewesen, allerdings bei weitem kein so guter wie sein Sohn. Und da er, im Gegensatz zu Duke, auch nicht viel Spaß am Kochen gehabt hatte, hatte er sich, wenn er alleine zu Hause gewesen war, doch meistens mit dem über Wasser gehalten, was er sich hatte liefern lassen können. Nach kurzer Überlegung entschieden die beiden sich für einen indischen Imbiss in der Nähe und während Max per Handy die Bestellung aufgab, schnappte Ryuuji sich das Telefon aus dem Wohnzimmer, um sich noch eben von Alister und Valon zu verabschieden. Er erklärte den beiden jedoch nur, dass er am nächsten Morgen wieder nach Tokio zurückfliegen würde. Warum er überhaupt da gewesen war, behielt er auch jetzt für sich, denn er wollte den beiden weder die gute Laune verderben noch wollte er sich selbst jetzt mit Fragen nach seinem Befinden und seinen Gefühlen auseinandersetzen. Jetzt wollte er einfach nur den letzten Abend, den er fürs Erste hier verbringen würde, irgendwie überstehen, ohne wieder zu sehr in Grübeleien oder Erinnerungen zu versinken. Aus diesem Grund machte er es sich auch, sobald das Essen erst mal da war, gemeinsam mit Maximilian auf der Terrasse bequem. So – mit dem Sonnenuntergang und dem Ozean direkt vor Augen – ließ es sich eindeutig aushalten. oOo Nachdem er am späten Nachmittag kurz mit seinem Stiefsohn telefoniert und von diesem erfahren hatte, dass dieser schon am nächsten Tag zurückkehren würde, hatte Gozaburo sich erst einmal wieder seiner Arbeit gewidmet. Zwischendurch hatte er seinen persönlichen Assistenten instruiert, sich wie schon am Sonntag um die Reisevorbereitungen für Ryuuji zu kümmern. Bei Isono waren solche Dinge in den besten Händen, das wusste er aus eigener Erfahrung. Und während Isono damit beschäftigt gewesen war, mit dem Team in San Francisco Kontakt aufzunehmen und alles in die Wege zu leiten, hatte Gozaburo selbst irgendwann seine Arbeit Arbeit sein lassen und war vom Arbeitszimmer aus in den Flügel der Villa gegangen, in dem die Privaträume seiner Familie lagen. Er hatte Pegasus-san, der sich ihm bei dem Telefonat als der Anwalt von Ryuujis verstorbenem Vater vorgestellt hatte, zugesichert, dass er für die Dinge, die Ryuuji aus den Staaten mitbringen wollte, Platz schaffen würde. Und genau das würde er auch tun. Das Zimmer, das neben Ryuujis Schlafzimmer lag, war ohnehin bisher ein ungenutztes Gästezimmer gewesen, also gab es nicht allzu viel, was hier zu tun war. Wie sämtliche anderen ungenutzten Räume wurde auch dieser regelmäßig gereinigt. Stauraum, sinnierte Gozaburo, während er sich in dem leeren Zimmer umsah und dieses inspizierte, gab es hier in den Schränken und Regalen hoffentlich genug. Und wenn Ryuuji doch noch irgendetwas brauchen sollte, dann konnte er ja Bescheid sagen. Sie würden dann schon eine Lösung finden. Da im Moment nicht mehr viel zu tun blieb und der Bericht der Lohnbuchhaltung auch problemlos bis nach dem Abendessen oder notfalls auch bis morgen warten konnte, machte Gozaburo sich schließlich nach einem letzten Rundblick durch den Raum und einem knappen Blick auf die Uhr auf den Weg ins Esszimmer. Seine Söhne, das hatte er gehört, waren schon vor einer Weile nach Hause gekommen und warteten, wie er es sich gedacht hatte, mit seiner Frau bereits auf ihn. Einen Moment lang war Gozaburo versucht, die Drei gleich über das Telefonat mit Ryuuji und dessen Heimreisepläne in Kenntnis zu setzen, aber als Mokuba noch vor dem ersten Bissen freudestrahlend verkündete, dass er sich für den nächsten Nachmittag mit seinen beiden besten Freunden verabredetet hatte, unterließ Gozaburo das lieber. Der Junge hatte in der vergangenen Woche immer mal regelrecht geknickt gewirkt und da wollte er ganz sicher nicht, dass er das Treffen mit seinen Freunden, auf das er sich so offensichtlich freute, absagte, um für Ryuuji da zu sein. Wenn er abends nach Hause kam, wäre es dafür sicher immer noch früh genug. Immerhin hatten ihre drei Jungs ja dann ein ganzes Wochenende vor sich, um miteinander zu reden. Seto, der die ganze Woche auf eine Nachricht von seinem Stiefbruder gewartet hatte, brannte wie jeden Abend die Frage auf der Zunge, ob Ryuuji sich gemeldet hatte, doch er sprach sie nicht aus. Auch ihm war nicht entgangen, dass Mokuba in den letzten Tagen immer mal wieder in Grübeleien über Ryuuji versunken war. Dass er sich jetzt so auf die Verabredung mit Ryou und Yuugi freute, erschien Seto daher wie ein gutes Zeichen. Außerdem würde Ryuuji wahrscheinlich ohnehin nicht vor dem Wochenende nach Hause kommen, also würde Mokuba die Ablenkung sicher gut tun. Nur er selbst, dachte Seto mit einem innerlichen Seufzen, hatte nicht viel, was ihn ablenken konnte. Er hatte sich zwar am Dienstag und auch am Mittwoch nach der Schule mit Yami getroffen und war mit diesem gemeinsam im Museum gewesen, aber er hatte sich des Gefühls nicht erwehren können, dass er dort eigentlich eher gestört hatte. Zwar hatten weder Malik noch Ishizu Ishtar, mit denen Yami offenbar inzwischen eine Menge Zeit verbracht hatte, irgendetwas in dieser Richtung gesagt, aber gerade die Blicke, die Malik hin und wieder in seine Richtung geworfen hatte, waren doch recht deutlich gewesen. Aus diesem Grund hatte Seto auch die meiste Zeit mit Gesprächen mit Maliks Schwester Ishizu verbracht, aber trotzdem war er sich wie ein Eindringling vorgekommen. Aus diesem Grund hatte er auch Yamis Einladung, ihn Donnerstag und Freitag wieder zu begleiten, dankend abgelehnt. Selbst jemandem wie ihm, der von so etwas eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte, war nicht entgangen, dass Yami und Malik meistens schon innerhalb von fünf Minuten in ihrer eigenen kleinen Welt waren, in der nicht einmal Ishizu Zutritt hatte. Und da wollte er nun wirklich nicht stören. Also, hatte er sich vorgenommen, würde er in den nächsten Tagen wohl einfach mal wieder ein bisschen lesen oder ein paar Bahnen extra schwimmen. Seinen Grübeleien konnte er auf die Art zwar auch nicht entkommen, aber so tat er wenigstens trotzdem noch etwas Produktives und war für niemanden das fünfte Rad am Wagen. Mokuba, der in der vergangenen Woche so viel Zeit wie möglich damit verbracht hatte, sich irgendwie abzulenken, um nicht ständig über Ryuuji und seinen Vater nachzugrübeln, freute sich tatsächlich unbändig auf den Nachmittag, der morgen vor ihm lag. Die letzten paar Tage hatte er fast ausschließlich alleine mit Ryou verbracht und das war, auch wenn er sich das nicht gerne eingestand, ganz schön anstrengend gewesen. Er hatte einfach nicht so recht gewusst, ob er Ryou auf die Sache mit der Klassenfahrt ansprechen sollte oder nicht, also hatte er es lieber gelassen. Und Ryou schien seinerseits im Moment auch nicht über das reden zu wollen, was zwischen ihnen vorgefallen war. Mokuba konnte nur vermuten, dass sein eigener kurzer Zusammenbruch am Montagmorgen vor der Schule der Grund dafür war, aber er hatte sicherheitshalber lieber nicht nachgebohrt. Trotzdem war er dankbar, dass Ryou sich ihm gegenüber im Moment nicht anders verhielt als er es vor der Klassenfahrt auch getan hatte. Ganz bestimmt war das nicht leicht für ihn, aber da Mokuba nicht wusste, wie er es für seinen weißhaarigen Freund einfacher machen konnte, hatte er einfach nur geschwiegen und war froh darüber gewesen, dass er nicht allzu sehr zum Grübeln gekommen war. Zwar war die Gewissheit dessen, was mit Ryuujis Vater passiert war, spätestens abends beim Heimkommen immer wieder da gewesen, aber es war inzwischen doch etwas einfacher geworden, damit umzugehen. Und das, das wusste Mokuba, verdankte er zu einem nicht geringen Teil Ryou. Ryou war schon immer richtig gut im Zuhören und Trösten gewesen. Und die gemeinsame Planung für das Treffen mit Yuugi und Rebecca, das sie für den Freitagnachmittag festgemacht hatten, hatte ihm auch dabei geholfen, sich abzulenken. Mokuba schmunzelte ein wenig. Er war wirklich schon unglaublich gespannt auf das Mädchen, das Yuugi so tierisch den Kopf verdreht hatte. Denn dass es so war, leugnete mittlerweile nicht mal mehr Yuugi selbst. Es war aber auch einfach nur offensichtlich. Wann immer der Name ›Rebecca‹ fiel, wurde Yuugi knallrot und begann zu stottern. Und wenn er erst mal anfing, über sie zu reden, konnte er sich kaum bremsen und überbot sich selbst immer wieder mit Beschreibungen davon, wie toll sie war und wie wundervoll er sie doch fand. Noch immer bestens gelaunt beendete Mokuba schließlich das Abendessen, stand auf und drückte Yukiko einen Kuss auf die Wange – etwas, das er sich nach dem katastrophalen Sonntag einfach angewöhnt hatte. Und da es sie ganz offensichtlich nicht störte, hatte er auch nicht vor, damit wieder aufzuhören. Anfangs war er manchmal noch etwas nervös gewesen, aber das hatte sich inzwischen gelegt. So, sinnierte er, während er sich gemeinsam mit seinem Bruder auf den Weg nach oben machte, musste es sich wohl anfühlen, wenn man wirklich eine Mutter hatte, die man liebte. Jetzt verstand er auch, warum es Seto anfangs so schwer gefallen war, sich für ihren Vater zu freuen, dass dieser wieder hatte heiraten wollen. Immerhin erinnerte er sich ja doch noch an ihre gemeinsame Mutter. Allerdings schien Seto inzwischen wirklich kein Problem mehr mit Yukiko zu haben, denn immer öfter lächelte er auch in ihrem Beisein. Meistens war es nur ein knappes, schmales Lächeln, aber dass sein Bruder es überhaupt tat, sagte für Mokuba eigentlich schon genug. Immerhin lächelte Seto nun wirklich nicht besonders oft. Meistens tat er das nur, wenn er unter Menschen war, die er mochte. Also bedeutete das ja wohl im Umkehrschluss, dass Seto auch Yukiko mochte. Sie war zwar nicht ihre leibliche Mutter, aber wenigstens hatte Seto akzeptiert, dass es sie gab und dass ihr Vater glücklich mit ihr war. Und das war doch die Hauptsache, nicht wahr? "Du bist aber heute sehr gut gelaunt, otouto", sprach Seto seinen Bruder auf dem Weg nach oben an. Mokuba nickte heftig und grinste ihn dann so breit an, dass Seto sich kurzzeitig etwas geblendet fühlte. "Bin ich auch, Nii-san. Yuugi bringt nämlich morgen Rebecca mit. Sie ist die Enkelin von einem von Sugoroku-sans Freunden und im Moment mit ihrem Großvater bei Sugoroku-san zu Besuch. Und Yuugi ist Hals über Kopf verliebt in sie!", verkündete der Fünfzehnjährige und kicherte. "Morgen will er sie Ryou und mir endlich vorstellen." Wenn das kein Grund für gute Laune war, was war es dann? Beinahe gegen seinen Willen musste Seto auch ein wenig schmunzeln über die Begeisterung, die Mokuba förmlich aus jeder Pore drang. Es tat gut, seinen kleinen Bruder so ausgelassen zu sehen. Und noch besser war es, dass er solche Dinge jetzt wieder aus erster Hand erfuhr und nicht mehr irgendwann später oder durch einen Zufall. Es war wirklich eine Wohltat, wieder einer von Mokubas ersten Ansprechpartnern zu sein, wenn er etwas auf dem Herzen hatte – egal, ob es sich um etwas Schlechtes handelte oder um etwas Gutes, so wie jetzt gerade. "Und was habt ihr Vier morgen vor?" Die interessierte Nachfrage seines großen Bruders brachte Mokuba dazu, ebendiesen Bruder am Arm zu packen und mit in sein Zimmer zu schleifen. "Wir wollen morgen erst ein bisschen in die Arkade und dann mal schauen, was uns noch so einfällt", plapperte er dabei munter auf Seto ein und dieser wuschelte ihm lächelnd durch die Haare. "Ein Mädchen, das gerne in der Arkade spielt?", erkundigte er sich amüsiert und Mokuba nickte heftig. "Ja, allerdings. Sie war bisher fast die ganze Woche nachmittags mit Yuugi da, damit sie ihn endlich auch mal schlagen kann. Yuugi sagte, er hätte erst etwas Schiss gehabt, dass sie vielleicht doch keinen Spaß daran hat, aber nach seinen Erzählungen hat sie eine Menge Spaß. Wir – also Ryou und ich – wollen morgen bloß rausfinden, ob das wirklich an den Spielen liegt oder nicht vielleicht doch mehr an Yuugi", erklärte er den Plan, den Ryou und er gemeinsam gefasst hatten. "Wir wollen uns mal ein bisschen einmischen und schauen, was dann passiert", fuhr er mit leuchtenden Augen fort und begann wieder zu kichern. "Ich bin so gespannt auf morgen, Nii-san!" "Dann wünsche ich euch viel Erfolg. Ryou und dir mit eurem Plan und Yuugi mit seiner Herzdame." Seto schmunzelte wieder. Scheint ganz so, als wäre Yami nicht der Einzige der Mutos, dessen Liebesleben derzeit in Aufruhr ist, dachte er bei sich, sprach das aber nicht laut aus. Das, was er Anfang der Woche beobachtet hatte, war immerhin eindeutig noch nicht spruchreif. Und zu hundert Prozent war er sich auch nicht sicher, ob er sich nicht vielleicht doch nur etwas einbildete. Allerdings, erinnerte Seto sich, waren Ishizus Blicke, wenn sie zwischen Yami und Malik hin und her gewandert waren, auch sehr beredt gewesen. Er konnte zwar nur vermuten, dass sie das Gleiche gesehen hatte wie er, aber so komplett falsch liegen konnte er doch nicht, oder? Mit einem innerlichen Achselzucken schob Seto diese Fragen für den Moment erst mal beiseite. Er würde Yami einfach bei Gelegenheit selbst darauf ansprechen. Dann würde er schon erfahren, was es genau war, das zwischen seinem besten Freund und diesem Ägypter in der Luft zu liegen schien. Allerdings war das jetzt nebensächlich, also richtete Seto seine Konzentration erst mal wieder auf das Gespräch mit seinem Bruder. Seine Grübeleien über Yami konnten auch bis morgen warten. oOo Sobald seine beiden Söhne gemeinsam nach oben gegangen waren, schob auch Gozaburo seinen Stuhl zurück und half Yukiko auf. "Ryuuji hat vor einer Weile angerufen", teilte er ihr dabei mit und lächelte sanft, als sie ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Sorge ansah. "Er kommt morgen wieder nach Hause. Er sollte gegen Nachmittag da sein", ließ er sie weiter wissen und zog sie an sich, als sie mit einem zittrigen Seufzen die Augen schloss. Er wusste, sie machte sich schon die ganze Woche Vorwürfe, weil sie hier geblieben war, anstatt ihren Sohn zu begleiten. "Wie … wie geht es ihm?", fragte Yukiko leise, ohne sich von ihrem Ehemann zu lösen. Es tat gut, von ihm gehalten zu werden, aber ein Teil von ihr wollte jetzt trotzdem am liebsten bei ihrem Sohn sein und sicher gehen, dass es ihm – zumindest den Umständen entsprechend – gut ging. Zwar hatte er ihr am Dienstag eine kurze Nachricht geschickt, dass sein Patenonkel bei ihm war und auch ein paar Tage bleiben würde, aber auch das hatte sie nur marginal beruhigen können. Ja, es war gut zu wissen, dass ihr Junge nicht mehr ganz alleine war, aber trotzdem wäre es eigentlich ihre Aufgabe gewesen, sich um ihn zu kümmern. Und was hatte sie stattdessen getan? Sie war hier geblieben, bei ihrer neuen Familie, und hatte ihren Jungen ganz sich selbst überlassen. Wie hatte sie nur so gewissenlos handeln können? Was war sie nur für eine furchtbare Mutter, die es ihrem siebzehnjährigen Sohn aufbürdete, so etwas Schreckliches alleine durchzustehen? Sie hätte für ihn da sein müssen. Sie hätte sich um ihn kümmern müssen. Sie hätte mit ihm gemeinsam nach San Francisco fliegen müssen. Sie hätte … "Er klang, als ginge es ihm inzwischen deutlich besser als am Sonntag", unterbrach Gozaburos Stimme ihre gedankliche Selbstgeißelung. "Ich habe auch noch kurz mit dem Anwalt deines Exmannes gesprochen. Er hat mir versichert, dass er noch bis morgen bei Ryuuji bleiben und ihn zum Flughafen bringen wird", fügte er hinzu und Yukiko nickte matt. Sie kannte Maximilian schon fast so lange, wie sie James gekannt hatte, und wusste, dass man sich auf ihn verlassen konnte. Ihr Junge hatte also zumindest einen Menschen bei sich gehabt, der für ihn da gewesen war – so, wie sie es nicht gekonnt hatte. Noch immer schämte Yukiko sich unsäglich dafür, dass sie am Sonntag nicht stärker gewesen war. Sie hätte Ryuuji nicht alleine fliegen lassen dürfen – ganz egal, was er gesagt hatte. Sie war seine Mutter. Es war ihre Aufgabe, sich um ihn zu kümmern, ihn zu trösten und für ihn da zu sein. Und was hatte sie stattdessen getan? Sie hatte sich um ihre neue Familie gekümmert und war bei ihrem neuen Ehemann und ihren Stiefsöhnen geblieben, anstatt sich um ihren leiblichen Sohn zu kümmern. Wie hatte sie nur so herzlos sein können? "Ich bin eine schreckliche Mutter." Yukiko bemerkte erst, dass sie diesen Gedanken laut ausgesprochen hatte, als Gozaburo ihr eine Hand unter das Kinn legte und sie so mit sanfter Gewalt dazu zwang, ihn anzusehen. "Das bist du nicht", widersprach er. "Dein Sohn ist ein sehr willensstarker junger Mann. Und ich bin mir sicher, wenn er jetzt hier wäre, würde er dir ebenso widersprechen wie ich. Du bist keine schlechte Mutter. Du bist ein warmherziger, liebevoller Mensch. Und du hast dir nichts vorzuwerfen. Ryuuji ist kein kleines Kind mehr. Aber er wird dich trotzdem brauchen, wenn er wiederkommt. Und ich weiß ganz genau, dass du dann für ihn da sein wirst. Das werden wir alle", versicherte er ihr und in Yukikos Augen traten Tränen. "Trotzdem schäme ich mich. Ich hätte ihn nicht alleine lassen dürfen", murmelte sie leise und seufzte zittrig, als Gozaburo sie an sich zog und die Arme um sie legte. "Darüber habe ich in der letzten Woche auch oft nachgedacht", gab er zu und verkniff sich ein Seufzen. Er hatte sich in der Tat des Öfteren Vorwürfe gemacht, dass er seinen Stiefsohn einfach so ohne Begleitung hatte ziehen lassen. Aber der Junge hatte nicht den Eindruck gemacht, als hätte er mit sich selbst ins Reine kommen können, wenn jemand bei ihm gewesen wäre. Und zumindest in den letzten Tagen war er ja auch gar nicht mehr alleine gewesen, wenn man den Worten von Pegasus-san Glauben schenken konnte. Allerdings hatte dieser, zumindest in Gozaburos Ohren, durchaus glaubwürdig und aufrichtig geklungen. Es war nicht zu überhören gewesen, dass Ryuuji, den er während des Gesprächs wohl aus Gewohnheit immer Duke genannt hatte, obwohl er ansonsten, sehr zu Gozaburos Verwunderung, fast fließendes Japanisch gesprochen hatte, ihm sehr am Herzen lag. Bei ihm, dessen war Gozaburo sich recht sicher, war sein Stiefsohn bestimmt in guten Händen. "Aber das sind alles Dinge, über die wir wohl besser morgen in Ruhe sprechen sollten, wenn Ryuuji erst mal wieder zu Hause ist." Vielleicht, so hoffte Gozaburo, konnte der Junge seiner Mutter ja besser klarmachen, dass sie nichts Falsches getan hatte, als er es konnte. Ihm würde Yukiko diese Versicherungen bestimmt nicht glauben, aber wenn Ryuuji ihr sagte, dass er ihr nicht böse war, weil sie nicht mit ihm geflogen war, dann würde das ihr schlechtes Gewissen hoffentlich doch noch beruhigen. Yukiko seufzte leise und nickte dann schwach. "Wahrscheinlich hast du Recht", murmelte sie, löste sich wieder ein wenig von ihrem Ehemann und lächelte, als dieser ihr zärtlich die Tränen von den Wangen wischte. Gozaburo war eindeutig das Beste, was ihr hatte passieren können. Und dass er sich, ebenso wie sie, um ihren Jungen sorgte, bestärkte sie nur noch mehr darin, dass er der richtige Mann für sie war. Welcher andere Mann tat schon, was Gozaburo bisher für sie und Ryuuji getan hatte – und das auch noch dann, wenn es um ein Kind ging, das nicht einmal sein eigenes war? "Vielleicht sollten wir mal nach Seto und Mokuba sehen", schlug Yukiko vor, um sich selbst ein bisschen abzulenken. Gozaburo hatte wirklich Recht. Für Ryuuji konnte sie jetzt im Moment nichts tun, aber sie konnte ab morgen, wenn er endlich wieder zu Hause bei ihr war, für ihn da sein. Aber ihr Sohn war schließlich nicht der Einzige, dem ein bisschen Aufmerksamkeit gut tun würde. Mokuba und auch Seto waren in der vergangenen Woche schließlich ebenfalls mit Dingen konfrontiert worden, die für die beiden nicht leicht zu bewältigen waren. Zwar hatte sich besonders Mokuba bemüht, stark zu sein, aber es war hin und wieder doch nicht zu übersehen gewesen, dass er sehr oft die Nähe und den Trost seines großen Bruders gesucht hatte. Vielleicht, überlegte Yukiko auf dem Weg nach oben, war es an der Zeit, dass sie auch Seto unterstützten und sich an seiner Stelle um Mokuba kümmerten. Und vielleicht konnten Gozaburo oder sie ja auch Seto selbst zumindest ein wenig helfen. Immerhin hatte er sich in den ganzen letzten Tagen immer wieder Zeit für seinen Bruder genommen. Aber hatte er sich auch mal etwas Zeit für sich selbst genommen? Irgendwie bezweifelte Yukiko das. Seto war, wie auch ihr Ryuuji, eher der Typ Mensch, der alles mit sich selbst ausmachte und nur ungern Hilfe annahm. Aber nur, weil jemand nicht um Hilfe bitten wollte, bedeutete das ja nicht automatisch, dass dieser Jemand auch wirklich keine Hilfe brauchte. "Siehst du nach Mokuba? Ich würde gerne mit Seto reden." Die Worte seiner Frau überraschten Gozaburo zugegebenermaßen schon etwas, aber er hakte nicht nach, sondern nickte einfach nur, hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Lippen und klopfte dann an die Zimmertür seines Jüngsten. Dieser wirkte reichlich verdutzt, als er die Tür öffnete und seinen Vater vor sich sah, trat aber gleich zur Seite und ließ ihn eintreten. "Ist was, Vater?", war das Letzte, was Yukiko hörte, bevor die Tür hinter den beiden wieder ins Schloss fiel und sie alleine im Flur zurückließ. Seto, der inzwischen bereits wieder in sein Zimmer zurückgegangen war, nachdem sein Bruder sich all seine Aufregung wegen des bevorstehenden Kennenlernens von Yuugis Schwarm von der Seele geredet hatte, blinzelte erstaunt, als es an seine Tür klopfte und er sich nach dem Öffnen seiner Stiefmutter gegenüber sah. "Ist irgendetwas?", erkundigte er sich höflich und sein Erstaunen wandelte sich in Verwirrung, als Yukiko den Kopf schüttelte. "Nicht wirklich, nein. Ich wollte nur mal nach dir sehen", gestand sie und überraschte Seto damit vollends. Es war eindeutig … ungewohnt, dass außer seinem Vater, seinem Bruder und Isono noch jemand in der Villa offensichtlich Interesse an seinem Befinden hegte. Allerdings konnte Seto nicht leugnen, dass es auf eine vertraut-schmerzhafte Art und Weise schön war. Seine eigene Mutter, daran erinnerte er sich noch sehr gut, war auch jeden Abend vor dem Schlafengehen noch mal zu ihm ins Zimmer gekommen, um nach ihm zu sehen und zu fragen, ob er noch etwas brauchte oder ob es etwas gab, was er ihr erzählen wollte. Yukiko war zwar nicht seine Mutter, aber, sinnierte Seto, man merkte, dass sie dennoch eine Mutter war. Und sie musste eindeutig eine tolle Mutter sein, wenn man danach ging, was für ein außergewöhnlicher Mensch ihr Sohn war. Unwillig schüttelte Seto diesen Gedanken ab und lud seine Stiefmutter mit einer Geste ein, einzutreten. Sobald sie dieser Einladung gefolgt war, schob er die Tür hinter ihr zu und trat zu seinem Schreibtisch, um ihr einen Stuhl anzubieten. Yukiko lächelte leicht, nahm Platz und klopfte einladend auf den zweiten Stuhl, der neben dem Schreibtisch stand. "Wie geht es dir?", erkundigte sie sich, sobald er sich gesetzt hatte, und Seto haderte einen Moment lang mit sich selbst, dann beschloss er, ehrlich zu sein. So viel hatte Yukiko verdient. "Nicht besonders", gab er daher zu und seufzte. "Ich … mache mir Sorgen um Ryuuji." Das einzugestehen war nicht leicht, besonders nicht gegenüber seiner Mutter, aber zu Setos Erleichterung vermutete Yukiko scheinbar keinen anderen Grund als den offensichtlichen für seine Sorge. Sie sagte jedenfalls nichts in dieser Richtung, sondern nickte nur und im nächsten Moment spürte Seto, wie sich eine warme Hand auf seine legte. "Das verstehe ich nur zu gut", erwiderte Yukiko und schüttelte kurz den Kopf, wie um einen lästigen Gedanken loszuwerden. "Ich mache mir auch Sorgen", gestand sie und lächelte schwach. Aber das war nicht der Grund, aus dem sie hergekommen war, also schob sie diese Gedanken fürs Erste beiseite. Um ihren Jungen konnte sie sich morgen kümmern, wenn er wieder da war. "Aber deshalb bin ich nicht hier", ließ sie Seto wissen und sah ihn fragend an. "Du hast dich die ganze Woche um deinen Bruder gekümmert, aber was ist mit dir?", erkundigte sie sich und Seto verkniff sich ein Seufzen. Irgendwie hatte er nicht mit dieser Frage gerechnet. Allerdings konnte er nicht leugnen, dass ihn das Wissen, dass Yukiko und auch sein Vater sich offensichtlich Sorgen um Mokuba und ihn machten – warum sonst sollte ihr Vater jetzt bei Mokuba sein, während Yukiko hier bei ihm war? –, irgendwie rührte. Sicher, er wusste schon seit seiner Kindheit, dass sein Vater Mokuba und ihn liebte, aber dass seine Stiefmutter offenbar aus freien Stücken zu ihm kam, war dennoch unerwartet. Seto fühlte sich ein wenig befangen. Anfangs war er zugegebenermaßen doch sehr gegen die Heirat seines Vaters gewesen, auch wenn er nach dem Gespräch am Abend nach der Eröffnung dieser Pläne nichts weiter dazu gesagt hatte. Jetzt jedoch musste er sich eingestehen, dass diese neue Ehe definitiv mehr Gutes als Schlechtes mit sich gebracht hatte. Sein Vater war unübersehbar glücklich, Mokuba und er redeten endlich wieder richtig miteinander und Yukiko selbst war eine angenehm ruhige, beständige Präsenz, die ihr Familienleben nicht störte, wie Seto es zu Beginn befürchtet hatte, sondern stattdessen eindeutig eine Bereicherung darstellte. Und Ryuuji … Nun, das war etwas ganz, ganz anderes. Seto schluckte unmerklich. Nach allem, was am Sonntag vorgefallen war, fühlte er sich noch sehr viel mieser, als er sich nach dem Streit am Donnerstag schon gefühlt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war Ryuuji bereits Halbwaise gewesen, ohne dass irgendjemand von ihnen auch nur etwas davon geahnt hatte. Wenn er gekonnt hätte, dann hätte Seto jedes der hässlichen Worte, die er seinem Stiefbruder an den Kopf geworfen hatte, zurückgenommen. Aber dafür war es zu spät. "Dein Vater vermutet, dass das, was passiert ist, für dich eine Menge Erinnerungen wieder aufgewühlt hat", schreckte die Stimme seiner Stiefmutter Seto wieder aus seinen Gedanken. Im ersten Moment wusste er nicht, was sie gemeint hatte, doch dann nickte er langsam. Es zu leugnen brachte ja nichts. Ja, der Tod von Ryuujis Vater hatte viele Erinnerungen geweckt, aber diese Erinnerungen waren nicht das, was ihn in den letzten Tagen so beschäftigt hatte. Aber wie, fragte Seto sich, sollte er seiner Stiefmutter oder auch seinem Vater das erklären, ohne zu viel von dem preiszugeben, was niemand erfahren sollte? "Das hat es in der Tat", murmelte Seto, lächelte aber gleich darauf ganz leicht, um Yukiko zu zeigen, dass es ihm keinesfalls so schlecht ging, wie sie zu glauben schien. Sicher, er vermisste seine Mutter mitunter auch heute noch, aber im Augenblick war sie in seinen Gedanken nicht so präsent, wie sie es unter anderen Umständen vielleicht gewesen wäre. "Aber es geht mir gut", versicherte er seiner Stiefmutter auch noch einmal verbal. Yukiko blickte ihn zweifelnd an. "Bist du sicher?", hakte sie nach und Seto nickte. Es war ja nun wirklich nicht so, dass es ihm schlecht ging. Er war einfach nur halb wahnsinnig vor Sorge um Ryuuji. Aber das war nun wirklich nichts, was er ausgerechnet mit Ryuujis Mutter besprechen wollte. Immerhin wollte er ihre eigenen Sorgen nicht noch zusätzlich verstärken. "Ja. Du musst dir meinetwegen wirklich keine Sorgen machen. Und Vater auch nicht." Die Antwort ihres Stiefsohns entlockte Yukiko ein winziges Schmunzeln. "Und trotzdem werden wir das auch weiterhin tun. Dafür sind Eltern schließlich da", erwiderte sie. "Und Eltern machen sich immer Sorgen um ihre Kinder – ganz egal, wie erwachsen diese Kinder auch sein mögen", fügte sie noch hinzu und nun musste auch Seto beinahe gegen seinen Willen schmunzeln. Yukiko, stellte er wieder einmal fest, war ganz anders als seine Mutter gewesen war. Aber es tat auf eine verquere Art gut, dass sie da war. Aus diesem Grund legte Seto seine Hand auf ihre und drückte sie ganz leicht. "Danke", sagte er dabei, zögerte noch einmal kurz und tat dann etwas, was auch sein kleiner Bruder seit Neuestem immer tat: er drückte Yukiko einen zaghaften, fast schon fragenden Kuss auf die Wange. "Dafür, dass du da bist – für Vater, für Mokuba und für mich. Und willkommen in unserer Familie." Das war vielleicht ein bisschen spät, aber, sinnierte Seto, besser spät als nie, nicht wahr? "Ich bin auch sehr glücklich, dass wir jetzt eine Familie sind, Seto." Yukiko fiel es schwer, ihre Rührung zu verbergen. Sie hatte auch nach der Hochzeit immer wieder das Gefühl gehabt, dass Seto Ryuuji und sie als Eindringlinge in seine Familie wahrnahm. Jetzt von ihm zu hören, dass dem offenbar doch nicht so war – oder zumindest nicht mehr –, tat ungemein gut. Zu wissen, dass auch ihr älterer Stiefsohn sie und ihren Sohn akzeptierte und als Teil seiner Familie sah, gab ihr das Gefühl, wirklich dazuzugehören. Seto fuhr sich mit einem leisen Seufzen durch die Haare und wich dem Blick seiner Stiefmutter kurz aus, ehe er sie wieder ansah. "Als Vater uns erzählt hat, dass er wieder heiraten wollte, war das ein Schock für mich", bekannte er und lächelte entschuldigend. "Es fühlte sich an wie … wie ein Verrat an meiner Mutter", fuhr er fort und seufzte erneut. Wenn er jedoch erwartet hatte, dass Yukiko ihm diese Worte übelnahm, so sah er sich getäuscht. Sie nickte einfach nur. "Dein Vater hat mich gewarnt, dass das schwer für dich sein würde", erwiderte sie und schenkte ihrem Stiefsohn ein aufmunterndes Lächeln. "Glaub mir, Ryuuji war anfangs auch nicht unbedingt erbaut davon, als ich ihm von unseren Hochzeitsplänen erzählt habe", gab sie zu. "Deshalb freue ich mich umso mehr, dass ihr uns beiden eine Chance gegeben habt. Ich würde niemals versuchen, eure Mutter ersetzen zu wollen", nutzte sie dann fast die gleichen Worte, die auch sein Vater benutzt hatte, als er seinen Söhnen von seinen Plänen erzählt hatte. "Das könnte ich auch gar nicht. Eure Mutter wird immer eure Mutter bleiben – genauso, wie James immer Ryuujis Vater bleiben wird. Aber Familie hat nicht immer nur mit Blutsverwandtschaft zu tun." Immerhin war Maximilian Pegasus, James' ältester und bester Freund und Ryuujis Patenonkel, für James auch mehr ein Bruder gewesen als ein einfacher Freund. Familie, das hatte ihr Exmann sie gelehrt, konnte aus mehr als nur den Menschen bestehen, mit denen man einen Namen und das Blut gemeinsam hatte. Als jemand, der recht früh Vollwaise geworden und in einem Heim aufgewachsen war, hatte James wohl besser als jeder andere gewusst, dass man sich seine Familie manchmal auch einfach selbst aussuchte, indem man nämlich seine Freunde als Familie ansah. Seto nickte nur auf die Worte seiner Stiefmutter. Auch wenn er sich anfangs noch so sehr dagegen gesträubt hatte, inzwischen musste er zugeben, dass es sich wirklich deutlich mehr nach ›Familie‹ anfühlte, seit Yukiko und Ryuuji bei ihnen lebten. Sein Vater war ausgeglichener und, gerade in der vergangenen Woche, deutlich öfter früh zu Hause gewesen. Zwar arbeitete er auch von zu Hause aus hin und wieder noch eine Weile, aber trotzdem war er hier und nicht in seinem Büro in der Firma. Und das war schon ein gewaltiger Unterschied. Aber das war noch längst nicht alles. Auch zwischen Mokuba und ihm hatte sich, nach ein paar anfänglichen Startschwierigkeiten, so vieles zum Besseren gewendet – nicht zuletzt durch Ryuuji, durch den er selbst erst gesehen hatte, was Mokuba und auch ihm gefehlt hatte. Einzig die Tatsache, dass das, was er selbst sich wünschte, wohl nie in Erfüllung gehen würde, nagte an Seto. Aber das war etwas, womit er sich wohl oder übel abfinden musste. Ryuuji hatte ihm immerhin am Samstagabend mehr als deutlich klargemacht, wie es seiner Meinung nach weitergehen sollte. Und, sinnierte Seto, nach allem, was inzwischen passiert war, war er es Ryuuji wohl schuldig, sich an die vorgeschlagene Abmachung zu halten und wenigstens zu versuchen, die Geschehnisse von Himura-sans Geburtstagsparty auch wirklich zu vergessen. Oder zumindest sollte er wohl so tun, denn Seto war sich absolut sicher, dass es ihm nicht gelingen würde, wirklich zu vergessen, was vorgefallen war. Er hatte es bisher nicht geschafft und konnte sich nicht vorstellen, dass sich das doch noch ändern würde. Yukiko entging die seltsam grüblerische Stimmung ihres Stiefsohnes nicht. Einen Moment zögerte sie, dann drückte sie sanft seine Hand und als er sie daraufhin doch wieder ansah, bedachte sie ihn mit einem weiteren Lächeln. "Ist alles in Ordnung, Seto?", fragte sie, ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen. Seto war nun mal, ähnlich wie Ryuuji, niemand, dem es leicht fiel, Hilfe anzunehmen. Aber das bedeutete ja nicht, dass man ihm diese Hilfe nicht trotzdem anbieten konnte. "Wenn etwas ist und du reden möchtest, bin ich gerne für dich da. Oder wenn du lieber mit deinem Vater sprechen willst, dann schicke ich ihn zu dir", bot sie daher an und wurde dafür mit einem der seltenen Lächeln ihres Stiefsohnes belohnt. "Das ist nett gemeint, aber nicht nötig", wiegelte Seto ab. Es war auf eine seltsame Art gut zu wissen, dass Yukiko tatsächlich nicht bloß aus reiner Verpflichtung heraus nach ihm sah, sondern weil sie es wirklich wollte. Dass das so war, war für Seto nicht zu übersehen. Er mochte zwar vielleicht kein Experte im Erkennen von Gefühlen sein, aber dafür wusste er ganz genau, wann sich jemand wirklich für ihn interessierte und wann es nur um seinen Namen ging. Aber das war hier eindeutig nicht der Fall. Nein, Yukiko war wirklich seinetwegen hier. "Die Woche war einfach nur sehr anstrengend." Die Erklärung, fand Seto, war genauso gut wie jede andere. Und sie war nicht einmal gelogen. Die Woche war wirklich unheimlich anstrengend gewesen, denn was er auch versucht hatte, seinen Gedanken hatte er, wenn überhaupt, immer nur für eine Weile entkommen können. Aber früher oder später waren sie immer wieder zu Ryuuji zurückgekehrt und er hatte sich wieder gefragt, wie es ihm wohl ging und wann er wieder nach Hause kommen würde. "Das stimmt", gab Yukiko ihrem Stiefsohn Recht, stand auf und zog ihre Hand langsam zurück. "Du solltest schlafen gehen. Immerhin ist morgen wieder Schule", fügte sie hinzu und im nächsten Moment blinzelte Seto perplex, denn Yukiko beugte sich ein wenig vor und drückte ihm nun ihrerseits einen Kuss auf die Stirn. "Gute Nacht, Seto. Schlaf gut", wünschte sie ihm dabei, doch er konnte nur stumm nicken. Diese kleine Geste, die für Yukiko ganz natürlich, ja, fast schon ein Reflex gewesen zu sein schien, erschütterte Seto tiefer, als er es sich hätte träumen lassen. Seit dem Tod seiner Mutter war ihm niemand mehr auf diese Weise nahe gekommen. Seine Mutter, erinnerte Seto sich unwillkürlich, hatte ihm jeden Abend, nachdem sie ihn ins Bett gebracht und zugedeckt hatte, noch einen solchen Kuss auf die Stirn gegeben – ›um die Alpträume fernzuhalten‹, wie sie es immer genannt hatte. Es dauerte eine ganze Weile, bis Seto seine Erinnerungen und seine Starre abschütteln konnte. Noch immer mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend rappelte er sich trotzdem irgendwann auf, verschwand in seinem Bad und kehrte genau rechtzeitig zurück, um ein weiteres Klopfen an seiner Zimmertür zu hören. "Herein", beantwortete er dieses und lächelte schmal, als dieses Mal sein Vater den Raum betrat. "Yukiko ist drüben bei deinem Bruder", informierte Gozaburo seinen Ältesten, der mittlerweile schon so gut wie bettfertig zu sein schien. "Und ich wollte die Gelegenheit nutzen, um dir auch noch eben eine gute Nacht zu wünschen", erklärte er sein Hiersein und sah zu seiner Zufriedenheit, wie sich das Lächeln seines Sohnes vertiefte. "Verheiratet zu sein bekommt dir, Vater", konnte Seto sich nicht verkneifen, seinen Vater zu necken. Und als dieser ihn erstaunt ansah, wurde aus seinem Lächeln ein kurzes Grinsen. "Das ist mein Ernst, Vater. Yukiko tut dir gut. Und nicht nur dir", gab er zu und lächelte nun doch wieder. "Es tut mir leid, dass ich anfangs so dagegen war", entschuldigte er sich dann und nun begann auch sein Vater zu lächeln. "Vergeben und vergessen", murmelte Gozaburo, legte seinem Ältesten eine Hand auf die Schulter und drückte diese leicht – eine Geste, die Seto ungemein vertraut war. "Morgen werde ich den ganzen Tag von zu Hause aus arbeiten", ließ Gozaburo seinen Sohn wissen und als dieser ihn daraufhin fragend anblickte, zog er seine Hand zurück. "Ich möchte einfach da sein", erklärte er und seufzte leise. Mokuba gegenüber hatte er sich bisher in Schweigen gehüllt, um die Pläne des Jungen nicht durcheinander zu bringen. "Ryuuji hat heute Nachmittag angerufen", teilte Gozaburo seinem Ältesten mit und sah, wie dessen Augen sich vor Überraschung weiteten. "Er kommt morgen wieder nach Hause. Und ich denke, er wird seine Familie dringend brauchen", fuhr er fort. Seto nickte nur, denn er war sich sicher, er würde keinen einzigen Ton herausbringen. Ryuuji würde morgen schon wieder nach Hause kommen? Bei dem Gedanken daran, ihn nach der ewig lang anmutenden Woche endlich wiederzusehen, beschleunigte sich Setos Herzschlag so sehr, dass er für einen Moment fürchtete, sein Vater könnte ihm ansehen, was er dachte. Zu seiner Erleichterung bemerkte dieser jedoch nichts. "Er wird wohl am Nachmittag wieder da sein. Aber ich wollte nicht, dass Mokuba seine Pläne cancelt, deshalb habe ich beim Essen noch nichts davon erwähnt." Gozaburo sah seinen Ältesten eindringlich an. "Bitte behalte das für dich, Seto", bat er ihn und lächelte erleichtert, als dieser ein weiteres Mal nickte. "Selbstverständlich, Vater", versprach Seto, nachdem er sich geräuspert hatte. Trotzdem klang seine Stimme belegt, aber glücklicherweise schien seinem Vater das nicht aufzufallen. "Gut. Du solltest aber jetzt auch langsam schlafen gehen." Erneut nickte Seto, wünschte seinem Vater murmelnd eine gute Nacht und sobald er wieder alleine in seinem Zimmer war, ließ er sich auf sein Bett sinken und vergrub mit einem leisen Ächzen sein Gesicht in seinen Händen. Die ganze vergangene Woche über hatte er sich Sorgen gemacht, hatte sich gewünscht, bei Ryuuji sein zu können, aber jetzt plötzlich war die Gewissheit, dass er seinen Stiefbruder irgendwann im Laufe des morgigen Tages schon wiedersehen würde, fast zu viel für ihn. Sein Herz raste und so sehr er sich auch darum bemühte, es wollte sich einfach nicht wieder beruhigen. So hatte er bisher noch nie empfunden. Als Seto nach einer gefühlten Ewigkeit seine Hände zurückzog und nach unten blickte, sah er, dass seine Finger zitterten. "Verdammt!", fluchte er ganz uncharakteristisch für seine Verhältnisse, aber dennoch leise genug, dass man ihn auf dem Flur definitiv nicht hören konnte. Er hatte das Gefühl, sein ganzer Körper stünde unter Strom. Wie, fragte er sich unwillkürlich, sollte er denn mit dem Wissen, dass Ryuuji bald wieder zu Hause sein würde, in dieser Nacht überhaupt ein Auge zu tun? Unmöglich! Das würde eine lange, lange Nacht werden, so viel stand fest. Kapitel 32: Heimkehr -------------------- Als sein Wecker am nächsten Morgen klingelte, fand Seto seine Vermutung vom Vorabend bestätigt. Wirklich viel Schlaf hatte er tatsächlich nicht gefunden. Fast die halbe Nacht hatte er sich schlaflos von einer Seite auf die andere gewälzt. Mehrmals war er kurz davor gewesen, einfach aufzustehen und nach unten ins Wohnzimmer zu gehen, um noch etwas zu lesen, aber schlussendlich hatte er das doch nicht getan. Immerhin hatte er niemanden aus seiner Familie versehentlich wecken und mit seiner Schlaflosigkeit anstecken wollen. Allerdings hatte es ihn auch nicht die ganze Zeit in seinem Bett gehalten, also war er irgendwann gegen zwei Uhr trotzdem aufgestanden und hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt, um die Unterlagen, die er in der vergangenen Woche für Ryuuji gesammelt hatte, noch mal ordentlich zu sortieren. Und sobald er damit fertig gewesen war, hatte er noch ein paar Notizen eingefügt, die sein Stiefbruder vielleicht benötigen würde. Damit war er gegen drei Uhr fertig gewesen, aber auch danach hatte sich der Schlaf nicht so recht einstellen wollen. Alles in allem hatte Seto vielleicht zwei Stunden geschlafen. Trotzdem war er nicht wirklich müde, denn zeitgleich mit dem Piepsen des Weckers kam auch die Erinnerung, was heute geschehen würde, so dass es Seto nun endgültig nicht mehr in seinem Bett hielt. Hastig schlug er die Decke zurück, verschwand in seinem Badezimmer und erschien fünfzehn Minuten später im Esszimmer, wo, wie an den letzten Tagen, sein Vater und seine Stiefmutter bereits auf Mokuba und ihn warteten. Da er selbst vor dem Herunterkommen nach seinem Bruder gesehen und dessen Bett zu seiner Überraschung leer vorgefunden hatte – die Dusche war deutlich zu hören gewesen, also war offensichtlich, dass Mokuba schon wach war –, hatte er nicht oben auf seinen Bruder gewartet. Aber das war auch gar nicht nötig, wie ein ungewöhnlich wacher und ungemein gut gelaunter Mokuba nur ein paar Minuten später dadurch bewies, dass er voller Schwung ins Esszimmer gesaust kam und seine bereits anwesende Familie mit einem fröhlichen "Guten Morgen zusammen!" begrüßte. Seto erlaubte sich ein minimales Schmunzeln, blieb aber ansonsten schweigsam während des Frühstücks. Und auch in der Limousine auf dem Weg zum Haus der Familie Muto, wo Mokuba sich wie in der letzten Woche absetzen lassen wollte, um gemeinsam mit Yuugi und Ryou zu Fuß zur Schule zu gehen, verlor Seto kein Wort. Er verabschiedete seinen kleinen Bruder nur mit einem knappen Nicken, aber zu seiner Erleichterung war Mokuba in dem Moment, als er Yuugi erblickte, so abgelenkt, dass ihm die Einsilbigkeit seines Bruders nicht auffiel. Er winkte Seto und Yami einfach nur enthusiastisch zu und schleifte Yuugi dann gleich mit zu Ryou – eine Aktion, die Yami beim Einsteigen ein leises Lachen entlockte. "Mein armer kleiner Yuugi kriegt heute bestimmt noch irgendwann einen Herzinfarkt." Jedenfalls wenn er sich selbst weiterhin so verrückt machte mit seinen Sorgen darüber, ob Rebecca und seine beiden besten Freunde einander wohl mögen würden. Damit hatte er am vergangenen Abend sich selbst und auch seinen älteren Bruder schon halb in den Wahnsinn getrieben, so dass Yami beinahe ein bisschen froh darüber war, dass sich jetzt Mokuba und Ryou mit Yuugis Nervosität herumschlagen ›durften‹. Hoffentlich schafften die beiden es, sein Wiesnäschen ein bisschen von alledem abzulenken, denn sonst würde Yuugi sicher spätestens am Nachmittag einfach irgendwann umkippen. Und diese Peinlichkeit würde er sich vor seiner angebeteten Rebecca ganz bestimmt nicht geben wollen. Noch immer mit deutlich sichtbarem Amüsement schwenkte Yami zu seinem besten Freund herum, sobald sein Bruder und Mokuba außer Sichtweite waren. Setos Gesichtsausdruck vertrieb das Amüsement jedoch fast augenblicklich. Zurück blieb ein besorgtes Stirnrunzeln. "Alles in Ordnung mit dir, Seto?", erkundigte Yami sich mitfühlend und der Angesprochene zog eine Grimasse. "Wie man es nimmt." Seto seufzte. "Vater hat mir gestern mitgeteilt, dass Ryuuji heute im Laufe des Tages nach Hause kommt", fasste er dann in Worte, was ihn schon seit dem vergangenen Abend beschäftigte, und Yami begann wieder zu lächeln. "Das ist doch gut", fand er. "So müsst ihr euch endlich nicht mehr fragen, wie es ihm gerade wohl geht." Was, zumindest in seinen Augen, eindeutig ein Vorteil war. Immerhin hatte Seto sich während der gesamten letzten Woche regelrecht selbst damit gefoltert, sich beinahe permanent um Otogi zu sorgen. Da war es doch gut, dass er jetzt endlich damit aufhören und sich mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, wie es seinem Stiefbruder ging. Und wenn Otogi es wirklich brauchen sollte, dann konnte Seto ihm ja vielleicht auch ein bisschen Trost spenden. Immerhin wusste er schließlich aus eigener Erfahrung, was Otogi im Augenblick durchmachte und wie er sich fühlen musste. Allerdings hütete Yami sich wohlweislich, auch nur eine Andeutung in diese Richtung zu machen. Seto hatte ihm von dem Gespräch erzählt, das sein Stiefbruder ihm am Abend vor dem ›Desaster‹, wie Seto es genannt hatte, aufgenötigt hatte. Und er hatte auch durchblicken lassen, dass er es einfach nicht schaffte, zu tun, was Otogi von ihm verlangt hatte. Er konnte einfach nicht vergessen – was, zumindest in Yamis Augen, vollkommen normal und absolut verständlich war. Aber auch das behielt er lieber für sich. Seto war momentan eindeutig nicht in der Stimmung für gute Ratschläge, das war nicht zu übersehen. Seto war sich nicht sicher, ob er Yamis positive Sichtweise des Ganzen wirklich teilte. Ja, ein Teil von ihm wollte nichts mehr als Ryuuji endlich wieder zu Hause zu haben. Aber der andere Teil fragte sich unablässig, wie er sich dem Schwarzhaarigen gegenüber verhalten sollte, wenn dieser erst mal wieder da war. Wahrscheinlich, sinnierte Seto, wäre es das Beste, wenn er wie bisher einigermaßen Abstand wahrte. Aber, fragte er sich unwillkürlich, konnte er das noch in dem Wissen, was derzeit in Ryuuji vorgehen musste? Er wusste es nicht und das war es, was ihn so durcheinander brachte. Konnte er wirklich ohne Hintergedanken für Ryuuji da sein? Wahrscheinlich nicht. Aber er musste es zumindest versuchen. Das war er seiner Familie und auch Ryuuji nach allem, was geschehen war, einfach schuldig. Das Halten der Limousine brachte Setos Gedankenkarussell für einen Augenblick zum Stehen – allerdings nur so lange, bis er gemeinsam mit Yami ausgestiegen war und sein Blick zu der Bank irrte, auf der, wie üblich, Jounouchi und Kinoshita hockten. Der Blondschopf hatte sich zwar in der vergangenen Woche für seine Verhältnisse erstaunlich ruhig verhalten, aber Seto war nicht entgangen, dass es unter der Oberfläche gebrodelt hatte. Auch jetzt schien der ganze Körper des Blonden bei seinem Anblick förmlich unter Strom zu stehen und die braunen Augen, die in seine Richtung sahen, zeigten selbst aus der Entfernung mehr als deutlich, was Jounouchi nur zu gerne mit ihm gemacht hätte. Es war wohl, wie im Verlauf der letzten Woche, auch jetzt nur Kinoshita zu verdanken, dass der Blondschopf nichts von dem, was ihm vorschwebte, auch wirklich umsetzte. Da er selbst allerdings zumindest Kinoshita am Montag zugesichert hatte, dass er Bescheid sagen würde, sobald er wusste, wann Ryuuji zurückkommen würde, straffte Seto sich und machte sich dann auf den Weg zu der Bank, Yami direkt neben sich. Zwei braune Augenpaare blickten ihnen entgegen und Seto, der keine Lust verspürte, das Ganze unnötig auszudehnen, sparte sich den Atem für eine Begrüßung. "Otogi kommt heute im Laufe des Nachmittags wieder nach Hause", ließ er Jounouchi und Kinoshita einfach nur knapp wissen, aber ehe er noch mehr sagen konnte, fiel ihm der Blondschopf auch schon ins Wort. "Wann?", wollte er wissen, die Hände zu Fäusten geballt. Es war nicht zu übersehen, dass er es nur unter Aufbietung aller Willenskraft schaffte, nicht aufzuspringen und seinen brünetten Klassenkameraden zu packen und zu schütteln. Auch Seto entging das nicht, aber er ging nicht darauf ein. "Das weiß ich nicht genau", gab er zurück und Jounouchi entwich ein Knurren. Er murmelte etwas, das verdächtig nach "zu nichts zu gebrauchen" klang, aber Seto tat so, als hätte er nichts gehört. Er war im Moment eindeutig nicht in der Stimmung für einen Streit mit der blonden Pest. Stattdessen beschloss Seto, etwas zu tun, was er unter normalen Umständen definitiv niemals getan hätte. Aber im Moment herrschten einfach keine ›normalen Umstände‹. Aus diesem Grund räusperte er sich kurz, ehe er wieder das Wort ergriff. "Wenn ihr beide heute Nachmittag noch keine anderen Pläne habt, könnt ihr gerne mitkommen und bei uns zu Hause auf Otogi warten", bot er dann an und überraschte damit nicht nur Jounouchi und Kinoshita, sondern auch seinen besten Freund. Yami starrte Seto nach dessen Worten an, als wäre ihm urplötzlich ein zweiter Kopf gewachsen. Hatte er sich verhört oder hatte Seto gerade wirklich und wahrhaftig ausgerechnet Jounouchi zu sich nach Hause eingeladen? Und nicht nur Jounouchi, sondern auch noch Kinoshita, dem Seto, seinen eigenen Worten zufolge, alles Mögliche und Unmögliche zutraute? Wie oft hatte er den Weißhaarigen schon als ›Kleinkriminellen‹ bezeichnet? Und jetzt wollte er ausgerechnet diese beiden nach der Schule mit zu sich nehmen? Otogi muss ihm wirklich verdammt viel bedeuten, wenn Seto dazu bereit ist, schoss es Yami durch den Kopf, aber er hütete sich, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Zu behaupten, das Angebot des Eisklotzes hätte Katsuya überrascht, wäre wohl die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Mit offenem Mund starrte er den Brünetten an, der inzwischen die Arme vor der Brust verschränkt hatte und ihn mit einem derart herablassenden Blick bedachte, dass ihm schon wieder Stacheln wuchsen. Aber, ermahnte Katsuya sich selbst, wenn er nicht riskieren wollte, dass der Eisklotz sein Angebot wieder zurücknahm, sollte er sich wohl besser zusammenreißen. "Gebongt", erklärte er sich daher nach einem kurzen Blickwechsel mit Bakura einverstanden. Er saß sowieso schon die ganze Woche auf heißen Kohlen, weil Ryuuji sich bisher immer noch nicht persönlich bei ihm gemeldet hatte. Wahrscheinlich ging es ihm einfach zu mies dafür. Aber er würde schon dafür sorgen, dass sein bester Freund wieder auf die Beine kam – natürlich erst nachdem er ihm ordentlich den Kopf dafür zurechtgerückt hatte, dass Ryuuji ausgerechnet Kaiba mit so einer Nachricht zu ihm geschickt hatte. Oder vielleicht würde er sich auch erst um ihn kümmern und ihm später den Kopf abreißen für diese bescheuerte Aktion. Katsuya war sich da noch nicht so ganz sicher. Aber das konnte er sich im Laufe des Tages ja noch in Ruhe überlegen. "Gut", war Setos einziger Kommentar dazu, ehe er sich abwandte und in Richtung des Schulgebäudes ging. Er hatte gesagt, was zu sagen gewesen war. Länger musste er sich selbst Jounouchis Gegenwart nun wirklich nicht antun. Jedenfalls noch nicht jetzt. Es reichte schon, dass er den Blonden wohl heute den ganzen Nachmittag würde ertragen müssen. Aber wenn er Ryuuji damit wenigstens ein bisschen helfen konnte, dann waren seine von der blonden Pest geschädigten Nerven ein geringer Preis dafür – und vor allem einer, den er nur zu gerne zu zahlen bereit war. Noch immer etwas überrumpelt von dem Geschehen, dessen Zeuge er gerade geworden war, folgte Yami seinem besten Freund ins Schulgebäude hinein. Dabei blieb er ein paar Schritte hinter ihm und schloss erst kurz vor dem Klassenraum wieder zu ihm auf. Und sobald er Seto eingeholt hatte, stieß er ihm einen Ellbogen in die Seite und schmunzelte, als sein bester Freund ihn halb fragend, halb verärgert ansah. Er sagte jedoch auch jetzt nichts, sondern zwinkerte Seto nur kurz zu und aus seinem Schmunzeln wurde ein Grinsen, als Seto als Antwort auf sein Zwinkern die Augen verdrehte. Wenn man ihn kannte, sinnierte Yami, dann war Seto eigentlich wirklich unheimlich leicht zu durchschauen. Allerdings hätte Yami ohne zu zögern sämtliche Artefakte der Ägypten-Ausstellung, die er in der letzten Woche gemeinsam mit Malik und Ishizu bearbeitet und katalogisiert hatte, darauf verwettet, dass außer ihm niemand jemals auch nur erahnen würde, was der Grund für das ungewöhnliche Verhalten seines besten Freundes war. Aber da das so bleiben sollte, schwieg er auch weiterhin, ließ sich mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen auf seinen Platz fallen und widmete seine Aufmerksamkeit dem Unterricht, dem heute sogar – welch ungewohnte Ehre! – Jounouchi und Kinoshita von Anfang an beiwohnten. Seto hätte seinen besten Freund gerne für sein nur allzu deutlich zur Schau gestelltes Amüsement zurechtgewiesen, aber da außer Yami niemand wusste, was mit ihm los war, unterließ er es und bemühte sich, seine eigene Konzentration auch auf den Unterricht zu lenken, aber das wollte ihm nicht so recht gelingen. Sein Vater hatte gesagt, dass Ryuuji irgendwann am Nachmittag wieder zu Hause sein würde, also war er wahrscheinlich jetzt schon im Flieger und auf dem Heimweg – ein Gedanke, der es Seto sehr schwer machte, ruhig sitzen zu bleiben. Der Unterricht war ihm noch nie zäher und überflüssiger vorgekommen als jetzt gerade. Musste es wirklich noch so elend lange dauern, bis es endlich zum Ende des Schultages klingelte und er wieder nach Hause konnte? oOo Als sein Wecker am Donnerstagmorgen piepste, schreckte Ryuuji viel zu früh nach einer viel zu kurzen Nacht aus wirren Träumen auf und brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Frisco. Dad. Max. Beisetzung, fiel es ihm gleich darauf wieder ein, aber dieses Mal zogen ihn die Gedanken nicht so sehr herunter wie in den letzten Tagen. Dafür, sinnierte er, während er seine Beine aus dem Bett schwang und sich auf den Weg ins Bad machte, hatte er heute auch gar keine Zeit. Immerhin ging sein Rückflug in knapp vier Stunden und vorher gab es noch einiges zu erledigen. Aus diesem Grund beeilte Ryuuji sich auch damit, sich zu duschen und anzuziehen. Sobald er fertig war, huschte er in die Küche hinüber und bereitete das Frühstück für Max und sich vor. Ein bisschen schade war es ja schon, dass es für eine Weile ihr letztes gemeinsames Frühstück sein würde, aber trotzdem freute ein Teil von ihm sich auch schon darauf, endlich wieder zurück nach Tokio zu kommen und seine Mutter wiederzusehen. Und nicht nur sie. Unwillig vertrieb Ryuuji die Gedanken an Seto, die sich ungebeten eingestellt hatten. Auch wenn zwischen ihnen so viel im Argen lag und sich das wohl auch nicht bessern würde, sein verräterisches Herz vermisste den Brünetten trotzdem. Ryuuji lachte unhörbar über sich selbst. Das ist so bescheuert! Er wusste ganz genau, dass er keine Chancen bei Seto hatte, aber trotzdem konnte er einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken und sich zu wünschen, dass es anders wäre. Mir ist echt nicht mehr zu helfen. Um sich endgültig von diesen nicht besonders hilfreichen Gedanken abzulenken, schaltete Ryuuji schließlich das Radio in der Küche ein, suchte nach einem Oldies-Sender und summte zufrieden mit, sobald er Musik gefunden hatte, die ihm zusagte. Und diese Musik war es auch, die Maximilian irgendwann in die Küche lockte. Lächelnd lehnte er sich in den Türrahmen und beobachtete seinen Patensohn dabei, wie dieser sich um das Frühstück kümmerte. Er hat den gleichen Musikgeschmack wie James, ging es ihm durch den Kopf und sein Lächeln bekam etwas Wehmütiges, das er schnell wieder unterdrückte. Er wollte ganz sicher nicht die letzten Stunden, die Duke hier mit ihm verbringen würde, durch dunkle Gedanken kaputtmachen. "Das sieht köstlich aus", machte Maximilian seinen Patensohn daher auf seine Anwesenheit aufmerksam und als dieser ihm gut gelaunt zuzwinkerte, schob er sämtliche Erinnerungen an James fürs Erste beiseite. Damit konnte er sich auch später noch befassen, wenn der Junge erst mal im Flugzeug und auf dem Heimweg nach Tokio war und er sich selbst auch wieder auf den Weg nach Hause machen würde. Dann hatte er immer noch genug Zeit zum Grübeln. "Das will ich doch hoffen. Ich hab mir extra viel Mühe gegeben." Ryuuji stapelte die Pancakes, die er zubereitet hatte, auf zwei Teller und schob einen davon Max zu. Dann nahm er gemeinsam mit seinem Patenonkel Platz und machte sich daran, die Pancakes zu vernichten. Vor ihm lag ein langer Tag und ein wenig mulmig war ihm schon beim Gedanken an den Heimflug, aber er schob dieses Gefühl in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. Damit würde er sich befassen, wenn er erst mal im Flieger saß, vorher nicht. Dafür war ihm die Zeit, die er jetzt noch mit Max hatte, zu wertvoll. Nach dem Frühstück spülte Ryuuji noch eben das Geschirr und Besteck und verstaute alles wieder an Ort und Stelle, während Maximilian sich schon mal um den gemieteten Wagen kümmerte. Gemeinsam hievten die beiden anschließend die Kartons mit den Sachen, die Ryuuji mitnehmen wollte, in den Wagen und verstauten schlussendlich auch noch seinen Koffer bei den Kartons. Sobald das erledigt war, stieg Maximilian schon mal in den Wagen. Ryuuji indessen machte noch einen letzten kurzen Abstecher auf die Terrasse, um sich in aller Ruhe von dem Ausblick zu verabschieden. "Bye, Dad. Bis dann", murmelte er leise, atmete noch einmal tief durch und wandte sich dann endgültig ab, um zu gehen. Der Flug würde zwar dadurch, dass es sich um eine Privatmaschine handelte, definitiv nicht ohne ihn starten, aber er wollte sich trotzdem nicht verspäten. Er hatte mit Gozaburo-san immerhin einen Zeitplan ausgemacht, an den er sich auch zu halten gedachte. Schließlich würde seine Mutter sich sonst nur unnötige Sorgen machen, wenn er nicht zur verabredeten Zeit da sein würde. "Wir können", ließ Ryuuji Max wissen, sobald er auf den Beifahrersitz gerutscht war und sich angeschnallt hatte. Maximilian nickte nur, startete den Wagen und machte sich auf den Weg zum Flughafen. Wie in der Küche lief auch jetzt das Radio und Ryuuji schmunzelte unwillkürlich, als ihm gleich als zweites ›Jailhouse Rock‹ entgegenschallte. "Dad hat sämtliche Platten von Elvis", erinnerte er sich und stellte ein wenig erstaunt fest, dass es jetzt gerade gar nicht wehtat, darüber zu reden. "Allerdings hab ich die nicht mitgenommen." Immerhin hatte sein Vater die Platten in seinem Schlafzimmer aufbewahrt und dieses hatte er selbst in der vergangenen Woche nur ein einziges Mal betreten. Allerdings hatte er sich da nur kurz in dem Raum umgesehen und ihn sich eingeprägt, aber mitgenommen hatte er nichts. Dass Maximilian erst am Vorabend noch heimlich die Fotos, die sein Vater dort an den Wänden und auch auf seinem Nachttisch gehabt hatte, in seinen Koffer gepackt hatte, ahnte Ryuuji noch nicht. "Ich weiß." Auch Maximilian erlaubte sich ein kleines Lächeln. "Er kannte jeden einzelnen Song auswendig", schwelgte nun auch er in Erinnerungen und vom Sitz neben ihm kam ein leises Lachen. "Ja, er hat immer mitgesungen. Nur, dass Dad eine furchtbare Singstimme hatte. Er hat nie auch nur einen einzigen richtigen Ton getroffen." Ryuuji schauderte gespielt. Er selbst hatte seinen Vater mit schöner Regelmäßigkeit damit aufgezogen. Ryuuji lächelte etwas wehmütig. Trotz allem hatte er es geliebt, wenn sein Dad trällernd durchs Haus gelaufen war, denn dann war er meistens einfach nur richtig gut drauf gewesen und sie hatten sich an solchen Tagen eigentlich fast nie gestritten. "Er hat schon früher immer schrecklich schief gesungen, als wir noch in der Schule waren." Maximilian lachte leise. "Es war regelrecht Folter, ihm zuhören zu müssen", schob er noch hinterher und zog eine Grimasse, aber das Amüsement war ihm dennoch deutlich anzusehen. "Du warst schon immer sehr viel musikalischer als dein Vater", wandte er sich an seinen Patensohn und dieser bedachte ihn mit einem warmen Lächeln. "Was nicht zuletzt an dir liegt. Du hast auch mehr Taktgefühl und Talent als Dad auf diesem Gebiet je hatte." Immerhin war es Max gewesen, der ihm in seiner Kindheit das Klavierspielen beigebracht hatte – etwas, wozu ihm zwar oft die Gelegenheit fehlte, was er aber eigentlich immer noch sehr gerne tat. Maximilian, dem ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen, nickte einfach nur, während er den Blinker setzte und der Beschilderung in Richtung Flughafen folgte. "James hat dir immer sehr gerne beim Spielen zugehört." Zwar hatte sein bester Freund selbst keinerlei musikalisches Talent gehabt, aber er war sehr stolz auf seinen Sohn gewesen, das wusste Maximilian. "Und nicht nur er. Deine Mutter und ich auch", fügte er noch hinzu und Ryuuji blickte aus dem Beifahrerfenster. "Ich hab auch immer gerne für euch gespielt", gab er mit einem leisen Seufzen zu, ohne Max anzusehen. Bevor dieser jedoch etwas unternehmen konnte, um dem Stimmungsknick entgegenzuwirken, straffte Ryuuji sich jedoch auch schon und sah seinen Patenonkel doch wieder an. Er würde sich jetzt ganz sicher nicht das letzte bisschen Zeit, das er heute noch mit Max verbringen konnte, selbst durch seine trüben Gedanken verderben. "Dazu hatten wir zwar dieses Mal keine Gelegenheit, aber vielleicht klappt's ja, wenn ich das nächste Mal hier bin", bot er Max daher an und sah deutlich die Erleichterung, die sich bei diesen Worten auf dessen Gesicht abzeichnete. "Das würde mich freuen. Du weißt ja, wo du mich und mein Klavier findest", gab Maximilian zurück und nun war es an Ryuuji zu nicken. Natürlich wusste er, wo er Max finden konnte – genauso wie er wusste, dass Max immer für ihn da sein würde, wenn er ihn brauchen sollte. Das hatte er schließlich in den letzten Tagen wieder mal bewiesen. Das Bremsen des Wagens unterbrach Ryuujis Gedanken. Gemeinsam mit Max stieg er aus, ließ die notwendigen Formalitäten über sich ergehen und beobachte aus dem Augenwinkel, wie sein Gepäck und die Kartons im Flieger verstaut wurden. Sobald das erledigt war, verkniff er sich ein Seufzen. Jetzt ging es also wieder zurück nach Tokio zu all dem, was er am Sonntag dort zurückgelassen hatte. Und dorthin würde Max ihn nicht begleiten. Leider. "Komm gut nach Hause, Duke. Und melde dich, sobald du angekommen bist, in Ordnung?", wandte Maximilian sich an seinen Patensohn und dieser nickte. "Mach ich, Max. Versprochen", gab er sein Wort und machte sich nach einer letzten kurzen Umarmung auf den Weg in den Flieger. Er wollte diesen Abschied weder für Max noch für sich selbst unnötig in die Länge ziehen. Max hatte auch so noch genug zu tun. Und für ihn selbst wurde es auch höchste Zeit, dass er wieder zurück nach Tokio und zu seiner Familie kam. Ryuuji hatte es sich gerade einigermaßen bequem gemacht, als die Maschine bereits auf die Startbahn rollte. Nur wenige Minuten später hob sie auch schon ab und als er San Francisco unter sich immer kleiner werden sah, schloss er mit einem zittrigen Seufzen die Augen und lehnte sich in dem bequemen weißen Ledersitz, in dem er saß, zurück. Es tat weh, dieses Stück Heimat hinter sich zu lassen, weil er ganz genau wusste, dass endgültig nichts mehr sein würde wie vorher, wenn er das nächste Mal herkam. Sein Dad würde ihn nie wieder erwarten. Das Wissen war auch jetzt, vier Tage nach der Beisetzung, immer noch schmerzhaft. Genug davon, rief Ryuuji sich selbst zur Ordnung, hielt seine Augen aber trotzdem geschlossen. Er war am vergangenen Abend – oder vielmehr in der vergangenen Nacht – extra erst sehr spät schlafen gegangen, damit er nicht den ganzen Heimflug wach verbringen musste. Immerhin waren neuneinhalb Stunden ja nun wirklich kein Pappenstiel. Und komplett matschig und unausgeschlafen wollte er definitiv nicht bei seiner Familie ankommen. Seine Mutter sollte immerhin merken, dass es ihm besser ging als am Sonntag. Aber das würde nichts werden, wenn er total zerknittert und übermüdet aussah. Aus diesem Grund rutschte Ryuuji in dem bequemen weißen Ledersessel etwas weiter nach hinten, streckte seine Beine lang aus und seufzte. Ein paar Stunden Schlaf, dachte er müde, würden ihm sicher gut tun. Das gleichmäßige Brummen der Motoren tat ein Übriges dazu, ihn ins Reich der Träume zu ziehen, und als Ryuuji die Augen schließlich wieder aufschlug, sagte ihm ein Blick auf seine Uhr, die er in weiser Voraussicht bereits am Vorabend wieder auf japanische Zeit eingestellt hatte, dass er inzwischen nur noch eine knappe halbe Flugstunde vor sich hatte. Tatsächlich hatte er also fast den ganzen Flug über tief und fest geschlafen. Eindeutig länger, als er geplant gehabt hatte, aber das war ja nicht so schlimm. Jetzt jedenfalls fühlte er sich wach. Er war zwar ein bisschen steif vom langen Sitzen, aber ansonsten ging es ihm gut. Verhalten gähnend reckte Ryuuji sich und setzte sich dann wieder aufrecht hin, um den Rest des Fluges auch noch hinter sich zu bringen. Etwas mehr als eine Stunde später war es endlich so weit, dass er nicht nur endlich wieder festen Boden unter den Füßen, sondern auch die nach der Landung erforderlichen Formalitäten für seine Einreise alle erledigt hatte. Die Kartons, hatte ihm der Pilot versichert, würden, ebenso wie sein Koffer, später abgeholt und direkt zur Villa gebracht werden, so dass er sich darum nicht auch noch kümmern musste. Dafür schulde ich Gozaburo-san eindeutig was, sinnierte Ryuuji und schmunzelte unwillkürlich, als er vor dem Terminal auch schon eine sehr vertraute Gestalt neben der kaibaschen Limousine stehen sah. Ganz offenbar war Isono-san hergeschickt worden, um ihn abzuholen. Da seine Mutter allerdings, wie Ryuuji wusste, um diese Zeit definitiv noch nicht zu Hause sein würde, beschloss er, seinen Plan vom Vortag doch in die Tat umzusetzen. Es war ganz bestimmt nicht verkehrt, wenn er sich endlich persönlich mit Katsuya auseinandersetzte. Dass er dadurch unweigerlich auch Seto in nicht allzu ferner Zukunft wiedersehen würde, hatte, dessen war Ryuuji sich durchaus bewusst, einen nicht unwesentlichen Einfluss auf seine Entscheidung. "Guten Tag, Isono-san. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich erst kurz zur Schule zu fahren und mich da abzusetzen?", wandte er sich an Gozaburo-sans Assistenten und sobald dieser genickt und ihm die Tür der Limousine geöffnet hatte, stieg Ryuuji ein und ließ sich mit klopfendem Herzen in die weichen Polster sinken. Um sich abzulenken, zog er während der Fahrt sein Handy heraus und schrieb Max eine Nachricht, dass er gut angekommen und jetzt auf dem Heimweg war. Von seinem kurzen Abstecher zur Schule erwähnte er allerdings nichts. Er hatte Max zwar in den letzten Tagen ein paar Dinge über Mokuba und auch über Seto erzählt, aber längst nicht alles. Obwohl er sich des Eindrucks nicht hatte erwehren können, dass Max ihn diesbezüglich vielleicht doch durchschaut hatte. Allerdings hatte er nichts dazu gesagt und Ryuuji war ihm dankbar dafür gewesen. Kaum dass er die Nachricht geschrieben und abgeschickt und das Handy wieder eingesteckt hatte, kam der Parkplatz der Schule auch schon in Sicht. Sofort kehrte auch das Herzrasen mit voller Wucht zurück und Ryuuji schüttelte grinsend den Kopf über sich selbst. Ihm war wirklich nicht mehr zu helfen, so viel stand unumstößlich fest. Aber da er Isono-san ja selbst gebeten hatte, ihn hier abzusetzen, konnte er jetzt wohl schlecht noch kneifen. Und das wollte er auch gar nicht, also stieg er aus und schlenderte nach einem kurzen Gespräch mit Isono-san, der ihm versicherte, hier auf ihn und Seto zu warten, zu der Bank auf dem Schulhof, auf der er in den Pausen immer mit Katsuya und Bakura gesessen hatte. Noch war der Schulhof vollkommen leer, aber ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte deutlich, dass es nicht mehr lange so bleiben würde, also machte Ryuuji es sich bequem und wartete. Kapitel 33: Überraschung ------------------------ Für Seto war der Schultag eine einzige, langgezogene Qual. Er war mit seinen Gedanken ganz und gar nicht beim Unterrichtsstoff – etwas, was seinem besten Freund keinesfalls entging. Und da Seto nicht den Eindruck machte, als wäre er heute dazu in der Lage, eigenhändig irgendetwas mitzuschreiben, übernahm Yami das kommentarlos für ihn. Immerhin, argumentierte er vor sich selbst, würde Otogi ja auch die Unterlagen brauchen, die sie heute bekommen hatten. Und wenn Seto sich nicht darum kümmern konnte, dann würde er das eben tun. War ja kein Problem. Als endlich das erlösende Klingeln der Schulglocke das Ende des Schultages verkündete, entfuhr Seto ein abgrundtiefes Seufzen, das jedoch, sehr zu seiner Erleichterung, im Geräuschpegel der allgemeinen Aufbruchsstimmung seiner Mitschüler unterging. "Wurde auch Zeit!", grollte er und Yami neben ihm lachte leise, ehe er ihm die Mitschrift zuschob, die er während des überaus langweiligen Unterrichts von Hara-sensei sauber in zweifacher Ausfertigung angefertigt hatte. "Für Otogi und für dich. Du warst ja heute in gänzlich anderen Sphären unterwegs", neckte Yami seinen besten Freund und lachte noch etwas lauter über den bösen Blick, mit dem er dafür bedacht wurde. Seto grummelte zwar, schob aber die Blätter trotzdem vorsichtig in seine Schultasche. "Danke, Yami", murmelte er dabei so leise, dass es kaum zu verstehen war, aber sein bester Freund hörte ihn ohne Probleme. "Keine Ursache, Seto. Dafür sind Freunde doch da", gab er zurück, stieß den Brünetten mit dem Ellbogen an und nickte dann in Richtung der Klassenraumtür. Jounouchi und Kinoshita waren, wie üblich, bereits beim Klingeln aufgestanden und unter den ersten ihrer Klassenkameraden gewesen, die den Klassenraum verlassen hatten, aber der weiße Schopf Kinoshitas war im Flur immer noch deutlich sichtbar. Ganz offenbar wartete er gemeinsam mit Jounouchi auf Seto, damit dieser sein Versprechen vom Morgen auch wirklich in die Tat umsetzte. Der Brünette, dem das keinesfalls entgangen war, straffte sich, ehe er sich seine Tasche schnappte. Sich vor dem, was er selbst angeboten hatte, zu drücken war zwar verlockend, aber eines Kaibas ganz und gar nicht würdig. Er hatte sein Wort gegeben, die blonde Pest und sein weißhaariges Anhängsel mitzunehmen, und genau das würde er auch tun – ganz egal, wie sehr allein die Aussicht darauf, die Gesellschaft der beiden genießen zu dürfen, ihm gegen den Strich ging. Aber er tat das hier ja auch schließlich nicht für sich, sondern einzig und allein für Ryuuji. Ohne ein Wort zu sagen, ging Seto an seinen beiden im Flur wartenden Klassenkameraden vorbei. Wie nicht anders erwartet schlossen sie sich ihm ebenso an wie Yami es tat. Jounouchis Knurren darüber, dass er sich wie das letzte Arschloch aufführte, ignorierte Seto, so gut es ging. Wenn er jetzt auf die Beleidigungen des Köters einstieg, dann würde es nur wieder Streit geben. Und das sollte ganz sicher nicht das Erste sein, was Ryuuji hörte, wenn er nach Hause kam. Seto war so in seine Gedanken verstrickt, dass er die Gestalt, die auf einer der Bänke auf dem Schulhof saß, anfangs gar nicht bemerkte. Erst als Jounouchi mit einem Aufschrei seine Schultasche förmlich Kinoshita in die Arme warf und dann zu ebendieser Bank hinübersprintete, bemerkte Seto, dass sein Stiefbruder offenbar schon da war. Wie angewurzelt blieb er mitten auf dem Schulhof stehen. Zusehen zu müssen, wie der Schwarzhaarige von der Bank aufstand und sich von der blonden Pest zur Begrüßung umarmen ließ, war alles andere als leicht. Aber, ermahnte er sich selbst, es war nun mal, wie es war. Und wenn Jounouchi Ryuuji wirklich helfen konnte, dann würde er den Kläffer eben zu ertragen lernen – ganz egal, wie schmerzhaft auch der Stich war, den der Anblick der beiden zusammen ihm versetzte. Ryuuji, der mit so einer Aktion Katsuyas fast schon gerechnet hatte, lachte leise, als der Blondschopf ihn fest umarmte und ihn dabei gleichzeitig dafür anmaulte, dass er sich nicht früher gemeldet hatte. Das war einfach so typisch für Katsuya. Und es tat ungemein gut, also drückte Ryuuji seinerseits seinen besten Freund erst mal ebenso fest an sich, ehe er sich nach einer Weile wieder aus der Umklammerung löste und den Blonden etwas von sich schob. "Sorry, Kats, aber ich musste erst mal selbst damit klarkommen", erklärte er dann, warum er es seinem Stiefbruder überlassen hatte, seinen besten Freund zu informieren. "Schon klar, du Arsch", grummelte dieser, aber er schien eher erleichtert als wirklich noch verärgert zu sein – eine Tatsache, die Ryuujis schlechtes Gewissen gleich wieder etwas beruhigte. Ihm war klar gewesen, dass Katsuya sich seinetwegen auch Sorgen machen würde, aber in der vergangenen Woche hatte er einfach nicht die Nerven dafür gehabt, sich damit auseinanderzusetzen. "Trotzdem hättest du dich zwischendurch mal melden können, du Sack", motzte Katsuya weiter und boxte seinem besten Freund in die Seite, als dieser über seine Beschwerde einfach nur grinste. "Ich weiß, ich weiß. Sorry", entschuldigte Ryuuji sich noch einmal, aber ehe er weiterreden konnte, mischte Seto, der seine Starre inzwischen wieder überwunden hatte, sich in das Gespräch ein. "Wir sollten dann vielleicht langsam aufbrechen", sagte er mit einem knappen Nicken in Richtung der wartenden Limousine, ehe er seine Aufmerksamkeit auf seinen Stiefbruder richtete. Der gleichermaßen gefürchtete wie herbeigesehnte Blickkontakt mit den faszinierenden grünen Augen ließ ihn unmerklich schlucken, doch er riss sich schnell wieder zusammen. "Ich habe Jounouchi und Kinoshita heute Morgen angeboten, bei uns zu Hause auf dich zu warten. Ich wusste ja nicht, dass du schon so früh wieder da sein und direkt zur Schule kommen würdest." Setos Worte überraschten Ryuuji zugegebenermaßen sehr. Er wusste immerhin genau, wie wenig Seto und Katsuya einander ausstehen konnten. Und trotzdem hatte Seto Kats und auch Bakura in die Villa eingeladen? Meinetwegen, ging es Ryuuji durch den Kopf und er lächelte unwillkürlich – ein Lächeln, das Seto vollkommen kalt erwischte. Was hatte das denn jetzt zu bedeuten? "Das ist nett von dir, Seto." Um ein Haar hätte Ryuuji seinen Stiefbruder aus Dankbarkeit – und vielleicht ein winziges bisschen auch noch aus einem anderen Grund – umarmt, aber er erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, dass Seto das ganz und gar nicht mochte. Ist wahrscheinlich auch besser so. Immerhin war die Gefahr, sich zu verraten, wenn er sich zu so etwas hinreißen ließ, einfach zu groß. Aus diesem Grund schenkte er dem Brünetten einfach nur noch ein weiteres Lächeln und wandte sich dann Katsuya und Bakura zu. Das Gefühlschaos, das diese simple Geste in Setos Innerem auslöste, bemerkte er nicht. "Wärt ihr mir sehr böse, wenn wir das Ganze auf morgen verschieben? Ich bin heute ziemlich groggy und sollte vielleicht erst mal in aller Ruhe mit meiner Mum sprechen. Ihr könnt ja morgen Nachmittag vorbeikommen, okay?" Katsuya sah im ersten Moment nicht so aus, als wäre er bereit, auf den Vorschlag einzugehen, aber noch bevor er etwas sagen konnte, hatte Bakura auch schon genickt. "Machen wir", versicherte er und Ryuuji lächelte ihn erleichtert an, ehe er sich wieder seinem besten Freund zuwandte. "Du kannst mir dann gerne morgen in aller Ausführlichkeit den Kopf abreißen, in Ordnung?", bot er an und obwohl Katsuya das eigentlich nicht wollte, musste er doch ein wenig grinsen. "Das werd ich, darauf kannst du dich verlassen!", versprach er, drückte Ryuuji noch mal und machte sich dann nach kurzem Zögern gemeinsam mit Bakura auf den Heimweg. Es war zumindest schon mal beruhigend zu wissen, dass sein bester Freund wieder da war und dass es ihm nicht allzu schlecht ging. Und wenn er wirklich mit Jetlag zu kämpfen hatte, dann würde es heute ohnehin keinen Spaß machen, ihm ordentlich die Leviten zu lesen für den Mist, den er sich da geleistet hatte. Außerdem konnte Katsuya durchaus verstehen, dass sein bester Freund erst mal mit seiner Mutter sprechen wollte. Aber aufgeschoben war ja nicht aufgehoben. Er würde Ryuuji morgen schon deutlich zeigen, was er davon hielt, dass der ihm den Eisklotz praktisch auf den Hals gehetzt hatte. Schmunzelnd schüttelte Ryuuji den Kopf, ehe er sich wieder zu seinem Stiefbruder und dessen bestem Freund umwandte. Seto ging gleich voraus in Richtung der Limousine, denn er hegte die Befürchtung, den Aufruhr in seinem Inneren – eine Mischung aus Erleichterung darüber, dass Jounouchi und Kinoshita doch nicht mitkommen würden, und Nervosität aus eben diesem Grund – nicht gut genug verbergen zu können. Yami jedenfalls sah aus, als wüsste er ganz genau, was in ihm vorging. Allerdings enthielt er sich auch jetzt jeglichen Kommentars und Seto war ihm absurd dankbar dafür. Auf dem Weg zum Parkplatz grübelte Yami die ganze Zeit vor sich hin. Dadurch, dass Otogi Jounouchi und Kinoshita auf den nächsten Tag vertröstet hatte, war der heutige Tag – zumindest in seinen Augen – der perfekte Zeitpunkt für eine Aussprache zwischen Seto und Otogi. Aber wie sollte er Seto das klarmachen, ohne dass Otogi etwas davon mitbekam? Und wie sollte er selbst sich absetzen, ohne dass es allzu auffällig wirkte? Immerhin schien Seto ihn für die Heimfahrt schon fest eingeplant zu haben. Und so wirklich Lust zum Laufen hatte Yami eigentlich auch nicht, wenn er ehrlich war. Während er noch über eine Lösung für das Dilemma nachsann, kam ihm der Zufall zur Hilfe. "Hey, Yami!", wurde er gerufen, als sie zu dritt den Parkplatz erreichten, und als Yami aufblickte, sah er Malik an sein Motorrad gelehnt dastehen. Er hatte den Ersatzhelm in der Hand und auf seinen Lippen lag wieder mal dieses ganz spezielle, unwiderstehliche Grinsen, das Yamis Magen in Aufruhr versetzte, wann immer er es zu sehen bekam. "Ich dachte mir, ich hole dich heute mal ab", fuhr der Ägypter fort und nun setzte sich auch auf Yamis Lippen ein Grinsen fest. Das war ja perfekt! "Klasse!", verlieh er seiner Freude daher auch verbal Ausdruck und drehte sich kurz zu seinem besten Freund um. "Wir sehen uns dann am Montag in der Schule, Seto", verabschiedete er sich, doch sein Blick machte deutlich, dass der Brünette ihn jederzeit auch vorher anrufen konnte, wenn etwas sein sollte. ›Mach was aus der Chance‹, versuchte Yami seinem besten Freund nonverbal zu übermitteln, aber er war sich nicht ganz sicher, ob die Botschaft auch angekommen war. Allerdings sah Seto nicht unbedingt erbost aus, also war wohl doch alles okay. "Viel Spaß und bis Montag", wünschte Seto seinem besten Freund und ließ sich tatsächlich zu einem minimalen Schmunzeln hinreißen. Ihm war nicht entgangen, wie sehr Yami förmlich strahlte, seit er Malik gesehen hatte. Und die Eile, mit der er zu dem Ägypter sprintete, den Helm entgegennahm, aufsetzte und sich hinter Malik auf das Motorrad schwang, sprach in seinen Augen auch eine sehr eindeutige Sprache. Also, schlussfolgerte Seto, hatte er sich doch nicht getäuscht mit seiner Vermutung, dass sein bester Freund eine ziemliche Schwäche für den Ägypter entwickelt hatte, auch wenn sie sich noch nicht sehr lange kannten. "Bis dann!" Noch ein letztes Winken in Richtung von Seto und Otogi, dann war Yami auch schon weg und ließ Seto mit seinem Stiefbruder und seinem Gefühlschaos alleine zurück. Oder zumindest fast alleine, denn Isono-san war auch noch da. Und er hielt die hintere Tür der Limousine bereits auf, so dass Seto sich zusammenriss und einstieg. Ryuuji tat es ihm gleich, nahm auf der Bank ihm gegenüber Platz und Seto schluckte unwillkürlich. Dadurch, dass sowohl Yami als auch Jounouchi und Kinoshita nicht dabei waren, waren Ryuuji und er während der gesamten Heimfahrt ganz alleine – eine Gewissheit, die alles in ihm in Aufruhr versetzte. Was sollte er sich jetzt bloß verhalten? "Wie fühlst du dich?" Die Frage seines Stiefbruders, die irgendwann das zwischen ihnen herrschende Schweigen brach, brachte Ryuuji, der nach dem Einsteigen sicherheitshalber aus dem Fenster geblickt hatte, dazu, seinen Gegenüber doch noch anzusehen. "So lala", beantwortete er die Frage wahrheitsgemäß und zog eine Grimasse, ehe er sich zu einem leisen Seufzen hinreißen ließ. Es war merkwürdig, ganz alleine mit Seto zu sein. Zwar war Isono-san auch noch da, aber da er gleich nach dem Einsteigen die Trennscheibe hochgefahren hatte, waren sie jetzt gerade trotzdem komplett ungestört – ein Gedanke, der sich trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, seltsam angenehm anfühlte. Seto, der Ryuuji die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte, nickte leicht. Dass der Schwarzhaarige noch nicht ganz auf der Höhe war, war ihm nicht entgangen. Aber er wirkte wenigstens auch nicht mehr so gebrochen und fertig wie am Sonntag und das verbuchte Seto als zumindest annähernd gutes Zeichen. Er wusste aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass es seine Zeit brauchte, um die Trauer zu verarbeiten. Und wieder war da der Drang, Ryuuji zu sich zu ziehen und ihn in den Arm zu nehmen, aber auch dieses Mal kämpfte er erfolgreich dagegen an. "Deine Mutter hat sich große Vorwürfe gemacht, weil sie dich alleine hat fliegen lassen." Dass es ihm selbst nicht besser gegangen war, verschwieg Seto sicherheitshalber lieber. Das war sicher nichts, was Ryuuji hören wollte. Aber er wollte auch nicht, dass sich wieder Schweigen zwischen ihnen ausbreitete. "Dachte ich mir schon", erwiderte der Schwarzhaarige und seufzte erneut. "Aber das muss sie nicht. Ich hab die Zeit für mich gebraucht", murmelte er und blinzelte überrascht, als Seto auf diese Worte hin nickte. "Ich weiß, was du meinst", erinnerte dieser Ryuuji daran, dass Seto tatsächlich aus eigener Erfahrung wusste, wie er selbst sich gerade fühlte. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass Seto und Mokuba ihre Mutter verloren hatten, als Seto sieben und Mokuba vier Jahre alt gewesen waren. "Das war sicher hart. Das mit eurer Mutter, meine ich", sprach Ryuuji seinen Gedanken laut aus und Seto zögerte einen Moment lang, dann nickte er wieder. "Sehr", gab er zu und wandte nun seinerseits den Blick aus dem Fenster. "Sie fehlt mir auch heute noch. Aber mit der Zeit tun die Erinnerungen weniger weh", ließ er seinen Stiefbruder leise wissen und sah in der Fensterscheibe, wie dieser wieder schwach zu lächeln begann. "Gut zu wissen." Ryuuji strich sich eine verirrte Strähne hinters Ohr. Es war irgendwie verdammt seltsam, ausgerechnet mit Seto über das zu reden, was passiert war. Bei Katsuya wusste er genau, dass dieser ihn und seine Gefühle verstehen konnte. Er selbst war schließlich damals – zumindest zeitweilig – hautnah mit dabei gewesen, als Katsuyas Mutter und seine heißgeliebte kleine Schwester Shizuka gestorben waren. Er hatte aus nächster Nähe miterlebt, wie schwer diese Zeit für Katsuya und auch für Chiaki gewesen war. Chiaki hatte sehr lange gebraucht, um den Tod seiner Frau und seiner kleinen Tochter zu verwinden. Er hatte kurz danach angefangen zu trinken und sich erst wieder zusammengerissen, als ihm irgendwann klargeworden war, dass er nicht als Einziger unter dem Verlust der beiden litt und dass er immer noch seinen Sohn hatte, der ihn brauchte. Aber daran, dass nicht nur sein bester Freund, sondern auch Seto aus eigener Erfahrung wusste, wie es ihm im Moment ging, hatte Ryuuji gar nicht gedacht, bis Seto es von selbst erwähnt hatte. "Es war verdammt hart, nach Hause zu kommen und zu wissen, dass nichts mehr so ist wie es war." Ryuujis Spiegelung in der Scheibe blinzelte mehrmals, aber Seto war das kurze Aufwallen von Tränen in den grünen Augen nicht entgangen. Wieder war da der Drang, zu dem Schwarzhaarigen zu rutschen und ihn zu trösten, aber ehe er sich wirklich zu etwas Derartigem hinreißen lassen konnte, hielt die Limousine an und als Isono die Tür für sie beide öffnete, war der Moment endgültig dahin. Seto war sich nicht sicher, ob er froh darüber sein oder es lieber bedauern sollte. Wahrscheinlich war es besser, dass er Ryuuji nicht zu nahe gekommen war, aber den Wunsch danach konnte er trotzdem nicht abschütteln. Gemeinsam mit Seto betrat Ryuuji die Villa und sah sich suchend um. Seine Mutter würde frühestens in zwei Stunden nach Hause kommen, das war ihm klar, aber dass auch von Mokuba keine Spur zu sehen war, verwunderte ihn doch ein bisschen. "Mokuba ist heute Nachmittag mit Yuugi und Ryou unterwegs", erriet Seto die Gedanken seines Stiefbruders und dieser schmunzelte unwillkürlich. "So offensichtlich, ja?", erkundigte er sich und der neckende Unterton verschaffte Seto eine Gänsehaut. Er hatte so sehr darauf gehofft, diesen Ryuuji nach seiner Heimkehr irgendwann wiedersehen zu können. Dass es jetzt schon so früh der Fall war, überforderte ihn allerdings ein wenig. Trotzdem war er fest entschlossen, sich nichts davon anmerken zu lassen. "Ziemlich", ging er daher mit etwas Mühe auf den lockeren Plauderton seines Stiefbruders ein und erlaubte sich auch ein winziges Lächeln. Er hatte in der ganzen vergangenen Woche immer wieder das Bild von Ryuuji beim Frühstück am Sonntag vor Augen gehabt, in seinem Blick dieses unbeschreibliche Entsetzen, als Isono den morgendlichen Besuch angekündigt hatte. Jetzt zu sehen, dass Ryuuji sich zumindest ein bisschen wieder gefangen hatte, erleichterte ihn ungemein. "Na, dann begrüße ich den Kleinen halt später", tat Ryuuji Mokubas Abwesenheit mit einem Achselzucken ab, auch wenn es ihm ehrlich gesagt schon lieber gewesen wäre, Mokuba als Puffer da zu haben. Das Wissen, dass er jetzt gerade immer noch mit Seto alleine war, bekam seinem Herzen ganz und gar nicht. Bevor er jedoch irgendetwas unternehmen oder einfach nach oben in sein Zimmer gehen konnte, um aus Setos Nähe zu kommen, hielt dieser ihm einen Stapel Papier entgegen, den er aus seiner Tasche gezogen hatte. "Die Mitschriften von heute", informierte Seto seinen Stiefbruder. "Die restlichen Unterlagen habe ich oben in meinem Zimmer", fügte er noch hinzu und Ryuuji blinzelte irritiert, ehe auf seinen Lippen wieder dieses umwerfende Lächeln erschien, das Setos Herzschlag ganz gehörig durcheinander brachte. Er brauchte Abstand, aber dringend, denn sonst, dessen war er sich ziemlich sicher, würde er sich nur zu etwas hinreißen lassen, das er später ganz sicher bereuen würde. Immerhin, erinnerte er sich bitter, hatte Ryuuji ihm ja vorgeschlagen, er solle alles einfach vergessen – etwas, was ihm einfach nicht gelingen wollte. Ryuuji überrumpelt von dieser Aktion zu nennen wäre eindeutig untertrieben gewesen. Irritiert wanderten die grünen Augen zwischen dem Papierstapel und Seto hin und her – so lange, bis Seto es nicht mehr länger aushielt. "Du kannst sie dir ja später abholen, wenn du willst. Allzu eilig ist das nicht." Mit diesen Worten ließ er seinen Stiefbruder stehen und ging hoch. Er hatte allerdings nicht vor, lange in seinem Zimmer zu bleiben. Seine Hausaufgaben, beschloss er auf dem Weg nach oben, würde er auf morgen verschieben. So hätte er dann auch gleich eine Ablenkung, wenn der Köter und sein Anhängsel wirklich herkamen, um Ryuuji zu besuchen. "Danke, Seto", murmelte Ryuuji, aber der Brünette war schon ein ganzes Stück die Treppe hochgegangen und hatte ihn wohl nicht mehr gehört. Einen Moment lang blieb Ryuuji noch unschlüssig im Flur stehen, dann sprintete er ebenfalls nach oben. Seto hatte zwar gesagt, es sei nicht eilig, aber irgendwie war es ihm selbst lieber, wenn er sich die Unterlagen jetzt schon abholen konnte. Dann konnte er sich mit den Hausaufgaben beschäftigen, bis seine Mutter nach Hause kam. So würde er ganz sicher nicht in Versuchung kommen, irgendetwas Dummes zu tun. Kaum dass er die Tür seines Zimmers hinter sich zugeschoben hatte, klopfte es auch schon und Seto fluchte unhörbar. Offenbar war ihm heute keine Ruhe vergönnt. Wäre ja auch zu schön gewesen, seufzte er innerlich, öffnete die Tür und fand sich wie erwartet mit seinem Stiefbruder konfrontiert, der ihn entschuldigend anlächelte. "Ich stör dich nicht lange, keine Sorge. Ich wollte mir nur schon mal die Unterlagen abholen", erklärte er sein Auftauchen und Seto trat kurz zu seinem Schreibtisch, um die besagten Zettel zu holen. Zu seiner Erleichterung betrat Ryuuji sein Zimmer allerdings nicht, sondern blieb vor der Tür stehen. Mit einem weiteren Lächeln nahm Ryuuji die Unterlagen entgegen, die Seto ihm reichte, und nickte ihm noch mal dankbar zu. "Wir sehen uns dann später", verabschiedete er sich und ging hinüber zu seinem eigenen Zimmer. Dabei entging ihm nicht, dass Seto die Tür seines Zimmers nicht gleich wieder schloss, sondern den Raum selbst auch wieder verließ und nach unten ging. Einen Moment lang war Ryuuji versucht, sich zu ihm umzudrehen und zu fragen, was er jetzt vorhatte, aber er beherrschte sich und fragte nicht. Ein bisschen Abstand war sicherlich nicht verkehrt. Immerhin hatte sich sein Puls seit dem Moment, in dem er Seto auf dem Schulhof wiedergesehen hatte, immer noch nicht wieder beruhigt. Höchste Zeit also für ein bisschen Ablenkung. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf betrat Ryuuji sein eigenes Zimmer und ging zum Schreibtisch, wo er erst mal den Blätterstapel ablegte. Dann nahm er selbst auch Platz und begann damit, die Unterlagen durchzusehen. Die Anmerkungen und Ergänzungen, die in Setos gestochen scharfer Handschrift eingefügt waren, brachten sein Herz allerdings nur noch mehr in Aufruhr, so dass Ryuuji nach knapp zehn Minuten aufgab. Er konnte sich jetzt einfach nicht auf die Aufgaben konzentrieren. Scheiß drauf. Dann mach ich's halt später, nahm er sich vor, stand auf und verließ sein Zimmer wieder. Einen Moment lang war er tatsächlich versucht, nach unten zu gehen und nach Seto zu suchen. Der Gedanke jedoch, dass der Brünette möglicherweise wieder im Pool war, hielt Ryuuji davon ab. Das war etwas, was er im Moment definitiv nicht gebrauchen konnte – ganz egal, wie gerne er es auch gesehen hätte. Aber das würde alles nur noch schlimmer machen, also unterdrückte er den Impuls und ging stattdessen einfach nur nach unten ins Wohnzimmer, um dort auf seine Mutter zu warten. Immerhin, hatte ein kurzer Blick auf die Uhr ihm klargemacht, würde sie bald nach Hause kommen. Lange musste er nicht warten. Keine zehn Minuten später wurde die Tür der Villa geöffnet und Ryuuji, der die ganze Zeit auf dieses Geräusch gelauscht hatte, erhob sich wieder von der Couch und trat in den Flur. "Hi, Mum", begrüßte er seine Mutter mit einem Lächeln, machte noch zwei Schritte auf sie zu und nahm sie dann einfach in den Arm. "Du hast mir gefehlt", murmelte er an ihrem Hals und Yukiko verbiss sich mit Mühe ein Schluchzen. Endlich, endlich war ihr Junge wieder zu Hause! "Du hast mir auch gefehlt, Ryuuji", gab sie erstickt zu und drückte ihren Sohn fest an sich. Es tat so gut, ihn wiederzusehen, ihn wieder bei sich zu haben. Eine ganze Weile hielt Yukiko ihren Sohn einfach nur fest, doch schließlich löste sie sich wieder ein wenig von ihm, um ihm ins Gesicht sehen zu können. "Es tut mir so leid, dass ich dich allein gelassen habe. Ich hätte …", setze sie an, doch Ryuujis Finger auf ihren Lippen unterbrach sie, ehe sie weitersprechen konnte. "Dir muss nichts leidtun. Und du musst dich auch für nichts entschuldigen. Es ist okay, Mum. Wirklich. Ich brauchte einfach etwas Zeit für mich", erklärte er ihr, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und wischte ihr dann erst mal die Tränen aus dem Gesicht, die sie nicht hatte unterdrücken können. "Und ich war ja auch nicht lange alleine. Max war ab Montag bei mir." Die Erwähnung von James' bestem Freund entlockte Yukiko ein leichtes Nicken. Trotzdem konnte auch das Wissen, dass Maximilian sich an ihrer Stelle um Ryuuji gekümmert hatte, ihr schlechtes Gewissen nicht komplett beruhigen. Immerhin wäre es eigentlich ja ihre Aufgabe als seine Mutter gewesen, bei ihrem Sohn zu sein, aber stattdessen hatte sie ihn einfach sich selbst überlassen. Das konnte sie sich nicht so einfach verzeihen. Ryuuji, der seiner Mutter ihre Gedankengänge überdeutlich ansehen konnte – für ihn war sie in solchen Situationen wie ein offenes Buch –, unterdrückte ein Seufzen. Er hatte ja gewusst, dass sie sich seinetwegen Sorgen gemacht hatte. Aber das war unnötig. Er hatte die Zeit für sich selbst einfach gebraucht. Wäre seine Mutter bei ihm gewesen, wäre die vergangene Woche ganz, ganz anders abgelaufen, das wusste er genau. Er hätte sich beispielsweise ganz sicher nie die Ablenkung gegönnt, die das ›Rainbow‹, Valon, Alister und auch Noah ihm geboten hatten. Diese Seite an ihm kannte seine Mutter immerhin nicht. Und er legte ehrlich gesagt auch keinen Wert darauf, dass sie sie kennenlernte; es würde sie nur unnötig schockieren zu wissen, dass ihr Sohn auch so sein konnte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren zog Ryuuji seine Mutter mit sich ins Wohnzimmer, drückte sie auf die Couch und streckte sich selbst dann so aus, dass er seinen Kopf in ihrem Schoß betten konnte. Und sobald sie ihm sanft und zärtlich durch die Haare zu streicheln begann, lächelte er sie von unten herauf an. Ganz genau das brauchte er jetzt. Und, wenn er seine Mutter so ansah, dann war er wohl nicht der Einzige, der das im Augenblick nötig hatte. Manchmal war ein bisschen nonverbale Konversation genau das Richtige. Yukiko blinzelte mit etwas Mühe die Tränen weg, die ihr immer wieder in die Augen steigen wollten. Es tat einfach unglaublich gut, ihren Sohn wieder bei sich zu haben. Und das Wissen, dass er – ganz wie ihr Liebster gesagt hatte – ihr wirklich nicht nachtrug, dass sie ihn in dieser schweren Zeit alleine gelassen hatte, erleichterte sie zugegebenermaßen sehr, auch wenn ihr schlechtes Gewissen wohl noch eine Weile brauchen würde, um sich gänzlich zu beruhigen. Aber jetzt hier bei ihm sein zu können, auch wenn sie zumindest anfangs nicht wirklich redeten, war schon mal ein Anfang. Gozaburo, der von Isono über die gemeinsame Heimkehr von Seto und Ryuuji informiert worden war, war auch nach dieser Information noch eine Weile in seinem Arbeitszimmer geblieben. Erst als ein Blick auf die Uhr ihm mitteilte, dass seine Frau inzwischen ebenfalls zu Hause sein musste, fuhr er seinen Rechner herunter. Er hatte sich absichtlich den heutigen Nachmittag ebenso sowie das gesamte kommende Wochenende frei gehalten, um für seine Familie da sein zu können. Mokuba würde zwar erst später wieder zu ihnen stoßen, aber trotzdem fand Gozaburo, dass es an der Zeit war, nach seiner Frau und seinem Stiefsohn zu sehen, also verließ er das Arbeitszimmer und ging nach unten ins Wohnzimmer, wo die beiden sich Isonos Worten zufolge gerade aufhielten. Seto, hatte Isono ihn ebenfalls wissen lassen, war derzeit im Pool. Der Anblick, der sich ihm bot, als er das Wohnzimmer erreichte, entlockte Gozaburo ein Lächeln. Da saß seine Frau und strich ihrem Sohn, der es sich auf der Couch gemütlich gemacht hatte, sanft durch die langen schwarzen Haare. Und Ryuuji, der die Zärtlichkeiten offensichtlich sehr genoss, lächelte seine Mutter an und sprach mit ihr über die vergangene Woche. "Diese ganzen Bürokraten waren echt der pure Horror. Ich weiß schon, warum ich definitiv nie Jura studieren werde – ganz egal, wie sehr Dad das auch wollte. Ich hab echt keine Lust, mich später tagtäglich mit solchen Typen rumschlagen zu müssen", erzählte er ihr gerade und Yukiko kicherte leise – ein Geräusch, das Gozaburo ungemein erleichterte. Es tat gut zu sehen, dass Ryuuji tatsächlich das geschafft hatte, was ihm selbst in der letzten Woche nicht gelungen war: Yukiko klarzumachen, dass sie kein schlechter Mensch war, nur weil sie seinem Wunsch entsprochen hatte und ihn alleine zurück in die Staaten hatte fliegen lassen. "Ich sehe, du bist gut zu Hause angekommen, Ryuuji", wandte Gozaburo sich nach ein paar Minuten, während derer er seine Frau und ihren Sohn einfach nur beobachtet hatte, an seinen Stiefsohn. Dieser drehte den Kopf ein wenig, um ihn ansehen zu können, blieb aber ansonsten, wo er war. "Ja, bin ich. Danke für alles", adressierte Ryuuji an seinen Stiefvater und schenkte auch diesem ein Lächeln, als Gozaburo hinter die Couch trat und seiner Mutter beide Hände auf die Schultern legte. Und als er ihr sanft den Nacken zu massieren begann, vertiefte sich Ryuujis Lächeln noch etwas. Diese kleinen, zärtlichen Gesten zeigten seiner Meinung nach mehr als deutlich, dass Gozaburo wirklich der richtige Mann für seine Mutter war. Immerhin schien er ihr das bieten zu können, was sie so lange vermisst hatte: Sicherheit und das Gefühl, geliebt zu werden. Und das war doch das Wichtigste. Da seine Mutter es wirklich zu genießen schien, sowohl ihn als auch ihren neuen Ehemann um sich zu haben, blieb Ryuuji auch jetzt, wo er war, obwohl er sich schon ein bisschen wie ein Eindringling fühlte. Es war schön, seine Mutter so glücklich zu sehen. Viel zu lange, sinnierte er, hatte sie sich nur auf ihre Arbeit und ihn konzentriert und dabei ganz vergessen, ihr eigenes Leben zu leben. Es war gut, dass das jetzt nicht mehr der Fall war. Sie war schließlich noch jung. Sie war immerhin erst knapp neunzehn Jahre alt gewesen, als er zur Welt gekommen war. Wer weiß, vielleicht werd ich ja auch noch mal großer Bruder. Der Gedanke brachte Ryuuji zum Grinsen. Nach der Scheidung seiner Eltern war die Möglichkeit für Geschwister irgendwie immer in weiter Ferne gewesen, aber jetzt plötzlich sah es damit ganz anders aus. Ja, mit sechsunddreißig war seine Mutter vielleicht nicht mehr die jüngste Mutter der Geschichte, aber grundsätzlich möglich wäre eine weitere Schwangerschaft ihrerseits ja trotzdem. Immerhin, sinnierte Ryuuji, fingen viele Frauen ihre Familienplanung doch erst an, wenn sie Mitte Dreißig waren und ihre biologische Uhr überlaut ticken hörten. Na, wir werden ja sehen, was passiert. Ryuuji schloss die Augen, um seiner Mutter und Gozaburo wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu gönnen, wenn er schon hier bei ihnen im Wohnzimmer blieb. Aber noch genoss er das hier viel zu sehr, um schon wieder alleine sein zu wollen. Erst als nach einer ganzen Weile Geräusche aus dem Flur aufklangen, öffnete Ryuuji seine Augen wieder. Ob das Mokuba war, der gerade nach Hause kam? Ryuuji verrenkte sich ein wenig im Versuch zu erkennen, was da vor sich ging. Und als er sah, dass es sich nicht um seinen Stiefbruder, sondern ganz offenbar um sein Gepäck handelte, das wie angekündigt gebracht wurde, rappelte er sich mit einem Ächzen aus seiner bequemen Position hoch. "Ich glaube, ich sollte raufgehen und schon mal ein bisschen auspacken", ließ er seine Mutter wissen, drückte ihr noch einen Kuss auf die Wange und stand dann endgültig auf. "Ich komm später wieder runter, Mum", versprach er ihr noch, ehe er sich auf den Weg nach oben machte. Dort die Kartons, die er mit Maximilians Hilfe gepackt hatte, in dem Zimmer neben seinem vorzufinden ließ ihn hart schlucken, aber auch das konnte den Kloß in seinem Hals nicht ganz lösen. Trotzdem gab Ryuuji sich einen Ruck, betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. Anstatt sich jedoch direkt ans Auspacken zu machen, ließ er sich erst mal einfach nur auf den Stuhl sinken, der am Fenster stand. Da lag sie vor ihm, fast die gesamte amerikanische Hälfte seines Lebens, fein säuberlich in Kisten verpackt. Der Anblick war nicht unbedingt schön, aber es war etwas, womit er zu leben würde lernen müssen. Ein paar Minuten blieb Ryuuji trotzdem noch sitzen und kratzte erst einmal seine Fassung zusammen, ehe er sich doch aufraffte und sich daran machte, die Kisten nach und nach auszupacken und die Dinge, die er mitgebracht hatte, in den Schränken und Regalen zu verstauen. Dabei bemühte er sich, nicht großartig darüber nachzudenken, was diese Dinge für ihn bedeutet hatten, sondern einfach nur einen passenden Platz für sie zu finden. So war es zumindest ein kleines bisschen leichter. Mitten in seine Räumaktion hinein klopfte es an die Tür des Zimmers und Ryuuji, der gerade die vorletzte Kiste hatte öffnen wollen, hielt inne. "Come in", erlaubte er und fand sich gleich darauf seinem Stiefvater gegenüber. "Ich hoffe, hier ist genug Platz für alles, was du mitgebracht hast", sagte Gozaburo nach einem kurzen Rundblick durch den Raum, ehe er seine Aufmerksamkeit auf seinen Stiefsohn richtete. "Wenn du noch etwas brauchst, musst du es nur sagen", fügte er noch hinzu und hob fragend eine Braue, als Ryuuji nickte. "Da wäre tatsächlich eine Sache." Ryuuji bedeutete Gozaburo, den Raum komplett zu betreten. Und sobald sein Stiefvater seiner Aufforderung Folge geleistet hatte und zum Fenster getreten war, schob Ryuuji die Tür zu. Er hatte seiner Mutter am vergangenen Samstagabend ein Versprechen gegeben. Und dieses Versprechen würde er auch halten. Er war zwar zugegebenermaßen etwas nervös, einfach weil er keine Ahnung hatte, wie Gozaburo auf die Eröffnung reagieren würde, die er zu machen hatte, aber, sagte er sich, das würde er ja in Kürze erfahren. "Ist alles in Ordnung?", erkundigte Gozaburo sich und Ryuuji zog kurz eine Grimasse. "Wie man's nimmt", gab er zurück und lehnte sich an die Tür in seinem Rücken. So ganz wusste er nicht, wie er das hier am besten hinter sich bringen konnte, also gab es wohl nur eine Lösung: Augen zu und durch. "Es gibt da etwas, das du über mich wissen solltest", begann er daher das Gespräch, wappnete sich für die Reaktion, die möglicherweise folgen würde, und sprach dann einfach kurz und schmerzlos das aus, was er seiner neuen Familie eigentlich hatte verschweigen wollen: "Ich bin schwul." Ryuuji ließ seinen Stiefvater bei seinem Outing, das er so eigentlich nie gewollt hatte, nicht aus den Augen. Gozaburo wirkte einigermaßen überrascht von dem, was er zu hören bekam, aber er machte zumindest schon mal nicht den Eindruck, als ob er deshalb vollkommen ausrasten würde. Ryuuji war sich nicht sicher, ob da vielleicht auch die Sache mit seinem Vater etwas mit hineinspielte, aber er war auf jeden Fall froh, dass Gozaburo – zumindest bisher – nicht allzu negativ reagierte. Wobei … genau betrachtet fehlte eigentlich jegliche Reaktion seinerseits. Was mochte das bedeuten? Gozaburo war tatsächlich reichlich überrumpelt von dieser Eröffnung seines Stiefsohns. Yukiko hatte in all der Zeit, die sie sich schon kannten, nie auch nur angedeutet, dass die Neigungen ihres Sohnes … nun, in diese Richtung gingen. Und er selbst hatte deshalb einfach angenommen, dass Ryuuji sich, ebenso wie fast jeder andere Junge in seinem Alter auch, zu Mädchen hingezogen fühlte. Dass dem nicht so war, war also eindeutig eine Überraschung. Allerdings war Gozaburo bei weitem nicht weltfremd. Ihm war durchaus klar, dass die sexuelle Orientierung seines Stiefsohns kein gänzlich neues Phänomen war. Genau genommen, erinnerte er sich, hatte er selbst während seiner eigenen Schulzeit, die er auf einer reinen Jungenschule verbracht hatte, oft genug mitbekommen, wie zumindest einige seiner Mitschüler hinter verschlossenen Türen ebenfalls Dinge miteinander getan hatten, die ihre Eltern ganz sicher entsetzt hätten, wenn sie davon gewusst hätten. Die meisten von ihnen waren jedoch heute mit Frauen verheiratet und hatten eigene Familien. Sie hatten diese ›Verwirrungen der Jugend‹, wie es einer ihrer Lehrer einmal genannt hatte, also irgendwann hinter sich gelassen. Ob sie das jedoch wirklich aus Überzeugung und Liebe zu Frauen getan hatten oder aufgrund des gesellschaftlichen Drucks, hätte Gozaburo nicht zu sagen gewusst. Aber die Zeiten änderten sich. Viele Dinge, die früher noch tabu gewesen waren, waren es mittlerweile nicht mehr. Zwar war Japan zum Großteil immer noch recht konservativ, aber trotzdem gab es inzwischen auch hier Bars und Clubs, die sich auf diese Klientele spezialisiert hatten. Und auch der Ruf nach gesellschaftlicher Akzeptanz anders gearteter Beziehungen wurde immer größer. Trotzdem war das ganz sicher eine schwierige Situation, in der Ryuuji sich befand. Noch war Japan immerhin nicht so aufgeklärt, dass es keine Probleme nach sich ziehen würde, wenn bekannt wurde, wie seine Neigungen aussahen. Gozaburo stutzte, als seine Überlegungen an diesem Punkt angelangt waren. Ob Yukiko ihm vielleicht deshalb nichts davon erzählt hatte? Hatte sie gefürchtet, dass er und seine Söhne ihren Sohn und vielleicht auch sie möglicherweise nicht akzeptieren würden, wenn sie davon erfuhren? Diese Befürchtung war gar nicht so abwegig. Immerhin waren auch die Eltern seiner Frau ausgesprochen konservativ, wie schon allein die wenigen Gesprächsfetzen bewiesen hatten, die er der Hochzeitsfeier immer mal wieder aufgeschnappt hatte. Yukikos Eltern hatten es ihrer Tochter offenbar sehr lange verübelt, dass sie einen Amerikaner geheiratet hatte. Und sie waren, wie Gozaburo mit eigenen Augen gesehen hatte, auch nicht unbedingt gut auf ihren eigenen Enkel zu sprechen, nur weil sein Vater nun mal kein Japaner gewesen war. War es da verwunderlich, dass Yukiko geglaubt hatte, diese Sache vor ihm geheim halten zu müssen? Dabei war Ryuuji, wie Gozaburo in der Woche vor der Hochzeitsreise festgestellt hatte, eindeutig niemand, bei dem man sich dafür schämen musste, mit ihm blutsverwandt zu sein. Ja, er mochte vielleicht etwas offener sein als viele Japaner in seinem Alter, aber das machte ihn ja nun wirklich nicht zu einem schlechten Menschen. Eher sogar im Gegenteil. Gozaburo war nicht entgangen, dass sein Stiefsohn seit seinem Einzug hier eindeutig einen positiven Einfluss auf seine eigenen Söhne gehabt hatte. Und darüber war er sehr froh. Mokuba hatte sich ja von Anfang an direkt sehr gut mit Ryuuji verstanden, aber inzwischen war auch Seto seinem Stiefbruder gegenüber bei weitem nicht mehr so negativ eingestellt, wie er es zu Beginn gewesen war – was man gerade in der vergangenen Woche recht deutlich gesehen hatte. Immerhin hatte Seto sich, ebenso wie der Rest von ihnen, sehr um Ryuuji gesorgt. "Willst du gar nichts dazu sagen?", riss Ryuujis Stimme Gozaburo wieder aus seinen Grübeleien. Und erst jetzt fiel ihm auf, dass er die ganze Zeit über geschwiegen hatte und dass diese Reaktion seinerseits vielleicht nicht unbedingt angemessen war. Ryuuji wirkte unsicher und auch ein bisschen defensiv, wie er mit vor der Brust verschränkten Armen an die Zimmertür gelehnt dastand und ihn nicht aus den Augen ließ. Er bemühte sich zwar, seine Unsicherheit zu verbergen, aber so ganz gelang ihm das nicht. "Doch, ich denke, das möchte ich", beantwortete Gozaburo daher erst mal die an ihn gerichtete Frage, ehe er sich auf den am Fenster stehenden Stuhl setzte und Ryuuji dann bedeutete, den zweiten Stuhl zu nehmen und damit zu ihm zu kommen. "Aber ich befürchte, das wird ein bisschen länger dauern, also setz dich bitte, Ryuuji", forderte er den Jungen auf und sobald dieser der Aufforderung etwas zögerlich Folge geleistet hatte, bedachte Gozaburo ihn mit einem Lächeln, das die Skepsis jedoch nicht aus den grünen Augen vertreiben konnte. Aber das konnte er dem Jungen nun wirklich nicht verdenken. Höchste Zeit also, dass sie beide endlich die Gelegenheit nutzten und ausführlich miteinander redeten. Kapitel 34: Freundschaft ... und mehr ------------------------------------- "Da ist sie!" Yuugi, der den ganzen Freitagmorgen in der Schule wie auf glühenden Kohlen gesessen hatte, lief vom Halsansatz bis zu den Haarspitzen flammend rot an, als er Rebecca wie verabredet am Schultor stehen sah. Sie war allerdings, wie er auf den zweiten Blick bemerkte, nicht alleine, denn um das hübsche blonde Mädchen hatte sich recht schnell eine Traube von überaus interessiert dreinblickenden Jungs aus dem Jahrgang über ihrem gebildet – ein Anblick, der Yuugi zum Grummeln brachte. Die sollten bloß verschwinden und seine Rebecca in Ruhe lassen! Immerhin war sie mit ihm verabredet und ganz bestimmt nicht hergekommen, um von irgendwelchen Idioten angeglotzt zu werden wie ein seltenes Tier im Zoo. Mokuba, dem Yuugis Stimmungsknick nicht entging, verbiss sich mit Mühe ein Grinsen. Es war absolut nicht zu übersehen, dass Yuugi hochgradig eifersüchtig war. Und der Anblick war zu gleichen Teilen witzig und niedlich, fand Mokuba. Aber das behielt er lieber für sich, denn Yuugi würde ihn für so etwas sicher umbringen. Wer wollte schon niedlich sein? "Dann lass uns mal zu ihr gehen", stieß er seinen Freund daher an und machte sich gemeinsam mit ihm und Ryou auf den Weg zum Schultor. Sobald Rebecca Yuugi sah, legte sich auf ihre Lippen ein strahlendes Lächeln. Ohne einen Blick für ihre neuen Verehrer zu haben, schob sie sich durch die Menge an älteren Jungs und blieb, noch immer lächelnd, vor Yuugi stehen, dessen Gesichtsfarbe sich gleich noch mehr verdunkelte. "Hi, Yuugi", begrüßte Rebecca ihn und Yuugi hatte das Gefühl, mindestens zwanzig Zentimeter über dem Boden zu schweben. Rebecca war tatsächlich direkt zu ihm herübergekommen, ohne die anderen Jungs auch nur zu beachten – und das, obwohl zu allem Überfluss auch noch Miyake Tooru, der Schwarm fast aller Mädchen ihrer Schule, unter ihnen gewesen war. Aber das schien sie überhaupt nicht zu interessieren. Die Gewissheit sorgte dafür, dass Yuugi mit der doch recht trüben Wintersonne um die Wette strahlte. "Und ihr beide müsst Ryou-kun und Mokuba-kun sein." Mit dieser Vermutung schwenkte Rebecca zu seinen Freunden herum und nachdem die beiden genickt hatten, bedachte sie Yuugi mit einem auffordernden Blick. "Wollen wir dann los? Heute schaffe ich es bestimmt, dich zu schlagen", versicherte sie ihm und Yuugi konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, allzu heftig zu nicken. "J-Ja, gerne", nuschelte er dennoch und bekam wieder mal einen halben Herzinfarkt, als Rebecca sich wie selbstverständlich bei ihm einhakte – ganz so, wie sie es in den letzten Tagen auch immer wieder getan hatte. Der giftige Blick Miyakes entging Yuugi dadurch völlig, aber Ryou bemerkte ihn durchaus. Und er ließ es sich nicht nehmen, dem blöden Angeber einen sehr triumphierenden Blick zuzuwerfen, obwohl er selbst ja eigentlich gar nichts davon hatte. Trotzdem war es befriedigend zu sehen, wie sehr Miyake sich darüber ärgerte, dass dieses wirklich hübsche blonde Mädchen, an dem er herumgebaggert hatte, offenbar vollkommen unbeeindruckt von ihm war. "Was haltet ihr davon, wenn wir heute nicht in die Arkade gehen?" Auf Mokubas Vorschlag hin blickten ihn ein blaues, ein braunes und ein violettes Augenpaar fragend an und der Schwarzhaarige rieb sich verlegen den Nacken – hauptsächlich um zu verbergen, dass er sich jetzt an etwas machte, was er gemeinsam mit Ryou an den letzten Nachmittagen ausgeklügelt hatte. "Ich meine, da haben wir alle gegen Yuugi ja eh keine Chance. Ich dachte, wir könnten vielleicht alle zusammen Bowlen gehen", unterbreitete er den anderen Dreien seine Idee und Ryou, der natürlich eingeweiht war, nickte gleich enthusiastisch. "Da haben wir wenigstens auch eine kleine Chance zu gewinnen", sprang er gleich auf den Zug mit auf und Rebecca legte grübelnd den Kopf schief. "Klingt gut", fand sie nach kurzem Überlegen und Ryou und Mokuba fiel zeitgleich ein ganzer Gebirgszug vom Herzen. Sie hatten wirklich gehofft, dass Yuugi und Rebecca auf ihren Vorschlag eingehen würden, aber sie hatten sich natürlich nicht sicher sein können, dass das auch klappen würde. Allerdings sah bis jetzt alles gut aus. Wenn das kein gutes Zeichen für den Rest des Nachmittags war, was war es dann? "Aber ich muss euch warnen: Ich bin eine ziemlich gute Bowlerin." Rebecca grinste schelmisch. Sie mochte Yuugis Freunde, eindeutig. Und dass die beiden zugaben, dass sie Yuugi bei den Arcade Games auch nicht schlagen konnten, machten sie ihr gleich noch sympathischer. Aber beim Bowling, das wusste sie, hatte sie auf jeden Fall Chancen. Wobei … Musste sie Yuugi eigentlich wirklich unbedingt schlagen? Vielleicht gab es ja auch noch eine andere Möglichkeit. Rebecca schmunzelte still in sich hinein. Doch, das gefiel ihr sogar noch besser. "Wir können ja Zweierteams bilden", schlug Mokuba vor, während er sich gemeinsam mit den Dreien auf den Weg zum Bowlingcenter machte. Der Nachmittag, dessen war er sich jetzt schon absolut sicher, würde auf jeden Fall eine Menge Spaß machen. Yuugi hatte jedenfalls nicht übertrieben. Rebecca war wirklich so hübsch, wie er behauptet hatte. Und sie schien auch richtig nett zu sein. Aber das war nicht alles. So, wie sie immer noch an Yuugis Arm hing, als wäre das das Natürlichste der Welt, schien sie ihn auch wirklich gernzuhaben. Und das war, zumindest in Mokubas Augen, doch die Hauptsache. Immerhin war das ja der Hauptgrund, aus dem Ryou und er Yuugi zu diesem gemeinsamen Nachmittag überredet hatten. Ryou, den Mokubas Begeisterungsfähigkeit wieder einmal daran erinnert hatte, warum er seinen schwarzhaarigen Freund so wundervoll fand – nicht, dass er die mindestens tausend Gründe, die es dafür gab, jemals vergessen könnte –, unterdrückte ein Seufzen der Bewunderung und nickte. "Klingt gut. Wer spielt mit wem?", fragte er so unschuldig wie möglich in die Runde, obwohl er ganz genau wusste, mit wem er selbst am liebsten ein Team bilden wollte. Allerdings ging es hier ja nicht darum, was er wollte, sondern darum, Yuugi ein bisschen auf die Sprünge zu helfen. "Wenn ihr nichts dagegen habt, dann würde ich gerne mit Yuugi zusammen spielen." Rebecca bedachte die beiden besten Freunde ihres Kindheitsfreundes mit einem besonders bittenden Augenaufschlag und triumphierte innerlich, als die beiden gleich zustimmend nickten. Yuugi hingegen, der bisher einfach kein Wort über die Lippen gebracht hatte – immerhin hing Rebecca schon wieder an seinem Arm und war ihm dadurch so wahnsinnig nah, dass sein Herz vollkommen durchdrehte –, krächzte nur sein Einverständnis. Hoffentlich überleb ich das! So, wie sein Herz raste, war er sich dessen nicht so ganz sicher. Trotzdem ließ Yuugi zu, dass Rebecca ihn einfach mit sich zog. Dabei plauderte sie ganz locker mit Mokuba und Ryou, so als würde sie die beiden schon ewig kennen. Ein bisschen, das musste Yuugi zugeben, war er ja schon eifersüchtig, aber andererseits war er auch froh darüber, dass die Drei sich scheinbar auf Anhieb gut verstanden. Jetzt musste er selbst es nur irgendwie schaffen, seine Nervosität in den Griff zu kriegen und sich wieder darauf zu konzentrieren, was er selbst sich für den heutigen Nachmittag vorgenommen hatte: Ryou und Mokuba ein bisschen unter die Arme zu greifen, damit die beiden endlich auch mal einen Schritt vorwärts kamen. Sich auf diesen Teil seines Plans für den heutigen Tag zu konzentrieren half Yuugi tatsächlich dabei, sich nicht mehr vollkommen von dem Gefühl von Rebeccas Arm an seinem aus der Bahn werfen zu lassen. Und als sie zu viert die Bowlingbahn erreicht hatten, hatte er sich wieder so weit im Griff, dass er sich auch endlich wieder aktiv am Gespräch beteiligen konnte. Gemeinsam mit seinen Freunden organisierte Yuugi sich Schuhe und sobald sie diese angezogen hatten, ließen sie sich eine Bahn zuweisen. Und als Rebecca ihn mit einem herausfordernden Grinsen auf den Lippen dazu aufforderte, ihr und auch Ryou und Mokuba zu beweisen, dass er beim Bowling auch so gut war wie bei den Games in der Arkade, legte sich auch auf seine Lippen ein Grinsen, das beinahe an das triumphierende Grinsen heranreichte, das sein älterer Bruder bis zur Perfektion beherrschte. Er würde ihr und auch seinen beiden Freunden schon zeigen, was er drauf hatte. Dass er damit dem Plan, den Ryou und Mokuba gemeinsam ausgeheckt hatten, praktisch in die Hände spielte, ahnte er nicht. oOo "Das ist aber nicht das Museum." Etwas verwundert nahm Yami den Helm ab, nachdem Malik seine Maschine zum Stehen gebracht hatte. "Nein, ist es nicht", erwiderte der Ägypter mit einem Grinsen, verstaute beide Helme in den dafür vorgesehenen Fächern, sobald Yami und er abgestiegen waren, und nickte dann in Richtung des Coffeeshops, auf dessen Parkplatz er gehalten hatte. "Ich brauchte heute mal frische Luft und ein bisschen Abwechslung", erklärte er sein Abweichen von dem, was sein Sozius offenbar erwartet hatte. Das war zwar nur ein Teil des Grundes, warum er mit Yami nicht den Weg zum Museum eingeschlagen hatte, aber das musste dieser ja jetzt noch nicht wissen. Darüber, sinnierte Malik, würde er später mit ihm sprechen. Noch immer etwas überrumpelt ließ Yami sich in den Coffeeshop hinein dirigieren und dort an einem Zweiertisch parken. Nachdem er nach Yamis Wünschen gefragt hatte, verschwand Malik kurz zum Tresen und kehrte ein paar Minuten später mit zwei Bechern und zwei Muffins zurück. Er stellte seine Mitbringsel auf den Tisch, zog sich den Stuhl Yami gegenüber zurück und ließ sich auf diesen plumpsen. Dann gönnte er sich einen Schluck von dem Kaffee, den er sich mitgebracht hatte, und seufzte zufrieden. "Das hab ich gebraucht!", murmelte er und grinste wieder, als sein Gegenüber ihn mit einem skeptischen Blick bedachte. "Was?", schoss er zurück. "Ich hab heute den ganzen verdammten Vormittag damit verbracht, eine Horde kleiner Kinder zu beaufsichtigen. Irgendein Schulausflug. Grässlich, sage ich dir", klagte er sein Leid und Yami konnte nicht anders: er musste lachen. Allein die Vorstellung, wie Malik den Führer durch die Ägyptenausstellung für eine Rotte Schulkinder spielte, war einfach zu komisch. "Das hätte ich zu gerne gesehen!", prustete er und Malik schob schmollend seine Unterlippe vor, obwohl auch in seinen Augen ein amüsiertes Funkeln tanzte. "Jaja, lach du mich ruhig aus für die Qualen, die ich ertragen musste", jammerte er gespielt leidend, lachte jedoch gleich darauf auch schon selbst. "Nein, ernsthaft. Ich hab nichts gegen Kinder, wirklich nicht, aber eine ganze Klasse davon, die absolut keine Lust darauf hat, unterhalten zu müssen ist echt Folter. Ich hab keine Ahnung, wie Ishizu das immer wieder schafft. Ich war mehrmals kurz davor, ein paar von den kleinen Monstern einfach in den einen oder anderen Sarkophag zu stecken und den Deckel zuzumachen, damit sie endlich mal Ruhe geben", gab er zu, nachdem er sein Amüsement wieder ein wenig unter Kontrolle gebracht hatte, und Yami, der sich gerade halbwegs gefasst hatte, brach direkt wieder in Gelächter aus. "Du Brutalo!", kicherte er und versuchte, sich wieder zu beruhigen, aber das war gar nicht so einfach. Er war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass Maliks nicht unbedingt alltägliches Äußeres ohnehin schon dafür sorgte, dass beinahe sämtliche Augenpaare hier im Laden zu ihnen beiden herüberstarrten. Und sein unübersehbares Amüsement machte das Ganze wohl eher noch schlimmer als besser. Aber so sehr er es auch versuchte, Yami konnte seine Heiterkeit einfach nicht unterdrücken. Seine Heiterkeit war jedoch bei weitem nicht alles, was Yami schwer zu kontrollieren fand. Auch seine Nervosität war nicht unbedingt hilfreich und machte es nicht besser. Ja, sicher, er hatte fast die gesamte letzte Woche nach der Schule im Museum verbracht, aber da war er nicht wirklich mit Malik alleine gewesen. Jedenfalls nie für lange. Ishizu war zumindest irgendwie immer in der Nähe gewesen und am Dienstag und Mittwoch hatte auch Seto ihnen Gesellschaft geleistet. Aber jetzt waren hier nur Malik und er – und mindestens ein gutes Dutzend wildfremder Leute, von denen aber niemand wirklich in Hörweite saß. So gesehen waren sie also zum ersten Mal, seit Malik sich angewöhnt hatte, ihn abends mit dem Motorrad nach Hause zu fahren, wirklich komplett unter sich – und das nicht nur für die Zeit, die eine Motorradfahrt zu ihm nach Hause dauerte. Und dieses Wissen machte Yami ganz kribbelig. Er hatte zwar alles Mögliche und Unmögliche versucht, um nicht darüber nachzudenken, aber trotzdem konnte er die Tatsache, dass er Malik mehr als nur ein bisschen anziehend fand, nicht leugnen. Ich bin doch so dämlich, bescheinigte Yami sich nicht zum ersten Mal, seit er sich hatte eingestehen müssen, dass ihm der Ägypter vielleicht ein kleines bisschen zu gut gefiel. Erst Kinoshita und jetzt das. Was stimmt nicht mit mir?, fragte er sich ebenfalls nicht zum ersten Mal, fand jedoch auch dieses Mal keine Antwort auf seine Fragen. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, dann wollte er lieber auch nicht so genau wissen, warum er sich ausgerechnet immer in Typen verknallte, die ganz eindeutig nichts für ihn waren. Er hatte, das musste er sich wohl oder übel eingestehen, eindeutig eine nicht zu leugnende Schwäche für Bad Boys. Kinoshita war dafür wohl das beste Beispiel. Immerhin war der Weißhaarige Vieles, aber ganz sicher weder nett noch in irgendeiner Form das, was man gemeinhin als ›guten Umgang‹ bezeichnete. Ganz im Gegenteil. Er strahlte eigentlich immer etwas Gefährliches aus, selbst wenn er einfach nur im Klassenraum saß und so tat, als würde er den Lehrern zuhören, während er mit seinen Gedanken eigentlich ganz woanders war. Und bei Malik, fand Yami, war es ähnlich. Ja, er mochte vielleicht nicht kriminell wirken, so wie es bei Kinoshita der Fall war, aber trotzdem ging auch von ihm etwas aus, das sich nur schwer in Worte fassen ließ. Und dieses gewisse Etwas war es, das Yami ganz schwindelig machte, wenn er zu lange über den Ägypter nachdachte. Die Art, wie Malik grinste und damit jeden Einwand einfach überging, war eigentlich etwas, was ihn abschrecken sollte. Aber stattdessen, dachte Yami mit einem innerlichen Seufzen, war es genau das, was ihn an Malik so faszinierte. "Erde an Yami. Bist du noch da?" Maliks Hand, die vor seinem Gesicht auftauchte, riss Yami wieder aus seinen Grübeleien. "Ähm … ja. Ja, sorry, ich war gerade etwas … abgelenkt", nuschelte er und zog sich den Muffin heran, den Malik ihm mitgebracht hatte, um seinen Fingern etwas zu tun zu geben und gleichzeitig dem Blick des Ägypters ausweichen zu können. Eigentlich hatte er nicht wirklich Hunger – dafür flatterte sein Magen einfach zu nervös –, aber er zwang sich trotzdem dazu, ein Stück von dem Muffin abzubrechen und es sich in den Mund zu schieben. Und als er die in dem zitronigen Teig versteckten Blaubeeren schmeckte, schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen, während ihm gleichzeitig etwas Blut in die Wangen schoss. Er hatte im Verlauf der letzten Woche irgendwann mal beiläufig erwähnt, dass er Blaubeeren liebte. Dass Malik sich das gemerkt hatte, sorgte für ein Hochgefühl, das eigentlich vollkommen unangebracht war. Immerhin hatte er selbst dem Ägypter nur gesagt, was für einen Kaffee er wollte. Von dem Muffin hatte er nichts erwähnt; den hatte Malik also aus eigenem Antrieb mitgebracht. "Das ist mir nicht entgangen", unterbrach Maliks Stimme Yamis Gedankenkarussell und dieser gab sich innerlich selbst einen Tritt. Es war doch einfach nur bescheuert, dass er ständig hier so abdriftete, nur weil Malik sich etwas von dem gemerkt hatte, was er gesagt hatte. Er sollte da wirklich nicht unnötig viel hineininterpretieren. Das war ganz und gar nicht gut für sein armes Herz. "Schmeckt's dir?", erkundigte Malik sich und Yami nickte langsam. Die Bestätigung entlockte dem Ägypter ein Lächeln, in dem Yami eine Spur Erleichterung zu erkennen glaubte. Aber vielleicht bildete er sich das auch bloß ein. "Gut. Sehr gut. Also hab ich mich doch richtig erinnert", sagte Malik und wieder nickte Yami. "Ja, hast du. Danke", gab er leise zurück und bedachte den Ägypter seinerseits mit einem zaghaften Lächeln, ehe er sich erst mal wieder seinem Muffin und dem Kaffee widmete. Malik machte sich selbst auch daran, seinen eigenen Muffin zu vernichten, aber er konnte es nicht lassen, immer wieder zu Yami hinüber zu schielen. Dieser schien voll und ganz mit seinem Essen und seinem Kaffee beschäftigt zu sein, aber er machte auf Malik einen reichlich fahrigen, fast schon nervösen Eindruck. Ob das, fragte der Ägypter sich unwillkürlich, irgendwie mit ihm zusammenhing? Immerhin hatten Yami und er bisher noch nicht wirklich Zeit ganz alleine verbracht. Ja, sicher, er hatte Yami in der letzten Woche immer wieder abends nach Hause gefahren – mit Ausnahme von Dienstag und Mittwoch; an beiden Tagen waren Yami und dessen brünetter Freund von einer verdammten Limousine abgeholt worden. Aber, sinnierte Malik, die paar Minuten auf dem Motorrad zählten ja wohl kaum als ›miteinander alleine sein‹. Genau deshalb war er ja heute auch nicht mit Yami zum Museum gefahren. Nein, für den heutigen Tag hatte er eindeutig andere Pläne. Eigentlich hatte er ja noch warten und es langsam angehen wollen, hatte erst mal austesten wollen, wie genau Yami zu ihm stand, aber als Yami am Dienstag ohne Vorankündigung mit diesem großen, verdammt gutaussehenden brünetten Kerl, den er Ishizu und ihm als seinen besten Freund Seto vorgestellt hatte, im Schlepptau aufgetaucht war, hatte das Malik dazu gebracht, seine Planung noch mal zu überdenken. Und er war zu einem ganze entscheidenden Entschluss gelangt: Scheiß auf langsam. Sobald Yami den Eindruck machte, nach seinem Muffin auch mit seinem Kaffee fertig zu sein, schnappte Malik sich den Müll, brachte beides kommentarlos weg und kehrte dann zum Tisch zurück, um Yami auffordernd ansehen zu können. "Komm, lass uns abhauen. Es gibt da was, was ich dir zeigen will", köderte er den Bunthaarigen und grinste breit, als er die Neugier in dessen violetten Augen aufflammen sah. Genau darauf hatte er gehofft. "Und was genau willst du mir zeigen?", erkundigte Yami sich, ohne die Neugier ganz aus seiner Stimme halten zu können. Maliks Grinsen wurde daraufhin nur noch etwas breiter, aber er schüttelte nur den Kopf. "Ich hab gesagt, ich will dir was zeigen. Ich hab nicht vor, dir was zu erzählen", gab er zurück und Yami schnaubte, aber auch er konnte sich jetzt ein leichtes Grinsen nicht mehr verkneifen. "Du bist bescheuert", ließ er den Ägypter wissen, doch dieser lachte nur auf die nicht wirklich ernst gemeinte Beleidigung. "Merkst du das erst jetzt?", neckte Malik seinen Begleiter, hielt diesem die Tür auf und reichte ihm den Ersatzhelm, sobald sie seine Maschine erreicht hatten. Dann setzte er seinen eigenen Helm auf, schwang sich auf das Motorrad und grinste wieder, als er die Eile sah, mit der Yami den Helm aufsetzte und hinter ihn rutschte. Und sobald er die Arme des Anderen fest um sich geschlungen spürte, startete Malik seine Maschine und lenkte diese durch den nachmittäglichen Verkehr. Er konnte förmlich spüren, wie die Fragen danach, was er wohl vorhatte, durch Yamis Kopf schwirrten, aber im Moment war er zu sehr mit Fahren beschäftigt, um sich darum zu kümmern. Yami, der wirklich keine Ahnung hatte, was genau Malik wohl geplant haben mochte, versuchte anhand der vorbeirauschenden Landschaft zu erkennen, wohin genau die Fahrt wohl gehen würde. Er musste sich jedoch recht schnell eingestehen, dass er nicht den leisesten Hauch einer Ahnung hatte, wohin Malik fuhr. Er kannte sich in der Gegend um Tokio herum nicht allzu gut aus, so dass er sich nicht mal sicher war, ob sie sich überhaupt noch in der Stadt befanden oder ob sie sie schon verlassen hatten. Aber genau genommen war ihm das auch relativ egal. Eigentlich genoss er es viel zu sehr, hinter Malik zu sitzen und zu spüren, wie der Fahrtwind an seiner Kleidung zerrte, während das Motorrad unter ihm vibrierte. Je öfter er mit Malik auf dessen Maschine unterwegs war, desto besser konnte er verstehen, warum der Ägypter diese Art der Fortbewegung so sehr liebte. Ihm selbst, das hatte er sich längst eingestehen müssen, ging es ja nicht anders. Ob das allerdings wirklich nur an dem Motorrad lag oder vielleicht auch ein bisschen – oder möglicherweise auch ein bisschen mehr – an dem Fahrer, darüber wollte Yami lieber nicht so genau nachdenken. Nach einer viel zu kurzen Ewigkeit brachte Malik das Motorrad wieder zum Stehen. Schade, war Yamis erster Gedanke, den er jedoch schnell wieder abschüttelte. Und um wirklich nicht weiter darüber nachzugrübeln, löste er erst mal seine Arme wieder von Malik, rutschte dann von der Maschine und nahm den Helm ab. Malik tat es ihm gleich, verstaute die Helme und Yami nutzte die Zeit, um sich umzusehen. Allerdings kam ihm die Gegend, in der sie sich befanden, ganz und gar nicht bekannt vor. Allzu städtisch sah es hier jedoch nicht mehr aus. Dafür war eindeutig zu viel Wald um sie herum. "Das hier hab ich in der ersten Woche entdeckt, nachdem ich mit meinen Geschwistern hergezogen bin", drang Maliks Stimme in seine Gedanken und Yami blickte ihn fragend an. "Immer, wenn wir neu irgendwohin ziehen, mache ich erst mal ein paar Streifzüge auf meiner Maschine, um mir die Gegend anzusehen. Rishid und Ishizu kennen das schon von mir, also sagen sie nichts dazu." Was bei weitem nicht bedeutete, dass seine Geschwister diese kleine Marotte von ihm wirklich guthießen, aber daran störte Malik sich nicht. "Und ich suche eigentlich immer nach so etwas wie hier. Ein ruhiger Platz, wo man keiner Menschenseele begegnet. Wo man einfach mal ganz alleine sein kann", fuhr er fort und bei diesen Worten erschien ein etwas verlegen wirkendes Lächeln auf seinen Lippen, während er Yami aus den Augenwinkeln beobachtete. "Und normalerweise nehme ich nie jemanden mit dahin, wenn ich erst mal so einen Ort gefunden habe. Es bleibt sonst immer mein Geheimnis, wo ich mich rumtreibe, wenn ich meinen Kopf freikriegen will. Nicht mal Rishid oder Ishizu wissen, wo sie mich finden können, wenn ich mich absetze. Das hier ist also eine absolute Premiere", schloss er seine Erklärung. Yami blinzelte verwirrt. Er war sich nicht so ganz sicher, ob er verstand, was hier gerade passierte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass es ziemlich wichtig war, aber ebenso konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er selbst etwas ganz Entscheidendes verpasst hatte. Wenn Malik sonst immer nur alleine herkam, warum hatte er ihn dann heute mit hierher genommen? Gut, er würde Ishizu wohl kaum verraten können, wohin Malik sich offenbar ab und zu zurückzog, einfach weil er keine Ahnung hatte, wo sie hier eigentlich waren. Und er war sich auch ziemlich sicher, dass er den Weg hierher sicher nicht alleine wiederfinden würde. Trotzdem kam ihm das Ganze reichlich seltsam vor. "Und warum hast du mich dann mitgenommen?", kleidete Yami seine Verwirrung schließlich in Worte und schluckte, als Malik sich von seinem Motorrad, an das er sich bis jetzt gelehnt hatte, abstieß und auf ihn zukam. Unwillkürlich wich Yami ein paar Schritte zurück, wurde allerdings nach weniger als einem Meter schon von einem der vielen, wirklich gigantischen Bäume in seinem Rücken gestoppt. Malik kam ihm noch etwas näher und das Grinsen, das sich auf seine Lippen schlich, ließ Yamis Knie weich werden. Was in aller Welt war denn jetzt hier los? "Kannst du dir das wirklich nicht denken?", neckte Malik ihn, aber noch ehe Yami auch nur über eine passende Antwort nachdenken konnte, hatte der Ägypter auch schon das letzte bisschen Distanz zwischen ihnen überbrückt. Er war so verdammt nah, dass Yami Mühe hatte, ruhig zu atmen. Das passiert doch jetzt nicht wirklich, oder?, fragte er sich selbst, ohne so recht zu wissen, was er mit das eigentlich genau meinte. Und als Malik seine Arme neben seinem Gesicht abstützte und sich dann vorbeugte, um seine Lippen auf Yamis zu pressen, vergingen diesem sämtliche Fragen und Gedanken, die er noch gehabt hatte. Zurück blieb nur das Gefühl von Maliks Körper an seinem, Maliks Lippen auf seinen und dann, endlich, Maliks Zunge in seinem Mund. Wer wollte schon denken, wenn er stattdessen auch einfach nur fühlen konnte? oOo "Strike!" Rebecca drehte eine etwas wacklige Pirouette, ehe sie wieder zu ihrem Platz zurückkehrte und sich mit einem sehr, sehr zufriedenen Gesichtsausdruck neben Yuugi fallen ließ, während Ryou gewissenhaft das Ergebnis ihres Wurfs notierte. "Ich hab euch ja gesagt, dass ich eine gute Bowlerin bin", schob sie noch hinterher und Mokuba zog eine Grimasse. "Ja, hast du. Du hast uns aber nicht gesagt, dass du uns auch locker alle Drei in Grund und Boden bowlen könntest – ganz alleine", gab er zurück, grinste dann aber, um zu zeigen, dass er keinesfalls wirklich böse darüber war, dass Ryou und er schon wieder dabei waren, haushoch zu verlieren. Er war ja bei weitem kein schlechter Verlierer. Und er hatte auch einfach viel zu viel Spaß, um sich wirklich darüber zu ärgern, dass Ryou und er ihren ›Gegnern‹ einfach nicht das Wasser reichen konnten. Dafür war es zugegebenermaßen auch viel zu spannend zu beobachten, wie Yuugi und Rebecca miteinander umgingen. Er war zwar bei weitem kein Experte auf diesem Gebiet, aber er konnte sich dennoch des Eindrucks nicht erwehren, dass Rebecca Yuugi mindestens ebenso sehr mochte wie er sie. Jetzt mussten sie es nur noch schaffen, dass Yuugi ihr seine Gefühle auch gestand. Aber, fragte Mokuba sich, wie sollten sie das nur bewerkstelligen? "Einhändig." Rebecca grinste spitzbübisch und Yuugi begann zu lachen, während Mokuba ein Gesicht machte, als hätte er Zahnschmerzen. "Jaja, reib's uns ruhig rein", schmollte er gespielt, lachte aber gleich darauf gemeinsam mit seinen Freunden. "Vielleicht sollten wir die Teams mal tauschen", schlug er dann nach einem kurzen Blickwechsel mit Ryou vor – natürlich völlig ohne Hintergedanken. Oder zumindest bemühte er sich, so zu tun, als hätte er keine. Er war sich nicht ganz sicher, ob sein Gesichtsausdruck wirklich so pure Unschuld ausdrückte wie Ryous, aber er hoffte es zumindest. Während Yuugi noch überlegte, wie er auf den Vorschlag seiner Freunde reagieren sollte, schüttelte Rebecca bereits heftig den Kopf. "Nein, danke. Ihr seid zwar beide wirklich sehr nett, aber ich möchte doch lieber in Yuugis Team bleiben", lehnte sie ab und im nächsten Moment hatte Yuugi das Gefühl, einen Herzinfarkt zu erleiden, als Rebecca ohne Vorwarnung nach seiner Hand griff. Aus großen Augen starrte er sie an und als sie das bemerkte, färbten sich ihre Wangen in einem bezaubernden Rot, das sie gleich noch hübscher wirken ließ. "Also … natürlich nur, wenn dich das nicht stört, Yuugi", murmelte sie leise, wich seinem Blick aus und strich sich fahrig eine blonde Strähne hinters Ohr. Yuugi blinzelte, aber als er die auffordernden Blicke seiner beiden Freunde sah, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und drückte vorsichtig Rebeccas Hand. "Ganz bestimmt nicht", krächzte er dann, räusperte sich und versuchte sich an einem Lächeln, als sie ihn auf seine Worte hin fragend und, wenn er das richtig interpretierte, seltsam hoffnungsvoll ansah. "I-Ich meine …" Yuugi brach ab, seufzte und sammelte sich kurz, ehe er wieder das Wort ergriff. "Ich würde mich freuen, wenn du in meinem Team bleiben würdest. U-Und nicht nur das. Ich … ich mag dich, Rebecca. Sehr sogar", gestand er und spürte zu seinem Entsetzen, wie Röte sein ganzes Gesicht flutete. Damit war er jedoch nicht alleine, denn Rebecca ging es nicht besser. Aus großen blauen Augen sah sie ihn ein paar Sekunden lang fassungslos an, ehe sich auf ihren Lippen ein so strahlendes Lächeln ausbreitete, dass Yuugi sich ein wenig geblendet fühlte. "Ich mag dich auch sehr, Yuugi", erwiderte Rebecca leise und nun war es an Yuugi zu strahlen. Er hatte so sehr gehofft, so etwas von ihr zu hören, aber er hatte nicht daran zu glauben gewagt. Aber es war passiert. Rebecca hatte ihm gesagt, dass sie ihn auch mochte. Und er hatte sich das nicht eingebildet, das wusste er, denn er hatte Zeugen für ihre Worte. Das war zwar zugegebenermaßen ein kleines bisschen peinlich, aber Yuugi war viel zu glücklich, als dass er sich wirklich Gedanken darüber gemacht hätte, dass er jetzt gerade nicht mit Rebecca alleine war. "Das freut mich", nuschelte er halb beschämt, halb überglücklich und hundertprozentig nicht bereit, Rebeccas Hand wieder loszulassen. Und wenn sie dadurch den Rest des Spiels verloren, war ihm das auch egal. Mokuba, der während des ganzen Geständnisses innerlich ganz fest beide Daumen gedrückt hatte, stieß erleichtert den angehaltenen Atem aus und ließ sich ein bisschen zur Seite rutschen, bis er sich an Ryous Schulter lehnen konnte. "Sieht ganz so aus, als bräuchte Yuugi unsere Hilfe gar nicht", murmelte er so leise, dass weder Yuugi noch Rebecca ihn hören konnten. "Das war echt ganz schön mutig von ihm, findest du nicht auch?", fragte er flüsternd und spürte mehr als er sah, wie Ryou nickte. "Ja, sehr", gab Ryou ebenso leise zurück. Auch er freute sich unbändig für seinen bunthaarigen Freund, aber ein ganz klein wenig beneidete er ihn auch. Bei ihm selbst war das Ganze leider nicht so einfach. Immerhin war Mokuba kein Mädchen. Das war schon mal ein ziemlich großes Hindernis. Und dadurch, dass sie immer noch nicht wussten, wann Ryuuji nach Hause kommen würde und wie es ihm ging, hing zwischen Mokuba und ihm auch weiterhin alles in der Schwebe. Immerhin hatte Mokuba derzeit einfach zu viel, was ihm im Kopf herumging, um sich Gedanken darüber zu machen, was er, Ryou, ihm vor genau einer Woche am letzten Tag ihrer Klassenfahrt gestanden hatte. Aber, ermahnte Ryou sich selbst, er hatte sich vorgenommen, geduldig zu sein. Er würde Mokuba alle Zeit der Welt geben, um herauszufinden, ob dieser nur Freundschaft für ihn empfand oder ob es zumindest eine kleine Chance gab, dass daraus irgendwann mal … mehr werden könnte. Es war zwar gerade in Momenten wie diesen, wenn Mokuba ihm so verflixt nah war, nicht gerade einfach, aber Ryou riss sich auch dieses Mal zusammen, stieß den Schwarzhaarigen einfach nur leicht an und bedachte ihn mit einem Lächeln, als Mokuba sich daraufhin wieder gerade aufsetzte und ihn fragend ansah. Ein bisschen vermisste Ryou die Wärme seines Freundes an seiner Schulter ja schon, aber er schob dieses Gefühl beiseite und erwiderte Mokubas fragenden Blick. "Vielleicht sollten wir langsam gehen. Es ist immerhin schon recht spät", schlug er vor und räusperte sich, um auch Yuugis und Rebeccas Aufmerksamkeit zu bekommen. "Ich denke, wir sollten für heute Schluss machen. Ich muss langsam nach Hause. Es ist bald Zeit fürs Abendessen", ließ er die beiden wissen und schmunzelte, als Yuugi ihn nach einem Blick auf seine Uhr überrascht anblinzelte. "Ihr habt Recht. Es ist echt schon ganz schön spät." Wie gut, sinnierte Yuugi, dass er seinen Eltern schon am Vorabend gesagt hatte, dass er heute Abend auch erst nach dem Abendessen wieder nach Hause kommen würde. Immerhin hatte er ja sowieso vorgehabt, Rebecca wieder zu seinem Opa zu begleiten. Das hatte er bisher jeden Abend in der vergangenen Woche getan. Und er hatte es nicht ein einziges Mal geschafft, sich von seinem Großvater loszueisen, ohne von diesem zum Mitessen genötigt worden zu sein, also hatte er sicherheitshalber lieber vorgesorgt. Und heute würde er immerhin seine Freundin noch zu seinem Opa begleiten. Da konnte nun wirklich niemand von ihm verlangen, dass er pünktlich zum Abendessen zu Hause war! "Ich bring dich noch zu Opa", wandte er sich an Rebecca, die seine Hand immer noch nicht losgelassen hatte, und sie strahlte ihn an. "Das freut mich", gab sie zurück, stand auf und zog Yuugi einfach mit sich – eine Aktion, die Mokuba zum Kichern brachte. "Hat mich wirklich gefreut, euch beide kennenzulernen. Vielleicht können wir ja irgendwann noch mal was zusammen unternehmen?", schlug Rebecca vor und während Mokuba und Ryou nickten, konnte Yuugi nicht aufhören zu lächeln. Es war einfach toll, dass seine Freunde und seine Freundin – Du liebe Güte, wie das klingt! – sich tatsächlich so gut verstanden, wie er gehofft hatte. Und wenn sie tatsächlich noch mal etwas zusammen unternehmen würden, dann, sinnierte Yuugi, konnte er sich sicher auch seinem eigenen Plan bezüglich Ryou und Mokuba widmen. Immerhin hatte er das ja heute doch sträflich vernachlässigt. Aber er war einfach zu abgelenkt gewesen von Rebecca. Gemeinsam verließen die Vier das Bowlingcenter und während Yuugi und Rebecca sich gemeinsam auf den Heimweg zu Yuugis Großvater machten, schlugen Ryou und Mokuba die entgegengesetzte Richtung ein. Dabei kicherte der Schwarzhaarige unaufhörlich. Er konnte einfach nicht verhehlen, dass er sich wahnsinnig darüber freute, dass Ryous und sein Plan aufgegangen war – noch viel besser, als er es sich erträumt hatte. Es war wirklich toll gewesen, Zeuge davon geworden zu sein, wie Yuugi seiner Angebeteten seine Gefühle gestanden hatte. "Das war wirklich süß. Yuugi, meine ich", wandte er sich an Ryou und dieser nickte, sagte aber nichts. Stattdessen beobachtete er einfach nur, wie Mokuba sich darüber freute, dass der Nachmittag so viel besser verlaufen war, als sie beide erwartet gehabt hatten. Ich wünschte nur, bei uns wäre das auch so einfach, dachte Ryou bei sich, bemühte sich aber, sich diesen Gedankengang nicht anmerken zu lassen. Jetzt gerade war die Stimmung zwischen ihnen so gut, da wollte er Mokuba nicht an etwas erinnern, was ihn bestimmt nur wieder runterziehen würde. Über seine Grübeleien entging Ryou völlig, dass sie inzwischen fast bei ihm zu Hause angekommen waren. Erst als Mokuba stehen blieb, tat Ryou es ihm gleich und blinzelte irritiert, als er vor sich das Haus aufragen sah, in dem er mit seinem Vater lebte. "Oh", entfuhr es ihm und seine Wangen röteten sich, als Mokuba leise lachte. "Du warst ja total weit weg", neckte Mokuba seinen weißhaarigen Freund und noch ehe dieser so recht wusste, wie ihm geschah, hatte Mokuba ihn auch schon umarmt. "Du bist echt der beste Mitverschwörer der Welt, Ryou", teilte er ihm mit, sobald er ihn wieder losgelassen hatte, und der Angesprochene schluckte etwas mühsam den Kloß herunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Am liebsten hätte er Mokuba festgehalten, aber das wäre nun wirklich alles andere als gut. Aus diesem Grund nahm er sich zurück und nickte dem Schwarzhaarigen einfach nur zu. "Danke, gleichfalls", gab er dessen Kompliment zurück und seufzte innerlich, als Mokuba ihn dafür strahlend anlächelte. Manchmal war es wirklich einfach nur scheußlich, verliebt zu sein. "Okay, dann … Wir sehen uns Montag in der Schule. Schönes Wochenende, Ryou", wünschte Mokuba seinem weißhaarigen Freund. Auch wenn er so tat, als hätte er es nicht gemerkt, ihm war nicht entgangen, dass Ryous Stimmung jetzt, wo sie beide alleine waren, ein bisschen eingebrochen war. Und ihm war durchaus bewusst, dass das an ihm und daran lag, dass er Ryou bisher immer noch nicht auf sein Geständnis vom vergangenen Freitag geantwortet hatte. Aber was, fragte Mokuba sich zum sicherlich hunderttausendsten Mal, sollte er antworten? Er wusste immer noch nicht, ob Ryou für ihn nur ein Freund war oder … nun ja, mehr als das. Und solange er sich nicht sicher war, konnte er Ryou auch keine Antwort geben. "Wünsche ich dir auch, Mokuba." Ryou lächelte den Schwarzhaarigen an, winkte ihm noch mal kurz zu und kramte dann seinen Schlüssel heraus, während Mokuba sich bereits auf den Heimweg machte. Sein Vater, dachte er mit einem Seufzen, würde sicher schon auf ihn warten. Aber darüber, wie er seinem Vater irgendwann vielleicht mal begreiflich machen sollte, dass er ganz schrecklich in einen seiner besten Freunde verliebt war, würde er heute ganz sicher nicht mehr nachdenken, beschloss Ryou. Dafür war auch morgen noch Zeit. Oder übermorgen. Oder irgendwann. Oder vielleicht überhaupt nicht. oOo Knappe vier Stunden, nachdem er gemeinsam mit Ryuuji heimgekehrt und nach unten gegangen war, um seinem Stiefbruder vorerst aus dem Weg zu gehen, verließ Seto den Pool wieder. Er hatte eine Bahn nach der anderen gezogen, aber wie bisher hatte ihm auch das nicht wirklich dabei geholfen, seine Gedanken zu ordnen. Ryuuji war zwar jetzt wieder da, aber nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, war er trotzdem immer noch unerreichbar. Und der Gedanke tat immer noch weh. Unwillig den Kopf schüttelnd schlüpfte Seto aus seiner Badehose und trat unter die Dusche. Seinem Hungergefühl nach zu urteilen dürfte es bald Zeit fürs Abendessen sein, also würde auch Mokuba sicher in Kürze wieder nach Hause kommen. Höchste Zeit also, dass er selbst auch wieder nach oben kam. Aus diesem Grund dehnte Seto die Dusche auch nicht allzu sehr aus, sondern drehte recht bald das Wasser wieder ab, schnappte sich ein Handtuch und rubbelte sich trocken, ehe er in die mitgebrachte Kleindung – eine bequeme dunkelblaue Hose und ein weißes Shirt – schlüpfte. Seine Schuluniform klemmte er sich unter den Arm, um sie erst mal in sein Zimmer zu bringen. Gerade als er den Raum wieder verlassen wollte, um nach unten zu gehen, wäre er im Flur um ein Haar mit seinem Vater zusammengestoßen. Dieser kam jedoch nicht aus Ryuujis Zimmer, wie Seto im ersten Moment vermutet hatte, sondern aus dem Raum daneben, den sein Vater am Vortag für Ryuujis Sachen hatte vorbereiten lassen, wie er wusste. Seto murmelte eine kurze Entschuldigung und blickte seinem Vater nach, als dieser nach unten ging. Dann haderte er einen Augenblick lang mit sich selbst, ehe er sich einen Ruck gab und zu dem Zimmer hinüberging, dessen Tür immer noch offen stand. Im Raum selbst standen einige Kartons verteilt. Diese waren es jedoch nicht, die Setos Aufmerksamkeit auf sich zogen, sondern derjenige, der auf einem Stuhl am Fenster saß und einen reichlich überfahrenen Eindruck auf ihn machte. "Ist alles in Ordnung?", erkundigte Seto sich leise und Ryuuji, der ihn nicht hatte kommen hören, zuckte erschrocken zusammen. "Hm? Ja, alles okay", murmelte er dann und bemühte sich, sich wieder zusammenzureißen. Das Gespräch, das er bis gerade noch mit seinem Stiefvater geführt hatte, war in eine völlig andere Richtung gegangen, als er anfänglich befürchtet hatte. Gozaburo hatte ihm einige Dinge über sich selbst erzählt, die er niemals erwartet hatte, und das hatte ihn schon ziemlich aus den Socken gehauen. Dass sein Stiefvater dadurch, dass er früher eine reine Jungenschule besucht hatte, wesentlich mehr Erfahrungen mit Homosexualität hatte, als er selbst ihm zugetraut hätte, hatte Ryuuji jedenfalls definitiv nicht kommen sehen. Und dass Gozaburo offenbar nicht nur keinerlei Vorbehalte gegen ihn hegte, nachdem er jetzt von seiner eigenen sexuellen Orientierung wusste, sondern dass er sogar nachvollziehen konnte, warum seine Mutter ihm nicht früher davon erzählt hatte, hatte Ryuuji endgültig komplett verwirrt. Er hatte mit vielem gerechnet, aber ganz sicher nicht damit. "Du siehst nicht so aus, als wäre wirklich alles okay mit dir." So ganz schaffte Seto es nicht, die Besorgnis aus seiner Stimme herauszuhalten. Zu seiner Erleichterung schien sein Stiefbruder allerdings viel zu abgelenkt zu sein, um diesen Unterton wahrzunehmen. Wieder fühlte er den Drang in sich aufsteigen, einfach zu Ryuuji hinüberzugehen und ihn vom Stuhl hoch in seine Arme zu ziehen, aber mit all der Willenskraft, die er aufbringen konnte, hinderte er sich selbst daran und blieb stattdessen, wo er war. Leicht fiel ihm das nicht, aber, ermahnte er sich zum wiederholten Male selbst, es war besser so. Sollte er Ryuuji zu nah kommen, würde es unter Garantie ein Unglück geben. Obwohl es in der Situation eigentlich nicht unbedingt angebracht war, musste Ryuuji trotzdem ein wenig grinsen. "Wenn das so aussieht, dann ist das die Schuld deines Vaters", erwiderte er, stand auf und schüttelte amüsiert den Kopf, als Seto ihn auf seine Worte hin verwirrt anblickte. "Nicht so wichtig. Ich hab gerade nur ein ziemlich langes Gespräch mit deinem Vater gehabt und er hat mich mit ein paar Ansichten ziemlich überrascht", ließ er Seto dann wissen, behielt den Inhalt des Gesprächs allerdings lieber für sich. Seto musste weder wissen, dass er selbst sich gerade auch noch vor seinem Vater geoutet hatte, noch musste er wissen, wie dieser darauf reagiert hatte. Obwohl das, wie Ryuuji fand, eigentlich definitiv nichts war, wofür Seto oder gar Gozaburo sich schämen mussten. Eher im Gegenteil. Da Seto nichts einfiel, was er darauf erwidern konnte, räusperte er sich erst einmal, ehe er ein Nicken in Richtung der Treppe andeutete. "Wir sollten schon mal zum Essen runtergehen. Mokuba wird sicher auch bald wieder da sein", vermutete er und wandte sich zum Gehen. Ryuuji nickte und folgte seinem Stiefbruder, nachdem er noch eben die Tür hinter sich zugezogen hatte. Und erst auf dem Weg nach unten fiel ihm auf, dass Setos Haare noch ein bisschen feucht waren. Also war er wirklich unten im Pool, dachte Ryuuji und seufzte innerlich. Gut, dass ich doch nicht nachgesehen hab. Das hätte mir definitiv den Rest gegeben. oOo Mokuba, der sich inzwischen nach seiner Verabschiedung von Ryou von dem kurzfristigen Stimmungsknick, den das verursacht hatte, wieder erholt hatte, konnte gar nicht so breit grinsen, wie er es gerne getan hätte, als endlich das Tor der heimischen Villa in Sichtweite kam. Zwar hätte er sich auch wie üblich von Isono-san bei Ryou abholen lassen können, aber er hatte nach den vergangenen Stunden so viel überschüssige Energie, dass er einfach hatte laufen müssen. Brav stillsitzen in der Limousine wäre ihm definitiv absolut unmöglich gewesen, deshalb hatte er Isono-san und sich selbst das erspart. Jetzt war er zwar ein bisschen außer Atem, als er endlich die Tür der Villa öffnete und hinter sich wieder zuwarf, aber seiner guten Laune tat das keinen Abbruch. "Ich bin zu Hause!", ließ er seine Familie lautstark wissen, hängte eben seine Jacke auf und zog seine Schuhe aus und wollte dann nach oben sprinten, um seine Schultasche wegzubringen. Stattdessen blieb er jedoch wie angewurzelt mitten im Flur stehen, als er seinen großen Bruder gemeinsam mit Ryuuji die Treppe herunterkommen sah. Für einen Moment klappte ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Kinnlade herunter, doch Mokuba fasste sich rasch wieder, ließ seine Tasche einfach fallen und stürzte dann auf seinen Stiefbruder zu. "Du bist wieder da!", nuschelte er in Ryuujis Shirt, während er sich gleichzeitig so fest an ihn drückte, dass Ryuuji leise ächzte. "Hey, lass mich leben, Kleiner", neckte er den Jüngeren und sobald dieser seinen Klammergriff zumindest ein bisschen gelöst hatte, um ihn anzusehen, wuschelte er ihm lächelnd durch die Haare. "Aber ja, bin ich. Und anhand deines Überfalls vermute ich einfach mal, dass du mich zumindest ein ganz kleines bisschen vermisst hast", zog er ihn weiter auf und Mokuba nickte hektisch. "Und wie!", gab er zu und löste einen Arm von Ryuuji, um Seto in die Seite knuffen zu können. "Warum hast du mich nicht angerufen?", wollte er vorwurfsvoll wissen und sein großer Bruder seufzte. "Weil ich dir deine Nachmittagsplanung nicht kaputtmachen wollte", erwiderte er und lächelte entschuldigend, aber ehe er noch mehr sagen konnte, mischte Ryuuji sich ein. "Ich lauf dir doch nicht weg, Mokuba", ließ er den Jungen mit einem weiteren Lächeln wissen und Mokuba bedachte seinen Bruder noch kurz mit einem bemüht strafenden Blick, ehe er sich wieder seinem Stiefbruder zuwandte. "Wie geht's dir?", wollte er leise wissen und seufzte erleichtert, als Ryuuji ihn noch mal kurz an sich drückte. "Mir geht's gut, Mokuba", versicherte dieser dem Jüngeren und Mokuba sah ihn skeptisch an, aber Ryuuji machte tatsächlich einen gerade erstaunlich gut gelaunten Eindruck auf ihn. Einen Moment lang war Mokuba versucht, ihn auszufragen, was er in der vergangenen Woche getan hatte, aber er entschied sich dagegen. Immerhin wollte er nicht riskieren, dass er mit seinen unbedachten Worten die Wunden, die sicher gerade erst langsam zu heilen begannen, wieder aufriss. Aus diesem Grund stellte er keine der Fragen, die ihm auf der Zunge lagen, sondern grinste seine beiden Brüder einfach nur breit an. "Yuugi hat seit heute Nachmittag übrigens eine Freundin!", ließ er sie dann wissen, schnappte sich von jedem der beiden einen Arm und schleifte sie hinüber ins Esszimmer. Um seine Schultasche, das hatte er gerade beschlossen, konnte er sich auch nach dem Essen noch kümmern. Jetzt gab es erst mal Wichtigeres als das. Zum Einen hatte er wirklich einen Bärenhunger und zum Anderen konnte er es kaum erwarten, Seto und Ryuuji ausführlich von seinem Nachmittag zu erzählen. Den amüsierten Blick, den Ryuuji seinem Bruder über seinen Kopf hinweg zuwarf und der Setos Herzschlag wieder einmal zum Stolpern brachte, bemerkte Mokuba nicht. Kapitel 35: Familie und Freunde ------------------------------- Am Samstagmorgen war Ryuuji schon gegen sieben Uhr vollends ausgeschlafen. Eigentlich, ganz genau betrachtet, lag er schon seit fast einer Stunde wach in seinem Bett, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und starrte an die Decke, ohne wirklich etwas zu sehen. In seinem Kopf herrschte Chaos und es war nicht einfach, zumindest annähernd so etwas wie Ordnung hineinzubringen. Mit einem abgrundtiefen Seufzen gab er also schließlich den Versuch auf, rappelte sich auf und machte sich auf den Weg ins Bad. Wenn er eh schon mal wach war, dachte er pragmatisch, konnte er sich ja heute auch mal um das Frühstück kümmern. Zeit genug dafür hatte er immerhin. Gedacht, getan. Ryuuji duschte, band sich seine Haare zusammen und schlüpfte in eine schwarze Jeans und ein ebenso schwarzes Shirt. Dann ging er leise nach unten in die Küche. Er brauchte eine Weile, bis er alles gefunden hatte, was er suchte, aber dann machte er sich daran, Pancakes für seine Familie vorzubereiten. Das, sinnierte er, während er den Teig anrührte, wäre mal was anderes. Aber es war etwas, was er kannte und von dem er wusste, dass zumindest seine Mutter sie gerne aß. Und er hoffte, Seto, Mokuba und Gozaburo würden die Pancakes auch mögen. Danach hätte ich vielleicht gestern mal fragen sollen, fiel es Ryuuji mit einiger Verspätung ein und er lachte leise über sich selbst. Aber nach allem, was gestern und generell in der letzten Woche passiert war, durfte er ja wohl ein bisschen durch den Wind sein. Ryuuji schüttelte den Kopf, um dem Chaos nicht schon wieder viel zu viel Raum zu geben, aber dafür war es zu spät. Es war einfach so viel geschehen. Sein Vater, das Gespräch mit Gozaburo am vergangenen Nachmittag und dann das, was Mokuba Seto und ihm gestern Abend halb atemlos vor Aufregung erzählt hatte, dazu dann auch noch die Tatsache, dass Katsuya und Bakura am Nachmittag vorbeikommen würden … Wenn er ehrlich war, dann wusste Ryuuji im Moment nicht so recht, wo ihm der Kopf stand. Aus diesem Grund richtete er seine volle Konzentration auf das, was seine Hände taten. So, so hoffte er, würde er das Gedankenkarussell vielleicht irgendwann dazu bringen können, endlich anzuhalten. Ganz wollte ihm die Ablenkung allerdings nicht glücken, so dass er schlussendlich das auch in der kaibaschen Küche obligatorische Radio einschaltete. Hier einen passenden Sender zu finden war ein bisschen schwieriger, aber nach kurzer Suche wurde er doch fündig und begann zu den Takten von Phil Collins' ›Two Hearts‹ damit, die Pancakes auszubacken. Sobald er damit fertig war, schob er sie zum Warmhalten in den Backofen und überlegte. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, rein zur Sicherheit auch noch etwas traditionell Japanisches vorzubereiten? Mitten in diese Überlegungen hinein tauchte ein etwas verschlafen, aber dennoch gut gelaunt wirkender Mokuba auf. "Du bist aber früh wach, Ryuuji", wandte der Junge sich an seinen Stiefbruder und trat schnuppernd in die Küche. "Was riecht denn hier so lecker?", wollte er neugierig wissen und Ryuuji wuschelte ihm grinsend durch die ohnehin schon wirren schwarzen Haare. "Pancakes", beantwortete er die ihm gestellte Frage und sah seinerseits den Jüngeren mit schiefgelegtem Kopf an. "Meinst du, du, dein Vater und dein Bruder mögen Pancakes? Sonst muss ich mir fürs Frühstück noch was anderes einfallen lassen", schob er noch hinterher und Mokubas Augen wurden groß. "Die hast du gemacht? Ganz alleine?", fragte er und als sein Stiefbruder nickte, blinzelte er überrascht. "Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst." Und das erstaunte ihn zugegebenermaßen schon. Er selbst hatte jedenfalls vom Kochen absolut keine Ahnung. Ja, gut, eine Tasse Tee konnte er sich notfalls selbst zubereiten und auch ein Sandwich bekam er gerade noch so hin, aber für mehr reichten seine Talente auf diesem Gebiet definitiv nicht aus. Und seinem großen Bruder ging es da nicht anders, das wusste Mokuba aus Erfahrung. Immerhin hatten sie schon seit ihrer Kindheit immer Personal gehabt, das sich um solche Dinge gekümmert hatte. Irgendwie, stellte Mokuba etwas beschämt fest, hatte er sich schon so sehr an Ryuujis Anwesenheit hier als Teil seiner Familie gewöhnt, dass er bis gerade vollkommen vergessen gehabt hatte, dass Ryuuji nicht ebenso wie er aufgewachsen war. Wie peinlich! "Normalerweise mache ich am Wochenende immer das Frühstück für Mum und mich, wenn ich hier bin", riss Ryuujis Stimme Mokuba aus seinen Gedanken und der Fünfzehnjährige blinzelte. "Letztes Wochenende hab ich das zwar verpennt, aber da ich jetzt wieder da bin, dachte ich mir, das wäre eine gute Gelegenheit, das Verpasste nachzuholen." Ryuuji zwinkerte dem Jüngeren zu und legte fragend den Kopf schief. "Was meinst du, reichen die Pancakes oder soll ich lieber noch was Traditionelleres machen?", wollte er wissen. Mokuba überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. "Das ist bestimmt in Ordnung." Es war zwar schon eine Weile her, seit er selbst das letzte Mal Pancakes gegessen hatte, aber allein der Duft, der immer noch in der Küche hing, reichte schon aus, um ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen zu lassen. Und seinem Vater und seinem Bruder würde es bestimmt genauso gehen. Außerdem hatte Ryuuji sich jetzt schon so viel Arbeit gemacht, da sollten sie das ja wohl auch würdigen. "Kann ich dir noch bei irgendwas helfen?", erkundigte Mokuba sich und Ryuuji überlegte kurz, dann machte er sich an den Küchenschränken zu schaffen. "Du kannst mir schon mal beim Tischdecken helfen, wenn du Lust hast", bot er an und der Fünfzehnjährige nahm mit einem eifrigen Nicken die Teller entgegen, die sein Stiefbruder ihm in die Hände drückte. Bewaffnet mit diesen ging er hinüber ins Esszimmer, stellte die Teller dort auf den Tisch und kratzte sich dann ratlos an der Nase. Er hatte noch nie selbst den Tisch gedeckt und war deshalb peinlicherweise etwas überfordert mit dem, was von ihm verlangt wurde. Ryuuji, der noch eben Besteck und Gläser organisiert hatte, fand Mokuba verwirrt den Tisch anstarrend, auf dem er die Teller abgestellt hatte, als er selbst auch ins Esszimmer kam. Unwillkürlich musste er grinsen. Er hatte durchaus mitbekommen, dass sich üblicherweise das kaibasche Personal um alles kümmerte, was mit der Zubereitung und dem Servieren des Essens zu tun hatte. Mokuba wusste also offenbar nicht, was er jetzt tun sollte, aber Ryuuji beschloss, ihn nicht damit aufzuziehen. Stattdessen begann er einfach damit, die Gläser und das Besteck zu verteilen, und nickte Mokuba dann auffordernd zu. "Stell die Teller einfach hier hin. An jeden Platz einen", wies er den Jungen an und dieser lächelte verlegen, ehe er sich daran machte, der Aufforderung Folge zu leisten. "So?", erkundigte er sich unsicher, nachdem er fertig war, und atmete erleichtert auf, als Ryuuji ihm lächelnd zunickte. "Ganz genau so. Danke, Mokuba", wandte dieser sich an den Fünfzehnjährigen und warf dann einen Blick auf die Uhr. Inzwischen war es schon halb neun, also würde der Rest der Familie sicher über kurz oder lang auftauchen. Höchste Zeit also, sich um den Kaffee für ihre Eltern zu kümmern. Ryuuji wuschelte Mokuba noch mal durch die Haare, dann verschwand er summend wieder in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuwerfen. Und dann konnte das Frühstück auch langsam beginnen, wenn es nach ihm ging. Inzwischen hatte er nämlich eindeutig Hunger. In Ermangelung von etwas Besserem zu tun folgte Mokuba seinem Stiefbruder zurück in die Küche, nahm dort auf einem Hocker Platz und beobachtete, wie Ryuuji durch den Raum wirbelte. "Das macht dir Spaß, oder?", erkundigte er sich irgendwann und Ryuuji warf ihm über seine Schulter hinweg ein kurzes Grinsen zu. "Allerdings. Ich war meistens früher zu Hause als Mum oder Dad. Mum ist zwar eine super Köchin, aber Dad war in der Küche echt lausig. Er konnte zwar kochen, aber er hat's gehasst. Und ich hatte keine Lust auf ständiges Take Out, also musste ich mir eine Alternative einfallen lassen. Und deshalb hab ich mir irgendwann selbst das Kochen beigebracht", erklärte er und sein Grinsen bekam etwas Wehmütiges, das er jedoch schnell wieder unterdrückte. Er wollte jetzt nicht schon wieder in trüben Gedanken versinken. Nicht so früh am Morgen schon. Mokuba entging der Stimmungsknick seines Stiefbruders nicht. Einen Moment lang haderte er mit sich selbst, dann platzte er mit dem erstbesten heraus, was ihm einfiel: "Könntest du mir das auch beibringen?" Aus großen blauen Augen sah er Ryuuji an und dieser blinzelte überrascht, ehe sich auf seine Lippen wieder ein Lächeln schlich. "Klar, gerne, wenn du willst", bot er an und Mokuba stand von dem Hocker auf, auf dem er gesessen hatte, trat zu seinem Stiefbruder und drückte ihn ganz fest. "Danke. Und ich hab dich echt vermisst. Und ich hab mir Sorgen gemacht", nuschelte er leise in Ryuujis Shirt und seufzte zufrieden, als dieser ihm tröstend über die Haare strich. "Ich hab euch auch vermisst", gab Ryuuji zu und legte seinerseits die Arme um Mokuba. Dabei konnte er nicht leugnen, dass es verdammt gut tat, so umarmt zu werden. "Aber du musst dir meinetwegen keine Sorgen mehr machen. Mir geht's gut. Zumindest einigermaßen." Und das war nicht mal gelogen. Ja, es war immer noch nicht leicht, mit dem Wissen leben zu müssen, dass er seinen Vater nie wiedersehen würde, aber er würde das schon schaffen. Immerhin, sinnierte Ryuuji, war er ja nicht ganz alleine. Er hatte schließlich immer noch seine restliche Familie und auch seine Freunde, die für ihn da waren. Beim Gedanken an seine Freunde verbiss Ryuuji sich ein Seufzen. Katsuya würde ihn später garantiert noch ordentlich durch die Mangel drehen, davon war er felsenfest überzeugt. Immerhin war der Blondschopf gestern immer noch reichlich angesäuert gewesen, weil er sich nicht früher persönlich bei ihm gemeldet hatte. Aber, sinnierte Ryuuji, dafür hatte ihm in der letzten Woche einfach die Energie gefehlt. Nach allem, was er tagsüber zu tun gehabt hatte, auch noch mit Katsuya zu telefonieren und sich mit ihm auseinandersetzen zu müssen hätte seine Kraft bei weitem überstiegen. Nach dem gestrigen Abend allerdings, den er tatsächlich im Kreis seiner gesamten neuen Familie verbracht hatte, fühlte er sich dem, was später noch vor ihm lag, deutlich gewachsener. Es war unleugbar schön gewesen, nicht nur mit seiner Mutter, sondern auch mit Gozaburo, Mokuba und auch Seto im Wohnzimmer zu hocken und einfach nur zu reden. Selbst als das Gespräch hin und wieder auf seinen Vater gekommen war, hatte er einfach keine Zeit gehabt, um sich komplett in seiner Trauer zu vergraben. Das hatte seine Familie nicht zugelassen. Und Ryuuji war sehr dankbar dafür. Etwas widerstrebend ließ er Mokuba, den er die ganze Zeit über festgehalten hatte, wieder los, sobald der Kaffee fertig war. Der Rest ihrer Familie würde sicher auch bald auftauchen, also wurde es höchste Zeit, auch noch den Rest dessen, was sie fürs Frühstücks brauchen würden, nach drüben ins Esszimmer zu bringen. Mokuba verstand den Wink und schnappte sich die Kaffeekanne, die Ryuuji ihm in die Hände drückte. Ryuuji selbst nahm die Tassen und stellte diese an den Plätzen ab, wo seine Mutter und sein Stiefvater immer zu sitzen pflegten. Genauso – gemeinsam den Tisch deckend und dabei miteinander scherzend – fand Seto seine beiden Brüder vor, als er selbst nach einer nicht unbedingt erholsamen Nacht nach unten kam. Da sein Vater und seine Stiefmutter jedoch kurz nach ihm ebenfalls im Esszimmer erschienen, sagte er nichts, sondern nickte nur grüßend in die Runde. Es war zwar reichlich ungewöhnlich, dass Mokuba schon so früh wach war, aber zumindest ein wenig konnte Seto seinen Bruder durchaus verstehen. Wahrscheinlich, sinnierte er, hatte Mokuba auch nicht allzu viel Schlaf gefunden – jetzt, wo Ryuuji wieder da war. Allerdings, dachte Seto mit einem innerlichen Seufzen, während er gemeinsam mit dem Rest seiner Familie am Esstisch Platz nahm und sich die Pancakes, die, wie Mokuba verkündete, Ryuuji für sie alle gemacht hatte, schmecken ließ, rührte Mokubas Schlafdefizit wohl kaum vom gleichen Grund her wie sein eigenes. Immerhin hatte sein kleiner Bruder andere Dinge im Kopf als die unglückliche Liebe, mit der er selbst sich herumschlug und die, wie er am Vorabend festgestellt hatte, eindeutig nicht weniger werden wollte. Eher im Gegenteil. Jetzt, wo Ryuuji wieder da war, schien sein Herz seinen normalen Takt gar nicht mehr aufnehmen zu wollen – ein Grund, weshalb er sich schon wieder die halbe Nacht lang schlaflos in seinem Bett herumgewälzt hatte. Aber das war etwas, was Seto lieber für sich behalten wollte. Es reichte, wenn sich alle Sorgen um Ryuuji machten. Sie mussten sich nicht auch noch seinetwegen sorgen. Außerdem wollte Seto auch niemandem erklären müssen, welchen Grund seine Schlaflosigkeit hatte. Das war etwas, das außer ihm nun wirklich niemand wissen musste. Über Mokubas fröhliches Geplapper, in das zwischendurch auch Ryuuji immer wieder einstieg, verging das Frühstück ebenso kurzweilig wie der vergangene Abend. Es war, das konnte Seto nicht leugnen, wirklich etwas, das sich nach ›Familie‹ anfühlte. Wenn er selbst es jetzt nur noch irgendwie schaffen könnte, in Ryuuji nicht mehr als bloß seinen Stiefbruder zu sehen, dann wäre alles in bester Ordnung. Dann könnte er seine Sorge um ihn offen zeigen und müsste nicht fürchten, dass er etwas Falsches tun würde, wenn er mit ihm alleine war. Aber das, dessen war Seto sich nach der vergangenen Nacht nur noch sicherer, war Wunschdenken. Er konnte nicht vergessen, was er empfand. Er konnte nur versuchen, es zu verdrängen und sich nichts davon anmerken zu lassen, aber das war auch schon alles. "Ach übrigens, Mum, ich hab Katsuya und Bakura für heute Nachmittag eingeladen", riss Ryuujis Stimme Seto wieder aus seinen Gedanken und erinnerte ihn an etwas anderes, was er lieber verdrängt hätte. Zumindest noch für eine Weile. Aber jetzt war es dafür zu spät. Seto seufzte innerlich, ließ sich davon aber nach außen hin nichts anmerken. Er hatte immerhin am Vortag die beiden Störenfriede selbst hierher in sein Zuhause eingeladen, um Ryuuji zu helfen. Da konnte er jetzt wohl kaum etwas dagegen haben. Außerdem reichte auch allein die Erinnerung an das dankbare Lächeln, mit dem Ryuuji ihn für diese Aktion seinerseits bedacht hatte, vollkommen aus, damit diese ganze Sache irgendwie doch in Ordnung war. Und, argumentierte Seto mit sich selbst, er musste ja nicht unbedingt dabei sein, wenn Ryuuji sich mit dem Köter und seinem kriminellen Freund oder Bruder oder was auch immer Kinoshita für ihn sein mochte, befasste. Das, dessen war Seto sich absolut sicher, war ohnehin etwas, was er nicht mitansehen wollte. "Bakura kommt auch?" Mokuba horchte auf, als er die Pläne seines Stiefbruders für den Nachmittag vernahm. Und als Ryuuji zur Bestätigung nickte, begannen die Gedanken des Fünfzehnjährigen, sich zu überschlagen. Mit einem Mal konnte es ihm gar nicht schnell genug gehen, bis das Frühstück zu Ende war. Und kaum dass seine Familie mit dem Essen fertig war, entschuldigte Mokuba sich auch schon und sprintete nach oben in sein Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und ließ sich auf sein Bett fallen, um nach seinem Handy zu kramen. Die Nummer, die er suchte, war schnell gefunden und auch ebenso schnell gewählt. Ungeduldig wartete Mokuba darauf, dass am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde. Als das endlich der Fall war, rief er sich innerlich zur Ordnung und zwang seine Ungeduld nieder. Jetzt direkt mit der Tür ins Haus zu fallen wäre eine ganz schlechte Idee, das wusste er genau. "Kinoshita-san? Guten Morgen. Kaiba Mokuba hier", begrüßte er daher ausgesucht höflich den Vater seines weißhaarigen Freundes und betete insgeheim, dass dieser seiner Stimme nicht anhörte, was in ihm vorging. "Es tut mir leid, dass ich Sie am Wochenende so früh störe, aber ich habe eine große Bitte an Sie und Ryou. Wir schreiben in der nächsten Woche eine Geschichtsklausur", was durchaus der Wahrheit entsprach und daher sicher kein Misstrauen bei Ryous Vater wecken würde, "und ich befürchte, ich bin nicht besonders gut vorbereitet. Und weil Ryou so gut in Geschichte ist, hatte ich gehofft, er könnte vielleicht heute zu mir kommen, damit wir zusammen noch etwas lernen können. Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber es wäre wirklich dringend. Sonst würde ich Sie und Ryou selbstverständlich nicht am Wochenende belästigen." Mokuba betete innerlich, dass seiner Stimme nicht anzuhören war, was in seinem Kopf vorging. Kinoshita-san durfte einfach nicht Nein sagen! Es dauerte einen Moment, doch dann kam durch die Leitung die erlösende Erlaubnis, auf die Mokuba so sehr gehofft hatte. Nur mit Mühe gelang es ihm, einen Jubelschrei zu unterdrücken. "Vielen, vielen Dank, Kinoshita-san. Ich schicke dann später Isono-san vorbei, um Ryou abzuholen. Wäre zwei Uhr in Ordnung? Selbstverständlich bringen wir Ryou heute Abend auch wieder nach Hause", versicherte er und nachdem auch dieser Vorschlag seinerseits verbal abgenickt worden war, beendete Mokuba nach einer höflichen Verabschiedung das Gespräch, ließ sich nach hinten kippen und grinste an seine Zimmerdecke. Ryou würde ganz sicher nicht damit rechnen, hier heute auf seinen großen Bruder zu treffen. Und diese Überraschung hatte er sich nach allem, was er in der letzten Woche und auch davor immer für ihn, Mokuba, getan hatte, redlich verdient. Und vielleicht, so hoffte Mokuba insgeheim, würde das Ryou ja auch zumindest ein kleines bisschen dafür entschädigen, dass er selbst ihm bisher noch keine richtige Antwort auf sein Geständnis von der Klassenfahrt gegeben hatte. oOo Seto blickte seinem Bruder kurz nach, als dieser das Esszimmer verließ. Auf ihn hatte Mokuba gewirkt, als würde er etwas aushecken, aber er war nicht sicher, ob es eine gute Idee wäre, jetzt nachzufragen, was das wohl sein mochte. Trotzdem erhob Seto sich und machte sich ebenfalls auf den Weg nach oben in sein Zimmer. Er brauchte jetzt ein bisschen Abstand, um sich seelisch darauf vorzubereiten, dass er sich heute Nachmittag mit Jounouchi und Kinoshita würde herumschlagen müssen. Auch wenn er keinesfalls vorhatte, den beiden allzu oft persönlich zu begegnen, das würde sich wohl kaum dauerhaft verhindern lassen. Und er wollte Ryuuji ganz sicher nicht den Trost, den sein bester Freund ihm spenden konnte, dadurch verderben, dass er sich zu einem seiner üblichen Wortgefechte mit der blonden Pest hinreißen ließ. Er brauchte also etwas, womit er sich ablenken konnte. Und irgendwie bezweifelte Seto, dass seine Hausaufgaben vom Freitag diesen Zweck erfüllen würden. Also würde er etwas anderes finden müssen. Aber was? Eine reichlich unerwartete Antwort auf diese Frage blinkte Seto entgegen, als er sein Zimmer betrat und einen Blick auf sein Handy warf, das er, wie üblich, zum Frühstück nicht mit nach unten genommen hatte. Yami hatte ihm offenbar gleich nach dem Aufwachen eine Sprachnachricht geschickt, die er jetzt erst abhören konnte, weil er vor dem Frühstück nicht nach seinem Handy gesehen hatte. Allerdings machte die Nachricht für Seto nicht allzu viel Sinn, denn Yamis Stimme klang atemlos und überschlug sich mehrmals, so dass er kaum mehr als ›Malik‹ und ›gestern‹ aus allem herausfiltern konnte. Seto zögerte nicht lange, sondern wählte Yamis Nummer. "Ja?", schallte es ihm kurz darauf auch schon entgegen und Seto sparte sich die Begrüßung. Yami hatte ja wohl gesehen, wer ihn jetzt anrief, also musste er ja keine unnötige Zeit verschwenden. "Was ist passiert?", fiel er stattdessen mit der Tür ins Haus und vom anderen Ende der Leitung drangen Geräusche, die klangen, als würde Yami erst einmal die Tür seines Zimmers hinter sich zuschieben, ehe er antwortete – eine Vorsichtsmaßnahme, die Seto zugegebenermaßen etwas in Alarmbereitschaft versetzte. Hatte Malik Yami gestern irgendetwas angetan? "Malik hat mich gestern geküsst", drang Yamis leise Antwort in Setos Gedanken und Seto, der in Erwartung einer schlimmen Nachricht unruhig durch sein Zimmer getigert war, blieb abrupt stehen. "Er hat was?", versicherte er sich dessen, was er gehört zu haben glaubte, und Yami seufzte zittrig. "Er hat mich geküsst, Seto. Einfach so. Und es war … es war einfach unbeschreiblich", murmelte er und Seto konnte an den Geräuschen, die sein bester Freund machte, hören, wie Yami sich in dem Sessel, der in seinem Zimmer stand, einigelte, ohne das Handy aus der Hand zu legen. "Ich war so … Ich … Er … Seto, ich weiß nicht …." Die fast schon greifbare Unsicherheit seines besten Freundes, der sonst eigentlich vor Selbstbewusstsein nur so strotzte, nahm Seto die Entscheidung darüber, was er mit seinem Samstag anfangen sollte, binnen Sekunden ab. "Ich komme zu dir. Dann können wir in Ruhe reden", beschloss er, wartete noch eben kurz Yamis Versicherung, dass er ihn erwarten würde, ab, und legte dann auf. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte Seto, dass es wie aus Eimern schüttete, aber das war kein allzu großes Problem. Er würde einfach Isono-san bitten, ihn eben bei Yami abzusetzen. So konnte er für seinen besten Freund da sein und gleichzeitig Jounouchi aus dem Weg gehen. Und er müsste außerdem nicht mitansehen, wie vertraut Ryuuji und die blonde Pest miteinander umgingen. Das war eindeutig ein weiterer Pluspunkt. Jetzt jedoch war es erst mal wichtig, dass er sich um seinen besten Freund kümmerte. Seto schnappte sich auf dem Weg nach unten noch schnell seinen Mantel von der Garderobe und machte sich dann auf die Suche nach Isono-san, der ohne die geringste Spur von Verwunderung für den ungeplanten Ausflug des ältesten Sohnes seines Arbeitgebers die Limousine vorfuhr und diese nach Setos Einsteigen auch gleich durch den immer dichter werdenden Regen in Richtung des Hauses lenkte, in dem die Familie Muto wohnte. Die ganzen beinahe zwanzig Minuten, die die Fahrt dieses Mal dauerte – fast doppelt so lange wie üblich –, saß Seto wie auf heißen Kohlen. So durcheinander, wie Yami gerade am Telefon geklungen hatte, kannte er seinen besten Freund ganz und gar nicht. Hatte er den Kuss, den Malik seinen Worten zufolge initiiert hatte, vielleicht doch nicht gewollt? Was war bloß los? Und warum, verdammt noch mal, dauerte diese elende Fahrt so lange? Seto war rational gesehen durchaus bewusst, dass Isono-san aufgrund des immer schlechter werdenden Wetters wohl kaum schneller fahren konnte, aber trotzdem verging die Zeit für seinen Geschmack gerade viel zu langsam. Gerade als Setos Geduld fast am Ende angelangt war, hielt die Limousine doch endlich und kurz darauf wurde auch schon die Tür für ihn geöffnet. Seto murmelte einen knappen Dank, dann rauschte er auch schon an Isono-san vorbei, schlug den Kragen seines Mantels gegen den heftigen Regen hoch und beeilte sich, unter das Vordach zu kommen und zu klingeln. Yamis Mutter, die ihn irritiert ansah, begrüßte er so höflich, wie es ihm unter den Umständen möglich war, und schob sich dann an ihr vorbei, ohne ihren verwunderten Fragen nach seinem unangemeldeten Auftauchen Beachtung zu schenken. Er hatte jetzt keine Zeit für Erklärungen. Nicht, wenn sein bester Freund ihn brauchte. Ein Klopfen an seiner Zimmertür riss Yami, der immer noch sein Handy in der Hand hatte, aus seinen Gedanken. Etwas zögerlich erhob er sich und ging zur Tür, um zu öffnen. Und als er sich den blauen Augen seines besten Freundes gegenübersah, in denen deutlich erkennbar Sorge um ihn lag, entschlüpfte Yami ein zittriges Seufzen. "Komm rein, Seto", lud er den Brünetten ein, schob die Tür hinter ihm wieder zu und kehrte zu seinem Sessel zurück, um sich wieder halb auf diesem einzurollen. "Was ist los, Yami?", erkundigte Seto sich, nachdem er sich den Schreibtischstuhl seines besten Freundes herangezogen und zu dem Sessel geschoben hatte, in dem Yami hockte. "Was ist passiert?", bohrte er weiter nach, sobald er Platz genommen hatte, und wieder seufzte Yami abgrundtief. Die unterschwellige Frage danach, ob Malik ihm etwas angetan hatte, war ihm keinesfalls entgangen. "Eigentlich nichts Schlimmes. Jedenfalls nicht wirklich. Eigentlich … eigentlich war der gestrige Abend einfach nur umwerfend." Bei diesen Worten legte sich ein Lächeln auf Yamis Lippen, das eine Spur verträumt aussah, denn das war nicht gelogen. Ganz und gar nicht. Der Nachmittag hatte zwar anders begonnen, als er erwartet hatte, aber er hatte ja auch nicht damit gerechnet, wie er geendet hatte. Aber wie hätte er das auch ahnen sollen? "Vielleicht sollte ich am Anfang anfangen", beschloss Yami, setzte sich ein wenig auf und sah seinen besten Freund an. "Wir waren gestern nicht im Museum, sondern erst in einem Coffeeshop und dann … Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wo wir danach waren. Malik hat mich mit seiner Maschine irgendwohin mitgenommen, wo ich noch nie war. Irgendein ziemlich großes, ziemlich abgelegenes Waldstück. Er hat mir erzählt, dass er immer, wenn er mit seinen Geschwistern umzieht, nach so etwas sucht – einem Ort, wo er ganz für sich alleine sein kann", begann er also seine Erzählung, immer beobachtet von den aufmerksamen blauen Augen seines besten Freundes, der jedoch vorerst nichts dazu sagte. Stattdessen zog er es vor zu schweigen, damit Yami sich erst mal das, was ihn offenbar so sehr beschäftigte, von der Seele reden konnte. "Und da hat er dann … Er hat mich geküsst, Seto." Yamis Wangen röteten sich bei der Erinnerung daran, wie es sich angefühlt hatte, Malik so nah zu sein und seine Wärme zu spüren. Wie schon am Vorabend geriet sein Herzschlag auch jetzt wieder komplett aus dem Takt und Yami musste sich mehrmals räuspern, damit seine Stimme ihm wieder gehorchte. "Und es war einfach unbeschreiblich. Wunderschön. Alles, was ich jemals wollte. Alles, was ich mir gewünscht habe – eigentlich schon fast von dem Moment an, als ich ihn das erste Mal gesehen habe." Auch wenn er da eigentlich noch ganz und gar in seinem Liebeskummer wegen Kinoshita gefangen gewesen war. Aber Malik hatte es innerhalb nur eines einzigen Nachmittages geschafft, dass er selbst sämtliche Gedanken an seine unerwiderten Gefühle für seinen weißhaarigen Klassenkameraden vollkommen vergessen hatte. Er hatte einfach überhaupt nicht mehr daran gedacht. Ihm war erst am Vorabend, als er nach Hause gekommen war, klar geworden, dass er, seit er Malik kennengelernt hatte, überhaupt nicht mehr an Kinoshita gedacht hatte. Jedenfalls nicht auf diese Art. Es hatte auch einfach nicht mehr wehgetan, Jounouchi und Kinoshita zusammen zu sehen und zu wissen, was zwischen ihnen war. Malik hatte sich so schnell in sein Leben und seine Gedanken geschlichen, ohne dass ihm das anfangs wirklich bewusst gewesen war. "I-Ich weiß nicht, wie lange wir in diesem Wald waren", nahm Yami den Faden wieder auf, nachdem er kurz den Kopf geschüttelt hatte, um seine Gedanken zu klären. Noch immer beobachtete Seto ihn, aber er sprach auch jetzt nicht, um ihn nicht zu stören, und Yami war ihm dankbar dafür. "Es war jedenfalls schon stockdunkel, als er mich nach Hause gefahren hat." Und bevor er ins Haus hatte gehen können, hatte Malik ihn noch mal am Handgelenk gepackt, zu sich gezogen und ihn ein weiteres Mal geküsst, bevor er auch nach Hause gefahren war. Und er selbst, erinnerte Yami sich mit erneut glühenden Wangen, war mehr ins Haus hinein gestolpert als dass er wirklich gelaufen war. "Ich war ziemlich spät dran und meine Mutter war nicht sehr begeistert, weil weder Yuugi noch ich zum Abendessen da waren. Und weil ich nicht Bescheid gesagt habe, habe ich heute Hausarrest." Yami zog eine Grimasse. "Aber das ist nicht alles, oder?", fragte Seto leise und sein bester Freund schüttelte seufzend den Kopf. "Du kennst mich zu gut, Seto", murmelte Yami und gestattete sich ein kurzes Schmunzeln, doch das blieb nicht lange auf seinen Lippen. "Du weißt doch, dass Yuugi sich gestern mit Rebecca, Ryou und Mokuba getroffen hat, oder?", begann er dann und Seto nickte knapp. Er war sich nicht ganz sicher, was das Ganze mit Yami, Malik und Yamis aktueller Stimmung zu tun hatte, aber das würde sein bester Freund ihm hoffentlich noch erklären. Manchmal neigte er allerdings dazu, ein paar Worte zu viel zu machen. Aber so war er nun mal einfach, deshalb unterdrückte Seto den Impuls, nachzufragen, was das Treffen ihrer Brüder mit der ganzen Sache zu tun hatte. Er würde das früher oder später schon erfahren. Wobei früher ihm eindeutig lieber wäre als später. Aber er wusste aus Erfahrung, dass es nichts brachte, Yami zur Eile antreiben zu wollen. Aus diesem Grund schwieg er weiterhin und wartete einfach nur ab. "Und als er nach Hause kam, war er total aufgeregt", fuhr Yami schließlich fort und seufzte. "Seit gestern ist Yuugi nämlich mit seiner angebeteten Rebecca zusammen. Das hat er mir ganz überdreht erzählt. Er konnte kaum stillsitzen vor lauter Aufregung." Wieder lächelte Yami kurz, aber dieses Mal verschwand das Lächeln noch viel schneller als vorher. "Heute Morgen beim Frühstück hat er dann auch unseren Eltern davon erzählt. Sie haben sich beide unglaublich für ihn gefreut, genau wie ich, aber … In dem Moment, als Yuugi freudestrahlend von Rebecca erzählt hat, ist mir klar geworden, dass ich meinen Eltern nicht von Malik erzählen kann. Ich … ich habe einfach Angst vor ihrer Reaktion", gab er zu und seine Hand krampfte sich um das Handy, das er immer noch festhielt. "Gestern Abend war ich einfach nur überglücklich, aber heute sieht alles plötzlich ganz anders aus. Verstehst du, Seto?" "Allerdings." Seto erwiderte den beinahe schon verzweifelten Blick seines besten Freundes und nickte knapp zum Zeichen, dass er durchaus verstand. Immerhin waren ihm selbst auch schon ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen. Was würde sein Vater wohl von ihm denken, wenn er erfuhr, wie es um seine Gefühle bestellt war? Und was würde Mokuba denken? Würden die beiden ihn mit anderen Augen sehen als bisher? All diese und noch hunderte mehr Fragen waren ihm schon durch den Kopf gegangen, wenn seine Gedanken sich nicht gerade um Ryuuji drehten. Er verstand also nur zu gut, wie es Yami gerade zumute war. Und obwohl er sonst eigentlich nicht unbedingt der Typ für solche Dinge war, rückte Seto mit dem Schreibtischstuhl, auf dem er saß, trotzdem noch etwas näher zu Yamis Sessel, beugte sich ein wenig zur Seite und legte seinem besten Freund dann eine Hand auf den Arm, um ihm so auch nonverbal Trost zu spenden. Yami sah aus, als könnte er das im Moment mehr als nur ein bisschen gebrauchen. Und wenn sein bester Freund ihn brauchte, dann würde er für ihn da sein und sich um ihn kümmern. Dafür waren Freunde schließlich da. Yami seufzte abgrundtief, sagte aber nichts weiter. Es tat unheimlich gut, dass Seto jetzt bei ihm war, das konnte er nicht verhehlen. Auf ihn konnte man sich einfach immer verlassen, wenn man ihn brauchte. Und dass er, bedingt durch seine eigenen Gefühle für seinen Stiefbruder, nur zu gut verstehen konnte, wie er selbst sich gerade fühlte, war ein zusätzlicher Vorteil, fand Yami. Auch wenn es sich im Moment nicht wirklich wie ein Vorteil anfühlt, ging es ihm durch den Kopf, aber er sprach diesen Gedankengang nicht laut aus. Aber das, machte ein kurzer Blick in Setos Gesicht ihm klar, war auch gar nicht nötig. Seto verstand ihn auch so. Kapitel 36: Erinnerungen und Gespräche -------------------------------------- Ryuuji, der nach dem Abgang seiner beiden Stiefbrüder eigentlich auch gerade wieder hochgehen wollte – er wollte sich noch ein bisschen für den bevorstehenden Besuch seines besten Freundes wappnen –, hielt inne, als sein Stiefvater sich räusperte. "Du wolltest doch das Musikzimmer sehen, Ryuuji", erinnerte Gozaburo ihn an etwas, worüber sie am vergangenen Tag unter anderem auch gesprochen hatten, und Ryuuji nickte langsam. Eigentlich, sinnierte er, war das genau die Art von Ablenkung, die er jetzt brauchte. Gozaburo hatte ihm erzählt, dass seine Frau ebenfalls Klavier gespielt hatte, aber dass das Musikzimmer seit ihrem Tod nicht mehr genutzt wurde. Und er hatte, sehr zu Ryuujis Erstaunen, angeboten, dass er es gerne nutzen konnte, wenn er wollte. Und das wollte er definitiv. "Dann lass uns nach oben gehen." Gozaburo erhob sich und hauchte seiner Frau noch eben einen Kuss auf die Wange. Ryuuji tat es ihm gleich und schloss sich ihm dann auf dem Weg nach oben an. Sie schlugen jedoch nicht den Weg zum dem Flügel der Villa ein, in dem ihre Schlafzimmer lagen, sondern gingen in die entgegengesetzte Richtung. Am Ende des Flurs schließlich blieb Gozaburo stehen, schloss die vor ihm liegende Tür auf und trat dann einen Schritt zur Seite, damit sein Stiefsohn hineingehen und sich umsehen konnte. Und auch er selbst, der das Musikzimmer seit Jahren nicht mehr von innen gesehen hatte, trat nach kaum merklichem Zögern ein. Der Raum sah noch ganz genauso aus, wie er ihn in Erinnerung gehabt hatte. Ayane, seine erste Frau, hatte eigentlich jeden Tag wenigstens eine Stunde hier verbracht, oft auch mehr. Fast meinte Gozaburo, wieder ihr lächelndes Gesicht vor sich zu sehen und ihr flüssiges Spiel zu hören, aber er schüttelte die Erinnerungen hastig ab. Jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas. "Das Klavier wird immer noch regelmäßig gestimmt." Und zwar immer dann, wenn er selbst nicht zu Hause war. Gozaburo unterdrückte ein Seufzen. Bis zum Vortag hatte er es tatsächlich geschafft, die Existenz dieses Raumes vollständig zu verdrängen. Erst als Ryuuji ihm irgendwann während ihres Gesprächs beiläufig erzählt hatte, dass er bereits als Kind von seinem Patenonkel das Klavierspielen gelernt hatte, hatte Gozaburo sich wieder daran erinnert, dass seine erste Frau das Klavierspielen ebenfalls sehr geliebt hatte. Wie oft hatte Ayane ihm, Seto und Mokuba früher etwas vorgespielt? Und wie sehr hatte besonders Mokuba es als kleiner Junge geliebt, ihr zuzuhören? Wie oft war er selbst aus der Firma nach Hause gekommen und hatte seinen Jüngsten schlafend eingerollt auf dem Sessel gefunden, der neben dem Klavier stand, ins Reich der Träume gezogen vom Spiel seiner Mutter? "Ist das auch wirklich okay für dich?", riss Ryuujis Stimme Gozaburo wieder aus seinen Erinnerungen. Auf den Zügen des Jungen lag ein skeptischer Ausdruck, der Gozaburo dazu veranlasste, die Vergangenheit endgültig energisch beiseite zu schieben und zu nicken. "Wenn es nicht in Ordnung wäre, dann hätte ich dir nicht angeboten, dass du hier spielen kannst", erwiderte er und lächelte etwas wehmütig. "Ich bin sicher, Ayane wäre überglücklich zu wissen, dass sich doch endlich wieder jemand ihrem Klavier widmet. Sie hat früher oft für uns gespielt." Und er selbst hatte es geliebt, ihr zuzuhören. Aber das gehörte jetzt nicht hierher. "Seto hat als Kind hin und wieder auch etwas gespielt, um seiner Mutter eine Freude zu machen, aber Schach war schon immer mehr seine Leidenschaft als das Klavier", erinnerte Gozaburo sich dennoch mit einem weiteren wehmütigen Lächeln. "Ayane hat immer gehofft, dass Mokuba vielleicht ihr Talent und ihre Liebe für Musik geerbt hätte, aber nach ihrem Tod …" Mokuba hatte immer schon zu weinen begonnen, wenn er Klaviermusik gehört hatte, wohl weil ihn das an seine Mutter erinnert hatte. "Jedenfalls habe ich das Musikzimmer irgendwann abgeschlossen", fuhr Gozaburo fort, ohne die genauen Gründe dafür näher zu erläutern, und Ryuuji nahm die Informationen mit einem leichten Nicken zur Kenntnis. Er erwähnte jedoch nicht, dass er seinen Stiefvater nur zu gut verstehen konnte. Immerhin war das auch eins der Themen gewesen, über das Gozaburo und er sich erst gestern sehr ausführlich unterhalten hatten. Ryuuji zögerte noch einen Moment, dann trat er zum Klavier und strich andächtig mit den Fingerspitzen über die Tasten. "Willst du bleiben und ein bisschen zuhören?", bot er leise an, ohne seinen Stiefvater anzusehen, doch Gozaburo schüttelte sacht den Kopf. "Ich fürchte, das wäre heute zu viel des Guten", erwiderte er und wieder nickte Ryuuji. Er konnte nur zu gut nachempfinden, wie es für seinen Stiefvater sein musste, zum ersten Mal seit Jahren wieder mit all den Erinnerungen konfrontiert zu werden, die er sich selbst wohl bisher weitestgehend verboten hatte. Immerhin war es ihm selbst ja in der letzten Woche nicht anders gegangen. Auch er hatte mit seinen Erinnerungen zu kämpfen gehabt. Und auch wenn diese Erinnerungen wohl eher mehr und nicht weniger werden würden, wenn er sich ans Klavier setzte, so wollte er trotzdem nicht darauf verzichten. Er hatte schon immer gerne gespielt. Es war zwar seltsam, dass Max jetzt nicht wie sonst bei ihm war, wenn er spielte, aber Ryuuji schüttelte diesen Gedanken schnell wieder ab. "Ich sage dir dann später Bescheid, wenn es Zeit zum Mittagessen ist." Mit diesen Worten nickte Gozaburo seinem Stiefsohn noch einmal zu und ließ ihn dann alleine. Und sobald er die Tür des Musikzimmers hinter sich geschlossen hatte und die ersten, noch etwas zögerlichen Töne hörte, die Ryuuji dem Instrument entlockte, das seine erste Frau so sehr geliebt hatte, seufzte Gozaburo tonlos und schloss für einen Moment die Augen. Es war unglaublich schwer, all die Erinnerungen nicht zu übermächtig werden zu lassen. Aber er hatte ja zum Glück jahrelange Übung darin, sich nichts von seinem inneren Aufruhr anmerken zu lassen. oOo Ryuuji wartete kurz ab, bis sein Stiefvater die Tür hinter sich zugezogen hatte. Dann nahm er auf dem Klavierschemel Platz, legte seine Hände auf die Tasten und begann erst zaghaft, dann immer sicherer zu spielen. Den Notenblättern, die noch so dort lagen, wie Ayane-san, die eigentliche Besitzerin des Klaviers, sie offenbar hinterlassen hatte, schenkte er zumindest anfangs keine Beachtung. Nachdem er sich jedoch etwas eingespielt hatte, hielt er inne, zog er neugierig die Noten näher und blätterte sie durch. Die meisten Stücke kannte er, seit er ein Kind gewesen war, und unwillkürlich lächelte er bei der Erinnerung an die vielen Übungsstunden, die er damals mit Max verbracht hatte. Es sah ganz so aus, als hätte Ayane-san in Bezug auf klassische Musik den gleichen Geschmack gehabt wie sein Patenonkel. Ich hoffe wirklich, es stört sie nicht, dass ich jetzt hier sitze und ihre Noten nutze, ging es Ryuuji durch den Kopf, ehe er eines der Notenblätter zur Hand nahm und es so aufstellte, dass er die Noten gut würde lesen können. Da es gleich obenauf gelegen hatte, vermutete er einfach mal, dass Ayane-san dieses Stück besonders oft gespielt hatte. Das war allerdings etwas, was er selbst nur zu gut nachvollziehen konnte. Immerhin hatte er selbst wegen genau dieses Stücks Max angebettelt, ihm Klavierspielen beizubringen, daran erinnerte er sich noch sehr gut. Und ebenso gut erinnerte er sich an die Engelsgeduld, die sein Patenonkel bewiesen hatte, und an den Triumph, den er selbst gefühlt hatte, als es ihm zum ersten Mal gelungen war, das Stück fehlerfrei und ganz alleine zu spielen. Und er erinnerte sich auch noch an den Stolz in den Gesichtern seiner Eltern, als er ihnen seine neu erlernten Fähigkeiten zum allerersten Mal vorgeführt hatte. Ich bin Gozaburo echt was schuldig dafür, dass er mich hier spielen lässt. Das war sicher nicht leicht für ihn. War ja nicht zu übersehen, sinnierte Ryuuji, legte seine Finger wieder auf die Tasten und begann erneut zu spielen. Und irgendwann schloss er die Augen und ließ sich einfach nur von der Musik tragen und in ihren Bann ziehen – ganz genau so, wie er es früher schon getan hatte, wenn er bei Max zu Hause am Klavier gesessen hatte. Und wie jedes Mal vergaß er auch jetzt alles um sich herum und merkte überhaupt nicht mehr, wie die Zeit verging. oOo Mokuba, der den Großteil des Vormittags auf seinem Zimmer verbracht hatte, machte sich auf den Weg nach unten, nachdem ein Blick auf die Uhr ihm verraten hatte, dass es in einer guten halben Stunde Zeit zum Essen war. Er war jedoch reichlich verwundert, als er unten im Wohnzimmer nur auf seinen Vater und seine Stiefmutter traf. Weder von Seto noch von Ryuuji war etwas zu hören oder gar zu sehen. Fragend blickte Mokuba seine Eltern an. "Wo sind denn Seto und Ryuuji?", erkundigte er sich und sein Vater nickte nach oben. "Seto ist zu Yami-kun gefahren und wird wohl erst später wiederkommen", darüber hatte Isono ihn umgehend informiert, sobald er wieder zurückgekehrt war, "und Ryuuji ist oben im Musikzimmer." Diese Information ließ Mokubas Augen groß werden. Das Musikzimmer? Aber das war doch schon seit Jahren abgeschlossen! Auch wenn er selbst sich nicht mehr wirklich daran erinnerte, warum das der Fall war, wusste Mokuba doch ganz genau, dass es so war. Und jetzt hatte sein Vater es wieder aufgeschlossen? Für Ryuuji? Spielte er etwa Klavier? Mokuba wusste aus den Erzählungen seines Bruders noch, dass ihre Mutter das früher auch immer getan hatte, aber er selbst hatte keinerlei Erinnerung mehr daran, wie sehr er das als Kind gemocht hatte. Trotzdem verschaffte ihm diese Information ein seltsames Gefühl in der Magengegend. "Wir sollten ihm wohl langsam Bescheid sagen, dass es bald Essen gibt", drang Yukikos leise Stimme in Mokubas Gedanken. Bevor sie jedoch aufstehen und nach oben gehen konnte, winkte der Fünfzehnjährige auch schon ab. "Ich hole ihn!", verkündete er und sprintete wieder nach oben. Dort angekommen verlangsamten sich seine Schritte jedoch ohne sein bewusstes Zutun. Diesen Flügel der Villa hatte er schon seit Jahren nicht mehr betreten. Und mit jedem weiteren Schritt begann sein Herz mehr zu rasen und seine Handflächen wurden feucht – eine Reaktion, die Mokuba sich nicht erklären konnte. Was war denn jetzt plötzlich los mit ihm? Der Fünfzehnjährige verstand sich selbst nicht so recht. Leises Klavierspiel, das aus dem Raum am Ende des Flurs an seine Ohren drang, ließ Mokuba hart schlucken. Irgendetwas war da – etwas, an das er lange nicht mehr gedacht hatte und das er auch jetzt nicht so recht greifen konnte –, aber er wusste nicht, was es war. Er wusste, nur, dass es ihn nervös machte, hier zu stehen – so nervös, dass seine Finger unbewusst mit dem Saum seines Shirts zu spielen begannen. Als er das bemerkte, stoppte Mokuba sich selbst und atmete betont tief durch, bevor er auch noch die letzten paar Schritte überwand und zaghaft an die Tür des Musikzimmers klopfte. Dieses Klopfen brachte jedoch keinerlei Reaktion und so schluckte Mokuba erneut, legte eine Hand auf die Klinke und drückte diese mit zitternden Fingern langsam herunter. Und sobald er die Tür öffnete, wurde das Klavierspiel auch gleich lauter und deutlicher hörbar, was im selben Atemzug sein Herzklopfen nur noch mehr steigerte. Deshalb gelang es ihm auch nicht, Ryuuji sofort anzusprechen und an das Mittagessen zu erinnern. Stattdessen blieb er in der offenen Tür stehen und beobachtete stumm, wie die Finger seines Stiefbruders mit einer Sicherheit, die von viel Übung zeugte, über die Tasten flogen und diesen Töne entlockten, die eine Seite in Mokuba zum Klingen brachten, die er nicht so recht einzuordnen wusste. Er wusste nur, dass es ihn unglaublich aufwühlte, einfach nur hier zu stehen und Ryuujis flüssigem Spiel zuzuhören. Und dass Ryuuji leise sang, machte es auch nicht besser. Mokuba hatte das Gefühl, als hätte er das alles schon mal so ähnlich erlebt, aber er hatte keine Ahnung, woher dieses Gefühl rührte. "Close your eyes, my pretty child. Though the night is dark and the wind is wild. I will stand beside your bed. Tonight there is nothing you need fear or dread. You can sleep now. Go to sleep. Rain falls and the windows weep. I'm standing by to sing a lullaby …" Ryuujis Augen waren geschlossen und er schien in keinster Weise zu bemerken, dass er nicht mehr alleine war. "Close your eyes my sister fair. Though the snow is falling and the trees are bare. And I will hold you by the hand. Tonight there is nothing you need try to understand. You can sleep now. Go to sleep. The daytime's dyin' and the nighttime's so deep. I'm standing by to sing a lullaby. Close your eyes my mother wise. When the waves are angry and the north train cries. I stop those ghosts outside your door. Mama, don't worry 'bout those ghosts no more. You can sleep now. Go to sleep. Tomorrow comes but it will keep. I'm standing by to sing a lullaby. Another lullaby. Another lullaby …" Erst als die letzten Töne verklungen waren und er seine Augen wieder öffnete, fiel Ryuuji auf, dass er inzwischen nicht mehr alleine war. Etwas verlegen fuhr er sich durch die Haare, ehe er Mokuba mit fragend schiefgelegtem Kopf ansah. Der Junge sah ihn an, als hätte er einen Geist gesehen. Ob es ihn, fragte Ryuuji sich unwillkürlich, vielleicht störte, dass er jetzt auf dem Platz saß, der früher einmal seiner Mutter gehört hatte? Sicher, Gozaburo hatte ihm erlaubt, sich hier aufzuhalten und Klavier zu spielen, aber er hatte das wohl kaum vorher mit Seto oder Mokuba abgesprochen. Immerhin war das Thema am Vorabend im Wohnzimmer nicht zur Sprache gekommen. Und heute Morgen waren die beiden ja nach dem Frühstück direkt verschwunden. Kein Wunder also, dass Mokuba mehr als überrascht davon war, ihn hier vorzufinden. "Mokuba? Alles okay mit dir?" Die besorgte Frage seines Stiefbruders riss den Angesprochenen wieder aus seiner Starre. "Was? Ähm … ja, alles bestens", nuschelte er beschämt und bemühte sich, die seltsame Beklemmung abzuschütteln, die ihn immer noch nicht loslassen wollte. "Es ist nur … Das Essen ist bald fertig und unsere Eltern wollten, dass ich dich hole", erklärte er sein Hiersein und zupfte verlegen an seinem Shirtsaum herum. "Ich … ich wusste ja gar nicht, dass du Klavier spielen kannst", murmelte er mit belegter Stimme und atmete unwillkürlich auf, als Ryuuji sich ihm ganz zuwandte und damit dem Klavier den Rücken kehrte. Aus einem Grund, der sich ihm selbst nicht so recht erschließen wollte, war ihm das wesentlich angenehmer. "Das hat mir mein Patenonkel beigebracht, als ich noch klein war. Ich hab deinem Vater gestern davon erzählt und er hat mir angeboten, dass ich hier ein bisschen üben kann, wenn ich Lust dazu habe." Was, in Anbetracht von Mokubas Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen panisch und verwirrt schwankte, offenbar keine so gute Idee gewesen war. Aber woher hätte er das wissen sollen? Jetzt war es jedenfalls zu spät, um das Ganze ungeschehen zu machen. "D-Den Song gerade auch?", wollte Mokuba leise wissen und Ryuuji zog fragend eine Braue hoch, nickte aber dennoch. "Ja, den hab ich auch von Max gelernt. ›Another lullaby‹. Ist von Art Garfunkel. Einer von Max' Lieblingssängern", erklärte er und erhob sich. Wenn ihre Eltern mit dem Essen auf sie warteten, dann sollten sie sie vielleicht nicht unnötig lange warten lassen. Und außerdem sah Mokuba auch so aus, als wünschte er sich im Moment ganz, ganz weit weg von hier. Tatsächlich seufzte Mokuba erleichtert auf, als Ryuuji gemeinsam mit ihm das Musikzimmer wieder verließ und die Tür hinter sich zuzog. Er hatte keine Ahnung, was gerade mit ihm los war, aber er war unsagbar froh, als das Klavier aus seinem Blickfeld verschwand. Allerdings war ihm trotz allem nicht entgangen, wie viel Spaß das Spielen seinem Stiefbruder offenbar gemacht hatte, und so hatte er auch ein wenig ein schlechtes Gewissen. Er hatte nämlich durchaus mitbekommen, dass sein Unbehagen von Ryuuji nicht unbemerkt geblieben war. Ein bisschen peinlich war ihm das ja schon, aber das konnte er jetzt nicht mehr ändern. Und eigentlich, erinnerte Mokuba sich selbst, hatte er sich ja auch aus einem vollkommen anderen Grund erboten, hochzugehen und Ryuuji zum Essen zu holen. Immerhin gab es da etwas, das er ihm besser noch erzählen sollte. Schließlich betraf das Ganze ja nicht nur seine eigene Nachmittagsplanung, sondern auch Ryuujis. "Du hast doch für nachher auch Bakura eingeladen, oder?", erkundigte er sich daher und Ryuuji, den der Themenwechsel einigermaßen überraschte, blinzelte irritiert, ehe er nickte. "Ja, hab ich. Kats und er kommen am Nachmittag irgendwann her." Dass sein bester Freund ihm dann wahrscheinlich gehörig die Leviten lesen würde, ließ Ryuuji lieber ungesagt. Damit musste der Kleine sich nun wirklich nicht belasten. "Das ist gut. Ich hab nämlich heute Morgen nach dem Frühstück bei Ryou angerufen und ihn für heute zum Lernen eingeladen. Allerdings hab ich mit seinem Vater gesprochen, also hab ich natürlich nicht erzählt, dass Bakura auch hier sein wird. Kinoshita-san will das ja schließlich nicht, aber Ryou hängt doch so an Bakura. Und ich dachte mir, die beiden freuen sich bestimmt, wenn sie sich endlich mal wiedersehen können, ohne Angst haben zu müssen, dass ihr Vater das spitzkriegt." Mokuba wirkte verlegen und Ryuuji kam nicht umhin zu schmunzeln. "Du bist wirklich ein toller Freund, Mokuba. Ryou kann sich glücklich schätzen. Ich bin sicher, er wird sich riesig darüber freuen. Und er wird dir bestimmt sehr dankbar sein." Und Bakura würde sich ganz sicher auch freuen, auch wenn er sich das wohl nicht unbedingt anmerken lassen würde. Ryuuji wuschelte Mokuba, der ihn hoffnungsvoll ansah, kurz durch die Haare und drückte ihn dann einmal an sich. "Du bist mir nicht böse?", versicherte der Fünfzehnjährige sich und Ryuuji schüttelte den Kopf. "Warum denn? Dafür gibt's doch gar keinen Grund. Wenn ich selbst dran gedacht hätte, hätte ich dich sogar gebeten, Ryou einzuladen. War ja bei eurer Klassenfahrt nicht zu übersehen, wie sehr er sich gefreut hat, was von seinem großen Bruder zu hören." Bei der Erwähnung der Klassenfahrt zuckte Mokuba kurz zusammen, aber Ryuuji tat, als bemerke er nichts davon. Für ihn war offensichtlich, dass Mokuba Ryou diese kleine Freude hauptsächlich deshalb machen wollte, weil er sich immer noch nicht sicher war bezüglich seiner eigenen Gefühle für seinen weißhaarigen Freund, aber er brachte das absichtlich nicht zur Sprache. Immerhin würde das Mokuba wohl kaum helfen, klarer zu sehen. Ob er für Ryou wirklich nur Freundschaft empfand oder vielleicht doch mehr würde die Zukunft zeigen müssen. Und Ryou, davon war Ryuuji überzeugt, würde Mokuba ganz bestimmt so viel Zeit lassen, wie er brauchte, um sich seiner Gefühle auch wirklich ganz sicher zu sein. Mokubas Wangen röteten sich bei der Erinnerung an die Klassenfahrt und das, was am letzten Tag dort im Aquarium passiert war. Aus dem Augenwinkel blickte er zu seinem Stiefbruder, der noch immer einen Arm um seine Schultern geschlungen hatte, aber entweder sah Ryuuji die Röte tatsächlich nicht oder er ging einfach darüber hinweg. Was es auch war, Mokuba war ihm dankbar dafür. Diese ganze Sache beschäftigte ihn auch so schon genug. Es war angenehm, das jetzt nicht auch noch zerreden zu müssen. Gemeinsam betraten die beiden das Esszimmer, setzten sich auf ihre Plätze und ließen es sich schmecken. Und erst jetzt fiel Mokuba etwas auf, was er bis eben gar nicht bemerkt hatte. Bisher war er in Ryuujis Nähe immer wahnsinnig nervös gewesen und hatte heftiges Herzklopfen gehabt. Gerade eben allerdings war das ganz und gar nicht der Fall gewesen. Und wenn er es so genau betrachtete, dann war es schon gestern, als er Ryuuji wieder zu Hause hatte begrüßen können, nicht mehr so gewesen. Ja, sicher, er freute sich immer noch, wenn Ryuuji in der Nähe war oder ihn in den Arm nahm, aber inzwischen genoss er die Umarmungen einfach nur noch, ohne dass er deshalb in völliges Gefühlschaos stürzte. Ob, sinnierte Mokuba kauend, das vielleicht irgendwie daran lag, dass er sich inzwischen auch wieder sehr viel besser mit Seto verstand? Sein großer Bruder war in der letzten Woche wirklich an jedem Abend für ihn da gewesen, hatte meistens noch eine gefühlte Ewigkeit lang mit ihm geredet und ihn nicht mehr länger wie ein unmündiges Kind behandelt, wie er das vor der Hochzeit so oft getan hatte, sondern vielmehr wie einen gleichwertigen Menschen. Wie jemanden, den er tatsächlich ernst nehmen und mit dem er sich auch richtig austauschen konnte. Seto und er hatten wirklich sehr viel Zeit miteinander verbracht und dadurch eine Menge von dem, was sie im Leben des jeweils anderen verpasst hatten, wieder aufgeholt. Ob es wohl das gewesen war, fragte Mokuba sich, was ihm und vielleicht auch ein klitzekleines bisschen seinem großen Bruder gefehlt hatte? Ist ja auch egal. Wichtig war ja eigentlich nur, dass zwischen ihnen jetzt wieder alles in Ordnung war. Er hatte endlich seinen großen Bruder wieder, der für ihn früher schon seine wichtigste Bezugsperson gewesen war und zu dem er immer aufgesehen hatte. So in seine Gedanken verstrickt bemerkte Mokuba kaum, dass sich das Essen dem Ende zuneigte. Erst als Isono-san im Esszimmer erschien, sich mit einem leisen Räuspern bemerkbar machte und dann mitteilte, dass "Ryuuji-sans Besuch" soeben eingetroffen war, warf Mokuba einen Blick auf seine Uhr und stand hastig auf, um Isono-san abzufangen, bevor er wieder gehen konnte. Immerhin hatte er Kinoshita-san versprochen, dass Ryou abgeholt werden würde. Aber es war wohl am besten, wenn er mitfuhr, also hielt er Isono-san auf und bat diesen, mit ihm eben kurz bei Ryou zu Hause vorbeizufahren. Dabei achtete er allerdings sorgfältig darauf, dass weder Katsuya noch Bakura etwas von seinem Plan mitbekamen. Immerhin sollte das ja eine Überraschung sein – nicht nur für Ryou, sondern auch für Ryous großen Bruder. Während Mokuba sich anschickte, gemeinsam mit Isono-san bei Ryou vorbeizufahren und ihn abzuholen, stand Ryuuji ebenfalls vom Tisch auf und ging in den Flur, um Katsuya und Bakura in Empfang zu nehmen. Der Weißhaarige wirkte grimmig wie immer, aber Katsuya schien sich über Nacht zumindest wieder ein bisschen beruhigt zu haben. Aber vielleicht, sinnierte Ryuuji, war das auch nur die Ruhe vor dem Sturm. Da konnte man bei dem Blondschopf nie so ganz sicher sein. Aber er hatte ja selbst angeboten, dass Katsuya ihm heute den Kopf abreißen durfte, also machte er sich sicherheitshalber lieber auf alles gefasst. "Es ist echt ein ganz schönes Scheißwetter", grollte der Blonde gerade, kickte seine Schuhe von den Füßen und schüttelte sich dann ein wenig. Sie hatten zwar beide Regenjacken getragen, aber so ganz spurlos war der Weltuntergang, der da draußen herrschte, trotzdem nicht an Bakura und ihm vorbeigegangen. Nur gut, dass sie den Bus genommen hatten und nicht den ganzen Weg hierher gelaufen waren, wie sie es eigentlich geplant gehabt hatten. Dann wären sie nämlich unter Garantie inzwischen komplett aufgeweicht. "Lasst uns nach oben gehen. Da hab ich Handtücher", schlug Ryuuji vor und bedeutete den beiden, ihm zu folgen. Katsuya schloss auch gleich zu ihm auf. Bakura hingegen sah sich erst kurz misstrauisch um, ehe er sich ebenfalls in Bewegung setzte. Auf dem ganzen Weg nach oben ließ der Blondschopf seinen besten Freund nicht aus den Augen. Gestern hatte Ryuuji noch etwas mitgenommen gewirkt, aber heute machte er einen recht gut gelaunten Eindruck auf ihn. Gut, das mochte täuschen – Katsuya kannte das Pokerface seines besten Freundes nur zu gut –, aber das würde er schon noch aus ihm rauskitzeln. Dafür war er schließlich hergekommen: Um Ryuuji zu trösten und ihm eine ordentliche Kopfnuss zu verpassen. Was allerdings die Reihenfolge betraf, in der er diese Dinge erledigen würde, hatte er sich noch nicht festgelegt; da war er flexibel. Sämtliche Gedanken, die in diese Richtung gingen, wurden jedoch erst mal beiseitegeschoben, als sie endlich Ryuujis Zimmer erreichten. "Das ist ja doppelt so groß wie dein altes Zimmer!", staunte Katsuya mit offenem Mund und Ryuuji schmunzelte, während er kurz im angrenzenden Badezimmer nach Handtüchern kramte, mit denen seine Gäste sich ein wenig abtrocknen konnten. "Kommt ungefähr hin, ja", stimmte er seinem besten Freund zu und warf diesem das Handtuch der Einfachheit halber über den Kopf, ehe er das zweite Handtuch an Bakura weiterreichte. "Hey!", beschwerte Katsuya sich unter dem Handtuch heraus und zog es sich vom Kopf, doch die weitere Beschwerde, die er noch hatte loswerden wollen, blieb unausgesprochen, als er seinen besten Freund lachen hörte. Nach allem, was in der letzten Woche gewesen war, hatte er Vieles erwartet, aber ganz bestimmt nicht das. Als jedoch auch Bakura breit zu grinsen begann, fuhr der Blondschopf zu ihm herum und funkelte ihn giftig an. "Was ist so lustig?", wollte er wissen und Bakura schob ihn kommentarlos ins Bad, dessen Tür Ryuuji offen gelassen hatte, und dort vor den Spiegel. Und als Katsuya die schicke neue Frisur, die seine Handtuchaktion ihm verpasst hatte, sah, konnte er zumindest ansatzweise verstehen, worüber seine beiden Freunde sich so amüsierten. "Nicht witzig!", beschwerte er sich trotzdem und Ryuuji ließ sich noch immer lachend auf sein Bett fallen. "Oh doch!", prustete er, sich den Bauch haltend. "Und wie!" Katsuya streckte ihm die Zunge heraus, aber das konnte die Heiterkeit seines besten Freundes auch nicht stoppen. Grummelnd rubbelte der Blondschopf seine Haare endlich trocken. Sobald er damit fertig war, legte er das Handtuch der Einfachheit halber auf das Waschbecken und kehrte in das Zimmer zurück. Dort ließ er sich ebenfalls auf das Bett fallen, zog die Beine an und musterte seinen besten Freund dann sehr eindringlich. Unter dem ungewohnt ernsten Blick beruhigte Ryuuji sich recht schnell wieder. "Tut mir leid, dass ich dir nicht selbst Bescheid gesagt hab wegen Dad. Und dass ich mich nicht früher bei dir gemeldet hab", kam er sämtlichen Vorwürfen, die der Blondschopf möglicherweise auf der Zunge liegen hatte, zuvor. Jedenfalls hoffte er das, aber Katsuyas immer noch reichlich angefressener Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er offenbar noch nicht ganz bereit war, ihm zu verzeihen. "Das versteh ich ja alles." Das tat er inzwischen sogar wirklich; Bakura hatte ihm in der letzten Woche in seiner üblichen charmanten Art und Weise ins Gewissen geredet und ihm klar gemacht, dass Ryuuji wohl einfach erst mal selbst mit der ganzen Sache hatte fertig werden müssen. Und auch wenn er selbst gerne für den Schwarzhaarigen da gewesen wäre, so nahm Katsuya ihm inzwischen nicht mehr übel, dass er sich so abgekapselt hatte. Aber eine Sache gab es trotzdem, die er seinem besten Freund nicht so einfach vergeben konnte. "Aber warum hast du ausgerechnet den Eisklotz zu mir geschickt, um mir zu erklären, was passiert ist?" Katsuya schaffte es nicht, den Vorwurf ganz aus seiner Stimme zu halten. Und wenn er ganz ehrlich war, dann wollte er das auch gar nicht. Ryuuji sollte ruhig wissen, dass er wegen dieser Sache ziemlich stinkig auf ihn war. Ausgerechnet Kaiba, der blöde Sack, hatte ihm erzählt, warum genau sein bester Freund eine Weile lang nicht zur Schule kommen würde! Und das, wo Ryuuji doch ganz genau wusste, wie er selbst zu dem brünetten Brechreizerreger stand! Ryuuji seufzte. "Weil ich wusste, dass er dich am Montag eh sehen würde. Ich wusste noch nicht, wann ich den Kopf weit genug frei haben würde, um dich selbst anzurufen", erklärte er dann und warf seinem besten Freund probeweise ein schiefes Grinsen zu. "War's wirklich so schlimm?", erkundigte er sich, doch die Antwort kam dieses Mal nicht von Katsuya selbst, sondern von Bakura, der es sich auf der Couch bequem gemacht hatte, die dem Bett genau gegenüber stand. Das Handtuch, mit dem er sich die Haare abgetrocknet hatte, hatte er neben sich auf den Schreibtisch gelegt. "Allerdings. Kats hätte Kaiba beinahe die Fresse poliert. Hat nicht viel gefehlt", mischte er sich in das Gespräch ein und Ryuuji zog fragend eine Braue hoch. Er hatte zwar durchaus damit gerechnet, dass Katsuya nicht unbedingt begeistert darauf reagiert hatte, ausgerechnet von Seto über den Tod seines Vaters informiert zu werden, aber das hatte er dann doch nicht erwartet. "Warum das?", hakte er nach und Bakura warf einen kurzen Blick zu Katsuya, der trotzig die Arme vor der Brust verschränkte, ehe er Ryuuji wieder ansah. "Kats war der Meinung, sie hätten dich nicht alleine rüber fliegen lassen sollen. Er ist deswegen ziemlich ausgeflippt und hat ein paar Kommentare abgelassen, die Kaiba nicht unbedingt gut aufgefasst hat", erklärte er in Kurzfassung, was passiert war, und Ryuuji schwenkte wieder zu seinem besten Freund zurück. "Was hast du zu ihm gesagt, Kats?", wollte er bemüht ruhig wissen und der Blonde schnaubte. "Nichts, was nicht wahr wäre. Ich hab ihm bloß an den Kopf geworfen, dass er offenbar aus einer Familie von Eisklötzen kommt", murrte er und Ryuujis Augen wurden groß. "Spinnst du?", fuhr er seinen besten Freund an und dieser plusterte empört die Wangen auf, aber ehe er etwas erwidern konnte, sprach Ryuuji auch schon weiter. "Seto und Mokuba haben ihre Mutter verloren, als Seto sieben und Mokuba vier Jahre alt waren. Er weiß genau wie du und ich, wie sich das anfühlt. Und sein Vater auch. Das war echt unter der Gürtellinie, Kats", teilte er dem Blonden mit und diesem entfuhr statt der gepfefferten Antwort, die er seinem besten Freund hatte geben wollen, nur ein ersticktes Krächzen, das in einem "Oh Scheiße!" mündete. Das war definitiv etwas, das er nicht über den Eisklotz gewusst hatte! Sicher, rein logisch betrachtet war klar gewesen, dass Kaibas Vater bis zur Hochzeit mit Ryuujis Mutter alleinstehend gewesen sein musste – immerhin hätte er Yukiko-san sonst ja wohl kaum heiraten können –, aber er war bis eben immer davon ausgegangen, dass ihm seine erste Frau weggelaufen war und die Scheidung eingereicht hatte, einfach weil sie keine Lust mehr auf den Eisklotz und den Rest der Familie gehabt hatte. Jetzt zu erfahren, dass seine persönliche Nemesis praktisch ebenso ohne Mutter aufgewachsen war wie er selbst, weil seine Mutter ebenso tot war wie seine eigene, zog Katsuya förmlich den Boden unter den Füßen weg. Und nach allem, was er selbst Kaiba am Montag an den Kopf geworfen hatte, hatte der Eisklotz sich gestern trotzdem dazu überwunden, Bakura und ihn hierher in sein Zuhause einzuladen, damit er für Ryuuji da sein konnte. Verdammt, er hatte dem blöden Mistkerl tatsächlich Unrecht getan! Gut, das änderte nichts daran, dass er den Brünetten immer noch nicht wirklich leiden konnte, aber trotzdem regte sich Katsuyas schlechtes Gewissen. "Seto ist kein schlechter Mensch, Kats. Und Gozaburo auch nicht. Ganz im Gegenteil." Ryuuji seufzte und schüttelte die Gedanken an das Gespräch, das er gestern noch mit seinem Stiefvater geführt hatte, wieder ab. "Und wenn ich gewusst hätte, dass du so reagierst, hätte ich dich am Sonntag doch noch selbst angerufen." Oder zumindest hätte er es versucht. Ganz sicher hatten Katsuyas Worte Seto ziemlich getroffen, auch wenn er sich das wahrscheinlich vor dem Blondschopf nicht hatte anmerken lassen. Aber Ryuuji hatte in der Zeit, die er Seto inzwischen kannte, festgestellt, dass ihm seine Familie sehr, sehr wichtig war. Also, nahm Ryuuji sich vor, würde er sich später bei Seto dafür entschuldigen, dass Katsuya ihn so attackiert hatte, obwohl er ihm, Ryuuji, nur einen Gefallen hatte tun wollen. Kein Wunder, dass Seto jetzt nicht hier ist, sinnierte Ryuuji und unterdrückte ein weiteres Seufzen. Gozaburo hatte Mokuba und ihm beim Essen mitgeteilt, dass Seto spontan zu seinem besten Freund gefahren war und noch nicht klar war, wann er zurückkommen würde. Und Ryuuji konnte die Vermutung nicht abschütteln, dass seine Gäste höchstwahrscheinlich einen nicht unbedingt kleinen Teil zu Setos Entscheidung, den heutigen Nachmittag nicht zu Hause zu verbringen, beigetragen hatten. Aber das war etwas, worüber er sich später auch noch Gedanken machen konnte. Jetzt hatte er erst mal andere Dinge zu tun. Kapitel 37: Entscheidungen -------------------------- Ryou, der schon den ganzen Vormittag, nachdem sein Vater ihn über Mokubas Anruf und die dadurch äußerst kurzfristig geänderte Tagesplanung informiert hatte, wie auf heißen Kohlen in seinem Zimmer saß, schreckte auf, als er die Schritte seines Vaters im Flur hörte. Im gleichen Atemzug verfluchte er sich selbst dafür, dass er seine Nervosität einfach nicht unter Kontrolle bekam. Aber, sinnierte er, nach dieser unerwarteten Überraschung musste ihm das wohl verziehen werden. Immerhin wusste er im Gegensatz zu seinem Vater ganz genau, dass Mokuba kein schlechter Schüler in Geschichte war. Es war also, wenigstens für ihn selbst, absolut offensichtlich, dass Mokubas Anruf am Morgen nur ein Vorwand gewesen war, um seinem Vater die Erlaubnis abzuluchsen, dass er heute das Haus würde verlassen dürfen. Aber was in aller Welt bezweckte Mokuba damit? Ryou wusste es nicht und genau das war es, was ihn halb in den Wahnsinn trieb. Hatte Mokuba vielleicht jetzt endlich eine Entscheidung getroffen, wie es mit ihnen beiden weitergehen sollte? Oder brauchte er einfach nur jemanden zum Reden, weil er sich immer noch Sorgen um seinen Stiefbruder machte? Wusste er jetzt vielleicht, wann Ryuuji wieder nach Hause kommen würde, und brauchte deshalb Trost und Zuspruch? Wollte er sich ablenken und brauchte dafür Gesellschaft, die eben nicht sein großer Bruder war? Ryou versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, was für einen Grund Mokuba wohl für seinen Anruf gehabt haben mochte, aber das wollte ihm einfach nicht gelingen. Der Weißhaarige seufzte abgrundtief. All die Fragen, die er sich eigentlich nicht stellen und die Gedanken, die er sich gar nicht machen wollte, würden ihn ganz sicher über kurz oder lang endgültig in den Wahnsinn treiben, davon war er felsenfest überzeugt. Und er konnte einfach nichts dagegen tun. Hauptsache, Vater merkt nichts davon. Das wäre eindeutig das Schlimmste, was ihm passieren könnte. Wenn sein Vater jemals erfuhr, wie genau seine Gefühle für Mokuba aussahen, dann … Ryou wusste nicht genau, was sein Vater dann tun würde, aber er war sich absolut sicher, dass es nichts Gutes sein würde. Ganz und gar nicht. Sein Vater schätzte immerhin nichts, was sich seiner Kontrolle entzog. Und er hatte, das wusste Ryou durchaus, sehr genaue Vorstellungen davon, wie das Leben seines Sohnes – des einzigen, den er noch so bezeichnete; Bakura ›vergaß‹ er regelmäßig – auszusehen hatte. Dass ebendieser Sohn möglicherweise ganz andere Wünsche und Vorstellungen für seine Zukunft hatte, interessierte Kinoshita Satoru nicht. Angestrengt lauschte Ryou, doch die Schritte seines Vaters kamen zu seiner Erleichterung nicht näher, sondern entfernten sich wieder. Unwillkürlich atmete der Fünfzehnjährige auf und schloss die Augen. Drei Jahre noch, rief er sich zum wiederholten Male in Erinnerung. Drei Jahre lang musste er noch durchhalten, musste noch der brave Sohn sein, den sein Vater in ihm sehen wollte. Aber wenn er erst achtzehn war, dann konnte sein Vater ihm endlich nicht mehr vorschreiben, was er zu sagen, zu tun, zu lassen und zu fühlen hatte. Mit achtzehn konnte er endlich er selbst sein. Ryou seufzte. Drei Jahre. Manchmal erschienen ihm diese drei Jahre wie eine unüberwindliche Ewigkeit, aber solche Gedanken schüttelte er immer schnell wieder ab. Wenn er sich verrückt machte, dann würde ihm die Zeit nur noch länger vorkommen, das wusste er aus leidvoller Erfahrung. Um sich sowohl von seinen Fragen in Bezug auf Mokubas Anruf als auch von seinen Zukunftsplänen abzulenken, rappelte Ryou sich von seinem Bett auf und machte sich daran, sein Geschichtsbuch, Stifte und sein Geschichtsheft zusammenzupacken. Wenn Mokuba ihm schon eine glaubwürdige Ausrede für seinen Vater lieferte, dann sollte er selbst besser nichts tun, um dessen Misstrauen zu wecken. Immerhin brachte die beste Ausrede nur dann etwas, wenn er selbst auch mitzog. Er war zwar immer noch der schlechteste Lügner der Welt, wenn er aktiv lügen musste, aber der Lüge – oder vielmehr dem Schwindel – eines Anderen zuzustimmen war bei weitem nicht so problematisch für ihn. Sobald er seine Sachen gepackt hatte, warf Ryou einen Blick auf seine Uhr und seufzte. Noch knapp zwei Stunden und er hatte absolut nichts mehr zu tun, womit er sich ablenken konnte. Allerdings wollte er seinem Vater jetzt lieber auch nicht unter die Augen treten, um nicht zu riskieren, dass dieser doch noch etwas merkte. Aus diesem Grund kramte Ryou nach kurzem Überlegen sein Englischheft heraus, das er zu dem Treffen mit Ryuuji mitgenommen hatte. Wie der Schwarzhaarige ganz richtig vermutet hatte, sinnierte Ryou, während er in dem Heft blätterte, hatte sein Vater am Abend nach seiner Heimkehr tatsächlich seinen ›Lernfortschritt‹ kontrolliert. Wenn Ryuuji wieder da ist, sollte ich mich bei ihm bedanken. Offenbar, grübelte Ryou, während er auf Ryuujis Anmerkungen auf den Seiten starrte, ohne überhaupt etwas von dem Geschriebenen wirklich wahrzunehmen, hatte Ryuuji seinen Vater gleich auf Anhieb richtig eingeschätzt – und das schon bevor er auch nur ein einziges Wort mit ihm gewechselt hatte. Wahrscheinlich hat Kura ihm von Vater erzählt, vermutete er und nickte unbewusst, hielt dann jedoch inne, als ihm ein anderer Gedanke kam. Oder vielleicht hat Ryuuji auch einfach nur eine unheimlich gute Menschenkenntnis. Was es auch war, er selbst war Mokubas Stiefbruder eindeutig eine Menge schuldig. Aber darum, wie er für all das Wiedergutmachung leisten konnte, würde er nachdenken, wenn er erst mal wusste, wann genau Ryuuji wieder nach Hause kommen würde. Vorher machte das ohnehin keinen Sinn. Ryou war so in seine Grübeleien vertieft, dass er vor Schreckt beinahe vom Bett gefallen wäre, als es an seiner Zimmertür klopfte. "J-Ja?", piepste er und verfluchte sich im gleichen Augenblick selbst dafür, dass ihm seine plötzlich wiederaufflammende Nervosität so deutlich anzuhören war. "Mokuba-kun ist da, Ryou", erklang die Stimme seines Vaters aus dem Flur und Ryou beeilte sich, aufzustehen, seine Tasche zu nehmen und seine Zimmertür zu öffnen, nachdem er sich mit einem Blick auf seine Uhr versichert hatte, dass er wirklich die letzten zwei Stunden damit verbracht hatte, Löcher in die Luft zu starren. Wie peinlich. Tatsächlich stand sein schwarzhaariger Freund bereits mit seinem Vater im Flur und unterhielt sich mit ihm, lächelte aber gleich in Ryous Richtung, was Ryou wieder einmal heftiges Herzklopfen bescherte. Da er das jedoch schon seit einer ganzen Weile gewöhnt war, beachtete er es nicht weiter. "Noch mal danke, dass Ryou so kurzfristig zum Lernen vorbeikommen darf. Ohne ihn wäre ich bei der Klausur echt aufgeschmissen." Mokuba bedachte Kinoshita-san mit einem gewinnenden Lächeln und wandte sich dann zu dessen Sohn um. "Können wir?", wollte er wissen und Ryou nickte, denn er traute seiner Stimme im Moment nicht so recht über den Weg. Und auf gar keinen Fall wollte er riskieren, dass er sich jetzt noch selbst verriet und damit die Pläne, die Mokuba offenbar für den Nachmittag gemacht hatte, über den Haufen warf. Aus diesem Grund murmelte er nur eine kurze Verabschiedung in Richtung seines Vaters und verließ dann gemeinsam mit Mokuba das Haus. Draußen vor dem Eingang wartete Isono-san bereits mit aufgespanntem Schirm auf den jüngeren Sohn seines Arbeitgebers und dessen Freund. So kamen die beiden Jungen wenigstens größtenteils trocken in die Limousine, obwohl es noch immer wie aus Kübeln schüttete. Und sobald Ryou es sich in den Polstern bequem gemacht hatte, grinste Mokuba ihn so breit an, dass sein weißhaariger Freund irritiert blinzelte. Was war denn jetzt los? "Alles in Ordnung, Mokuba?", erkundigte Ryou sich zaghaft und Mokuba nickte heftig, ohne dass das Grinsen von seinen Lippen weichen wollte. "Mehr als in Ordnung", antwortete er und versuchte vergebens, nicht allzu sehr herumzuhibbeln, aber das gelang ihm nicht. "Ryuuji ist seit gestern wieder zu Hause", platzte er dann erst mal mit einer Entwarnung heraus. Sicher hatte Ryou vermutet, dass er selbst wieder etwas Trost brauchte, aber das war ja nun ganz und gar nicht der Grund, aus dem er selbst heute Morgen beim Frühstück den Plan gefasst hatte, Ryou zu sich einzuladen. Ryou entging keineswegs die Erleichterung, die in der Stimme seines Freundes mitschwang, als er erzählte, dass sein Stiefbruder wieder da war. "Und wie geht es ihm?", fragte er und Mokubas Grinsen fiel kurz in sich zusammen. "Ganz gut", gab er zurück. "Jedenfalls definitiv nicht mehr so schlecht wie am letzten Sonntag." Die Erinnerung daran, wie nutzlos er sich gefühlt hatte, weil er Ryuuji einfach nicht hatte helfen können, war alles andere als angenehm, also schob Mokuba sie energisch beiseite. Damit hatte er Ryou und auch Yuugi nun weiß der Himmel oft genug die Ohren vollgejammert in der letzten Woche. Zeit, an etwas anderes zu denken. "Aber deshalb hab ich eigentlich nicht angerufen." Bei diesen Worten kehrte das Grinsen auf Mokubas Lippen zurück und bekam etwas Schelmisches. Ryou schluckte hart und hoffte sehr, dass sein schwarzhaariger Freund davon nichts mitbekommen hatte. Mokuba war manchmal einfach so unglaublich wundervoll, dass er selbst hin und wieder das Gefühl hatte, irgendwann platzen zu müssen vor lauter Verliebtheit. "Ich hab zu Hause eine Überraschung für dich." Mokuba kicherte, als er die Neugier in den dunkelbraunen Augen seines weißhaarigen Freundes aufflammen sah. "Aber ich verrate nichts, bis wir bei mir sind. Meine Lippen sind versiegelt, also frag gar nicht erst", warnte er Ryou und grinste wieder, als dieser ergeben seufzte. "Gut, dann werde ich mich wohl gedulden müssen", murmelte er und Mokuba nickte hektisch. Oh, er freute sich jetzt schon unsäglich auf Ryous Gesicht, wenn er seine Überraschung zu sehen bekommen würde! "Musst du. Aber sie wird dir gefallen, das weiß ich. Ganz bestimmt", erwiderte Mokuba im Brustton der Überzeugung und Ryou verbiss sich ein schwärmerisches Seufzen. Das, was er sich im Moment wieder ganz besonders stark wünschte, würde wohl nicht in Erfüllung gehen. Jedenfalls nicht so bald. Aber er wollte Mokuba ganz sicher nicht die Stimmung verderben, indem er sich anmerken ließ, was ihm durch den Kopf ging. Dafür sah er den Schwarzhaarigen einfach viel zu gerne lächeln oder so strahlen, wie er es jetzt gerade tat. "Wenn du das sagst, wird das wohl stimmen." Ryou lächelte leicht und Mokuba strahlte nur noch mehr. Oh ja, Ryou würde seine Überraschung lieben! Auf jeden Fall! Immerhin hing er doch sehr an seinem großen Bruder, den er jetzt schon seit Monaten nicht mehr gesehen hatte, weil sein Vater das immer wieder zu verhindern wusste. Davon, dass Ryou sich erst am Wochenende nach der Klassenfahrt mit Bakura getroffen hatte – und das auch noch mit Ryuujis Hilfe –, konnte Mokuba ja nichts wissen. Immerhin hatte sein Stiefbruder das absichtlich für sich behalten und auch Ryou hatte seinen beiden besten Freunden gegenüber kein Wort über das heimliche Treffen mit seinem großen Bruder verloren. Das Halten der Limousine riss die beiden Fünfzehnjährigen aus ihren jeweiligen Gedanken. Sobald Isono die Tür geöffnet hatte, schnappte Mokuba sich Ryous Arm und zog ihn mit sich in die Villa hinein. Ryou schaffte es kaum, Mokubas Vater und seine Stiefmutter, die gemeinsam im Wohnzimmer saßen, zu begrüßen, da wurde er auch schon die Treppen nach oben geschleift. Mokuba konnte es einfach nicht mehr erwarten, Ryous erstauntes Gesicht zu sehen, wenn er begriff, was seine Überraschung war. Obwohl er etwas Mühe hatte, mit Mokuba Schritt zu halten, beschwerte Ryou sich nicht. Dafür war er sich auch viel zu sehr der Nähe seines schwarzhaarigen Freundes bewusst. Immerhin hatte dieser ihn immer noch nicht losgelassen – fast so, als befürchtete er, Ryou würde ihm entwischen, wenn er ihn nicht mehr festhielt. Als ob ich das wollen würde! Beinahe hätte Ryou gelacht, aber das verkniff er sich lieber. Wie hätte das auch ausgesehen? Nein, einen derartigen Anfall von Heiterkeit konnte und wollte er Mokuba lieber nicht erklären müssen. Etwas verwundert blinzelte Ryou, als Mokuba ihn an seinem Zimmer vorbeizog und stattdessen an dem Zimmer schräg gegenüber von seinem anhielt und dort an die Tür klopfte – das Zimmer, in dem, wie Ryou aus Mokubas Erzählungen wusste, Ryuuji seit der Hochzeit wohnte. Was in aller Welt konnte Mokuba jetzt ausgerechnet von Ryuuji wollen? Ryou konnte fühlen, wie seine Eifersucht wieder hochkochen wollte, aber er zwang sie unter Aufbietung all seiner Willenskraft wieder zurück. Wenn Mokuba ihn wegen einer Überraschung, die er für ihn hatte, zu Ryuuji schleifen musste, würde das schon irgendwie Sinn ergeben – auch wenn sich dieser Sinn für Ryou nicht so recht erschließen wollte. Was, bitteschön, hatte seine Überraschung mit Ryuuji zu tun? oOo "… und dann haben Max und ich …" Ein Klopfen an seiner Zimmertür unterbrach Ryuujis Erzählungen. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen rappelte er sich von seinem Bett auf und ging zur Tür, um diese für seinen weiteren Besuch zu öffnen. Er konnte sich nur zu gut denken, wer da jetzt gerade vor der Tür stand. Und als er sie öffnete, stellte er fest, dass er sich nicht geirrt hatte. "Hey, ihr Zwei", begrüßte er seinen Stiefbruder und dessen Freund und bedeutete den beiden, einzutreten. Ryou zögerte einen Moment, aber als Mokuba ihn schon wieder einfach mit sich zerrte, nachdem er seinen Stiefbruder breit und seltsam verschwörerisch angegrinst hatte – was hatte das denn jetzt bitteschön zu bedeuten? –, betrat auch er Ryuujis Zimmer. So ganz konnte er sich immer noch nicht erklären, was das hier eigentlich sollte, aber als sein Blick auf seinen großen Bruder fiel, der auf Ryuujis Couch saß und mindestens ebenso verdattert dreinblickte, wie er selbst sich fühlte, begann Ryou zu verstehen. "I-Ist das meine Überraschung?", versicherte er sich dennoch bei Mokuba und als dieser grinsend nickte, während Ryuuji die Tür hinter ihnen beiden wieder zuschob, schluckte Ryou. Das war etwas, womit er ganz und gar nicht gerechnet hatte. Und Bakuras Blick nach zu urteilen, war er nicht der Einzige, der das nicht erwartet hatte. "Danke, Mokuba", nuschelte Ryou und setzte sich nach einem letzten Blick zu seinem schwarzhaarigen Freund, dem Ryuuji gerade einen Arm um die Schultern legte, zögerlich in Bewegung in Richtung der Couch. "Hey, Kleiner", begrüßte Bakura seinen Bruder, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. Dabei erschien auf seinen Lippen etwas, was sonst nur sehr wenige Menschen jemals zu sehen bekamen: ein sanftes, fast schon zärtliches Lächeln von der Art, wie er es nur für seinen jüngeren Bruder reserviert hatte. "Hallo, Kura", gab Ryou mit belegter Stimme zurück und quiekte im nächsten Moment erschrocken auf, als Bakura ihn einfach am Handgelenk fasste und zu sich zog. Und in dem Moment, in dem sich die Arme seines großen Bruders um ihn schlossen, schniefte Ryou und presste seine Augen fest zusammen. Er wollte jetzt ganz bestimmt nicht vor allen Anwesenden anfangen zu heulen, aber es war einfach zu schön, seinen Bruder so unerwartet wiederzusehen. Bakura störte sich kein bisschen daran, dass sein kleiner Bruder vor Freude über das unerwartete Wiedersehen in sein Shirt flennte. Ja, es war vielleicht ein bisschen unangenehm, dass sie beide jetzt nicht alleine waren, aber hier im Raum war, außer Ryous Freund Mokuba, für ihn kein Fremder. Und wenn der kleine Kaiba das hier angeleiert hatte, dann war er wohl auch okay. Hatte Ryou ihm nicht erzählt, dass er total in Kaiba Junior verliebt war? Bakura warf einen Blick zu dem Freund seines kleinen Bruders, ohne diesen loszulassen. Der Knirps beobachtete Ryou und ihn und sah dabei so zufrieden über die gelungene Überraschung aus, dass Bakura nicht umhin kam, sich zu fragen, ob es wohl einen bestimmten Grund für diese Aktion seinerseits gegeben hatte. Hatte er Ryou einfach nur eine Freude machen wollen, weil sie nun mal befreundet waren, oder steckte vielleicht mehr dahinter? Das, beschloss Bakura für sich, würde er definitiv im Auge behalten. "Wir stören doch nicht, oder?", fragte Mokuba sicherheitshalber nach, obwohl Bakura nicht den Eindruck machte, als ob er Ryou so bald wieder loslassen würde. Und auch Ryou, der sich schniefend an seinen großen Bruder klammerte, wirkte nicht, als würde er sich in näherer Zukunft wieder von ihm loseisen wollen. "Natürlich nicht", beantwortete Ryuuji die eigentlich vollkommen überflüssige Frage daher und zog Mokuba mit zum Bett, so dass er sich zu Katsuya und ihm hocken konnte. Der Blondschopf beobachtete Bakura und Ryou und auf seinen Lippen lag dabei ein Lächeln, das irgendwo zwischen glücklich und nostalgisch schwankte. Sobald sein bester Freund und dessen Begleiter sich jedoch zu ihm gesetzt hatten, riss er sich wieder zusammen, wuschelte dem Fünfzehnjährigen durch die schwarzen Haare und grinste ihn breit an. "Das war echt ne gelungene Überraschung, Kleiner. Danke", fasste er in Worte, was Bakura sicher niemals über die Lippen bekommen würde, und sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter, als Mokubas Wangen eine flammend rote Färbung annahmen. "Ich wollte Ryou bloß eine Freude machen", nuschelte er und strich sich verlegen durch die Haare. Dabei schielte er zu besagtem Freund hinüber, der sich inzwischen zwar neben seinen Bruder gehockt hatte, diesen aber offenbar immer noch nicht loszulassen gedachte. Der Anblick zauberte ein Lächeln auf Mokubas Lippen und ließ ihn die Peinlichkeit gleich wieder vergessen. Wenn Ryou sich so sehr über seine Überraschung freute, dann hatte sie ihren Zweck eindeutig erfüllt. oOo Die nächsten Stunden vergingen für die Fünf in Ryuujis Zimmer wie im Flug. Ryou und Mokuba erzählten abwechselnd, wie sie am Vortag ihrem Freund Yuugi einen Schubs in die richtige Richtung gegeben hatten, um ihn mit seiner Angebeteten verkuppeln zu können. Katsuya ließ ein paar Geschichten über ihre Lehrer und einige Mitschüler vom Stapel – wobei er sämtliche Interaktionen seinerseits mit Mokubas älterem Bruder geflissentlich aussparte – und Ryuuji steuerte ein paar Anekdoten von seinem Patenonkel und auch von seinem Vater bei. Dadurch, dass er so viel Besuch hatte, hatte er zu seiner Erleichterung gar keine Chance, wieder in seine Trauer abzurutschen. Das ließen Katsuya, Mokuba, Ryou und Bakura gar nicht zu. Irgendwann klopfte es schließlich an seiner Zimmertür. "Come in", erlaubte Ryuuji mit deutlich hörbarem Amüsement in der Stimme und setzte sich aus seiner lümmelnden Position auf, als sein Stiefvater die Tür öffnete. "Möchtet ihr zum Abendessen bleiben?", bot er den Besuchern seines Stiefsohnes an und registrierte zu seiner Überraschung, dass auch Mokuba und sein Freund Ryou-kun bei Ryuuji im Zimmer saßen. Ganz offenbar hatten die Fünf sich eine Menge zu erzählen, denn sie wirkten auf Gozaburo regelrecht ausgelassen – jedenfalls wenn man mal von Bakura-kun, Ryou-kuns älterem Bruder absah. Er wirkte eher desinteressiert, aber, sinnierte Gozaburo, vielleicht täuschte er sich da auch. "Wenn das wirklich keine Umstände macht …", murmelte Ryou, doch ehe sein Vater etwas dazu sagen konnte, hatte Mokuba auch schon den Kopf geschüttelt. "Ach Quatsch, gar nicht!", widersprach er und warf seinem Vater einen fragenden Blick zu. "Oder, Vater?", erkundigte er sich dann und Gozaburo gestattete sich ein Schmunzeln. "Selbstverständlich nicht. Sonst hätte ich das Angebot sicher nicht gemacht." Das war ja eigentlich logisch. "Ihr könnt dann so in einer halben Stunde nach unten kommen." Bis dahin, vermutete Gozaburo, würde Seto sicher auch wieder zu Hause sein. Er hatte sich bisher jedenfalls noch nicht gemeldet. Und das hätte er in jedem Fall getan, wenn er plante, das Abendessen ausfallen zu lassen. "Das ist nett. Danke, Gozaburo." Ryuuji bedachte seinen Stiefvater mit einem Lächeln, das dieser noch kurz erwiderte, ehe er die Tür hinter sich zuzog und die fünf Jungs wieder sich selbst überließ. Mokuba blinzelte seinen Stiefbruder überrascht an, aber es war Katsuya, der die Verwunderung, die er ebenfalls fühlte, in Worte kleidete: "Du duzt Kaiba-san?", erkundigte er sich verdutzt und rieb sich nachdenklich das Kinn, als Ryuuji einfach nur nickte. "Seit gestern, ja." Vor dem Gespräch, das Gozaburo und er geführt hatten, hatte er selbst seinen Stiefvater immer noch ›Gozaburo-san‹ genannt, aber gestern hatte dieser ihm das Du angeboten. Anfangs war es etwas seltsam für ihn gewesen, das konnte Ryuuji nicht leugnen. Am Vorabend beispielsweise war er immer wieder über die vertrauliche Anrede gestolpert, aber heute fiel es ihm schon deutlich leichter, seinen Stiefvater einfach nur mit seinem Namen anzusprechen. Und wenn er sich nicht komplett täuschte, dann hatte Gozaburo sich eben auch darüber gefreut. "Wir haben uns gestern ziemlich lange und ausführlich unterhalten", erklärte Ryuuji mit einem Achselzucken. Worüber genau sie gesprochen hatten, behielt er jedoch für sich. Das war nichts, was er unbedingt vor so vielen neugierigen Ohren mit Katsuya besprechen wollte. Immerhin mussten gerade Mokuba und Ryou nicht unbedingt wissen, was für Themen sie angeschnitten hatten. Katsuya wirkte zwar mehr als neugierig, aber nach einem kurzen Seitenblick zu Mokuba sparte er sich sämtliche Nachfragen, was Ryuuji ziemlich erleichterte. Auch Mokuba war die Neugier überdeutlich ins Gesicht geschrieben, aber er verkniff sich ebenfalls jegliche Nachfragen. Das konnte er auch später noch tun, wenn Ryou, Katsuya und Bakura erst mal wieder zu Hause waren. Dann hatte er immer noch genügend Zeit, Ryuuji ein paar Löcher in den Bauch zu fragen. Allerdings, das war Mokuba im Verlauf des Nachmittags klargeworden, gab es vorher noch etwas anderes zu klären. Kurz irrte sein Blick zu Ryou, der noch immer neben seinem großen Bruder saß und diesen gerade wieder einmal anstrahlte, weil Bakura ihm jetzt, wo sie wieder unter sich waren, erneut seinen Arm um die Schultern gelegt hatte. Der Anblick, den er heute schon mehrmals hatte sehen dürfen, löste in seinem Inneren Dinge aus, von denen er sich nicht sicher war, wie er sie in Worte fassen sollte. Mokubas Blick glitt weiter zu seinem Stiefbruder und er kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Wäre Seto jetzt hier gewesen, dann hätte er ihn gefragt, aber vielleicht kannte Ryuuji sich auf diesem Gebiet besser aus als Seto. "Kann ich dich mal kurz unter vier Augen sprechen, Ryuuji?" Die leise genuschelte Frage Mokubas ließ eine von Ryuujis Brauen in die Höhe wandern, aber er nickte trotzdem und rappelte sich von seinem Bett hoch. "Wir sind gleich wieder da", informierte er den Rest seiner Freunde und lotste Mokuba dann aus seinem Zimmer hinaus. Der Fünfzehnjährige schlug zielstrebig den Weg zu seinem eigenen Zimmer ein und schob dort die Tür hinter ihnen zu, sobald sie beide eingetreten waren. Dann lehnte er sich seufzend rücklings an seine Zimmertür, wagte aber nicht so recht, seinen Stiefbruder anzusehen. Gerade war es ihm noch wie eine gute Idee vorgekommen, mit Ryuuji zu sprechen, aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher, ob er das wirklich tun sollte. Aber er konnte Ryou auch nicht ewig eine Antwort schuldig bleiben, oder? Das wäre absolut nicht fair Ryou gegenüber. Ryuuji, dem Mokubas Blicke in Ryous Richtung während der letzten Stunden nicht entgangen waren, hatte eine ungefähre Vermutung, worüber der Junge mit ihm sprechen wollte. Allerdings schien er jetzt ein bisschen Angst vor seiner eigenen Courage zu haben. Höchste Zeit also, ihm ein bisschen unter die Arme zu greifen. "Du wolltest mit mir reden?", sprach er Mokuba an und der Junge seufzte abgrundtief, ehe er den Blick doch wieder hob, um seinen Gesprächspartner ansehen zu können. "Ja, ich …", setzte er an, brach ab und straffte sich erst mal. "Ich sollte mit Ryou reden. Über … über uns. Aber ich weiß nicht …" "Du weißt nicht, ob Ryou für dich nur ein Freund ist oder doch mehr", beendete Ryuuji den Satz und Mokuba nickte zaghaft. Seine Wangen glühten und ein Teil von ihm wünschte sich jetzt gerade ans andere Ende der Welt – Gedanken, die Ryuuji ihm förmlich am Gesicht ablesen konnte. Der Kleine war aber auch wie ein offenes Buch. "Du magst ihn sehr, oder?", erkundigte er sich sanft, setzte sich auf Mokubas Bett und klopfte auf den freien Platz neben sich. Mokuba zögerte noch einen Moment, dann stieß er sich von der Tür ab, trat zum Bett und ließ sich neben Ryuuji sinken. "J-Ja, schon, aber … Woher weiß ich denn, ob ich ihn nur wie einen Freund mag oder … mehr?", wollte er wissen und sah den Älteren mit einem Blick an, in dem Verwirrung, Hoffnung und auch ein kleines bisschen Angst lag. "Ich will Ryou nicht wehtun, indem ich ihm etwas Falsches sage, aber ich kann das auch nicht noch ewig vor mir herschieben. Das wäre Ryou gegenüber einfach unfair. Ich meine, er war so mutig und hat mir gestanden, dass er … dass er eben in mich … verliebt ist. Das war bestimmt nicht leicht für ihn, aber er hat es trotzdem getan. Und ich drücke mich die ganze Zeit vor einer Antwort." "Du drückst dich nicht vor einer Antwort, Mokuba." Ryuuji strich dem Jungen über die Haare und bedachte ihn mit einem aufmunternden Lächeln. "Du nimmst dir die Zeit, die du brauchst, um dir ganz sicher zu sein. Das ist ein Unterschied. Und ich bin mir sicher, Ryou versteht das." Und ganz sicher wollte der Weißhaarige lieber dann eine Antwort, wenn Mokuba wirklich wusste, was er fühlte. Eine zu übereilte Antwort, auch wenn sie positiv ausfallen sollte, war wohl kaum in seinem Interesse, wenn Mokuba erst hinterher merkte, dass er die Gefühle, die Ryou für ihn hatte, eben doch nicht teilte. "Aber kann es sein, dass dir heute etwas klargeworden ist?" Ryuujis sanfte Frage brachte Mokuba dazu, ihn doch wieder anzusehen. "Ich … bin mir nicht sicher. Vielleicht", nuschelte er und seufzte erneut. Wie sollte er denn bloß erklären, was mit ihm los war, wenn er keine Ahnung hatte, wie er das in Worte kleiden sollte? "Und jetzt bist du dir nicht sicher, ob du dich nicht vielleicht in etwas verrennst, einfach nur weil du Ryou nicht enttäuschen möchtest. Trifft es das so ungefähr?", hakte Ryuuji weiter nach und Mokuba schluckte. "Woher … weißt du das?", fragte er leise und Ryuujis Lächeln vertiefte sich noch etwas. "Weil ich mich auch schon mal so gefühlt habe wie du jetzt, Mokuba", erklärte er. "Es kann ganz schön verwirrend sein, wenn man merkt, dass man jemanden, den man eigentlich schon seit einer Ewigkeit kennt, plötzlich mit ganz anderen Augen sieht. Und es ist ein bisschen beängstigend, oder?", murmelte er und Mokuba nickte nach kurzem Zögern. "I-Ich … ich mag es, wenn Ryou lächelt. Wenn er so strahlt wie vorhin, als Bakura ihn in den Arm genommen hat, dann …" Etwas unschlüssig brach Mokuba ab und senkte seinen Blick auf seine Hände, die schon wieder begonnen hatten, vor lauter Nervosität mit seinem Shirtsaum zu spielen. "Dann wünschst du dir, dass er dich so anstrahlt, nicht wahr?", fasste Ryuuji in Worte, was Mokuba nicht über die Lippen brachte, und der Fünfzehnjährige schluckte hart, ehe er langsam nickte. Noch immer sah er nicht auf, denn er wollte nicht, dass Ryuuji merkte, dass inzwischen sein ganzes Gesicht glühte. "Glückwunsch, Mokuba. Damit hast du deine Antwort gefunden." Ryuuji schmunzelte ein wenig. Ihm war nicht entgangen, dass Mokuba inzwischen knallrot war, aber er verkniff es sich, den Jungen damit zu aufzuziehen. Stattdessen legte er ihm einfach einen Arm um die Schultern und zog ihn so näher an sich. "Jetzt musst du nur noch mit Ryou sprechen. Aber davor musst du keine Angst haben, Mokuba. Immerhin weißt du ja, wie Ryou fühlt." Und der Weißhaarige wäre sicher außer sich vor Glück, wenn Mokuba wirklich den Mut aufbrachte, ihm zu sagen, dass es ihm genauso ging. "A-Aber … Was, wenn …?" Mokuba brach ab, als ihm die Unsinnigkeit der Frage, die er gerade hatte stellen wollen, bewusst wurde. Er musste sich wohl wirklich keine Sorgen darüber machen, dass Ryou ihn für seine Gefühle ablehnte oder verurteilte. Immerhin war er schließlich derjenige gewesen, der zuerst seine eigenen Gefühle gestanden hatte. Da würde er sich doch sicher freuen zu hören, dass sie erwidert wurden, oder? "Aber wie soll ich ihm das denn sagen?" "Am besten sagst du's ihm so, wie es ist", riet Ryuuji seinem Stiefbruder und drückte ihn noch mal kurz an sich, ehe er sich wieder von ihm löste. "Soll ich ihn zu dir rüberschicken?", bot er dann an und Mokuba biss sich kurz auf die Unterlippe, ehe er sich zu einem Nicken durchrang. Er hatte Ryou wirklich lange genug auf seine Antwort warten lassen. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass er endlich all seinen Mut zusammennahm und Ryou sagte, was er selbst in seinem weißhaarigen Freund sah. "Okay." Damit stand Ryuuji von Mokubas Bett auf, strich dem Jungen noch mal kurz über die Haare und ging dann zurück in sein Zimmer, wo ihn drei braune Augenpaare erwartungsvoll anblickten. Ryuuji schmunzelte kurz, dann wandte er sich an Ryou. "Mokuba würde gerne mit dir reden. Er wartet drüben in seinem Zimmer", teilte er ihm mit und Ryou konnte fühlen, wie sein Herz zu rasen begann und seine Handflächen feucht wurden. Ganz sicher hatte er hektische rote Flecken auf den Wangen, aber das war jetzt nicht so wichtig. "Dann … gehe ich mal zu ihm", sagte er leise, löste sich von seinem großen Bruder und beeilte sich, Ryuujis Zimmer zu verlassen und die Tür hinter sich zuzuziehen. Dann atmete er mehrmals tief durch und machte sich auf den Weg zu Mokubas Zimmer, dessen Tür Ryuuji für ihn offengelassen hatte. Mit klopfendem Herzen betrat Ryou das Zimmer, schob die Tür hinter sich zu und räusperte sich dann erst einmal, damit seine Stimme ihn nicht im Stich ließ. "Du wolltest mit mir reden?" Ryous leise Frage holte Mokuba wieder aus dem Gedankenkarussell, das sich seit Ryuujis Weggang unablässig gedreht hatte. "J-Ja, wollte ich", antwortete er leise und blickte zaghaft auf. Ryous Blick war ebenso vorsichtig, aber in den Tiefen der dunkelbraunen Augen lag auch ein unübersehbarer Hoffnungsschimmer – ein Hoffnungsschimmer, der Mokuba das, was er zu sagen hatte, zumindest ein bisschen erleichterte. Immerhin, da hatte Ryuuji ja durchaus Recht gehabt, wusste er ja, was Ryou für ihn empfand. Jetzt kam es nur noch darauf an, dass er selbst seinem weißhaarigen Freund sagte, wie es um seine eigenen Gefühle bestellt war. Allerdings war das in der Theorie wesentlich leichter als in der Praxis. Mokuba klappte den Mund ein paar Mal auf und zu, aber er brachte einfach kein Wort über die Lippen und verfluchte sich innerlich selbst für seine Feigheit. Was genau sah Ryou bloß in ihm? Wieso hatte er sich ausgerechnet in ihn verliebt? Das verstand der Schwarzhaarige einfach nicht. Ryou war so ein toller Mensch, so ein wunderbarer Freund. Er hatte jemanden verdient, der sich nicht benahm wie der letzte Idiot, nur weil ihm eben – mit ein bisschen Hilfe – klargeworden war, dass er offenbar auch mehr als nur Freundschaft empfand. "Mokuba?" Der Angesprochene schüttelte den Kopf und auf seinen Lippen erschien ein sehr verunglücktes Lächeln. "Ich verstehe einfach nicht, was du an mir findest, Ryou", gab er zu. "Ich bin ein Vollidiot. Ich meine, ich habe die ganze Zeit lang überhaupt nicht gemerkt, was mit dir los ist. Was für ein Freund bin ich denn, wenn ich nicht sehe, dass dich etwas beschäftigt?", nuschelte er und blinzelte irritiert, als Ryou auf diese Worte hin einfach nur lächelte. Seine Wangen zierte ein zarter Rotschimmer und Mokuba sah, dass Ryous Finger zitterten, aber trotzdem klang keine Spur Unsicherheit in seiner Stimme mit, als er antwortete. "Ich wollte ja gar nicht, dass du etwas merkst." Verlegen strich Ryou sich eine weiße Strähne hinters Ohr. "Und du bist ein wundervoller Mensch, Mokuba, und ein toller Freund. Du bist immer für Yuugi und mich da, wenn wir dich brauchen." Wie hätte er selbst sich da nicht in Mokuba verlieben können? "Eigentlich dachte ich auch immer, dass es mir reicht, nur mit dir befreundet zu sein, aber dann hast du Ryuuji kennengelernt und … Ihr habt euch so gut verstanden und ich war so eifersüchtig, dass ich etwas sehr Dummes getan habe. Und das tut mir wirklich leid, Mokuba. Ich wollte eigentlich nicht, dass du davon erfährst, was ich fühle. Und schon gar nicht so." Obwohl er den Kuss immer noch nicht wirklich bereute. Aber das, das schwor Ryou sich, würde er lieber für sich behalten. "Mir tut es auch leid." Mokuba hob die Hand, ehe Ryou etwas dazu sagen konnte. "Nicht, dass ich jetzt weiß, wie du fühlst, sondern nur, dass ich dir immer wieder wehgetan habe, ohne dass ich das eigentlich wollte." Immerhin hatte Ryou ihm ja selbst gesagt, dass er wegen Ryuuji ganz furchtbar eifersüchtig gewesen war. Aber dafür gab es nun wirklich keinen Grund. Mokuba seufzte innerlich. Jedenfalls ganz bestimmt nicht mehr. Ryuuji war jetzt sein Bruder, aber mehr nicht. Aber wie sollte er Ryou das klarmachen? Und würde Ryou ihm das auch glauben? Nun, sinnierte Mokuba, es gab wohl nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Also stand er auf und trat näher zu Ryou, dessen Wangen gleich ein noch tieferes Rot annahmen. "Es tut mir leid, dass du so lange warten musstest", murmelte Mokuba mit belegter Stimme. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, aber als er Ryou in die Augen sah, war alles plötzlich sehr viel einfacher, als er eine Minute zuvor noch gedacht hatte. Mit neugewonnener Sicherheit griff er nach Ryous Hand und lächelte, als er fühlte, wie Ryou seine Finger mit seinen eigenen verschränkte. "Das muss dir nicht leidtun, Mokuba." Ryou lächelte ebenfalls. Mokubas Hand in seiner fühlte sich so gut, so richtig an. Auf diesen Moment hätte er auch noch sehr, sehr viel länger gewartet, wenn es nötig gewesen wäre. "Ganz und gar nicht." Wichtig war doch nur, dass Mokuba sich jetzt entschieden hatte – und zwar für ihn, wenn Ryou den Druck von Mokubas Fingern richtig interpretierte. Und als Mokuba noch einen halben Schritt nähertrat und, nach kurzem Zögern, seine Lippen vorsichtig auf Ryous legte, war sich der Weißhaarige sicher, dass er darauf auch bis ans Ende der Zeit hätte warten können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)