Brothers von Karma ================================================================================ Kapitel 5: Der Neue ------------------- Wie am Vortag stand Seto auch an diesem Morgen pünktlich um sechs Uhr auf und klopfte exakt eine halbe Stunde später frisch geduscht und fertig angezogen an der Zimmertür seines kleinen Bruders. "Aufstehen, Mokuba", rief er laut genug, um den Schwarzhaarigen zu wecken, doch er erhielt wie üblich keine Antwort. "Na gut, dann wecke ich dich eben persönlich.", murmelte Seto und öffnete die Tür, um genau das auch zu tun. Als er den Raum jedoch betreten hatte, hob er verwundert eine Braue, denn Mokuba war nicht mehr in seinem Bett. Von seiner Dusche war auch nichts zu hören, also war er scheinbar auch nicht in seinem Badezimmer. Dennoch klopfte Seto dort an die Tür und steckte kurz seinen Kopf hinein, als er keine Antwort erhielt. Nanu, wo ist er denn?, fragte er sich, als er seinen Bruder auch dort nicht fand, schloss die Tür wieder und ging nachdenklich nach unten. Und völlig entgegen seiner sonstigen Gewohnheit fand Seto zu seinem Erstaunen nicht nur Isono, sondern auch Mokuba im Esszimmer vor. "Guten Morgen, Seto-san", grüßte Isono und auch der Schwarzhaarige rang sich ein "Morgen" ab, sah seinen älteren Bruder dabei jedoch nicht an. Dieser seufzte. Ganz offenbar war Mokuba immer noch böse auf ihn. Was für ein wunderbarer Start in den Tag! "Guten Morgen. Hör mal, otouto, wegen gestern ...", begann Seto, doch noch bevor er ausreden konnte, stand der Jüngere von seinem Platz auf. "Sie müssen mich heute nicht zur Schule fahren, Isono-san. Ich werde zu Fuß gehen", wandte er sich an den Chauffeur und verließ dann mit einem "Bis nachher" das Esszimmer – noch immer, ohne seinen großen Bruder auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Seto sah ihm schweigend nach. Er nimmt mir meine Worte von gestern Abend wirklich übel, stellte er fest und seufzte abgrundtief. Wenn Mokuba nicht mit ihm sprach, wie sollte er ihm dann begreiflich machen, was genau ihn an Ryuuji so sehr gestört hatte? Sinnierend lehnte sich Seto zurück und sein Blick schweifte aus dem Fenster, ohne dass er wirklich etwas von dem wahrnahm, was draußen vor sich ging. Was genau hatte ihn eigentlich so an seinem zukünftigen Stiefbruder gestört? Seine Blicke. Die ganze Art, wie er mich angesehen hat, dachte der Brünette. Aber was genau hatte ihm daran nicht gefallen? War es die intensive Musterung gewesen? Die unglaublich grünen Katzenaugen Ryuujis? Oder war es die Tatsache gewesen, dass er die Blicke – und die Absichten dahinter – nicht hatte deuten können? Das ist doch auch egal. Ich werde mich Mokuba zuliebe mit ihm arrangieren. Immerhin scheint er Ryuuji aus irgendeinem Grund zu mögen. Mit diesem Vorsatz stand Seto vom Tisch auf, ohne wirklich etwas gegessen zu haben. "Fahren Sie auf dem Weg zur Schule bei Yami vorbei und holen Sie ihn ab", wies er Isono an, denn er wollte auf keinen Fall die ganze Fahrt über mit seinen Gedanken alleine sein. Der Chauffeur nickte. "Wie Sie wünschen, Seto-san", erwiderte er und ging voraus, um die Tür der Limousine für den Sohn seines Chefs zu öffnen. Mokuba war unterdessen schon zu Fuß auf dem Weg zu Ryou, um diesen abzuholen und gemeinsam mit ihm dann Yuugi, der von ihnen Dreien am nächsten an der Schule wohnte, einzusammeln. Immer wieder kickte der Schwarzhaarige unterwegs nach kleinen Steinchen, die auf seinem Weg lagen. Noch immer nagte das Verhalten seines Bruders und seines Vaters vom Vorabend an ihm. Was denken die sich eigentlich? Ich bin doch kein kleines Kind mehr, das man von seinen Gesprächen ausschließen muss. Ich bin fünfzehn, verdammt!, grummelte er innerlich und erst ein verwundertes "Mokuba? Was machst du denn hier?", ließ ihn aufsehen – direkt in die dunkelbraunen Augen seines Freundes Ryou, der gerade das Haus, in dem er mit seinem Vater wohnte, verlassen hatte. "Wie? Oh, guten Morgen, Ryou. Ich wollte dich und Yuugi abholen.", murmelte Mokuba und der Weißhaarige legte fragend den Kopf schief. "Zu Fuß und ganz alleine? Das machst du nur, wenn du Streit mit deinem Bruder hast, Mokuba. Was ist passiert?", wollte er wissen und der Angesprochene seufzte. "Das erzähle ich dir, wenn wir Yuugi abgeholt haben, okay?", fragte er zurück und sein Freund schüttelte den Kopf. "Yuugi kommt heute nicht zur Schule. Seine Mutter hat vorhin bei uns angerufen und mich gebeten, ihm nachher die Hausaufgaben vorbeizubringen. Er hat wohl Fieber", erklärte er und Mokuba nickte. "Gut, dann komme ich nachher mit, wenn du zu ihm gehst. Je später ich zu Hause bin, desto besser", grummelte er und hakte sich bei Ryou ein. Dieser legte fragend den Kopf schief. "Okay, dann schieß mal los, Mokuba: Was ist gestern passiert?", erkundigte er sich und der Schwarzhaarige grinste ihn an. "Yukiko ist toll. Und sie ist so unglaublich hübsch!", schwärmte er und zog seinen weißhaarigen Freund die Straße entlang. Ryou dachte einen Augenblick lang nach. "Wenn sie nicht das Problem ist, dann ist es ihr Sohn, oder?", schlussfolgerte er, doch Mokuba schüttelte den Kopf. "Nein, Ryuuji ist nicht das Problem. Zumindest nicht direkt. Das Problem sind Seto und mein Vater. Sie mögen ihn nicht, obwohl sie ihn noch gar nicht richtig kennen", murrte er und seufzte dann. "Weißt du, er ist Halbamerikaner und nicht so, wie sie erwartet haben. Aber er ist total nett. Gut, seine Kleidung war vielleicht nicht so ganz passend für so einen Abend, aber er ist gleich vom Flughafen aus zum Restaurant gekommen und hatte keine Zeit mehr, sich vorher umzuziehen. Aber das fand ich gar nicht so schlimm. Er sah total cool aus", fügte er hinzu und beschrieb seinem Freund dann ausführlich das Outfit seines zukünftigen Stiefbruders. Ryou kicherte. "Wenn er so rumläuft, dann glaube ich gerne, dass dein Vater und dein Bruder nicht allzu begeistert von ihm sind", antwortete er und Mokuba schüttelte erneut den Kopf. "Das ist noch nicht alles. Gestern Abend vor dem Treffen hat Seto mir gesagt, er wüsste auch nichts über Ryuuji, aber das war gelogen. Vater und er haben sich vorgestern ohne mich über ihn unterhalten. Sie behandeln mich wie ein kleines Kind, dabei werde ich dieses Jahr schon sechzehn", murrte er und der Weißhaarige seufzte. "Sie meinen das bestimmt nicht böse. Mein Bruder ist auch so. Er glaubt, ich wäre immer noch der kleine Junge, der weint, wenn man ihm sein Spielzeug wegnimmt. Er will auch einfach nicht einsehen, dass ich inzwischen älter geworden bin", gab er zu bedenken und Mokuba tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an die Lippen. "Ja, aber dein Bruder sieht dich auch nur selten. Da ist es normal, dass er nicht bemerkt, wie du dich veränderst. Seto sieht mich aber jeden Tag. Oder benehme ich mich etwa so kindisch, dass man mit mir nicht normal reden kann?", fragte er, während sie gemeinsam auf den Schulhof einbogen. Ryou schüttelte den Kopf. "Nein, das tust Du nicht. Yuugi hat das gleiche Problem. Für unsere großen Brüder werden wir wohl immer die Kleinen bleiben, die sie vor allem und jedem beschützen wollen", erklärte er und sein Freund nickte zustimmend. "Das wird's sein. Na, ist ja auch egal. Weißt du was? Ryuuji hat sogar ein Tattoo! Dabei ist er erst siebzehn!" Inzwischen wieder mit leuchtenden Augen schleppte Mokuba Ryou zu ihrem Klassenraum und plapperte dabei munter auf ihn ein. oOo "So, das ist deine neue Schule, Ryuuji." Yukiko stieg vor dem genannten Gebäude aus ihrem Wagen und ihr Sohn tat es ihr gleich. Etwas unglücklich zupfte er an seiner Schuluniform herum und ließ dann seinen Blick über das Gebäude und den noch vollkommen leeren Schulhof schweifen. "Ich kann dich wohl nicht überreden, es dir noch mal anders zu überlegen, oder, Mum?", fragte er wenig hoffnungsvoll und seufzte abgrundtief, als seine Mutter den Kopf schüttelte. "Hätte ja sein können. Na, dann bleibt mir wohl nur, das Beste draus zu machen. Sind ja nur noch sechs Monate bis zum Abschluss", feuerte er sich selbst an und grinste dann, als ihm einfiel, wem er ab heute wohl täglich begegnen würde. Na, so schlimm wird das schon nicht werden, dachte Ryuuji und folgte seiner Mutter, die bereits vorausgegangen war, in das Gebäude hinein. oOo "Du holst mich ab? Wie komme ich denn zu der Ehre?" Yami grinste seinen besten Freund an, während er in die kaibasche Limousine kletterte. "Mokuba nicht hier? Habt ihr wieder mal Streit?", fragte der Bunthaarige dann und ließ sich Seto gegenüber in die Polster sinken. Der Angesprochene seufzte. "So könnte man es nennen, ja. Ich fürchte, meine mangelnde Begeisterung für unseren zukünftigen Stiefbruder missfällt ihm", erklärte er und Yami sah ihn neugierig an. "Ist er denn so schlimm?", wollte er wissen und Seto seufzte erneut. "Nun, Otogi Ryuuji ist jedenfalls vollkommen anders, als ich erwartet hatte", antwortete er so diplomatisch wie möglich und sein bester Freund begann, sehr breit zu grinsen. "Mit anderen Worten: Du kannst ihn nicht leiden", übersetzte er die höfliche Antwort und Seto schnaubte. "Sagen wir es so: Ich bin froh, dass er nur sechs Monate lang bei uns wohnen wird. Danach fliegt er zurück zu seinem Vater nach Amerika und bis er zurückkommt – falls er überhaupt wieder zurückkommt –, werde ich bereits studieren und muss ihm nicht mehr begegnen, wenn ich nicht will", entgegnete er und Yami hob eine Braue. Eine derart feste, negative Meinung von einem anderen Menschen war selbst für die Verhältnisse seines besten Freundes mehr als ungewöhnlich. Na ja, es gibt eben nicht nur Liebe, sondern auch Antipathie auf den ersten Blick, sinnierte er und beschloss nach einem Blick in die ärgerlich zusammengekniffenen blauen Augen des Größeren, dieses Thema lieber schnell fallen zu lassen und ein neues aufzugreifen. "Und seine Mutter? Wie ist es mit ihr gelaufen?" Die Stimme seines Freundes riss Seto aus seinen Grübeleien darüber, was die Blicke Ryuujis am Vorabend wohl zu bedeuten hatten. "Yukiko-san? Oh, sie war sehr nett, ausgesprochen höflich und ich hatte den Eindruck, dass Vater und sie gut zusammenpassen. Mokuba mag sie bereits sehr und ich denke, auch ich werde mich an sie gewöhnen können", erwiderte er und schloss einen Moment lang die Augen. Sicher, seine leibliche Mutter würde die neue Frau seines Vaters ihm nie ersetzen können, aber dennoch war Seto froh darüber, dass seine künftige Stiefmutter eine nette und vernünftige Person war. Mit ihr würde er sich sicher arrangieren können. Außerdem war es bestimmt nicht ihre Schuld, dass ihr Sohn derartig verzogen war. Immerhin lebte er nur sechs Monate im Jahr bei seiner Mutter. Und aus dem, was er am Vortag von dem Gespräch mitbekommen hatte, das Mokuba und Ryuuji geführt hatten, hatte dessen Vater ihn ganz offenbar nicht besonders gut im Griff. Aber was sollte man von einem Amerikaner auch erwarten? Yami grinste seinen besten Freund an. "Ich habe dir gleich gesagt, gib ihr eine Chance. Dein Vater war lange einsam. Er hat ein bisschen Glück wirklich verdient", sagte er und Seto nickte. "Ich weiß. Und ich denke, er hätte eine wesentlich schlechtere Wahl treffen können als Yukiko-san", gab er zurück. Ich wünschte nur, ihr Sohn wäre nicht so ... so ... Dafür gibt es keine Worte. Jedenfalls keine höflichen, grummelte er innerlich und zog wie fröstelnd die Schultern hoch, als er sich wieder an die intensiven grünen Katzenaugen, das undeutbare Lächeln und die plötzliche Umarmung Ryuujis erinnerte. Yami, er seinen besten Freund sehr genau beobachtete, hob fragend eine Braue. Allerdings sagte er nichts, denn das war überflüssig. Er wusste, wenn Seto über seine Gedanken würde sprechen wollen, wäre er der Erste, der das erfahren würde. Wobei er vor sich selbst durchaus zugab, nach den wenigen Informationen, die er bekommen hatte, doch reichlich neugierig auf Setos baldigen Familienzuwachs zu sein. oOo "Bitte nehmen Sie doch Platz, Otogi-san. Du auch, Otogi-kun." Yamanaka-san, der Direktor der Domino Highschool, bot Yukiko und ihrem Sohn einen Platz an, doch Yukiko schüttelte den Kopf. "Ich fürchte, ich habe keine Zeit, Yamanaka-san. Ich wollte meinen Sohn an seinem ersten Tag nur herbringen", entschuldigte sie sich, reichte dem Sprecher noch kurz ihre Hand und ließ die beiden dann nach einer kurzen Verabschiedung von ihrem Sohn alleine. Sobald seine Mutter gegangen war, musterte Yamanaka-san seinen neuen Schüler ausgiebig und Ryuuji biss sich auf die Unterlippe, um nichts Falsches zu sagen. Wie er diese Blicke, die ihn und seine ganze Erscheinung kritisierten, ohne ihn wirklich zu kennen, doch hasste! "Nun, dann sollten wir wohl mit deinem Einstufungstest beginnen, damit du nicht zu viel Stoff in deiner neuen Klasse verpasst.", murmelte der Direktor, nachdem er seine Musterung beendet hatte, und Ryuuji nickte. "Selbstverständlich, Yamanaka-san.", antwortete er pflichtschuldigst, stand auf und schenkte dem Mann auf dem Weg in den Nebenraum, in dem er besagten Test offenbar ablegen sollte, ein freundliches Lächeln, dem man nicht ansah, wie viel Mühe es ihn kostete. Gleichzeitig schluckte er eine andere, wesentlich unfreundlichere Antwort herunter, die ihm wahrscheinlich gleich am ersten Tag eine Menge Ärger eingebracht hätte. "Du hast bis zur ersten Pause Zeit, Otogi-kun. Falls du Fragen hast, findest du ich in meinem Büro.", erklärte Yamanaka-san, nachdem sein zukünftiger Schüler sich gesetzt hatte. Der Blick, mit dem er den Jungen bedachte, sprach Bände, doch Ryuuji sagte nichts dazu. Er nickte nur, kramte einen Bleistift aus seiner Tasche und begann damit, sich die Aufgabenblätter durchzulesen. Dass der Direktor die Tür schloss und ihn mit den Aufgaben und seinen Gedanken – Bevor ich dich nach Hilfe frag, du alter Knacker, erstick ich lieber! und ähnlich schmeichelhaften Dingen – allein ließ, bekam er nur am Rande mit. oOo Während sein zukünftiger Stiefbruder über seinem Einstufungstest brütete, saßen Seto und Yami in ihrem Klassenzimmer und bemühten sich, dem unglaublich langweiligen Geschichtsunterricht ihrer Lehrerin Hara-sensei zu folgen. Die junge Frau hatte das seltene Talent, derart monoton zu reden, dass es jeden ihrer Schüler binnen weniger als fünf Minuten ins Reich der Träume beförderte. So war es auch kaum verwunderlich, dass die gesamte Klasse zehn Minuten nach Unterrichtsbeginn hart mit der Müdigkeit kämpfte. Als die Tür zum Klassenraum allerdings ohne Vorwarnung aufgerissen wurde, waren alle jedoch schlagartig wieder hellwach. Ein weißer und ein blonder Schopf samt dazugehörigen Schülern versuchten, sich gegenseitig zur Seite schubsend, gleichzeitig den Klassenraum zu betreten und Hara-sensei seufzte unisono mit Seto und Yami genervt auf. "Kinoshita-kun, Jounouchi-kun. Warum wundert es mich nicht, dass ihr zu spät kommt?", fragte sie und zum ersten Mal an diesem Tag konnte man aus ihrer Stimme ein gewisses Maß an Emotionen – Resignation, um genau zu sein – heraushören. Immerhin kamen diese beiden Störenfriede mit schöner Regelmäßigkeit zu spät zum Unterricht. "Das ist alles nur Bakuras Schuld. Er hat mich nicht geweckt", murrte Jounouchi Katsuya, der Blondschopf, wofür er einen wütenden Blick des Weißhaarigen erntete. "Meine Schuld, ja? Wer hat denn schon wieder den Wecker geschrottet, hä? Wenn das Teil nicht im Arsch gewesen wär, hätte ich dich auch wecken können, du Vollspast!", maulte Kinoshita Bakura zurück und die Augen des Blonden funkelten kampflustig. "Vollspast? Ich geb dir gleich Vollspast, du dämlicher ...", setzte er an, wurde aber von Hara-sensei daran gehindert, seinem Beinahe-Bruder einige sicherlich sehr fantasievolle Beleidigungen an den Kopf zu werfen. "Setzt euch sofort hin, ihr Zwei. Und hört auf zu streiten", verlangte sie. Die beiden Angesprochenen beeilten sich, ihrer Aufforderung umgehend nachzukommen. Dass sie sich dabei grinsend zuzwinkerten – immerhin hatten sie es durch ihren fingierten Streit wieder einmal geschafft, um eine Strafe für ihre Verspätung herumzukommen –, bemerkte außer Yami und Seto augenscheinlich niemand. "Die werden es wohl nie lernen", flüsterte der Bunthaarige und Seto folgte dem Blick seines Freundes zu dem Chaotenduo. "Wahrscheinlich nicht", pflichtete er ihm ebenso leise bei. "Aber wie auch, wenn die Lehrer nicht merken, dass das nur Schauspielerei ist?" Gegen seinen Willen schlich sich ein Grinsen auf Yamis Gesicht. "Vielleicht sollten wir die Zwei mal in der Theater-AG anmelden", schlug er vor und Seto nickte. "Keine schlechte Idee. Da können sie ihre Schmierenkomödie wenigstens sinnvoll einsetzen und ein großes Publikum damit unterhalten", erwiderte er und Yami biss sich auf die Unterlippe, um ein Lachen zu unterdrücken. "Dabei ist Kinoshitas kleiner Bruder ein wirklich netter Junge. Erstaunlich, wie unterschiedlich Geschwister sein können", murmelte Seto und nun nickte sein bester Freund. "Allerdings. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte Ryou-kun die ganzen guten Eigenschaften bekommen und sein Bruder das, was übrig war", stimmte er zu und riss seine Aufmerksamkeit von dem Weißhaarigen mit den unergründlich dunklen Augen los, um sich wieder auf den Unterricht zu konzentrieren. oOo "Verzeihung, Yamanaka-san, ich bin fertig." Ryuuji reichte dem Direktor seine Arbeitsblätter und setzte sich nach einer knappen Handbewegung des Mannes wieder auf den Stuhl, auf dem er am Morgen schon gesessen hatte. Er ließ desinteressiert den Blick schweifen, während der Rektor die Aufgaben durchsah und sich Notizen dazu machte. Kurz nach dem Ertönen der Pausenklingel verschwand er und ließ seinen neuen Schüler in seinem Büro alleine. Seufzend lehnte Ryuuji sich zurück und strich sich eine störende schwarze Strähne, die sich aus seinem Zopf gelöst hatte – er hatte seine Haare am Morgen zusammengebunden, denn lange offene Haare waren an japanischen Schulen gerade bei Jungen nicht gerne gesehen –, hinters Ohr. Hoffentlich sind die Lehrer hier nicht alle so ätzend, dachte er und seufzte erneut. Eigentlich hätte er wirklich nichts dagegen gehabt, noch einen oder zwei Tage zu Hause zu bleiben, aber seine Mutter hatte das etwas anders gesehen. War ja eigentlich klar, dass Mum mich so schnell wie möglich wieder an der Schule anmeldet, sinnierte er und zwirbelte die eben noch beiseitegeschobene Strähne, die ihm wieder ins Gesicht gefallen war, um seinen rechten Zeigefinger. Mal sehen, wie die neue Klasse so ist. Als wäre sein Gedanke das Stichwort gewesen, wurde die Tür des Direktorats wieder geöffnet und Yamanaka-san winkte Ryuuji, ihm zu folgen. Gemeinsam holten sie die Bücher ab, die der Siebzehnjährige brauchen würde, und gingen dann, da es bereits geklingelt hatte, zu seinem zukünftigen Klassenraum. Dort bedeutete der Direktor ihm, vor der Tür zu warten, während er selbst den Raum nach kurzem Anklopfen betrat. Die gesamte Klasse sah auf, als Yamanaka-san, der Direktor, den Klassenraum betrat. Er wechselte ein paar leise Worte mit Kayashima-sensei, ihrem Klassenlehrer, und wandte sich dann an dessen Schüler. "Ihr werdet ab heute einen neuen Mitschüler bekommen. Bitte komm herein, Otogi-kun", sagte er und ließ Kayashima-sensei mit seiner Klasse und dem neuen Schüler allein. Seto, der schon bei Yamanaka-sans Erscheinen eine Braue gehoben hatte, fuhr zusammen, als er den Namen seines neuen Klassenkameraden hörte. Otogi? Oh nein, bitte nicht! Nicht ausgerechnet er!, flehte er innerlich, doch seine Gebete wurden nicht erhört. "Na wunderbar", entfuhr es ihm, als er den neuen Schüler zu Gesicht bekam. Das Universum, die Götter oder das Schicksal mussten ihn wirklich hassen. Yami, dem die Reaktion seines Sitznachbarn nicht entgangen war, warf seinem besten Freund einen fragenden Blick zu, doch er kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen. "Ryuuji!" Bei Katsuyas Aufschrei zuckte nicht nur Seto zusammen. Bevor irgendjemand etwas unternehmen konnte, war der Blondschopf auch schon aufgesprungen, nach vorne gesprintet und dem Schwarzhaarigen stürmisch um den Hals gefallen. "Was machst du denn hier, Alter?", fragte er und grinste seinen lange vermissten Freund an. Ryuuji erwiderte das Grinsen mit gleicher Münze. "Na, was wohl? Ich warte auf den Bus", erklärte er todernst und Katsuya begann zu lachen. "Jounouchi-kun, würdest du dich bitte wieder auf deinen Platz setzen?", unterbrach Kayashima-sensei das Wiedersehen mit einer gewissen Schärfe in der Stimme und der Blondschopf löste schnell seine Arme von seinem Freund. "Oh ... ähm ... klar, Sensei", murmelte er, tapste zurück zu seinem Platz und stieß Bakura, der den Neuen mit nicht gerade freundlich zu nennenden Blicken musterte, seinen Ellbogen in die Rippen. "Kuck nicht so böse, Kura. Ich hab dir doch von ihm erzählt", flüsterte er und der Weißhaarige nickte langsam. Ja, Kats hatte ihm von seinem Freund aus Amerika erzählt. Aber wie eng diese Freundschaft ganz offenbar war, hatte er wohl zu erwähnen vergessen. "Und du, Otogi-kun, solltest dich vielleicht kurz vorstellen." Mit diesen Worten riss Kayashima-sensei seine Schüler wieder aus ihrer Versunkenheit in ihre eigenen Probleme. Ryuuji deutete eine leichte Verbeugung in Richtung des Lehrers an, dann wandte er sich an seine neue Klasse. "Ich bin Otogi Ryuuji, noch siebzehn Jahre alt, und werde für die nächsten sechs Monate eure Klasse besuchen", erklärte er und ließ seinen Blick über seine neuen Mitschüler schweifen, bis dieser schlussendlich an einem Paar bekannter blauer Augen hängen blieb. Na hoppla! Was für ein Zufall, dachte Ryuuji und schmunzelte leicht. "Gut, Otogi-kun. Setz dich bitte auf den freien Platz rechts neben Jounouchi-kun. Und ich dulde keine Störung meines Unterrichts. Ihr könnt euch in der Pause unterhalten. Dann kannst du, Jounouchi-kun, deinem Freund auch die Schule zeigen." Mit diesen Worten entließ Kayashima-sensei seinen neuen Schüler und Ryuuji ging durch die Klasse zu dem angegebenen Platz. Auf dem Weg dorthin ließ er es sich nicht nehmen, Seto kurz zuzuzwinkern, bevor er sich setzte und so tat, als wäre nichts gewesen. Seto kochte innerlich, obwohl er äußerlich so ruhig und gelassen wie immer erschien. Musste es ausgerechnet diese Schule sein? Und dann auch noch meine Klasse? Das darf doch nicht wahr sein!, dachte er und richtete seinen Blick nach vorne zur Tafel. Das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb jedoch – auch dann noch, als er sich durch einen raschen Seitenblick davon überzeugt hatte, dass Otogi Ryuuji nicht ihn ansah, sondern seine Aufmerksamkeit ganz Kayashima-senseis Unterricht widmete. Yami, dem der Stimmungswechsel seines besten Freundes nicht entgangen war, warf, sobald es ihm sicher genug erschien, einen kurzen Seitenblick zu ihrem neuen Mitschüler und fand sich gleich darauf plötzlich mit einem Paar grüner Katzenaugen konfrontiert, die ganz offenbar auf Seto gerichtet gewesen waren, sich jetzt allerdings ihm zuwandten. Und obwohl er ganz offensichtlich dabei ertappt worden war, Seto zu beobachten, machte der Schwarzhaarige nicht den Eindruck, als wäre ihm seine Musterung peinlich. Im Gegenteil, er setzte sie ungeniert bei Yami fort und dieser kam nicht umhin, sich zu fragen, ob es vielleicht ebendiese Unverfrorenheit war, die Seto an seinem zukünftigen Stiefbruder – dem Namen nach konnte der Neue einfach niemand anders sein – zu schaffen machte. Otogi Ryuuji ... Na, das verspricht, interessant zu werden, dachte Yami und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Unterricht zu. Ryuuji konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, als der Sitznachbar seines zukünftigen Stiefbruders sich wieder dem Japanischunterricht Kayashima-senseis widmete. Die violetten Augen des Bunthaarigen – der eine wirklich außergewöhnliche Frisur hatte, das musste der Neid ihm lassen – waren wirklich faszinierend gewesen. Als der Blick des Schwarzhaarigen jedoch wieder auf den kaum merklich versteiften Rücken Setos fiel, seufzte er unhörbar. Das kann ja heiter werden, dachte er, ohne zu ahnen, dass dem Brünetten zeitgleich ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. "Mensch, Alter, warum hast du mir denn nicht gesagt, dass du auf unsere Schule kommst?" Katsuya, der Ryuuji gemeinsam mit Bakura in der Pause durch das Schulgebäude führte, warf seinem Freund einen vorwurfsvollen Blick zu und der Angesprochene seufzte. "Weil ich das bis heute Morgen selbst nicht wusste, Kats", gab er zurück. "Meine Mum hat mir nur gesagt, dass ich ab jetzt die gleiche Schule besuchen werde wie einer meiner Stiefbrüder", fügte er hinzu und erntete einen neugierigen Blick aus schokobraunen Augen. "Und? Hast Du ihn schon getroffen?", erkundigte er sich und Ryuuji grinste. "Allerdings. Und Du kennst ihn sogar. Er geht in unsere Klasse", antwortete er und seine grünen Augen funkelten vor Vergnügen, als der Blondschopf ihn verwirrt ansah. "Hä? Echt? Wer ist es denn?", wollte Katsuya wissen und Ryuujis Grinsen wurde noch eine Spur breiter. "Kaiba. Kaiba Seto." Nach diesen Worten wurden sich die schokobraunen Augen seines besten Freundes groß, während Bakura, der bisher geschwiegen hatte, einen leisen Pfiff ausstieß. "Glückwunsch. Die Kaibas haben so einen großen Haufen Kohle, dass er locker für fünf Leben reicht", murmelte er. Der Blondschopf hingegen schüttelte sich. Allein die Vorstellung reichte schon vollkommen aus, dass ihm ganz anders zumute wurde. "Ich würd nicht für alles Geld der Welt freiwillig mit dem unter einem Dach leben wollen!" Ryuuji seufzte innerlich, winkte aber gleich darauf ab. "Ach, das wird schon. Der Kleine, Mokuba, ist jedenfalls ein ganz Süßer", sagte er und erzählte den beiden vom vergangenen Abend. "Du hast Kaiba echt umarmt? Den Kaiba? Den Eisklotz, der nie auch nur eine Miene verzieht?", fragte Katsuya ungläubig, nachdem sein bester Freund geendet hatte, und Ryuuji nickte. "Wenn ich's dir doch sage. Du hättest sein Gesicht sehen sollen!", lachte er, wurde dann aber wieder ernst. Er hatte sich vorgenommen, es seiner Mutter nicht unnötig schwer zu machen, also sollte er sich wohl bemühen, sich mit seinem zukünftigen Stiefbruder zu vertragen. Und es war offensichtlich gewesen, dass dieser ihm die Umarmung vom Vorabend ziemlich übel genommen hatte. Ich sollte mich wohl besser bei ihm entschuldigen, dachte der Schwarzhaarige und seine grünen Augen suchten den Schulhof ab, bis sie schlussendlich Denjenigen gefunden hatten, nach dem sie Ausschau gehalten hatten. "Entschuldigt mich kurz, ja?", wandte Ryuuji sich an seinen blonden Freund und Bakura, ließ die beiden stehen und sprintete zu Seto und seinem bunthaarigen Freund hinüber, die gemeinsam an einer der Bänke standen und sich unterhielten. oOo Als es zur Pause klingelte, hatte Seto es ungewohnt eilig, den Klassenraum zu verlassen. Auch als er bereits den Schulhof betreten hatte, hatte er immer noch das Gefühl, die Augen seines zukünftigen Stiefbruders in seinem Rücken zu spüren – ein Gefühl, das ihm während des Unterrichts einen Schauer nach dem anderen über den Körper gejagt hatte. Verdammt, warum musste Otogi von allen Schulen in ihrer Stadt ausgerechnet diese besuchen? Das durfte doch einfach nicht wahr sein! "Nicht genug damit, dass er auf diese Schule und in unsere Klasse kommt; nein, er muss auch noch ausgerechnet mit Jounouchi Katsuya, dieser blonden Plage auf zwei Beinen, befreundet sein." Seto knirschte hörbar mit den Zähnen und Yami beobachtete ihn interessiert. "Der geht dir echt unter die Haut, was?", fragte er und sein bester Freund schnaubte abfällig. "Ganz bestimmt nicht! Es passt nur einfach zu ihm, mit dieser Nervensäge von Jounouchi befreundet zu sein. Einer schlimmer als der Andere!", gab er zurück und Yami bemühte sich, das Zucken seiner Mundwinkel zu unterdrücken. Es war einfach zu komisch, wie sein bester Freund beinahe schon krampfhaft versuchte, das Thema Otogi Ryuuji zu vermeiden – nur, um letztendlich doch wieder auf ihn zu sprechen zu kommen. Ob Seto selbst das eigentlich bemerkte? Offensichtlich nicht, denn sonst hätte er sicher kein weiteres Wort mehr darüber verloren. "A propos Nervensäge: Mir scheint, unser Neuer steuert gerade genau auf uns beide zu, Seto." Durch die Worte aufmerksam gemacht, wandte sich der Angesprochene um und stöhnte innerlich. Musste dieser Kerl ihn jetzt auch noch in der Schule belästigen? Konnte er nicht bei dem Köter und dem Kleinkriminellen bleiben und ihn in Ruhe lassen? "Entschuldige, wenn ich störe, Seto, aber kann ich dich kurz sprechen?", wandte sich Ryuuji an den Brünetten und Yami wollte aufstehen, um die beiden alleine zu lassen. Ein leichter Wink Setos ließ ihn jedoch bleiben, wo er war. Ganz offenbar wollte sein bester Freund – aus welchem Grund auch immer – nicht mit seinem zukünftigen Stiefbruder alleine sein. Ryuuji, der die Geste ebenfalls gesehen hatte, runzelte kurz die Stirn, sagte aber nichts dazu. Wenn Seto wollte, dass sein Freund ihrem Gespräch beiwohnte, bitteschön. Das war nicht sein Problem, sondern einzig und allein Setos. "Was kann ich für dich tun?", fragte Seto gerade und der kühle Unterton in seiner Stimme ließ Ryuuji leicht schmunzeln. Jetzt verstand er auch, warum Katsuya den Brünetten als Eisklotz bezeichnet hatte. Mit diesem Tonfall konnte man ja wirklich Leute einfrieren. Ob Seto wohl einen Waffenschein dafür hatte? "Ich wollte mich eigentlich nur für gestern Abend entschuldigen. Wir hatten ja wohl keinen besonders guten Start. Ich hoffe, du hast keinen allzu schlechten Eindruck von mir. Aber na ja, so bin ich nun mal. Du musst mich nicht mögen, aber wir sollten – unseren Eltern zuliebe – versuchen, wenigstens irgendwie miteinander auszukommen", beantwortete Ryuuji die Frage und sah genau in die faszinierenden blauen Augen seines Gesprächspartners. Dieser hob eine Braue und schwieg einen Moment, bevor er langsam nickte. Vielleicht – auch wenn der Schwarzhaarige schon wieder geschminkt war – konnten sie sich ja doch irgendwie miteinander arrangieren. Immerhin klang sein Vorschlag durchaus vernünftig und durch seine Entschuldigung zeigte Otogi ja durchaus seinen guten Willen. Und hatte er selbst sich nicht am Morgen vorgenommen, sich Mokuba und seinem Vater zuliebe zusammenzunehmen? "Ich denke, das sollte möglich sein", stimmte er deshalb zu und Ryuuji streckte ihm lächelnd seine rechte Hand hin. Seto ergriff sie nach kurzem, kaum wahrnehmbaren Zögern und aus dem Lächeln des Schwarzhaarigen wurde ein breites Grinsen. "Du musst keine Angst haben, Seto. Ich beiße schon nicht. Ich werd dich auch nicht mehr umarmen. Versprochen!" Mit diesen Worten und einem letzten Zwinkern ließ Ryuuji die Hand seines zukünftigen Stiefbruders wieder los und sprintete zurück zu Katsuya und Bakura, um die unterbrochene Führung durch die Schule fortzusetzen. Sprachlos und bebend vor unterdrücktem Zorn sah Seto ihm nach. Dieser ... dieser ...! Wie kann er so etwas vor Yami sagen?, brodelte er innerlich und ignorierte dabei geflissentlich die Tatsache, dass er selbst es gewesen war, der seinen besten Freund am Gehen gehindert hatte, um nicht allein mit Otogi sprechen zu müssen. "Was hat er gerade gesagt? Ich werd dich auch nicht mehr umarmen? Habe ich das richtig verstanden? Und du hast ihn am Leben gelassen?", streute Yami auch gleich Salz in die Wunde. Seto schnaubte nur, doch sein Schweigen war für Yami Antwort genug. Ganz offenbar hatte ihr neuer Klassenkamerad seinen besten Freund tatsächlich umarmt. Und ebenso offensichtlich hatte diesen das nicht unberührt gelassen. Na, dieser Otogi traut sich ja was, grinste Yami und tippte Seto an. "Komm, lass uns reingehen. Es hat geklingelt und du weißt doch, dass Yamato-sensei nicht gerne wartet." Seto nickte und folgte seinem besten Freund zu ihrem Klassenraum, doch mit seinen Gedanken war er nicht bei der folgenden Doppelstunde Mathematik, sondern bei dem frechen Schwarzhaarigen mit dem unverschämten Grinsen und den grünen Katzenaugen, der einfach nicht aus seinem Kopf verschwinden wollte, so sehr er sich das auch wünschte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)