Brothers von Karma ================================================================================ Kapitel 25: Aufbruch -------------------- "Was hältst du davon, wenn wir uns die Spiele in der Arkade mal ansehen?" Yuugi, der bereits eine ganze Weile mit Rebecca durch Tokio gebummelt war, hatte einen dicken Kloß im Hals, als er ihr diesen Vorschlag unterbreitete. Und schon in dem Moment, als ihm die Worte über die Lippen geschlüpft waren, hätte er sich selbst am liebsten dafür getreten. Welches Mädchen mochte denn schon Arcade Games? Er war doch so dämlich! Bestimmt hielt Rebecca ihn jetzt für den größten Trottel, der auf dieser Welt herumlief! Und das war aus einem Grund, den Yuugi sich selbst nicht so recht erklären konnte, für ihn der absolute Horror. "Oder vielleicht gehen wir lieber …", versuchte er daher, seine Dummheit eilig auszubügeln, aber Rebecca unterbrach ihn, ehe er seinen Satz beenden und sich so vielleicht noch mehr blamieren konnte. "Au ja, lass uns reingehen!", rief sie voller Begeisterung und noch ehe Yuugi so recht wusste, wie ihm geschah, hatte sie sich schon wieder bei ihm eingehakt und zog ihn voller Enthusiasmus hinter sich her. "So was Cooles gibt's bei uns gar nicht. Jedenfalls nicht mit so tollen Spielen", ließ Rebecca ihren Begleiter wissen und Yuugi konnte deutlich fühlen, wie ihm wieder die Hitze ins Gesicht stieg. Ganz sicher war er inzwischen wieder knallrot, aber Rebecca schien sich daran nicht zu stören. Und ebenso wenig störte sie sich offenbar an den irritierten Blicken, die Yuugi und sie ernteten, als sie gemeinsam die Arkade betraten. Anstatt, wie Yuugi beinahe schon erwartet hatte, eins der typischen Mädchen-Games anzusteuern, hielt Rebecca, die immer noch an seinem Arm hing, auf eins der Spiele zu, vor der sich eine ganze Gruppe Jungs etwa in Yamis Alter versammelt hatte. Der Verlierer verließ gerade deutlich geknickt seinen Platz und noch ehe Yuugi so recht wusste, wie ihm geschah, hatte Rebecca ihn auch schon auf den freigewordenen Sitz gedrückt. Dann bedachte sie den Gewinner von eben mit einem zuckersüßen Lächeln und klimperte bittend mit den Wimpern. Dabei erklärte sie dem Jungen zu Yuugis nicht geringem Entsetzen, dass sie ja ›sooo gerne‹ eine Runde gegen ihren Freund spielen wollte. Ob er nicht vielleicht so nett sein könnte, Platz für sie zu machen? Ihr Freund?! Yuugi hatte das Gefühl zu verglühen. Wie konnte sie das einfach so sagen, als wäre absolut nichts dabei? Und wieso starrten ihn alle so an? Eigentlich wollte Yuugi protestieren, aber da er sich ziemlich sicher war, dass über seine Lippen im Moment nur ein peinliches Quietschen kommen würde und ganz sicher keine Worte oder gar zusammenhängende Sätze, sparte er sich den Protest und auch den Atem. Er wartete einfach nur, bis der Typ, der bis eben noch auf dem zweiten Platz gesessen hatte, diesen tatsächlich für Rebecca frei machte. "Dann zeig deinem Freund mal, was du kannst, Kleine", verlangte er mit einem Grinsen und Rebecca nickte ihm kurz zu, ehe sie sich an Yuugi wandte. "Bist du soweit?", wollte sie von ihm wissen und Yuugi schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. "Klar", antwortete er dennoch etwas gepresst, aber sobald das Spiel startete, schob er seine Nervosität beiseite und konzentrierte sich stattdessen nur noch auf das Spiel. Er war mehr oder weniger regelmäßig mit seinem Bruder in der Arkade und hatte sogar schon das eine oder andere Mal gegen Yami gewonnen, auch wenn dieser wirklich schwer zu schlagen war. Das war, wie Yuugi mit einiger Überraschung feststellte, bei Rebecca allerdings auch nicht so leicht, wie er erwartet hatte. Scheinbar spielte sie auch öfter Computerspiele, denn sie wusste offenbar recht genau, was sie tat. Sie war also eindeutig eine Herausforderung – eine Tatsache, die dafür sorgte, dass Yuugi auch noch den letzten Rest seiner Nervosität vergaß und sich voll und ganz dem Spiel widmete. Und das zahlte sich aus. Es war definitiv nicht leicht, aber trotzdem ging er aus den ersten drei Runden als Gewinner hervor. "Du hast eindeutig einen Vorteil. Du kannst öfter hier spielen", kommentierte Rebecca seine Siege, nachdem er sie das dritte Mal in Folge geschlagen hatte. Aber obwohl sie verloren hatte, wirkte sie keineswegs gekränkt. "Aber vielleicht kann ich das ja jetzt ein bisschen ausgleichen. Grandpa und ich bleiben nämlich für zwei Wochen bei deinem Opa. Und wenn dir das nicht zu blöd ist, würde ich gerne noch mal gegen dich antreten. Ich will nämlich auch mal gewinnen." Rebecca grinste ihn an und wieder lief Yuugi vom Halsansatz bis zu den Haarspitzen flammend rot an. "Vielleicht k-können wir ja nach der Schule ein bisschen üben", schlug er unsicher vor und hätte im nächsten Moment um ein Haar einen Herzinfarkt erlitten, als Rebecca ihm voller Überschwang um den Hals fiel. "Das wäre super!", freute sie sich und Yuugi hatte das Gefühl zu verglühen. Er war noch nie in seinem ganzen Leben einem Mädchen so nah gewesen. Ob alle Mädchen so gut riechen?, ging es ihm benebelt durch den Kopf und so bekam er gar nicht richtig mit, wie Rebecca sich wieder von ihm löste. Auch auf ihren Wangen lag jetzt ein zarter Rotschimmer. "Entschuldige, Yuugi", murmelte sie leise, doch Yuugi, noch immer mit hochrotem Kopf, winkte einfach nur ab. Sie sah, stellte er dabei für sich fest, wirklich ganz entzückend aus, wenn sie so verlegen an einer ihrer blonden Strähnen zupfte. "Schon gut. I-Ich freu mich ja auch. U-Und wenn du willst, dann kann ich dir ja vielleicht … ein paar Tricks zeigen, die mir mein Bruder beigebracht hat." Zum Ende hin wurde Yuugis Stimme immer leiser. Er war sich nicht wirklich sicher, ob das hier das Richtige war, aber als Rebecca ihn auf diesen Vorschlag hin mit noch immer geröteten Wangen voller Begeisterung anstrahlte, dachte er bei sich, dass es zumindest nicht komplett falsch gewesen sein konnte. "Das wäre wirklich super. Können wir uns dann morgen wieder treffen, wenn die Schule für dich zu Ende ist?", fragte Rebecca hoffnungsvoll und noch ehe er sich dessen wirklich bewusst war, hatte Yuugi auch schon genickt. "Klar", versprach er, aber ehe er noch mehr sagen konnte, unterbrach ihn ein Räuspern von hinter sich. "Andere würden auch gerne spielen", machte ihn ein junges Mädchen in der Uniform der Arkade aufmerksam und Yuugi machte peinlich berührt den Platz frei. "Ich glaube, ich sollte langsam wieder zurück. Grandpa macht sich sonst Sorgen." Rebecca warf einen Blick auf ihre Uhr und sah dann Yuugi an. "Du kommst doch sicher noch mit zu deinem Opa, oder? Und du bleibst bestimmt auch noch zum Essen, oder nicht?", wollte sie wissen und Yuugi kämpfte einen Moment lang mit sich, dann nickte er. Dabei bat er innerlich seinen Bruder um Verzeihung. Immerhin hatte er Yami ja eigentlich versprochen gehabt, später noch zum Museum nachzukommen. Aber irgendwie war das hier ihm doch lieber als Yami und Malik dabei zuzusehen, wie sie sich über irgendwelche Hieroglyphen stritten. Yami kann mir ja später ausführlich erzählen, wie blöd Malik aus der Wäsche gekuckt hat. Gedacht, getan. Yuugi schickte seinem Bruder eine kurze Nachricht, dass er es nicht mehr ins Museum schaffen würde, und machte sich dann gemeinsam mit Rebecca wieder auf den Rückweg zum Haus seines Großvaters. Dass sie sich dabei wieder bei ihm eingehakt hatte, machte das Ganze irgendwie nur noch besser, so dass Yuugi einfach nicht aufhören konnte zu strahlen, obwohl sein Gesicht immer noch glühte. oOo "Es ist alles vorbereitet, Gozaburo-san." Isonos Auftauchen und seine leisen Worte rissen Yukiko, die die letzte Stunde in die Armen ihres Ehemannes geschmiegt verbracht hatte, wieder aus ihren Erinnerungen. So viele Jahre waren James und sie schon nicht mehr verheiratet, aber er war trotzdem immer noch Teil ihres Lebens gewesen durch ihren Sohn. Und jetzt, ganz plötzlich, war dieser Teil ihres Lebens endgültig vorbei. Zwar hatte sie ihren Exmann zuletzt vor über zwei Jahren persönlich gesehen und vor mehr als drei Monaten das letzte Mal mit ihm telefoniert, aber da waren so viele Erinnerungen, so viele kleine Dinge, die ihr plötzlich wieder eingefallen waren. Ryuujis erste Worte, seine ersten Schritte; James' Stolz, als er seinen Sohn zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, aber auch die ganzen Streitereien und schließlich die Scheidung … es war so viel passiert. Yukiko war ihrem Liebsten ungemein dankbar dafür, dass er sich um ihren Sohn gekümmert hatte, obwohl es eigentlich ihre Aufgabe gewesen wäre, ihren Jungen zu trösten. Aber wie hätte sie das tun sollen, wenn ihre eigenen Tränen nicht aufhören wollten zu fließen? Wie musste ihr Junge sich erst fühlen, wenn selbst ihr schon James' Tod so nahe ging? Immerhin hatte Ryuuji in den letzten zehn Jahren immer sechs Monate ganz alleine mit seinem Vater verbracht. Und das war jetzt endgültig vorbei. Ryuuji und sie würden seinen Vater beide nie wiedersehen. Energisch wischte Yukiko sich die Tränenspuren von den Wangen, doch das nützte rein gar nichts. Sofort kamen neue Tränen und hinterließen neue Spuren. Yukiko schämte sich dafür, dass sie vor ihrem neuen Ehemann um ihren Exmann trauerte, aber Gozaburo nahm ihr das, seinen eigenen Worten zufolge, ganz und gar nicht übel. "Er war immerhin dein Mann und der Vater deines Sohnes", hatte er zu ihr gesagt, als sie sich für ihren Gefühlsausbruch entschuldigt hatte. "Ich würde mir wesentlich größere Sorgen machen, wenn dich diese Nachricht vollkommen kalt gelassen hätte." "Bitte bringen Sie Ryuujis Gepäck schon mal in den Wagen", instruierte Gozaburo seinen Assistenten gerade. Dann löste er seinen Arm von den Schultern seiner Frau, die er in der letzten Stunde einfach nur gehalten hatte, damit sie sich ausweinen konnte. Er war ihr keinesfalls böse, dass sie um den Mann trauerte, von dem sie doch schon seit Jahren geschieden war. Im Gegenteil, er konnte ihre Trauer verstehen. James Devlin würde immer ein Teil ihres Lebens bleiben, auch wenn er jetzt nicht mehr lebte. Aber er hatte ja einen Teil von sich hinterlassen, der seine Exfrau immer an ihn erinnern würde: ihren gemeinsamen Sohn. Und genau dieser Sohn war es, um den Gozaburo sich zugegebenermaßen sorgte. Ryuuji hatte, seit er selbst wieder runtergegangen war, sein Zimmer noch nicht wieder verlassen. So konnte er nur Vermutungen anstellen, wie es dem Jungen gerade ging. Zwei, drei Mal hätte er dem Drang, noch mal hochzugehen und nach seinem Stiefsohn zu sehen, beinahe nachgegeben, aber er hatte sich jedes Mal im letzten Moment selbst gebremst. Ryuuji hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er alleine sein wollte. Sicher war das nicht ideal, aber er konnte wohl auch nicht erwarten, dass der Junge mit ihm über den Verlust, den er gerade erlitten hatte, reden würde. Immerhin kannten sie sich praktisch kaum. Und wer vertraute schon einem beinahe Fremden an, wie es in seinem Innersten aussah? "Wir sollten Ryuuji Bescheid sagen." Yukiko wischte sich erneut über das Gesicht und nahm mit einem zaghaften Lächeln das Taschentuch an, das ihr Ehemann ihr reichte. Dann erhob sie sich und ergriff dankbar die Hand, die ihr angeboten wurde. So fühlte sie sich zumindest ein bisschen gefasster und bereit, ihrem Sohn gegenüberzutreten. Sie hatte ihn wirklich lange genug allein gelassen. Es war höchste Zeit, dass sie sich endlich wieder auf ihre Rolle als Mutter besann und ihm den Trost spendete, den er jetzt ganz sicher brauchte. oOo Erst das zweite Klopfen an seine Zimmertür drang wirklich in Ryuujis Bewusstsein. Nachdem er seinen Koffer gepackt hatte, hatte er sich einfach vor dem Bett auf den Boden gehockt, die Beine angezogen und seine Arme darum geschlungen. Wie viel Zeit inzwischen vergangen war, hätte er nicht zu sagen gewusst. Sein Kopf fühlte sich an wie leergefegt, obwohl sich seine Gedanken gleichzeitig förmlich überschlugen. Allerdings bekam er keinen dieser Gedanken wirklich zu fassen. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, dann war er eigentlich sogar froh darüber. Er wollte nicht zusammenbrechen. Nicht jetzt, nicht hier. Nicht, wenn seine Mutter ihn so sehen und sich seinetwegen Sorgen machen würde. Heulen, hatte er sich vorgenommen, konnte er auch später noch. Auch wenn das absolut nichts an der grässlichen Realität ändern würde, dass das letzte Mal, als er seinen Vater gesehen hatte, auch wirklich das letzte Mal gewesen war. Anstatt verbal auf das Klopfen zu reagieren, rappelte Ryuuji sich einfach nur vom Boden auf und fluchte lautlos über das Kribbeln, mit dem das Gefühl in seine eingeschlafenen Beine zurückkehrte. Da er genau wusste, was das Klopfen zu bedeuten hatte, schnappte er sich einfach nur seinen Koffer, öffnete die Tür und fand sich gleich darauf mit seiner Mutter und seinem Stiefvater konfrontiert. Seiner Mutter war überdeutlich anzusehen, dass sie geweint hatte. Und auch jetzt, als sie ihn ansah, schwammen wieder Tränen in ihren Augen, so dass Ryuuji seinen freien Arm dazu nutzte, sie zu umarmen. Er blieb stumm und war froh, dass auch seine Mutter und Gozaburo-san nichts sagten. Jetzt zu sprechen hätte seine Kraft bei weitem überstiegen, also ließ er es einfach sein. "Die Maschine ist startklar. Isono wird dein Gepäck schon mal nach unten bringen." Ryuuji, stellte Gozaburo bei diesen Worten fest, wirkte immer noch viel zu ruhig und gefasst. Er sagte kein Wort, sondern nickte nur schweigend und ließ zu, dass Isono, der seinem Arbeitgeber und dessen Ehefrau nach oben gefolgt war, seinen Koffer übernahm und damit vorausging. Ryuuji selbst schloss eine Hand um die freie Hand seiner Mutter und drückte sie leicht, wie um ihr Trost zu spenden, obwohl doch eigentlich er derjenige war, der den Zuspruch brauchen sollte. Aber scheinbar wollte er das immer noch nicht und so sagte Gozaburo nichts in diese Richtung. Die Finger seiner Mutter zitterten in seiner Hand und so strich Ryuuji beruhigend mit dem Daumen über ihren Handrücken. Sie zu trösten half ihm tatsächlich dabei, selbst nicht vollkommen die Fassung zu verlieren. Es genügte, wenn einer von ihnen beiden so offensichtlich den Kampf gegen die Tränen verlor. Er selbst konnte auch noch zusammenbrechen, wenn er erst mal wieder in Frisco war – derzeit der letzte Ort auf der Welt, den er sehen wollte, auch wenn sich das einfach nicht vermeiden ließ. Er hatte versprochen, am Montag bei der Beisetzung dabei zu sein, und er würde sein Versprechen halten. Auch wenn Dad davon eh nichts mehr mitkriegt. Und trotzdem würde er da sein. Er würde da sein wie der gute, brave Sohn, den alle zu sehen erwarten würden – alle, die nicht wussten, dass seine letzte wirkliche Interaktion mit seinem Vater ein heftiger Streit am Tag seines Abflugs gewesen war. Wieder einmal. In den letzten zwei Jahren hatten sie eigentlich kaum etwas anderes getan als über alles Mögliche zu streiten. Aber das war jetzt endgültig vorbei. Für immer. Sein Vater würde ihm nie wieder vorzuschreiben versuchen, wie er sein Leben zu leben hatte – ganz einfach aus dem Grund, weil er es jetzt nicht mehr konnte. Tote machten niemandem Vorschriften mehr. Seto und Mokuba, die sich unten im Flur zu ihnen gesellten, unterbrachen Ryuujis Gedankengänge. Genau wie seine Mutter sah auch Mokuba aus, als hätte er gegen die Tränen gekämpft und verloren. Aber warum? Er hat Dad doch nicht mal gekannt. Diese Frage sprach Ryuuji allerdings nicht laut aus. Im Moment stand ihm absolut nicht der Sinn danach, überhaupt mit irgendjemandem zu sprechen. Trotzdem ließ er zu, dass Mokuba schweigend nach seiner freien Hand griff und diese sanft drückte. Offenbar wollte der Kleine ihn trösten. War ja wirklich lieb gemeint von ihm, aber eben leider auch vollkommen nutzlos. Seto, der seinen Stiefbruder genau beobachtete, entging nicht, dass für einen Sekundenbruchteil ein sehr bitteres Lächeln über Ryuujis Lippen huschte, das jedoch genauso schnell verschwand, wie es aufgetaucht war. Mokuba bemerkte davon offenbar nichts und das war etwas, wofür Seto ungemein dankbar war. Sein Bruder würde einfach nicht verstehen, was jetzt gerade in Ryuuji vorgehen musste. Er konnte sich ja nicht mal mehr daran erinnern, wie schwer ihn der Tod seiner eigenen Mutter getroffen hatte. Wie sollte er da nachvollziehen können, wie Ryuuji sich jetzt fühlte? Schweigend öffnete Seto die Tür der Villa und ging vor nach draußen, wo Isono bereits auf sie alle wartete. Er hatte den Koffer bereits verstaut und die hintere Tür der Limousine für seinen Arbeitgeber und dessen Familie geöffnet. Noch immer ohne ein Wort zu sagen half Ryuuji seiner Mutter in den Fond des Wagens und stieg dann ebenfalls ein. Mokuba folgte ihm sofort und rutschte neben ihn auf die Bank, während auch Seto und sein Vater einstiegen. Letzterer setzte sich zu seiner Frau und so blieb Seto nur, neben seinem Bruder Platz zu nehmen. Wieder stieg in ihm der Drang auf, Ryuuji, der einfach nur schweigend aus dem Fenster sah, zu trösten, aber er kämpfte diesen Impuls nieder. Ryuuji wollte ganz offenbar im Moment keinerlei Beileidsbekundungen hören – etwas, das Seto nur zu gut nachvollziehen konnte. Niemand außer Ryuuji selbst und Yukiko hatte James Devlin schließlich persönlich gekannt. Sämtliche Worte, die sie also sagen konnten, mussten den beiden daher wie hohle Phrasen vorkommen. Und Seto erinnerte sich noch sehr gut daran, wie sehr er selbst es nach dem Tod seiner Mutter gehasst hatte, wenn ihm jemand, der weder ihn noch seine Mutter überhaupt wirklich gekannt hatte, sein Beileid zu seinem Verlust ausgesprochen hatte. Die ganze Fahrt zum Flughafen über fiel in der Limousine nicht ein Wort – eine Tatsache, für die Ryuuji absurd dankbar war. Er wollte im Moment wirklich nicht reden müssen. Und er wollte auch niemandem zuhören müssen. Er wollte nicht mal über das nachdenken, was geschehen war und was ihn jetzt in Frisco erwartete. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben. Glücklicherweise respektierten das sowohl seine Mutter als auch der Rest seiner neuen Familie. Erst als sie den für die privaten Maschinen vorgesehenen Teil des Flughafens erreicht hatten und die Limousine dort im Hangar der kaibaschen Privatmaschine anhielt, unterbrach Gozaburo das Schweigen. "Bitte sag uns Bescheid, sobald du gelandet bist", wandte er sich an seinen Stiefsohn. Wie er nicht anders erwartet hatte, nickte dieser auch jetzt nur auf die Aufforderung hin. Sobald Isono die Tür geöffnet hatte, stieg Ryuuji aus und wartete, bis seine Mutter ebenfalls ausgestiegen war. "Don't worry, Mum. I'll be okay. And I'll be back before you know it", versprach er ihr und strich ihr sanft über die Wange, als ihre Augen sich schon wieder mit Tränen füllten. "Bist du sicher, dass ich nicht doch lieber mitkommen soll?", fragte Yukiko leise, doch ihr Sohn schüttelte den Kopf. "Nein, Mum", lehnte er mit einem Blick in Richtung seines Stiefvaters ab. "Du wirst hier gebraucht. Ich komm schon klar." So fühlte er sich zwar im Moment ganz und gar nicht, aber er wollte auf gar keinen Fall, dass seine Mutter ihn nach Frisco begleitete. Diese Sache musste er alleine durchstehen. Seine Mutter hatte so lange darauf gewartet, sich ein neues Leben aufzubauen, da sollte sie sich jetzt nicht wieder an Dinge erinnern müssen, die schon eine gefühlte Ewigkeit zurücklagen. "Bitte pass gut auf sie auf", wandte Ryuuji sich daher an seinen Stiefvater und dieser nickte ernst. "Selbstverständlich", versicherte er seinem Stiefsohn und legte behutsam einen Arm um die Hüfte seiner Frau, die sich gleich wieder vertrauensvoll und auch ein wenig schutzsuchend an ihn lehnte. "Und wenn du irgendetwas brauchst, melde dich bitte, Ryuuji", schob Gozaburo noch hinterher und nun war es an seinem Stiefsohn zu nicken. "Werde ich", versprach er, aber ehe er noch mehr sagen konnte, hatte Mokuba sich auch schon zwischen sie gedrängt und umarmte Ryuuji in dem Versuch, ihn nonverbal zu trösten, so fest er konnte. Um ein Haar hätte diese Geste Ryuuji ein Schmunzeln entlockt, aber dafür reichte es dann doch nicht. So drückte er nur seinerseits Mokuba kurz an sich, ehe er sich wieder aus der Umarmung löste. "Ich bin in ein paar Tagen wieder da, Mokuba", ließ er den Jungen wissen und dieser nickte schwach. "Ich sollte langsam los." Ryuuji trat ein paar Schritte auf die startbereite Maschine zu, hielt allerdings noch einmal inne und wandte sich zu seiner Familie um, als ihm noch etwas einfiel, was er bis eben vollkommen verdrängt gehabt hatte. "Sagst du Katsuya morgen bitte Bescheid, dass ich ein paar Tage weg sein werde, Seto?", wandte er sich an seinen älteren Stiefbruder und der Angesprochene schluckte, als er sich so plötzlich im Fokus der grünen Katzenaugen wiederfand. Auch jetzt, wo Ryuuji unübersehbar angeschlagen wirkte – zumindest für ihn, der so etwas aus eigener Erfahrung nur zu gut kannte und daher die minimalen Anzeichen überdeutlich sehen konnte –, hatten seine Augen nichts von ihrer Faszination auf ihn eingebüßt und so fiel es Seto nicht leicht, seinen Kopf zu einem einfachen Nicken zu bewegen. "Das werde ich", rang er sich noch eine verbale Versicherung ab und tatsächlich huschte für eine halbe Sekunde der Schatten eines dankbaren Lächelns über Ryuujis Lippen. Seinen besten Freund jetzt auch noch anrufen und ihm persönlich erzählen zu müssen, was geschehen war, hätte seine Kraft bei weitem überstiegen. Er würde mit Katsuya sprechen, wenn er wieder in Japan war, aber vorher konnte er das einfach nicht. Jetzt musste er einen Schritt nach dem anderen machen. Und seine nächsten Schritte führten ihn erst mal in den Flieger und zurück nach Frisco, obwohl er eigentlich erst in knapp fünf Monaten dorthin hatte zurückkehren wollen. "Danke, Seto." Die Erleichterung in der Stimme seines Stiefbruders war nicht zu überhören. Und auch das winzige, eigentlich kaum sichtbare Lächeln, das beinahe sofort wieder verschwand, entging Seto nicht. "Selbstverständlich", gab er daher zurück, seine Stimme ungewohnt rau und belegt. Wieder war da der Drang, Ryuuji ebenso in den Arm zu nehmen wie Mokuba es eben erst getan hatte, aber Seto stoppte sich selbst, bevor er das wirklich tun konnte. Er war sich sicher, dass er es nicht schaffen würde, Ryuuji wieder loszulassen, wenn er ihm erst mal so nah kommen sollte. Es war also eindeutig besser, das gar nicht erst zu riskieren – jedenfalls so lange nicht, wie er seine Gefühle für Ryuuji nicht endlich unter Kontrolle hatte. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren stieg Ryuuji in den wartenden Flieger und suchte sich einen Platz auf der Seite, von der aus er seine Familie nicht mehr sehen konnte. Die letzten Checks vor dem Start rauschten an ihm vorbei, ohne dass er sie wirklich wahrnahm. Erst als die Maschine sich in Bewegung setzte, abhob und er sich absolut sicher war, dass ihn niemand mehr sehen konnte, atmete Ryuuji auf. Und jetzt, wo er ganz alleine war, erlaubte er sich auch endlich, seine Trauer um seinen Vater an die Oberfläche kommen zu lassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)