Brothers von Karma ================================================================================ Kapitel 16: Montag ------------------ "Nii-san? Nii-san, bist du schon wach?" Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit war Mokuba an diesem Montagmorgen selbst um sechs Uhr schon mehr als munter und hüpfte vor der Zimmertür seines älteren Bruders aufgeregt von einem Bein auf das andere. Seto hatte ihm schließlich hoch und heilig versprochen, dass er vor dem Unterricht noch mit zu seiner Schule fahren und ihn verabschieden würde, wenn er eine Woche lang auf Klassenfahrt fuhr. "Guten Morgen, otouto." Seto konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er seine Zimmertür öffnete und sein kleiner Bruder gleich hereinstürmte. Wegen dessen Klassenfahrt war er selbst ebenfalls früher aufgestanden und hatte bereits geduscht, so dass er schon vollständig angezogen war. Eigentlich hatte er gerade hinübergehen wollen, um den Jungen zu wecken, aber das war scheinbar nicht mehr nötig. So hibbelig, wie er war, hatte er sich wohl umsonst gesorgt, ob dieser wohl rechtzeitig aus dem Bett kommen würde. "Guten Morgen, Nii-san", erwiderte Mokuba fröhlich und ließ sich auf das Bett seines Bruders plumpsen. Im Gegensatz zu diesem trug er heute nicht seine Schuluniform, sondern eine schwarze Jeans und einen einfachen weißen Pullover – bequeme Kleidung, mit der er die stundenlange Busfahrt schon irgendwie überstehen würde, hoffte er. Noch bevor der Angesprochene zum Antworten kam, erklang in seinem Rücken die Stimme seines Stiefbruders. "Na, ihr Zwei seid ja schon früh munter. Morgen, Mokuba. Morgen, Seto", begrüßte Ryuuji die beiden und als der Älteste der Drei sich umdrehte, sah er, dass Ryuuji lässig am Türrahmen lehnte und seinem kleinen Bruder grinsend zuzwinkerte. Dass es ihm einigermaßen Mühe bereitete, das Grinsen beizubehalten, als er den Blick eines azurblauen Augenpaars auffing, bemerkte weder sein jüngerer noch sein älterer Stiefbruder. "Ich glaube, Mum, euer Vater und Isono-san warten unten schon auf uns. Isono-san hat jedenfalls vorhin schon deinen Koffer im Wagen verstaut – und ihre auch." Solange er redete, fühlte Ryuuji sich einigermaßen sicher, denn er hoffte, dass man ihm so seine Nervosität nicht anmerkte. Dennoch war ihm der Blick, mit dem der Brünette ihn bedachte, gleichermaßen angenehm wie unangenehm. "Dann sollten wir sie wohl besser nicht mehr länger warten lassen", murmelte Seto und warf seinem kleinen Bruder einen auffordernden Blick zu. Dessen hätte es jedoch gar nicht bedurft, denn der Fünfzehnjährige war bereits aufgesprungen und strahlte fröhlich in die Runde. "Okay", erklärte er sich gleich einverstanden und hakte sich bei seinen beiden Brüdern ein, um diese nach unten zu schleifen. "Ich find's zwar ganz schön doof, dass ich ausgerechnet dann auf Klassenfahrt bin, wenn wir Drei sturmfreie Bude hätten, aber daran ist wohl leider nichts zu ändern." Mokuba seufzte abgrundtief, doch dann schüttelte er diese Gedanken schnell wieder ab. Irgendwie freute er sich inzwischen ja doch schon auf die kommende Woche. Ryou, Yuugi und er würden sicher eine Menge Spaß zusammen haben. Ein Wochenende oder gar eine ganze Woche mit seinen älteren Brüdern und ohne die Aufsicht ihrer Eltern würde sich sicher auch noch ein anderes Mal ergeben. Jedenfalls hoffte er das ganz stark. Keiner der beiden Älteren sagte etwas dazu, denn dieses Thema hatten sie alle am Vorabend nach dem Abendessen bereits ausführlich besprochen und diskutiert. Ryuuji wuschelte dem Jüngsten einfach nur durch die schwarzen Haare und Seto nickte knapp. Danach warf er seinem Stiefbruder einen kurzen Blick zu, doch davon bemerkte dieser scheinbar nichts. Jedenfalls reagierte er in keinster Weise darauf. Ryuuji entging der Seitenblick seines älteren Stiefbruders nicht, aber er wollte sich nicht schon wieder von seinen Wünschen und dem Wissen, dass diese ja doch nie wahr werden würden, runterziehen lassen. Nicht ausgerechnet jetzt, solange Mokuba noch dabei war und ihn aus seinen großen blauen Kulleraugen ansah. Darüber, dass er die gesamte nächste Woche beinahe alleine mit Seto verbringen würde, konnte er auch später noch nachdenken. Bevor seine Gedanken ihn doch noch deprimieren konnten, stellte Ryuuji zu seiner Erleichterung fest, dass seine Mutter und ihr Ehemann bereits unten vor der Tür auf sie Drei warteten. Mokuba hüpfte fröhlich die Treppen der Villa hinunter, kletterte in die Limousine und ließ sich zwischen seine Eltern fallen. Dabei strahlte er so sehr, dass seine beiden älteren Brüder nicht umhin konnten, ebenfalls zu lächeln. Die gute Laune des Fünfzehnjährigen war einfach ansteckend, ob sie wollten oder nicht. Seto schluckte dennoch unmerklich, als er hinter seinem Stiefbruder in den Wagen stieg. Dadurch, dass Mokuba zwischen ihrem Vater und Yukiko saß, blieb für ihn selbst nur der Platz gleich neben Ryuuji übrig. Mit wild klopfendem Herzen und ohne zu ahnen, dass der Schwarzhaarige ebenso nervös war wie er selbst, ließ er sich in die Polster sinken und wandte seinen Blick aus dem Fenster, während Isono losfuhr. Die gesamte Fahrt zu seiner Schule über plapperte Mokuba aufgeregt auf seine Eltern und seine beiden Brüder ein. Er war so gut gelaunt, dass ihm nicht auffiel, dass sowohl Seto als auch Ryuuji ihm nur ausgesprochen knappe, einsilbige Antworten gaben. Auch Gozaburo bemerkte nichts davon, doch Yukiko entging die seltsam grüblerische Stimmung ihres älteren Stiefsohnes ebenso wenig wie das für ihn untypisch in sich gekehrte Verhalten ihres leiblichen Sohnes. War zwischen den beiden Jungen irgendetwas vorgefallen? Hatten sie sich am Vorabend vielleicht wieder gestritten, ohne dass es jemandem aufgefallen war? Ich werde Ryuuji fragen, nahm sie sich vor, doch ihre Gedanken wurden vom Halten der Limousine unterbrochen. Die Fünf stiegen gemeinsam aus und Yukiko hielt ihren Sohn zurück, als dieser gleich zu Mokuba aufschließen wollte. "Ist zwischen Seto und dir gestern Abend irgendetwas passiert, Ryuuji?" Die besorgte Frage seiner Mutter ließ den Angesprochenen stehen bleiben, während sein Stiefvater und seine beiden Stiefbrüder bereits zu dem wartenden Bus vorausgingen und Isono dabei behilflich waren, den Koffer des Fünfzehnjährigen zu verstauen. "Was sollte denn passiert sein, Mum?", fragte er zurück und schüttelte den Kopf. "Nein, es ist alles okay. Ich hab nur nicht besonders gut geschlafen letzte Nacht." Und das, dachte Ryuuji bei sich, war nicht einmal gelogen, sondern die volle Wahrheit. Das Verhalten seines älteren Stiefbruders, das in den vergangenen Tagen noch undurchsichtiger geworden war als ohnehin schon, hatte ihn den Großteil der Nacht wachgehalten und seine Träume über den Achtzehnjährigen hatten ihr Übriges getan, um ihn lange vor seinem Wecker aus dem Schlaf zu reißen. "Du wirst doch hoffentlich nicht krank, oder?", wollte Yukiko besorgt wissen und legte ihrem Sohn eine Hand auf die Stirn, doch zu ihrer Beruhigung schien seine Temperatur vollkommen normal zu sein. "Bestimmt nicht", antwortete er auch gleich, nahm die Hand seiner Mutter und strich ihr mit dem Daumen zärtlich über den Handrücken. "Das ist nur alles eine ziemliche Umstellung für mich, weißt du? Aber Seto und ich kommen schon miteinander klar. Mach dir keine Sorgen um uns, sondern genieß deine Hochzeitsreise, ja, Mum?", bat er leise und lächelte, um ihr zu zeigen, dass es ihm gut ging. Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber er wollte seiner Mutter einfach keine Sorgen machen. Nicht gerade jetzt, wo sie sich doch so auf die Reise gefreut hatte. "Wenn du das sagst." Yukiko lächelte ebenfalls und ging gemeinsam mit ihrem Jungen zu ihrem Mann und ihren beiden Stiefsöhnen, die ganz offenbar bereits auf sie warteten. Mokuba strahlte, als seine Stiefmutter und sein Stiefbruder zu ihnen stießen. Seine beiden besten Freunde Ryou und Yuugi waren mit ihren Familien ebenfalls bereits da und der Fünfzehnjährige stellte seine neue Mutter gleich allen vor. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu grinsen, was dazu führte, dass Yuugi ihm in einem unbeobachteten Moment seinen Ellbogen in die Rippen stieß. "Du hast nicht gelogen. Sie ist echt unglaublich hübsch", flüsterte er und Ryou nickte bestätigend. "Dein Vater sieht sehr, sehr glücklich aus. Und sie auch", fügte er hinzu und Mokubas Grinsen wurde gleich noch eine Spur breiter. "Hab ich euch doch gesagt. Vater ist total verliebt in sie. Und sie liebt ihn auch. Nur doof, dass Seto und Ryuuji jetzt ganz alleine sturmfrei haben. Ich hoffe nur, sie streiten sich nicht schon wieder", antwortete er und seufzte, schüttelte diese Gedanken aber schnell ab. So gut, wie seine beiden Brüder sich in der vergangenen Woche verstanden hatten, war die Gefahr wohl recht gering. Nach der allgemeinen Verabschiedung, bei der Mokuba seinen Stiefbruder wieder einmal stürmisch umarmte – was ihm einen bösen Blick seitens seines älteren Bruders und diesem einen wissenden Blick Yamis, der die Szene beobachtete, einbrachte –, wollten die drei Fünfzehnjährigen gerade in den Bus steigen, als Ryuuji zur Verwunderung aller Ryou kurz beiseite nahm. Der Weißhaarige warf dem Älteren einen skeptischen Blick zu, doch als dieser ihn kurz umarmte und ihm dabei leise "Sieh gleich, wenn du im Bus sitzt, mal in deine rechte Hosentasche, Ryou" zuflüsterte, wandelte sich der Blick des Fünfzehnjährigen von misstrauisch zu verwirrt. "Warum?", fragte er und der Schwarzhaarige zwinkerte ihm von seinem Vater ungesehen zu. "Weil ich dir was von deinem Bruder geben sollte – und zwar so, dass dein Vater nichts davon mitkriegt. Bakura hat mich vor ein paar Tagen darum gebeten, weil er wusste, dass ich heute Morgen wegen Mokuba sowieso hier sein würde", erklärte er leise, gab dem Jungen einen Schubs in Richtung Bustür und setzte noch ein etwas lauteres "Jetzt mach aber, dass du reinkommst, sonst lassen sie dich noch hier" hinzu. Gleichermaßen durcheinander wie erfreut – sein großer Bruder hatte Ryuuji etwas für ihn mitgegeben? – nickte Ryou und beeilte sich, in den Bus zu klettern. Seine beiden Freunde hatten einen Viererplatz besetzt und da Yuugi auf dem Platz neben sich ihre Rucksäcke deponiert hatte – natürlich vollkommen ohne Hintergedanken –, ließ der Weißhaarige sich auf den Sitz neben Mokuba fallen. "Was wollte Ryuuji denn gerade von dir, Ryou?", erkundigte dieser sich auch gleich bei seinem Freund. Irgendwie mochte er diese Heimlichtuerei gar nicht. Was hatte Ryuuji denn jetzt auf einmal bitteschön mit Ryou zu schaffen? Die beiden kannten sich doch kaum, also warum hatte Ryuuji Ryou denn da gerade umarmt? Das machte er doch sonst nur bei seiner Mutter und bei ihm. Nicht einmal Seto umarmte er, also warum bitteschön tat er das plötzlich bei Ryou? Ryou wartete, bis der Bus angefahren und sein Vater außer Sichtweite war. Erst dann griff er in seine rechte Hosentasche und zog einen zusammengefalteten Zettel daraus hervor. "Von Kura", flüsterte er leise, als er das Papier angesehen und die Schrift darauf erkannt hatte. "Kura hat Ryuuji gebeten, mir das zu geben", fügte er hinzu und strahlte seine beiden Freunde an. Seit Wochen war dieses winzige Stückchen Papier das erste wirkliche Lebenszeichen von seinem heißgeliebten großen Bruder, deshalb kam es ihm wie ein Schatz vor. "Du flennst, Ryou", stellte Yuugi ungerührt fest, grinste und kramte in seinem Rucksack herum, bis er ein Taschentuch gefunden hatte. Der Weißhaarige nahm es an, murmelte einen leisen Dank und wischte sich beschämt über die Augen. Es war ihm furchtbar peinlich, sich vor seinen Freunden so gehen zu lassen, aber er konnte einfach nichts dagegen tun. Er freute sich so wahnsinnig darüber, dass sein Bruder ihn doch nicht völlig vergessen hatte. Wie lange hatte er jetzt schon nichts mehr von dem Neunzehnjährigen gehört? "Was schreibt dein Bruder denn?", wollte Mokuba neugierig wissen und lehnte sich etwas näher zu seinem weißhaarigen Freund hinüber. Ryou entfaltete das Papier und biss sich auf die Unterlippe, um nicht gleich wieder laut zu schniefen. Aus der Notiz fiel ihm ein ebenfalls noch einmal in der Mitte gefaltetes Foto entgegen, auf dem neben seinem älteren Bruder auch ihre gemeinsame Mutter abgebildet war. Zärtlich streichelte Ryou mit den Fingerspitzen über das Bild. "Das ist ein Foto von Kura und Mama", flüsterte er leise und lächelte, während ihm gleichzeitig noch mehr Tränen über das Gesicht liefen. Nach der Trennung seiner Eltern hatte sein Vater alle Fotos, auf denen Bakura oder ihre Mutter abgebildet gewesen waren, aus dem gesamten Haus entfernt, denn er hatte sämtliche Erinnerungen an seine Exfrau und seinen ältesten Sohn aus seinem Leben tilgen wollen. Bakura schien das zumindest geahnt zu haben, denn er hatte in seiner kaum leserlichen Handschrift ›Damit du uns nicht ganz vergisst, Kleiner‹ auf die Rückseite des Bildes geschrieben. "Aber ich könnte euch doch nie vergessen, Kura", nuschelte Ryou und schniefte nun doch wieder leise. Dass Mokuba ihm einen Arm um die Schultern legte und Yuugi ihm tröstend über das Knie streichelte, bevor er ihm die Tränen aus dem Gesicht wischte, registrierte er nur am Rande. Auch die seltsamen Seitenblicke, mit denen einige ihrer Klassenkameraden ihn bedachten, bemerkte der Weißhaarige nicht. Dafür war er über die kleine Geste seines älteren Bruders viel zu glücklich. oOo Während Mokuba und Yuugi sich um Ryou kümmerten, saß die verbliebene Familie Kaiba bereits wieder in der Limousine. Gozaburo und seine Frau hatten beschlossen, ihre beiden älteren Söhne noch zur Schule zu bringen und sich dort dann von ihnen zu verabschieden, bevor sie sich von Isono zum Flughafen würden fahren lassen, um ihre Hochzeitsreise anzutreten. Immerhin würde das für die nächste Woche das letzte Mal sein, dass sie die Gelegenheit hatten, mit den beiden Jungen zu sprechen. Seto, den Ryuujis Umarmungsaktion für Ryou gleichermaßen überrascht wie verärgert hatte, starrte verbissen aus dem Fenster des Wagens und versuchte zu begreifen, warum in aller Welt sein Stiefbruder das getan hatte. Hatte er ihn ärgern wollen? Hatte er etwas von seinen Gefühlen bemerkt? Oder hatte er sich einfach nur einen Scherz erlaubt? Ryous Gesicht nach zu urteilen hatte dieser mit der Umarmung ebenfalls nicht gerechnet, aber konnte er da wirklich sicher sein? Vielleicht war das ja nur vorgetäuscht gewesen. Jetzt mach Dich nicht lächerlich, Seto!, ermahnte der Brünette sich selbst, als seine Gedanken an diesem Punkt angekommen waren. Seit wann fing er denn bitteschön an, den Freunden seines kleinen Bruders solche Dinge zu unterstellen? Keine Eifersucht der Welt rechtfertigte das! Viel wahrscheinlicher war es doch wohl, dass sein Stiefbruder einfach wie so oft aus einer Laune heraus gehandelt hatte. Darauf deutete jedenfalls sein überaus zufriedenes Grinsen hin, das er aus dem Augenwinkel durchaus bemerkte. Ryuujis Laune hatte sich dadurch, dass er Bakuras Bitte hatte nachkommen können, tatsächlich etwas verbessert. Der Weißhaarige hatte ihn am vergangenen Freitag nach dem Unterricht noch kurz aufgehalten, ihm den gefalteten Zettel zugesteckt und ihn gebeten, ihn möglichst unauffällig an Ryou weiterzuleiten. Um ein Haar, das gestand Ryuuji sich ein, hätte er einen Blick hineingeworfen, doch er hatte es irgendwie geschafft, der Versuchung zu widerstehen – eine Tatsache, auf die er schon ein kleines bisschen stolz war. Es war nicht einfach gewesen, seiner angeborenen Neugier nicht nachzugeben, aber es war ihm gelungen. Dafür würde er allerdings, das nahm er sich fest vor, Bakura bei der erstbesten Gelegenheit so lange löchern, bis dieser ihm verriet, was genau er denn da jetzt weitergegeben hatte. Ryuuji wurde erst aus seinem Triumph gerissen, als die Limousine auf dem Schulparkplatz anhielt. Noch immer in bester Stimmung kletterte er hinter seinem Stiefbruder aus dem Wagen, nachdem er sich ebenso wie dieser von seiner Mutter und seinem Stiefvater verabschiedet hatte. "Macht euch um uns keine Sorgen, sondern macht euch eine schöne Zeit, ja?", wünschte er den beiden noch, dann schlug er die Wagentür zu und sah sich auf dem Schulhof suchend um. "Was war denn das vorhin für eine Aktion mit Ryou?" Seto hatte eigentlich nicht fragen wollen, aber die Sache mit der Umarmung hatte ihm einfach keine Ruhe gelassen. Er musste unbedingt wissen, was es damit auf sich hatte. Er konnte das einfach nicht auf sich beruhen lassen. Fragend sah er seinen Stiefbruder an und dessen Grinsen wuchs noch ein ganzes Stück in die Breite "Trick siebzehn", antwortete Ryuuji und kicherte, als er Setos verständnisloses Gesicht sah. "Damit meine ich, dass ich Ryou so unauffällig eine kleine Nachricht von seinem Bruder zugesteckt hab. Bakura hat mich letzte Woche drum gebeten, weil er ja wusste, dass ich seinen kleinen Bruder heute sehen würde. Frag mich aber nicht, was das für ne Nachricht war, Seto. Ich hab keine Ahnung, ehrlich", erklärte Ryuuji schließlich und dem Brünetten fiel ein Stein vom Herzen, obwohl er sich davon nichts anmerken ließ. Also hatte diese ganze Aktion einen vollkommen harmlosen Hintergrund gehabt. Bevor Seto jedoch noch etwas erwidern konnte, wurde Ryuujis Aufmerksamkeit von seinem besten Freund, der hektisch auf ihn zugerannt kam und nur Zentimeter vor ihm stoppte, abgelenkt. "Kats? Alles okay?", erkundigte der Schwarzhaarige sich leicht besorgt und der Blondschopf warf ihm einen flehenden Blick aus seinen schokobraunen Augen zu. "Hast du Kura heute schon gesehen? Weißt du, ob er schon hier ist?", erkundigte er sich keuchend und sackte halb in die Knie, als Ryuuji bedauernd den Kopf schüttelte. "Nein, ich hab ihn noch nicht gesehen", erwiderte dieser. "Was ist denn los? Habt ihr Zwei etwa Stress miteinander?", wollte er dann wissen und nun schüttelte der Blondschopf den Kopf. "Wir nicht, nein. Kura ... Kura hatte gestern Abend Streit mit seiner Mutter. Sie hat ... ach, ist ja auch egal, was sie gemacht hat", sagte er nach einem kurzen Seitenblick zu Seto. Eigentlich war es ihm mehr als unangenehm, etwas derart Privates ausgerechnet im Beisein des Eisklotzes zu besprechen, aber das, was geschehen war, duldete nun mal keinerlei Aufschub. "Jedenfalls ist er danach gleich aus der Wohnung abgehauen und die ganze letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich ... ich hab Angst, dass er wieder irgendwelche Scheiße baut, Ryuuji." Der beinahe schon verzweifelte Blick seines besten Freundes ließ den Angesprochenen schwer schlucken. So fertig hatte er den Blonden schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Seit dem Tod seiner Mutter und seiner geliebten kleinen Schwester, um genau zu sein. "Lass uns erst mal reingehen, Kats", murmelte er daher beruhigend und zog seinen besten Freund mit sich ins Schulgebäude zu ihrem Klassenraum, denn es hatte gerade geklingelt. "Nach dem Unterricht rufen wir sofort bei dir an, wenn er nicht vorher hier auftaucht. Und wenn er sich bis dahin nicht gemeldet hat oder wieder zu Hause ist, dann helfe ich dir dabei, ihn zu suchen, okay?" Den seltsamen Blick, mit dem sein Stiefbruder ihn bedachte, bemerkte der Schwarzhaarige nicht. Seto folgte den beiden etwas langsamer und ließ sich im Klassenraum auf seinen Platz sinken. Er war so in seine Gedanken verstrickt, dass er nicht einmal seinen besten Freund Yami bemerkte, als dieser sich neben ihn setzte und ihn von der Seite her fragend ansah. Erst die leise Stimme des Bunthaarigen, der sich erkundigte, ob alles in Ordnung war, riss ihn aus seinen Grübeleien. "Hm? Oh, guten Morgen, Yami", grüßte der Brünette zerstreut und der Angesprochene schmunzelte. "Das hast du vorhin am Bus schon gesagt, als wir unsere Brüder verabschiedet haben", erinnerte er seinen besten Freund und dieser warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, bevor seine Augen wieder nach seinem Stiefbruder und dessen blondem Freund suchten, die auch jetzt noch während des Unterrichts die Köpfe zusammensteckten und miteinander tuschelten. Yami folgte seinem Blick und runzelte nachdenklich die Stirn. "Wo ist Kinoshita?", fragte er leise und sein bester Freund deutete ein Schulterzucken an. "Scheinbar verschwunden. Jedenfalls hat Jounouchi vorhin so etwas erwähnt. Es hat wohl Streit gegeben und Kinoshita war die ganze Nacht nicht zu Hause. Ryuuji hat angeboten, nach der Schule beim Suchen zu helfen", fasste er das zuvor Gehörte zusammen und das Stirnrunzeln des Bunthaarigen vertiefte sich. "Hoffentlich ist ihm nichts passiert", murmelte er leise. Seto nickte jedoch nur abwesend und seufzte unhörbar. Er hoffte ebenso wie sein bester Freund, dass Kinoshita möglichst bald wieder auftauchen möge, aber seine Hoffnung war keinesfalls uneigennützig oder von Sorge geprägt wie die Yamis. Nein, er hoffte einfach nur, dass sich die Sache mit dem Weißhaarigen schnell klären möge, damit sein Stiefbruder nicht so viel Zeit damit verbrachte, Jounouchi bei der Suche zu helfen. Jetzt, wo sie schon eine ganze Woche für sich alleine hatten, wollte Seto sie auch nutzen. Yami, der sich gut vorstellen konnte, was sein bester Freund dachte – er kannte ihn schließlich inzwischen lange und gut genug um seine kaum vorhandene Mimik deuten zu können –, versuchte, seinen Blick von dem Blonden und dem Schwarzhaarigen zu nehmen, aber das gelang ihm mehr schlecht als recht. Immer wieder ertappte er sich während des Unterrichts dabei, dass er versuchte, von den Lippen der beiden abzulesen, worüber sie sprachen. Und wenn er sich nicht darauf konzentrierte, dann irrten seine Augen immer wieder zu dem leeren Platz Kinoshitas und er fragte sich, was der Weißhaarige wohl in dieser Sekunde tat und wo er sein mochte. Katsuya saß während des gesamten Unterrichts wie auf glühenden Kohlen. Er war noch zappeliger und unaufmerksamer als sonst und es war einzig und allein seinem besten Freund zu verdanken, dass er nicht ermahnt oder gar zum Nachsitzen verdonnert wurde – etwas, das ihn gerade heute ganz bestimmt auch noch seinen allerletzten Nerv gekostet hätte. Ryuuji, der alleine am Verhalten des Blonden mehr als deutlich erkennen konnte, wie besorgt dieser um seinen Freund war und wie viel Bakura ihm inzwischen bedeutete, seufzte unhörbar. Ohne zu wissen, dass es noch zwei Leute in ihrer Klasse gab, die auf eine baldige Rückkehr Bakuras hofften, drückte er innerlich die Daumen, dass der Weißhaarige sich wenigstens melden würde – und das möglichst noch bevor Katsuya vollkommen durchdrehte. Unglücklicherweise musste der Schwarzhaarige nach dem Ende des Unterrichts feststellen, dass Bakura noch nicht einmal zu Hause angerufen hatte. Während sein blonder Freund am Telefon mit Bakuras Mutter sprach und ihr versicherte, alles in seiner Macht stehende zu tun, um ihren Sohn zu finden und ihn wieder nach Hause zu bringen, ging Ryuuji kurz zu seinem Stiefbruder. Er schuldete es Seto immerhin, ihn wenigstens noch einmal persönlich zu informieren, dass er selbst wegen der ganzen Sache erst später nach Hause kommen würde. Seto, der gerade in die wartende Limousine steigen wollte, drehte sich um, als sein bester Freund an seinem Ärmel zupfte und ihn darüber informierte, dass sein Stiefbruder ganz offenbar etwas von ihm wollte. "Ja, bitte?", wandte er sich an Ryuuji und dieser zwirbelte nervös ein Strähne seiner schwarzen Haare um seinen rechten Zeigefinger, während er den Brünetten von unten herauf ansah. "Ich wollte Dir nur Bescheid sagen, dass Kats und ich noch nach Bakura suchen. Du hast ja heute Morgen mitgekriegt, dass er weg ist. Ich weiß also noch nicht, wann ich nachher wieder da bin", erklärte Ryuuji seinem Stiefbruder und dieser nickte nur knapp. Die Nähe des Schwarzhaarigen und der Blick aus seinen grünen Katzenaugen ließ seinen Magen nervös flattern und dieses Gefühl behagte ihm gar nicht. Einerseits wollte er ihn deshalb nicht länger als nötig in seiner unmittelbaren Nähe haben, andererseits hingegen gefiel es ihm gar nicht, das dieser Zeit mit seinem blonden Freund verbringen würde. Den ganzen Vormittag über, während er die beiden immer wieder beobachtet hatte, hatte sich Seto eine Frage aufgedrängt, bei der er sich nicht sicher war, ob er die Antwort wirklich kennen wollte: Wie nahe standen sich sein Stiefbruder und Jounouchi, diese blonde Pest auf zwei Beinen, eigentlich genau? Wenn der Blondschopf jetzt tatsächlich, wie Yami angedeutet hatte, eine Beziehung mit Kinoshita Bakura hatte, was war dann mit Ryuuji? Gab es einen Grund dafür, dass der Blondschopf den Schwarzhaarigen an seinem ersten Schultag so stürmisch umarmt hatte? War das wirklich nur die Freude über ein Wiedersehen nach sechs langen Monaten gewesen? Oder steckte da vielleicht mehr dahinter? "In Ordnung", rang Seto sich mühsam ab, während er innerlich über sich selbst den Kopf schüttelte und diese bohrenden Fragen zu verdrängen versuchte. Er sollte wirklich aufhören, überall nach Hinweisen darauf zu suchen, dass sein Stiefbruder vielleicht auch mehr am eigenen Geschlecht interessiert sein könnte als an Mädchen. Nur weil Ryuujis bester Freund etwas mit einem anderen Jungen hatte – und weil er selbst es sich vielleicht wünschte –, musste Ryuuji selbst ja nicht gleich auch schwul sein. "Vielleicht könntest du es ja wenigstens einrichten, zum Abendessen da zu sein." Die Worte seines Stiefbruders überraschten Ryuuji sehr, doch er konnte nicht umhin festzustellen, dass er sich darüber freute. Das klingt fast so, als würde er mich wirklich in seiner Nähe haben wollen, dachte er, schob diese Gedanken aber schnell wieder beiseite. Er sollte sich wirklich nicht in so etwas hineinsteigern. Das war nicht gut für ihn, das wusste er. "Ich gebe mir Mühe", versprach er dennoch, schenkte dem Brünetten ein Lächeln, dass diesen schwer schlucken ließ, und sprintete dann zu seinem blonden Freund zurück, um diesem wie versprochen bei der Suche nach Bakura zu helfen. Dass Seto ihnen nachsah, bis sie beide außer Sichtweite waren, registrierte er ebenso wenig wie das leise "Ich hoffe es", das ihm entschlüpfte, bevor er es verhindern konnte. Yami, der das Gespräch zwischen den beiden genau beobachtet hatte, lächelte leicht und stieß seinen besten Freund dann an. "Wenn es dir nichts ausmacht, könnte ich ja so lange mit zu dir kommen. Dann können wir gemeinsam die Hausaufgaben erledigen und uns gegenseitig die Langeweile vertreiben", schlug er vor und der Brünette gestattete sich ein kaum wahrnehmbares Grinsen, bevor er nickte. "Und so erfährst du gleich aus erster Hand, was mit Kinoshita ist. Das ist doch der Hauptgrund für dein unglaublich selbstloses Angebot, oder?", frotzelte er und der Bunthaarige grinste ebenfalls, bevor er in die Limousine kletterte und es sich in den Polstern bequem machte. "Du kennst mich einfach zu gut, Seto", gestand er dabei freimütig und zwinkerte seinem besten Freund zu, als dieser ebenfalls eingestiegen war und sich gesetzt hatte. oOo "So, wir kommen jetzt zur Zimmeraufteilung." Nachdem der Bus, mit dem Mokubas Klasse beinahe den ganzen Tag unterwegs gewesen war – bis auf einige wenige Toiletten- und Essenspausen –, endlich an seinem Ziel angehalten hatte, ließ Okita Yoshie-sensei, ihres Zeichens Erdkundelehrerin, ihren Blick über die Klasse von Fünfzehn- und Sechzehnjährigen schweifen, die zu beaufsichtigen sie während der nächsten Woche das zweifelhafte Vergnügen haben würde. Nachdem die Jungen und Mädchen ihr ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatten, nahm sie die Klassenliste zur Hand, mit deren Hilfe sie die Anwesenheit gerade noch überprüft hatte. "Hier in der Herberge gibt es ausschließlich Viererzimmer", informiert die junge Frau ihre Schüler und begann dann, die jeweiligen Vierergruppen vorzulesen, die gemeinsam ein Zimmer beziehen sollten. "Und da wir keine gerade Anzahl an Jungen in unserer Klasse haben, teilen sich Kaiba-kun, Kinoshita-kun und Muto-kun das Zimmer mit der Nummer acht", schloss sie die Verteilung ihrer Schüler und die drei Letztgenannten grinsten sich zufrieden an. Genau darauf hatten sie gehofft. "Das ist doch klasse!", freute sich Yuugi und streckte sich kurz, bevor er sich ebenso wie Mokuba seinen Koffer schnappte und Ryou, der bereits mit seinem Gepäck vorausgegangen war und den Schlüssel in Empfang genommen hatte, folgte. Der Schwarzhaarige nickte und zerrte seinen Koffer hinter sich her in Richtung Eingang. Dabei bemühte er sich, seine beiden Freunde in dem Gedränge seiner Klassenkameraden nicht aus den Augen zu verlieren. "Find ich auch!", stimmte er zu, als er seinen bunthaarigen Freund eingeholt hatte. Er hatte wirklich gehofft, sich wenigstens mit einem seiner besten Freunde das Zimmer teilen zu können. Dass er jetzt nicht nur beide um sich hatte, sondern dass sie auch nur zu dritt sein würden, machte die ganze Sache natürlich noch viel besser. So hatten sie mehr Zeit, um miteinander zu quatschen – eine Tatsache, die Mokuba sehr begrüßte. "Das hier muss es sein." Ryou blieb vor dem Zimmer mit der Nummer acht stehen und wartete auf die beiden anderen, bevor er die Tür aufschloss. Sofort drängelte Yuugi sich an ihm vorbei und ließ sich auf eins der Betten – rechts und links an der Wand neben dem Fenster stand jeweils ein Hochbett – fallen. "Hier schlafe ich!", verkündete er dabei und seine beiden Freunde grinsten ihn unisono an. "Wieso willst du denn nicht nach oben, Yuugi?" – "Hast du etwa Höhenangst?", stichelten sie beinahe zeitgleich und der Kleinste in der Runde schmollte. "Ihr seid doch doof!", beschwerte er sich und Ryou begann zu kichern, während Mokuba heldenhaft versuchte, sein Lachen zu unterdrücken. Yuugi sah die beiden abwechselnd grummelnd an, doch auch er konnte sein Grinsen nicht dauerhaft unterdrücken. "Na und? Dann mag ich Höhen eben nicht. Ist das irgendwie strafbar?", versuchte er zu grummeln, doch seine Beschwerde klang durch sein Grinsen nicht einmal mehr halb so glaubhaft, wie sie eigentlich gemeint war. "Nö, strafbar nicht", grinste Mokuba und ließ sich neben den Bunthaarigen fallen, um ihn in die Seite pieksen zu können. "Aber peinlich, findest du nicht auch?" "Das sagt ausgerechnet derjenige, der beim Filmabend mit seinen beiden Brüdern mittendrin einpennt und nichts mehr merkt", konterte Yuugi und grinste noch etwas breiter, als der Schwarzhaarige schlagartig knallrot anlief. "Musst du mich damit aufziehen, Yuugi?", beschwerte er sich und Yuugi nickte hektisch. "Ja, muss ich. Dafür sind Freunde doch da, Mokuba", gab er bemüht ernst zurück, bevor er ebenso wie Ryou in lautes, fröhliches Gelächter ausbrach. "Ihr Zwei seid so fies!", maulte der so Getriezte, doch als sowohl Yuugi als auch Ryou ihm freundschaftlich auf die Schulter klopften und ihn dann vom Bett hochzogen, um gemeinsam zum Abendessen in den Speisesaal der Jugendherberge zu gehen, hakte er sich bei seinen beiden Freunden ein und grinste sie breit und fröhlich an. "Aber ihr habt Glück", schmunzelte er dabei. "Ich bin so großmütig und verzeihe euch." oOo Seto, der den ganzen Nachmittag in der Gesellschaft seines besten Freundes Yami verbracht hatte – sie hatten gemeinsam ihre Hausaufgaben erledigt und dann noch für eine in Kürze anstehende Englischklausur gelernt –, horchte auf, als er Schritte im Flur hörte. Das muss Ryuuji sein, dachte er und stand von der Wohnzimmercouch auf, nachdem er sich mit einem kurzen Blick auf die Uhr vergewissert hatte, dass der Schwarzhaarige das Abendessen um eine knappe Dreiviertelstunde verpasst hatte. Seto warf einen kurzen Blick zu seinem besten Freund und verließ dann das Wohnzimmer, um seinen Stiefbruder abzufangen. Dem Geräusch seiner Schritte nach zu urteilen schien er in der Küche zu sein, also ging er dort hinüber. Tatsächlich traf er den Gesuchten dort an. Er hatte sich gerade einen Apfel aus der Obstschale genommen und sich an den Küchentisch fallen lassen, um diesen zu essen. "Du bist spät dran." Ryuuji zuckte zusammen, als er die Stimme seines Stiefbruders hörte. Müde sah er auf und nickte nur. Um sich mit Seto zu streiten, fehlte ihm die Energie. "Ich weiß", war daher seine einzige Antwort, bevor er herzhaft in den Apfel biss und abgrundtief seufzte. Mit Ausnahme des Frühstücks und seines Bento hatte er den ganzen Tag nichts gegessen, denn sein bester Freund war einfach zu besorgt gewesen, um an Essen auch nur zu denken – was mehr als deutlich zeigte, wie nah ihm Bakuras Verschwinden ging. Normalerweise war nichts Essbares vor Katsuya sicher, aber heute hatte ihm einfach nicht der Sinn danach gestanden. "Habt ihr Kinoshita gefunden?" Diese Frage kam nicht von Seto, sondern von Yami, der seinem besten Freund in die Küche der kaibaschen Villa gefolgt war. In seinen violetten Augen lag ein besorgter Ausdruck, der den Schwarzhaarigen die Stirn runzeln ließ. Warum in aller Welt interessierte sich ausgerechnet der Freund seines Stiefbruders für Bakura? Und warum hatte Seto Muto überhaupt erzählt, was passiert war? Nach einem weiteren Bissen von seinem Apfel zuckte Ryuuji mental mit den Schultern und schüttelte den Kopf. "Nein, haben wir nicht. Kats und ich sind durch die halbe Stadt gerannt, aber Bakura ist wie vom Erdboden verschwunden. Es ist, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Wir suchen morgen weiter", erzählte er und seufzte erneut. Es hatte ihn gut eine Stunde Überredungskunst gekostet, seinen besten Freund davon zu überzeugen, die Suche vorerst abzubrechen und sie am nächsten Tag fortzusetzen. Erst die Erwähnung der Möglichkeit, dass Bakura eventuell im Laufe des Abends oder vielleicht in der Nacht zurückkommen könnte, hatte den Blondschopf schließlich dazu gebracht, doch endlich nach Hause zu gehen. "Oh. Das tut mir leid", murmelte Yami und rang sich ein minimales Lächeln ab. "Dann wünsche ich euch morgen mehr Erfolg", fügte er hinzu und sah zu seinem besten Freund auf. "Ich denke, ich sollte langsam auch nach Hause gehen, Seto." Der Angesprochene nickte nur. "Isono wird dich nach Hause bringen. Wir holen dich dann morgen früh ab", beschloss er und nun war es an Yami zu nicken. "Danke, Seto. Gute Nacht und bis morgen, Otogi-kun", verabschiedete er sich und der Schwarzhaarige warf ihm einen kurzen Blick zu. "Bis morgen", murmelte er und sah dem Anderen nach, bis dieser aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Dann wanderte sein Blick weiter zu seinem Stiefbruder – nur, um ohne Vorwarnung mit dessen durchdringenden blauen Augen konfrontiert zu werden. Was ist denn jetzt los? Warum sieht er mich so komisch an? So sehr Ryuuji auch grübelte, er fand keine Antwort auf seine Frage. "Du musst hungrig sein, wenn ihr den ganzen Tag lang gesucht habt", durchbrach Setos Stimme nach einer Weile die unangenehme Stille, die sich nach dem Weggang seines besten Freundes über die Küche gelegt hatte. Ihm war nur allzu bewusst, dass sein Stiefbruder und er ohne Yami und Isono vollkommen alleine in der Villa waren – eine Situation, die ihm gleichermaßen angenehm war wie sie ihn auch irritierte. Was sollte er jetzt sagen oder tun? Sollte er überhaupt etwas sagen? Wie sollte er sich bloß verhalten? Und warum in aller Welt sah der Schwarzhaarige ihn so abwartend an? Ryuuji dachte einen Moment lang über die Aussage nach, dann schüttelte er den Kopf. "Nicht wirklich, nein. Ich bin eigentlich nur todmüde. Ich glaub, ich hau mich gleich aufs Ohr", erwiderte er, vernichtete noch eben den Rest seines Apfels und stand dann auf. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, denn auf dem Weg zu seinem Zimmer musste er an dem im Türrahmen lehnenden Seto vorbei, doch es gelang ihm unter Aufbietung all seiner Willenskraft, sich nichts von seinem inneren Aufruhr anmerken zu lassen. Der Schwarzhaarige war die Treppe schon zur Hälfte nach oben gestiegen, als Setos Stimme ihn noch einmal einholte. "Was ist mit deinen Hausaufgaben?", wollte Seto wissen und sein Stiefbruder drehte sich halb zu ihm um, ohne wirklich stehen zu bleiben. "Die mach ich noch, keine Sorge", gab er zurück und zwinkerte dem Größeren von oben herab zu. "Und wenn ich darüber einschlafe", fügte er hinzu und war im nächsten Moment froh, dass er sicher stand, denn über das Gesicht des Brünetten huschte ein zwar kurzes, aber nichtsdestoweniger amüsiertes Grinsen. "Hoffentlich verknitterst du deine Hefte nicht", konterte er und Ryuuji grinste einigermaßen mühsam zurück, während sein Herzschlag sich noch einmal rasant beschleunigte. "Falls doch, muss ich sie morgen früh vor der Schule eben noch kurz bügeln", witzelte er etwas gezwungen und beeilte sich dann, aus der Reichweite des Brünetten zu kommen. Er atmete erst erleichtert auf, als er die Tür seines Zimmers hinter sich zugeschlagen hatte und sich an das Holz lehnen konnte. Holy shit, irgendwann bringt mich das noch mal um!, schoss es ihm durch den Kopf, doch er schüttelte diesen Gedanken schnell ab. Jetzt galt es erst einmal, die Hausaufgaben zu machen und dann zu schlafen. Schließlich musste er für den nächsten Tag fit sein. Für Grübeleien über seinen Stiefbruder und die Tatsache, dass seine blauen Augen leuchteten, wenn er grinste, lächelte oder lachte, hatte er einfach keine Zeit. Seto blieb noch einen Augenblick lang am Fuß der Treppe stehen und blickte dem Schwarzhaarigen nach, bis dieser verschwunden war. Dann schüttelte der den Kopf und ging selbst ebenfalls nach oben. Vor seiner Zimmertür zögerte er kurz, atmete tief durch und öffnete sie schließlich doch noch. Solange Kinoshita nicht gefunden und wieder bei Jounouchi zu Hause war, machte es wohl keinen Sinn, mit Ryuuji über seine Gefühle zu sprechen. Dafür war dieser im Moment ganz offenbar viel zu abgelenkt. Das war gerade nicht zu übersehen gewesen. Morgen ist auch noch ein Tag, dachte Seto, während er sich bettfertig machte und unter seine Decke schlüpfte. Blaue Augen schlossen sich und ihr Besitzer seufzte abgrundtief, denn sein Kopf wollte einfach nicht zur Ruhe kommen. Ich kann auch morgen noch mit ihm darüber sprechen. Oder übermorgen. Wir haben jetzt immerhin eine ganze Woche lang Zeit, nahm Seto sich vor und war nur Sekunden später auch schon eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. 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